Ambivalente Selbstpraktiken: Eine Foucault'sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs [1. Aufl.] 9783839405994

Die gegenwärtige Zersetzung des Bildungsbegriffs wirft die Frage auf, ob 'Bildung' noch zeitgemäß ist. Ausgehe

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Ambivalente Selbstpraktiken: Eine Foucault'sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs [1. Aufl.]
 9783839405994

Table of contents :
Inhalt
Einleitung: „Do We (Still) Need the Concept of Bildung?“
I. BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN
1. Dimensionen des Bildungsbegriffs
1.1 ‚Bildung‘: ein aktuelles Konzept
1.2 Erste Dimension: Das ‚Bildungssubjekt‘
1.3 Zweite Dimension: ‚Bildung‘ und Gesellschaft
1.4 Dritte Dimension: ‚Bildung‘ und Normativität
1.5 Vierte Dimension: Die Prozessstruktur von ‚Bildung‘
1.6 Zum Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung
1.7 Die ‚fünf Dimensionen‘ des Bildungsbegriffs
2. Ambivalente Selbstpraktiken. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs im Anschluss an Michel Foucault
2.1 Foucault als Bildungstheoretiker?
2.2 Foucaults Subjektkonzeption
2.2.1 Foucaults Subjektkonzeptionen
2.2.2 Die Konstitution des Subjekts im Diskurs
2.2.3 Die Konstitution des Subjekts durch Machtpraktiken
2.2.4 Die Konstitution des Subjekts durch Selbstpraktiken
2.2.5 Bildungstheoretische Implikationen
2.3 Foucault als Diagnostiker der Gegenwart
2.3.1 Foucault als Gesellschaftstheoretiker und -diagnostiker
2.3.2 Genealogie als kritische Gesellschaftsdiagnostik
2.3.3 Foucaults Gesellschaftsdiagnosen
2.3.4 Gouvernementale Herausforderungen für das Konzept der ‚Bildung‘
2.4 Kritik als experimentelle Praxis des ‚Anders-Denkens‘
2.4.1 „Was ist Kritik?“
2.4.2 Der Einsatz von Kritik als Frage nach den Machtbeziehungen
2.4.3 Kritik als grund- und ortlose Praxis
2.4.4 Kritik als produktives Grenzexperiment
2.4.5 Kritik als Ethos: bildungstheoretische Anschlüsse
2.5 Ambivalenzen: Bildung als ‚Entsubjektivierung‘?
2.5.1 Wie ist Veränderung möglich?
2.5.2 Die Unwahrscheinlichkeit von Veränderung
2.5.3 Foucaults Projekt einer ‚Entsubjektivierung‘
2.5.4 Strukturmomente von ‚Bildung‘
II. ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN
3. Die qualitativ-empirische Untersuchung von Bildungsprozessen im Anschluss an Michel Foucault
3.1 Foucault und die qualitative Analyse von Bildungsprozessen
3.2 Der Gegenstand: ‚Weblogs‘ als Raum für Bildungsprozesse
3.2.1 Was ist ein ‚Weblog‘?
3.2.2 Foucault, das Internet, Weblogs und ‚Bildung‘
3.3 Methodische Überlegungen zur Untersuchung von Bildungsprozessen in Weblogs
3.3.1 Diskurspraktiken: Foucaults ‚Diskursanalyse‘
3.3.2 Machtpraktiken: Foucaults ‚Analytik der Macht‘
3.3.3 Selbstpraktiken: Foucaults ‚Genealogie der Ethik‘
3.3.4 Zur Untersuchung von Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses in Weblogs
3.4 Exkurs: methodische und methodologische Grenzen
4. Die Untersuchung: Bildungsprozesse in Weblogs
4.1 Einführung: Das Weblog ‚Stadtelfe‘
4.2 Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses im Weblog ‚Stadtelfe‘
4.2.1 Die Position der ‚Studentin‘
4.2.2 Die Position der ‚Gestalterin‘
4.2.3 Die Position des ‚sozialen Wesens‘
4.2.4 Die Position der ‚Haltlosigkeit‘
4.3 Relektüre: Selbstpraktiken im Weblog ‚Stadtelfe‘
4.3.1 Methodischer Neueinsatz: Praktiken des Selbst
4.3.2 „19. Mai 2004“
5. ‚Bildung‘ in ambivalenten Selbstpraktiken
6. Literatur

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Ambivalente Selbstpraktiken

Theorie Bilden Band 8 Hannelore Faulstich-Wieland, Hans-Christoph Koller, Karl-Josef Pazzini, Michael Wimmer (Herausgeber im Auftrag des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg)

Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe »Theorie Bilden« wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Dabei ist der Zusammenhang von Theorie und Bildung in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, ist doch Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. In dieser Schriftenreihe werden theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre von Mitgliedern des Fachbereichs publiziert, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Es handelt sich dabei um im Kontext der Fakultät entstandene Forschungsarbeiten, hervorragende Promotionen, Habilitationen, aus Ringvorlesungen oder Tagungen hervorgehende Sammelbände, Festschriften, aber auch Abhandlungen im Umfang zwischen Zeitschriftenaufsatz und Buch sowie andere experimentelle Darstellungsformen.

Die Autorin dieses Bandes: Jenny Lüders (Dr. phil.) ist Postdoktorandin im Graduiertenkolleg Bildungsgangforschung an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bildungstheorie, Michel Foucault, Qualitative Sozialforschung und Internetforschung.

Jenny Lüders

Ambivalente Selbstpraktiken Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat und Satz: Jenny Lüders Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-599-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung: „Do We (Still) Need the Concept of Bildung?“

I.

11

BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

Dimensionen des Bildungsbegriffs ‚Bildung‘: ein aktuelles Konzept Erste Dimension: Das ‚Bildungssubjekt‘ Zweite Dimension: ‚Bildung‘ und Gesellschaft Dritte Dimension: ‚Bildung‘ und Normativität Vierte Dimension: Die Prozessstruktur von ‚Bildung‘ Zum Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung 1.7 Die ‚fünf Dimensionen‘ des Bildungsbegriffs Ambivalente Selbstpraktiken. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs im Anschluss an Michel Foucault 2.1 Foucault als Bildungstheoretiker? 2.2 Foucaults Subjektkonzeption 2.2.1 Foucaults Subjektkonzeptionen 2.2.2 Die Konstitution des Subjekts im Diskurs 2.2.3 Die Konstitution des Subjekts durch Machtpraktiken 2.2.4 Die Konstitution des Subjekts durch Selbstpraktiken 2.2.5 Bildungstheoretische Implikationen

23 23 26 37 43 51 57 65

2.

69 69 76 77 78 79 86 89

2.3 Foucault als Diagnostiker der Gegenwart 2.3.1 Foucault als Gesellschaftstheoretiker und -diagnostiker 2.3.2 Genealogie als kritische Gesellschaftsdiagnostik 2.3.3 Foucaults Gesellschaftsdiagnosen 2.3.4 Gouvernementale Herausforderungen für das Konzept der ‚Bildung‘ 2.4 Kritik als experimentelle Praxis des ‚Anders-Denkens‘ 2.4.1 „Was ist Kritik?“ 2.4.2 Der Einsatz von Kritik als Frage nach den Machtbeziehungen 2.4.3 Kritik als grund- und ortlose Praxis 2.4.4 Kritik als produktives Grenzexperiment 2.4.5 Kritik als Ethos: bildungstheoretische Anschlüsse 2.5 Ambivalenzen: Bildung als ‚Entsubjektivierung‘? 2.5.1 Wie ist Veränderung möglich? 2.5.2 Die Unwahrscheinlichkeit von Veränderung 2.5.3 Foucaults Projekt einer ‚Entsubjektivierung‘ 2.5.4 Strukturmomente von ‚Bildung‘

II. Z U R

EMPIRISCHEN

UNTERSUCHUNG

92 93 94 98 105 110 111 112 115 117 121 125 128 130 133 139

VON

BILDUNGSPROZESSEN 3. 3.1 3.2

3.3

3.4

Die qualitativ-empirische Untersuchung von Bildungsprozessen im Anschluss an Michel Foucault Foucault und die qualitative Analyse von Bildungsprozessen Der Gegenstand: ‚Weblogs‘ als Raum für Bildungsprozesse 3.2.1 Was ist ein ‚Weblog‘? 3.2.2 Foucault, das Internet, Weblogs und ‚Bildung‘ Methodische Überlegungen zur Untersuchung von Bildungsprozessen in Weblogs 3.3.1 Diskurspraktiken: Foucaults ‚Diskursanalyse‘ 3.3.2 Machtpraktiken: Foucaults ‚Analytik der Macht‘ 3.3.3 Selbstpraktiken: Foucaults ‚Genealogie der Ethik‘ 3.3.4 Zur Untersuchung von Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses in Weblogs Exkurs: methodische und methodologische Grenzen

147 147 150 154 156 164 167 175 179 183 185

4. Die Untersuchung: Bildungsprozesse in Weblogs 4.1 Einführung: Das Weblog ‚Stadtelfe‘ 4.2 Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses im Weblog ‚Stadtelfe‘ 4.2.1 Die Position der ‚Studentin‘ 4.2.2 Die Position der ‚Gestalterin‘ 4.2.3 Die Position des ‚sozialen Wesens‘ 4.2.4 Die Position der ‚Haltlosigkeit‘ 4.3 Relektüre: Selbstpraktiken im Weblog ‚Stadtelfe‘ 4.3.1 Methodischer Neueinsatz: Praktiken des Selbst 4.3.2 „19. Mai 2004“

191 191 194 195 202 209 218 235 235 241

5.

‚Bildung‘ in ambivalenten Selbstpraktiken

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6.

Literatur

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Danksagung

Danken möchte ich: meinem Doktorvater Hans-Christoph Koller für die hervorragende Betreuung meiner Promotion und für eine wissenschaftliche Begleitung, die mir in (gemeinsamen) Seminaren und Diskussionen auch einen Blick über die Grenzen meiner Arbeit hinaus eröffnet hat; Rainer Kokemohr, dessen inspirierender Zugriff in theoretischen wie praktischen pädagogischen Kontexten den Grundstein für mein Interesse an der Erziehungswissenschaft gelegt hat; Tobias Klass, der mich zum richtigen Zeitpunkt auf die Spur von Michel Foucault setzte; Christoph König, der mich auf das Phänomen der ‚Weblogs‘ aufmerksam machte; der Stadtelfe, deren Weblog ich untersuchen durfte; Alfred Schäfer, der mich mit seinen Texten und Anmerkungen immer wieder auf die Ambivalenz bildender Selbstpraktiken gestoßen hat; Uwe Hericks, Frank Elster und Matthias Trautmann, die mit ihren analytischen Kommentaren meine Untersuchung in entscheidender Weise vorangebracht haben; sowie den Teilnehmern der ‚Doktorandengruppe Koller‘, die das gesamte Projekt in ebenso kritischer wie konstruktiver Weise begleitet haben.

EINLEITUNG: „D O W E (S T I L L ) N E E D

THE

CONCEPT

OF

B I L D U N G ?“

„Do We (Still) Need the Concept of Bildung?“ Mit dieser provokanten Frage überschreiben Jan Masschelein und Norbert Ricken ihre skeptischen Überlegungen, ob das Konzept von ‚Bildung‘ immer noch geeignet sei, gegenwärtige Entwicklungen im Feld der Erziehung in kritischer Weise zu analysieren: „Even if at one moment in history it probably did play a critical role, Bildung has long since lost the possibility of functioning as a point of resistance and critical principle for analysing the ways in which we conduct our lives and the ways in which our conduct is itself conducted.“ (Masschelein/Ricken 2003: 139) Grund dieser Skepsis ist ein zentraler Verdacht: Von ihren Ursprüngen im 18. Jahrhundert an sei die Idee der ‚Bildung‘ untrennbar mit dem Programm verknüpft, die sich ‚bildenden‘ Individuen als Motor für soziale Transformationsprozesse in Gebrauch zu nehmen. Blind gegenüber ihren eigenen Machteffekten, müsse die Bildungsidee damit als Teil eines strategischen ‚Dispositivs‘ betrachtet werden, dessen Wirkung das vermeintlich kritische Unternehmen einer ‚Befreiung‘ und ‚Emanzipation‘ von vornherein unterlaufe. Entsprechend kommen die Autoren zu dem nüchternen Ergebnis, „that we should abandon the concept of Bildung“ (ebd.: 150). Der von Masschelein und Ricken geäußerte Verdacht verdient eine genauere Betrachtung. Ansatzpunkt ihrer Überlegungen bildet ein spezifischer Blick auf das Bildungskonzept, den sie von dem französischen ‚Philosophen‘ Michel Foucault übernehmen. Weder betrachten sie ‚Bildung‘ sozialgeschichtlich als Instrument zur Bewahrung des Bürgertums noch ideengeschichtlich als ein gegen Herrschafts- und Machtmechanismen gerichtetes utopisch-kritisches Konzept. Stattdessen schlagen die Autoren vor, sich der Bildungsidee genealogisch zu nähern. Die von Foucault vorgeschlagene Genealogie richtet ihre Aufmerksamkeit so auf die Herkünfte und Entstehungspunkte von scheinbar selbstverständlichen Gegebenheiten, dass diese als Pro11

AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

dukte von strategischen (zurichtenden und ausschließenden) Machtspielen sichtbar werden. Foucault hat dieses Vorgehen in seinen Studien immer wieder vorgeführt und dabei einen spezifischen Machtbegriff entwickelt, auf den sich Masschelein und Ricken in ihren Ausführungen beziehen: Macht ist demnach kein Prinzip der Repression und Zerstörung, sondern vielmehr eines der Zurichtung und Produktion. Sie durchzieht und formt die Gesellschaft in all ihren Verästelungen, indem sie Individuen, Gruppen und Institutionen zueinander in ein spezifisches Verhältnis setzt, das den Ausgangspunkt für strategische Techniken und Praktiken bildet. In eben diesem Sinne führen Masschelein und Ricken nun die Bildungsidee als grundlegende Struktur einer historisch neuen Machtform vor: einer Macht durch ‚Führung der Führungen‘ (vgl. ebd.: 147). Ende des 18. Jahrhunderts in den erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Diskurs eingeführt, sei ‚Bildung‘ als ein kritisches und emanzipatorisches Unternehmen entworfen worden, in dem sich die Menschen von allen Formen der Macht befreien sollten. Im Bruch mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Determinismen und Zwängen habe die Idee der Bildung „an endless task of practical self-determination in and through the world“ (ebd.: 146) bezeichnet. Gerade jener Gedanke der individuellen Selbstvervollkommnung sei allerdings von vornherein an den Gedanken einer machtförmigen Ingebrauchnahme der Individuen gekoppelt gewesen. Die Definition des individuellen Lebens als „a dynamic, rather than fixed or defined, endless process of self-development“ (ebd. 147) sei ein Schachzug zur Etablierung einer Gesellschaft gewesen, in der jeder Einzelne zum erhaltenswerten und strategisch aufzurichtenden ‚Humanposten‘ des sich ausbreitenden Staates wurde: Durch die Unabschließbarkeit der Aufgabe der Bildung habe sich ein Möglichkeitsfeld eröffnet, in die individuelle Selbstvervollkommnung strukturierend und führend einzugreifen. Eine besondere Form von ‚Macht‘ sei auf die Bühne getreten: die Pastoralmacht, in deren Mittelpunkt das moderne Subjekt als neugeborene Instanz erscheint, die sich selbst auf eine unbestimmte, bessere Zukunft hin führen muss. ‚Macht‘ okkupiere demnach das Leben des Einzelnen, insofern dieses – insbesondere durch pädagogische Maßnahmen – in seinen individuellen Versuchen der vervollkommnenden Selbstführung geführt wird. Vor diesem Hintergrund, so die Schlussfolgerung der Autoren, könne die Bildungsidee und mit ihr das ‚Bildungssubjekt‘ nicht mehr als kritischer Widerstandspunkt gegen die zurichtenden und begrenzenden Bedingungen der Gesellschaft betrachtet werden. Gleichzeitig müsse sie ebenso als strategischer Posten der Macht in den sich zur selben Zeit vollziehenden Umbrüchen der Gesellschaft erkannt werden. Dieser Umstand werde systematisch ausgeblendet, wenn aktuelle bildungstheoretische Diskurse ein ‚ursprüngliches‘ Bildungsideal beschwören, das in heutigen Diskussionen zur ‚Lerngesellschaft‘ lediglich durch Missbrauch und Verfälschung korrumpiert werde. Sol12

EINLEITUNG: „DO WE (STILL) NEED THE CONCEPT OF BILDUNG?“

che Beschwörungen einer ‚wahren‘ und ‚ursprünglichen‘ Bildungsidee verkennten nämlich, dass von Beginn an eine Ambivalenz im Konzept der Bildung angelegt war: Die in ihm aufgehobene Idee einer gegen die gesellschaftlichen Zwänge gerichteten individuellen Freiheit zur Selbstvervollkommnung ist zugleich der zentrale Ansatzpunkt für eine ‚Regierung durch Individualisierung‘. Und diese Komplizenschaft von ‚Bildung‘ und ‚Macht‘, so Masschelein und Ricken, sollte Anlass dafür sein, das Bildungskonzept abzulehnen (vgl. ebd. 149f.). Die Argumente der Autoren sind nur schwer von der Hand zu weisen: Weshalb an einem Konzept festhalten, das den gesellschaftlichen Zugriffen auf den Einzelnen, denen gegenüber es doch gerade eine kritische Distanz ermöglichen soll, eine strategische Stütze zu liefern scheint? Zumal sich das Konzept der ‚Bildung‘ auch von anderer Seite einer Kritik ausgesetzt sieht, die es mal als einen nationalen „Sonderweg“ (Bollenbeck 1996) totsagt, mal als semantisch unklares und damit wissenschaftlich ungeeignetes „ContainerWort“ (Lenzen 1997) verwirft? Wäre es nicht produktiver, eine andere Kategorie in den erziehungswissenschaftlichen Diskurs einzuführen, die die kritischen Funktionen der ‚Bildungsidee‘ übernehmen kann, ohne jedoch deren machtstrategischen Verwicklungen zu unterliegen? Tatsächlich scheint der konsequente Verzicht auf das Bildungskonzept das wirksamste Mittel, den genannten Problemen zu entgehen. Folgt man allerdings den Überlegungen Foucaults – jenes Autors, dessen Machtkonzeption für Masschelein und Ricken Grundlage ist, das Bildungskonzept abzulehnen – so wird deutlich, dass die Sache so einfach nicht ist. Foucault zufolge geht jedes Wissenskonzept notwendig mit Ausschlussprozeduren und Machteffekten einher. Es ist unmöglich, aus diesem Feld herauszutreten, um ‚neutrale‘, nicht von Macht kontaminierte Begriffe zu schaffen. Lehnt man deshalb einen Begriff aufgrund seiner spezifischen Machtwirkungen ab, so sollte man sich im Klaren darüber sein, dass ein eventueller Ersatzbegriff ebenso – wenn auch auf andere Weise – zurichtend und ausschließend wirkt. Masschelein und Ricken sind sich dieser Problematik sehr wohl bewusst, weshalb sie für ihre Annäherung an das Bildungskonzept ausdrücklich einen ‚genealogischen‘ bzw. ‚dekonstruktiven‘ Blick wählen (vgl. ebd.: 147). Dekonstruktion und Genealogie geht es weder darum, den wahren ‚Ursprung‘ eines Gegenstandes ans Licht zu bringen, noch ihn abzuschaffen oder zu zerstören. Vielmehr zielt ihr Programm darauf, die Konstellation seiner Entstehung und Formierung zu betrachten, die Linien seiner Herkünfte zu verfolgen, seine aktuellen Verstrickungen mit Ausschlussmechanismen und Machtprozeduren aufzudecken und seiner Rolle in Wissensformationen nachzugehen, um scheinbar notwendige Verknüpfungen in Frage zu stellen und dabei einen neuen und anderen Blick auf den Gegenstand zu gewinnen. Tatsächlich richten Masschelein und Ricken ihre Aufmerksamkeit zunächst in genealogischer 13

AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

Manier vor allem auf das, was im Konzept der Bildung ausgeschlossen scheint: „the idea of contingency as human finitude and of plurality as differential sociality“ (Masschelein/Ricken 2003: 150). Diese Analyse des Verworfenen mündet jedoch nicht in einen Neuentwurf des Bildungskonzepts. Die Autoren begnügen sich mit der allgemeinen Forderung, praktische und theoretische Wege zu (er)finden, um die im Bildungskonzept ausgeschlossene Frage nach alternativen, der Kontingenz und Pluralität entsprechenden Lebensweisen in neuer und anderer Weise zu stellen (vgl. ebd.). Will man nicht bei dieser offenen Forderung stehen bleiben, kommt man nicht umhin, jene neuen theoretischen und praktischen Wege zumindest probehalber zu entwerfen. Leider verzichten die Autoren (an dieser Stelle) auf ein solches Experiment. Allerdings deutet sich in ihrer Forderung nach neuen ‚Wegen und Worten‘ (vgl. ebd.: 150) bereits an, dass dieser Entwurf auf jeden Fall in eine andere Kategorie als die der ‚Bildung‘ münden müsste. Tatsächlich gibt es demgegenüber aber einen alternativen Weg, der sich in der von Foucault vorgeschlagenen genealogischen Praxis abzeichnet. Foucaults ‚Kritik‘ an den mit bestimmten Begriffen und Ideen aufgerufenen Wissensformationen und Machtmechanismen zielt nie auf die verwerfende Negation dieser Konzepte. Stattdessen richten sich seine genealogischen Analysen darauf, diese in sich selbst zu wenden und ihre Herkünfte und Entstehungspunkte sichtbar zu machen, um sie in dieser Weise anders zu denken. Das bedeutet aber, dass die Konzepte als solche nicht abgelehnt, sondern produktiv unterlaufen und reformuliert werden. Wenn die vorliegende Arbeit deshalb Masschelein und Ricken in ihrer Kritik am Bildungsbegriff folgen möchte, so kommt sie dabei dennoch zu einem anderen Ergebnis. In analoger Weise geht sie davon aus, dass ‚Bildung‘ ein Konzept darstellt, dessen Implikationen von Individualität, Subjektivität und Macht gerade im gegenwärtigen Kontext ausgesprochen vorsichtig und kritisch behandelt werden müssen – ohne dabei jedoch ein ursprüngliches, lediglich im Verlauf der Geschichte ‚korrumpiertes‘ Bildungsideal zu beschwören. Ebenso folgt diese Arbeit der Annahme der Autoren, dass Foucault mit seinem Konzept der ‚Macht‘ und der ‚Genealogie‘ ausgesprochen produktive Ansatzpunkte bietet, um sich dem Bildungsbegriff zu nähern. Doch anders als Masschelein und Ricken vertritt sie die Ansicht, dass der Bildungsbegriff nicht durch andere Konzepte ersetzt werden muss, sondern in neuer und anderer Weise reformuliert werden kann. Ricken verweist darauf, dass jeder, der es unternimmt, ‚Machtmechanismen‘ zu denunzieren, selbst bereits das Feld der Macht betritt: Etwas als ‚machtförmig‘ aufzudecken, ist insofern kein neutraler analytischer Akt, als er mit dem (normativen) Anspruch verbunden ist, etwas Verborgenes und bislang Unerkanntes zu entlarven (vgl. Ricken 2004: 120). In ähnlicher Weise könnte man sagen, dass jede Begriffsbestimmung in ein Spiel der Macht eintritt, dem sie nicht entgehen kann: Mit jedem Begriff ist ein Akt der Wissens14

EINLEITUNG: „DO WE (STILL) NEED THE CONCEPT OF BILDUNG?“

zurichtung und des Ausschlusses verbunden. Foucaults ‚Lösung‘ dieses Problems richtet sich darauf, im Zentrum der Machtmechanismen einzusetzen, um sie von dort aus zu ‚stören‘ und einer strategischen Umdeutung zu unterziehen. Eben dies ist das Projekt der vorliegenden Arbeit. Der Versuch, den Bildungsbegriff in genealogisch-strategischer Weise zu reformulieren, sodass ein anderes Verständnis gewonnen werden kann, vertritt dabei auch ein disziplinäres Anliegen. Wenn, wie Masschelein und Ricken konstatieren, ‚Bildung‘ gegenwärtig zu einem Schlüsselbegriff der Politik geworden ist, der (scheinbar) überlebenswichtige Kompetenzen in einer ‚Lerngesellschaft‘ repräsentiert (Masschelein/Ricken 2003: 141), so sollte der Erziehungswissenschaft daran gelegen sein, diesen Begriff nicht einfach aufzugeben. Stattdessen müsste sie sich aus eben diesen Gründen aufgefordert fühlen, selbst eine strategische Position im Bildungsdiskurs zu besetzen (vgl. Groppe 2005). Am Ausgangspunkt eines solchen Versuchs der Neufassung des Bildungsbegriffs stehen allerdings zunächst eher Fragen als Antworten: Ist es überhaupt möglich, ein historisch so belastetes und semantisch so vieldeutiges Konzept wie ‚Bildung‘ zu reformulieren? Wie müsste ‚Bildung‘ dann gefasst werden? Und wie lässt sich dabei verhindern, dass diese Neufassung wiederum in die von Masschelein und Ricken beschriebene Falle des „government of individualisation“ (Masschelein/Ricken 2003: 150) führt? Foucault schlägt vor, im Zentrum der Machtmechanismen anzusetzen, um diese von dort aus zu stören. Folgt man Masschelein und Ricken, so zeigt sich die Machtförmigkeit von ‚Bildung‘ vor allem in ihrer gegenwärtig besonders stark hervortretenden Ambivalenz als ‚kritisch-utopisches‘ und zugleich ‚unkritisch-machtförmiges‘ Konzept. Entsprechend setzt mein Versuch einer Neufassung des Bildungsbegriffs in diesem ‚Zentrum‘ der Machtmechanismen ein: der Idee von Bildung selbst. Dabei geht es weder um das Aufdecken von ‚Fehldeutungen‘ des Bildungskonzepts noch um eine Kampfansage gegen dessen bildungspolitischen ‚Missbrauch‘. Vielmehr erfolgt der Einsatz in der gegenwärtigen bildungstheoretischen Debatte um die Bedeutung und die Konzeption von ‚Bildung‘. In diesem ersten Schritt geht es nicht um eine kritische Ablehnung aktueller Theoriediskurse zu ‚Bildung‘, sondern um deren strategische Rekonstruktion. Schon diese lässt nämlich erkennen, dass in der gegenwärtigen Beschäftigung mit dem Bildungskonzept eine Tendenz vorherrscht, die sich auf die kritische Reformulierung des Bildungsbegriffs richtet, ihn also versucht neu zu ‚erfinden‘. In der Rekonstruktion dieser gegenwärtigen Theoriediskurse zur Modifikation und Neufassung des Bildungsbegriffs soll ein Arbeitsbegriff von ‚Bildung‘ entwickelt werden, der als heuristische Folie für das Projekt der Reformulierung des Bildungsbegriffs dienen kann. Dieser Arbeitsbegriff beruht darauf, ‚Bildung‘ im Hinblick auf seine verschiedenen ‚Dimensionen‘ zu prüfen. Vier solcher Dimensionen sollen vorgeschlagen werden: erstens das ‚Bildungssubjekt‘, zweitens ‚Bildung und 15

AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

Gesellschaft‘, drittens ‚Bildung und Normativität‘ und viertens die ‚Prozessstruktur von Bildung‘. Die in dieser Weise entwickelte Heuristik versucht zentrale Aspekte von ‚Bildung‘ einerseits strukturell, andererseits in ihrer aktuellen inhaltlichen Problematik so herauszuarbeiten, dass sich im zweiten Kapitel der Arbeit der Versuch einer Reformulierung des Bildungsbegriffs anschließen lässt. Eine fünfte ‚Dimension‘ nimmt dabei eine Sonderstellung ein: das Verhältnis von Bildungstheorie zu empirischer Bildungsforschung. Während die vier genannten Aspekte der Bildungsidee gegenwärtig zumindest insofern konsensfähig scheinen, als sie von allen bildungstheoretischen Konzeptionen als notwendig für die theoretische Begründung einer Konzeption von Bildung erachtet werden, gilt dieser Konsens nicht für die Dimension einer ‚empirischen Bildungsforschung‘. Es soll deshalb zusätzlich in einem fünften Abschnitt das Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung diskutiert werden. Während Masschelein und Ricken Foucaults Konzeption von ‚Macht‘ herausgreifen, um davon ausgehend das Konzept der ‚Bildung‘ zu kritisieren, gehe ich davon aus, dass Foucaults Konzepte noch in anderer, weiter reichender Weise bildungstheoretische Überlegungen kontaminiert. Foucaults Anliegen ließe sich als ein Programm betrachten, das eine auffällige Analogie zu dem aufweist, was Masschelein und Ricken mit dem Verweis auf das Ausgeschlossene, auf Pluralität und auf Alterität (vgl. Masschelein/Ricken 2003: 150) fordern. Foucault bietet nämlich nicht nur in theoretischer Hinsicht analytische Kategorien, mit denen sich Wissensformationen und Machtbeziehungen in genauer Weise beschreiben lassen. Foucault ist ebenso ein Praktiker: ein genealogischer Forscher, der in seiner Suche nach Herkünften und Entstehungspunkten auf das (und die) darin Ausgeschlossene(n), Abgewiesen(en) und Unterdrückte(n) verweist. Foucaults Forschungsprogramm ist damit in besonderer Weise als ein kritisches Unternehmen zu betrachten, das in sich darauf zielt, vor dem Hintergrund jener Machmechanismen Gegebenheiten neu und anders zu entwerfen. Man könnte sagen, dass Foucault somit ein Anliegen verfolgt, das dem kritischen Impetus der Bildungsidee analog scheint, ohne dabei jedoch die Machtproblematik auszuklammern. Ausgehend von dieser produktiv scheinenden ‚Analogie‘ ist es das Ziel dieser Arbeit, den Bildungsbegriff mit Hilfe Foucaultscher Konzepte neu zu fassen. Dafür wird im zweiten Kapitel jede der heuristisch entwickelten ‚Dimensionen‘ des Bildungsbegriffs in Bezug auf Foucaults theoretisches und praktisches ‚Programm‘ geprüft und reformuliert. Es gilt sozusagen, die implizite ‚Bildungstheorie‘ Foucaults herauszuarbeiten. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass Foucault selbst den Bildungsbegriff nie verwendete und vermutlich sogar mit Blick auf dessen institutionelle Einbettung und seine politische Inanspruchnahme abgelehnt hätte. Richtet man das Augenmerk deshalb auf die bildungstheoretischen Anregungspotenziale der Schriften Foucaults, so muss die 16

EINLEITUNG: „DO WE (STILL) NEED THE CONCEPT OF BILDUNG?“

Aufmerksamkeit ebenso den Grenzen und Unstimmigkeiten einer solchen Analogisierung gelten. Das Anregungspotenzial von Foucaults Schriften ist jedoch nicht auf theoretische und kritische Aspekte begrenzt. Foucaults Projekte sind zugleich ‚empirischer‘ Natur und entwickeln ihre Konzepte auf der Basis materialreicher Studien. Dabei rücken ‚Theorie‘ und ‚Empirie‘ in eine überraschende Nähe zueinander, insofern Foucault davon ausgeht, dass auch die Arbeit am empirischen Gegenstand eine (kritische) Praxis darstellt. Weder theoretische Überlegungen noch empirische Untersuchungen bewahren ihrem Gegenstand gegenüber eine Neutralität: In beiden Fällen handelt es sich um eine strategische Annäherung, die perspektivisch ist, ihren Gegenstand auf spezifische Weise zurichtet und damit unvermeidlich Effekte nach sich zieht. Theoretische Reflexionen und empirische Studien, so könnte man sagen, sind für Foucault zwei Forschungsbereiche, die über den Begriff der ‚Praxis‘ miteinander verbunden sind. Diese Verbindung soll den Ausgangspunkt dafür bilden, sich auch der ‚fünften Dimension‘ des Bildungsbegriff, also der Frage nach dem Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung zu nähern. Dabei kommt es dieser Arbeit zugute, dass Foucault jene Praxis auch in methodischer Hinsicht reflektiert hat. Diese methodischen Reflexionen sollen aufgegriffen werden, um im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit nach den Möglichkeiten einer (qualitativen) empirischen Untersuchung von Bildungsprozessen zu fragen. Dafür werden im dritten Kapitel zunächst Überlegungen unternommen, welcher Gegenstand sich zur Rekonstruktion von Bildungsprozessen eignen und wie eine solche Untersuchung in methodischer Hinsicht aussehen könnte. Bei dem vorgeschlagenen Untersuchungsgegenstand handelt es sich um Weblogs, also im Internet verfasste, persönliche Tagebücher, in denen Individuen (oder Gruppen) öffentlich über sich und ihr Leben schreiben. Weblogs sind in erster Linie Schreibprozeduren, die sich mit Foucaults Begriff der ‚Selbstpraktik‘ als Versuche der Selbstkonstitution lesen lassen. Ambivalent sind solche Versuche, weil sie sich sowohl im Sinne eines „government of individualisation“ (Masschelein/Ricken 2003: 150) als auch im Sinne eines Entzugs aus eben solchen Regierungspraktiken und als Entwurf möglicher anderer Lebensweisen verstehen lassen. Die Untersuchung gilt dementsprechend einer genaueren Betrachtung dieser Versuche hinsichtlich der Frage, unter welchen Bedingungen und in welcher Weise solche ‚Führungen‘ und ‚Entzugsbewegungen‘ tatsächlich stattfinden und ob sich damit möglicherweise so etwas wie ‚Bildung‘ rekonstruieren lässt. Die Entwicklung eines methodischen Instrumentariums schließt an Foucaults analytische Begriffe von ‚Wissen‘, ‚Macht‘ und ‚Ethik‘ an. Mit ihnen sollen die im Weblog figurierten Welt- und Selbstverhältnisse erfasst und auf mögliche Wandlungsprozesse hin geprüft werden. Die im anschließenden vierten Kapitel vorge-

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

stellte Untersuchung gilt aus Zeit- und Platzgründen nur einer einzigen Fallstudie: dem Weblog ‚Stadtelfe‘. Meinem Projekt liegen bestimmte Vorentscheidungen zugrunde. Dies gilt zum einen für die Rekonstruktion des Bildungsbegriffs: Statt seine historischen Wurzeln zu verfolgen, richte ich meine Aufmerksamkeit in erster Linie auf die aktuellen Gebrauchsweisen in bildungstheoretischen Diskursen. Die Entscheidung für ein solches Vorgehen gründet auf dem Umstand, dass es zwar unzählige Versuche der Rekonstruktion und Wiederbelebung historischer Bildungstheorien gibt, demgegenüber jedoch kaum Sichtungen der Tendenzen und Perspektiven im aktuellen bildungstheoretischen Diskurs vorliegen.1 Gerade die gegenwärtigen Tendenzen und Perspektiven sind aber im Verständnis dieser Arbeit notwendiger Ausgangspunkt für den Versuch einer Reformulierung des Bildungsbegriffs. Zum anderen war meine Lektüre der Schriften Michel Foucaults eher davon bestimmt, diese selbst gründlich zu lesen, als in umfassender Weise die nahezu unüberschaubare und ständig wachsende Menge an Sekundärliteratur zur Kenntnis zu nehmen. Dies mag dazu geführt haben, dass das eine oder andere kluge Buch übersehen wurde. Darüber hinaus zeigte sich im Schreiben dieser Arbeit eine irritierende Schwierigkeit. Sie betrifft den Versuch einer tatsächlichen Identifizierung von ‚Bildung‘, also einer Festlegung dessen, was Bildung ‚ist‘ und wo sie sich ‚zeigt‘. Sowohl aus methodologischer als auch aus empirischer Sicht geriet dieser Versuch immer wieder an bestimmte Grenzen. Mehrfach wurde deshalb das Vorgehen geändert, um sich der Frage nach ‚Bildung‘ und ihrer ‚Prozessstruktur‘ von einer anderen Perspektive aus zu nähern. Es ist ein Anliegen dieser Arbeit, das ‚Scheitern‘ an einer Konzeptualisierung von ‚Bildung‘ nicht auszuklammern, sondern es ein Stück weit vorzuführen. Denn dabei wird deutlich, dass jenes ‚Scheitern‘ als systematisches – vielleicht sogar konstitutives Moment – des Bildungsgeschehens selbst betrachtet werden muss. Als Foucault kurz vor seinem Tod gefragt wird, weshalb er solche Schwierigkeiten hatte, die von ihm Jahre zuvor angekündigten Bücher tatsächlich fertigzustellen, verweist dieser auf einen Unwillen gegenüber programmatisch festgelegten Entwürfen: „Beim Schreiben dieser Bücher wäre ich beinahe vor Langeweile gestorben: Sie ähnelten zu sehr ihren Vorgängern. Für manche bedeutet, ein Buch zu schreiben, stets, etwas zu wagen. Zum Bei-

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Eine Ausnahme stellt die Dissertation von Elisabeth Sattler dar (Sattler 2003). Allerdings rekonstruiert sie den bildungstheoretischen Diskurs nicht in seiner Breite, sondern greift sechs unterschiedliche Konzeptionen des Bildungsbegriffs heraus. Eine weitere Ausnahme ist die Dissertation von Tabea Mertz zur „Krisis der Bildung“ (Mertz 1997), die der Postmoderne-Rezeption in der bildungstheoretischen Diskussion nachgeht. Sie fragt jedoch nicht nach den ‚Dimensionen‘ des Bildungsbegriffs, sondern nach der (möglichen) Rolle von Bildungstheorie in einer ‚postmodernen Gesellschaft‘.

EINLEITUNG: „DO WE (STILL) NEED THE CONCEPT OF BILDUNG?“

spiel, es nicht zu schaffen, es zu schreiben. Wenn man vorweg schon weiß, wo man ankommen will, dann fehlt eine Dimension der Erfahrung, nämlich die, welche ebendarin besteht, ein Buch zu schreiben, bei dem man Gefahr läuft, nicht zum Abschluss zu kommen.“ (Foucault 2005k: 903) Vieles davon lässt sich auf das Unternehmen einer Dissertation übertragen: Zu promovieren ist ein Wagnis, dessen ‚Ergebnis‘ im Vorhinein nicht sicher ist und das deshalb Mut erfordert. In vielen Fällen stellt das Schreiben einer Dissertation wohl auch eine Erfahrung dar, die an neue Orte führt, die im ‚Programm‘ nicht vorgesehen und die vielleicht noch nicht einmal auf der anfänglichen ‚Landkarte‘ verzeichnet waren. Ebenso ist bekannt, dass bei einer Promotion die besondere Gefahr gegeben ist, nicht (in der zur Verfügung stehenden Zeit) zu einem Abschluss zu kommen. Und sogar Foucaults Verweis auf die Langeweile ist auf Promotionsprojekte übertragbar: Eine Dissertation ist wenig interessant, wenn sie nur darin besteht, ein vorab entworfenes Programm Schritt für Schritt abzuarbeiten, ohne sich von Sackgassen oder neuen Wegen irritieren zu lassen. Zudem bieten gerade die in einem solchen Projekt unvermeidlichen Modifikationen und Wendungen eine Chance. Denn sie machen deutlich, dass es sich bei einer Dissertation um nichts Fertiges oder Endgültiges handeln kann, sondern nur um einen Versuch. In diesem Sinne ist auch die vorliegende Arbeit als ein ‚Experiment‘ zu betrachten, das nicht auf abgeschlossene, unverrückbare Ergebnisse zielt, sondern Wege ausprobiert, von denen es (noch) nicht genau weiß, wohin sie führen könnten.

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I.

B ILDUNGSTHEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN

1.

Dimensionen des Bildungsbegriffs

1.1

‚Bildung‘: ein aktuelles Konzept

Seit ungefähr 15 Jahren lässt sich in der disziplinären Debatte folgende Feststellung machen: Trotz der Bestrebungen in den 60er und 70er Jahren, die Kategorie ‚Bildung‘ abzuschaffen oder durch Äquivalente zu ersetzen, erfreut sich der Bildungsbegriff erstaunlicher Beliebtheit, die sich unter anderem in einer unüberschaubaren Menge an Veröffentlichungen niederschlägt. Es scheint mithin Konsens, dass „der Bildungsbegriff als zentrale Orientierungskategorie für die pädagogische Reflexion nach wie vor unverzichtbar ist“ (Koller 1999: 11). An diese Feststellung der Unentbehrlichkeit schließen in den meisten Fällen vielfältigste Klärungsversuche an: Historisch und systematisch geht es um Geschichte, Inhalt, Status, Geltung, Funktion, Semantik und Verwendungszusammenhang des Bildungsbegriffs. Ziel ist dabei allerdings kaum seine Rekonstruktion und Wiederbelebung als historisch gewachsenes „Deutungsmuster“ (Bollenbeck 1996), sondern vielmehr der kritische Versuch seiner Neubestimmung vor dem Hintergrund aktueller theoretischer und gesellschaftlicher Herausforderungen (vgl. exemplarisch: Koch/Marotzki/ Schäfer 1997). Die vielfältigen Kritiken und Versuche einer theoretischen Neubestimmung des Bildungsbegriffs erscheinen allerdings ausgesprochen heterogen. Dies allein schon deshalb, weil sie meist unterschiedlichen Systematisierungen folgen. Während z.B. Lenzen von den differenten semantischen Gebrauchsweisen des Begriffs ausgeht (Bildung als „individueller Bestand“, „individuelles Vermögen“, „individueller Prozeß“ und „individuelle Selbstüberschreitung und Höherbildung der Gattung“, vgl. Lenzen 1997: 951ff.), unterscheiden Hansmann und Marotzki vier theoretische Kontexte als „Bausteine zu einer allgemeinen Bildungstheorie“ („Arbeit“, „Wissenschaft und Politik“, „Subjektivitätskonstitution und Wirklichkeitsverarbeitung“, „Wert23

BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

orientierung, Ethik und Religion“, vgl. Hansmann/Marotzki 1988: 14f.). Darüber hinaus divergieren natürlich die Reformulierungsversuche selbst, sowohl in ihrer Schwerpunktsetzung als auch in ihren Ergebnissen. Wird z.B. aus ‚postmoderner‘ oder systemtheoretischer Richtung vor allem die Verbindung der modernen Subjektkonzeption mit dem Bildungsgedanken kritisiert, halten sich andernorts hartnäckig die Ideen von ‚Emanzipation‘ und ‚Mündigkeit‘ (vgl. z.B. von Hentig 1996). Und während viele Bildungstheoretiker1 insbesondere die normative Aufladung des Bildungsbegriffs monieren, wird an anderer Stelle die Frage nach Bildungsstandards und das ‚Kanonproblem‘ in den Vordergrund gerückt. Will man mit einem eigenen Versuch der theoretischen Neubestimmung des Bildungsbegriffs einsetzen, so ergeben sich aus diesem Befund zwei Möglichkeiten: Richtet man sein Augenmerk vornehmlich auf die Diversität vorliegender Neubestimmungsversuche, so landet man unvermeidlich bei der Feststellung einer „Heteronomie von Betrachtungsweisen“, die eine Verständigung – auch innerhalb der Erziehungswissenschaft – „problematisch und konflikthaft sein läßt“ (Tenorth 1997: 971). Möglich wäre damit nur der Anschluss an eine einzelne Richtung der Neubestimmung unter Kritik und Verwerfung aller anderen Ansätze. Versucht man nun stattdessen eher die inhaltlichen und strukturellen Kontinuitäten innerhalb der verschiedenen Neubestimmungsversuche herauszuarbeiten, so ergibt sich demgegenüber möglicherweise der Blick auf eine Reihe allgemeiner systematischer Probleme, vor die sich ein aktueller Bildungsbegriff gestellt sieht, ohne dabei die unterschiedlichen Ansätze gegeneinander ausspielen zu müssen. Diese verschiedenartigen Probleme ließen sich dann als ‚Dimensionen des Bildungsbegriffs‘, d.h. als eine Art heuristischer Begriffsrahmen fassen und könnten den Ausgangpunkt für die systematisch-theoretische Neubestimmung des Bildungsbegriffs darstellen. Hier soll die zweite Perspektive verfolgt werden: Will man den Bildungsbegriff theoretisch begründet reformulieren, so die These, muss man in die Systematik der aktuellen Debatte einsteigen. Erst über die Analyse der gegenwärtigen Problemstellungen und Lösungsversuche lässt sich eine allgemeine Struktur des Bildungsbegriffs rekonstruieren und damit ein kritischer Anschluss für den Neuentwurf formulieren. Die Untersuchungsleitfrage dieses Kapitels lautet deshalb: Welche strukturellen Aspekte (‚Dimensionen‘) muss die Bildungstheorie bei der Bestimmung des Bildungsbegriffs aufgreifen, theoretisch begründen und inhaltlich entfalten? Ziel ist also – jenseits aller inhaltlichen Divergenzen – einen systematischen Rahmen zu bestimmen, der von einem theoretische Geltung beanspruchenden Bildungsbegriff inhalt1

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Ich habe der besseren Lesbarkeit wegen auch dort, wo beide Geschlechter gemeint sind, auf die explizite Nennung von männlicher und weiblicher Form verzichtet.

DIMENSIONEN DES BILDUNGSBEGRIFFS

lich ausgefüllt werden muss. Als ‚heuristische Dimensionierung‘ soll er den Ausgangspunkt bieten, um im zweiten Kapitel einen Bildungsbegriff in Anschluss an theoretische Überlegungen Michel Foucaults zu entwerfen. Die bildungstheoretische Literatur ist ausgesprochen umfangreich und reicht in ihren Wurzeln bis in die Antike. Es scheint jedoch weder sinnvoll noch möglich, dieser Dimensionierung eine Gesamtschau bildungstheoretischer Entwürfe zugrunde zu legen. Für das hier verfolgte Ziel einer ‚Heuristik‘ interessieren vor allem aktuelle Entwürfe, die sich – teils fortspinnend, teils abgrenzend – zwar auf den Bildungsbegriff in seiner historischen Tiefe beziehen, ihn jedoch vor aktuellem Hintergrund neu zu bestimmen versuchen. Auch scheint es wenig sinnvoll, einzelne Ansätze minutiös zu rekonstruieren, da weniger eine spezifische Lösung interessiert als vielmehr allgemeine Probleme und Lösungsansätze, die sich als Richtung für den Entwurf eines aktuellen Bildungsbegriffs anbieten. Ausgehend von diesen Überlegungen lassen sich für den Versuch einer ‚Dimensionierung‘ des Bildungsbegriffs bestimmte Eingrenzungen bezüglich der zugrunde gelegten Literatur vornehmen: Da eher auf die komprimierte Darstellung von Problemstellungen und Lösungsangeboten gezielt wird, bietet es sich an, vor allem auf Beiträge in Zeitschriften und Sammelbänden zurückzugreifen.2 Wenn die Ausarbeitung einzelner Argumente und Probleme es dabei erfordert, werden zusätzlich Monographien hinzugezogen. Der Schwerpunkt bei der Literaturauswahl liegt auf Beiträgen, die produktive Hinweise zur Systematisierung einerseits und zur inhaltlichen Neubestimmung des Bildungsbegriffs andererseits bieten. Historische Rekonstruktionen älterer Bildungstheorien (z.B. von Humboldt, Rousseau oder Hegel) interessieren deshalb nicht bzw. nur, wenn in den Neubestimmungen explizit Bezug darauf genommen wird. Ebenso wird der alltagssprachliche Gebrauch des Bildungsbegriffs ausgeklammert.3 Der so gewonnene Textkorpus wird in zwei Richtungen untersucht. Zum einen sollen verschiedene ‚Dimensionen‘ der theoretischen Bestimmung des Bildungsbegriffs entwickelt werden, um so einen Rahmen zu schaffen, der die heterogene Debatte gliedert und einen systematischen Blick auf ‚Bildung‘ bietet. Vorgeschlagen werden die fünf Bereiche: ‚das Bildungssubjekt‘, ‚Bildung und Gesellschaft‘, ‚Bildung und Normativität‘, ‚die Prozessstruktur von 2

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Basis bilden hier insbesondere die „Zeitschrift für Pädagogik“, die „Pädagogische Rundschau“, die „Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik“ und die „Zeitschrift für Erziehungswissenschaft“ von den Jahrgängen 1990 (bzw. 1998) bis 2005 sowie eine Reihe von Sammelbänden, die sich explizit mit dem Bildungsbegriff auseinander setzen. Ich folge damit dem von Alfred Schäfer skizzierten „disziplinär-kategorialen Horizont“ des bildungstheoretischen Diskurses, der einen bestimmten Rahmen absteckt, welcher sich vor allem von dem Verständnis von ‚Bildung‘ als ‚Ausbildung‘ abgrenzt (Schäfer 2001: 1).

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BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

Bildung‘ sowie ‚das Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung‘. Zum anderen sollen in den einzelnen Dimensionen jeweils Problemstellungen und Lösungsversuche rekonstruiert werden, die auf Perspektiven bei der Konzeption selbst verweisen, also Anhaltspunkte geben, in welche Richtung diese Reformulierungen inhaltlich gehen könnten. Mit diesen Dimensionen soll also einerseits ein heuristischer Rahmen entwickelt werden, in den ich meinen eigenen Bildungsbegriff stellen möchte, andererseits sollen gleichzeitig aktuelle Anforderungen an die einzelne Dimension bestimmt werden, um so im zweiten Kapitel prüfen zu können, inwieweit sich hier jeweils auch inhaltlich mit Foucault anschließen lässt. Natürlich ergeben sich mit Textauswahl und Fragerichtung bestimmte Grenzen meiner Untersuchung. Weder bietet sie eine Gesamtschau der bildungstheoretischen Debatte, noch kann sie den einzelnen Ansätzen in ihrer Eigenlogik gerecht werden. Zudem sind die Kriterien zur Auswahl bestimmter Ansätze (und zur Vernachlässigung anderer) nicht immer zu rechtfertigen – die Entscheidung, ob ein Ansatz produktiv, interessant und anregend ist, ließe sich sicherlich diskutieren. Allerdings geht es der vorgeschlagenen Systematisierung nicht um eine ‚gerechte‘ Rekonstruktion aller aktuellen Neubestimmungsversuche. Stattdessen soll gezeigt werden, dass die Probleme und Lücken des Bildungsbegriffs, aber auch seine Klärung und Neufassung in der Debatte so angelegt sind, dass sich produktiv mit Foucaultschen Theorien und Begrifflichkeiten anschließen lässt.

1.2

Erste Dimension: Das ‚Bildungssubjekt‘

Betrachtet man bildungstheoretische Entwürfe seit dem Beginn der Moderne, so bietet sich als erste Dimension des Bildungsbegriffs die Frage nach dem ‚Subjekt der Bildung‘ an. Denn eines der Ziele bildungstheoretischer Bemühungen ist es, zu klären welche Funktion das Subjekt in seiner eigenen ‚Bildung‘ übernimmt, welche Veränderungen es im Bildungsprozess durchläuft und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Das ‚Bildungssubjekt‘ als erste und wichtigste Dimension auf dem Wege einer Begriffsklärung anzunehmen, wirkt also unmittelbar einleuchtend (vgl. Reichenbach 2001: 32). Dennoch machen neuere bildungstheoretische Konzeptionen deutlich, dass die Idee eines ‚Bildungssubjekts‘ auf bestimmten Grundannahmen beruht und Implikationen mit sich bringt, die ausgesprochen fragwürdig scheinen. Dabei wird weniger die tatsächliche Prominenz des modernen Subjektkonzepts in ‚klassischen Bildungstheorien‘ bestritten als vielmehr hinterfragt, ob nicht bestimmte Probleme und Komplikationen mitbedacht werden müssen, die lange Zeit ausgeklammert wurden. Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, wie sich in aktuellen bildungstheoretischen Ansätzen die Konzeption eines 26

DIMENSIONEN DES BILDUNGSBEGRIFFS

‚Subjekts der Bildung‘ zunehmend verändert und welche Auswirkungen dies auf den Bildungsbegriff hat. Zunächst werden dabei kurz die historischen Implikationen der modernen Subjektkonzeption und ihre Verbindung mit dem Bildungsbegriff rekapituliert, um die Anforderungen an das moderne ‚Bildungssubjekt‘ aufzuzeigen. In einem zweiten Schritt soll nachgezeichnet werden, in welcher Weise die Frage nach dem ‚Subjekt‘ der Bildung in aktuellen bildungstheoretischen Ansätzen neu und anders gestellt wird. Dabei wird vorgeführt, inwiefern das Denken von Differenz, Heteronomie, Alterität und schließlich Sprachlichkeit in die Konzeption des ‚Subjekts der Bildung‘ Einzug erhalten hat. Deutlich wird in dieser Rekonstruktion, dass mit der Frage nach dem ‚Subjekt der Bildung‘ als erster Dimension des Bildungsbegriffs die Vorstellung von ‚Identität‘, ‚Autonomie‘ und ‚Selbstverfügbarkeit‘ als entscheidende Momente von ‚Bildung‘ zur Disposition gestellt werden müssen. Der historische Einsatzpunkt des modernen Konzepts eines ‚Bildungssubjekts‘ wird markiert durch den Übergang des transitiven Bildungsbegriffs der Aufklärung (der Mensch in seiner Bildsamkeit wird durch jemand anderen gebildet) zum klassischen, intransitiv-reflexiven Begriff des Sich-Bildens (vgl. Koch 1999: 78f.). Diese Verschiebung resultiert vor allem aus dem „Grundzug des modernen Denkens [...], der mit Descartes das denkende Subjekt in die Zentralstellung brachte“ (ebd.: 79). Das Subjekt sollte sich demnach aus eigener Kraft und selbstverantwortlich gegen die in der Aufklärung stark verbreitete ‚Erziehung zur Brauchbarkeit‘ richten und sich ihr gegenüber emanzipieren. Seit dieser Verschiebung aber scheint ein Bildungsbegriff, der nicht vom Subjekt ausgeht bzw. die Subjekt-Welt-Relation als eine Art Minimalkonsens thematisiert, geradezu undenkbar (vgl. Tenorth 1997: 975). Bildung in der Moderne ist offensichtlich per definitionem immer Bildung des Subjekts. Doch was genau macht das ‚moderne Subjekt‘ so besonders geeignet für bildungstheoretische Überlegungen? Der Subjektbegriff in seiner früheren Bedeutung weist eine große Nähe zum Substanzbegriff auf. Gemeint war damit auf ontologischer Ebene alles Für-sich-Seiende, also das unveränderliche Wesen als Träger zufälliger und veränderlicher Eigenschaften. Mit Descartes vollzog sich nun eine Identifikation von Subjekt und denkendem Ich, und der Subjektbegriff nahm nicht mehr (nur) eine ontologische, sondern (auch) eine erkenntnistheoretische Bedeutung an (vgl. Metzler 19992: 572). Das Subjekt als autonomes Wesen wird zum sich selbst bewussten Ausgangpunkt von Erkenntnis und Wahrheit. Wenn aber das Subjekt Bezugspunkt jeder objektiven Erkenntnis ist, so gehören dazu auch ‚Selbsterkenntnis‘ und die Erkenntnis ‚wahrer‘ moralischer Urteile. Dem Subjekt wird so ein unermessliches Vermögen, aber auch eine schier unendliche Verantwortung übertragen. Als Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erkenntnis, autonome Grundlage ethischer Entscheidungen und selbstbewusster Akteur ist es souveräne Instanz der Wahrheit und der Mora27

BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

lität. Dies bildet nun die Vorlage für das moderne Verständnis von ‚Bildung‘. Das Subjekt als das, was seinen Handlungen und den diesen vorausliegenden Urteilen und Erkenntnissen zu Grunde liegt, bildet sich selbstbestimmt unter Verpflichtung auf Moral und erkennbare Wahrheit. Selbstbewusstsein, Selbsterkenntnis, Verantwortung und Autonomie werden zu den tragenden Begriffen eines modernen Verständnisses von Bildung und deren Ausgangsund Zielpunkt: des Bildungssubjekts. Es ist mittlerweile unstrittig, dass das Konzept eines solchen ‚modernen Bildungssubjekts‘ kaum mehr theoretisch zu überzeugen vermag. Die Vorbehalte gegenüber dem ‚modernen Subjektverständnis‘ sind vielfältig und beziehen sich vor allem auf die Möglichkeit eines Bewusstseins und einer Erkenntnis seiner selbst, auf die Idee eines abgeschlossenen, kohärenten ‚Wesens‘ und auf die Vorstellung einer Autonomie, die selbstbestimmtes, freies und unabhängiges Handeln zulässt. Diese umfangreiche und in vielen Varianten wiederholte Kritik soll hier nicht ausgeführt werden.4 Interessant und verwunderlich ist vielmehr, dass sich das Subjektkonzept trotz dieses Szenarios bildungstheoretisch weiterhin großer Beliebtheit erfreut. Gibt es denn, so ließe sich mit Peukert fragen, in solch (bildungs-)subjektkritischen Zeiten, überhaupt „noch die Möglichkeit, von einem Subjekt, von Intersubjektivität und von Handeln zu sprechen“ (Peukert 2000: 516)? Erstaunlicherweise scheinen die meisten Bildungstheoretiker diese Frage tatsächlich positiv zu beantworten: Weder soll auf das Subjekt verzichtet noch der Bildungsbegriff verabschiedet werden. Vielmehr wird die andauernde Reflexion über das Bildungssubjekt als Zeichen dafür genommen, dass es ein Defizit in der Theoriebildung gibt. Und entsprechend gehe es darum, „nicht weiter den Phantomen radikaler Unabhängigkeit nachzujagen“ (Meyer-Drawe 1991: 398), die lange Zeit die Idee des Bildungssubjekts bestimmten, sondern die immanente Logik des Zerfalls von Subjektivität als bildungstheoretisches Problem zu zeigen und das Bildungskonzept entsprechend umzugestalten (vgl. Pongratz 1988: 296). Eben solche Umgestaltungsversuche finden sich verstärkt in den neu einsetzenden bildungstheoretischen Reflexionen der letzten fünfundzwanzig Jahre. Dabei bestimmen „dichotomische Figuren das Diskursfeld“ (MeyerDrawe 1990b: 83). Gegenüber früheren Eigenschaften des Bildungssubjekts (z.B. Aktivität, Identität und Autonomie) werden gegenläufige Momente akzentuiert (z.B. Passivität, Differenz und Heteronomie). Betont wird dabei aber meist, dass es nicht um die einfache Ablösung früherer Eigenschaften durch 4

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Einen Überblick über den „Tod des Subjekts“ bietet der Sammelband von NaglDocekal und Vetter (vgl. Nagl-Dokekal/Vetter 1987). Zur erziehungswissenschaftlichen Aufarbeitung der „Illusionen von Autonomie“ vgl. z.B. MeyerDrawe 1990a und Schäfer 1996b. Eine umfassende historisch-systematische Aufarbeitung der Konzeptionen von Subjektivität insgesamt bietet Ricken 1999a.

DIMENSIONEN DES BILDUNGSBEGRIFFS

ihr Gegenteil gehen kann, da solch eine Denkweise „Potentiale der Neuorientierung des Denkens nicht freisetzen kann“ (ebd., vgl. auch Ricken 1999b: 214). Die Revision des Bildungsbegriffs in Bezug auf das ‚moderne Subjekt‘ als seine prominente Dimension zielt also darauf, jenseits einer einfachen Alternative bestimmte Probleme aufzugreifen und in eine neue, bildungstheoretisch angemessenere Subjektkonzeption zu integrieren. Es lassen sich dabei verschiedene strategische Schwerpunkte ausmachen, die hier unter den Stichwörtern ‚Differenz‘, ‚Heteronomie‘, ‚Alterität‘ und ‚Sprachlichkeit‘ erläutert werden sollen.

Differenz Seit etwa der Mitte der 60er Jahre gab es allgemeine Bestrebungen, den Bildungsbegriff als pädagogische Leitkategorie durch theoretische Äquivalente zu ersetzen (vgl. z.B. Hansmann 1988: 24), um den Ansprüchen einer zeitgemäßen, empirisch verfahrenden Sozialwissenschaft gerecht zu werden. Eines dieser Äquivalente war der Begriff der ‚Identität‘, der als neue pädagogische Zielkategorie vorgeschlagen wurde. Das Subjekt sollte nicht mehr ein abstrakt-idealistisches Bildungsideal, sondern das konkrete Ziel einer ‚Ich-Identität‘ verfolgen.5 Und auch wenn der Identitätsbegriff in den 80er Jahren wieder an Bedeutung verlor und eine Wiederkehr des Bildungsbegriffs festzustellen war (vgl. Schweitzer 1988: 55), hält die bildungstheoretische Diskussion über die damit angesprochenen Probleme bis heute an – allerdings weniger unter dem Stichwort der ‚Identität‘ als vielmehr unter dem Begriff der ‚Differenz‘. Mit Heinrichs lässt sich die zugrunde liegende Kritik an dem modernen Konzept der Identitätsbildung folgendermaßen zusammenfassen: Unter den aktuellen Bedingungen einer radikal pluralen Gesellschaft sei das moderne Konzept einer substantiellen, kohärenten, kontinuierlichen und konsistenten Identitätsbildung empirisch gar nicht einlösbar. Darüber hinaus müsse der normative Kern der Identitätstheorien per se abgelehnt werden, sofern er die Unterwerfung unter gesellschaftlich vorgeschriebene Vernunftformen und Spielregeln erzwinge. Alternativ biete sich das Konzept der ‚Differenz‘ als neuer Schlüsselbegriff an. Aufgegeben sei damit, Differenz auch im Individuum zu denken, um persönliche Erfahrungen von Fragmentarisierung, Flexibilisierung, Pluralisierung und Ausdifferenzierung als gesellschaftlich bedingte zu verstehen und sich gegenüber der begrenzenden Idee von ‚Identität‘ auf die Produktivität der Verschiedenheit der Lebensformen und Erfahrungen zu besinnen (vgl. Heinrichs 2000: 484ff.). Dieses Umdenken hat bildungstheoretische Konsequenzen. Zum einen muss das Bildungssubjekt in seiner Kon-

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Zur differenzierteren Betrachtung der verschiedenen Konzeptionen von ‚IchIdentität‘ vgl. z.B. Stroß 19942.

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BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

zeption anders gedacht werden: als „dezentriertes Subjekt“, das „sich nie vollständig erfassen kann, nie vollständig bei sich und mit sich identisch sein kann“ (Peukert 2000: 515). Zum anderen ergibt sich eine verschobene Aufgabenstellung von ‚Bildung‘. Während vorher die Ausbildung einer Ich-Identität als positive Synthetisierungsleistung des Subjekts betrachtet wurde, das damit „einen Mangel an Substanz und Kontinuität im Leben“ (Böhm 1997: 695) ausgleicht, wird jetzt genau diesem Prozess der Kohärenzerzeugung vorgeworfen, er sei gewaltsam und ein Akt der Unterwerfung. An seine Stelle rückt das „Ethos der Differenz“ (Reichenbach 1997), in dem eine der Pluralität, Differenz und dem Dissens ausgelieferte Existenz bejaht und als uneinholbare und unabschließbare Seinsweise gestaltet wird (vgl. auch Ricken 1999b).6

Heteronomie Auch die Vorstellung von ‚Autonomie‘ ist Teil der modernen Bestimmung des Subjektbegriffs. Autonomisierung öffnet die Perspektive auf eine „Subjektivität, die ihr Verhältnis zu sich, zu anderen wie zur bearbeiteten Natur eigenständig zu gestalten fähig sein sollte – ohne Bevormundung durch Autoritäten, ohne Verhaftung an Tradition und Vorurteile.“ (Schäfer 1993: 41) Autonomie ist also vor allem ein „Kampfbegriff gegen jede Form von Herrschaft“ (Meyer-Drawe 1991: 391) und hat sich vor diesem Hintergrund mit Konzepten wie Mündigkeit, Emanzipation, Selbstbestimmung, Kritikfähigkeit, Vernunft und Verantwortung verbunden. Die Idee eines Subjekts, das sich selbst Gesetze gibt und einen kritisch-souveränen Blick auf die Welt wirft, hat sich dabei „beinahe zu einer Selbstverständlichkeit und deren Infragestellung zu einem Tabu der Moderne herausgebildet“ (Meyer-Drawe 1998: 33).7 Tatsächlich wird aber seit längerer Zeit über die Problematik dieser Perspektive diskutiert. Konsens scheint dabei, dass das Selbst der Selbstbehauptung eine Illusion ist, da es aufgrund der Vermitteltheit von gesellschaftlichen und sprachlichen Strukturen nicht einholbar ist (vgl. z.B. Schäfer 2001: 5 und Peukert 1998: 23). Gleichzeitig wird hinter dieser Illusion der Selbstbestimmtheit deutlich, dass ‚Autonomie‘ auch eine Zumutung bzw. eine Form der Unterwerfung darstellt (vgl. Schäfer 1996a). Denn das Subjekt, das aus 6

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Sowohl Reichenbach als auch Ricken betonen in ihren sehr unterschiedlichen Argumentationen, dass es ausdrücklich nicht darum gehe, das „absolute Ideal von Identität“ durch die einfache Alternative der „reinen Differenz“ zu ersetzen. Reichenbach macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass unsere Informations- und Kommunikationsgesellschaft von einer „Dialektik von Konformismus/Standardisierung und Pluralismus/Individualisierung“ durchzogen ist (Reichenbach 1997: 130). Beide Seiten müssten in die Überlegungen einbezogen werden. Zur Geschichte des Autonomiebegriffs vgl. vor allem Meyer-Drawe 1998, S. 36ff., aber auch Schäfer 1996a, Ricken 1999a, 1999b und Ruhloff 1993.

DIMENSIONEN DES BILDUNGSBEGRIFFS

den selbstverständlichen sozialen Regeln heraustritt, muss zum begründenden Zentrum neuer Regeln werden: zum ethisch verantwortlichen Subjekt, das sich selbst Gesetze gibt. Autonomie bedeutet die Zumutung, sich unter die die Autonomie begründenden Bedingungen (nämlich: Verantwortung und reflexive Selbstkontrolle) zu unterwerfen.8 Auch wenn das Konzept der ‚Autonomie‘ damit „zwischen Illusion und Zumutung“ (Schäfer 1996a: 175) schwankt, wird meist hervorgehoben, dass ein schlichtes Ersetzen des Begriffs der Autonomie durch den der Heteronomie unangemessen wäre. Gerade aus pädagogischer Sicht scheint die Konsequenz aus einer Verabschiedung der Notwendigkeit einer ethisch-reflexiven Selbstvergewisserung unhaltbar: Ohne solch eine Möglichkeit der Kritik bliebe nur die unhinterfragte Affirmation. Und ein „Subjekt, das sich als Akteur verleugnet, entzieht sich der sozialen Verantwortung“ (Meyer-Drawe 1990a: 18). Wie also lässt sich „Subjektivität weiterhin als kritische Kategorie des Verstehens mitmenschlicher Praxis“ (ebd.: 152) bewahren? Der momentan vorherrschende Umgang mit diesem Problem besteht darin, sich weder auf die Seite der Autonomie noch auf die der Heteronomie zu schlagen. Ein Subjekt könne demnach weder als völlig autonom noch als durch und durch fremdbestimmt betrachtet werden. Vielmehr gelte es, sich der unauflösbaren Verstrickung von Autonomie und Unterwerfung zu stellen (vgl. Meyer-Drawe 1990a). Diese Spannung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung sei Grundlage jeder Subjektivität und damit auch Voraussetzung eines zeitgemäßes Bildungsbegriffs, „der von der irreleitenden Alternative von Selbst- und Fremdbestimmung befreit ist und sich auf die bedingte Selbstbestimmung einlassen kann“ (Meyer-Drawe 1998: 35). „Erst wenn die Dissonanzen als zur Subjektivität zugehörig, als ihr inhärent anerkannt werden und damit der Widerstreit von Autonomie und Heteronomie als konstitutive Relation akzeptiert ist, wird eine alte Frage neu zu stellen sein“ (Meyer-Drawe 1990b: 88).9

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Die Bewegung der gleichzeitigen Steigerung von Autonomie und Unterwerfung ist von Alfred Schäfer differenziert nachgezeichnet worden (vgl. Schäfer 1996a und auch Masschelein 2003). Eine andere Alternative wäre, wie Meyer-Drawe ausführt, „die Suche aufzugeben und sich der anonymen Zirkulation von Sprachspielen oder Systemen zuzuwenden. Der Erklärungsgehalt solcher Theorien, die diesen Weg gehen, ist hoch in bezug auf die Anonymisierung und Integrationskraft unserer Gesellschaft. Gleichzeitig können sie nicht die Erfahrung aufnehmen, daß wir selbst als Akteure, wenn auch in einem noch so geringen Maße, Zeugen des Geschehens sind.“ (Meyer-Drawe 1990a: 36f.) D.h. auch die Systemtheorie biete keine Möglichkeit der Kritik in dem Sinne, dass sie zu zeigen vermöchte, „in welchem Maße und an welchem Ort das Subjekt Verantwortung für sein Handeln übernehmen kann“ (ebd.: 37).

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BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

Alterität Der eben ausgeführte Gedanke der Fremdbestimmtheit erfährt darüber hinaus noch eine Radikalisierung, die mit dem Begriff der ‚Alterität‘ umschrieben wird. ‚Alterität‘ als ‚Denken des Anderen‘ ist, wie Masschelein und Wimmer ausführen, kein Problemfeld, das sich erst in der sogenannten ‚multikulturellen Gesellschaft‘ ergibt, sondern stellt ein konstitutives pädagogisches Problem dar. Den Ausgangspunkt bilde die Unmöglichkeit, ‚den Anderen‘ bzw. ‚Alterität‘ vom Subjekt aus denken zu können. Denn der Andere sei nicht ein anderes Subjekt, das zwar fremd, aber prinzipiell eben als Subjekt begreifbar bleibe. Sondern Alterität müsse anders als Subjektivität gedacht werden. Damit lasse sich aber auch in der Rede von dem Anderen nicht mehr vom reflektierenden individuellen Subjekt ausgehen, das sich seines eigenen Seins sicher ist und von dort aus den Anderen anspricht und (an)erkennt. Denn da ‚Alterität‘ das ganz Andere meine, lägen auch die Geltungsbedingungen der Äußerungen nicht mehr im aussagenden Ich, sondern im Diskurs des Anderen (vgl. Masschelein/Wimmer 1996: 11f.). Mit anderen Worten: Die Rede von und über Alterität muss diese notgedrungen verfehlen, da sie ein anderes Reden erforderlich machen würde. Mit dieser Infragestellung des ‚Ichs‘ durch den unkontrollierbaren Anderen, der immer schon von mir Besitz ergriffen hat und dessen Verhältnis zu mir meiner Subjektivität vorgängig ist, ergeben sich nun aber eine Reihe weiterführender Implikationen. Zunächst steht mit der Beziehung des Subjekts zum unvorhergesehenen Anderen auch der Begriff von Intersubjektivität zur Disposition. Denn „wenn Alterität selbst als ein der Subjektivität vorgängiges Verhältnis zum Anderen zu verstehen ist, wie ist dann Intersubjektivität zu denken?“ (Masschelein/Wimmer 1996: 14) Wimmer führt aus, dass Interaktions- und Kommunikationsverhältnisse nicht mehr „von der Subjektivität oder von einer intersubjektiv gültigen objektiven Ordnung aus“ (Wimmer 1996a: 54) gedacht werden können. Denn diese annullierten die Beziehung des Subjekts zu einem Heteronomen, „die nicht wieder in eine Identität aufhebbar ist, weil der andere letztlich einer Aneignung widersteht“ (ebd.: 26), und etablierten eine (falsche) symmetrische Reziprozität. Stattdessen müsse die Beziehung des Subjekts zum Anderen als Paradigma „für das Verhältnis zur Kontingenz, zum Zufall, zur Unvorhersehbarkeit von Handlungsfolgen, zur Unplanbarkeit und letztlich zur Unentscheidbarkeit“ (ebd.: 55) verstanden werden. Insofern ist nicht nur der Andere, sondern auch Intersubjektivität niemals völlig bestimm- und beherrschbar. Wird Intersubjektivität nun nicht mehr vom Ich, sondern vom Anderen aus gedacht, so kann sich aber, wie neben Wimmer vor allem Meyer-Drawe deutlich macht, das Subjekt nur noch als „antwortendes Ich“ verwirklichen (vgl. Meyer-Drawe 1990a: 154). Durch diesen Antwortcharakter, den Sub32

DIMENSIONEN DES BILDUNGSBEGRIFFS

jektivität erhält, treten wiederum zwei Modi hervor, die in der Vorstellung eines autonomen, selbstidentischen Subjekts keinen Platz finden: Passivität und Leiblichkeit. „Das ‚Ich denke‘ der cartesischen Tradition spiegelt [...] eine historische Konstellation wider, in der sich das erkennende Subjekt emanzipieren wollte von seiner Passivität im Hinblick auf wahrheitsfähiges Erkennen.“ (Ebd.: 93) Fähig zur Erkenntnis ist das Subjekt jedoch nur dort, „wo es in angstloser Passivität der eigenen Erfahrung sich anvertraut“ (ebd.: 94f.). Gibt man also das Primat der aktiven Erkenntnistätigkeit des Subjekts auf, so ist eine passive Aufnahmebereitschaft für den Anspruch des Anderen Grundvoraussetzung jeder Intersubjektivität. Der Leib empfängt Sinn, ohne dass dieser vom Geist produziert wurde (vgl. ebd.: 53f.), und deshalb haben wir gerade als leibliche Wesen „nicht die Wahl zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, zwischen Freiheit und Zwang, zwischen aktiver und passiver Synthesis“ (Meyer-Drawe 1991: 398).10 Subjektivität, so die mittlerweile in der Bildungstheorie immer stärker beachtete Konsequenz, ist „untrennbar von der Sinnlichkeit – Leiblichkeit – Körperlichkeit“ (Wimmer 1996a: 47). Am wichtigsten erscheint jedoch, dass das Verhältnis zum Anderen von vornherein und unhintergehbar die Dimension des Ethischen eröffnet. Das Subjekt schuldet dem Anderen eine Antwort (vgl. Wimmer 1996a: 51). Dies sei nicht als moralische Schuld, sondern als symbolische Schuld zu verstehen, „in die das Subjekt ohne seine Absicht und ohne seine Entscheidung gestellt ist, weil es Subjekt nur sein kann vermittels der Austauschbeziehungen in der symbolischen Ordnung, in die es schon durch die Geburt eintritt, und an der es teilnehmen muß, wenn es denn den Status eines Subjekts erhalten will: es schuldet Antwort, es ist verantwortlich, denn keiner kann an seiner Statt antworten“ (ebd.: 52). Dieser Unterschied zwischen Moral und Ethik markiert eine wichtige Umkehr in der Bedeutungstradition. Gemeint ist Wimmer zufolge nämlich nicht die moralische Selbstkontrolle des autonomen Subjekts, das sich dort für frei hält, wo es selbstbewusst handelt, und dort für unfrei hält, wo es vom Anderen zur Antwort gezwungen wird (vgl. ebd.: 52). Sondern es geht um „Verantwortung als antwortendes Geschehen und ethische Beziehung des Subjekts zum Anderen“ (ebd.), wenn es diesen zur Darstellung bringt und ihn damit doch immer verfehlt und ihm Gewalt antut.11 „Insofern 10 Zu verzichten ist also auch hier ausdrücklich auf eine einfach Umkehr der Opposition von Aktivität und Passivität, Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, Freiheit und Zwang. Es geht immer um ein „Ineinander von Konstruktivität und Rezeptivität, die sich weder voneinander trennen noch ineinander auflösen lassen“ (Ricken 1999b: 223). 11 Peukert verweist darauf, dass sich diese Verantwortung durch das zeitliche Verhältnis zum anderen noch verschärft: „Zeit ist nicht nur Vergehen und Verenden, sondern Zeit ist jeweils auch die Möglichkeit eines Neuanfangs [...]. Der adäquate Umgang mit dem anderen ist deshalb, ihm diese Erfahrung des Un-

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ist Verantwortung die Subversion des selbstverantwortlichen Subjekts und eine so verstandene Ethik die Subversion moralischer Prinzipien, die die Beziehung zum Anderen regulieren, normalisieren und befrieden sollen.“ (Ebd.: 53) Ein Subjekt, das nur in seiner ungreifbaren Relation zum Anderen gedacht werden kann, irritiert den modernen Bildungsbegriff und seinen Subjektzentrismus. Mit Wimmer lassen sich demgegenüber zwei Perspektiven andeuten: Zum einen muss ‚Bildung‘ das Unvorhersehbare, Neue, Zufällige, Kontingente, Singuläre und Unverfügbare durch die Beziehung zum Anderen mitdenken: „Bildung hat nur statt durch Veränderung, d.h. in einer Beziehung zum Außen, Andern, Unbekannten, Fremden, und zwar auch dann, wenn Bildung als Selbstbildung verstanden wird. Wäre Selbstbildung auf das Selbst als Erfahrungsraum reduziert, könnte sie gar nicht als Veränderung stattfinden. Und auch als Umweg über das Außen und Rückkehr in sich selbst [...] ist Veränderung kaum zu verstehen, wenn sie als Herausbildung einer Bestimmung verstanden werden soll, die gerade noch nicht vorher fest- und angelegt ist und als Entelechie sich lediglich entfaltet.“ (Wimmer 1996b: 134) Zum anderen impliziert „die Idee der Bildung die Forderung nach einem Bezug zum Außen, der die Singularität nicht nivelliert, [...] die das Subjekt also nicht mit dem Allgemeinen vermittelt und als Singularität aufhebt, sondern in Bezug zum Anderen und damit zur Forderung nach Gerechtigkeit bringt“ (ebd.: 137).

Sprachlichkeit Eine weitere Tendenz aktueller bildungstheoretischer Konzeptionen des Subjekts ergibt sich aus dem sogenannten linguistic turn der Kultur- und Sozialwissenschaften. Das Schlagwort der ‚Wendung auf die Sprachwissenschaft‘ meint die verstärkte „Reflexion auf die semiotische Vermittlung aller Erkenntnis und schließlich aller Bewußtseinsleistungen“ (Peukert 1998: 23). Bezogen auf die Möglichkeit von Erkenntnis bedeutet dies, dass nicht mehr das Bewusstsein eines individuellen Subjekts ihr Ausgangspunkt ist, „sondern vielmehr die Sprache bzw. jene sprachlichen Prozeduren, kraft derer sich das Welt- und Selbstverhältnis von Subjekten allererst konstituiert“ (Koller 2004a: 190). Kritisiert wird damit ein Subjektbegriff, der sich auf die Vorendlichen und damit jeweils die Möglichkeit des Neuanfangs zuzugestehen.“ (Peukert 2000: 521). Diese Zukunftsbezogenheit und die daraus resultierende „Offenheit und Ungreifbarkeit menschlicher Existenz“ (ebd.: 519) wird bildungstheoretisch immer stärker beachtet (vgl. z.B. den Sammelband „Bildung in der Zeit“; Nieke et al. 2001). Zeitlichkeit erscheint hier nicht als eine gesonderte Dimension, da sie implizit sowohl im Abschnitt 1.2, aber vor allem im Abschnitt 1.4, also im Rahmen der Klärung des Prozesscharakters von Bildung, aufgegriffen wird.

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gängigkeit und Innerlichkeit von Subjekten bezieht: Nicht mehr das cogito ist zentraler Ausgangspunkt eines Bewusstseins, das sich außerhalb von Sprache formiert und durch sprachliche Akte nur (nachträglich) repräsentiert wird. Vielmehr sind die Subjekte Effekte solch sprachlicher Prozeduren, insofern diese alle Denk- und Artikulationsmöglichkeiten überhaupt erst hervorbringen. Jede Selbstverortung des Subjekts ist demzufolge grundsätzlich sprachlich bzw. semiotisch. Das heißt nun allerdings nicht, dass es keine Subjekte mehr gibt: „Mag auch das Subjekt als Zentrum des Denkens und Handelns tot sein, Menschen beschreiben sich selbst (und andere) immer noch.“ (Heyting 1999: 563). Subjekt zu sein heißt demnach, sich in sozial-kommunikativen Kontexten zu bewegen, ohne dabei „allwissender“ oder „begründender Erzähler“ zu sein (vgl. ebd. 564f.). Denn auf der Basis des unendlich offenen Verweisungssystems Sprache wird Identität und Subjektivität zu einer Erzählung, d.h. zu einem Entwurf, der nur noch im Fiktiven Stillstellung und Einheitlichkeit erfahren kann (vgl. Mollenhauer 1983: 158f.). Meder fasst diese Subjektvorstellung im Konzept des Sprachspielers: Dieser sei „kein Subjekt, keine Person, kein Individuum, er hat kein Selbst und auch keine personale Identität, sondern ist ein figurales Gebilde im medialen Raum der Codierung und Decodierung von Zeichen.“ (Meder 1996: 145) Damit rückt „das philosophische Sprachspiel des Mediums“ (ebd.: 157) in das Blickfeld. Wenn nämlich das Subjekt als Zentrum und Ausgangspunkt aufgegeben werden muss und nicht auf die einfache Alternative einer Konzentration auf das Objekt zurückgegriffen werden soll (vgl. ebd.), so bleibt nur „das Vermittelnde, die Mitte, das, was zwischen den Polen liegt“, als „der Raum von Darstellung und Kommunikation, Raum von Zeichen, das Spiel mit eben diesen Zeichen“ (ebd.: 158). Entscheidend an dieser Betonung der Medialität ist der bereits angedeutete Umstand, dass nicht etwas (z.B. eine Bewusstseinsstruktur) abgebildet wird, sondern dass über den ‚Umweg‘ der Darstellung und Vermittlung durch Zeichen etwas überhaupt erst produziert wird. Gerade diese Annahme einer sprachlichen Produktivität ist bildungstheoretisch jedoch entscheidend. Denn sie macht plausibel, wie nach der Verabschiedung des cartesianischen Subjekts – und damit der Idee souveräner Schöpfung – so etwas wie ‚Kreativität‘ und ‚Innovation‘ gedacht werden kann: nämlich als „Figurierungs- und Verweisungspotentiale des Sprachsystems“ (Kokemohr/Prawda 1989: 239). Somit wird die sprachtheoretische Begründung von Subjektivität zur Voraussetzung für Transformation und Wandel, d.h. zur Voraussetzung für etwas, was man ‚Bildung‘ nennen könnte: „Als sprachfähiges Wesen zu existieren bedeutet, im Prinzip über die Fähigkeit zu konstitutionellen Innovationen zu verfügen.“ (Peukert 2000: 518) Damit erklärt sich nun gleichzeitig auch die „in der Pädagogik seit Mitte der 1980er Jahre zu beobachtende Ästhetikorientierung“ (Ehrenspeck 2002: 148).

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Denn wo finden sich eher Prozesse der (semiotischen) Neuerfindung bzw. des Vordenkens als in Literatur, bildender und darstellender Kunst oder Musik?12 Insgesamt zeigt die Diskussion des Subjektkonzeptes im Rahmen bildungstheoretischer Überlegungen, dass es gerechtfertigt scheint, die Frage nach dem ‚Subjekt der Bildung‘ als eine der zentralen Dimensionen des Bildungsbegriffs vorzuschlagen. Deutlich wird aber auch, dass „eine bestimmte Problematisierungsform von Subjektivität heute an ihr Ende gelangt ist“ (Meyer-Drawe 1991: 390) und die Bildungstheorie damit aufgefordert ist, die Frage erneut und auf andere Weise zu stellen. Dabei muss sie von NichtIdentität und Inkohärenz, Fremdbestimmtheit und Vermitteltheit durch gesellschaftliche und sprachliche Strukturen, Kontingenz und Relationalität, Medialität und Produktivität ausgehen. Was aber bedeutet es für ‚Bildung‘, wenn sie nicht mehr als steuerbares, transparentes, egologisch zentriertes Geschehen verstanden werden kann? Grenzt man Alterität und Fremdbestimmtheit nicht als ‚problematische Mängel‘ aus dem Bildungsgeschehen aus, sondern anerkennt ihre konstitutive Rolle, so muss man sich zunächst von der Idee verabschieden, das Subjekt könne seine eigene Bildung steuern. Stattdessen muss die Unverfügbarkeit, Singularität, Medialität und Kontingenz in das Geschehen von Bildung selbst einbezogen werden. Darüber hinaus wird jedoch eine viel zentralere Problemstellung deutlich, die den Bildungsbegriff insgesamt betrifft. Während ausgehend von der modernen Subjektkonzeption Fremdbestimmung, Identitätskrisen und inkohärente Momente der ‚Bildungsgeschichte‘ als im Bildungsprozess zu überwindende Hindernisse gefasst werden konnten, müssen diese ‚Hindernisse‘ nun als konstitutive Bedingung von ‚Subjektivität‘ verstanden werden. Eine Neutralisierung dieser Bedingungen wäre nicht nur illusionär, sondern erschiene fast als Gegenteil von ‚Bildung‘. Es stellt sich die Frage, was ‚Bildung‘ – ihr ‚Ziel‘, ihre Prozesslogik, ihre Bedingungen – vor diesem Hintergrund überhaupt noch bedeuteten kann. Ausgehend von den aktuellen bildungstheoretischen Überlegungen zur Konzeption des ‚Subjekts‘ wird also deutlich, dass die Frage nach dem Subjekt als erster Dimension von ‚Bildung‘ eine Reformulierung des Bildungsbegriffs insgesamt notwendig macht.

12 Die ausführliche Darstellung des Themenbereichs ‚Bildung und Ästhetik‘ würde den Rahmen der Heuristik sprengen. Stellvertretend sei auf den Sammelband „Ästhetik und Bildung“ (vgl. Hellekamps 1998) sowie auf die Themenhefte der Zeitschrift für Pädagogik (1993, Nr. 2 und 1997, Nr. 5) und der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (2001, Nr. 1) verwiesen.

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1.3

Zweite Dimension: ‚Bildung‘ und Gesellschaft

Wenn man davon ausgeht, dass pädagogisches Handeln notwendig im gesellschaftlichen Raum und damit in Bezug auf die vorherrschenden soziokulturellen Bedingungen stattfindet, so folgt daraus, dass auch die Konzeptualisierung der dieses Handeln anleitenden Orientierungskategorie den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen Rechnung tragen muss. Für die Bestimmung von ‚Bildung‘ – als zentraler Grundbegriff der Pädagogik (vgl. Koller 2002: 92) – gilt folglich die Abhängigkeit von der spezifischen kulturhistorischen Epoche. Als zweite Dimension in der Begründung eines zeitgemäßen Bildungsbegriffs soll deshalb der unhintergehbare Bezug von ‚Bildung‘ auf Gesellschaft vorgeschlagen werden. Damit sind zwei Einsatzpunkte der theoretischen Begründung des Bildungsbegriffs impliziert. Wenn sich ausschließlich vor dem Hintergrund der aktuellen soziokulturellen Verfasstheit von Gesellschaft bestimmen lässt, was ‚Bildung‘ ist, so muss zunächst eine Analyse dieser Verfasstheit durchgeführt werden. Doch die Beschreibung des Status quo allein sagt noch nichts darüber aus, was ‚Bildung‘ demnach sein kann und soll. Es muss also vor dem Hintergrund der Diagnose in einem zweiten Schritt eine (Neu-)Bestimmung des Bildungsbegriffs erfolgen. Eben diesen beiden Schritten von Diagnose und Neubestimmung folgt Helmut Peukert in seinem Essay „Reflexionen über die Zukunft von Bildung“ (Peukert 2000).13 ‚Bildung‘, so sein Einsatzpunkt, gehöre „zu den großen Leitbegriffen, unter denen die beschleunigt sich entwickelnden modernen Gesellschaften seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Verständigung über sich selbst suchten“. Da eine solche Selbstverständigung immer auch das Überschreiten von Interpretationshorizonten und die Erschließung neuer Erfahrungen umfasse, lasse sich ein daraus entwickelter Begriff „nicht ohne weiteres in einen anderen geschichtlichen Horizont übertragen“ (Peukert 2000: 507). Die Unmöglichkeit einer Begriffskonstanz sieht Peukert noch dazu dadurch verstärkt, dass Erziehungswissenschaft „notwendig eine Zukunftsdimension“ aufweist: „Sie versucht, die nächste Generation zu befähigen, die übernächste zu erziehen.“ (Ebd.: 508) Es folgt daraus, so Peukert, „daß die Erziehungswissenschaft sich bei ihrem Begriff von Bildung nicht mit einer historischen Rekonstruktion begnügen kann, sondern daß sie die Aufgabe hat,

13 Ein weiteres Beispiel für diese Vorgehensweise ist der Versuch Kollers, ausgehend von Lyotards Analyse der postmodernen Verfasstheit von Gesellschaft den Bildungsbegriff neu zu bestimmen (vgl. Koller 1999). Dass der Zusammenhang von ‚Bildung‘ und Gesellschaft als allgemeiner Konsens gelten kann, zeigt sich an der Zahl der in den letzten Jahren zu diesem Thema erschienenen Veröffentlichungen, wie z.B. dem Sammelband „Bildung/Transformation. Kulturelle und gesellschaftliche Umbrüche aus bildungstheoretischer Perspektive“ (vgl. Friedrichs/Sanders 2002).

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diesen Begriff neu zu bestimmen, und zwar aus einer interdisziplinär betriebenen Analyse der geschichtlich-gesellschaftlichen Situation, ihrer bestimmenden inneren Tendenzen und der Lage der einzelnen in ihr“ (ebd.: 509). Peukerts Versuch über die Neubestimmung des Bildungsbegriffs ist also explizit in den Rahmen einer aktuellen Gesellschaftsdiagnose gestellt, die als Grundvoraussetzung für die Bestimmung von ‚Bildung‘ entfaltet wird. Dabei, so betont Peukert, kann es nicht um eine deduktiv-lineare Extrapolation von Sachzwängen und Qualifikationsprofilen von Bildungsprozessen gehen: „Zu einsichtig ist, daß wir es mit der Wechselwirkung von komplexen Systemen mit nichtlinearer Dynamik zu tun haben, deren zukünftige Entwicklung nach allem, was wir wissen, nicht eindeutig kalkulierbar ist.“ (Peukert 2000: 508) Vielmehr müsse man sich auf Tendenzen und Entwicklungslinien beschränken, die es zu erkennen und reflektieren gelte. Die im Folgenden vorgestellte Diagnose dieser Entwicklungslinien (vgl. Peukert 2000: 509ff.) kann als beispielhaft für viele ähnliche Analysen gelten. Zuerst konstatiert Peukert eine allgemeine Tendenz der Steigerung. Das zunehmend beschleunigte Bevölkerungswachstum erhöhe den Energieverbrauch und die Zahl der benötigten Produktionsgüter, während die natürlichen Ressourcen immer weiter abnähmen und die Regenerationszyklen der Biosphäre immer weniger eingehalten würden. Parallel dazu nehme die Komplexität globaler Zusammenhänge stetig zu, während gleichzeitig das Wissen des Einzelnen immer einseitiger und spezialisierter werde, sodass die Gesamtsituation zunehmend weniger vom Einzelnen überblickt werden könne. Ergänzend zu Peukerts Ausführungen lässt sich dieser Steigerungstendenz auch die „zunehmende Pluralisierung von Lebensformen und Orientierungsmustern“ (Koller 2002: 94) hinzufügen, die u.a. durch weltweite Migrationsbewegungen bedingt ist. Als zweite Tendenz beobachtet Peukert die Spaltung und Exklusion in und zwischen den Gesellschaften. Er illustriert dies an der Entwicklung der Vermögensverteilung in den Vereinigten Staaten, die darauf hinauslaufe, dass das oberste eine Prozent der Bevölkerung immer mehr Vermögen erlangt, während den untersten Bevölkerungsschichten immer weniger Geld zur Verfügung steht. Vielen Menschen fehlten damit Voraussetzungen und Mittel, „am Leben einer bestimmten Gesellschaft überhaupt teilzunehmen, also am Arbeitsmarkt, am Gesundheits- und Bildungssystem, an durch Medien vermittelter Kommunikation und am allgemeinen kulturellen Leben“ (Peukert 2000: 511). Peukert betont die problematische Diskrepanz, die sich daraus ergibt. Einerseits erforderten vor allem die vielfältigen ökologischen Probleme umfassende Veränderungen der ganzen Menschheit. Andererseits zeige das Prinzip der Exklusion, dass ‚die Menschheit‘ keinesfalls die dafür notwendige einheitliche Handlungsdisposition habe, sondern zerrissen, gespalten und heterogen sei. Auch hier ließe sich ergänzen, dass darüber hinaus insbesondere die Pluralität der kulturellen Orientierungsmuster eine „zumindest 38

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potenziell konflikthafte Konstellation“ darstellt, die Spaltungen und Exklusionen noch verstärkt (vgl. Koller 2002: 95). Als dritte Tendenz erscheint bei Peukert die Orientierung öffentlicher Bildungseinrichtungen einerseits an marktwirtschaftlich konstruierten Qualifikationsprofilen, andererseits an individueller Nachfrage und Zahlungsfähigkeit (vgl. Peukert 2000: 508). Ökonomische Vorgaben werden somit zentral für die Aus- und Weiterbildung, und am Horizont erscheinen die Prinzipien von Bedarfsorientierung, Output und Effizienz.14 Zuletzt weist Peukert schließlich darauf hin, dass eine Analyse der gesellschaftlichen Gesamtsituation auch Formen des Nachdenkens über Entwicklungen und Strömungen in der Theoriebildung umfasst. Für besonders einschneidend hält Peukert dabei „zum einen die Formulierung der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik, durch die die dritte technisch-industrielle Revolution möglich geworden ist“ (ebd.: 513). Vor allem die allgemeine Verfügbarkeit von Informationen und die Möglichkeit der Konstruktion virtueller Welten durch den Computer hätten große kulturelle Auswirkungen, die noch gar nicht absehbar seien (ebd.: 514). Auch sei durch die Quantenmechanik eine Strukturanalyse komplexer Moleküle möglich geworden, was wiederum den Ausgangspunkt für die Entschlüsselung des menschlichen Genoms und damit für molekularbiologische Eingriffsmöglichkeiten gebildet habe. Zum andern sieht Peukert einen grundlegenden gedanklichen Wandel durch „die radikalisierte Analyse der zeitlich-sprachlichen Grundstruktur menschlichen bewußten Lebens und zwischenmenschlicher Kommunikation im Poststrukturalismus bzw. der Postmoderne.“ (Ebd.: 513) Das menschliche Denken und Handeln wird darin als unabschließbares Differenzierungsgeschehen betrachtet, das keiner festgelegten Systematik folgt, sondern nicht feststellbar und ungreifbar sei. Beide Entwicklungen hätten gleichermaßen den Effekt, dass der Mensch einem Abstraktions- und Verfremdungsschub gegenüber seiner Alltagserfahrung unterworfen und somit im Blick auf sich selbst ein anderer werde. Peukerts Beschreibung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung lässt sich zusammenfassen mit den Begriffen der ‚Steigerung‘, ‚Exklusion‘, ‚Ökonomisierung‘, ‚Technisierung‘ und ‚Verunsicherung‘. Vor dem Hintergrund dieser Diagnose stellt sich nun im zweiten Schritt die Frage, wie sich der Bildungsbegriff mit Blick auf diese gesellschaftliche Situation neu bestimmen lässt. Es ergeben sich dabei zwei unterschiedliche Bezüge auf Ge14 Gerade auf diese „Marktförmigkeit aller gesellschaftlicher Beziehungen“ (Sünker 1996: 185) wird in gesellschaftlichen Analysen im Bereich der Erziehungswissenschaft immer stärker hingewiesen. Gleichzeitig ergibt sich aus der durchgängigen Marktorientierung eine immer größere Diskrepanz zwischen dem politisch gefärbten, dominanten Alltagsdiskurs und der zunehmend in den Hintergrund tretenden theoretischen Reflexion über ‚Bildung‘ (vgl. Lohmann 2000: 267).

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sellschaft, die jedoch miteinander verbunden sind. Zunächst zeigen sich in der Gesellschaftsanalyse zentrale Aufgaben, Herausforderungen und Probleme, zu denen sich die Gesellschaftsmitglieder in irgendeiner Form verhalten müssen. Dies können sie auf verschiedene Weise tun: Wenn z.B. eine immer stärker durchgreifende Technisierung zu bemerken ist, so kann daraus der Schluss gezogen werden, dass künftig eine verstärkte Ausbildung für entsprechende Berufszweige erforderlich ist. Und wenn die Gesellschaft sich vor allem an ökonomischen Modellen orientiert, so wäre eine mögliche Konsequenz die daran anschließende Umstrukturierung der sozialen Bereiche, in denen dieses Prinzip noch nicht vorherrschend ist. Auf den ersten Blick erscheinen die vorgeschlagenen Verhaltensweisen nun als – bildungstheoretisch geradezu verwerfliche – ‚Anpassung‘ an soziale Vorgaben. Allerdings ist der Begriff der ‚Anpassung‘ nicht wirklich angemessen, denn wie soll man sich an neue Entwicklungen ‚anpassen‘, wenn noch gar keine vorgeschriebenen Verhaltensmuster existieren? Das Beispiel der Gentechnik zeigt dies: Obwohl die Entdeckung des Doppelhelixmodells durch Watson und Crick prinzipiell den Weg für Gentherapie, Pränataldiagnostik, Embryonenforschung und vieles mehr ebnete, waren damit noch keine bestimmten Verhaltensweisen gegenüber den damit einhergehenden Herausforderungen und Problemen vorgegeben. Der Umgang mit diesen neuen Möglichkeiten musste und muss – wie die anhaltenden Debatten zeigen – erst noch gefunden oder besser noch: erfunden werden. In dieser Hinsicht könnte also eine aktuelle gesellschaftliche (Problem-)Lage als Auslöser von Bildungsprozessen betrachtet werden, sofern dabei neue Möglichkeiten der Problembearbeitung entwickelt werden. ‚Bildung‘ wäre dann das innovative Hervorbringen eben dieser neuen Form der Problembearbeitung. Dennoch schleicht sich bei einigen Bildungstheoretikern ein Unbehagen angesichts dieser Begriffsbestimmung ein. ‚Bildung‘, so das Argument, muss mehr umfassen als das praktische Lösen von Aufgaben; sie muss nämlich gleichzeitig ein kritisches Hinterfragen sowohl der Problemstellung selbst als auch ihrer Lösung zulassen. Ansonsten drohe die Gefahr, den gesellschaftlichen Entwicklungen immer einen Schritt hinterherzuhinken, ohne diese beeinflussen oder sich zumindest in eine kritische Distanz zu ihnen begeben zu können. Hansmann und Marotzki fassen diesen Aspekt folgendermaßen zusammen: „Der systematische Zugang [zur Reformulierung des Bildungsbegriffs, JL] ist also gegenwartsbezogen: Er geht dezidiert von den Bedingungen gegenwärtiger Gesellschaft aus und erhebt gleichzeitig den Anspruch, die Konturierung des Bildungsbegriffs nicht-affirmativ zu betreiben. [...] Der Ausgang von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen bedeutet somit nicht deren Affirmation, sondern beinhaltet auch die Möglichkeit, daß der Bildungsbegriff kritisch – d.h. gegen den bestehenden, analytisch er-

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schlossenen status quo gewendet – entwickelt wird.“15 (Hansmann/Marotzki 1988: 10) ‚Bildung‘ in dieser zweiten Hinsicht wäre demnach nicht (nur) als innovative Problemlösung zu verstehen, sondern (auch) als Bewegung der kritischen Reflexion und Abgrenzung von gesellschaftlichen Vorgaben (vgl. Koller 1999: 149). Gerade die aktuelle verwertungslogisch argumentierende, an Effizienz und ‚Output‘ orientierte Bildungspolitik führt die Relevanz dieser zweiten Perspektive vor Augen. So meint z.B. die vor einiger Zeit politisch ausgerufene „Innovationsoffensive“16 sicherlich keine kritische Kreativität, sondern ‚Innovation‘ im Hinblick auf bestimmte politische Zielvorgaben. In genau diesem Sinne ist nicht jede Problembearbeitung im bildungstheoretisch geforderten Sinne ‚kritisch‘. Auch Peukert bleibt in dem bereits erwähnten Essay über „die Zukunft von Bildung“ nicht bei der Gesellschaftsdiagnose stehen, sondern nimmt diese als Ausgangspunkt für die Neubestimmung des Bildungsbegriffs. Die von ihm beobachteten Tendenzen betrachtet er als Herausforderungen, denen sich die Gesellschaftsmitglieder stellen müssen. Dazu gehört ein anderer Umgang mit natürlichen Ressourcen (vgl. Peukert 2000: 510), das Durchbrechen von Verhaltensmechanismen und sozialen Regelsystemen, die zur Exklusion führen (vgl. ebd.: 511) und die reflexive Distanzierung vom Leitbegriff der ‚Anpassung‘ an technische Errungenschaften (vgl. ebd.: 514). „Die Aufgabe, die sich insgesamt stellt“, so Peukert, „besteht offensichtlich darin, eine Konzeption von menschlicher Kooperation und gemeinsamem Finden der Regeln für das Zusammenleben zu entwickeln, die sowohl der physischen Verletzbarkeit und zeitlichen Endlichkeit wie der unabschließbaren Offenheit und Ungreifbarkeit menschlicher Existenz im individuellen Selbstverhältnis als auch im Verhältnis zu anderen gerecht wird.“ (Ebd.: 519) Darin sind nun beide Bezüge auf Gesellschaft angelegt. Denn einerseits soll eine „Transformation der gegenwärtigen Verfaßtheit der Gesellschaft erreicht werden“ (Peukert 2000: 511). Peukert fordert also den innovativen Umgang mit den diagnostizierten Herausforderungen als (Er-)Finden neuer Regeln. Andererseits wird deutlich, dass dieser innovative Umgang bestimmte 15 Die kritische Einbettung des Bildungsbegriffs in gesellschaftlich-historische Zusammenhänge stand nicht immer im Vordergrund bildungstheoretischer Überlegungen. Vielmehr war es im 20. Jahrhundert vor allem ein Verdienst der Kritischen Erziehungswissenschaft, darauf hingewiesen zu haben, dass pädagogische Theorien und Handlungen, die ihre gesellschaftliche Bedingtheit ausblenden (und damit implizit affirmieren), unter Ideologieverdacht zu stellen seien. Die Frage nach der Bedeutung nicht-affirmativer Bildungstheorie wird im Abschnitt 1.3 ausführlicher behandelt. 16 So das Motto eines Berliner Treffens des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder mit den Ministern Joschka Fischer, Wolfgang Clement und Edelgard Bulmahn sowie dem Kanzleramtschef Frank Walter Steinmeier mit zwölf Beratern aus Wirtschaft und Wissenschaft am 15. Januar 2004.

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Vorgaben (z.B. die Tendenz zur Exklusion oder die der Ökonomisierung und Ausbeutung) kritisch hinterfragen muss, da aus Peukerts Sicht „nur ein Wissen und Können, das mit solcher Reflexion verbunden ist, Anspruch auf den Titel Bildung erheben [kann]“ (ebd.: 511). Entsprechend geht es für Peukert mit dem Konzept der ‚Bildung‘ „um eine reflektierende Urteilskraft, die den unmittelbaren Bezug auf Verwendungszusammenhänge bricht, um eine Reflexion, die in der solidarischen Wahrnehmung der Ambivalenz menschlicher Existenz gegen Exklusion und Vernichtung von Menschen aufsteht und beizutragen versucht zur Transformation destruktiver Mechanismen, um dadurch zu einer Verfaßtheit der Gesellschaft zu kommen, die allen Lebensmöglichkeiten eröffnet“ (ebd.: 522). Und Bildungsprozesse ließen sich „lesen als ein gemeinsames Konstruieren, dem es unter unbedingter Achtung vor der Ungreifbarkeit des anderen um Transformation von Strukturen geht mit dem Ziel, eine gemeinsame Lebensform zu finden“ (ebd.: 519). Es lässt sich Folgendes festhalten: Eine aktuelle Neubestimmung des Bildungsbegriffs nimmt in doppelter Hinsicht Bezug auf Gesellschaft. Grundidee ist, dass nicht ein allgemeines Prinzip der Menschlichkeit, sondern nur der Mensch in seiner spezifischen kulturhistorischen Zeit Ausgangspunkt einer Bestimmung von Bildung sein kann. Die Begründung eines aktuellen Bildungsbegriffs basiert demzufolge erstens auf einer Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen und der damit einhergehenden Problemlagen. Diese Gesellschaftsdiagnose wird nun zweitens zur Basis für die Neubestimmung des Bildungsbegriffs, wobei entscheidend ist, wie in sowohl innovativer als auch distanzierend-skeptischer Hinsicht mit den diagnostizierten Herausforderungen umgegangen wird: Eine aktuelle gesellschaftliche Lage kann zunächst als Auslöser von Bildungsprozessen betrachtet werden, sofern eine neue Problemlage in der Gesellschaft neue Möglichkeiten der Problembearbeitung erfordert. Gleichzeitig muss Bildung aber auch die kritische Reflexion gesellschaftlicher Vorgaben umfassen. ‚Bildung‘ in ihrem Gesellschaftsbezug erscheint damit sowohl innovativ als auch kritisch. Deutlich wird jedoch noch etwas anderes: Neben der deskriptiven Perspektive einer Gesellschaftsanalyse spielen notwendig ethisch-normative Überlegungen eine Rolle in der Bestimmung des Bildungsbegriffs. Denn was eine produktive neue Form der Problembearbeitung ist bzw. welche Art der Gesellschaftskritik angemessen ist, kann nicht aus einer Beschreibung gefolgert werden. Auch Peukert bezieht in seine Frage nach ‚Bildung‘ theoretische Überlegungen mit ein, die über die reine Beschreibung gesellschaftlicher Tendenzen hinaus ein Urteil darüber fällen, was an den diagnostizierten Entwicklungen schädlich ist und geändert werden müsse. Er etabliert, kurz gesagt, eine ‚Norm‘, ohne die eine Bestimmung des Bildungsbegriffs kontingent erschiene. Die dritte Dimension des Bildungsbegriffs, die im Folgenden vor-

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DIMENSIONEN DES BILDUNGSBEGRIFFS

geschlagen werden soll, bezieht sich deshalb auf die ethisch-normativen Implikationen des Bildungsbegriffs.

1.4

Dritte Dimension: ‚Bildung‘ und Normativität

Bildungstheorie als Reflexion darüber, was durch pädagogisches Handeln ermöglicht und befördert werden soll, umfasst zwei Implikationen, die einer genaueren Untersuchung bedürfen. Zum einen gilt schlicht, dass das, was durch pädagogisches Handeln ermöglicht oder befördert werden soll, erwünscht ist: Bildung soll sein. Damit wird sie aber zu einem per se normativen Begriff. ‚Bildung‘ erscheint als notwendig und erstrebenswert, und die Hauptfrage ist, wie man pädagogisch so handeln kann, dass Bildung möglich wird. Zum anderen ist es Aufgabe der Bildungstheorie, zu klären, was genau eigentlich erwünscht ist. Sie muss also theoretisch begründen, wie die Ziele pädagogischen Handelns – und damit auch Bildung als ein solches Ziel – bestimmt sind. Die Norm- und Zielproblematik kann damit als „ein konstitutiver Faktor aller pädagogisch relevanten Vorgänge und Institutionen“ (Klafki 2001/1971: 128) betrachtet werden. Ohne sie wäre der Bildungsbegriff seiner pädagogischen Sinnhaftigkeit als Orientierungskategorie beraubt, denn erst eine normative Maßgabe lässt die begründete Aussage darüber zu, ob etwas verdient, ‚Bildung‘ genannt zu werden. Die dritte Dimension einer theoretischen Bestimmung des Bildungsbegriffs bezieht sich deshalb auf die unhintergehbare Normativität bildungstheoretischer Überlegungen und ihre jeweilige inhaltliche Bestimmung. Im Folgenden soll gefragt werden, wie aktuelle theoretische Ansätze mit den normativen Implikationen des Bildungsbegriffs umgehen. Dabei wird sich zeigen, dass gerade in jüngeren bildungstheoretischen Reflexionen die „Frage nach einem nicht-normativen Bildungsbegriff“ – als Hinweis auf „eine Narbe unserer Disziplin, unter der sich ein vielleicht nur ruhiggestellter, aber nicht richtig verheilter Bruch befindet“ (Ruhloff 2000: 117) – intensiv diskutiert und kritisiert wird. Die im Bildungsbegriff enthaltene Normativität erscheint heutzutage zunehmend problematisch, wird zurückgewiesen und durch die Forderung entweder nach einer ‚kritischen‘ Dimension von Bildung(stheorie) oder nach einer ‚Minimalethik‘ ersetzt. Unter dieser Maßgabe, so die These, ist die hier vorgeschlagene dritte Dimension in jedem bildungstheoretischen Entwurf aufzugreifen und zu bedenken. Bildungstheorie habe es, so Benner, „mit der theoretischen Klärung der Aufgaben pädagogischen Handelns“ zu tun (Benner 2000: 105). Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei ‚Bildung‘ um einen allgemein als Aufgabe anerkannten Sachverhalt handelt, so kann sich das Hauptaugenmerk der Bildungstheorie auf die Bestimmung und Begründung dieser Aufgabe richten. „Denn das gehört doch wohl zum gemeinsam geteilten Ansatz der Pädagogik, 43

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daß wir es bei Erziehung, Unterricht, Bildung mit aufgabenhaften Sachverhalten zu tun haben, die von Gedanken über ein mehr oder minder angemessenes Menschlichwerden getragen sind“ (Ruhloff 2000: 119).17 Dabei sei, so Ruhloff, zunächst zu bedenken, dass die Aufgabenbestimmung ihren Ausgang nicht von dem nehmen kann, was der Fall ist: „Argumente aus Erfahrung und Erfahrungswissenschaft, Berufungen auf die Wirklichkeit können Beachtliches leisten, wenn es um die Kontrolle der Einlösung oder Erfüllung besonderer Bildungsprojekte oder auch um die Erkenntnis von Bedingungen geht, die ihnen in einem konkreten soziokulturellen Raum zu einer bestimmten Zeit im Wege stehen oder begünstigend entgegenkommen. Als Beglaubigungsinstanzen der Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Menschlichkeitsentwürfen bzw. Bildungsprojekten kommen sie jedoch nicht in Betracht; denn diese gehen ja davon aus, daß die Wirklichkeit nicht das Richtige ist, daß eine Differenz zwischen Menschsein und Menschlichkeit besteht, die es in einem Bildungsprozeß zu überwinden oder wenigstens zu verringern gilt.“ (Ruhloff 2000: 120) Ruhloff begrüßt also durchaus die Bemühungen der empirischen Bildungsforschung. Aber die dabei beschriebenen Tatsachen, Bedingungen und Umstände (das, was ist) lassen keine begründeten Aussagen über die theoretische Bestimmung der Aufgabe (das, was sein soll) zu.18 Wenn sich aber

17 Es gibt auch Ansätze, die jegliche Normativität des Bildungsbegriffs ablehnen. So moniert z.B. Lenzen – vor dem Hintergrund systemtheoretischer Überlegungen zur Ersetzung des Bildungsbegriffs durch ‚geeignetere‘ Äquivalente –, dass der dem Bildungsbegriff immanente (normative) Vollendungsgedanke eine regulative Idee darstelle, die den Bildungsprozess in unzulässiger Weise vereinfache und auf ein Regelkreismodell reduziere, „dem auch eine Zentralheizung folgt“: Der Mensch werde qua Normsetzung „zu einer einfachen Trivialmaschine degeneriert“ (Lenzen 1997: 953). Lenzens vorgeschlagene Begriffe der „Selbstorganisation, Autopoiesis, Emergenz“ zielen folglich explizit darauf, den Bildungsbegriff um seinen normativen Gehalt zu erleichtern (vgl. Ehrenspeck 2002: 152). Zur Kritik am systemtheoretischen Vorgehen vgl. z.B. Benner 2000: 107ff. oder Wimmers Begründung, dass Bildung nur statthaben kann in einer Beziehung zum Außen (vgl. Wimmer 1996b: 134). 18 Ruhloff macht diese Unterscheidung zwischen Seins- oder Tatsachenfragen einerseits und Sollens- oder Prinzipienfragen andererseits anhand eines Beispiels deutlich: „Im ersten Fall geht es um ein Wissen von dem, was ist, etwa um die Ermittlung, ob vierjährige gesunde Kinder bei unaufdringlicher Anregung in einer schriftsprachlichen Gesellschaft zwanglos zu lesen versuchen und wie schnell sie es durchschnittlich lernen. Im zweiten Fall geht es demgegenüber um die Fragen, ob bereits Vierjährige zum Lesenlernen ermuntert werden sollen, ob sie eher zu einem raschen oder zu einem allmählichen Lernen angehalten werden sollten, welche Gründe, Rechtfertigungen und Konsequenzen für eine positive oder negative Entscheidung der Frage sprechen oder zu einer Urteilsenthaltung nötigen. Beide Fragestellungen sind zwar vielfältig miteinander verknüpft und aufeinander beziehbar. Dennoch ist jede von ihnen von selbständigen Gewicht.“ (Ruhloff 1980: 25).

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die Bestimmung dessen, was ‚Bildung‘ ausmacht, nicht am Ist-Zustand orientieren kann: Wie lässt sich ein alternatives Vorgehen vorstellen? „,Bildung‘ steht im pädagogischen Gebrauch [...] für ein Werden nach gedanklichen Maßgaben, die bestimmte Entwicklungen oder Verwicklungen gutheißen und andere als zu vermeidende auszuschließen bestrebt sind.“ (Ruhloff 2000: 119) Damit scheint die Lösung nahe liegend. Statt sich auf empirische Tatsachen zu konzentrieren, geht es um spekulative Entwürfe einer (möglichen oder utopischen) erstrebenswerten Zukunft und ihre pädagogische Förderung. Doch diese Maßgaben können nicht einfach gesetzt werden. „Falls an Bildung nicht anders als im Sinne einer theoretisch nicht weiter beglaubigten, sondern dogmatisch gesetzten Norm festgehalten werden könnte, falls sich der Bildungsbegriff nicht als theoretisch-vernünftig ausweisen ließe, wäre er nicht von Interesse. Der Rationalitätsgewinn einer im neuzeitlichen Verständnis wissenschaftlich-distanzierten Untersuchung von Relationen und Bedingungsverhältnissen sollte nicht aufgegeben werden müssen, wenn heute von Bildung die Rede ist.“ (Ruhloff 2000: 118) Dahinter steckt das bis heute „ungelöste Normproblem der Pädagogik“ (Ruhloff 1980), das sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: In der Frage nach den leitenden Maßstäben der Pädagogik begibt man sich „auf die Suche nach einem absoluten Fundament, in dem die Pädagogik ihren Ruhe- und Haltepunkt finden soll“ (ebd.: 163). Tatsächlich gab und gibt es aber eine Vielzahl einander widerstreitender pädagogischer Aufgabenbestimmungen, die dennoch allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Es ergeben sich also berechtigte Zweifel an der Möglichkeit, pädagogische Zielvorgaben überhaupt allgemeinverbindlich zu begründen. Dieser Zweifel an Letztbegründungen wird im Rahmen ‚postmoderner Ansätze‘, sogar ausdrücklich zum theoretischen Prinzip erhoben (vgl. z.B. Koller 1999, insbes. 31ff. und Wimmer 1996b: 133). Gleichzeitig muss aber am „Aufgabenbegriff von Bildung“ (Ruhloff 2000: 121) festgehalten werden. Denn selbst vermeintlich analytische und hypothetische wissenschaftliche Weltdeutungen greifen verändernd in unser Leben ein, werden insofern von einem „unbedingten“ Wissen getragen (vgl. ebd.: 118f.), müssen deshalb also legitimiert werden. Der Bildungsbegriff als normatives Konzept gerät folglich in einen unlösbaren Widerspruch. Denn einerseits ist ‚Bildung‘ als Aufgabe zu verstehen, sie kann sich also nicht auf deskriptive Wenn-dann-Aussagen zurückziehen. Andererseits lässt sich keine unbedingte pädagogische Rechtmäßigkeit irgendeiner Aufgabe begründen, weshalb der Status einer ‚Bildungsforderung‘ stets prekär bleibt. Die damit notwendige Suche nach „pädagogisch-theoretischen Ausdrucksformen zwischen Unverbindlichkeit und normativer Erstarrung“ (Ruhloff 2000: 125) führt auf verschiedenen Wegen und in unterschiedlichen Facetten vor allem zu einer Lösung: der Umwendung von Normativität in Kritik. 45

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Exemplarisch lässt sich dies anhand von Benners Forderung nach einer „nicht-affirmativen Bildungstheorie“ zeigen, die auf der Entgegensetzung ‚affirmativ vs. kritisch‘ beruht (vgl. z.B. Benner 1995). ‚Affirmativ‘ meint, dass solche Zwecke verfolgt werden, die unabhängig von jeder Reflexion feststehen und denen die pädagogische Praxis folgen muss, wenn sie Anspruch auf Rechtmäßigkeit erheben will. Heranwachsende sollen also in Übereinstimmung mit Vorgegebenheiten gebracht werden, die im Rahmen dieses Prozesses selbst nicht mehr hinterfragt werden. Das Problem liegt auf der Hand: Ein affirmatives Bildungskonzept kann das andere nicht begründet widerlegen, sondern nur bekämpfen, da sie im Rahmen derselben normativ-affirmativen Pädagogik einander ausschließende Positionen darstellen. Damit ginge es aber nur darum, eine Norm durch eine andere zu ersetzen, und der Streit um den höheren Geltungsanspruch wäre nicht ein wissenschaftlich, sondern ein ideologisch geführter. Auf dem Boden solch affirmativer Bildungstheorie ist also keine legitime Kritik möglich. Doch wie sieht ein Begriff nicht-normativen bzw. nicht-affirmativen pädagogischen Handelns dann aus? Nicht-affirmative Zielbestimmung pädagogischen Handelns kann laut Benner nur auf dem grundsätzlichen Verzicht basieren, „die pädagogische Praxis als eine bejahende Instanz im Dienste außerpädagogischer, real vorgegebener oder stellvertretend-antizipierter Positivitäten“ zu betrachten (Benner 1995: 151). Und es müsse „von der Frage nach der Bestimmung des Menschen“ ausgegangen werden, was „aber heißt nach der Bestimmung von etwas fragen, das selber vor die Frage nach seiner Bestimmung gestellt ist, das seine Bestimmung selbst hervorbringen und nicht als eine schon bekannte lediglich lernen, sondern als eine hervorzubringende erlernen muß“ (ebd.: 152). Zwei Aspekte werden damit deutlich, die für ‚kritische‘ Ansätze charakteristisch sind. Zum einen sollen Vorgaben, Behauptungen, Geltungsansprüche und Ähnliches zur Disposition gestellt, d.h. befragt und kritisiert werden. Eine Schwierigkeit dabei ergibt sich daraus, dass jegliche Kritik, die auf neue Handlungsvorgaben zielt, wiederum einen Standpunkt einnimmt, der selbst nicht mehr in Frage steht. Rein analytische Kritik kann jedoch nur Geltungsansprüche aufdecken, nicht aber neue begründen. Es ist dies eine unhintergehbare ‚Negativität‘ (Benner), die bildungstheoretische Ansprüche auf Dauer nicht befriedigen kann. Allerdings deutet sich in dem oben angeführten Zitat Benners bereits der Umgang mit diesem Problem an: Wenn die „Bestimmung des Menschen“ nicht vorgegeben werden kann, so muss sie hervorgebracht werden – und zwar konsequenterweise jeweils neu. Das, was sich damit andeutet, wird in weiteren Ansätzen noch deutlicher werden. Es handelt sich um die produktive und entwerfende Dimension, die mit Kritik einhergeht bzw.

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einhergehen muss.19 „Der Theorie der Bildung fällt von hierher die Aufgabe zu, die Aufgaben pädagogischen Handelns so zu reflektieren, daß diese durch die doppelte Struktur charakterisiert werden, einerseits auf die unbestimmte Bildsamkeit der Heranwachsenden und andererseits auf nicht-hierarchische Außenverhältnisse der gesellschaftlich ausdifferenzierten Praxis bezogen zu sein.“ (Benner 2000: 106) Die bei Benner eher versteckt erwähnte hervorbringende Kraft wird von Ruhloff explizit benannt. Auch er spricht sich, wie bereits gezeigt, gegen einen normativen und für einen kritischen Bildungsbegriff aus. Kritik ist für Ruhloff universal. Nichts gilt an sich und vorbehaltlos, denn stets „fließen in alltägliche oder wissenschaftliche pädagogische Erfahrungsaussagen begriffliche Momente mit apriorischer Funktion ein, die deren Richtigkeitsanspruch tragen, z.B. ein vorgängiges Verständnis von Lernen, von Unterricht, von Jugend usw.“ (Ruhloff 2003: 119). Seine Forderung ist, „von Fall zu Fall die apriorisch fungierenden Voraussetzungen pädagogischer Konzepte, Praktiken, Methoden, Einstellungen zu ermitteln und zu prüfen“ (ebd.). In diesem Sinne bedeutet Kritik „eine zuvor nicht bemerkte Abhängigkeit pädagogischer Aussagen und Intentionen von Voraussetzungen offen zu legen, die den definitiven Gültigkeitsanspruch dieser Aussagen und Intentionen aufhebt und ihnen eine nur mehr relative, diskussionsfähige Berechtigung lässt“ (ebd.: 120). Damit werde zwar die problematische praktisch-pädagogische Option, die eine Norm nur durch eine andere ersetzt, ausgeklammert. Aber, so Ruhloff, „es sind eben Kritik und Skepsis nicht, die sagen, welcher pädagogische Weg der richtigere ist“ (ebd.: 121). Das Dilemma wird von Ruhloff in zwei Schritten gelöst: Der erste besteht in der logischen Konsequenz, dass es – da jedes Handeln automatisch affirmativ ist – „im strengen Sinne keine ‚kritische Pädagogik‘, wohl aber Kritik vor und nach und innerhalb von pädagogischen Praktiken“ gibt (ebd.). Der zweite Schritt geht nun von einem „unabhängigen produktiven Vermögen“ aus, das mit der Kritik einhergeht. Gemeint ist damit, dass ‚Bildung‘ als „Fortschreiten zum Besseren“ (ebd.: 116) nicht allein als Kritik am Erreichten gedacht werden kann, sondern immer auch als „ein produktives, ‚poietisches‘, erfinderisches, Neues hervorbringendes und nicht willentliches Vermögen des Menschen“ (ebd.) gedacht werden müsse. Der Ist-Zustand wird kritisiert, ohne auf eine vorgegebene Norm zu rekurrieren, gleichzeitig beginnt mit der Kritik aber eine produktive Suchbewegung, die

19 Denkt man dies weiter, so hieße das konsequenterweise nicht nur ‚Bildung‘ als produktives Geschehen, sondern auch ‚Bildungstheorie‘ als jeweils neu hervorzubringendes Geschehen zu betrachten. Hier liegt im Grunde der Ankerpunkt für die Legitimation andauernder Neuentwürfe des Bildungsbegriffs. Denn eine ‚kritische Bildungstheorie‘ entwirft ihre Bestimmungen immer selbst.

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neue Möglichkeiten entwirft. So wird die normative Dimension zu einer relationalen, produktiven Kritik.20 Von diesen Versuchen des Umgangs mit dem ungelösten Normproblem in Form einer auf Dauer gestellten ‚kritischen Praxis‘ lassen sich Ansätze unterscheiden, die demgegenüber eher von einer Art ‚minimalen Ethik‘ ausgehen. Ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge sind diese Ansätze ebenfalls nichtnormativ, wie sich am Beispiel von Kollers Bestimmung der ethischen Dimension des Bildungsbegriffs zeigen lässt. Mit Lyotard geht Koller davon aus, dass „ein universaler Metadiskurs ganz generell nicht existiert“ (Koller 2000b: 300). Es lässt sich folglich auch bildungstheoretisch keine allgemein gültige Norm postulieren, da für die Begründung einer solch präskriptiven Aussage ein Meta-Diskurs nötig wäre (vgl. ebd.: 307). Mit Lyotard löst Koller das Problem in Bezug auf den Bildungsgedanken nun folgendermaßen: Obwohl Lyotard jeden Meta-Diskurs bestreite, enthalte sein Denken doch eine „ethische Dimension“, die man als „‚kleine‘ oder ‚schwache‘ Ethik“ bezeichnen könne. „Der Kerngedanke dieser Ethik“, so Koller weiter, „besteht in der Anerkennung der radikalen Heterogenität der Diskursarten und in der Forderung nach einer entsprechenden diskursiven Praxis.“ (Ebd.) Aus der Unmöglichkeit, eine universal gültige Bildungsaufgabe zu begründen, wird also eine „Theorie der Gerechtigkeit“ (Koller 2000b: 306), die für Pluralität und Widerstreit einsteht. Interessanterweise nennt Koller diese Forderung der „Respektierung von Differenzen zwischen den Diskursarten, die Beachtung ihrer Heterogenität und die Zurückweisung aller totalisierenden Versuche einzelner Diskursarten, die Rolle eines Meta-Diskurses einzunehmen“ die „skeptische Dimension“ von Bildung (ebd.: 312). Damit wird deutlich, dass der Unterschied zwischen den oben beschriebenen kritischen Ansätzen und Kollers Versuch der Begründung einer Minimalethik gering ist. Beide gehen von der Negation vorfindlicher Bedingungen aus, ohne dabei etwas Neues vorzu20 Problemlösungs- und Argumentationsfiguren, die denen Benners und Ruhloffs analog sind, finden sich auch in anderen Ansätzen. So z.B. Peter Euler, der Bildungstheorie als „eigenen Theorietyp“ bezeichnet, in dem Selbstkritik und Sozialkritik miteinander verbunden sind und Bildung als notwendig produzierend aufgefasst wird (vgl. Euler 2003); oder Jan Masschelein, der meint, dass ‚Kritik‘ nicht mehr als Figur der Überwindung von Fremdbestimmung zu Gunsten eines kritisch-reflexiven, autonomen Leben betrachtet werden kann, da gerade diese zur Intensivierung der Macht führe. Er fordert deshalb, dass kritische Pädagogik neue Erfahrungen und Beziehungen ermöglichen müsse, jedoch ohne diese vorab festzuschreiben (vgl. Masschelein 2003). Etwas anders argumentiert demgegenüber Michael Wimmer (vgl. Wimmer 1996b). Ihm zufolge liegt jeder ‚Kritik‘ eine unhintergehbare, tendenziell ‚ungerechte‘ Affirmation des ‚Gesetzes der Gabe‘ zugrunde, die die kritische Kraft der Bildung jederzeit ruinieren könne. Die einzige Chance der kritischen Bildungstheorie noch Gerechtigkeit zu ermöglichen, sei deshalb das Denken der „Gabe“ als ein „Ereignis, in dem eine ursprüngliche Affirmation geboten wird“ (ebd.: 161).

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schreiben. Und es ergibt sich noch eine Gemeinsamkeit: Denn neben dem skeptischen Einsatz nimmt auch Koller – wie schon Benner und Ruhloff – zusätzlich eine innovative Dimension von Bildung an (vgl. ebd.), die sich auf das Finden oder Erfinden neuer Diskursarten bezieht. Ähnlich verhält es sich bei Schäfers Konzeption von ‚Bildung‘. Auch er geht von dem ethischen Problem der Gerechtigkeit aus, das mit der Unausweichlichkeit identifizierenden Denkens Einzug erhalte (vgl. Schäfer 2001: 3ff.). Wir können nicht anders, so Schäfer in Anschluss an Adorno, als Weltobjekte (und uns selbst) als etwas zu identifizieren, d.h. begrifflich zu erfassen, tun damit aber den Weltobjekten (und uns selbst) immer Gewalt an. ‚Bildung‘ lässt sich nun als kritisch-ethische und utopische Aufgabe der Gerechtigkeit anschließen. Um Selbst und Welt gerecht zu werden, darf man sie nur mit Begriffen auftun, die es ihnen nicht gleich machen, die also unter einem Fremdheitsvorbehalt stehen. Dies ist gleichzeitig eine Utopie der Erkenntnis, da wir nicht anders können als begrifflich-identifizierend zu denken. Genau aus dieser Spannung ergibt sich nun gleichzeitig die besondere kritische Dimension von Bildung. Da nämlich einer universalen, festgestellten und dauerhaften Norm die Grundlagen entzogen werden, muss immer wieder aufs Neue kritisch und selbstkritisch nach der Gerechtigkeit von Erkenntnis gefragt werden. Im Hinblick auf die Verankerung des Bildungsbegriff in einer ‚schwachen Ethik‘ ähneln sich also Schäfers und Kollers Konzeptionen. Beide gehen von einer Aufgabe der Gerechtigkeit aus, die als solche nicht mehr hinterfragt werden kann (‚nichtidentisches Denken‘ bzw. ‚Anerkennung des Widerstreits‘), jedoch immer neu entwickelt werden muss. Daher stammt in beiden Fällen eine Art dauerkritische Haltung, die jedoch bei Koller durch die Erfindung neuer Diskursarten tendenziell befriedigt werden kann, während für Schäfer Bildung nur die Erfahrung der Unmöglichkeit jeder Möglichkeit von Erkenntnis sein kann. Von dieser Unmöglichkeit der Erkenntnis wird noch der Bildungsbegriff selbst affiziert, weshalb die Kritik in Schäfers Bildungskonzeption niemals still gestellt werden kann. Was Schäfer allerdings ausklammert, ist die Perspektive von Innovation und Emergenz, d.h. die Frage nach der Entstehung von Neuem als Bestandteil von ‚Bildung‘. Natürlich muss von Fall zu Fall der spezifische Umgang mit den normativen Implikationen von ‚Bildung‘ untersucht werden. Denn es gibt durchaus bildungstheoretische Ansätze, die gegenüber den bisher beschriebenen Ansätzen tatsächlich versuchen eine positive Ethik zu begründen. So geht z.B. Peukert insofern über eine rein negativ-kritische Perspektive hinaus, als er (mit Habermas) eine per se „normative Struktur pädagogischer Interaktion“ annimmt. Erst die freie Gegenseitigkeit, die dem Heranwachsenden die Möglichkeit eröffne, die Konstruktion einer eigenen Welt und eines eigenen Selbst innovativ zu erschließen, biete laut Peukert überhaupt die Voraussetzung für 49

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Kritik (vgl. Peukert 2000: 520).21 Dennoch zielt auch dieser Ansatz sowohl auf Kritik als auch auf Innovation. Deshalb kann – trotz aller Unterschiede in Begründung und Ausarbeitung der verschiedenen Ansätze – Folgendes zusammenfassend festgehalten werden: ‚Bildung‘, als etwas das sein soll, impliziert eine normative Grundlegung. Dennoch scheint die Normativität in aktuellen bildungstheoretischen Debatten in den Hintergrund zu treten: Normen sind verdächtig geworden, denn es fehlt der Ort, von dem aus eine universell gültige Norm begründet und legitimiert werden könnte. Es stellt sich also die Frage, wie ‚Bildung‘ als pädagogische Aufgabe (Ruhloff 1980: 28) vor diesem Hintergrund bestimmt werden kann. Aktuelle Lösungen verweisen auf das Prinzip der Kritik. Kritik als ethische Grundlage von Bildung erfüllt hierbei eine doppelte Funktion: Einerseits umfasst Bildung immer Kritik an etwas (z.B. dem gesellschaftlichen Ökonomisierungszwang); andererseits umfasst Bildung auch die Kritik an den eigenen Geltungsansprüchen. D.h. der Ort, von dem aus kritisiert wird, gerät selbst in die Kritik – ‚Bildung‘ wird sich selbst verdächtig, steht nie außer Frage und muss sich stets der erneuten Prüfung aussetzen. Von dieser skeptischen Haltung unterscheiden sich Ansätze, die einer ‚Minimalethik‘ folgen, nur geringfügig. Zwar gehen diese von einem positiv begründbaren (und damit normativen) Ziel aus – das allerdings in den meisten Fällen nur formal bestimmt wird (vgl. z.B. Koller und Schäfer). Und dieses Ziel ist zudem nur Voraussetzung für die Möglichkeit einer kritischen Haltung. Die entscheidende Gemeinsamkeit beider Perspektiven ist aber – neben der kritischen Grundhaltung – der Verzicht auf ein positiv bestimmbares, zukünftiges Neues. Stattdessen wird auf die prinzipielle Möglichkeit der Entstehung des Neuen rekurriert. Eben diese Doppelung von Kritik bzw. minimaler Ethik und produktivem Vermögen scheint paradigmatisch für viele gegenwärtige Bestimmungsversuche des Bildungsbegriffs. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass sowohl das Prinzip der Kritik als auch das der ‚Produktivität‘ immense theoretische Schwierigkeiten bieten: Einerseits das Problem des Standortes von Kritik als unhintergehbarer ‚blinder Fleck‘, andererseits die schwierige Frage, wie überhaupt Neues entstehen kann.22 21 Auch wenn sich Peukert vor allem auf Lévinas bezieht, findet sich diese Argumentationsrichtung verstärkt im Bereich der Kritischen Erziehungswissenschaft, die sich u.a. auf die Diskursethik von Habermas beruft. Die ideale Kommunikationsgemeinschaft wird zum normativen Kontrollorgan, Ziel ist also die freie Verständigung bzw. die Erweiterung der freien Kommunikationsspielräume. Eine Darstellung und kritische Auseinandersetzung mit entsprechenden pädagogischen Ansätzen hinsichtlich des Normenproblems erfolgt bei Ruhloff 1980, insbes. S. 117-122 und S. 136-140. 22 Mit der Frage nach der Entstehung des Neuen aus bildungstheoretischer Sicht beschäftigt sich gegenwärtig Hans-Christoph Koller (vgl. das Oberseminar „Bildung und die Entstehung des Neuen“ im Wintersemester 2004/05 und Sommersemester 2005 sowie die Ringvorlesung im Wintersemester 2005/06 „Zur Theo-

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1.5

Vierte Dimension: Die Prozessstruktur von ‚Bildung‘

‚Bildung‘, so der Konsens bildungstheoretischer Entwürfe, ist ein Prozess der Veränderung, ein Geschehen also, das eine enge Verbindung zu Zeitlichkeit und Andersheit aufweist. Gleichzeitig wird immer wieder darauf hingewiesen, dass ‚Bildung‘ auch das Resultat eines solchen Veränderungsgeschehens bezeichne (vgl. z.B. Koch 1999: 78). ‚Bildung‘ ist demzufolge der Zustand, der eintritt, wenn entsprechende Schritte und Prozesse erfolgreich durchlaufen wurden und ein bestimmter Zielpunkt erreicht scheint. Während nun einige Bildungstheoretiker diese „Paradoxalität“ und „Uneindeutigkeit des Begriffs“ (Lenzen 2000: 77) monieren und seine semantische Unschärfe als Zeichen seiner theoretischen Schwäche kritisieren, sehen andere Vertreter des Faches die Bedeutung von ‚Bildung als Zustand‘ oder definitives ‚Merkmal‘ als zunehmend problematisch und unangemessen und konzentrieren sich auf den Prozesscharakter von ‚Bildung‘. Die Problematisierung hängt unmittelbar mit den Verschiebungen und Verstellungen zusammen, die sich in den ersten drei Dimensionen gezeigt haben. Wenn sich ‚Bildung‘ nicht mehr als Identitätsgewinn oder als Subjektwerdung fassen lässt, wenn ‚Bildung‘ immer in Beziehung auf die veränderlichen aktuellen soziokulturellen Bedingungen gedacht werden muss und wenn schließlich normative Vorgaben zu Gunsten eines auf Dauer gestellten, aber dabei unbestimmten kritischen und poietischen Vermögens verblassen, so kann ‚Bildung‘ kaum mehr im Sinne eines herstellbaren ‚Produktes‘ verstanden werden. Wenn sich damit aber der Versuch, den Begriff der Bildung operational als programmatische Zielformel zu bestimmen, angesichts tatsächlicher Bildungsprozesse als unzureichend erweist (vgl. Peukert 1998: 28), so rückt die Reflexion und Bestimmung der „inneren Struktur von Bildungsprozessen“ (ebd.: 24) in das Zentrum der Aufmerksamkeit.23 Geklärt werden muss, wie ‚Bildung‘ geschieht, wie ‚Bildung‘ als Veränderung in der Zeit gedacht werden kann und welches die theoretisch zu klärenden Problemfelder, Charakteristika und Bedingungen eines Prozesses sind, der ‚Bildung‘ genannt werden soll. Als vierte und letzte Dirie transformatorischer Bildungsprozesse“ im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg). 23 Dass dieser Tendenz eine ökonomisch orientierte, politisch-strategische Orientierung an ‚Bildungsresultaten‘ gegenübersteht (die bis in die wissenschaftlichen Debatten um das ‚Kanonproblem‘ reicht), tut dem keinen Abbruch. Es lässt sich im Gegenteil zeigen, dass gerade diese Versuche der Kontrolle über Lern-, Weiterbildungs- und Qualifikationsprozesse einem Sicherheitsdenken entspringen, das sich aus einer real vorfindlichen Unsicherheit ergibt (vgl.: Liesner 2002 130ff.). Im Übrigen sind solche bildungsökonomischen Betrachtungsweisen hier auszuklammern, da sie von außerhalb in die disziplinären Debatte eingetragen werden (vgl. Schäfer 2001: 1).

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mension in der theoretischen Begründung eines Bildungsbegriffs soll deshalb die Bestimmung der Prozessstruktur des Bildungsgeschehens vorgeschlagen werden. Eine Schwierigkeit wird dabei in dieser Dimension besonders deutlich. Die hier vorgeschlagene Heuristik suggeriert, dass sich die Dimensionen des Bildungsbegriffs einzeln und unabhängig voneinander bestimmen lassen. Vor allem die theoretische Klärung der Prozessstruktur zeigt jedoch, dass dies in keiner Weise der Fall ist. Immer muss sie gleichzeitig auch den Bezug zum ‚Subjekt‘ der Bildung, zu den gesellschaftlichen Bedingungen und zu den normativen Implikationen herstellen. Aktuelle Konzeptionen der Bildungsprozessstruktur weisen eine große Bandbreite in ihren Bestimmungsversuchen auf. ‚Bildung‘ wird z.B. gefasst als „durch Fremdes herausgeforderte Veränderung von Grundfiguren meines Welt- und Selbstverhältnisses“ (Kokemohr 2004: 1), als Prozesse, „in denen neue Sätze, Satzfamilien und Diskursarten hervorgebracht werden, die den Widerstreit offen halten, indem sie einem bislang unartikulierbaren ‚Etwas‘ zum Ausdruck verhelfen“ (Koller 2000b: 311) oder als „Werden nach gedanklichen Maßgaben, die [...] um die Idee der Menschlichkeit kreisen“ (Ruhloff 2000: 119). Dennoch lassen sich in dieser Heterogenität allgemeine Tendenzen feststellen, die im Folgenden genauer untersucht werden sollen: Erstens wird ‚Bildung‘ – in zunehmender Radikalität – als offenes und unbestimmbares Geschehen betrachtet, das sich einer teleologischen Feststellung entzieht und jeden Vollendungsgedanken gegenüber der Prozessualität selbst aufgibt. Dadurch rückt zweitens eine Frage immer stärker in den Vordergrund, die schon im vorhergehenden Abschnitt zur Normativität angedeutet wurde. Es ist die Frage nach der Entstehung von Neuem, also das Problem, wie im Bildungsprozess das Auftauchen anderer Qualitäten theoretisch gefasst werden kann. Obwohl im Detail sehr unterschiedlich, zeigt sich dabei in den Antworten, dass die Idee eines kontinuierlichen Bildungsprozesses im Sinne von ‚Entwicklung‘ und ‚Fortschritt‘ durch die Vorstellung einer prinzipiellen Diskontinuität jedes Bildungsgeschehens abgelöst wird. Beide Tendenzen von Offenheit und Diskontinuität lassen sich ihrerseits jedoch nur vor dem Hintergrund einer theoretischen Debatte verstehen, auf die erst im folgenden Abschnitt (siehe 1.5) eingegangen werden soll. Es handelt sich um das immer wieder diskutierte Verhältnis von Bildungstheorie und (qualitativ-)empirischer Bildungsforschung. Je nachdem welche Position in dieser Debatte bezogen wird, erscheint die theoretische Konkretisierung und Bestimmung des offenen, diskontinuierlichen ‚Bildungsprozesses‘ nämlich entweder unbedingt erforderlich oder unmöglich bzw. verwerflich.

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Weder der Prozesscharakter von ‚Bildung‘ selbst, noch die Betonung ihrer Unabschließbarkeit ist historisch gesehen neu.24 Wie Meder ausführt, ist dieser „Widerspruch von ‚Auf-dem-Weg-sein‘ und [...] niemals dort ankommen zu können, wohin man geht“ (Meder 2001: 45) in den Ursprüngen des europäischen Bildungsbegriffs verankert: „[D]ie Einheit mit Gott als spezifisches Weltverhältnis, die Ebenbildlichkeit mit Gott als spezifisches Selbstverhältnis und das normative Verdikt: ‚du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen von Gott deinem Herrn‘ als ein Motiv sozialen Handelns – diese drei Verhältnisse garantieren, dass Bildung niemals Bestand werden kann, sondern stets Prozess bleibt, dessen Ziel nur kontingent (per Offenbarung) und performativ (im Prozess) zur Erscheinung kommt.“ (Ebd., vgl. auch Masschelein/Ricken 2003) Doch die aus diesem theologisch begründeten ‚unendlichen Streben‘ resultierende ‚Offenheit‘ ist begrenzt. Sie meint lediglich ‚Unabschließbarkeit‘, die aber trotz allem auf ein klares Ziel gerichtet ist, auf das sie sich in ihrer immanenten Eigenlogik zu bewegt – sei es die „Bildung des Weltgeistes“ (Novalis nach Pleines 1989: 40) oder die „höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ (Humboldt 19803: 64).25 Dieses ‚klassische‘ Verständnis, das Bildung als teleologisches Modell der Mensch- bzw. Subjektwerdung fasst, scheint mit den aktuellen theoretischen Bestimmungen des Bildungsbegriffs kaum vereinbar. In der ersten Dimension des Bildungsbegriffs wurde deutlich, dass ‚Bildung‘ ein Denken von Differenz, Alterität, Unverfügbarkeit und Medialität erfordert und damit die Vorstellung einer zielorientierten ‚Subjektwerdung‘ oder eines ‚Identitätsgewinns‘ als problematisch erscheinen lässt. Die zweite Dimension hob hervor, dass die Bestimmung von ‚Bildung‘ jeweils ausgehend von und in Bezug auf die gesellschaftlichen Bedingungen stattzufinden hat. Und die dritte Dimension hatte gezeigt, dass keine normative Zielvorgabe, sondern einzig das Prinzip der Kritik ein Bildungsgeschehen ‚orientieren‘ darf. Entsprechend versuchen aktuelle bildungstheoretische Konzeptionen das Bildungsgeschehen zu konzipieren: als „unmögliche Gabe“ (Wimmer 1996b), als Möglichkeitskategorie, deren empirische Einlösbarkeit nicht nur nicht garantiert werden könne, sondern deren ‚Resultate‘ auch immer anders interpretiert werden könnten (vgl. Schäfer 2001: 3), als „Vorhalte, die [...] Nichtgesagtes als ein Mögliches enthalten“ (vgl. Kokemohr 2004: 22), als unabgeschlossenen, zieloffenen, in-

24 Vgl. z.B. Pleines, der den Gedanken eines unendlichen Prozesses, „der alles Beharrende, jedes zugrunde liegende Substrat des Prozesses und jede Gewohnheit in ihm nur als Beraubung des Lebens und des Geistes deuten kann“ (Pleines 1989: 23) historisch – vor allem bei Hegel – rekonstruiert. 25 Sicherlich sind Wilhelm von Humboldts bildungstheoretische Überlegungen unter dem Konzept einer ‚teleologischen Bildungstheorie‘ in ihrer Komplexität nicht ausreichend erfasst. Dennoch folgt sein Bildungsbegriff prinzipiell der Idee einer ‚Höherentwicklung‘ (vgl. Koller 2005: 117f.).

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determinierten Prozess (Mollenhauer 2000) oder als gewagten, offenen, stets gefährdeten und korrekturbedürftigen Prozess, der „die Kontingenz der eigenen Existenz, die unaufhebbare Andersheit des Anderen und die Verletzlichkeit kommunikativer Beziehungen“ zeige (vgl. Peukert 1998: 29). Es lässt sich also ein Umdenken in der Theorie feststellen: „Wo die alteuropäische Einheitsvorstellung einer richtigen, theoretische, praktische und ästhetische Dimensionen integrierenden Ordnung der Welt zersplittert, darf ‚Bildung‘ sich nicht länger auf teleologisch-homogene Prozeßmodelle verlassen.“ (Ehrenspeck/Rustemeyer 1996: 379) An deren Stelle tritt nun die Vorstellung eines nicht-teleologischen, außerhalb der Verfügung des Subjekts liegenden Bildungsgeschehens. ‚Bildung‘ folgt keiner vorhersehbaren Kausalstruktur der Abfolge, und ihre ‚Resultate‘ stehen niemals vorher fest. Nicht das ‚Erreichen von Etwas‘, sondern die Dynamik distanzierender Kritik und offener Neuentwürfe wird zum Orientierungspunkt. Diese Tendenz, ‚Bildung‘ als ein offenes, nicht-teleologisches Geschehen zu betrachten, führt jedoch zu einer Schwierigkeit: Wenn ‚Bildung‘ weder vom Ursprung noch vom Ziel her zu konzipieren ist, wie lässt sich das Geschehen selbst denken? Wie kann ein ‚Anderswerden‘ theoretisch erfasst werden, wenn es weder als Schöpfung noch als Herstellen, weder vom Ursprung noch vom Ziel her verstanden werden darf? Mit anderen Worten: Was ist eigentlich ein Bildungsprozess und was lässt sich über ein solches Geschehen noch begründet sagen? Mit der Frage nach der Konzeption eines Veränderungsgeschehens, das nicht-teleologisch, nicht-kausal, dynamisch und offen zu denken ist, rückt die Betrachtung der Struktur des ‚Bildungsprozesses‘ selbst ins Zentrum. Eine prominente Konzeption ist die der „krisenhaften Übergänge“ als „Wechsel von Stabilitätsperioden mit kritischen Phasen struktureller Transformation“ (Peukert 1998: 25). Denn: „Zur zentralen pädagogischen Tradition seit Platon gehört die Einsicht, daß es im Bildungsprozeß darum gehen muß, sich wie durch einen Bruch hindurch immer wieder in ein neues Verhältnis zum Gegebenen und zu sich selbst zu setzen“ (ebd.). Doch dies wirft zunächst nur weitere Fragen auf: Wie genau funktioniert eine solch „strukturelle Transformation“? Und wie kann ein neues Verhältnis zum Gegebenen entstehen? An anderer Stelle und in einem anderen Zusammenhang siedelt Peukert das Potenzial für eine solche Transformation im Bereich der „innovatorischen Sprachhandlungen“ an (Peukert 1976: 369).26 Die Idee, das Potenzial zu Verände26 Peukert zielt dabei nicht auf ‚Bildungsprozesse‘, sondern auf das allgemeine Problem, wie die „Revision von bestehenden Handlungsorientierungen und von theoretischen Interpretationen“ i.S. revolutionärer Umbrüche überhaupt gedacht und vor allem theoretisch gefasst werden kann. Sein Ausgangspunkt ist die (an Habermas angelehnte) Feststellung, „daß schon bisher in der Geschichte Revisionen des gesamten Deutungs- und Sprachsystems vorgenommen worden sind und daß sie auch jetzt prinzipiell möglich sein müssen“ (Peukert 1976: 266). Mit

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rungen im Bereich des Sprachgeschehens zu verorten, wurde bildungstheoretisch vor allem von Kokemohr und Koller aufgegriffen. Dabei steht die schwierige Frage im Mittelpunkt, wie ein solch innovatorisches Sprachgeschehen „theoretisch angemessen erfaßt und analysiert“ (Koller 2000a: 368) werden kann.27 Beide Autoren gehen von einem in der Figuralität jeder Rede begründeten ‚Sinnüberschuss‘ aus (vgl. z.B. Koller 1999: 182). Dem liegt eine theoretische Annahme Genettes zu Grunde, die „den Gegensatz von rhetorischer und nicht-rhetorischer Praxis zugunsten einer Differenz von mehr oder weniger kraftvoller Rhetorizität aufhebt“ (Kokemohr 1994: 230). Jedes Sprachgeschehen, jede kommunikative Praxis sei ‚rhetorisch‘, womit nichts anderes gemeint ist, als dass zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung prinzipiell ein – mehr oder weniger großer – Raum der Deutung eröffnet werde. Je nachdem, wie stark ein Sprachgebrauch konventionalisiert ist, werde dieser Deutungsraum mit seinem Potenzial für neuen Sinn einfach nur mehr oder weniger stark still gestellt. Prinzipiell bestehe jedoch immer die Möglichkeit eines virtuellen Sprachgebrauchs, der gegenüber dem konventionell gegebenen Sprachgebrauch eine Sinndifferenz einführe (vgl. ebd.). Es liegt auf der Hand, dass insbesondere das Konzept der rhetorischen Figur der Metapher – aber auch der Metonymie, Synekdoche und Ironie (vgl. Koller 1994: 250) – geeignet ist, solcherlei Prozesse theoretisch zu fassen. Beide Autoren heben außerdem hervor, dass nicht nur einzelne Wörter, sondern vor allem auch übergreifende Erzählzusammenhänge neue Sinnpotenziale erschließen können. Das Potenzial zur Generation von neuem Sinn liegt demzufolge also in der Sprache als offenem Verweisungssystem. Und die Prozesse, die dabei bildungstheoretisch interessieren, sind die tentativen und stets riskanten (vgl.

einem Verweis auf Kuhns Konzept des Paradigmenwechsels macht Peukert nun deutlich, dass das Problem, wie diese Ablösung rational zu begreifen sei, bislang nicht gelöst werden konnte (vgl. ebd.: 268). Auch Peukert bietet zwar keine ‚Lösung‘ des Problems an, schlägt aber als Ansatzpunkt besagte „innovatorische Sprachhandlungen“ (ebd.: 269) vor. Zur Anbindung von Peukerts Überlegungen an bildungstheoretische Fragestellungen siehe Koller 2000a. 27 Erstaunlicherweise wird selten auf das innovatorische sprachliche Potenzial im Zusammenhang mit Bildungsprozessen eingegangen. Umso häufiger wird über die „semantische Unbestimmtheit“ des Bildungsbegriffs selbst und die daraus resultierenden Möglichkeiten debattiert (vgl. z.B. Ehrenspeck/Rustemeyer 1996 oder Meyer-Drawe 1999). Insgesamt lässt sich die Frage nach „sprachlicher Innovation“ dem komplexen und umfangreichen Feld der Ästhetischen Bildung zuordnen. Sicherlich wären dort noch andere Formen der theoretischen Fassung von Bildungsprozessen i.S. eines ‚innovatorischen Geschehens‘ zu entdecken. Mollenhauer geht sogar so weit, in Anlehnung an Schiller zu postulieren, die Bildungsbedeutung ästhetischer Ereignisse sei, „neben der theoretischen und der praktischen, eine Dimension des Bildungsvorgangs überhaupt“ (Mollenhauer 4 1996: 223).

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Kokemohr 1992: 17) sprachlichen Suchbewegungen, die neue Signifikationen generieren. Allein schon damit wird deutlich, dass demnach ein Bildungsprozess niemals allein vom Subjekt ausgehen oder ‚im Subjekt‘ stattfinden kann. Denn das Sprachsystem liegt im Außen (die Sprache wird mir vom Anderen gegeben), zudem kann es sich nur in Interaktion realisieren. Dennoch ist hier der Ausgangspunkt einer Differenz in den theoretischen Konzeptionen von Kokemohr und Koller. Denn während Kokemohr in komplexer Weise rhetorische mit kognitiven Prozessen koppelt,28 verbindet Koller die Einsicht in die Rhetorizität von Sprache mit Lyotards Diskurstheorie und nimmt insofern Abstand von einer der Sprache vorgängigen Subjektivität, um ‚Bildung‘ als einen Prozess aufzufassen, „der sich immer schon in Sprache und d.h. in der Verkettung von Sätzen ereignet.“ (Koller 1999: 150f., vgl. auch Koller 2000a: 368ff.) Entscheidend ist aber, dass mit der Rhetorizität jene Theorie gefunden scheint, die Peukert suchte, um innovatorisches Sprachgeschehen – also die Möglichkeit der Entstehung von Neuem – fassbar zu machen: Bildungsprozesse in dieser Weise zu denken, bedeutet die Einsicht erstens in die Sprachlichkeit von ‚Bildung‘, zweitens in die Rhetorizität jedes sprachlichen Geschehens und drittens in die Diskontinuität solcher „Veränderungsgeschehen“, die entsprechend als ‚emergent‘ bezeichnet werden können.29 Gegenüber dieser ausgesprochen konkreten sprachtheoretischen Begründung und Betrachtung von Bildungsprozessen lassen sich auch andere Tendenzen erkennen. Gerade diejenigen Vertreter der Disziplin, die sich als Theoretiker der Bildung verstehen, sind in ihren Konzeptionen des eigentlichen Bildungsgeschehens ausgesprochen zurückhaltend, denn meist halten sie die Frage nach der Identifikation von Bildungsprozessen an sich für theoretisch unangemessen. Der Grund dafür liegt in der bereits erwähnten Tendenz, Bildung für eine utopische, unmöglich in Begriffen zu fassende und nie in Resultaten zu ‚habende‘ Kategorie zu halten. Entsprechend entwickeln sie inner28 Ihn interessieren vor allem (kulturell bereitgestellte) kognitive Deutungsdispositionen, die im Wechselverhältnis mit rhetorischen Prozessen der Welt- und Selbstdeutung stünden: „Bildungsprozesse in diesem Sinne sind an die rhetorisch induzierte Bereitschaft gebunden, grundlegende Kategorien unseres Weltund Selbstverhaltens zu lockern und, wo nötig, umzubilden.“ (Kokemohr 1992: 29). Ähnliches meint Marotzki, wenn er von „der Sprachlichkeit von Weltaneignung“ spricht (Marotzki 1991: 128), wobei er allerdings, anders als Kokemohr, eher vom repräsentationslogischen als vom performativen Sprachgebrauch ausgeht. 29 Der Begriff der ‚Emergenz‘ ist hier weder im Anschluss an konstruktivistische oder systemtheoretische Überlegungen noch im Sinne seiner evolutionstheoretischen Verwendung durch Morgan (vgl. Metzler 19992: 129) zu verstehen. Er verweist lediglich auf das Charakteristische des Prozesses: Etwas Neues taucht auf, ohne dass dieses aus dem Alten deduktiv oder kausal ableitbar wäre. Ob es sich dabei um radikal oder nur relativ Neues handelt, ist dabei zunächst zweitrangig.

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halb ihrer – z.T. hoch komplexen – Theorierahmen nur eine sehr allgemeine Konzeption der Struktur des eigentlichen Bildungsprozesses, der zwar etwas „in möglicher Erfahrung“ entsprechen solle (Fischer nach Ruhloff 2000: 121), die jedoch immer eine Differenz zu „Bildungstheorien und -konzeptionen in prospektiv-praktischer Absicht“ einhalte (ebd.: 122). Ansätze, die Bildungsprozesse derartig konzipieren, dass ‚Bildung‘ als ein identifizierbares Geschehen erscheint, werden also problematisiert, insofern sie der Logik dieser Argumentationen zufolge in einem bestimmten Geltungsanspruch befangen bleiben, den sie nicht mehr kritisch hinterfragen können. Der sich darin manifestierende Widerstreit theoretischer Grundannahmen verweist auf einen seit langer Zeit ausgetragenen Streit um das Verhältnis zwischen Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung. Die verschiedenen Positionen innerhalb dieses Streits sollen im folgenden Abschnitt erläutert werden. Insgesamt lässt sich Folgendes festhalten: Ein theoretisch begründeter Bildungsbegriff muss nicht nur klären, wer oder was sich bildet, sondern auch die Frage beantworten, wie ‚Bildung‘ als ein solches Geschehen qualitativ und strukturell gefasst werden kann. Dies erfordert eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten, wie z.B. der immanenten Zeitlichkeit von Bildungsprozessen, der Frage, wie Veränderung – also die Entstehung von Neuem – gedacht werden kann (mit der gesamten Problematik der Pathosformel ‚Emergenz‘) und wie sich der Bildungsbegriff zu dem Postulat teleologischer Höherbildung und kontinuierlicher Entwicklung verhält. Gleichzeitig speist sich die Frage nach der Fassung des Bildungsgeschehens direkt aus den vorhergehenden Dimensionen von Bildung: Wie ist das Bildungsgeschehen als eine das Bildungssubjekt betreffende Veränderung im soziokulturellen Rahmen der Gesellschaft zu verorten? Welche normativen Implikationen ergeben sich daraus? Und – so die Frage, die nun zuletzt angeschlossen werden soll (wie) lässt sich der so gefasste Bildungsbegriff an eine qualitative Bildungsforschung anschließen?

1.6

Zum Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung

Die Frage nach der empirischen Erforschung von Bildungsprozessen fällt in bestimmter Hinsicht aus der bisher vorgenommenen Dimensionierung des Bildungsbegriffs heraus. Denn folgt man der disziplinären Debatte, so wird deutlich, dass Bildungsforschung bislang keineswegs etwas ist, was als unbedingt notwendig für die theoretische Bestimmung des Bildungsbegriffs er-

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achtet wird und deshalb konstitutiver Teil einer Heuristik darstellen müsste.30 Dies mag, Ehrenspeck folgend, zunächst historisch zu erklären sein: In ihrer Blütezeit sei bildungstheoretische grundsätzlich philosophische Reflexion gewesen, und bis ins 20. Jahrhundert war sie damit eingebunden in die großen Systementwürfe von Kant, Fichte und Hegel bzw. in die neuhumanistischen Bildungstheorien von Herder, Humboldt und Schiller (vgl. Ehrenspeck 2002: 141). Erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts – also seit relativ kurzer Zeit – wurde dann im Zuge der ‚realistischen Wende‘ die empirische Anschlussfähigkeit von Bildungstheorie eingefordert. Tatsächlich expandiert seitdem die Bildungsforschung stetig. Allerdings ist es keinesfalls so, dass die empirische Bildungsforschung die erkannte Lücke schließt, indem sie ihrerseits den Dialog mit bildungstheoretischen Überlegungen eröffnen würde. So moniert Tenorth bei einem Vortrag im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: „Das ganze Haus gilt der Bildungsforschung, aber Bildung im klassischen Sinne der philosophischen Tradition und der öffentlichen Diskurse kommt im Grunde nicht (mehr) vor.“ (Tenorth 1997: 970) Trotz der Wende hin zur ‚Wirklichkeit‘ von Bildungsprozessen, so Ehrenspeck, ist also „die Frage nach der empirischen Anschlussfähigkeit von Bildungsbegriff und Bildungstheorie bislang unbeantwortet geblieben“ (Ehrenspeck 2002: 141). Es zeichnet sich damit der seltsame Befund ab, dass zwar sowohl Bildungstheorie als auch empirische Bildungsforschung einen disziplinären Raum beanspruchen und ausfüllen, dabei aber meist unvermittelt nebeneinander stehen. Überspitzt formuliert: Die Bildungstheorie bleibt ohne Empirie und die Empirie verzichtet auf eine theoretische Begriffsbildung. Natürlich gilt dieses Pauschalurteil nicht immer und überall. Auf beiden Seiten lassen sich auch gegenläufige Tendenzen finden, die um eine produktive Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung bemüht sind, indem sie entweder ihre empirischen Untersuchungen ausgehend von bildungstheoretischen Überlegungen konzipieren oder umgekehrt die theoretischen Reflexionen zu ‚Bildung‘ durch Bezug auf die Wirklichkeit befragen. Im Folgenden soll zunächst die bildungstheoretische Kritik an der empirischen Bildungsforschung nachgezeichnet werden, um diese dann mit den Argumenten für eine empirische Erforschung von Bildungsprozessen zu konfrontieren. Bestimmte Formen der qualitativen Bildungsforschung, so die These, könnten eine produktive Vermittlung von Theorie und Empirie schaffen. Dies soll abschließend kurz am Beispiel der Ansätze von Koller und Schäfer gezeigt werden. 30 Allerdings gab es in den letzten Jahren eine vermehrte ‚Kontaktaufnahme‘: Das 39. Salzburger Symposion zu Bildungstheorie und Bildungsforschung (Abdruck des Diskussionsberichts und der Vorträge in der Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 2004, Heft 4) und die Jahrestagung der Kommission für Bildungs- und Erziehungsphilosophie zu Bildungsphilosophie und Bildungsforschung vom 29.09.- 1.10.2004 in Witten-Bommerholz.

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Die bildungstheoretische Kritik an der empirischen Bildungsforschung greift an verschiedenen Punkten an. Der wohl größte Stein des Anstoßes wird dabei vom sogenannten „Positivismusstreit“ (vgl. z.B. Vogel 19962: 20) markiert, der zwischen Kritischer Theorie und Kritischem Rationalismus ausgetragen wurde und in den 70er Jahren auch das Feld der Pädagogik erreichte. In Anschluss an Poppers Modell des ‚Kritischen Rationalismus‘ geht Brezinka (als prominenter Vertreter der ‚Empirischen Erziehungswissenschaft‘) davon aus, dass die Pädagogik nur als Wissenschaft begründbar ist, wenn sie rein deskriptiv und hypothesenprüfend verfährt (vgl. z.B. Brezinka 1968). Im ‚Positivismusstreit‘ ging es nun vor allem um die Frage, wie Werte und Normen begründet werden können, wenn jede Art von Begründung wissenschaftlich unzulässig ist bzw. prinzipiell kritisiert werden kann. Diese wissenschaftstheoretischen Fragen hängen auf bestimmte Weise mit der Frage nach empirischer Bildungsforschung zusammen. Wenn die Erziehungswissenschaft prinzipiell – um wissenschaftlich zu bleiben – keine Möglichkeit hat, über die Begründung von Normen nachzudenken, so ist sie auf die Bestimmung von Zielen durch andere Instanzen angewiesen. Erziehungswissenschaft findet damit nur noch im Blick auf die Erfüllung außerhalb der Disziplin formulierter Ziele statt. Übertragen auf die Empirie heißt dies, dass es darin ausschließlich um eine Überprüfung der Wirksamkeit von Erziehungstechniken gehen kann, nicht jedoch um eine kritische Prüfung der Normen und Ziele pädagogischen Handelns. Normativität und Kritik, das hatte die Heuristik gezeigt, sind jedoch konstitutiv für jeden Begriff von Bildung. Und die Frage nach einer möglichst ‚effizienten‘ Umsetzung von Bildungszielen geht mit dieser bildungstheoretischen Sicht nicht konform. Gleichzeitig wird der in der ‚Empirischen Erziehungswissenschaft‘ implizierte Subjektbegriff moniert. Statt dem Zögling ein Eigenrecht zuzugestehen, wird er zum unbeteiligten Objekt der Forschung, das einem rein technologischen Erkenntnisinteresse unterworfen ist (vgl. Vogel 19962: 20). Auch aus einer anderen Richtung wird die kritische Frage nach Sinn und Zweck empirischer Bildungsforschung gestellt. Bereits im Abschnitt 1.4 wurde auf das ‚Normproblem‘ der Pädagogik verwiesen, das besagt, man könne kein ‚Sollen‘ aus dem ‚Sein‘ schließen, also keine Normen aus empirischen Tatsachen heraus begründen. Der Bildungstheorie geht es jedoch gerade um die theoretische Begründung eines Bildungsbegriffs, was immer auch normative Entscheidungen einschließt. Hier kann also – folgt man dieser Logik – Bildungsforschung keine Hilfestellung bieten. Der Bildungsbegriff muss immer auf theoretischer Reflexion basieren (vgl. z.B. Ruhloff 2000). Als weiterer Punkt, der gegen eine empirische Verfügbarkeit des Bildungsbegriffs insgesamt spricht, wird gerade in jüngerer Zeit immer wieder auf die ‚semantische Unbestimmtheit‘ des Bildungsbegriffs hingewiesen. Wenn der Bildungsbegriff eine „Art semantische Überbrückungsmöglichkeit 59

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dar[stellt], für das, was sich der notwendig verallgemeinerungsfähigen sozialwissenschaftlichen Theoriebildung entzieht“, so stehe er philosophischer Reflexion näher als sozialwissenschaftlicher Analyse und empirischer Forschung (Ehrenspeck 2002: 144). Damit scheint er aber für eine wissenschaftliche Verwendungsweise gar nicht anschlussfähig, denn etwas, was als „Platzhalter für das Unsagbare“ (Tenorth 1997: 977) gefasst wird, ist kaum geeignet, präzise Forschungen anzuleiten. Vielmehr entspricht diese Argumentationsweise der unter 1.4 angeführten Tendenz, ‚Bildung‘ vor allem in ihrer Offenheit, Diskontinuität, Unabgeschlossenheit, Unbestimmtheit und Unverfügbarkeit zu sehen: Bildung soll gar nicht identifizierbar und damit technologisch verfügbar sein. Stattdessen können gerade diese Eigenschaften als Ausgangpunkt für eine Kritik an der Bildungsforschung dienen (vgl. Ehrenspeck 2002: 143). Es wird insgesamt deutlich, dass sich die bildungstheoretische Kritik an der empirischen Bildungsforschung vor allem auf eine bestimme Art des Vorgehens richtet. Die Analyse von Bildungsprozessen und die Untersuchung der Bedingungen ihrer Ermöglichung, so ließe sich dieses Misstrauen zusammenfassen, darf ‚Bildung‘ nicht auf ein schlichtes technologisches ‚Herstellen‘ reduzieren und muss sich ihrer eigenen Grenzen stets bewusst bleiben. Umgekehrt wird nun allerdings ebenso die Forderung laut, Bildungstheorie nicht als „bloße ‚Postulatepädagogik‘“ zu betreiben, „ohne sich um die wirklichen Prozesse zu kümmern, in denen Heranwachsende sich mit schulischen und anderen Bildungsangeboten auseinandersetzen“ (Gruschka nach Koller 2002: 93). Dahinter steht die Frage, wie man als Pädagoge handeln soll, wenn als Handlungsgrundlage nicht die Wirklichkeit in Betracht gezogen wird. Bildungstheorie, so Koller, „ist auf die empirische Erforschung von Bildungsprozessen angewiesen, wenn sie sich nicht in der Formulierung wirklichkeitsfremder Ziele erschöpfen will“ (ebd.). Doch obwohl seit der ‚realistischen Wende‘ die Tendenz klar in Richtung empirischer Bildungsforschung geht, scheint es keine wirkliche Tradition in der empirischen Klärung der Prozessualität des Bildungsgeschehens zu geben (vgl. Kokemohr 2004: 2). Das liegt vermutlich daran, dass unter ‚empirischer Bildungsforschung‘ fast ohne Ausnahme die quantitative Bildungsforschung verstanden wird, wie sie sich in Leistungsstandardtests wie PISA oder IGLU präsentiert. Dies stellt jedoch eine problematische Verkürzung des Empiriebegriffs dar. Denn, wie Koller herausarbeitet, die Methode der Erkenntnisgewinnung muss „die Besonderheit des Gegenstandsbereichs der Sozialwissenschaften“ berücksichtigen (Koller 2004b: 222). Diese Besonderheit besteht darin, dass die soziale Wirklichkeit und damit auch der Gegenstandsbereich der empirischen Erforschung von Bildungsprozessen keine objektive Gegebenheit darstellt, „die einer direkten Beobachtung zugänglich wäre, sondern vielmehr [...] ein sinnhaftes, d.h. also ein symbolisch strukturiertes Gebilde. Was sozialwis60

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senschaftlich relevante Phänomene auszeichnet, ist also zunächst, dass sie eine Bedeutung haben und dass sie ohne Kenntnis dieser Bedeutung gar nicht angemessen erfasst werden können.“ (Ebd.: 223) Diese Bedeutung kann nun nicht einfach ‚gemessen‘ werden, sondern muss interpretativ erschlossen werden, da die jeweilige Bedeutung einem sozialwissenschaftlichen Gegenstand erst von den an der Interaktion beteiligten Akteuren zugeschrieben wird. Sozialwissenschaftliche Forschung zielt also auf die Rekonstruktion gesellschaftlicher Zuschreibungs- und Konstruktionsprozesse. Und da dabei „nicht quantifizierbare Messgrößen erhoben und ausgewertet werden, wie dies insbesondere bei der am probabilistischen Erklärungsmodell orientierten Forschung der Fall ist, wird diese Forschungsrichtung als Qualitative Sozialforschung bezeichnet“ (ebd.: 225). Überträgt man diese Unterscheidung von quantitativen und qualitativen (bzw. hypothesenprüfenden und rekonstruktiven) Verfahren auf die Frage nach Art, Verlauf und Bedingungen von ‚Bildungsprozessen‘, so liegt nahe, dass gerade dort standardisierte Messinstrumente nicht weiterhelfen können, sondern vielmehr Prinzipien wie Offenheit und Kommunikation (vgl. Hoffmann-Riem 1980: 343ff.) zugrunde gelegt werden müssen. Es lässt sich also festhalten: „Das empirisch-analytische Paradigma mit guten Gründen abzulehnen, ist eine Sache; eine andere Sache ist, daß man natürlich möglichst gut gesicherte empirische Daten braucht, wenn es darum geht, im Rahmen eines systematisch-pädagogischen Konzepts etwa Empfehlungen für eine Schulreform auszusprechen, die die schulische Benachteiligung der Kinder bestimmter sozialer Gruppen beenden soll.“ (Vogel 19962: 20f.) Umgekehrt könnte aber „auch heute in der empirischen Bildungsforschung von bildungstheoretischen Überlegungen gelernt werden“, um „Fragen an den sozialwissenschaftlichen Forschungsalltag zu stellen“ (Tenorth 1997: 982). Bildungstheoretische Überlegungen ohne eine ‚Konfrontation mit der Wirklichkeit‘ und rein empirische Tatsachen ohne eine ‚theoretisch fundierte Kritik‘ bleiben also unvollständig. Dabei ist der Empiriebegriff insofern zu differenzieren, als dass tendenziell offene und unvorhersehbare Prozesse methodisch angemessen nur im Rahmen eines qualitativen, rekonstruktiven und interpretativen Vorgehens erfasst werden können. An diese Überlegungen lässt sich nun die allgemeine Forderung anschließen, Bildungstheorie und qualitativ-empirische Bildungsforschung zusammenzuführen, um somit die Vorteile beider Richtungen zu verbinden. D.h. es muss versucht werden, der Prozessualität des Bildungsgeschehens gerecht zu werden, indem man die Offenheit, Diskontinuität und Nicht-Identifizierbarkeit in die Entwicklung einer Methode der Bildungsforschung einbezieht. Tatsächlich gibt es solche Versuche. Exemplarisch sollen im Folgenden die Kon-

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zeptionen von Koller und Schäfer als Beispiele einer produktiven Verbindung von Bildungstheorie und qualitativer Bildungsforschung skizziert werden.31 Ziel von Koller ist, wie schon mehrfach anklang, die Erarbeitung einer empirisch fundierten Theorie von Bildungsprozessen, um jene „Kluft zwischen der vorwiegend philosophisch-systematisch ausgerichteten Bildungstheorie und der empirischen Bildungsforschung zu überbrücken“ (Koller 1999: 164). Er sieht die Aufgabe der empirischen Arbeit dabei „eben gerade nicht in der bloßen Prüfung von Hypothesen, die zuvor und unabhängig vom empirischen Material aus theoretischen Prämissen abgeleitet wurden. Im Sinne des methodologischen Postulats der ‚Offenheit‘ stellt vielmehr auch die Formulierung und Weiterentwicklung von Hypothesen einen integralen Bestandteil der empirischen Forschung selbst dar“ (ebd.: 164f.). Es geht mit anderen Worten „um den Versuch, systematisch-theoretische Erörterung und empirische Forschung in ein produktives Wechselverhältnis zu bringen, bei dem keiner der beiden Seiten eine Vorrangstellung zukommt“ (ebd.: 165). Die beiden ‚Seiten‘ dieser Theorie von Bildungsprozessen sehen nun folgendermaßen aus: Theoretisch nähert sich Koller dem Bildungsbegriff mit Hilfe der Gesellschafts- und Diskurstheorie des französischen Philosophen Jean-François Lyotard. Dessen Diagnose der Verfasstheit gegenwärtiger Gesellschaften zeige eine radikale Pluralität, die sich darin auszeichne, dass sie von keinem gültigen Metastandpunkt aus mehr beurteilt oder vermittelt werden könne. Dieser ‚Widerstreit‘, so Koller in seiner bildungstheoretischen Reformulierung dieser Theorie, müsse im Bildungsprozess anerkannt und artikuliert werden, indem neue Diskursarten hervorgebracht werden. ‚Bildung‘ finde ihren Ort damit im Diskursgeschehen (dessen Mitspieler, die Subjekte, ‚Bildung‘ erfahren). Über die Gesellschaftsdiagnose und die Forderung, jener radikalen Pluralität ‚gerecht zu werden‘, bestimmt sich die ethische Dimension des Bildungsbegriffs. Und schließlich erfolgt eine genaue Fassung dessen, was als ‚Bildungsgeschehen‘ betrachtet werden kann, nämlich der sprachlich-innovative Prozess des (Er-)Findens einer neuen Diskursart. Die Besonderheit bei dieser Fassung des Bildungsgeschehens ergibt sich daraus, dass Koller keineswegs davon ausgeht, dass ‚Bildung‘ eine dinghafte Entsprechung in der empirischen Realität besitzt, sie lasse sich „nicht einfach unmittelbar beobachten“ (Koller 1999: 161). Der Offenheit, Unvorhersehbarkeit und Indirektheit von ‚Bildung‘ wird hier also theoretisch Rechnung getragen. Aber auch empirisch versucht Koller diese Maßgaben umzusetzen. Bildungsprozesse, so seine These, können nur anhand ihrer Auswirkungen rekonstruiert werden, kaum aber als instantan sich vollziehende Akte identifiziert werden. Entsprechend greift 31 Weitere Versuche der produktiven Verbindung von Bildungstheorie und qualitativ-empirischer Bildungsforschung unternehmen insbesondere Rainer Kokemohr (vgl. z.B. Kokemohr 2004), Arnd-Michael Nohl (vgl. z.B. Nohl 2001) und Winfried Marotzki (vgl. z.B. Marotzki 1990; 1991 und Marotzki/Nohl 2004).

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er auf eine linguistisch-rhetorische Analyse der Verknüpfung von Satzarten in biographischen Interviews zurück, die sich ihrer Grenzen wohl bewusst ist: Rekonstruktiv-interpretativ wird erschlossen, was möglicherweise als ‚Bildung‘ bezeichnet werden könnte, wobei kein festes Raster von vornherein festlegen kann, wie diese ‚neue Diskursart‘, die einen Bildungsprozess anzeigt, aussehen könnte. Damit aber wird deutlich, dass die Empirie in diesem Fall mehr ist als eine ‚Illustration‘ theoretisch vorher postulierter Konzepte. Als unvorhersehbare Momente dienen rekonstruierte ‚Bildungsprozesse‘ nicht nur der genaueren Ausarbeitung der Bildungstheorie, sondern sie können sie auch korrigieren, sofern diese Ungenauigkeiten oder Lücken aufweist. Auch Schäfers Projekt liest sich als Versuch, bildungstheoretische Überlegungen und ‚qualitativ-empirische‘ Bildungsforschung produktiv miteinander zu verbinden.32 Sein Bildungskonzept versteht sich als kritisch und utopisch: Kritisch einerseits, sofern Bildung für eine Problematisierung von Individuierungs- und Vergesellschaftungsprozessen stehe, sich also gegen eine funktionalistisch-sozialisationstheoretische Perspektive und gegen die Vorstellung einer schlichten pädagogisch-intentionalen Formung (‚Ausbildung‘) des Menschen richte. Utopisch andererseits, da ‚Bildung‘ niemals im Sinne eines operational bestimmbaren Zieles erreichbar sei. Es könne (im Gegensatz zu Erziehung und Sozialisation) stets nur um die Möglichkeit von Bildung gehen, d.h. um die Angabe empirischer Möglichkeitsbedingungen von Subjektwerdungsprozessen, die jedoch niemals ein (bestimmtes) Resultat garantierten. Als ein zentraler Ausgangspunkt in Schäfers Bildungskonzept erscheint der Hegelsche Erfahrungsbegriff, mit dem davon ausgegangen wird, dass ein Individuum seinen Horizont dadurch erweitert, dass es sich auf etwas Fremdes einlässt und über dieses Einlassen auf Welt als verändertes Eigenes wiedergewinnt. Schäfers Kritik an diesem Erfahrungsbegriff bezieht sich darauf, dass Fremdheit so zum Mittel der unproblematischen und sich der Weltobjekte bemächtigenden Selbstbestimmung werde. Mit Adorno fordert Schäfer deshalb einen doppelten Vorrang des Objekts, insofern als erstens das Selbst der Selbstbehauptung als Illusion erkannt werden müsse, da es aufgrund seiner Vermitteltheit durch gesellschaftliche Denkstrukturen nicht einholbar sei; und zweitens jedes Objekt, das wir identifizieren, immer mehr sei, als wir begreifen könnten und sich der Schematisierung von Erkenntnis entziehe. Resultat ist ein Konzept bildender Erfahrung, die Fremderfahrung zu 32 Schäfer nähert sich dieser Problemkonstellation immer wieder aus verschiedenen Richtungen. Als grundlegend können dabei seine ‚bildungsethnologischen‘ Forschungen in verschiedenen afrikanischen Gesellschaften gelten (vgl. z.B. Schäfer 1999a und 1999b). Besonders klar wird die empirische Dimension seiner bildungstheoretischen Überlegungen jedoch in Schäfer 2001. Zur Reflexion des Verhältnisses von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung siehe auch Schäfer 2004b und Schäfer 2005b.

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einem unkontrollierbaren, prekären und notwendig scheiternden Sich-Einlassen auf Unverfügliches werden lasse. Weder könnten die eigenen Ordnungsmuster völlig aufgegeben werden, noch gehe das Fremde in der kategorialen Aneignung auf: Die Unverfügbarkeit des Anderen bleibe konstitutiv. Die Erfahrung der – jeden Bemächtigungsversuch kritisch hinterfragenden – Unverfüglichkeit aller Weltobjekte, gedacht als Möglichkeit, d.h. als utopischer Prozess, der keinerlei Resultate vorhersagen kann – macht für Schäfer einen ‚Bildungsprozess‘ aus. Schäfers Bildungskonzept meint also eine Erfahrung der Differenz zum Fremden, die in ihrer widersprüchlichen Struktur (schließlich habe ich nur meine eigenen Begriffe, um das Fremde zu erfassen) das Eigene kontingent werden lässt. Paradoxe Aufgabe von Bildung sei es damit, das Fremde „mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen“ (Adorno 1966: 19). Im Anderen sehen wir nicht nur die Grenzen unserer Semantik, sondern auch die Grenzen des damit verbundenen Selbst- und Weltverständnisses (vgl. Schäfer 2001). Vor dem Hintergrund von Schäfers Kritik am identifizierenden Denken scheint es nun eigentlich unmöglich, einen Bildungsprozess empirisch zu erfassen und seine theoretischen Überlegungen auf diese Weise mit einer empirischen Bildungsforschung zu verbinden. Dennoch schlägt Schäfer eine „Bildungsethnologie“ (vgl. Schäfer 2001: 11) vor, die dem aufgeworfenen Problem durch einen doppelten Zugang gerecht wird. Als Bildungsforscher untersucht er die Personwerdungsprozesse anderer (in diesem Fall fremdkultureller) Menschen. Diese Prozesse jedoch unmittelbar als ‚Bildungsprozesse‘ zu identifizieren, würde dem Forschungsobjekt nicht gerecht. Es muss also kritisch hinterfragt werden, inwieweit die begriffliche Fassung als Bildungsprozess der Sache bereits Unrecht tut (Schäfer zeigt diese identifizierende Ungerechtigkeit an einem Beispiel aus der ethnologischen Forschung). Gleichzeitig durchläuft der Bildungsforscher selbst in diesen Überlegungen eine „bildende Erfahrung“, die sich dadurch auszeichnet, dass er zunächst die Nicht-Identität des Gegenstandes einzukreisen versucht, sie verfehlt und sich dabei selbst fremd und kontingent wird. Jede empirische Bildungsforschung müsse diesen Doppelschritt mit vollziehen. Damit klärt Schäfer nicht nur in differenzierter Weise die vier vorgeschlagenen Dimensionen des Bildungsbegriffs, ohne sich dabei die Möglichkeit zu nehmen, über eine Befragung der Wirklichkeit die vorab gewählten Kategorien zur Disposition zu stellen (dies sind bei Schäfer insbesondere die Konzepte von ‚Subjektivität‘ und ‚Individualität‘). Darüber hinaus zeigt er, dass der Prozess der Bildungsforschung selbst als ‚Bildungsprozess‘ zu konzipieren ist. Das bedeutet, dass die Forscherin oder der Forscher über die Problematisierung der eigenen an den Gegenstand herangetragenen Kategorien selbst in den Prozess der Fremderfahrung einbezogen wird. Bildungsforschung zu betreiben heißt demnach, sich selbst einer in ihrem Ergebnis ungewissen bildenden Erfahrung auszusetzen. Auch Schäfers Bil64

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dungskonzept weist damit eine empirische Dimension auf, die weit über die ‚Illustration‘ theoretischer Konzepte hinausgeht.33 Betrachtet man insgesamt den ‚Streit‘ zwischen Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung vor dem Hintergrund dieser beiden Konzeptionen des Bildungsbegriffs, wird deutlich, dass sich keine bildungstheoretische Überlegung der Forderung entziehen kann, über das Geschehen der Bildung selbst nachzudenken. Die Klärung einer offenen und unbestimmten Prozessualität lässt sich jedoch kaum durch reine Reflexion erreichen, sondern ist auf eine kritische Befragung der Wirklichkeit angewiesen. Insofern scheint es notwendig, für die Begründung eines Bildungsbegriffs als Ort der Zielbestimmung und Kritik pädagogischen Handelns eine fünfte ‚Dimension‘ einzuführen: die Befragung bildungstheoretischer Überlegungen durch die qualitative Bildungsforschung. Erstens um die theoretisch-abstrakten Begriffe zu ‚korrigieren‘, zweitens um einen genaueren Blick auf Prozessstrukturen zu entwickeln und drittens um Aussagen über hemmende und förderlich wirkende Rahmenbedingungen für Bildungsprozesse zu analysieren, um diese dann – unter der Prämisse ‚Bildung soll sein‘ – als mögliche Leitlinie für pädagogisches Handeln zu nutzen.

1.7

Die ‚fünf Dimensionen‘ des Bildungsbegriffs

Die Untersuchungsleitfrage dieses Kapitels lautete: Welche systematischen Aspekte muss die Bildungstheorie bei der Neubestimmung des Bildungsbegriffs aufgreifen, und in welche Richtungen lassen sich diese Aspekte inhaltlich entfalten? Der dabei vorgeschlagene heuristische Rahmen forderte den Anschluss an fünf ‚Dimensionen‘. Der Verweis auf ‚Alterität‘ mit der damit einhergehenden Unverfügbarkeit und die zunehmende Betonung von Relationalität, Differenz und Medialität haben gezeigt, dass die Rede vom ‚Bildungssubjekt‘ problematisch und wenig eindeutig ist. Jeder aktuelle Versuch der Begriffsbestimmung muss deshalb erstens nach dem Verhältnis von ‚Bildung‘ und ‚Subjektivität‘ bzw. nach der Rolle einer zeitgemäßen Subjektkonzeption 33 Es zeigen sich damit Ähnlichkeiten im Vorgehen von Koller und Schäfer: Im ersten Schritt wird eine Ungerechtigkeit (die Tilgung einer Differenz) erkannt, ohne sie deshalb verhindern zu können; im zweiten Schritt wird dieser Ungerechtigkeit begegnet: innovativ oder kritisch. Diese innovative oder kritische Begegnung wird nun als Möglichkeit von ‚Bildung‘ betrachtet, die man jedoch unmöglich mit Anspruch auf eine letzte Wahrheit feststellen kann. Interessant ist dabei, dass sowohl Koller als auch Schäfer (und übrigens auch Kokemohr) ihren Schwerpunkt in der Betrachtung fremdkultureller Erfahrungen haben, mit dem Hinweis darauf, dass in diesem Blick sich Paradigmatisches auch für innerkulturelle Erfahrungen zeigen könne.

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BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

im Geschehen der ‚Bildung‘ fragen. Es gilt zweitens, dass bildungstheoretische Überlegungen immer in Bezug auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen und Problemlagen erfolgen sollten, wobei die Gesellschaftsdiagnose zur Basis für die Neubestimmung des Bildungsbegriffs wird. ‚Bildung‘ kann dabei sowohl den innovativen als auch den distanzierend-skeptischen Umgang mit gesellschaftlichen Bedingungen meinen. Drittens muss der Bildungsbegriff auf seine problematischen normativen Implikationen hin befragt werden. In aktuellen Konzeptionen ergibt sich dabei eine Alternative zu seiner affirmativ-normativen Begründung: die kritische Grundhaltung, welche auf positiv bestimmbare Normen verzichtet, und ein produktives Vermögen, das anstelle vorherbestimmter Zielvorgaben innovativ neue Möglichkeiten des Sprechens, Handelns und Denkens eröffnet. Die Neufassung des Bildungsbegriffs erfordert viertens auch die prozessuale Bestimmung des Geschehens der ‚Bildung‘. Die Zeitlichkeit von Bildungsprozessen, ihre Verlaufsform, ihre Bedingungen, ihre immanente Diskontinuität und Offenheit wird in bildungstheoretischen Überlegungen gerne ausgespart, da der Versuch einer Bestimmung des ‚nicht vorher Bestimmbaren‘ als ethisch nicht zu rechtfertigendes ‚identifizierendes Denken‘ gilt. Dieser Schwierigkeit könnte und sollte aber fünftens mittels qualitativ-empirischer Bildungsforschung begegnet werden: Der Blick auf eine prinzipiell offene, diskontiuierliche Prozessualität scheint erst dann produktiv, wenn man sich auf den komplexen Verweisungszusammenhang von theoretischer Reflexion und qualitativ-empirischer Analyse einlässt. Dieser damit skizzierte allgemeine bildungstheoretische Rahmen hat natürlich seine Grenzen. Weder gibt er eine genaue Bestimmung des Bildungsbegriffs vor, noch kann er garantieren, dass nicht mit der Neubestimmung des Begriffs auch der Rahmen selbst verändert werden müsste. Zudem mag man einem solchen Rahmen vorwerfen, er sei wenig originell und insofern für die theoretische Entwicklung der Disziplin kaum von Interesse – schließlich ‚gibt‘ es diese aktuelle Sicht auf Bildung bereits, d.h. die Heuristik stellt lediglich dar, was bereits gedacht wurde. Das leitende Interesse dieser Untersuchung ergibt sich jedoch nicht aus der gewissermaßen abstrakten Frage, ob dieser rekonstruierte ‚Rahmen‘ der Idee von ‚Bildung‘ angemessen ist oder verändert werden müsste. Es geht stattdessen um den Versuch, mit Michel Foucault – aus einer ganz anderen Richtung – im Zentrum der aktuellen bildungstheoretischen Debatte einzusetzen und zu prüfen, ob sich daraus vielleicht produktive (neue) Bestimmungsmomente und Untersuchungsmöglichkeiten von ‚Bildung‘ ergeben. Für einen solchen ‚Einsatz‘ bedarf es eines vorläufigen Rahmens als Ausgangspunkt, und dieser sollte hier skizziert werden. Selbstverständlich bleibt aber die Möglichkeit offen, dass sich dieser im Einsetzen und Anknüpfen an diese ‚Dimensionen des Bildungsbegriffs‘ als unzulänglich erweist oder doch zumindest verschiebt. Um dies zu prüfen, soll 66

DIMENSIONEN DES BILDUNGSBEGRIFFS

nun im Folgenden eine solche ‚bildungstheoretische Lektüre‘ ausgewählter Schriften von Michel Foucault versucht werden. Dazu wird jede der vorgeschlagenen Dimensionen einer Relektüre vor dem Hintergrund Foucaultscher Überlegungen und Konzepte unterzogen.

67

2.

Ambivalente Selbstpraktiken. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs im Anschluss an Michel Foucault

2.1

Foucault als Bildungstheoretiker?

Michel Foucault „trug Masken und wechselte sie ständig“ (Eribon 1991: 14). Er schrieb historische Abhandlungen, gab sich als Intellektueller, war Französisch-Lektor in Uppsala und Warschau, verkehrte in philosophischen Kreisen, trat als Journalist auf, wurde als Strukturalist und als Poststrukturalist etikettiert, war kurz Mitglied der Kommunistischen Partei, arbeitete zwischendurch als Psychologe am Hôpital Sainte-Anne, entwickelte verschiedenste politische Aktivitäten und hatte schließlich von 1970 bis zu seinem Tod 1984 eine Professur am Collège de France in Paris inne. Einer Disziplin gegenüber blieb Foucault jedoch beharrlich auf Abstand: der Erziehungswissenschaft. Stets bewahrte er sich Vorbehalte gegenüber jenen theoretischen Konzepten, Praktiken und Institutionen, die im weitesten Sinne mit der Vermittlung von ‚Wissen‘ und dem Umgang mit ‚Zöglingen‘ zu tun haben. Selbst nachdem er bereits viele Jahre im Rahmen seiner Professur eigene Vorlesungen gehalten hatte, erklärte er kategorisch: „Ich lehne das Wort ‚Lehre‘ ab. Lehren enthielte ein systematisches Buch, das einer verallgemeinerbaren Methode folgen oder den Beweis einer Theorie liefern würde.“ (Foucault 1996: 33) Und in Foucaults Schriften – der mittlerweile vollständig auf deutsch erschienenen Sammlung von Interviews, Aufsätzen, Vorträgen und Gesprächen – finden sich weitere Hinweise darauf, dass Foucault in den Bildungsinstitutionen vor allem eines vermutete: die Zurichtung und (politische) Neutralisierung der

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BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

lernenden Individuen, damit diese vorgegebene Funktionsstellen der Gesellschaft bekleiden können (vgl. Foucault 2005b: 135).34 Foucaults Misstrauen gegenüber der Praxis und Theorie von Wissensvermittlung findet seine Grundlage wohl in jenen zwei analytischen Konzepten, die seine Untersuchungen wie ein roter Faden durchziehen. Wissen als das erste dieser analytischen Konzepte fasst Foucaults These, dass alles das, was zu einer bestimmten Zeit gewusst, gedacht, gesagt, getan und wahrgenommen werden kann, Ergebnis anonymer, die Gesellschaft durchziehender Regelsysteme sei. ‚Wissen‘ habe damit keine Anbindung an eine vermeintliche übergreifende Wahrheit, der man sich – je nach Epoche und Gesellschaft – mehr oder weniger stark anzunähern vermag. Sondern das gegebene ‚Wissen‘ finde seine Objekte, seine Theorien und seine Übermittlungsweisen (und damit auch seine Grenzen) in den geregelten Handlungs-, Sprech-, Denk- und Wahrnehmungsweisen selbst. Macht als das zweite analytische Konzept kennzeichnet das von Foucault angenommene Prinzip eines unhintergehbaren und engmaschigen Netzes strategisch-kämpferischer Beziehungen. Dieses Netz dehne sich über die gesamte Gesellschaft aus und wirke zwischen Individuen, Gruppen und Institutionen mittels zugehöriger Techniken und Praktiken. ‚Macht‘ kennzeichnet dabei das jeweilige Verhältnis, aber gleichzeitig auch das spezifische Potenzial, von einer bestimmten Position aus Einfluss zu nehmen, d.h. ‚Wissen‘ zu erzeugen oder zu ergreifen, Subjektpositionen zu konstituieren, gegebene Bedingungen umzuformen, Individuen auszuschließen und zuzurichten, aber auch Widerstand zu üben einer jeweilig anderen ‚Macht‘ gegenüber. ‚Macht‘ ist damit nicht Abbild eines Herrschaftszustandes, sondern eine unhintergehbare, bewegliche und dynamische Energie, die die Gesellschaft in allen ihren Verästelungen durchströmt, formt und antreibt. Foucault zufolge besteht zwischen diesen beiden Konzepten ein enges Verhältnis: ‚Macht‘ umfasst das Vermögen, ‚Wissen‘ zu erzeugen, aber genauso hat derjenige, der sich ‚im Wahren‘ bewegt, eine strategisch günstige Machtposition. Diesen ungewöhnlichen Blick auf Gesellschaft hat Foucault nicht zuletzt in Bezug auf die ‚Bildungsinstitutionen‘ entwickelt, in denen er eine besonders problematische Verknüpfung von ‚Wissen‘ und ‚Macht‘ am Werk sieht, die „eine zweifache Unterdrückung“ (Foucault 2002c: 273) herbeiführe. Zum einen diejenige, die Individuen von vornherein von der Bildungsinstitution ausschließt, sodass diese nicht am ‚Wissen‘ teilhaben können. Zum anderen 34 Um nachvollziehen zu können, auf welche der in den Schriften enthaltenen Aufsätze, Artikel, Vorträge und Gespräche Bezug genommen wird, sind diese im Literaturverzeichnis jeweils gesondert ausgewiesen: Jahreszahlen mit Buchstaben (z.B. Foucault 2001a, 2003b etc.) verweisen auf Einzelbeiträge aus den Schriften. Bei Jahreszahlen ohne Buchstaben (z.B. Foucault 1994) handelt es sich um eigenständige Veröffentlichungen.

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

aber auch die Unterwerfung, die darin besteht, dass den Lernenden durch das ‚Wissen‘ bestimmte „Modelle, Normen, Raster“ (ebd.: 274) aufgedrängt werden. Denn genau mit jenen Dingen, die der Erkenntnis zugänglich gemacht werden, erfolge – insbesondere in der Schule – bereits eine Zurichtung der Gegenstände und Themen, die andere Optionen ausschließt. Über Auswahlquoten, Lehrpläne und Unterrichtsgestaltung werde so ein Machtverhältnis erzeugt, in dem die Lernenden (und noch stärker: die vom Lernen Ausgeschlossenen) kaum individuelle Entfaltungsmöglichkeiten haben. Entsprechend düster schließt hier auch Foucaults Bild vom Lehrenden an: „Der Lehrer ist derjenige, der sagt: ‚Hört zu, hier bekommt ihr eine gewisse Anzahl von Dingen, die ihr nicht wisst, die ihr aber in Zukunft wissen müsst.‘ Das umfasst somit eine erste Etappe, und die möchte ich, wenn Sie so wollen, Erzeugung eines Schuldgefühls nennen. Zweitens, diese Dinge, die ihr in Zukunft wissen müsst, ich, ich kenne sie, und ich werde sie euch lehren, und das ist das Stadium der Verpflichtung; und dann, wenn ich sie euch gelehrt haben werde, werdet ihr sie wissen müssen, und ich werde überprüfen, ob ihr sie wisst: Überprüfung. Also, eine ganze Reihe von Machtbeziehungen, die ich gerade aufgeführt habe.“ (Foucault 2002e: 975) Vor diesem Hintergrund liegt es zwar auf der Hand, Foucaults Überlegungen als Ausgangspunkt einer Kritik an erziehungswissenschaftlichen Konzepten und pädagogischen Praktiken zu nutzen. Wenig nahe liegend erscheint demgegenüber jedoch der Versuch, Foucault als einen ‚Bildungstheoretiker‘ zu lesen. Selbst wenn man argumentiert, dass ‚Bildung‘ weit mehr und anderes ist als ‚Wissensvermittlung‘ oder ‚Lehre‘ und Foucaults Misstrauen folglich den Bereich der bildungstheoretischen Überlegungen gar nicht berührt, scheint eine bildungstheoretische Lektüre der Schriften Foucaults spätestens in Bezug auf dessen Konzepte des ‚Wissens‘ und der ‚Macht‘ problematisch: Während ‚Bildung‘ doch offensichtlich auf einen Zugewinn von Wissen unter der gleichzeitigen Reduktion von Herrschaftsverhältnissen zielt, geht Foucault davon aus, dass ‚Wissen‘ immer Machteffekte mit sich bringt und ‚Macht‘ ein unhintergehbares und damit auch nicht zur reduzierendes gesellschaftliches Allgemeinprinzip darstellt. Eine Verbindung von Foucaults Konzepten mit bildungstheoretischen Überlegungen ist also auf den ersten Blick kein Vorhaben, das sich zwingend aus auffälligen Gemeinsamkeiten beider Bereiche ergäbe. Tatsächlich wurden Foucaults Schriften in der Erziehungswissenschaft lange Zeit fast völlig ignoriert und schließlich zunächst vor allem von Vertretern des Faches aufgegriffen, die Foucault als einen „kritischen Historiker“ (Gehring 1994: 17) lesen, dessen Untersuchungsergebnisse ihre Kritik an pädagogischen Institutionen und Techniken zu untermauern vermag (vgl. Balzer 2004: 17). Umso erstaunlicher ist die Umkehr in der Rezeption Foucaultscher Theorien und Konzepte in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft im 71

BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

Verlauf der neunziger Jahre (vgl. Ricken/Rieger-Ladich 2004: 8). Seitdem scheint sich ein relativ breiter Konsens über deren produktives Anregungspotenzial zu bilden, der nicht zuletzt an der zunehmenden Zahl von Veröffentlichungen abzulesen ist.35 Was aber lässt die Überlegungen Foucaults seit diesem Zeitpunkt plötzlich so interessant und reichhaltig erscheinen, dass sie für die erziehungswissenschaftliche Begriffsbildung – und damit auch für bildungstheoretische Überlegungen – attraktiv werden? Es sind vor allem zwei Momente, die das Interesse an Foucaults Konzepten und Theorien erklärlich machen. Das erste Moment liegt in der provokativen Kraft von Foucaults Äußerungen und Texten selbst: Sie sind insofern ‚anstößig‘, als sie immer wieder scheinbar evidente Wahrheiten und fest gefügte Überzeugungen als strategische Machtspiele vorführen und damit deren ‚Wert‘ nachhaltig erschüttern. Bekanntestes Beispiel ist Foucaults Untersuchung zur „Geburt des Gefängnisses“ (Foucault 1994), in der die scheinbare Humanisierung, die in der Ablösung willkürlicher Martern durch eine rechtlich organisierte Haftstrafe liegt, als Mechanismus der rein strategischen Umbildung von Machtformen gezeigt wird. Ein solcher Blick ist ‚genealogisch‘ und richtet sich gegen die Annahme, dass gesellschaftliche Strukturen und deren Transformationen Ausdruck einer dahinter stehenden ‚Idee‘ intentional handelnder Subjekte sind. Stattdessen stellt die Genealogie generell Prinzipien der Synthese – wie Autorschaft, Werk, Bewusstsein, Teleologie, Identität und Sinn – in Frage, um stattdessen auf Diskontinuitäten und strategische Machtmechanismen aufmerksam zu machen. Damit rücken aber auch zwei besonders zentrale Denkfiguren in eine beunruhigende Nähe zu Mechanismen der Macht. Die erste dieser Figuren ist die Idee der Wahrheit. Foucault zufolge ist der „Wille zur Wahrheit“ keineswegs so neutral und moralisch einwandfrei, wie er sich gibt. Stattdessen handele es sich um eine „gewaltige Ausschließungsmaschinerie“ (Foucault 1991: 17). Niemals erfolge die Produktion von Wissen außerhalb von Machtinteressen und Formierungsprinzipien; immer sei sie strategisch: „Wir reden und diskutieren nicht, um zur Wahrheit zu gelangen, sondern um zu gewinnen.“ (Foucault 2002c: 777) Die 35 Neben den Monographien, die sich vollständig oder zumindest in Teilen auf Foucault beziehen (vgl. z.B. Pongratz 1989, Meyer-Drawe 1990a, Forneck 1992, Schütz 1992, Coelen 1996, Schäfer 1996, Rieger 1997, Brinkmann 1999, Ricken 1999a, Reichenbach 2001, Rieger-Ladich 2002, Höhne 2003), sind vor allem zwei jüngere erziehungswissenschaftliche Sammelbände zu Michel Foucault zu nennen: Der von Norbert Ricken und Markus Rieger-Ladich herausgegebene Sammelband Michel Foucault: Pädagogische Lektüren (vgl. Ricken/ Rieger-Ladich 2004) und der auf der Jahrestagung der Kommission für Bildungs- und Erziehungsphilosophie basierende Sammelband Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Perspektive der Pädagogik (vgl. Pongratz/ Wimmer/Nieke/Masschelein 2004). Ein Überblick zu weiteren Veröffentlichungen findet sich bei Schmitz 2004.

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

zweite Figur, deren Ambivalenz in der genealogischen Betrachtung deutlich wird, ist die des Subjekts: Mit der Infragestellung einer kontinuierlichen Geschichte wird Foucault zufolge ebenso „die Stifterfunktion des Subjets“ (Foucault 1981: 23) berührt. Stattdessen erscheint das ‚Subjekt‘ genealogisch als ein Produkt vielfältiger Machttechniken, dessen ‚Seele‘ und vermeintliche ‚Identität‘ Ergebnis differenziert unterwerfender diskursiver und körperlicher Praktiken ist. Betrachtet man diese Provokationen, so wird deutlich, dass das Feld der Erziehungswissenschaft in besonders vielfältiger und nachhaltiger Weise von ihnen betroffen ist. Zunächst wird durch die genealogische Betrachtungsweise die Geschichte der Pädagogik insofern irritiert, als bestimmte Entwicklungen im Bereich der Erziehung und Bildung nicht mehr ohne weiteres als humanistische Errungenschaften betrachtet werden können, die in einer teleologischen Abfolge stehen und dem Ideal einer stetigen Verbesserung der Menschheit dienen. Im Anschluss an Foucaults Studie zur Transformation der Machtformen im 19. Jahrhundert (vgl. Foucault 1994) lassen sich sowohl die Verbreitung der Volksschule und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht als auch die verschiedenen reformpädagogischen Bemühungen nicht nur als Verbesserung der Bildungschancen, sondern ebenso als strategische Ausweitung des machtförmigen Zugriffs auf Individuen betrachten (vgl. Pongratz 1989 und 1990; Meyer-Drawe 1996). In gleicher Weise müssen auch die Einführung neuer Unterrichtsmethoden, Lehrplanreformen, der gegenwärtige Umbau der Universität und sogar die architektonischen Einrichtungen der Bildungsinstitutionen (vgl. Hnilica 2003) in genealogischer Weise auf ihre Funktion hin untersucht werden. Aber nicht nur die Geschichte der Bildungsinstitutionen ist betroffen. Auch spezifische pädagogische Konzepte werden von diesen Provokationen berührt (vgl. Thompson 2004: 51). Normative Grundlagen von Erziehung und Bildung, wie ‚Autonomie‘, ‚Mündigkeit‘, ‚Partizipation‘ oder ‚Empowerment‘ erscheinen in der Betrachtung durch Foucaults Brille als ambivalente Machttechnologien, die sich nicht mehr unmittelbar zum übergreifenden Ziel pädagogischer Maßnahmen erklären lassen (vgl. Schäfer 1996, Meyer-Drawe 1990a, Rieger-Ladich 2002). Und entsprechend werden auch die Techniken von Erziehung und Bildung hinterfragt. Dabei muss in Betracht gezogen werden, dass Foucaults kritischer Blick nicht nur historische Praktiken erfasst und in Frage stellt, sondern sich ebenso auf gegenwärtige Konstellationen und Strukturen richtet, die in veränderter – aber unverminderter – Weise als machtförmige Zurichtungs-, Konstitutions- und Ausschlussprinzipien wirken (vgl. Dzierzbicka/Sattler 2004, Liesner 2004, Pongratz 2004, LehmannRommel 2004). Die unmittelbarste Provokation zielt jedoch direkt in das Zentrum erziehungswissenschaftlicher Überlegungen. Es handelt sich um Foucaults fundamentale Kritik an der modernen Konzeption des Subjekts, 73

BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

dessen Autonomie er bestreitet, um es stattdessen als in der Unterwerfung konstituierten, substanzlosen Effekt macht- und diskursförmiger Praktiken zu entwerfen (vgl. Brinkmann 1999). All dies betrifft in besonderer Weise das Konzept der ‚Bildung‘. So lässt sich in genealogischer Hinsicht zeigen, dass das Konzept der ‚Bildung‘ Teil eines ‚Machtdispositivs‘ ist, das Individuen in strategischer Weise unterwirft und formt (vgl. Masschelein/Ricken 2003). ‚Bildung‘ erscheint dabei als ambivalentes Konzept, dessen Verstrickung in Machtmechanismen genauer nachgegangen werden muss. Darüber hinaus scheint ein sich selbst nicht mehr verfügbares, in Machtbeziehungen verwickeltes, grund- und ursprungsloses Subjekt mit bildungstheoretischen Überlegungen insofern unvereinbar, als ‚Bildung‘ ja gerade jenen Moment zu erfassen versucht, in dem das Subjekt sich selbst formt und transformiert. Wird eine solche Selbstformung als von vornherein durch Führungsversuche korrumpiert betrachtet, ist einer so verstandenen ‚Bildung‘ der Boden entzogen.36 Es lässt sich auf unterschiedliche Weise mit diesen Provokationen umgehen. Denkbar wäre eine Reaktion, die Foucaults ‚antihumanistische‘ Thesen schlicht ignoriert oder dezidiert ablehnt. Diese Strategie zeichnet tatsächlich größtenteils die erste Rezeptionsphase der Schriften Foucaults in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft aus (vgl. Balzer 2004: 15, Koller/Lüders 2004: 57). Eine andere Möglichkeit des Umgangs mit Foucaults ‚Provokationen‘ zeigt sich darin, diese als eine ‚Programmatik‘ zu verstehen, die es entsprechend konsequent gegen die von Foucaults Thesen angesprochenen erziehungswissenschaftlichen Felder, Konzepte und Praktiken ins Feld zu führen gilt, um diesen ihre Berechtigung abzusprechen. Foucaults Thesen und Konzepte werden dabei entweder als Forschungsergebnisse gewertet, die übernommen und weiter vertreten werden, oder aber sie werden in Form analoger, historisch orientierter Untersuchungen – gewissermaßen ‚illustrativ‘ – auf erziehungswissenschaftliche Zusammenhänge übertragen. Ein dritter Weg liegt demgegenüber darin, die genannten Irritationen als Ausgangspunkt zu nehmen, Foucaults Denkbewegungen als Anregung zu verstehen, selbst solche Denkbewegungen zu unternehmen. Dieser Weg zeichnet sich vor allem in der jüngeren Auseinandersetzung mit Foucaults Schriften ab (vgl. insbes. Ricken/Rieger-Ladich 2004 und Pongratz/Wimmer/Nieke/Masschelein 2004). Die Möglichkeit, im Anschluss an Foucaults Denkbewegungen gegebene Überzeugungen neu zu denken, bildet nun den Ausgangspunkt für das zweite Moment, das Foucaults Theorien und Konzepte so interessant erscheinen lässt. Denn so sehr Foucault auch den Provokateur spielt und gegen gewohnte Bahnen an denkt – niemals beschränken sich seine Äußerungen auf die reine 36 So auch die Schlussfolgerung von Malte Brinkmann (Brinkmann 1999) und Hermann-Josef Forneck (Forneck 1992), vgl. dazu auch die umsichtige Rekonstruktion von Nicole Balzer (Balzer 2004: 22f.).

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

Negation und Zerstörung. Stets ist seine Bewegung eine doppelte: die der Erschütterung und die der produktiven Umdeutung. Wenn Foucault beispielsweise die problematischen Aspekte des Konzeptes der ‚Aufklärung‘ hervorhebt, so tut er dies, indem er gleichzeitig eine Möglichkeit aufzeigt, dieses Konzept anders zu denken (vgl. Foucault 2005h). Diese doppelte Bewegung gilt nicht nur für die verschiedenen Gegenstände und Themengebiete, sondern auch für Foucaults methodisches Vorgehen: Mit seiner ‚Archäologie‘ und seiner ‚Genealogie‘ entwickelt Foucault ein analytisches Werkzeug, das bestimmte Formen der Analyse von Gegenwart und Vergangenheit problematisiert und davon ausgehend gleichzeitig eine andere mögliche Form der Analyse anbietet. Foucaults ‚Anstößigkeit‘, die in erster Instanz zum Widerspruch anstachelt, führt also in zweiter Instanz zu dem Projekt, Denkbewegungen zu vollziehen, die die historische und aktuelle Verfasstheit von wissenschaftlichen oder alltäglichen Strukturen, Institutionen und Praktiken analysieren und als ‚anders-möglich‘ entwerfen. Vor diesem Hintergrund bietet sich nun eine mögliche Erklärung dafür an, weshalb Foucaults Konzepte und Theorien in der Erziehungswissenschaft lange Zeit fast vollständig ignoriert wurden, gegenwärtig dafür aber eine umso stärkere Rezeption erfahren. Denn jene Provokationen, die noch vor zwanzig Jahren schnell „Aversionen“ (Pongratz 1990: 290) hervorriefen, treffen gegenwärtig auf die zunehmende disziplinäre Bereitschaft, zentrale Konzepte wie ‚Erziehung‘ und ‚Bildung‘ einer Revision zu unterziehen. Wie im ersten Abschnitt dieser Arbeit gezeigt wurde, weisen theoretische Überlegungen zum Bildungsbegriff in vielfältige neue Richtungen, die zwar teils auf seine Abschaffung zielen, ihn zumeist aber ausgehend von seinen ihm innewohnenden Beschränkungen und vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Herausforderungen neu zu fassen versuchen. Foucaults Anliegen ist es, solche produktiven Wege einzuschlagen, deren Ziel nicht die Ablehnung, sondern die Umdeutung und Reformulierung von Konzepten und Praktiken ist. In analoger Weise möchte ich deshalb den Bildungsbegriff nicht einfach verwerfen, da er möglicherweise Teil eines Machtdispositivs ist und genealogisch als Mechanismus der Unterwerfung und Führung durch Individualisierung betrachtet werden kann. Stattdessen soll der Versuch unternommen werden, ‚Bildung‘ anders zu denken. Ein ‚Anders-Denken‘ ist jedoch, folgt man Foucault, nicht in einem luftleeren Raum ohne Anbindungs- und Verankerungspunkte möglich. Es muss der Ausgang genommen werden von dem aktuellen ‚Wissen‘ einer Gesellschaft und den damit verbundenen Machtbeziehungen. Deshalb bilden die fünf im ersten Abschnitt entwickelten ‚Dimensionen von Bildung‘ den Ausgangspunkt für deren schrittweise Reformulierung in Anschluss an Foucaults Konzepte und Theorien. Zuerst gilt es dabei, Foucaults Subjektkonzeption zu rekonstruieren, um zu prüfen, inwiefern von einem ‚Bildungssubjekt‘ ausgegangen und gesprochen werden kann (2.2). Als 75

BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

zweites wird der Gesellschaftsbezug von Bildung vor dem Hintergrund von Foucaults Diagnosen zur gesellschaftlichen Verfasstheit diskutiert (2.3). Als drittes muss geklärt werden, inwieweit Foucault das „ungelöste Normenproblem der Pädagogik“ (Ruhloff) produktiv aufzugreifen vermag, um so die Problematik von ‚Bildung‘ als normatives Konzept zu bearbeiten (2.4). Als viertes und letztes soll schließlich der Versuch einer Klärung des Prozesscharakters von ‚Bildung‘ unternommen werden (2.5). Wie bereits angekündigt, wird die ‚fünfte Dimension‘ – also die Frage nach Möglichkeiten einer empirischen Untersuchung von Bildungsprozessen – erst im Anschluss daran im zweiten Teil dieser Arbeit aufgegriffen.

2.2

Foucaults Subjektkonzeption

Als erste Dimension des Bildungsbegriffs wurde die Frage nach dem ‚Subjekt der Bildung‘ vorgeschlagen. Dabei konnte gezeigt werden, dass es sich um eine zentrale Dimension des Bildungsbegriffs handelt. Allerdings wurde ebenso deutlich, dass eine bestimmte Problematisierungsform von Subjektivität heute an ihr Ende gelangt ist und die Bildungstheorie damit aufgefordert ist, die Frage erneut und auf andere Weise zu stellen. Als wichtigster Ausgangspunkt für eine solche Reformulierung des Bildungsbegriffs in Bezug auf das Subjekt der Bildung konnten die Prinzipien von Differenz, Heteronomie, Alterität und Sprachlichkeit mit ihren Implikationen von Medialität, Fremdbestimmtheit und Nichtverfügbarkeit ausgemacht werden. Damit kristallisiert sich die allgemeine Fragestellung heraus, vor die sich aktuelle bildungstheoretische Ansätze gestellt sehen: Was bedeutet es für das Konzept der ‚Bildung‘, wenn es nicht als ein vom Subjekt autonom steuerbares, transparentes Geschehen verstanden werden kann? In den mündlichen und schriftlichen Äußerungen Michel Foucaults sucht man vergeblich nach expliziten Antworten auf diese Frage. Dennoch soll hier die These vertreten werden, dass sich alle im ersten Abschnitt entwickelten Dimensionen des Bildungsbegriffs mit Foucault produktiv aufgreifen und reformulieren lassen. In Bezug auf die erste Dimension – dem ‚Subjekt der Bildung‘ – soll dies in zwei Schritten geschehen. Zunächst gilt es, Foucaults Subjektkonzeption zu rekonstruieren. Diese umfasst drei verschiedene Achsen der Subjektkonstitution: das ‚diskursive Subjekt‘, das ‚Subjekt der Macht‘ und das ‚Subjekt der Ethik‘. Alle drei Achsen bieten Ansatzpunkte für bildungstheoretische Überlegungen, die auf Abstand zu der Vorstellung eines sich selbst verfügbaren und transparenten, autonom handelnden, denkenden und sprechenden Subjekts gehen. In einem zweiten Schritt sollen die Implikationen herausgearbeitet werden, die eine solche Subjektkonzeption für bildungstheoretische Überlegungen hat. Dabei steht das Problem im Vorder76

AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

grund, wie ein Geschehen wie das der ‚Bildung‘ überhaupt noch denkbar sein kann, wenn das Subjekt notwendigerweise fremdbestimmt und in formierenden Praktiken befangen ist.

2.2.1 Foucaults Subjektkonzeptionen Nicht die Macht, sondern das Subjekt sei das allgemeine Thema seiner Forschungen gewesen, behauptet Foucault in dem oft zitierten Text „Subjekt und Macht“ (vgl. Foucault 2005f). Entsprechend habe er sich „um eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur bemüht“, wobei er seinen Fokus auf „Objektivierungsformen“ gerichtet habe, „die den Menschen zum Subjekt machen“ (ebd.: 269). Foucault rekonstruiert in dem genannten Text drei dieser Objektivierungsformen, wobei sich jeweils ein Bezug zu bestimmten Schriften Foucaults herstellen lässt. Die erste der untersuchten Formen ist die Subjektkonstitution im Feld der Wissenschaften wie Linguistik, Ökonomie oder Biologie, die ein ‚grammatisches Subjekt‘, ein ‚produktives Subjekt der Arbeit‘ oder ein ‚biologisches Subjekt‘ konstituieren. Die entsprechenden Studien sind Die Geburt der Klinik (1963), Die Ordnung der Dinge (1966) und in eher methodologischer Hinsicht die Archäologie des Wissens (1969). Die zweite Objektivierungsform bezieht sich auf die Subjektkonstitution im Feld der Macht, in dem der Mensch individualisiert und normalisiert (bzw. ausgegrenzt) wird. Die zentralen Studien für diese Machtpraktiken sind Überwachen und Strafen (1975) und Der Wille zum Wissen (1976). Die dritte Form der Subjektivierung ist schließlich die Art und Weise, in der ein Mensch sich selber objektiviert, indem er sich als moralisch verantwortliches Subjekt (an)erkennt und ausarbeitet. Diese Perspektive wird insbesondere in den Studien Der Gebrauch der Lüste (1984) und Die Sorge um sich (1984) entwickelt. Auch wenn Foucault des Öfteren betont, dass sich seine Arbeiten nicht in ein Schema der logischen Abfolge pressen lassen, lohnt es doch, die Rekonstruktion von Foucaults Subjektkonzeption(en) an diesen drei Achsen zu orientieren. Wichtig ist dabei jedoch Foucaults eigener Hinweis, dass es sich bei diesen drei Achsen nicht um eine kontinuierliche Entwicklung handele, an deren Ende eine einzelne, kohärente, elaborierte Subjekttheorie stünde. Immer geht es Foucault um alle drei Achsen, wie er in seiner Untersuchung zur Sexualität als historisch besonderer Erfahrung betont (vgl. Foucault 1989: 10). Dieser Hinweis gilt entsprechend für die anzuschließenden bildungstheoretischen Reflexionen. Anders als in mancher Studie zu Foucault soll nicht eine Begrenzung auf den sogenannten ‚späten Foucault‘ mit seinen Überlegungen zur Ethik vorgenommen werden. Vielmehr gilt es, die bildungstheoretischen Implikationen in Bezug auf alle drei Achsen herauszuarbeiten.

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BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

2.2.2 Die Konstitution des Subjekts im Diskurs Die erste der drei Subjektivierungsformen bezieht sich auf Diskurspraktiken, die dem Individuum einen Platz im kulturhistorisch spezifischen ‚Wissen‘ zuweisen, der ihm ermöglicht, als (z.B. sprechendes, produktives, biologisches) Subjekt aufzutreten. Sie lässt sich am besten in der von Foucault 1969 veröffentlichten methodologisch orientierten Schrift Archäologie des Wissens (vgl. Foucault 1981) und den in dieser Zeit geführten Interviews und Forschungsarbeiten nachvollziehen. In der Archäologie des Wissens geht es um die Frage, wie die Produktion von ‚Wissen‘ in seiner kulturell und historisch spezifischen Erscheinungsweise funktioniert. Foucaults zentrale These ist dabei die konstitutive Kraft der diskursiven Praxis. Sie lasse Gegenstände erscheinen, stelle spezifische Möglichkeiten für Äußerungen her, etabliere ein charakteristisches Begriffssystem und bringe bestimmte Themen und Theorien hervor. Diese Perspektive enthält – neben einer Reihe anderer theoretischer Implikationen37 – vor allem eines: die strikte Absage an jede theoretische Konzeption, die dem Subjekt die Fähigkeit zuschreibt, als selbstbewusste und vorgängige Instanz Diskurse zu begründen und zu kontrollieren. In genauer Umkehrung dieser Annahme erscheint stattdessen die diskursive Praxis als diejenige, die in bestimmter Weise Subjekte hervorbringt. Foucault betont, „dass es nicht auf der einen Seite unbewegliche Diskurse gibt, die bereits mehr als halbtot sind, und dann auf der anderen Seite ein allmächtiges Subjekt, das sie manipuliert, sie umwälzt, sie erneuert, sondern dass die diskurrierenden Subjekte Teil eines diskursiven Feldes sind – hier finden sie ihren Platz (und ihre Möglichkeiten der Deplatzierung), ihre Funktion (und ihre Möglichkeiten funktioneller Wandlung). Der Diskurs ist nicht der Ort eines Einbruchs purer Subjektivität; er ist für die Subjekte ein Raum differenzierter Positionen und Funktionen.“ (Foucault 2001c: 867) Subjekte sind demnach von der diskursiven Praxis, die spezifische Positionen und Gebrauchszwecke bereitstellt, abhängig und ihr nachgeordnet. Damit ist gemeint, dass das Individuum nur in der diskursiven Praxis – also innerhalb des aktuellen ‚Wissens‘ – einen Ort findet, an dem es als Subjekt mit bestimmtem Status, in einem vorgegebenen Verhältnis zum Objekt der Rede und in spezifischer Funktion auftreten kann. Diese Orte in der diskursiven 37 Entscheidend ist der archäologische Blick auf Diskurse, der seine Gegenstände als „Monumente“ und nicht als „Dokumente“ begreift (vgl. Foucault 1981: 14f.), d.h. als Produkte eines anonymen regelhaften Geschehens. Dieser Blick stellt traditionelle Prinzipien der Synthese – wie Autorschaft, Werk, Bewusstsein, Teleologie, Identität, Sinn usw. – in Frage und führt stattdessen die Diskontinuität in das Denken ein. Entsprechend ist der methodologische Rahmen der Diskursanalyse als strikte Abgrenzung zu Methoden der (hermeneutischen) Exegese zu verstehen (vgl. Foucault 2001c: 869). Siehe dazu auch Kapitel 3.3.1.

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Praxis sind vorgegeben von historisch-kulturell spezifischen „Formationsregeln“, die das Zusammenspiel von Status des Subjekts, institutionellen Orten der Rede und Sprechsituationen regulieren (vgl. Foucault 1981: 75-82). Eine mögliche Konsequenz dieser Subjektivierung in Diskurspraktiken ist die Zerstreuung des Individuums in verschiedenste Subjektpositionen, wenn es z.B. einmal als Mutter, dann als Geliebte und schließlich als Wissenschaftlerin auftritt. Die entsprechende Frage lautet deshalb nicht mehr, „wie die Welt vom Subjekt erlebt, erfahren, durchdrungen werden kann“ (Foucault 2002b: 201). Die Frage ist vielmehr: „[A]ufgrund welcher Bedingungen und in welchen Formen kann so etwas wie ein Subjekt in der Ordnung des Diskurses erscheinen? Welchen Platz kann es in jedem Diskurstyp einnehmen, welche Funktionen kann es ausüben, indem es welchen Regeln folgt? Kurzum, es geht darum, dem Subjekt (oder seinem Substitut) seine Rolle als ursprüngliche Begründung zu nehmen und es als variable und komplexe Funktion des Diskurses zu analysieren.“ (Foucault 2001d: 1029) Mit der Annahme, dass erst der Diskurs die Möglichkeit eröffnet, im vorgegebenen Bereich des ‚Wissens‘ als Beobachter, Sprecher und Akteur aufzutreten, wird auch die Frage nach dem Subjekt der Bildung und der Struktur des Bildungsgeschehens berührt. Erscheint Subjektivität als eine Äußerungsmodalität, die spezifischen Formationsregeln gehorcht, so wird deutlich, dass das Subjekt weder Initiator noch Ausgangspunkt von Bildung sein kann. Statt einer Zentrierung um das Bewusstsein findet die Entfaltung eines Raumes der Streuung statt: „In dem Erdbeben, das uns heute erschüttert, müssen wir vielleicht die Geburt einer Welt erblicken, in der man wissen wird, dass das Subjekt nicht eins ist, sondern zerrissen; nicht souverän, sondern abhängig; nicht absoluter Ursprung, sondern stets wandelbare Funktion.“ (Foucault 2001d: 1003f.) Damit gerät ein Bildungsbegriff, der auf einem autonomen Subjekt aufbaut – ähnlich wie schon in aktuellen bildungstheoretischen Überlegungen deutlich wurde – ins Wanken. Und es stellt sich die Frage, wie das in Diskurspraktiken konstituierte Subjekt mit einem Geschehen wie dem der ‚Bildung‘ zusammenhängt.

2.2.3 Die Konstitution des Subjekts durch Machtpraktiken In den 70er Jahren verfolgt Foucault ein anderes Thema und damit eine andere Achse der Subjektivierung. Insbesondere in seiner Studie Überwachen und Strafen (vgl. Foucault 1994) führt er den Gedanken aus, wie Subjektivität als Effekt subtiler körperlicher Machtpraktiken hervorgebracht und geformt wird. Es sind zwei Prozesse, die dabei eine Hauptrolle spielen: die Aufrichtung des Körpers zur bestmöglichen Produktivkraft und die gleichzeitige Un-

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terwerfung dieser Kräfte, um ihrer habhaft zu werden und sie strategisch auszunutzen.38 Um Subjektivität als Machteffekt zu verstehen, gilt es zunächst zu rekonstruieren, was Foucault mit der Rede von ‚Machtpraktiken‘, ‚Machtbeziehungen‘ und ‚Machttechniken‘ eigentlich meint. Mit seiner spezifischen Konzeption von ‚Macht‘ richtet sich Foucault in erster Linie gegen die stark verbreitete Tendenz, Macht entweder in Begriffen der ‚Gewalt‘ oder des ‚Gesetzes‘ zu fassen. Beide Betrachtungsweisen hält Foucault für eine problematische Reduktion der Komplexität von Machtverhältnissen, die auf eine schlichte Zweiteilung hinauslaufe. Im Falle der „Repressions-Macht“ (Foucault 1983: 102) ist dies die Unterdrückung der ‚Machtlosen‘ durch diejenigen, die im ‚Besitz‘ der Macht sind, während die „Gesetzes-Macht“ (ebd.) die Trennungslinie zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen zieht. Unproduktiv sei ein solches Verständnis, weil es ‚Macht‘ als Gegebenheit behandelt, „deren Mächtigkeit sich darin erschöpfte, nein zu sagen, außerstande etwas zu produzieren, nur fähig Grenzen zu ziehen, wesenhaft Anti-Energie“ (ebd.: 106). Und egal auf welcher Ebene und in welcher Form Macht dann erscheine – ob als gewaltsamer Herrscher, verbietender Vater oder gesetzgebendes Staatsorgan – liefen „alle Arten der Beherrschung, Unterwerfung und Verpflichtung [...] am Ende auf Gehorsam hinaus“ (ebd.). Diese Unproduktivität wird noch deutlicher, wenn man betrachtet, wie eingeschränkt und wenig differenziert Subjektivität in dieser Konstellation erscheinen muss. „Gegenüber einer Macht, die Gesetz ist, ist das ‚Subjekt‘, das zum Untertanen unterworfen ist, ein gehorchendes. Der formalen Homogenität der Macht durch alle ihre Instanzen hindurch entspricht angeblich bei dem von ihr Niedergezwungenen [...] die allgemeine Form der Unterwerfung. Gesetzgebende Macht auf der einen Seite und gehorchendes Subjekt auf der anderen.“ (Ebd.: 105f.) Foucaults strategische Gegenkonzeption von ‚Macht‘ versucht den Implikationen dieses „rechtlichen und negativen Rasters“ (vgl. Foucault 2003a: 299) zu entgehen. Und zwar zunächst durch eine Korrektur in der Frageweise: Es interessiert nicht mehr, was die Macht ist und wer die Macht hat, sondern wie Macht wirkt. Dahinter steht der „Verdacht, dass man ein recht komplexe Realität außer Acht lässt, wenn man immer nur fragt, ‚Was ist die Macht? Woher kommt die Macht?‘ Die kleine, platte, zur Erkundung des Terrains vorausgeschickte empirische Frage, wie denn Macht ausgeübt wird, soll keine falsche ‚Metaphysik‘ oder ‚Ontologie‘ der Macht, sondern eine kritische Erforschung des Themas Macht vorbereiten.“ (Foucault 2005f: 281) ‚Macht‘ wird damit zu einem explizit analytischen Begriff. Dieser zielt nun auf eine 38 Es gibt eine Reihe aktueller informativer Arbeiten, die sich mit der Subjektivierung durch Machtpraktiken auseinandersetzen und diese vor dem Hintergrund erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen aufarbeiten. So z.B. Ricken 2004, Rieger-Ladich 2004 und Schäfer 2004a.

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differenziertere Beschreibung der Verhältnisse, Mechanismen und Wirkungsweisen, indem er bestimmte Charakteristika von ‚Macht‘ herausarbeitet: ihre Dezentralität, Relationalität und Produktivität (vgl. Ricken 2004: 132). Als dezentral erscheint ‚Macht‘ Foucault zufolge, sofern sie „nicht etwas [ist], was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht“ (Foucault 1983: 115). „Macht existiert nur als Handlung“ (Foucault 2005f: 284) und ist deshalb niemals an einem Ort fixiert. Gleichzeitig folgt daraus, dass Macht immer nur als ‚Machtverhältnis‘ oder ‚Machtbeziehung‘ – also relational – zu denken ist. „Zwischen jedem Punkt eines Gesellschaftskörpers, zwischen einem Mann und einer Frau, in einer Familie, zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, zwischen demjenigen, der weiß, und demjenigen, der nicht weiß, verlaufen Machtbeziehungen.“ (Foucault 2003a: 303) Darüber hinaus wirkt ‚Macht‘ produktiv. „Man muß aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ‚ausschließen‘, ‚unterdrücken‘, ‚verdrängen‘, ‚zensieren‘, ‚abstrahieren‘, ‚maskieren‘, ‚verschleiern‘ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“ (Foucault 1994: 250). Angesichts dieser produktiven Wirkung spricht Foucault manchmal statt von „Macht“ auch von „Energie“ (vgl. z.B. Foucault 1992: 35). Indem Foucault ‚Macht‘ in dieser Weise reformuliert, grenzt er sich aber nicht nur gegen die oben genannten Machtkonzeptionen ab und ermöglicht einen neuen Blick auf Machtbeziehungen. Er greift auch die Idee eines den Machtbeziehungen präexistenten Subjekts an, das durch Machtpraktiken nachträglich in seiner Freiheit eingeschränkt wird. Vielmehr seien Machtpraktiken und Subjektivierung eng miteinander verzahnt, und der analytische Blick auf ‚Machtpraktiken‘ sei zugleich einer auf ‚Subjektivierungsmechanismen‘. Doch wie ist dieser Zusammenhang genau zu denken? Zunächst ist anzumerken, dass Foucault in seiner Studie Überwachen und Strafen lediglich das Strafsystem in der französischen Gesellschaft zwischen 1760 und 1840 untersucht. Dort enden seine Analysen, ohne dass er explizit einen Bezug zur aktuellen Situation, also der französischen Gesellschaft in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, herstellt. Dieser Hinweis ist zentral, denn damit wird deutlich, dass Subjektivität – genauso wie die vorherrschende Form von Machtpraktiken – immer historisch bedingt ist. Es gibt nicht eine transzendentale Form von Subjektivität, die allgemeine Gültigkeit beanspruchen könnte. Was Individualität und Subjektivität sind und wie sie hergestellt werden, hängt stets mit den soziokulturellen Bedingungen zusammen. Es gilt also zu bedenken, dass sich in unserer heutigen oder in einer zukünftigen Gesellschaft ‚Subjektivität‘ auch anders herstellen bzw. sogar völlig 81

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an Relevanz verlieren könnte. Foucault hat dies ausdrücklich in seine Betrachtungen einbezogen und immer historisch spezifische Macht- und damit einhergehende Subjektivierungsformen herausgearbeitet. So unterscheidet er insbesondere die historischen Formen der Souveränen Macht, der Disziplinarmacht und der Pastoralmacht, deren Techniken jeweils unterschiedlich auf die Körper der Individuen einwirken und damit in spezifischer Weise Subjektivität produzieren. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein wirkt die ‚Macht des Souveräns‘ noch in sehr direkter, einheitlicher und sichtbarer Weise auf den Körper ein. Es gilt die allgemeine und massenhafte Unterwerfung aller, und bei Abweichung wird qua Marter zerstört und gebrandmarkt. Subjekte sind hier tatsächlich vor allem jene oben beschriebenen ‚Rechtssubjekte‘. Die so genannte ‚Disziplinarmacht‘ verlagert demgegenüber ihr Ziel auf die überwachende und normalisierende Zurichtung individueller Körper als ökonomische Produktionsfaktoren und als Basis für Wissensbildung vor allem in Psychologie, Biologie und Medizin. Ausgangspunkt ist die Frage, wie sich die zunehmende Masse der Bevölkerung auftrennen, individualisieren, brauchbarer machen, ausnutzen, herrichten, ökonomisch produktiver gestalten lässt. Es geht also um „den Körper und seine Kräfte, um deren Nützlichkeit und Gelehrigkeit“ (Foucault 1994: 36). Diese Aufgabe der Nutzbarmachung der Individuen erledigt die sich von ca. 1780 bis 1840 neu formierende Disziplinarmacht, indem sie mittels vielfältiger und akribischer Körperkontrolle einen spezifischen Typ von Individualität produziert (vgl. ebd.: 216). Diese Art des Zugriffs auf den Körper lokalisiert diesen im Raum mittels Rang und der Zuweisung einer spezifischen Funktionsstelle (Architektur), passt seine spezifische Körperhaltung und seine individuellen Gesten durch deren akribische Zerlegung in Einzelelemente und deren Rekombination möglichst gut den natürlich-organischen Bewegungsabläufen an (Anatomie), er nimmt die Zeit in Nutzen, indem er die Individuen wiederholt Übungen durchlaufen lässt, um ihre Körper kontinuierlich zu verbessern (Mechanik), schließlich wird der so individualisierte und zur Produktivkraft hergerichtete Körper in eine Gesamtökonomie integriert, d.h. nach einem an der Effizienz orientierten Schema mit anderen Individuen zusammengeschaltet, um die Produktivität insgesamt zu erhöhen (Ökonomie). Um das Individuum in dieser Weise herzurichten, bedarf es bestimmter Techniken, die Foucault in der „hierarchisierenden Überwachung“, der „normierenden Sanktion“ und schließlich in deren Kombination, der „Prüfung“, erkennt (ebd.: 220ff.). Macht und Wissen verstärken und unterstützen sich dabei gegenseitig. In der ununterbrochenen Beobachtung wird ein detailliertes Wissen über den individuellen Körper produziert, das seinerseits in das System der ‚Normalität‘ eingespeist wird. Dieses System konstituiert die Norm des ‚Normalen‘ und ermöglicht damit die Identifizierung von Abweichungen, die dann mittels Sanktionen korrigiert werden. Als besonders effizientes Instrument der Diszi82

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plinierung ermöglicht die Prüfung alle diese Elemente gleichzeitig: Überwachung, Produktion von Wissen und Sanktion. Nun erscheint diese Art der Disziplinierung der Körper ziemlich totalitär, und es wirkt auf den ersten Blick seltsam, dass Individuen einem solchen Regime offensichtlich wenig entgegenzusetzen haben. Allerdings wurde auch bislang bei der Darstellung der Mechanismen disziplinierender Individualisierung ein entscheidender Aspekt ausgespart. Zwar wird der Körper von Machtbeziehungen besetzt und so in der Unterwerfung als Arbeitskraft konstituiert. Gleichzeitig ist diese Unterwerfung aber ebenso sehr eine Subjektivierung. Nutzbar wird Foucault zufolge der hergerichtete und individualisierte Körper tatsächlich nur in einer Unterwerfung, die gleichzeitig beinhaltet, dass sich das Individuum selbst als Subjekt/Untertan anerkennt und entsprechend führt. Diese Subjektivierung/Unterwerfung ist ein gewissermaßen kleinlicher und unauffälliger, aber durchgreifender Effekt von Macht. Sie „gilt dem unmittelbaren Alltagsleben, das die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben. Diese Machtform verwandelt die Individuen in Subjekte. Das Wort ‚Subjekt‘ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist. In beiden Fällen suggeriert das Wort eine Form von Macht, die unterjocht und unterwirft.“ (Foucault 2005f: 275) Der französische Begriff des ‚assujettissement‘ umfasst – anders als die im Deutschen unterschiedenen Begriffe der Unterwerfung und Subjektivierung – diese beiden Seiten. Zwei Aspekte sind an diesem Modell der Subjektkonstitution entscheidend. Zum einen wird deutlich, dass Individualität und Subjektivität „nicht das Gegenüber von Macht“ sind, sondern „eine ihrer ersten Wirkungen“ (Foucault 2001: 45). Nun existiert ‚Macht‘ nicht abstrakt, sondern nur in ihren direkten und lokalen Effekten. Ohne Subjektivierung/Unterwerfung gibt es deshalb keine ‚Macht‘ und ohne ‚Macht‘ keine Subjektivierung/Unterwerfung. Damit aber wird jegliche (vor allem zeitliche) Hierarchie von ‚Macht‘ und ‚Subjektivität‘ suspendiert. Wenn ‚Macht‘ notwendige Voraussetzung für Subjektivität ist, so stellt umgekehrt ‚Subjektivität‘ ebenso die notwendige Voraussetzung für Machtwirkungen dar. „Subjekte sind“, wie Kocyba diesen Gedanken Foucaults zusammenfasst, „Effekte und zugleich Voraussetzungen von Macht: Es gibt nicht weltlose Subjekte vor allen Machtbeziehungen, die erst nachträglich in Machtbeziehungen verstrickt werden. Ebenso wenig ist

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die Vorstellung einer Macht vor den Subjekten sinnvoll.“ (Kocyba 2003: 72)39 Zum anderen wird nun verständlich, weshalb die ‚Disziplinarmacht‘ weitaus effizienter wirkt als die ‚Souveräne Macht‘. Die Disziplinierungspraktiken sind raffinierter und gleichzeitig weniger sichtbar als die körperliche Gewalt der ‚Souveränen Macht‘, weil sie das Individuum in seine eigene Unterwerfung einspannen. Das in der Unterwerfung konstituierte Disziplinarsubjekt formt, überwacht, kontrolliert und sanktioniert sich selbst. Dieses von Foucault als „Seele“ (Foucault 1994: 42) bezeichnete machtbesetzte Selbstverhältnis bedingt, dass die Individuen die Verantwortung für ihre Unterwerfung selbst übernehmen: Sie werden zu ihren eigenen Überwachern und Strafrichtern. Disziplinierung wirkt also nicht in Form einer totalitären Fremdbestimmung, sondern zielt darauf, dass die Subjekte ihre eigene Unterwerfung/Subjektivierung betreiben. Foucaults Rede von der „Seele“ meint genau dies. Sie schafft dem Menschen „eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.“ (Ebd.) Wenn Foucault mit dem Begriff der „Pastoralmacht“ (Foucault 2005f: 277) eine weitere historische Machtform einführt, so handelt es sich dabei, wie Rieger-Ladich deutlich macht, eher um die Entwicklung eines noch genaueren analytischen Blicks auf jenes Phänomen der Subjektivierung. Statt sich dabei aber vor allem auf die körperlich-individualisierenden Disziplinarpraktiken zu konzentrieren, richte Foucault „seine Aufmerksamkeit nun auf die Untersuchung und die möglichst genaue Beschreibung jener raffinierten Praktiken, welche die Subjektivierung betreiben, indem sie auf die Disziplinierung oder die Unterwerfung verzichten und statt dessen mit einem Adressaten rechnen, der sich von der Idee der Regierung seiner selbst leiten lässt“ (Rieger-Ladich 2004: 212). ‚Regierung‘ ist folglich das Leitkonzept dieser neuen Spielart von Macht, und die zentrale Frage lautet, mit welchen Mitteln Individuen auf die effizienteste Weise regiert werden können. Die logische Antwort auf diese Frage ergibt sich aus dem bereits erläuterten Doppelspiel von Unterwerfung und Subjektivierung. Soll das Subjekt seine eigene Unterwerfung/Subjektivierung betreiben, so muss es dafür die entsprechenden Handlungsmöglichkeiten besitzen. Dieser Handlungsspielraum ist, wie deutlich wurde, sowohl Effekt als auch Voraussetzung für Machtbeziehungen. Damit erscheint es aber nahe liegend, dass gerade dieser Handlungsspielraum in besonderer Weise von Macht besetzt wird. Er erscheint als die Instanz (die „Seele“), die das selbstreferenzielle Denken, Sprechen und Handeln der Sub39 Diese notwendige Gleichzeitigkeit ist Ausgangspunkt für Butlers Überlegungen zu Möglichkeiten politischer Handlungsfähigkeit. Sie beruht auf der Notwendigkeit der Reiteration der Macht und der damit einhergehenden Verzeitlichung der Bedingungen der Unterordnung (vgl. v.a. Butler 2001: 7-34 und 81-100). Ich werde darauf im Abschnitt 2.5 zurückkommen.

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jekte – ihre Subjektivität – ausmacht. Entsprechend muss sie so „präfiguriert“ (ebd.: 211) werden, dass sich das Subjekt in gewünschter Weise ‚führt‘. Je größer diese Handlungsspielräume im Blick des Subjekts erscheinen, desto besser können sich die Machtwirkungen und -beziehungen darin entfalten. Wenn Foucault zufolge die Pastoralmacht darin besteht, die individuelle „‚Führung zu lenken‘“ (Foucault 2005f: 286), so ist damit jene mittelbare Regierung der Individuen durch die differenzierte und unsichtbare Einflussnahme auf deren Verhalten gemeint. Als immer umfassenderer und sich immer stärker verschleiernder Zugriff auf den menschlichen Körper zeitigt die Pastoralmacht einen (scheinbar) paradoxen Effekt: Je autonomer sich die Subjekte führen und je mehr Eigenverantwortung sie übernehmen, desto stärker wirken die Regierungs-Prinzipen im Sinne einer Lenkung des von einem selbst Gewollten. Insgesamt lassen sich bestimmte Tendenzen in den historisch veränderlichen Machtformen und ihren Subjektivierungseffekten ausmachen. Der Verlagerung der gut sichtbar von außen zugreifenden, oft unmittelbar gewaltsamen ‚Souveränen Macht‘ zu der sich selbst verschleiernden, auf eine Innerlichkeit zielenden ‚Pastoralmacht‘ entspricht offensichtlich eine tendenzielle Verschiebung von der Fremd- zur Selbstkonstitution.40 Dabei erscheint gerade die Verpflichtung auf Selbstführung als besonders wirksame Technik von Macht, da die damit zusammenfallende Konstitution eines Selbstverhältnisses Räume eröffnet, die in immer besserer und umfassenderer Weise durch Macht strukturiert und besetzt werden können. Auch auf dieser Achse sucht man also vergeblich nach einem sich selbst verfügbaren Subjekt, dessen Heteronomie prinzipiell durch Autonomie aufzuheben wäre. Im Gegenteil erscheint sogar eine Stärkung der Macht direkt an die Subjektivierung gekoppelt. Je autonomer, identischer, verantwortlicher und freier ein Subjekt sich führt, desto umfassender ist dieser Raum der ‚Autonomie‘, ‚Identität‘, ‚Verantwortung‘ und ‚Freiheit‘ durch Macht präfiguriert und kontrolliert. Es wurde nun gesagt, dass sich die Subjektivierungsweisen historisch weiter verändern können. Dies gilt natürlich auch für die ‚Pastoralmacht‘ und ihre spezifischen Subjektivierungsweisen. Dennoch scheint, wie im Abschnitt 2.3 deutlich werden wird, dieses analytische Konzept auch heute noch geeignet, Machtverhältnisse differenziert unter dem spezifischen Blickwinkel der Unterwerfung/Subjektivierung zu beschreiben.

40 Das historische Verhältnis von ‚Disziplinarmacht‘ und ‚Pastoralmacht‘ als Verhältnis der Abfolge ist bei Foucault nicht so eindeutig, wie es hier scheint. Während Foucault die Charakteristika der ‚Disziplinarmacht‘ am Beispiel der Geburt des Gefängnisses um 1840 entwickelt, zeigt er die Entstehung der ‚Pastoralmacht‘ anhand der Konstellation im 16. Jahrhundert. Zu dem genaueren Verhältnis dieser beiden (eng verbundenen) Machtformen siehe Abschnitt 2.3.

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2.2.4 Die Konstitution des Subjekts durch Selbstpraktiken Auf der dritten Achse der Subjektivierung geht es weder um Diskurspraktiken, die Positionen und Aussagemodalitäten formieren, in denen ein ‚Subjekt des Wissens‘ auftreten kann, noch um die unterwerfenden Körperpraktiken, die mit ihren Techniken der Prüfung, Überwachung und Sanktion ‚Individualität und Subjektivität als Machteffekt‘ produzieren. Stattdessen betrachtet Foucault nun Techniken und Übungen, mit deren Hilfe sich ein Individuum selbst als handelndes, denkendes Wesen erkennt, problematisiert und in bestimmter Weise ausarbeitet. Allerdings lässt sich in dieser Konzentration auf ‚Selbstpraktiken‘ unschwer eine Fortsetzung der auf der Achse der Machtbeziehungen bereits angedeuteten Erweiterung erkennen. Während sich Foucault in seinen früheren Arbeiten eher für die (Fremd-)Konstitution des Subjekts im Wissens- und Machtfeld interessiert, geht es nun um die (Selbst-) Konstitution als Produktion eines Verhältnisses zu dem eigenen Sein. Als genuiner Modus der reflexiven Ausarbeitung seiner Selbst erscheint bei Foucault dabei die ‚Ethik‘. Dies erscheint auf den ersten Blick als eine irritierende Eingrenzung der subjektiven Selbstbezüglichkeit, leuchtet aber ein, wenn man bedenkt, dass sich eine Handlungsinstanz überhaupt erst im Zuge einer ‚Problematisierung‘ ihrer eigenen Handlungen bewusst wird. Ganz im Sinne von Nietzsches Überlegungen zur „Genealogie der Moral“ (vgl. Nietzsche 1999) – auf die sich Foucault an dieser Stelle bezieht – wird Reflexivität demzufolge erst durch die (erzwungene) Rückwendung auf sich selbst erzeugt, bei der gleichzeitig so etwas wie ein Gewissen (bei Foucault: eine „Seele“) hervorgebracht wird. Selbstbezüglichkeit ist damit immer auch Konstitutionsmechanismus einer innerlichen Kontroll- und Modifikationsinstanz der eigenen Handlungen. Deshalb spricht Foucault auf dieser Ebene der Selbstpraktiken auch vom ‚ethischen Subjekt‘ und von seinem Projekt als einer „von den Selbstpraktiken ausgehende[n] Geschichte der ethischen Problematisierungen“ (Foucault 1989: 21). Das „ethische Subjekt“ als spezifisches Selbstverhältnis eines Individuums, das ausgearbeitet werden muss, lässt sich Foucault zufolge analytisch an vier Aspekten festmachen: der ethischen Substanz, den Unterwerfungsweisen, den Techniken der ethischen Selbstkonstitution und der Teleologie (vgl. Foucault 1989 und Foucault 2005j: 760ff.). Damit ist Folgendes gemeint: Die Problematisierung unserer selbst als denkendes, sprechendes und handelndes Wesen bezieht sich erstens auf einen bestimmten Teil unseres Verhaltens, der damit als ethisch (i.e. für das Selbstverhältnis relevant) konstituiert wird. Die Frage ist damit, welcher Teil meiner selbst die Substanz einer spezifisch ethischen Haltung ist und entsprechend ausgearbeitet werden muss. Dies können z.B. Handlungen, Gefühle oder das Gewissen sein. Zweitens konstituiert sich das Individuum als ethisches Subjekt durch die Art und Weise, in der es sich 86

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einem Moralcode unterwirft. Es handelt sich dabei sozusagen um die Begründung für die Akzeptanz eines ethischen Prinzips. So lässt sich z.B. der Kodex der ehelichen Treue damit begründen, dass man ‚Kind Gottes‘ ist und nicht sündigen darf, dass man ein ‚vernünftiges Wesen‘ ist und deshalb rational handeln muss oder dass man über andere herrscht und entsprechend als Vorbild sich selbst beherrschen sollte. Drittens sind die spezifischen Selbstpraktiken relevant, mittels derer wir uns als moralische Subjekte ausarbeiten. Wenn sich das Prinzip der Treue auf die Handlungen bezieht, so wird z.B. die entsprechende Selbstpraktik auf Enthaltsamkeit zielen, und wenn sie sich auf das Gewissen bezieht, werden eher Techniken der Gewissensbefragung und der Sühne eingesetzt. Viertens geht es um die moralische Zielvorstellung, d.h. die Art des Seins, die das Individuum anstrebt. Diese könnten z.B. Unsterblichkeit, Freiheit, die Beherrschung seiner selbst oder ‚Reinheit‘ sein. Wenn man also fragt, wie es kommt, dass sich ein Individuum als ‚kriminelles‘ oder ‚wahnsinniges‘ Subjekt erkennt und problematisiert, so ist dies zwar teilweise aus den geltenden Rechtsvorschriften und der vorgelebten Moralpraxis der Gesellschaftsmitglieder erklärlich. Aber darüber hinaus muss sich das Individuum selbst als Subjekt konstituieren, indem es sein Gewissen befragt, Stellung zu den Moralvorschriften bezieht, ethische Zielvorstellungen fixiert und im Sinne dieser Vorgaben auf sich selbst einwirkt. „Es [das Subjekt, JL] ist keine Substanz. Es ist eine Form, und diese Form ist weder vor allem noch immer mit sich selbst identisch. Man hat zu sich nicht dasselbe Verhältnis, wenn man sich als politisches Subjekt konstituiert, das wählen geht oder in einer Versammlung das Wort ergreift, als wenn man sein Begehren in einer sexuellen Beziehung zu befriedigen versucht. [...] In jedem dieser Fälle spielt man mit, errichtet man verschiedene Formen der Beziehung zu sich selbst. Und gerade die historische Konstitution dieser unterschiedlichen Formen des Subjekts in ihrem Verhältnis zur den Wahrheitsspielen interessiert mich.“ (Foucault 1985: 18) Unter ‚Selbstpraktiken‘ sind also „etho-poetische“ (Foucault 1989: 21) Techniken der reflexiv-willentlichen, praktischen Ausarbeitung seiner selbst als ethisch verantwortliches Subjekt zu verstehen. Und Foucault spricht in diesem Zusammenhang immer wieder von einer „willentlichen Unknechtschaft“ (Foucault 1992: 15) und den „Praktiken der Freiheit“ (Foucault 1985: 10). Damit kommen auf dieser dritten Achse offensichtlich so etwas wie Wahlmöglichkeiten und der selbstbewusste Willen des Individuums ins Spiel: Prinzipien, die mit den von Foucault im Bereich des Wissens und der Macht verfolgten Subjektivierungspraktiken unvereinbar scheinen. Aber diese nahe liegende Sichtweise ist irreführend. Foucaults Ausgangsfrage in Der Gebrauch der Lüste lautet, wie die Individuen „dazu gebracht worden sind“, sich als ‚begehrende Subjekte‘ zu erkennen und anzuerkennen (Foucault 1989: 12). Und auch in einem Rückblick spricht er von den „Objektivierungsformen 87

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[...], die den Menschen zum Subjekte machen“ (Foucault 2005f: 269). „Anders, als viele Interpreten annehmen, signalisiert Foucaults Interesse für Selbsttechnologien keinen Abschied von der Machtanalytik oder ihre Aufgabe zugunsten der Ethik, sondern dient gerade einer Erweiterung und Verfeinerung der Untersuchung von Machtmechanismen. Denn es ist die Artikulation der Beziehungen zwischen Herrschafts- und Selbsttechnologien, die das Feld der Machtverhältnisse bestimmt.“ (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000: 29) Auch die Ethik gründet nicht auf einem widerständigen Subjekt, sondern konstituiert dieses erst als eine Instanz, der zugemutet wird, sich zu befreien, zu entunterwerfen und zu autonomisieren. Die von Foucault fokussierte Untersuchungsachse zielt auf diese machtgesättigten „Wahrheitsspiele“ (Foucault 1989: 13), die dem Individuum sein eigenes Sein zu denken geben, und auf die ‚Selbstpraktiken‘, mit deren Hilfe das Individuum sich als ethisches Subjekt ausarbeitet. Gerade die Emanzipation von den zurichtenden Bedingungen der Gesellschaft erscheint somit als mögliches Moment der Unterwerfung des Subjekts. Und auch die mit dieser Zumutung einhergehende „Selbststilisierung“ ist nur eine weitere Facette dieser Unterwerfung. Man könnte mit Alfred Schäfer soweit gehen, dass selbst ein Subjekt, das sich der Forderung nach Autonomie und Selbststilisierung verweigert, in dieser Verweigerung immer noch der Anforderung nach Emanzipation und Subjektivierung unterworfen ist (vgl. Schäfer 1996a: insbes. 182f.). Die darin implizierte ‚Theorie‘ von Subjektivität ließe sich folgendermaßen umreißen: Selbstverhältnisse werden in und durch historisch veränderliche Wahrheitsspiele hervorgebracht, die das Sein als eine mögliche und notwendige „Erfahrung“ konstituieren (vgl. Foucault 1989: 13). Mit dem Begriff der Erfahrung meint Foucault eine Kombination aus (diskursiven) Wissenscodes, (körperlichen und seelischen) Machtbeziehungen und (ethischen) Selbstbeziehungen. Alle drei Achsen sind dabei gleich wichtig. Es wird hier also nicht nur deutlich, dass sich Foucault keineswegs in seinen späteren Arbeiten zu einem autonomen und souveränen Subjekt hinwendet, sondern es deutet sich auch das Zusammenspiel der drei Formen der Subjektkonstitution an. Subjektivität ist eine Erfahrung, die sich als komplexes Spiel von Wissen, Macht und Ethik gibt und immer in diesem Feld ‚befangen‘ bleiben muss. Allerdings wäre diese Rede von einer Gefangenschaft nur angemessen vor dem Hintergrund einer möglichen ‚Autonomie‘ des Subjekts. Erkennt man diese selbst als machtförmiges Instrument der Unterwerfung/Subjektivierung, so wird dem einfachen Dualismus von Freiheit und Fremdbestimmung der Boden entzogen.

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2.2.5 Bildungstheoretische Implikationen Subjektivität erfährt ihre Konstitution also durch vielfältige diskursive, körperliche und ethisch-reflexive Praktiken. Diese wirken stets zusammen: keine Wissensbildung ohne Machtwirkung, keine Machtbeziehungen ohne Selbstverhältnis. ‚Subjekte‘ handeln, sprechen und denken damit immer im Netz von Wahrheitsspielen, Machtbeziehungen und Führungstechniken, in das sie selbst, ihr jeweiliges Gegenüber und die anderen verstrickt sind. Es gilt nun zu fragen, was für bildungstheoretische Implikationen diese Subjektkonzeption hat. Zunächst kann festgehalten werden, dass sich mit den hier dargestellten Überlegungen Foucaults unmittelbar an die allgemeinen Tendenzen der bildungstheoretischen Reflexionen zum ‚Bildungssubjekt‘ anschließen lässt. Genauso wie die Mehrzahl aktueller bildungstheoretischer Überlegungen stellt auch Foucault mit seiner Subjektkonzeption die Möglichkeiten von Identität, Autonomie und Selbsttransparenz in Frage. Und dabei geht er sogar noch einen Schritt weiter. Er zeigt nicht nur, dass Autonomie prinzipiell unmöglich ist, sondern zusätzlich macht er deutlich, wie jene Konzepte von Selbstverfügbarkeit und Verantwortung unter der Hand zu ausgesprochen wirksamen Ansatzpunkten für Macht- bzw. Führungstechniken werden. Damit liefert Foucault gleichzeitig eine mögliche Erklärung dafür, dass gerade diese erste Dimension von ‚Bildung‘ – neben der fast ebenso virulenten Frage nach der normativen Begründung des Bildungsbegriffs – bereits seit einigen Jahrzehnten im Zentrum bildungstheoretischer Überlegungen zu stehen scheint. Hier konzentrieren sich Reformulierungsversuche, ethische Überlegungen, theoretische Kämpfe der Bildungstheorie und Argumente für einen gänzlichen Verzicht auf den Bildungsbegriff. Als Problemstellung erscheint das ‚Subjekt‘ und seine ‚Subjektivität‘ mithin als geradezu paradigmatisch für unsere aktuelle soziokulturelle Verfasstheit. Aber trotz dieser offensichtlichen Anschlussmöglichkeit ergibt sich zumindest eine Nachfrage, die eine oft wiederholte Kritik gegenüber Foucaults Begrifflichkeiten aufgreift. Schon sein Diskurskonzept zielt explizit auf die Vorstellung „eines anonymen, zwingenden Gedankensystems“ (Foucault 2001a: 666), in das Subjekte „gleichsam nur noch durch Seitentüren“ (Foucault 2002b: 201) eintreten. Damit aber erscheint dieses System als vom Subjekt unabhängig und diesem vorgängig (vgl. ebd.). Fasst man aber die diskursive Praxis als unabhängiges System, so ergibt sich die Gefahr ihrer Totalisierung. Denn „wäre das, was zu regeln ist, durch und durch geregelt oder codiert, so bliebe für eine ‚diskursive Praxis‘ nichts mehr zu tun. Was geschieht, wäre letzten Endes Resultat von Ordnungen, die der Fall sind“ (Waldenfels 1991: 279). Foucaults Ideen sehen sich vor der Gefahr, in ein aporetischen ‚es geschieht‘ zu münden, ohne einen normativen Bezugspunkt und ohne jeden 89

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übergreifenden Sinn. Foucaults Machtkonzeption scheint auf eine ähnliche Problematik hinauszulaufen. Alles ist ‚Macht‘, und jeder Bewegung liegen Machtkämpfe zugrunde. Das Leben wird zur funktionierenden Maschinerie mit Wahrheiten und Subjekten als deren Effekte; jeglicher Widerstand scheint zwecklos (vgl. Waldenfels 1983: 535). Das damit knapp umrissene Problem ist bildungstheoretisch äußerst relevant. Denn ‚Bildung‘ hat im weitesten Sinne stets etwas mit Veränderungen zu tun. Diese sind aber in einem totalen System aus Diskurs- und Machtpraktiken, das keine vorgängige Subjektivität zulässt, nicht denkbar – es sei denn als „Einbruch einer von außen kommenden Gewalt“ oder als „systemisch geregelte[r] Übergang“ (vgl. Foucault 2001c:859). Den Ansatzpunkt für eine Antwort auf diese Nachfrage bietet Foucault mit seiner Subjekttheorie selbst. Er liegt in Foucaults konsequenter Annahme einer generellen Historizität und Kulturalität. Was gewusst werden kann, was getan werden soll und was der Mensch ist, lässt sich nicht in transzendentaler Weise bestimmen, sondern ergibt sich aus dem soziokulturell gültigen Wissen, den Machtformen und den Selbstpraktiken. Wenn aber demzufolge die jeweils gegebene Form von Subjektivität nicht notwendig (weil universal), sondern kontingent (weil historisch) ist, so impliziert dies automatisch die ‚Anders-Möglichkeit‘. Jede Subjektivitätsform, jedes Wissen und jede Machtbeziehung ist formiert und damit ebenso auch (um)formbar. Dieses zunächst nur logische Argument findet, wie Ricken zeigt, im Machtverhältnis auch seine praktische Umsetzung (vgl. Ricken 2004: 133). Laut Foucault ist ‚Macht‘ bestimmt als „[e]ine handelnde Einwirkung auf Handeln, auf mögliches oder tatsächliches, zukünftiges oder gegenwärtiges Handeln“ (Foucault 2005f: 285). Indem aber auf das Handeln anderer eingewirkt wird, muss dieser Andere Handlungsoptionen haben. Er muss mit anderen Worten als Handlungssubjekt ‚frei‘ handeln können. Diese Freiheit, so habe ich weiter oben ausgeführt, ist nun gerade das, was einen besonders effizienten Zugriff der Form von Macht erlaubt, die als ‚Führung der Führungen‘ bezeichnet wurde. ‚Macht‘ und ‚Freiheit‘ sind demnach aufeinander angewiesen, und „folgerichtig ist daher, dass Macht und Freiheit insofern gerade in keinem antagonistischen, sondern in einem agonistischen Verhältnis zueinander stehen: sie schließen sich nicht nur nicht aus [...], sondern bedingen sich gegenseitig“ (Ricken 2004: 133). Damit wird zumindest eines deutlich: Der Vorwurf, Foucault habe sich – insbesondere mit seinem Machtbegriff – in einer Sackgasse verfangen, ist ungerechtfertigt. Durch die Gleichzeitigkeit von Subjektivierung und Unterwerfung, die Handlungsoptionen sowohl voraussetzt als auch jeweils erst hervorbringt und präfiguriert, entzieht sich Foucault beiden unproduktiven Alternativen: derjenigen, die das Subjekt als Ursprung und einzige Basis für Kreativität und Veränderung sieht, ebenso wie derjenigen, die ‚Macht‘ als vorgängige Instanz betrachtet, die als alleinige Produktionsinstanz 90

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in der Unterwerfung (ihr nachgängige) Subjekte hervorbringt. Bildungstheoretisch lässt sich also sehr wohl mit der Frage nach Prozessen der Veränderung, des Widerstandes oder der Subversion an Foucaults Subjektkonzeption anschließen – obwohl (und gerade weil) Subjekte niemals dem Netz aus Macht-Wissen entkommen. Damit ergeben sich in dieser ersten Dimension eine Reihe von Folgerungen, die für die Reformulierung des Bildungsbegriffs wichtig scheinen und in den folgenden Kapiteln aufgegriffen werden müssen. Erstens wurde deutlich, dass die Subjektivierungsformen historisch bedingt und damit veränderlich sind. Daraus folgt, wie bereits betont wurde, dass auch der Bildungsbegriff nicht mehr universal bestimmbar ist. Was ‚Bildung‘ heißt, kann nur historisch spezifisch, mit Blick auf die jeweils vorherrschenden Machtpraktiken und Subjektivierungsformen bestimmt werden. Geht man davon aus, dass die gegenwärtige Form von Subjektivität als eine auf den drei Achsen des Wissens, der Macht und der Ethik formierte Erfahrung gefasst werden kann, so muss sich der Bildungsbegriff entsprechend daran orientieren. Zweitens irritiert Foucaults Vorschlag, Subjektivität zu denken, auf noch andere Weise den Bildungsbegriff. Insbesondere durch das mittels einer ‚Führung der Führungen‘ (vgl. Foucault 2005f: 286) formierte Selbstverhältnis wird deutlich, dass Konzepte wie ‚Autonomie‘, ‚Identität‘ und ‚Emanzipation‘ ambivalente Momente machtförmiger Unterwerfung bzw. Subjektivierung darstellen. Obwohl diese Konzepte in aktuellen Bildungstheorien bereits kritisch hinterfragt werden, scheinen sie vielerorts doch immer noch in positiver Weise für eine ‚gelungene Selbstbildung‘ zu stehen. Mit Foucault wird deutlich, dass dieser Zusammenhang wesentlich komplexer zu denken ist. Drittens wurde deutlich, dass im Verlauf der Reformulierung des Bildungsbegriffs vor allem an die Frage angeschlossen werden muss, wie Subversion und Widerstand möglich sind. Entscheidend ist die Frage, wie sich „Formationen“ umformen lassen, wie sich also Subjektivitätsformen aufbrechen, modifizieren oder zumindest in Frage stellen lassen. Dabei deutet sich eine Richtung an, die zwar an aktuelle bildungstheoretische Überlegungen anschließt, diese aber radikalisiert. Wenn Foucaults Äußerungen zum Subjekt und seiner Konstitution eine Grundlage für bildungstheoretische Überlegungen bieten sollen, so scheint sich als (normative) Forderung am ehesten ein Entzug aus der Unterwerfung anzubieten. Dieser wäre aber nur als ‚Entsubjektivierung‘ zu denken. Um diesen sich hier andeutenden Gedanken weiterzuführen, bedarf es aber vorab einer Klärung der weiteren Dimensionen von Bildung.

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BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

2.3

Foucault als Diagnostiker der Gegenwart

Pädagogisches Handeln findet stets im gesellschaftlichen Raum und damit in Bezug auf die soziokulturelle Verfasstheit der jeweiligen Gesellschaft statt. Deshalb muss der Bildungsbegriff als zentrale Orientierungskategorie des pädagogischen Handelns diesen unhintergehbaren Bezug in seiner theoretischen Begründung aufgreifen und reflektieren. Als zweite Dimension eines zeitgemäßen Bildungsbegriffs wurde deshalb im ersten Kapitel dieser Arbeit der Bezug von ‚Bildung‘ auf Gesellschaft vorgeschlagen. Dieser Bezug umfasst zwei Einsatzpunkte. Zum einen muss eine Diagnose der soziokulturellen Verfasstheit der in Frage stehenden Gesellschaft und der ihr inhärenten Problemlagen erfolgen. Diese „Analyse der geschichtlich-gesellschaftlichen Situation, ihrer bestimmenden inneren Tendenzen und der Lage der einzelnen in ihr“ (Peukert 2000: 509) ist dann der Einsatzpunkt, um zum anderen davon ausgehend eine Neubestimmung des Bildungsbegriffs unternehmen zu können. Die Konzeption von ‚Bildung‘ muss dabei, wie gezeigt wurde, sowohl eine kritische als auch eine innovative Komponente aufweisen: Die Forderung nach kritischer Reflexion meint das distanzierende Hinterfragen gesellschaftlicher Vorgaben und Zwänge. Und der Begriff der Innovation zielt auf das (Er-) Finden neuer Möglichkeiten des Umgangs mit aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen. Will man Foucault auch in Bezug auf diese zweite Dimension des Bildungsbegriffs als einen ‚Theoretiker von Bildung‘ lesen, ergeben sich damit für das Projekt einer Reformulierung des Bildungsbegriffs folgende Untersuchungsfragen. Zunächst müssen Foucaults Schriften daraufhin geprüft werden, ob und inwiefern sie eine Diagnose der aktuellen Gesellschaft und ihrer Problemlagen anbieten. Daran anschließend gilt es, Ansatzpunkte für einen sowohl kritischen als auch innovativen Umgang mit den auf diese Wiese rekonstruierten soziokulturellen Bedingungen zu finden. Wie schon in der ersten Dimension vertrete ich auch hier die These, dass sich alle diese Anforderungen mit an Foucault anschließenden Überlegungen und Konzepten produktiv erfüllen lassen. Meinen allgemeinen Ausgangspunkt bildet dabei die Tatsache, dass sich Foucault verschiedentlich selbst als Gesellschaftsdiagnostiker und seine Arbeit als „Ethnologie der Kultur“ (Foucault 2001b: 776) bezeichnet hat. Diese Selbstbeschreibung wird dann anschließend auf zweierlei Arten in Foucaults Schriften verfolgt. Zum einen in der Art und Weise seines methodischen Vorgehens: Foucault hat eine spezifische Vorgehensweise entwickelt, um Gesellschaft zu analysieren. Dieser so genannte ‚genealogische‘ Blick ist geeignet, soziokulturelle Mikro und Makroprozesse aus einem ungewöhnlichen und bildungstheoretisch interessanten Blickwinkel wahrzunehmen. Zum anderen lassen sich Foucaults Gesellschaftsanalysen auch inhaltlich-praktisch daraufhin prüfen, ob sie heute noch – viele Jahre später und 92

AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

in einer anderen als der französischen Gesellschaft – aktuell und damit anschlussfähig für bildungstheoretische Überlegungen sind. Hilfreich erscheinen hierbei vor allem die an Foucaults analytisches Konzept der „Gouvernementalität“ (vgl. Foucault 2003e) anschließenden governmentality studies, deren Ziel die Analyse spezifischer Gegebenheiten der aktuellen Gesellschaft darstellt. In einem letzten Schritt geht es um die bildungstheoretischen Implikationen einer in Anlehnung an Foucault betriebenen ‚Gesellschaftsdiagnostik‘. Dabei lässt sich mit Foucault zeigen, dass der Bildungsbegriff selbst einen systematischen ‚blinden‘ Fleck aufweist, der eine zentrale Problemstellung für bildungstheoretische Überlegungen darstellt.

2.3.1 Foucault als Gesellschaftstheoretiker und -diagnostiker Kurz nach Erscheinen seiner Archäologie des Wissens antwortete Foucault auf die Frage, welcher Gattung seine Arbeit angehöre, man könne sie als „eine Analyse der für unsere Kultur charakteristischen kulturellen Tatsachen definieren. In diesem Sinne handelt es sich gewissermaßen um eine Ethnologie der Kultur, der wir selbst angehören.“ (Foucault 2001b: 776) Und auf Nachfrage erläutert er: „Ich bemühe mich um eine Diagnose der Gegenwart; ich versuche zu sagen, was wir heute sind und was das, was wir heute sagen, bedeutet.“ (Ebd.) Dieses Statement mag auf den ersten Blick irritieren. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte Foucault eine umfangreiche Abhandlung über Konzeptionen des ‚Wahnsinns‘ in Renaissance, Klassik und Moderne, ein Buch über die Geburt der Klinik um 1800 und eine historische Analyse der drei Wissenschaftsgebiete der Grammatik, der Ökonomie und der Naturgeschichte – ebenfalls in ihren Transformationen zwischen Renaissance, Klassik und Moderne – verfasst. Und in den 70er und 80er Jahren folgen Untersuchungen zum Strafsystem im Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zur Transformation der Regierungsformen im 16. Jahrhundert und zur „Geschichte der Sexualität“, beginnend mit der Antike – lauter Studien also, die sich der Vergangenheit zuwenden und auf historische Beschreibungen zielen. Dessen ungeachtet umschreibt Foucault auch Ende der 70er Jahre sein Projekt wie zuvor als „eine gesellschaftliche Arbeit, [...] eine Arbeit innerhalb des Körpers der Gesellschaft und an der Gesellschaft“ (Foucault 1996: 107). Inwiefern lässt sich Foucault also als jemand verstehen, den nicht bloß ein historisches Interesse an gesellschaftlichen Entwicklungen antreibt, sondern der konkret an der aktuellen Gesellschaft „arbeiten“, sie „analysieren“ und „diagnostizieren“ möchte? Für eine Antwort auf diese Frage muss man den Blick zunächst auf Foucaults historische Studien selbst lenken. So endet beispielsweise Foucaults Studie Überwachen und Strafen zwar im Jahr 1840 mit der Eröffnung des ‚Rettungshauses‘ von Mettray (vgl. Foucault 1994: 379). „Trotzdem“, so Fou93

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cault in seinem Gespräch mit Ducio Trombadori, „haben auch in diesem Falle die Leser, die kritischen wie die zustimmenden, das Buch als Beschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft als Gesellschaft der Einschließung aufgefaßt.“ (Foucault 1996: 31) Und „[g]eliebt oder gehaßt“ hätten es die Leute, „weil sie den Eindruck gewonnen hatten, es gehe darin um sie selbst oder um unsere jetzige, gegenwärtige Welt oder um ihre Beziehungen zur heutigen Welt in den Formen, in denen diese von allen akzeptiert wird. Man hatte das Gefühl, daß etwas Aktuelles in Frage gestellt worden war.“ (Ebd.: 33) Wie bereits angekündigt, kann man in zweierlei Richtungen verfolgen, weshalb sich Foucaults Studien zwar auf historische Gegebenheiten beziehen, gleichzeitig aber einen kritisch-analytischen Bezug zur Gegenwart herstellen, der als (innovative) „Arbeit“ an der Gesellschaft zu verstehen ist. Die erste Richtung betrifft das methodische Vorgehen: Wie genau betreibt Foucault eigentlich seine Analysen, damit selbst bei so entfernten Gegenständen wie der ethischen Selbstkonstitution in der Antike (vgl. Foucault 1989) gleichzeitig die Frage nach unserer Aktualität gestellt ist? Die zweite Richtung betrifft die ausgewählten Gegenstände: Inwieweit sind die von Foucault untersuchten Themenbereiche nicht nur historisch interessant, sondern betreffen in besonderer Weise unsere gegenwärtige Gesellschaft? Mit anderen Worten: Was macht ihre inhaltliche Aktualität aus?

2.3.2 Genealogie als kritische Gesellschaftsdiagnostik In der Diskussion, die in den letzten Jahren über Formen und Möglichkeiten der Gesellschaftskritik geführt wurde, habe, so Axel Honneth auf einer Foucault-Konferenz 2001 in Frankfurt, „zunehmend auch das Modell der ‚Genealogie‘ Berücksichtigung gefunden“ (Honneth 2003: 117). Gemeinsamer Ausgangspunkt dieser Diskussionen sei die Überzeugung, „daß die herkömmlichen, normativ orientierten Ansätze ihr Ziel verfehlen, weil sie unbemerkt bestimmten Voraussetzungen der von ihnen kritisierten Kultur zu sehr verhaftet bleiben; demgegenüber soll das genealogische Verfahren den Vorzug haben, den kulturellen Horizont der Gegenwart insgesamt auf Distanz zu bringen, so daß er in seiner Gewordenheit durchschaubar und als bloß kontingente Bedingung hinterfragbar wird.“ (Ebd.) Damit ist in etwa das kritische Programm der „Genealogie“ umrissen, das seit den 70er Jahren zu Foucaults zentralem Forschungsprinzip wurde und seinen Gesellschaftsanalysen zugrunde liegt. Es lohnt nun ein genauerer Blick auf das, was Foucault in seinen Arbeiten unter einem „genealogischen“ Forscherblick versteht. In seinem Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie skizziert Foucault den Genealogen als geduldigen Quellenforscher (vgl. Foucault 2002a: 166), der sich mit Haut und Haar folgendem Prinzip verschreibt: Alles hat eine Geschichte. Ob Gefühle, Triebe, Gewissen oder Erkenntnis – stets han94

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delt es sich aus genealogischer Sicht um Gewordenheiten, deren scheinbare Erhabenheit und Unverrückbarkeit nur ihre historische Zufälligkeit zu verschleiern sucht. Aus diesem Prinzip erklärt sich sowohl Foucaults ausgeprägtes Interesse für die Vergangenheit als auch sein gleichzeitiges Beharren auf dem Umstand, dass er dennoch Aussagen über die Gegenwart treffe. Der Gegenstand der Genealogie sei nämlich die Erforschung der „wirkliche[n] Historie“ (ebd.: 179), um darüber zu „entdecken, dass an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit liegt und auch nicht das Sein, sondern die Äußerlichkeit des Zufalls“ (ebd.: 172). Jede Aktualität speise sich mitsamt ihrem Wissen, ihren Wahrheiten, ihren Gegebenheiten und scheinbaren Notwendigkeiten aus der Vergangenheit – was jedoch nicht meint, „dass die Vergangenheit noch da ist und die Gegenwart immer noch insgeheim mit Leben erfüllt“ (ebd.), sondern umgekehrt darauf zielt, zu erkennen, dass wir in unserer Aktualität „ohne sichereres Bezugssystem inmitten zahlloser verlorener Ereignisse leben“ (ebd.: 181). Um diese „Welt aus Gesagtem und Gewolltem“ (Foucault 2002a: 166) genauer erfassen zu können, eröffnet Foucault im Verlauf seiner Abhandlung ein Feld aus zwei methodischen Achsen. Zunächst gelte es, die Ereignisse auf ihre Entstehung hin zu befragen. Mit der „Entstehung“ ist das „Prinzip und Gesetz eines Erscheinens“ oder auch der „Punkt, an dem etwas hervortritt“ (ebd.: 174) gemeint. Es lässt sich darin die archäologische Frage nach den „Existenzbedingungen“ spezifischer Diskurse und des durch sie formierten Wissens wieder erkennen, die jetzt aber vor allem Nicht-Diskursives in den Blick zu nehmen scheint. Dass die Frage nach der „Entstehung“ tatsächlich eine um den Begriff der ‚Macht‘ erweiterte archäologische Perspektive ist, wird insbesondere in dem Vortrag Was ist Kritik? deutlich, den Foucault 1978, also sieben Jahre nach dem Erscheinen von Nietzsche, die Genealogie, die Historie, hält (vgl. Foucault 1992). Dort heißt es zum analytischen Vorgehen auf dieser ersten Achse: „[Z]unächst nimmt man sich Mengen von Elementen vor, bei denen man empirisch und vorläufig Verschränkungen von Zwangsmechanismen und Erkenntnisinhalten feststellen kann.“ Erkenntnisinhalte, „die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet akzeptabel sind“, umschreibt Foucault dabei mit dem Begriff des ‚Wissens‘. Und „einzelne, definierbare und definierte Mechanismen [...], die in der Lage scheinen, Verhalten oder Diskurse zu induzieren“, erfasst er analytisch mit dem Begriff der ‚Macht‘ (ebd.: 31f.). ‚Wissen‘, so die dem zugrunde liegende These, gehe immer „mit einem System spezifischer Regeln und Zwänge konform“, und als Machtmechanismus könne nur funktionieren, was sich „in Prozeduren und Mittel-Zweck-Beziehungen entfaltet, welche in Wissenssystemen fundiert sind“ (ebd.: 33). Beschreibt man also einen „Entstehungsherd“ (Foucault 2002a: 176), so geht es darum, eine aktuelle Gegebenheit auf die historischen Bedingungen ihrer Akzeptabilität in einer bestimmten Epoche 95

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hin zu untersuchen. Diesen analytisch zu vollziehenden Übergang von „der Akzeptiertheit zum System der Akzeptabilität“ (Foucault 1992: 34) lässt sich mit Foucaults eigenen Studien verdeutlichen: In Überwachen und Strafen wird z.B. durch den Blick auf die „Geburt“ des Gefängnisses (also seine „Entstehung“) das Zusammenspiel verschiedenster Macht- und Wissenselemente als Bedingungsgefüge für die Etablierung der Strafanstalten in ihrer modernen Form sichtbar. Hinter dem allgemein als gerecht und human akzeptierten Strafsystem zeichnen sich damit die Verknüpfungen aus Mittel-Zweck-Überlegungen, ökonomischen Interessen, vermeintlichen Wahrheiten, strategischen Einsätzen und institutionellen Zwängen ab, die das „System der Akzeptabilität“ des Gefängnisses kennzeichnen. Während diese erste Untersuchungsachse also insgesamt die „Akzeptabilitätsbedingungen eines Systems“ (Foucault 1992: 35) herausarbeitet, fragt das Konzept der Herkunft nach den „Bruchlinien“ beim Auftauchen eines Systems und stellt die Untersuchung damit in einen kritisch-distanzierenden Rahmen ein. Mit „Bruchlinien“ sind die (immer auch virulenten) Akzeptanzschwierigkeiten gemeint. Denn jede Fundierung eines neuen Systems gehe prinzipiell mit „Willkürlichkeit“ im Bereich des Wissens und „Gewaltsamkeit“ in Bezug auf die auszufechtenden Machtkämpfe einher (vgl. ebd.). Das Konzept der ‚Herkunft‘ mache genau dies möglich: „unter der scheinbaren Einheit eines Merkmals oder Begriffs die vielfältigen Ereignisse ausfindig [...] machen, durch die (gegen die) sie sich gebildet haben“ (Foucault 2002a: 172). Um die „Künstlichkeit“ eines Systems besser sichtbar zu machen, muss man also zeigen, dass es „gerade nicht selbstverständlich war, daß es durch kein Apriori vorgeschrieben war, daß es in keiner altehrwürdigen Tradition festgeschrieben war“ (Foucault 1992: 34f.). Gleichzeitig bringt der Blick auf die „Herkunft“ spezifische methodologische Prinzipien zur Geltung. Denn ein Nexus aus Macht-Wissen dürfe niemals als universal missverstanden werden. Er sei lokal und singulär – egal wie sehr sich der Eindruck aufdrängt, etwas sei ‚ursprünglich‘ da gewesen und nur durch die Irrungen und Wirrungen der Geschichte modifiziert worden. „Kein Rekurs auf eine Grundlegung, keine Ausflucht in eine reine Form“, sondern stattdessen „Bruch, Diskontinuität, Singularität, reine Beschreibung, unbewegliches Tableau, keine Erklärung, kein Übergang“ (ebd.: 36). Genealogie „heißt entdecken, dass an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit liegt und auch nicht das Sein, sondern die Äußerlichkeit des Zufalls. Darum verdient jeder Ursprung der Moral Kritik, sofern wir uns nur klarmachen, dass er nicht ehrwürdig ist“ (Foucault 2002a: 172). Genealogie ist damit „Einsichtigmachung“ (Foucault 1992: 37). Es geht um die Erschütterung vermeintlich wahrer Erkenntnisse und universeller Geltung, um stattdessen örtlich begrenzte Machtkämpfe und veränderliche Wissenssysteme in den Blick zu bekommen. Und kritisch ist diese Einsichtigmachung nicht nur, weil sie scheinbar universale 96

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und historisch notwendige Gegebenheiten durch die Analyse ihrer Akzeptabilitätsbedingungen als kontingent und gewaltsam entlarvt. Sondern „Kritik“ findet auch auf der methodologischen Ebene statt, wenn sich Foucault mit seiner „Genealogie“ gegen theoretische Konzepte wie ‚Identität‘, ‚Ursprung‘, ‚Teleologie‘, ‚Wesenheit‘ und ‚Kontinuität‘ richtet.41 Wenn man Foucaults eigener Aussage folgt, dass diese zweite methodische Ebene der „Herkunft“ das genuin Genealogische ausmache (vgl. Foucault 1992: 37), so ist Honneth also Recht zu geben: Genealogie ist per se Gesellschaftskritik. Diese Kritik ist jedoch ohne eine dezidierte und genaue Beschreibung der Entstehungsbedingungen – also eine Gesellschaftsanalyse – nicht zu haben. Und es wird darüber hinaus sogar noch eine dritte Ebene deutlich. Denn jenseits eines rein negativ-distanzierenden Prinzips von Kritik birgt diese Form der Gesellschaftsdiagnostik auch ein innovatives bzw. „strategisches“ Potenzial (vgl. ebd.: 39). Genealogische Analyse und Kritik verfahren nämlich nicht „in der Art einer Schließung“ (vgl. ebd.: 37f.), sondern wollen gerade die „immerwährende Beweglichkeit“ und „Zerbrechlichkeit“ des Beziehungsnetzes zeigen, welches das System der Akzeptanz ausmacht. Nicht nur Zufall, Willkür und Gewaltsamkeit sollen herausgestrichen werden, sondern ebenso der Umstand, dass etwas immer auch anders denkbar wäre. Genau an dieser – hier zunächst nur grob angedeuteten – Möglichkeit, „anders zu denken“ (Foucault 1989: 19), welche die Gegenwart in ihrer zufälligen Gewordenheit neu entwirft, lassen sich weiterführende bildungstheoretische Überlegungen anschließen. Es wird damit deutlich, dass zumindest auf methodischer Ebene alle von Peukert geforderten Grundsätze für einen zeitgemäßen Bildungsbegriff in Foucaults Forschungsprinzip enthalten sind: Analyse, Kritik und ‚Innovation‘. Ob sich darüber hinaus auch auf inhaltlicher Ebene Foucaults Diagnosen als produktiv und aktuell erweisen, muss im Folgenden geprüft werden. 41 Das Verhältnis von Archäologie, Genealogie und Kritik bei Foucault war immer wieder Gegenstand von Untersuchungen. Meist wird die Genealogie dabei als Erweiterung bzw. Ergänzung der Archäologie gefasst (vgl. z.B. Habermas 1986: 290; Marti 1988: 71; Waldenfels 1991: 292; Davidson 1986: 224). Der Blick auf die Akzeptabilitätsbedingungen erscheint dabei, wie oben ausgeführt, als modifizierte Archäologie, während die Analytik der Machtkämpfe das eigentlich genealogische Forschungsprogramm darstellt. Dabei ist allerdings „keine vor- oder nacharchäologische oder -genealogische Phase“ auszumachen, sondern nur eine Verschiebung in „Gewichtung und Konzeption dieser Ansätze“ (Dreyfus/Rabinow 1987: 133). Foucault selbst verweist darauf, dass die Archäologie von dem Niveau der kritischen Strategie und der Genealogie nur künstlich zu trennen sei. Es handele sich um „drei simultane Dimensionen ein und derselben Analyse“ (Foucault 1992: 39). Auch hier wird also wiederum deutlich, dass Foucault sein Forschungsprogramm zwar des Öfteren modifizierte und jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzte, seine früheren Überlegungen aber auch für seine späteren Arbeiten von großer Relevanz waren.

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2.3.3 Foucaults Gesellschaftsdiagnosen Wie im Abschnitt 1.3 gezeigt wurde, diagnostizieren Analysen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen vor allem Tendenzen der ‚Steigerung‘, der ‚Exklusion‘, der totalen ‚Ökonomisierung‘, der ‚Technisierung‘ und der ‚Verunsicherung‘, deren systematisches Zusammenspiel als vorherrschende Aufgabe und Herausforderung verstanden wird, zu denen sich Gesellschaftsmitglieder genauso kritisch wie innovativ verhalten müssen. Diese Problemlage westlicher Gesellschaften sollte, folgt man Peukert, Basis und Ausgangspunkt für die Neubestimmung eines Bildungsbegriffs sein, will dieser Aktualität beanspruchen und die Zukunftsdimension der Erziehungswissenschaft adäquat berücksichtigen (vgl. Peukert 2000: 508f.). Bei Foucault sucht man vergeblich nach einer ähnlich umfassenden Einschätzung der gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen. Betrachtet man seine verschiedenen Untersuchungen, so geraten vielmehr verstreute und scheinbar fern liegende Gegenstände in den Blick: Geisteskrankheit, Hermaphrodismus, Grammatik, Strafjustiz, Malerei, Sexualität, Naturgeschichte und antike Moralpraktiken sind einige dieser eher abseitigen Untersuchungsfelder. Es entsteht demzufolge der Eindruck, dass Foucault mit seiner Genealogie zwar ein Instrumentarium geschaffen hat, das prinzipiell einen analytischen Blick auf Gesellschaft zulässt, es aber selbst nur auf lokalen Nebenschauplätzen erprobt hat. Damit müsste sich Foucault dann den Vorwurf gefallen lassen, dass er den systematischen Zusammenhang gesellschaftlicher Gegebenheiten aus dem Blick verliert: Sicherlich sind auch Strafpraktiken, Moralvorstellungen und Bilder des Wahnsinns konstitutiv für unsere Gesellschaft. Will man sich aber in angemessener Weise mit aktuellen Entwicklungstendenzen auseinander setzen, so müsste man ausgehend von gegebenen Herausforderungen wie etwa Globalisierung, Umweltzerstörung, Terrorismus, Ressourcenknappheit, Armut, gentechnische Machbarkeitsphantasien und Pandemien wie Tuberkulose und Aids die allgemeine Problemkonstellation in den Blick nehmen. Auf diesen häufigen Vorwurf, den Ducio Trombadori in ähnlicher Weise in seinem Interview formuliert, antwortet Foucault folgendermaßen: „Man kommt aus theoretischen und politischen Gründen nicht darum herum, die Probleme zu lokalisieren. Aber das bedeutet nicht, daß sie keine allgemeinen Probleme wären. Was wäre letztlich in einer Gesellschaft allgemeiner als die Art, wie sie ihr Verhältnis zum Wahnsinn bestimmt? Wie sie sich als vernünftig reflektiert? Wie sie der Vernunft und ihrer Vernunft Macht verleiht? [...] Oder: Wie grenzt man das, was legal ist, von dem ab, was es nicht ist? [...] Es ist gewiß richtig, daß ich die Probleme in lokalen Begriffen formuliere; aber ich glaube, daß es mir dadurch möglich wird, Probleme sichtbar werden zu lassen, die mindestens ebenso allgemein

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sind wie diejenigen, die man als solche zu betrachten gewohnt ist. [...] Die Probleme, die ich formuliere, sind nicht weniger allgemein als jene, die von den politischen Parteien oder von den großen theoretischen Institutionen formuliert werden, die festlegen, welches die großen gesellschaftlichen Probleme sind.“ (Foucault 1996: 102f.)

Dem eigenen Selbstverständnis nach untersucht Foucault also allgemeinere und weitreichendere soziokulturelle Bedingungen, als die oben genannten Felder vermuten lassen. Und tatsächlich zeigt Foucault, dass hinter den disparaten Untersuchungsgegenständen ein zentraler Mechanismus sichtbar wird, der als „fundamentale Gegebenheit“ (Foucault 1996: 111) die gegenwärtige Gesellschaft durchzieht: Ausschließungs- und Einsperrungsmechanismen, Praktiken der Zurichtung, Aufrichtung und Normalisierung und ihre Verbindung zu dem geltenden Wissen innerhalb einer Gesellschaft. Diesen (genealogisch) diagnostizierten Macht-Wissen-Komplex fasst Foucault in seiner Studie Überwachen und Strafen unter dem Oberbegriff der „Disziplinargesellschaft“ zusammen. Im Zuge der industriellen Revolution – so seine dortige These – sei es zunehmend wichtiger geworden, die Individuen akribisch in die Produktionsprozesse einzupassen, um ihre Produktivkraft zu vermehren. Entsprechend widmeten sich vor allem Institutionen wie Fabriken, Schulen, Kliniken und Gefängnisse der Aufgabe, „disziplinierte Körper“ herzustellen, die genauso individuell wie normiert und genauso unterworfen wie eigenverantwortlich sind. Die damit geschaffene ‚Disziplinargesellschaft‘ kennzeichne die soziokulturellen Bedingungen, die bis heute nichts von ihrer Wirksamkeit und Aktualität eingebüßt hätten. Obwohl diese zentrale These der ökonomisch motivierten Zurichtung von Individuen deutlich macht, dass Foucault in seinen Untersuchungen tatsächlich allgemeine Problemkonstellationen in den Blick nimmt, ergibt sich ein anderer Einwand. Zwar scheint der Begriff der ‚Disziplinargesellschaft‘ die bis weit ins 20. Jahrhundert geltenden soziokulturellen Bedingungen einer ‚fordistischen Gesellschaft‘ – mit ihrem spezifischen Zugriff auf die Subjekte – angemessen zu charakterisieren. Seit Foucaults Diagnose der „Disziplinargesellschaft“ sind jedoch mehr als drei Jahrzehnte vergangen, in denen sich die gesellschaftlichen Bedingungen in zentralen Bereichen geändert haben könnten. Es stellt sich also die Frage, ob die gegenwärtige gesellschaftliche Situation mit dem Konzept der ‚Disziplin‘ überhaupt noch adäquat wiedergegeben wird. Die „zunehmende Disziplinarisierung der europäischen Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert“ sieht Foucault charakterisiert durch das Streben nach „einer immer besser kontrollierten – immer rationaleren und ökonomischeren – Abstimmung zwischen den produktiven Tätigkeiten, den Kommunikationsnetzen und den Machtbeziehungen“ (Foucault 2005f: 284). Am Bei99

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spiel der Institution Schule lässt sich diese Disziplinierung verdeutlichen: „Das Handeln, das den Erwerb von Wissen und Fertigkeiten oder von Verhaltensweisen sicherstellt, entwickelt sich dort über einen Komplex geregelter Kommunikation (Unterricht, Fragen und Antworten, Anordnungen, Ermahnungen, kodierte Zeichen des Gehorsams, Zeichen zur Unterscheidung des ‚Werts‘ oder des Wissensstands der Schüler) und über eine Reihe von Machttechniken (Abschließung, Überwachung, Belohnung und Strafe, pyramidenförmige Hierarchie).“ (Ebd.: 283) Foucault selbst gibt nun Ende der 70er Jahre zu, dass dieser ‚disziplinierende‘ Zugriff auf die Bevölkerung – und damit auch die Beschreibung der aktuellen Gesellschaft als Disziplinargesellschaft – „in der Krise“ stecke: „In den letzten Jahren hat sich die Gesellschaft verändert und die Individuen ebenso; sie sind immer mannigfaltiger, unterschiedlicher und unabhängiger. Es gibt mehr und mehr Kategorien von Leuten, die nicht unter dem Zwang der Disziplin stehen, so dass wir die Entwicklung einer Gesellschaft ohne Disziplin denken müssen.“ (Foucault 2003d: 672f.) Obwohl Foucault demzufolge die Anzeichen eines gesellschaftlichen Wandels konstatierte, hat er selbst kein alternatives Modell zur „Disziplinargesellschaft“ entwickelt. Entsprechend konstatiert Fraser, Foucault sei ein „Theoretiker der fordistischen Form sozialer Regulierung, deren innere Logik er wie die Eule der Minerva erst im Augenblick ihres historischen Untergangs erfaßt“ (Fraser 2003: 239). Die Schwelle zur „postfordistischen Epoche der Globalisierung“ (ebd.) habe er somit zwar wahrgenommen, in seinen Analysen jedoch nicht mehr überschritten.42 Demzufolge wäre der kritische Einwand bezüglich der Aktualität von Foucaults Analyse zutreffend. Umso erstaunlicher scheint es deshalb, dass sich gerade aktuelle gesellschaftsdiagnostische Ansätze immer wieder auf Foucault beziehen und sich von dessen Ansätzen interessante Aufschlüsse über die gegenwärtigen soziokulturellen Bedingungen erhoffen. Damit stellen sich mehrere Fragen: Zum einen ist zu klären, was unter einer „fordistischen Gesellschaft“ zu verstehen ist und inwiefern Foucaults Konzept der ‚Disziplin‘ diese in besonderer Weise in den Blick zu nehmen vermag. Sodann stellt sich die Frage, welche neuen Prinzipien und Bedingungen demgegenüber postfordistische Gesellschaften kennzeichnen und inwiefern Foucault auch hier produktive Erkenntnisse ermöglicht. In seinen Erläuterungen zum ‚Wandel der Arbeit‘ rekonstruiert Frank Elster den Fordismus als Kombination der Arbeitsprinzipien von Frederick W. Taylor und Henry Ford (vgl. Elster 2006: 13ff.). Im ‚Taylorismus‘, dessen Höhepunkt in den 60er Jahren lag, galt als wichtigstes Ziel die totale unternehmerische Kontrolle des gesamten Arbeitsprozesses. Dem entsprechen vor allem Techniken der Normierung, der Standardisierung, der Optimierung und 42 Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser These Frasers siehe Lemke 2003.

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der zeitökonomischen Kontrollen des Produktionsprozesses. Als paradigmatisch für diesen Ansatz kann die Fließbandtechnik betrachtet werden, die in großem Maßstab zum ersten Mal in den Automobilwerken von Ford eingesetzt wurde. Das arbeitende Individuum hat darin eine rein ausübende Funktion: Es muss nicht denken, sondern Anweisungen ausführen, die in vereinzelten und vereinfachten Arbeitsaufgaben bestehen. „Die Resultate des Studiums der Arbeitsprozesse erhält der Arbeiter nur in Form vereinfachter Arbeitsaufgaben mitgeteilt, die wiederum durch vereinfachte Anweisungen geregelt werden, die zu befolgen – und zwar ohne zu denken und ohne die zugrunde liegenden technischen Daten zu begreifen – von nun an seine Pflicht ist.“ (Taylor 1917; zitiert nach Elster 2006: 14) In dieser Auflistung lassen sich die von Foucault beschriebenen Charakteristika einer Disziplinargesellschaft wieder erkennen. Reduktion und Rationalisierung operativer Zeit durch die Aufspaltung und Automatisierung einzelner Produktionsschritte, Individualisierung durch die Verbindung der Körper mit ihrem spezifischen Platz und Einübung der notwendigen Handgriffe, sowie die Zusammensetzung dieser einzeln geformten Kräfte, um die Gesamtproduktion zu erhöhen. Foucaults Analysen zeigen aber darüber hinaus, dass diese Prinzipien nicht nur für den eingeschränkten Bereich der industriellen Arbeit gelten, sondern den gesamten Gesellschaftskörper durchziehen. Auch in Schulen, Strafanstalten, Kasernen und Kliniken erlangen die beschriebenen Disziplinartechniken eine zentrale Vormachtstellung. Foucault bietet mit seinem Konzept der ‚Disziplin‘ also eine Beschreibung der Gesellschaft, in der die ‚fordistischen‘ Produktionsweisen nur eine Form der Ausprägung darstellen. Am Beispiel der Umstellung auf die ‚postfordistische‘ Produktionsweise lässt sich nun zeigen, dass Foucaults Konzept der ‚Disziplin‘ hier nicht mehr greift. Elster zufolge ist die oben beschriebene ‚fordistische‘ Produktionsweise in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts an ihre Grenzen gestoßen (vgl. Elster 2006: 15ff.). Eine quantitative Steigerung der Produktion war nicht mehr möglich, da die Rationalisierung innerhalb des fordistischen Modells an ihre Grenzen geriet. Außerdem entbrannte durch den internationalen Wettbewerb ein Konkurrenzkampf, dem die fordistischen Industrieländer nicht mehr mit einem weiter sinkenden Preisniveau begegnen konnten. Diesen Krisenerscheinungen wurde nun Rechnung getragen durch eine Umorientierung, die statt auf ein quantitatives auf ein qualitatives Wachstum zielte. Die Strategie bestand in der Ausweitung der Nachfrage in bestehenden Märkten durch eine verstärkte Kundenorientierung und eine Beschleunigung der Produktionszyklen. Dies erforderte allerdings einen Bruch mit der fordistischen Produktionsweise. Um besser auf spezifische Kundenwünsche und kurzfristige Bedürfnisse des Marktes reagieren zu können, war eine Flexibilisierung und Individualisierung der Produktion notwendig. Es konnten nicht mehr die einzelnen Arbeitsschritte festgelegt werden, sondern lediglich das Ergebnis als „Ziel101

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vereinbarung“ (ebd.: 20), deren Erreichen immer stärker in die Verantwortung der einzelnen Arbeitskraft gelegt wurde. Für diese neuen Anforderungen war nun „der disziplinierte, normierte und austauschbare Arbeitende tayloristischer Arbeitskonzepte vollkommen ungeeignet. Es bedurfte vielmehr qualifizierter, flexibler und im Sinne des Unternehmensinteresses engagierter Mitarbeiter.“ (Ebd.: 16) Jeder Arbeitnehmer war für seinen Anteil am Arbeitsprozess verantwortlich, Prinzipien des Teamwork, des problemorientierten Denkens rückten ins Zentrum, und die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien mussten weiterentwickelt und kultiviert werden. „Es ist demnach der einzelne Arbeitende, der durch sein Leistungsvermögen, seine Selbstkontrolle, seine Eigenmotivation, seine Verantwortlichkeit, kurz: durch das Einbringen seiner ganzen Person zur Steigerung der Produktivität beiträgt.“ (Ebd.: 21) Gerade jene „Selbstorganisation der Arbeitskraftnutzung“ (ebd.: 20), die sich am Ergebnis statt am Arbeitsprozess orientiert, ist für Deleuze das Charakteristikum schlechthin für die „Kontrollgesellschaft“ (vgl. Deleuze 1993) – d.h. für die übergreifenden soziokulturellen Bedingungen einer Gesellschaft, in der sich eine solche ‚postfordistische‘ Produktionsweise etablieren konnte. Foucaults Konzept der ‚Disziplin‘ greift hier insofern tatsächlich kaum noch, als es unter diesen Umständen nicht mehr um Einschließung geht, sondern um „Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen“ (ebd.: 255), nicht mehr um ein ewig wiederholtes Anfangen in Schule, Kaserne und Fabrik, sondern um ständige, unabschließbare Weiterbildung (ebd.: 257), nicht mehr um Prüfung, sondern um kontinuierliche Kontrolle (ebd.: 261). Es steht insgesamt nicht mehr das Individuum mit seinen einzuübenden Gesten im Vordergrund, sondern das Subjekt als Unternehmer seiner selbst. Will man eine Antwort darauf finden, inwiefern eine solche Analyse der ‚Kontrollgesellschaft‘ dennoch von Foucaults Überlegungen profitiert, muss insbesondere ein Konzept genauer in den Blick genommen werden, das Foucault Ende der 70er Jahre im Rahmen seiner machttheoretischen Studien entwickelt hat: das Konzept der „Gouvernementalität“ (vgl. Foucault 2003e). Wie bereits im vorigen Kapitel erläutert wurde, unterscheidet Foucault ausgehend von ihren jeweils vorherrschenden Formen, Techniken und Instrumenten verschiedene Machtformen. Von besonderem Interesse war dabei jene vor allem in Überwachen und Strafen herausgearbeitete ‚Disziplinarmacht‘, die hier als Modus der Zu- und Aufrichtung der Individuen für den ‚fordistischen‘ Produktionsprozess gezeigt wurde. Doch schon kurz nach Erscheinen dieser Schrift wendet sich Foucault erneut der Frage nach historischen Machtformen zu. Sein Augenmerk gilt nun dem allgemeinen Phänomen, wie zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert das „Problem der Regierung“ (ebd.: 796) aufkommen und sich in spezifischer Weise verstärken konnte. Foucault macht zwei Bewegungen als Bedingungen für das Auftauchen dieses Regierungsproblems aus: „[e]inerseits eine Bewegung der Zusammenballung zum Staat, 102

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andererseits eine Bewegung der religiösen Zerstreuung und Dissidenz“ (ebd.: 797). Die allmähliche Auflösung der Fürstentümer und die gegenläufige Zusammenballung zum Staat habe, so Foucaults These, in immer stärkerer Weise die Bevölkerung als den Bereich hervortreten lassen, der in besonderer und überlegter Weise geführt und kontrolliert werden muss. Denn es sei nicht mehr primär um die feudale Sicherung des eroberten oder ererbten Territoriums mitsamt der darin enthaltenen Güter gegangen, sondern vor allem um die Untertanen, die in ihrer Gesamtheit ein Gebilde darstellten, das über jedes ‚Territorium‘ hinausgeht. An die Stelle von Züchtigung und erschöpfender Ausnutzung der Untertanen sei das Interesse für die komplexen Verwicklungen zwischen den Staatsmitgliedern und den Lebensbedingungen des sie umgebenden Territoriums, den Sitten und Gebräuchen, den Gefahren wie Hungersnöten oder Krankheiten, den Geburtenraten, den Gütern, der Versorgung getreten. Die Bevölkerung habe unter diesen Umständen nicht mehr im Sinne juristischer Regulation interessiert, sondern als etwas, das ökonomische Effekte zeitigt, gesundheitliche Gefahren transportiert, subjektive Interessen hat und in einer spezifischen Spirale von Arbeit und Reichtum befangen sei – und die deshalb mit großer Umsicht „in der Tiefe, in der Feinheit und im Detail“ (ebd.: 819) regiert werden müsse. Die Bewegung der „religiösen Zerstreuung“ bezieht sich demgegenüber auf die seit dem 16. Jahrhundert voranschreitende Säkularisierung. Dabei vertritt Foucault die These, dass im Zuge dessen zwar die kirchlichen Institutionen an Lebenskraft verloren haben, sich aber gleichzeitig die Funktion der religiösen Führung abwandelte und verstärkte. In ihrer ursprünglich christlichen Version habe ihr Ziel dem Seelenheil jedes Einzelnen im Jenseits gegolten, und sie sei aufgetreten in Form des selbstlosen und opferbereiten Hirten, der seine ‚Schäfchen‘ das gesamte Leben begleitet, sie führt und ihnen – mittels einer Geständnistechnik – den Raum für die Ergründung des eigenen Selbst bietet (vgl. Foucault 2005f: 277ff.). Im Zuge ihrer außerkirchlichen Verbreitung hätten sich diese Charakteristika geändert. Nicht mehr das Heil im Jenseits, sondern im Diesseits sollte erreicht werden, und folglich hätten nicht nur Moral, sondern auch Gesundheit, Wohlergehen, Sicherheit und Schutz im Zentrum gestanden. Zudem sei die ehemals auf das Pastorenamt eingeschränkte Führungskompetenz auf vielfältige Instanzen übertragen worden, und die Menge an Instrumenten und Techniken der ‚Führung zum Ziel‘ habe entsprechend zugenommen. Statt nur von den Pastoren werde nun z.B. auch in der Familie, vom Staat, von Fürsorgevereinen und durch die Medizin ‚geführt‘. Und an die Stelle des Geständniswissens seien die Humanwissenschaften mit ihren Instrumenten getreten, um das Wissen von der Bevölkerung als Gesamtheit und vom Individuum als einzelnem Element zu vermehren. Deutlich wird in dieser doppelten Bewegung Folgendes: Die Auflösung der Feudalherrschaft und der Prozess der Säkularisierung ergänzen sich ge103

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genseitig und führen damit zu jener Verstärkung der Regierungsproblematik. Zugleich bringt diese Bewegung aber auch eine entsprechende Machtform hervor, die sich des Regierungsproblems annimmt. Diese so genannte ‚Pastoralmacht‘ wurde schon im vorangehenden Kapitel beschrieben. Sie zielt auf den gesamten Komplex der Selbstführung, der Führung anderer und den Umstand, dass man der Führung durch andere ausgesetzt ist. „Wie sich regieren, wie regiert werden, wie die anderen regieren?“ (Foucault 2003e: 797), lautet die entsprechende Frage, und ihr Vorgehen besteht darin, „‚Führung zu lenken‘, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen“ (Foucault 2005f: 286). Diese Führungstechniken können dabei genauso makroskopische Verhältnisse (z.B. die staatliche Sicherheit) wie mikroskopische Praktiken (z.B. spezifische Weisen der Erziehung) betreffen. All diese Entwicklungen, Führungstechniken, Selbst- und Fremdregierungsaspekte fasst Foucault nun in dem Konzept der ‚Gouvernementalität‘ zusammen. Dieser aus der Tätigkeit des ‚Regierens‘ abgeleitete Begriff43 zielt auf die spezifische Form der Machtausübung durch „Führungen“. Und der Blick gilt dabei den Institutionen, Verfahren, Analysen, Reflexionen, Berechnungen und Taktiken (vgl. Foucault 2003e: 820), die Handlungsmöglichkeiten schaffen und gleichzeitig lenken, sodass sich Kinder, Gemeinden, Familien, Kranke, Schüler, Arbeiter usw. in einem präfigurierten Feld aus Handlungsmöglichkeiten bewegen. Die ‚Gouvernementalität‘ verweist also auf einen Typus der Machtausübung, der die „gesamte Gesellschaft“ (Foucault 2005f: 279) durchdringt und dessen Objekt die Bevölkerung sowohl im Ganzen als auch in ihren einzelnen Elementen ist. Es zeigt sich damit, dass das Konzept der ‚Gouvernementalität‘ tatsächlich wesentliche Erscheinungen der ‚postfordistischen‘ Kontrollgesellschaft aufzuzeigen vermag. Als entscheidendes Charakteristikum gegenwärtiger Gesellschaften gilt die Tendenz einer verstärkten Konzentration auf das Subjekt, welches sich in großer ‚Freiheit‘ selbst führt. Liest man dies als gouvernementale Regierungsform, so wird der Blick auf die Prägfigurationen dieser nur scheinbar freien Handlungsmöglichkeiten gelenkt. Und machtanalytisch ließen sich sowohl die makroskopischen Strategien ‚pastoraler Macht‘ als auch die mikroskopischen Führungspraktiken aufzeigen. Eben diese Linie verfolgen jene Gesellschaftsdiagnostiker, die gegenwärtige soziokulturelle

43 Michel Sennelart bemerkt in seinem Kommentar zu den beiden Vorlesungsreihen Sicherheit, Territorium, Bevölkerung und Die Geburt der Biopolitik: „Entgegen der von bestimmten deutschen Kommentatoren vorgelegten Interpretation kann das Wort ‚gouvernementalité‘ nicht aus der Zusammenziehung von ,Gouvernement‘ und ‚mentalité‘ resultieren […], da ‚gouvernementalité‘ aus ‚gouvernemental‘ abgeleitet ist […] und je nach Verwendung das Strategiefeld der Machtbeziehungen oder die spezifischen Merkmale der Regierungstätigkeit bezeichnet.“ (Sennelart 2004: 564)

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Bedingungen (kritisch) mit gouvernementaler Brille betrachten. Auf den oben formulierten Einwand, Foucaults Diagnosen seien nicht aktuell, findet sich damit folgende Antwort: Zwar hat Foucault selbst tatsächlich keine Analyse der ‚Kontrollgesellschaft‘ geleistet, aber sein Konzept der ‚Gouvernementalität‘ ist im höchsten Maße geeignet, entsprechende Diagnosen anzuregen. In dieser indirekten Weise, so das vorläufige Fazit, bieten Foucaults (bzw. die sich daran anschließenden) Analysen gouvernementaler Praktiken also auch auf inhaltlicher Ebene einen aktuellen Ausgangspunkt zur Reformulierung des Bildungsbegriffs. Ein Aspekt ist dabei für den hier betrachteten Zusammenhang besonders interessant. Auf den ersten Blick scheint an den Untersuchungen Foucaults problematisch, dass sie – unter Vernachlässigung überindividueller Phänomene – vor allem das einzelne Individuum in seinem Verhältnis zur Gesellschaft in den Blick nehmen. Mit dem Konzept der ‚Gouvernementalität‘ wird nun deutlich, dass die Blickzentrierung auf Individuen und ihre ‚Subjektivität‘ keine Verkennung der allgemeinen gesellschaftlichen Problemlagen, sondern selbst Effekt und Prinzip jener Regierungspraktiken ist, die im Zentrum der aktuellen soziokulturellen Bedingungen stehen. Wenn die durch Foucaults Begriff der ‚Gouvernementalität‘ inspirierten Gesellschaftsanalysen immer wieder um das Individuum und seine Subjektivität kreisen, so ist das also kein Zeichen dafür, dass diese Analysen unangemessen wären. Vielmehr stellt die umfassende gouvernementale ‚Subjektivierung‘ von Individuen ein zentrales Charakteristikum der aktuellen soziokulturellen Bedingungen dar. Subjektivität als Selbstführung und angelagerte Praktiken der Regierung sind das (oder zumindest eines der) zentrale(n) politische(n) Problem(e) unserer gegenwärtigen Gesellschaft. In überraschender Weise rückt damit auch in dieser zweiten Dimension das schon im vorangehenden Kapitel behandelte Thema der Subjektivierung in den Vordergrund. Dieser Umstand ist bildungstheoretisch genauso relevant wie problematisch. Denn unversehens irritiert der gouvernementalitätstheoretische Blick auch die Basis der hier angestrebten Überlegungen: die Bildungstheorie.

2.3.4 Gouvernementale Herausforderungen für das Konzept der ‚Bildung‘ Peukerts Forderung lautete, dass ein zeitgemäßer Bildungsbegriff in analytisch-kritischer Weise auf die aktuellen soziokulturellen Bedingungen Bezug nehmen müsse. Betrachtet man die im Anschluss an Foucaults Konzept der ‚Gouvernementalität‘ diagnostizierten Tendenzen der durchgängigen ‚Führung‘ und ‚Regierung‘ von Bevölkerung und Individuen durch vielfältige Techniken und Institutionen, so wird plötzlich deutlich, dass sich bildungstheoretische Überlegungen vor ein weit größeres Problem gestellt sehen, als 105

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es zunächst den Anschein hatte. Um dieses Problem herauszuarbeiten, muss zunächst nach dem Einfluss gouvernementaler Regierungsformen im Feld der Erziehungswissenschaft gefragt werden. Wenig neu und überraschend ist dabei der Umstand, dass die Pädagogik nicht nur unmittelbar von diesen spezifischen Machtpraktiken betroffen ist, sondern einen ihrer zentralen Beförderer darstellt. Schon 1989 beschrieb Ludwig Pongratz vor dem Hintergrund von Foucaults Begriff der ‚Disziplinarmacht‘ in einer umfangreichen Studie die Schule als „Dispositiv der Macht“ (vgl. Pongratz 1989 und 1990). Fünfzehn Jahre später verschiebt sich zwar diese Diagnose vor dem Hintergrund eines allmählichen Wandels gesellschaftlicher Bedingungen, der sich z.B. in den um sich greifenden Leistungstests wie PISA zeigt, aber im Ergebnis ändert dies nichts: „Schule und Weiterbildung, Erziehungseinrichtungen und Sozialarbeit werden eingebunden in einen strategischen Komplex, der darauf zielt, Herrschaftsverhältnisse auf der Grundlage einer neuen, neoliberalen Topographie des Sozialen zu recodieren. Die Frage nach der Funktion pädagogischer Institutionen führt daher geradewegs in das aktuelle Zentrum der Analytik der Macht hinein.“ (Pongratz 2004: 250) In diesem Licht erscheinen dann auch die sogenannten „Reformmaßnahmen“ als zielorientierte Umsetzung einer „Ökonomisierung der Bildung“, deren neoliberale Strategien auf die Umdefinierung der Schüler „zu Selbstmanagern des Wissens“ (ebd.: 254), auf eine „‚Ermöglichungsdidaktik‘“ für das „unplanbare“ Lerngeschehen (ebd.: 255), auf die „Reorganisation von Schule als marktorientiertem Service-Center“ (ebd.: 256) und statt auf „Überwachen und Strafen“ auf „Benchmarking, Qualitäts-Audits, Empowerment und Tests“ (ebd.: 257) setzen. Selbst wenn man kontrovers über PISA diskutiert, so Pongratz, akzeptiert man bereits implizit spezifische Normalitätsstandards, die vom Transformationsprozess im Bildungswesen zeugen. Noch stärker an gouvernementalitätstheroetischen Überlegungen orientiert, führt Andrea Liesner Ähnliches am Beispiel der „Entrepreneurship Education“ vor, indem sie zeigt, in welch massiver (und zunehmender) Weise die unternehmerische Denkfigur im bildungspolitischen Diskurs bereits eine Rolle spielt (vgl. Liesner 2004). Dabei geht es insbesondere um die Steuerung und Beförderung von Selbstverantwortlichkeit, Selbstmotivation und Selbstvermarktung der Individuen – kurz: um die „Technologien des Selbst“ (ebd.: 293). Selbständigkeitsinitiativen sollen „es wahrscheinlicher werden lassen, dass sich die Adressaten bereits als diejenigen marktgängigen Individuen verstehen, als die sie angesprochen werden“ und sich den „politischen und pädagogischen Forderungen nach mehr Selbständigkeit“ verschreiben – es gilt sich aktiv der „Norm der Individualität“ zu unterwerfen (ebd.). Von der Pädagogik werde dabei gefordert, ihre „‚antiökonomischen Affekte‘ aufzugeben und die Notwendigkeit anzuerkennen, dass sie einen Beitrag zur Einleitung einer

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‚dem Realitätsprinzip Weltmarkt‘ angemessenen ‚gesellschaftlichen Wende und Anstrengung großen Stils‘ leisten muss“ (ebd.: 291). Nun liegt im Feld der Erziehungswissenschaft aber nicht nur der Motor für die Beförderung gouvernementaler Praktiken, sondern sie ist – wie gerade anhand der Beiträge von Pongratz und Liesner deutlich wird44 – ebenso Ort der kritischen Reflexion dieser allgemeinen gesellschaftlichen und spezifisch pädagogischen Gouvernementalisierungstendenzen. Als privilegiertes Zentrum derartiger Reflexionen gilt dabei die Bildungstheorie als der Bereich innerhalb der Erziehungswissenschaft, der jenen Raum für die kritische Reflexion dieser Tendenzen bieten müsste. Damit zerfällt das pädagogische Feld in zwei Bereiche: einerseits ein (eher handlungspraktischer) Bereich, der sich den ökonomischen Zielvorgaben unterwirft und seine Anstrengungen darauf richtet, wie ein entsprechendes Curriculum, eine adäquate Didaktik und eine entsprechende Forschung auszusehen hat; andererseits ein (eher bildungstheoretischer) Bereich, der diese Durchdringung pädagogischer Maßnahmen durch gesellschaftliche Vorgaben aufzeigt, kritisch hinterfragt und einen Gegenentwurf anbietet. Bildungstheorie als das prominente Instrument solcher Kritik wäre damit außerhalb des Gefahrenbereichs gouvernementaler Übergriffe. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass diese Aufspaltung des pädagogischen Feldes unangemessen ist und einen entscheidenden Umstand ausblendet: Auch das Konzept der ‚Bildung‘ selbst gerät in den Strudel gouvernementaler Regierungspraktiken und wird unter der Hand zu einem prominenten Instrument der „Pastoralmacht“.45 Denn gerade jene Prinzipien von ‚Autonomie‘, ‚Partizipation‘, ‚Mitbestimmung‘ und ‚Selbst-Reflexivität‘, die z.T. bis heute im Zentrum bildungstheoretischer Überlegungen stehen (vgl. z.B. Klafki 1990), lassen die Grenze zwischen „Regierungstechniken“ und dem „‚wahren Kern‘“ (Lehmann-Rommel 2004: 262) der Bildung verschwimmen. Denn da ‚Autonomie‘ in gouvernementaler Hinsicht ein effektives Mittel der Führung darstellt, kann sie nicht mehr als kritische Antithese

44 Es ließe sich eine Vielzahl ähnlich orientierter kritischer Studien anführen. Stellvertretend lässt sich auf den Sammelband von Ingrid Lohmann und Rainer Rilling zur „verkauften Bildung“ (vgl. Lohmann/Rilling 2002) und die explizit an Deleuze und Foucault anschließende Analyse der „Entlassung in die ‚Autonomie‘“ von Agnieszka Dzierzbicka und Elisabeth Sattler (vgl. Dierzbicka/Sattler: 2004) nennen. 45 ‚Bildung‘ als eine Form der Pastoralmacht zu betrachten, wurde durch Käte Meyer-Drawe angeregt. Diese bezieht Foucaults Begriff der Pastoralmacht allerdings insgesamt auf die „erzieherische Praxis“ als ein Machtverhältnis, das „in der ungebrochenen Option für Selbstbestimmung und Selbstfindung [kulminiert]“ (Meyer-Drawe 1996: 656). In besonderer Weise auf den Bildungsbegriff übertragen wurde das Konzept dann von Norbert Ricken und Jan Masschelein (vgl. Masschelein/Ricken 2003).

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zur Vereinnahmung des Individuums betrachtet werden (vgl. ebd.: 262).46 Und was hier für den Bereich der ‚Autonomie‘ noch relativ deutlich gezeigt werden kann – schließlich vermag Foucaults Konzept der ‚Gouvernementalität‘ diesen Zusammenhang kritisch aufzuzeigen – könnte auch für andere konzeptionelle Bestimmungen von ‚Bildung‘ gelten: In seinen Überlegungen zur Unhintergehbarkeit des „Archivs“ (vgl. Foucault 1981: 183ff.) macht Foucault deutlich, dass es unmöglich ist, sich den Bedingungen des eigenen Seins zu entziehen. Ein ‚Archiv‘ bezeichnet die Gesamtheit von Regeln, die eine momentane diskursive Praxis regulieren. Jede Überlegung, jedes Handeln, jedes Sprechen findet demnach ausgehend von den jeweiligen Bedingungen statt, die nicht hintergangen werden können. Dieser systematische ‚blinde Fleck‘ gilt in gleicher Weise für den Versuch der kritischen Reflexion gesellschaftlicher Vorgaben, um davon ausgehend den Bildungsbegriff zu bestimmen. Denn eine solche Reflexion findet innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes und damit im Rahmen spezifischer – konstitutiver und regulativer – Bedingungen statt. Das Konzept der ‚Bildung‘ ist damit selbst von den soziokulturellen Bedingungen durchdrungen, die es kritisch hinterfragen möchte. Angesichts dieser Verstrickungen muss die Frage gestellt werden, wie es noch möglich ist, begründet ‚Kritik‘ an den diagnostizierten Tendenzen zu üben. Diese hier nur kursorisch dargestellte Verzahnung von gesellschaftlichen Bedingungen und bildungstheoretischen Überlegungen erweitert die ‚zweite Dimension‘ des Bildungsbegriffs. Deutlich wurde zunächst zweierlei: Zum einen wurde gezeigt, dass Foucault in mehrfacher Hinsicht aktuelle Gesellschaftsdiagnosen (bzw. den Einsatzpunkt dafür) bietet. Mit seinem Konzept der Gouvernementalität und der analytisch-kritischen Methode der Genealogie entwickelt er produktive Ansätze zur kritischen Reflexion der aktuellen soziokulturellen Bedingungen. Zum anderen begründen jene Diagnosen inhaltlich die Notwendigkeit einer Reformulierung des Bildungsbegriffs. Im Verlauf des Wandels der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft ändern sich auch die soziokulturellen Bedingungen und damit die relevanten Probleme und Herausforderungen, denen im Prozess der ‚Bildung‘ begegnet werden muss. Darüber hinaus wurden jedoch gleichzeitig bestimmte Probleme deutlich, vor die sich jede Reformulierung gestellt sieht: Der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemlagen ist durch den Bildungsbegriff eine bestimmte Richtung aufgegeben. Da der Bildungsbegriff aber selbst nicht unabhängig von der soziokulturellen Situation entworfen wird, sondern gesellschaftlich verankert ist, ist mittelbar auch das ‚Ziel‘ von Bildung Ergebnis soziokultureller Bedingungen. Ob es um ‚Emanzipation‘, ‚Autonomie‘ oder ‚Effizienzsteigerung‘ geht: Stets ist davon auszugehen, dass das Konzept von 46 Lehmann-Rommel bezieht sich in ihren Überlegungen nicht explizit auf den Bildungsbegriff, sondern zeigt, wie das sich selbst bestimmende Individuum im Feld der Schulentwicklung funktionalisiert wird.

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‚Bildung‘ selbst affiziert ist durch die gegenwärtigen „Akzeptabilitätsbedingungen“. Es handelt sich also sozusagen um den ‚blinden Fleck‘ des Bildungsbegriffs. Es gilt deshalb, eine zweite Ebene einzuziehen, auf der die Gesellschaftsdiagnose noch einmal gebrochen und auf das Konzept von Bildung selbst übertragen wird. Anders gesagt: Wenn in dieser zweiten Dimension des Bildungsbegriffs eine Gesellschaftsdiagnose gefordert ist, um ausgehend von dieser gesellschaftlichen Verfasstheit (z.B. der ‚Wissensgesellschaft‘, der ‚Dienstleistungsgesellschaft‘ o.ä.) zu fragen, wie ‚Bildung‘ in dieser Gesellschaft aussehen müsste, so ist ein weiterer Schritt erforderlich. Dieser hätte zu prüfen, inwieweit das Konzept der ‚Bildung‘ selbst noch von den diagnostizierten Prinzipien affiziert ist. Für den hier betrachteten Zusammenhang hieße dies zu prüfen, inwieweit das gouvernementale Prinzip der ‚Führung der Führungen‘ selbst noch den Bildungsbegriff unterläuft. Und es erscheint als besonderes Verdienst der Foucaultschen Theorie, einen analytischen Blick zu bieten, der genau auf diese Doppelung aufmerksam machen kann (vgl. Masschelein/Ricken 2003). Die theoretische Begründung des Bildungsbegriffs, so das Ergebnis dieser zweiten Dimension, ist damit nicht nur aufgefordert, gesellschaftliche Bedingungen als Voraussetzung für ‚Bildung‘ zu rekonstruieren. Sondern jene Rekonstruktion muss selbst auf ihre Verstrickungen mit der soziokulturellen Verfasstheit hin untersucht werden. Aufgabe der Bildungstheorie wäre es damit, ihre eigenen Verstrickungen sichtbar zu machen. Allerdings stellt sich damit ein weiteres Problem, das durch den Verweis auf den möglichen ‚blinden Fleck‘ bildungstheoretischer Überlegungen in beunruhigender Weise verstärkt wird. Im Rahmen gouvernementalitätstheoretischer (und auch diskursanalytischer) Studien scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass jene Formen der Regierung, die auf „Spielarten des Selbstmanagements“ (Dzierzbicka/ Sattler: 2004) zielen, ausgesprochen problematisch sind. Abgelehnt wird dabei vor allem die starke Orientierung an ökonomischen Vorgaben, die einhergeht mit einer umfassenden Unterwerfung der Individuen unter die Anforderung, ihr Leben ‚autonom‘ in die Hand zu nehmen. Eine Möglichkeit, sich diesen gouvernementalen Regierungspraktiken und Machtformen zu entziehen, scheint dabei im Konzept der ‚Bildung‘ begründet zu sein. Aber woher rechtfertigt sich diese Feststellung, d.h. welche positiven Kriterien liegen der Forderung, das ökonomische Prinzip und die gouvernementalen Praktiken zu überwinden, zugrunde? Und wie kann sichergestellt werden, dass jene positiven Kriterien nicht selbst wieder den – eigentlich kritisierten – Bedingungen unterliegen? Es stellt sich, mit anderen Worten, die Frage nach der Normativität des Bildungsbegriffs.

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2.4 Kritik als experimentelle Praxis des ‚Anders-Denkens‘ Dem Bildungsbegriff scheint eine unhintergehbare Normativität inhärent, sofern er bestimmen soll, welche Veränderungsprozesse wünschenswert sind und mit pädagogischen Mitteln befördert werden sollten. Gleichzeitig wird in der (neueren) bildungstheoretischen Diskussion deutlich, dass kein Entwurf einer erstrebenswerten Zukunft als allgemein verbindliche pädagogische Zielvorgabe Geltung beanspruchen kann. Diese Verbindung der ‚Aufgabenhaftigkeit‘ von Bildung mit der in den aktuellen Debatten vertretenen Skepsis gegenüber der prinzipiellen Möglichkeit universeller Normen bildete im ersten Abschnitt dieser Arbeit den Ausgangspunkt für die dritte Dimension des Bildungsbegriffs: ‚Bildung und Normativität‘. Deutlich wurde, dass aktuelle Ansätze dieses Dilemma zu lösen versuchen, indem sie sich auf die Suche nach „pädagogisch-theoretischen Ausdrucksformen zwischen Unverbindlichkeit und normativer Erstarrung“ (Ruhloff 2000: 125) begeben. Dabei zeigte sich vor allem ein Weg, der in der bildungstheoretischen Debatte in vielfältiger Weise aufgegriffen wird: die Umwendung von Normativität in Kritik, die damit als neue ethische ‚Grundlage‘ von Bildung firmiert. Statt sich auf die positive Bestimmung eines zukünftigen wünschenswerten Zustandes zu konzentrieren, gilt es dieser Wendung zufolge, ‚Kritik‘ an den gesellschaftlichen Bedingungen, aber auch an eigenen und fremden Geltungsansprüchen zu üben. Dabei ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit. Denn wenn die skeptische Haltung konsequenterweise auch den eigenen Standpunkt zur Disposition stellen muss, so bleibt unklar, von wo aus überhaupt kritisiert werden kann, wie also das Prinzip einer ‚Kritik‘ wünschenswerte Veränderungsprozesse begründen kann. Gleichzeitig rückt die Frage ins Zentrum, wie im Modus der ‚Kritik‘ Neuentwürfe und innovative Veränderungen der gesellschaftlichen Bedingungen möglich sind. Mit dem Verzicht auf eine „affirmative Bildungstheorie“ (Benner) stellen sich also theoretische Schwierigkeiten ein, deren Klärung für die Reformulierung des Bildungsbegriffs notwendig erscheint. Auch Foucault weist jede Idee einer normativen Grundlage, die sich auf universelle Wahrheiten und Ansprüche beruft, zurück. Gleichzeitig wird in Foucaults eigenem theoretischen und politischen Engagement deutlich, dass seine Überlegungen keinesfalls in eine allgemeine Unverbindlichkeit führen. Diese Haltung hat Foucault viele Vorwürfe eingebracht, die sich, wie Thomas Schäfer zeigt, zwei Richtungen zuordnen lassen. Entweder entziehe der von Foucault vorgeschlagene strikte „Antinormativismus“ (Schäfer 1995) jedem politischen Engagement seine Grundlage, was unweigerlich zu einem blinden und beliebigen Handeln führen müsse. Oder aber Foucault mache sich der theoretischen Inkonsistenz schuldig, da er zwar die Ungültigkeit jeglicher 110

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Normen behaupte, demgegenüber selbst aber sehr wohl normative Standpunkte vertrete. Es soll an dieser Stelle keine systematische Auseinandersetzung mit diesen Einwänden gegenüber Foucaults Projekt stattfinden.47 Entscheidend ist vielmehr, dass sich Foucault offensichtlich vor ein Problem gestellt sieht, das auch für aktuelle bildungstheoretische Überlegungen zentral ist: Wie ist es möglich, auf jegliche Basis positiver Normen zu verzichten, ohne gleichzeitig eigenes und fremdes Handeln der Beliebigkeit anheim zu geben? Und an welchen alternativen Prinzipien könnte sich theoretisches und praktisches Engagement stattdessen orientieren? Wie schon in den bildungstheoretischen Überlegungen deutlich wurde, führt ein Weg von der Normativität zu ‚Kritik‘. Auch das von Foucault vorgeschlagene Gegenkonzept lautet ‚Kritik‘. Allerdings fasst er diesen Begriff in ganz eigener Weise: Insbesondere in seinem Vortrag Was ist Kritik? (vgl. Foucault 1992) und dem späteren Aufsatz Was ist Aufklärung? (vgl. Foucault 2005h) stellt Foucault dieses spezifische Verständnis von ‚Kritik‘ vor. In ihrer engen Verzahnung mit dem genealogischen Forschungsprojekt bietet diese Konzeption dabei einen ausgesprochen produktiven Ausgangspunkt für bildungstheoretische Überlegungen. Entsprechend soll im Folgenden zunächst Foucaults Kritikbegriff in seinen verschiedenen Facetten vorgestellt werden. Dieser wird dann als möglicher Ausgangspunkt für die Reformulierung des Bildungsbegriffs diskutiert, wobei das Hauptaugenmerk auf der Frage liegt, ob und inwiefern dieses neue „Kritik-‚Paradigma‘“ (Schäfer 1995: 23) noch als (minimalethische) Begründung des Bildungsbegriffs gefasst werden kann.

2.4.1 „Was ist Kritik?“ In seinem Vortrag „Was ist Kritik?“, den Foucault 1978 vor der Société française de philosophie hielt (vgl. Foucault 1992), erscheinen sowohl das Vorgehen bei der Begriffsbestimmung als auch deren Ergebnis auf den ersten Blick wenig überraschend. In philosophischer Manier erfolgt eine historischbegriffsgeschichtliche Annäherung, die mit der These einsetzt, dass die sich im Zuge der Reformation stark ausbreitenden Techniken der religiösen Führung und Leitung (vgl. Abschnitt 2.2.3) einen zwar nur mittelbaren, aber dennoch entscheidenden Faktor in der Entwicklung einer allgemeinen „kritischen Haltung“ (ebd.: 9) dargestellt hätten. Denn in den verschiedensten Bereichen habe sich plötzlich die ehemals eher auf Klöster und kleine geistliche Gruppen beschränkte Frage nach der besten Menschenregierung ausgebreitet: „[W]ie regiert man die Kinder, wie regiert man die Armen und die Bettler, wie regiert man eine Familie, ein Haus, wie regiert man die Heere, wie regiert

47 Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Vorwürfen siehe Schäfer 1995 und Lemke 1997.

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man die verschiedenen Gruppen, die Städte, die Staaten, wie regiert man seinen eigenen Körper, wie regiert man seinen eigenen Geist?“ (ebd.: 11) Diese – vor allem in den Bereichen der Pädagogik, der Politik und der Ökonomie zu registrierende – Regierungsintensivierung habe gleichzeitig untrennbar zu der entscheidenden Gegenfrage geführt: „Wie ist es möglich, daß man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?“ (ebd.: 11f.) Eine solche Denkungsart, die es unternimmt, jene Regierungskünste „abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben zu suchen“ (ebd.: 12), stellt für Foucault nun das erste allgemeine Prinzip von ‚Kritik‘ dar. Damit wird deutlich, dass Foucault den ‚Kritikbegriff‘ nahezu gleichsetzt mit dem, was zur selben Zeit unter dem Begriff der ‚Aufklärung‘ firmiert, nämlich „eine bestimmte Art zu denken, zu sagen, zu handeln, ein bestimmtes Verhältnis zu dem, was existiert, zu dem, was man weiß, zu dem, was man macht, zur Gesellschaft, zur Kultur, zu den anderen“ (ebd.: 8) mit dem Ziel der „Entunterwerfung“ (ebd.: 15). Historische Markierungspunkte sieht Foucault in der erneuten (kritisch-hermeneutischen) Auslegung der Bibel, in der (kritisch-juridischen) Begrenzung der Regierungsmacht und der (erkenntniskritischen) Etablierung der modernen Wissenschaften. Damit erscheint Foucaults Bestimmung von ‚Kritik‘ wenig ungewöhnlich: Als eine (aufklärerische) Praxis des Denkens und Handelns ist sie auf die Beurteilung und Infragestellung vorfindlicher Normen gerichtet, mit dem Ziel „nicht derartig regiert zu werden“, sich also von gesellschaftlichen Vorgaben zu distanzieren und zu befreien. Im weiteren Verlauf des erwähnten Vortrags zeigt sich nun allerdings, dass Foucault dieses Verständnis von ‚Kritik‘ nur als strategischen Ausgangspunkt nimmt, um sozusagen unter der Hand ganz andere Aspekte des Begriffs herauszuarbeiten, die dieses alltagspraktische Verständnis in unerwarteter Weise verschieben.

2.4.2 Der Einsatz von Kritik als Frage nach den Machtbeziehungen Diese Verschiebung betrifft zunächst Ziel und Einsatzpunkt von ‚Kritik‘. Sie dürfe, wie Foucault immer wieder betont, vor allem nicht mehr als „Legitimitätsprüfung“ praktiziert werden (Foucault 1992: 30). Um diese Forderung zu verstehen, muss man Foucaults Argumentationslinie etwas ausführlicher wiedergeben. In beiden genannten Texten Was ist Kritik? und Was ist Aufklärung? entwickelt Foucault sein Kritikverständnis in Anschluss an Kants Begriffe der ‚Aufklärung‘ und der ‚Kritik‘. Diese erscheinen in ihrer Bedeutung gegenüber Foucaults Bestimmung verschoben: Das, was Foucault als ‚Kritik‘ 112

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bezeichnet, nämlich: „die kritische Haltung, die man im Abendland als besondere Haltung neben dem großen historischen Prozeß der Regierbarmachung der Gesellschaft auftauchen sieht“ (Foucault 1992: 16f.), gelte bei Kant als ‚Aufklärung‘, während ‚Kritik‘ für Kant die „Erkenntnis der Erkenntnis“ (ebd.: 18) meine, also die „Frage nach den Grenzen [...], auf deren Überschreitung die Erkenntnis verzichten muss“ (Foucault 2005h: 702). Damit werde ‚Kritik‘ bei Kant zur Vorbedingung jeder ‚Aufklärung‘, sofern diese den Moment beschreibt, „in dem die Menschheit, ohne sich irgendeiner Autorität zu unterwerfen, von ihrer eigenen Vernunft Gebrauch machen wird“ (ebd.: 693). Und „genau in diesem Moment [ist] Kritik vonnöten, weil sie die Rolle hat, die Bedingungen festzulegen, unter denen der Gebrauch der Vernunft rechtmäßig ist, um das zu bestimmen, was man erkennen kann, was man tun muss und was man hoffen darf. Ein unrechtmäßiger Gebrauch lässt zusammen mit der Illusion den Dogmatismus und die Heteronomie entstehen; und umgekehrt kann der rechtmäßige Gebrauch der Vernunft, sowie er in seinen Grundsätzen eindeutig bestimmt worden ist, in seiner Autonomie als gesichert gelten.“ (Ebd.: 693f.) Kant schiebt demzufolge also die Begriffe der ‚Aufklärung‘ und der ‚Kritik‘ analytisch auseinander. Dies habe, so Foucault, in der Folgezeit dazu geführt, dass die Frage nach der ‚Aufklärung‘ „im wesentlichen als Problem der Erkenntnis eingeführt wurde“ (Foucault 1992: 29). Machteffekte, Dogmatismen, Herrschaftsmissbrauch und Fremdbestimmung seien als Ergebnis einer falschen Erkenntnisweise betrachtet worden, die sich z.B. in bestimmten wissenschaftlichen Prinzipien wie „Objektivismus, Positivismus, Technizismus usw.“ zeige. Dieser Logik zufolge müsse man der falschen Erkenntnisweise entsprechend mit einer ‚kritischen‘ „Legitimitätsprüfung“ begegnen, deren „Fragestellung laute: welche falsche Idee hat sich die Erkenntnis von sich selbst gemacht, welchem exzessiven Gebrauch sah sie sich ausgesetzt und an welche Herrschaft fand sie sich folglich gebunden?“ (ebd.: 30) Das Problem der ‚Aufklärung‘ werde seit Kant in dieser Weise verkürzt und unter dem Label der ‚Kritik‘ einseitig als Frage nach der ‚falschen‘ oder ‚wahren‘ Erkenntnis angegangen.48 Dieser Verkürzung des ‚Aufklärungsproblems‘ möchte Foucault nun mit einer „Neutralisierung in Sachen Legitimität“ (Foucault 1992: 32) begegnen. Ihm zufolge gibt es nämlich per se kein ‚wahres‘ und ‚unverfälschtes‘ Sein, das durch Fehldeutungen oder Herrschaftsmechanismen unterdrückt und so zu einem ‚illegitimen‘ Sein verdorben würde. Wissen sei grundsätzlich gewaltsam und kontingent. Nur was als ‚wahr‘ gilt und genau deshalb mit bestimm48 In der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion wird „Habermas in seiner Kritik der Ideologien“ als prominentes Beispiel für jemanden genannt, der in eben dieser Weise (sozusagen ‚kant-kritisch‘) die Frage nach der illegitimen Erkenntnis stellt (vgl. ebd.: 49).

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ten Machteffekten ausgestattet ist, könne überhaupt als positives Wissen auftreten. Ob etwas ‚wahr‘ (und damit ‚legitim‘) ist oder nicht, erscheine demnach nicht mehr als Frage der legitimen Erkenntnis, sondern als Effekt von Macht. Es gelte deshalb, so Foucault, der Erpressung des Wahrheitsregimes, das nur nach Legitimität fragt, zu entkommen (vgl. ebd.: 30ff.). Die Ausgangsfrage solle entsprechend nicht mehr lauten: „Welcher Irrtum, welche Illusion, welches Vergessen, welche Legitimitätsmängel haben die Erkenntnis dazu geführt, Herrschaftswirkungen zu entfalten[?]“ (ebd.: 40). Stattdessen schlägt Foucault vor, „über das Problem der Macht in die Frage der Aufklärung ein[zu]steigen“ (ebd.: 30). Dieser Einstieg über das Problem der Macht erfolgt ‚genealogisch‘. Das bedeutet, dass zum einen die Machtbeziehungen analytisch-deskriptiv erfasst und zum anderen die so herausgearbeiteten Gewaltsamkeiten und Kontingenzen strategisch verschoben und transformiert werden sollen. Auf der ersten genannten Ebene interessiert Foucault damit nicht, ob ein Erkenntniselement ‚wahr‘ oder ‚illusorisch‘, ‚rechtmäßig‘ oder ‚illegitim‘ ist, sondern es geht einzig um die Beschreibung der Erkenntnisverfahren, die zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Gebiet akzeptiert wurden und mit einem „System spezifischer Regeln und Zwänge“ (Foucault 1992: 33) einhergingen. Erfasst wird also das Spiel aus Macht und Wissen, das zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort wirksam war und Effekte entfaltete – die bis heute unser Sein bestimmen. Strategisch wird dieser Blick, indem er davon ausgeht, dass mit der Fixierung bestimmter Macht-Wissen-Komplexe durch ihre spezifischen Akzeptabilitätsbedingungen immer zugleich ein „Feld von möglichen Öffnungen und Unentschiedenheiten, von eventuellen Umwendungen und Verschiebungen, welches sie fragil und unbeständig macht“, einhergeht (ebd.: 40). Die gegen jene allumfassende Regierung gewendete (kritische) Frage lautet demnach: „Wie können die Zwangswirkungen, die jenen Positivitäten eignen – anstatt durch eine Rückkehr zur rechtmäßigen Bestimmung der Erkenntnis oder durch eine Reflexion auf ihr transzendentales oder quasi-transzendentales Wesen verflüchtigt zu werden – innerhalb des konkreten strategischen Feldes, das sie herbeigeführt hat, und aufgrund der Entscheidung eben nicht regiert zu werden, umgekehrt oder entknotet werden?“ (Ebd.: 40f.)49 „Zwangswirkungen“ zu „entknoten“, ohne eine ‚falsche‘ Rationalität für diese Effekte verantwortlich zu machen und ohne Bezug zu einer 49 Bemerkenswert ist die Nähe, die sich damit doch wiederum zu Kants Projekt ergibt. Beide Projekte fordern, zunächst die „Grenzen“ der Erkenntnis zu erkennen, um davon ausgehend den Prozess der „Entunterwerfung“ zu starten. Freilich sind bei Foucault diese „Grenzen“ empirische (nicht transzendentale) Bedingungen des Wissens, die auch nicht, wie Kant es fordert, streng beachtet und akzeptiert werden müssen, sondern die es gerade praktisch-strategisch zu überschreiten und zu verschieben gilt.

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‚besseren‘ und ‚gerechteren‘ Rationalität, erscheint damit als Gegenprojekt zur „Legitimitätsprüfung“. Und ‚Kritik‘ in ihrer schillernden Nähe zum Begriff der ‚Aufklärung‘ wird zu einem „strategischen“ Projekt der Umdeutung und des Anders-Denkens im Feld der vielfältigen und allgegenwärtigen Regierungsmechanismen. Allerdings stellt sich die Frage, wie solch ein strategischer Blick praktisch umgesetzt werden kann.

2.4.3 Kritik als grund- und ortlose Praxis Diese Frage nach den Möglichkeiten einer strategischen Umdeutung erhält noch einigen Nachdruck, wenn man ein zweites Charakteristikum in Betracht zieht, das Foucault in seiner Bestimmung von ‚Kritik‘ einführt: ‚Kritik‘ sei immer ohne festen Bezugspunkt. Die ‚kritische Haltung‘ hat weder eine definierte Basis, noch birgt sie die Möglichkeit ‚von außen‘ auf das zu kritisierende Normen- und Regelsystem zu blicken. Stattdessen hat Kritik ihren Ort immer innerhalb der zu kritisierenden Bedingungen selbst, und infolgedessen unterliegt auch die ‚Basis‘ einer solchen Kritik noch diesen Bedingungen. Kritik ist damit eine Praxis, deren Ausgangspunkt in demselben Macht-Wissen-Komplex befangen ist, wie das zu Kritisierende. Und da der Macht-Wissen-Komplex entsprechend nicht (im Blick von außen) in seiner Totalität erfassbar ist, wird der Ausgangspunkt der Kritik selbst zu einem undefinierten, beweglichen Ort. Die Begründung des Prinzips eines geschichtlich zwar veränderlichen, aber im je konkreten Fall unhintergehbaren, weil bedingenden Regelnetzes des Sprechens, Denkens und Handelns hat Foucault unter anderem schon in der Archäologie des Wissens unter dem Begriff des „historischen Apriori“ (vgl. Foucault 1981: 183ff.) herausgearbeitet. Foucault betrachtet dort nicht, wie später, vor allem die Machtbeziehungen, sondern beschränkt sich auf das diskursive Geschehen. Dieses werde auf spezifische Weise reguliert und formiert: Das je aktuelle „Wissen“ eines soziokulturellen Feldes bestimmt sich demnach daraus, worüber in welcher Weise und von welchen Sprecherpositionen aus gesprochen werden darf. Dieses regulierte und regulierende Wissen fasst Foucault in dem Begriff des „Archivs“ (ebd.: 187). Unabhängig davon, was gesprochen wird, man sagt es notwendig im Wirkbereich des momentanen Archivs, das die Aussagen begrenzt und ihre Wirkung reguliert. Eine solche Einsicht in die äußerliche Begrenzung durch die Regulation des ‚Wissens‘ zieht Konsequenzen nach sich: Will man dieses Archiv betrachten, um die Regeln des eigenen Sprechens zu erhellen, so muss man feststellen, dass dies unmöglich ist. Denn grundsätzlich kann nur das Archiv eines bereits Gesagten Gegenstand der Beschreibung werden – und auch das wiederum nur aus dem nun aktuellen Archiv heraus: „Die Beschreibung des Archivs entfaltet ihre Möglichkeiten [...] ausgehend von Diskursen, die gerade aufgehört ha115

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ben, die unsrigen zu sein; ihre Existenzschwelle wird von dem Schnitt gesetzt, der uns von dem trennt, was wir nicht mehr sagen können, und von dem, was außerhalb unserer diskursiven Praxis fällt; sie beginnt mit dem unserer eigenen Sprache Äußeren; ihr Ort ist der Abstand unserer eigenen diskursiven Praxis.“ (Ebd.: 189f.) Unser eigenes Archiv ist deshalb „gleichzeitig uns nahe, aber von unserer Aktualität abgehoben [frz.: différent, JL], es [ist] der Saum der Zeit, die unsere Gegenwart umgibt, über sie hinausläuft und auf sie in ihrer Andersartigkeit hinweist; es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt“ (ebd.: 189).50 Dies hat entscheidende Implikationen für die Praxis der ‚Kritik‘: Alles Sagen ist reguliert. Wie sehr man sich auch anstrengt, man entkommt doch nie dem vorausliegenden „Archiv“. Auch die Sprecherposition des ‚Kritikers‘ ist vorgegeben und in ihren Bedingungen unhintergehbar. Übertragen auf den durch den Blick auf die Machtbeziehungen erweiterten Macht-WissenKomplex gilt dasselbe. Kein Ort der Kritik befindet sich jenseits dieser Regulationen und Machtbeziehungen, und niemals lässt sich ‚objektiv‘ beurteilen, ob ein kritisches Urteil diese Bedingungen tatsächlich verändert. Spricht man al-so von ‚Kritik‘ als einem „bestimmten Verhältnis“ (vgl. Foucault 1992: 8), so gilt es immer zu bedenken, dass dieses keine feste Basis hat. ‚Kritik‘ findet nie jenseits der zu kritisierenden Verhältnisse statt; sie kann kein ‚Urteil‘ einer objektiven, nicht betroffenen Instanz sein. Foucault gibt deshalb konsequenterweise die Dualität von Außen und Innen auf. Alles befindet sich in der reinen Äußerlichkeit der Machtverhältnisse. Damit aber wird der ‚Kritik‘ nicht nur ihr Anspruch auf (universelle) Geltung und Objektivität entzogen, sondern es wird auch deutlich, dass ‚Kritik‘ nicht mehr als Figur der Negation verstanden werden kann. Negation bzw. kritische Distanzierung hieße, dass man aus dem bedingenden Regelsystem heraustritt, sich also ‚befreit‘, ‚emanzipiert‘ oder ‚autonomisiert‘. Dies ist jedoch gar nicht möglich. Subjekte – auch so genannte ‚autonome‘ Subjekte – stehen niemals außerhalb des MachtWissen-Systems, sondern sind immer Teil desselben, da sie anders gar nicht als Subjekte auftreten können. Insofern ist Kritik als Negation in diesem Sinne nicht denkbar. Denn man kann kaum etwas ablehnen, was sich gar nicht erfassen lässt, da es das eigene Sein gleichzeitig in seinem Denken, Handeln und Sprechen unhintergehbar bedingt. Damit wird das oben genannte Problem noch deutlicher: Wie sollen „Zwangswirkungen entknotet“ werden, wie lässt sich ‚anders denken‘, und wie kann man „strategisch“ sprechen und handeln, um das Macht-Wissen-Netz zu verschieben und zu transformieren, wenn sogar noch die eigene ‚kritische‘ Position in einem allumfassenden Macht-Wissen-Komplex befangen bleibt?

50 Petra Gehring umschreibt die Figur des ‚Archivs‘ deshalb mit der schönen Metapher der „Limesgestalt“ (Gehring 1994: 51f.).

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2.4.4 Kritik als produktives Grenzexperiment Resümiert man die Hinweise auf Möglichkeiten einer Form von ‚Kritik‘, die strategisch den Macht-Wissen-Komplex verändert und transformiert, so ergibt sich Folgendes: Die erste allgemeine Definition von ‚Kritik‘ fasste diese als „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992: 12). Diese wird ergänzt durch den Verweis auf einige spezifische Charakteristika, mit denen eine markante Umdeutung des herkömmlichen Kritikverständnisses eingeführt wird: ‚Kritik‘ dürfe keine Legitimitätsprüfung darstellen, der Einstieg von ‚Kritik‘ müsse über die Machtbeziehungen erfolgen, als strategischer Einsatz an deren Lücken und Potenzialen, und zwar vor dem Hintergrund einer Grundlosigkeit jedes ‚kritischen‘ Sprechens, Denkens und Handelns, da im Netz der Machtbeziehungen kein fester Standpunkt mehr einzunehmen sei. Wie lässt sich nun demzufolge ‚kritisch‘ denken, sprechen und handeln? Es wurde bereits angedeutet, dass Foucaults Antwort auf diese Frage in seiner genealogischen Forschungspraxis liegt. Der genealogische Blick, so wurde im vorangehenden Kapitel gezeigt, ist ein doppelter. Einerseits analysiert er die Akzeptabilitätsbedingungen gegebener Macht-Wissen-Beziehungen, andererseits zielt er auf die Zufälle, Brüche, Kontingenzen und Zwänge. Aus dieser zweiten Achse wurde gefolgert, dass Genealogie per se Gesellschaftskritik ist und nicht nur zeigt, dass Gegebenheiten stets auch anders denkbar wären, sondern dass in den Macht-Wissen-Beziehungen darüber hinaus ein strategisches Potenzial liegt. In Was ist Kritik? wird nun deutlich, wo dieses Potenzial zu finden sein könnte: Jedes System, so Foucault, werde durch die „Energie“ (Foucault 1992: 35) am Laufen gehalten, die in seiner Willkürlichkeit und seiner Gewaltsamkeit liegt. Man braucht, so könnte man es anders formulieren, „Energie“, um etwas durchzusetzen. Gleichzeitig biete diese Form der „Energie“ Ansatzpunkte für ihre strategische Nutzung: Lücken, in die sich einhaken lässt und die im System Effekte zeitigen können. Wie dies funktioniert, findet sich in der von Foucault postulierten Gleichzeitigkeit von Prozesserhaltung und Prozessumformung (vgl. ebd.: 39). Die Prozesserhaltung besagt, dass man selbst in dem Feld steht, das zu analysieren ist, dem man zugehört und dem man deshalb nicht einfach entkommen kann. In diesem Feld mit seinen Willkürlichkeiten und Zwängen muss man sich bewegen. Die Prozessumformung bedeutet, dass man aber in und mit dieser Analyse gleichzeitig neue Knotenpunkte im Netz der Feldregeln bildet, d.h. die Lücken und Verknüpfungen nutzt, um das Feld umzuformen. Dies ist genau das, was Foucault eine „strategische“ Analyse nennt (ebd.). Es geht um eine „immerwährende Beweglichkeit, um eine wesenhafte Zerbrechlichkeit: um eine Verstrickung zwischen Prozeßerhaltung und Prozeßumformung“

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(ebd.: 39).51 Inwieweit dabei tatsächlich eine Verschiebung im Feld oder sogar des Feldes selbst stattfindet, ist nie unmittelbar zu beantworten. Effekte sind immer möglich, prinzipiell aber erst später (und auch dann nicht ‚objektiv‘) feststellbar. Genealogie, so wird hier deutlich, ist nicht nur per se Gesellschaftskritik, sondern sie versteht sich insgesamt als Kritik (vgl. Visker 1991). Kritisch denken, sprechen und handeln bedeutet demnach genealogisch denken, sprechen und handeln – und umgekehrt. Aber wie lässt sich nun eine genealogisch-strategisch-kritische Prozessumformung im gegebenen System der Macht-Wissen-Beziehungen betreiben? Es gilt, so Foucault, in dem gegebenen unhintergehbaren System aus Machtbeziehungen und Zwangswirkungen eine bestimmte experimentelle Praxis zu etablieren. Denn wenn es unmöglich ist, dem gegebenen Sein zu entkommen, und niemals bestimmt werden kann, inwieweit dieses System auch noch in den ‚kritischsten‘ Äußerungen wirksam ist und diese damit ein- und überholt, so bleibt nur der Versuch einer „Erfahrung“ der eigenen Grenzen. Gemeint ist ein Experiment52, das seinen eigenen Grenzen und Bedingungen zwar nicht entkommt, diese aber versuchsweise verändert. Diese „historisch-praktische Erprobung der Grenzen“ (Foucault 2005h: 703) fragt: Was bedingt mich in meinem Denken, Sprechen und Handeln? Welche dieser Bedingungen sind notwendig, welche kontingent? Wie kann ich die nicht-notwendigen Bedingungen anders denken, wie lässt sich anders sprechen und handeln? Es handelt sich um die Annäherung an das eigene Sein in seiner ganzen Bedingtheit. Da ich diese Bedingungen aber in ihrer Totalität nicht erfassen kann, muss ich sie experimentell austesten, mich ihnen strategisch nähern, sie probehalber anders denken, um sie in diesem ‚Anders-Denken‘ als kontingent erfahrbar zu machen. Und genau in diesem Versuch einer ‚kritischen‘ Erfassung der Grenzen und Bedingungen des eigenen Seins werden diese möglicherweise verschoben. Insgesamt lässt sich also das kritische Projekt, „nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert [zu werden]“ (Foucault 1992: 12), als ein praktisch-strategisches Experiment der Annäherung an die Bedingungen des eigenen Seins fassen, das versucht, „sich seine eigene Geschichte zu machen: gleichsam fiktional die Geschichte zu fabrizieren“ (ebd.: 26). Ein Experiment 51 Diese Gleichzeitigkeit von Prozesserhaltung und -umformung zeigt Foucault exemplarisch am Beispiel von Kants doppelter Bestimmung der ‚Aufklärung‘ als „Prozess [...], an dem die Menschen kollektiv beteiligt sind, und [als] ein Akt des Mutes, den jeder persönlich vollbringen muss“ (Foucault 2005h: 690). Man ist – als Mensch – zugleich „Bestandteil“ und „Handelnder“ der Aufklärung und somit, allgemeiner gesprochen, einerseits Gefangener eines Geschehens, das man andererseits von innen heraus umformen und mitgestalten kann. 52 Der französische Begriff ‚expérience‘ bedeutet sowohl ‚Experiment‘ als auch ‚Erfahrung‘. Diese Doppelbedeutung geht in der deutschen Übersetzung leider verloren.

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ist dies notwendigerweise, da es niemals eine feste Basis für Kritik gibt: Entwürfe sind nur innerhalb der beweglichen Regulationsmechanismen möglich und deshalb selbst nie der Beweglichkeit entzogen. Praktisch muss es sein, da die Umkehr von Bedingungen nur in der Praxis eines Denkens, Handelns oder Sagens erprobt werden kann. Die Bedingungen des eigenen Sprechens lassen sich nicht im Urteil erfassen. Schließlich ist es historisch orientiert, da eben jenes genealogische Grundprinzip – „Alles hat eine Geschichte“ (vgl. Foucault 2002a) – zum Ausgangspunkt für den Versuch wird, diese Geschichte anders zu denken. Strategisch ist dieses Experiment, da es das Ziel verfolgt, ‚nicht dermaßen regiert zu werden‘, und dafür vorhandene Elemente anders und neu einsetzt. Zudem verweist der Begriff der ‚Strategie‘ auf den Umstand, dass ‚Kritik‘ immer nur im jeweiligen Umfeld, schrittweise, im Ausgang von einer Reflexion auf gegebene Situationen möglich ist. Niemals gibt es ein allgemeines und übergreifendes Prinzip. Und zuletzt handelt es sich um eine Fiktion, weil diese Geschichte nicht unter dem Modus des ‚Wahren‘, sondern unter dem Modus der ‚Ereignishaftigkeit‘ steht. Es geht nicht darum, ob die so erzählte Geschichte ‚wahr‘ und ‚legitim‘ ist – was im Übrigen auch gar nicht feststellbar wäre. Stattdessen interessiert einzig, ob diese Geschichte ein strategisches Anders-Denken erlaubt, ob sie Bedingungen umzukehren vermag, aus feststehenden Stabilitäten, Einwurzelungen, Fundierungen deren mögliches Verschwinden denkbar macht. Damit wird auch deutlich, dass Kritik kein Instrument ist, mit dessen Hilfe ein vorherbestimmtes Ziel wie z.B. ‚Freiheit‘ erlangt werden kann. „Mir scheint, es gibt die Möglichkeit, die Fiktion in der Wahrheit arbeiten zu lassen, Wahrheitseffekte mit einem Fiktionsdiskurs zu induzieren und gewissermaßen dafür zu sorgen, dass der Wahrheitsdiskurs etwas hervorruft, erzeugt, was noch nicht existiert, dass er also ‚fiktioniert‘. Man ‚fiktioniert‘ Geschichte von einer politischen Wirklichkeit her, die sie wahr macht, man ‚fiktioniert‘ eine Politik, die noch nicht existiert, von einer historischen Wahrheit her.“ (Foucault 2003a: 309) Ein ‚Grenzexperiment‘ läuft im Modus der strategischen Fiktionen, die ins Ungewisse greift und deren weiterführende Effekte nicht vorhersehbar sind.53 Foucaults Kritikbegriff scheint damit zwar insgesamt konsistent, aber doch ziemlich abstrakt. Es drängen sich Zweifel auf, ob ‚Kritik‘ in der Form 53 Judith Butler weist darauf hin, dass Geschichten zu erfinden erstes Prinzip der ‚Genealogie‘ ist. Bereits Nietzsche – von dem Foucault seinen genealogischen Blick übernimmt (vgl. Foucault 2002a) – erzählte Fabeln über den Prozess der Entstehung von Moral: „von den Vornehmen, eine andere vom Gesellschaftsvertrag, eine weitere über den Sklavenaufstand in der Moral und noch eine andere über die Beziehungen von Gläubiger und Schuldner.“ (Butler 2002: 261) Auch Butler kommt zu dem Schluss, dass in jener Fiktionalisierung das Kritisch-Produktive der Genealogie liegt. Denn die Fabel „beschreibt [...] nicht nur diesen Prozess, sondern diese Beschreibung wird selber ein Beispiel der Werterzeugung, indem sie eben jenen Prozess inszeniert, den sie erzählt“ (ebd.).

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einer solch experimentellen Praxis überhaupt möglich ist und welche konkreten Formen sie annehmen kann. Um diesen Zweifeln zu begegnen, lohnt es, nicht nur Foucaults semantische Bestimmung des Kritikbegriffs nachzuvollziehen, sondern auch zu betrachten, in welcher Weise Foucault dies tut – wie also der Prozess der Begriffsbestimmung selbst aussieht. Denn in seinem Vortrag führt Foucault die Form der ‚Kritik‘, die er vorschlägt, selbst vor: Sie wird sozusagen ‚kritisch‘ hervorgebracht, wie sich anhand der oben genannten Charakteristika zeigen lässt. Ausgangspunkt ist die genealogische Frage nach dem Entstehungsherd der „kritischen Haltung“ und die Veränderungen im Verständnis von ‚Kritik‘ in der Folge der Aufklärung. Diese Art und Weise, sich dem Kritikbegriff zu nähern, ist damit zunächst schlicht historisch. Darüber hinaus ist sie aber auch strategisch: Foucault zielt nicht darauf, eine ‚richtige‘, ‚wahre‘ und ‚legitime‘ Definition von ‚Kritik‘ zu liefern. Stattdessen greift er sich Elemente heraus, die sich gegeneinander verschieben lassen: Foucault beschreibt die Geschichte der kritischen Haltung als Bewegung, welche die kritische Haltung (als ‚Aufklärung‘) in das Projekt der Kritik (als Frage nach der ‚legitimen Erkenntnis‘) hat umkippen lassen, mit dem strategischen Ziel, den umgekehrten Weg zu gehen: von der Kritik zurück zur ‚Aufklärung‘ (vgl. Foucault 1992: 41). Und diese Beschreibung ist in gewissem Sinne eine Neuerfindung der Geschichte des Kritikbegriffs: Sie ist eine strategische Fiktion. Foucault selbst gibt zu, dass er die Geschichte auch ganz anders hätte erzählen können und dass sein Anspruch damit nicht der einer ‚Wahrheit‘ sei (vgl. ebd.: 9). Er hat sie aber auf genau diese Weise erzählt, um vom System ausgehend in diesem System neue Verknüpfungen und Knotenpunkte zu produzieren. „Er bietet uns eine Darstellung, die kein Denker der ‚Aufklärung‘ akzeptieren würde, aber dieser Widerstand würde seine Charakterisierung der Aufklärung nicht entwerten, denn in dieser Charakterisierung der Aufklärung sucht Foucault eben das, was in deren eigenen Begriffen ‚ungedacht‘ bleibt, und deshalb ist seine Geschichtsschreibung eine kritische.“ (Butler 2002: 256) Ein Experiment im Sinne einer Erfahrung der eigenen Grenzen stellt dies dar, weil es Foucault darum geht, „die Analyse unserer selbst als geschichtlich zu einem gewissen Teil durch die Aufklärung bestimmter Wesen durchzuführen“ (Foucault 2005h: 699). Und jene Analyse wird „auf die ‚aktuellen Grenzen des Notwendigen‘ hin ausgerichtet sein: das heißt auf das hin, was für die Konstitution unserer selbst als autonome Subjekte nicht oder nicht mehr unerlässlich ist.“ (ebd.: 700). Es geht, so könnte man sagen, um den Versuch, ‚Kritik‘ jenseits des Wahrheitsregimes zu denken, was nur probehalber geht, da wir uns selbst in diesem Regime bewegen und noch in diesem Versuch einer Neubestimmung von ‚Kritik‘ nicht sagen können, ob wir dieses System damit transformieren. Damit wird zuletzt auch deutlich, inwiefern Foucault dieses Experiment praktisch vorführt: Nur in der Bewegung der Kritik selbst, d.h. in der genealogisch-kritisch-strategischen 120

AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

Praxis einer Bestimmung unserer Selbst als ‚kritische‘ Wesen, kann diese Grenzbestimmung vollzogen werden. Foucault führt damit weder eine Legitimitätsprüfung von ‚Kritik‘ durch, noch negiert er den Begriff als solchen. Ausgehend von der Frage nach den Machtbeziehungen – also dem Entstehungsherd, den Energien der Gegenbewegungen und Umdefinitionen – produziert Foucault eine Umwendung und Verschiebung von Kants Begriffsbestimmung. Und das Ergebnis lässt sich tatsächlich als eine Strategie, „nicht dermaßen regiert zu werden“, deuten: nämlich als Versuch einer Transformation der Bedingungen und Grenzen des „Wahrheitsregimes“, das uns durch den Zwang zur Entscheidung ‚wahr-falsch‘ und ‚legitim-illegitim‘ regiert.

2.4.5 Kritik als Ethos: bildungstheoretische Anschlüsse Es muss nun geprüft werden, ob ein so gefasster Begriff von ‚Kritik‘ geeignete Ansatzpunkte für bildungstheoretische Überlegungen bietet. Im Zentrum steht dabei die Frage, was ein grundloses und rein strategisches „Grenzexperiment“ mit dem Prinzip der „Aufgabenhaftigkeit“ von ‚Bildung‘ verbindet. Denn: „Wofür soll ein anders Denken gut sein, wenn wir nicht im Voraus wissen, dass dieses andere Denken eine bessere Welt hervorbringt, wenn wir keinen moralischen Rahmen haben, in welchem mit Gewissheit zu entscheiden ist, ob bestimmte neue Möglichkeiten oder Weisen anderen Denkens jene Welt hervorbringen, deren Verbesserung wir mit sicheren und schon etablierten Standards beurteilen können?“ (Butler 2002: 252) Tatsächlich bestreitet Foucault zwar die Geltung jeder Norm mit universellem Anspruch, aber dessen ungeachtet lässt sich in seinen Schriften und Interviews eine Art Aufgabenstellung herauslesen. Foucault geht davon aus, „daß es keine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse geben kann, sofern man darunter Strategien begreift, mit denen die Individuen das Verhalten der anderen zu lenken und zu bestimmen versuchen“ (Foucault 1985: 25). Ziel sei es deshalb, innerhalb dieser unhintergehbaren Machtspiele „mit dem geringsten Aufwand an Herrschaft zu spielen“ (ebd.). Wie diese relative Freiheit in den Herrschaftsverhältnissen möglich ist, kann nur in der ‚kritischen‘ Annäherung an die Begrenzungs- und Zwangsmechanismen erfahren werden. Foucaults Kritikbegriff enthält damit zwar keine positive Zielbestimmung, aber immerhin eine implizite Aufforderung: Es gilt, Zwangswirkungen umzukehren. Und die Möglichkeiten dazu sieht Foucault im Versuch, sich in einer „Arbeit entlang unseren Grenzen“ (Foucault 2005h: 707) seine eigene Geschichte zu fingieren. Foucault spricht in diesem Zusammenhang tatsächlich von einem „ethos“ (ebd.). Dieses ethos als willentliche Art des Denkens und Fühlens, des Handelns und Verhaltens gibt sich einerseits als Zugehörigkeit zu einer Zeit und stellt sich andererseits als Aufgabe und entspricht damit der oben beschriebenen Gleichzeitigkeit von Prozesserhaltung und Prozessumformung. 121

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Die eigene Aktualität – der Moment, die Gegenwart – wird in ihrer Besonderheit erfasst, aber nicht mit dem Ziel, diesen Augenblick festzuhalten, sondern mit dem Ziel, ihn zu verwandeln, und zwar in dem Sinne, dass die Realität nicht einfach aufgehoben oder negiert wird, sondern in ihrer Erfassung selbst die Transformation stattfindet (vgl. ebd.: 697). Foucaults Ethik, wenn man sie so nennen möchte, ist die der Problematisierung und der Transformation scheinbar notwendig gegebener (tatsächlich aber historisch kontingenter) Grenzen. Nur in diesem bescheidenen Sinne kann Kritik eine Arbeit der ‚Freiheit‘ sein: der ‚Freiheit‘ nämlich, probehalber anders zu denken. Fasst man allerdings Foucaults Kritikbegriff in diesem Sinne als neue Begründung für einen ‚aufgabenhaften‘ Bildungsbegriff, so wirft dies ein altbekanntes Problem auf. Wird hier nicht einfach – trotz der Behauptung, Foucault lehne jegliche Form universaler Geltungsansprüche ab – unter der Hand eine neue ‚Norm‘ formuliert? Beansprucht man mit der Bestimmung der Verwandlung und Umkehr von Zwangswirkungen als ethisches Ziel für ‚Bildung‘ nicht doch universelle Geltung? Wie oben gezeigt wurde, hat Foucault für sein Verständnis von ‚Kritik‘ selbst diese universelle Geltung nicht in Anspruch genommen, sondern es rein strategisch-genealogisch entworfen. Damit steht es unhintergehbar im soziokulturellen Kontext (der gegeben und historisch veränderlich ist), und deshalb müsste auch ‚Bildung‘ in anderen soziokulturellen Gegebenheiten selbstverständlich ebenso anders bestimmt werden. Zudem ist Foucaults Bestimmung von ‚Kritik‘ jenseits des Wahrheitsregimes (und d.h. jenseits der Frage von rechtmäßiger Geltung) angesiedelt. Entscheidendes Kriterium ist damit einzig und allein, ob sich dieser Kritikbegriff kritisch-produktiv in der Bestimmung von ‚Bildung‘ und von uns als ‚gebildeten‘ (oder ‚ungebildeten‘) Subjekten einsetzen lässt.54 Darüber hinaus ist ‚Kritik‘ als ethisches Prinzip auch in sich selbst relativ. Man müsse sich, wie Foucault ausführt, bewusst sein, dass diese „Beschränkung auf derartige stets partielle und lokale Untersuchungen“ Gefahr laufe, „sich durch allgemeinste Strukturen bestimmen zu lassen, was das Risiko beinhaltet, dass wir uns ihrer 54 Wie ein solcher Einsatz einer kritisch-genealogischen Befragung pädagogischer Zielvorgaben aussehen kann, zeigt Christiane Thompson. Mit Bezug auf die ‚kritische Ontologie‘ Foucaults zeigt sie, dass sich z.B. „die Eindeutigkeit der Zuschreibung von Emanzipation als Bewegung von Unmündigkeit zu Mündigkeit hinterfragen“ lässt (Thompson 2004: 50). Es zeigt sich nochmals, dass „jeglicher pädagogische Einsatz in kritischer Absicht, der auf eine Veränderung menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse zielt, prekär ist, wenn man die Existenz eines machtfreien Vakuums aufgibt. Daraus folgt umgekehrt die Notwendigkeit, den Machtbezügen in ‚Bildung‘, ‚Mündigkeit‘ oder ‚Emanzipation‘ nachzuspüren – sowohl im Begriff (Bereich der Wissenschaft) wie im Phänomen (Bereich der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen). Im Visier stehen damit die Relationalität und die gesellschaftliche Vermitteltheit dieser Begriffe, die archäologisch-genealogisch untersucht und kritisch ausgewertet werden müssen.“ (Ebd.: 51)

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

weder bewusst sein noch sie beherrschen können“ (Foucault 2005h: 704). Deshalb müssten wir „auf die Hoffnung verzichten [...], jemals einen Standpunkt zu erreichen, der uns den Zugang zur vollständigen und endgültigen Erkenntnis dessen geben könnte, was unsere historischen Grenzen auszumachen vermag“ (ebd.). Zweierlei lässt sich daraus schließen: Zum einen muss, da die Erfahrung unserer eigenen Grenzen selbst begrenzt ist, die Annäherung an das eigene Sein in seiner Bedingtheit immer wieder von Neuem begonnen werden. Kein möglicher Endpunkt kann diese Notwendigkeit der Wiederholung still stellen. Zum anderen muss aber diese Verbindung von ‚Bildung‘ und ‚Kritik‘ selbst als strategische Verbindung betrachtet werden. Es sind andere soziokulturelle Konstellationen denkbar, die einen anderen Bildungsbegriff erforderlich machen würden. Foucaults Ausgangspunkt, dass „Gefahr“ in allem droht, „was gewöhnlich ist“, und deshalb „alles das zur Frage zu machen [ist], was fest gefügt ist“ (Foucault 2005j: 751), kann deshalb – trotz des damit einhergehenden umfassenden Anspruchs – als relative Ethik bezeichnet werden, die sich zur Reformulierung des Bildungsbegriffs einsetzen lässt. Es ergibt sich darüber hinaus eine bildungstheoretisch entscheidende Besonderheit dieses ‚kritischen‘ Projekts: Es ist zentriert auf das in den verschiedenen Praktiken konstituierte Subjekt. Foucault hat nirgendwo eine ‚allgemeine‘ Form der Kritik im Blick, sondern ‚Kritik‘ meint bei ihm stets die „kritische Ontologie unserer selbst“ (Foucault 2005h: 706, Hervorhebung JL). Diese Fokussierung ist kein Zufall. Wie bereits deutlich wurde, ist das in dem Netz von Macht-Wissen-Beziehungen befindliche Subjekt ein möglicher Ansatzpunkt für die strategische Umkehr von Zwangswirkungen. In der ‚kritischen Haltung‘ wird das eigene Sein auf seine historische Bedingtheit und damit auf seine nicht-notwendigen Grenzen hin befragt. Allerdings wurde im Abschnitt 2.1 gezeigt, dass dieses ‚sich‘, das da versucht, seine eigene Geschichte zu erzählen, als unterworfenes Subjekt fremdbestimmt ist. Als ‚Subjekt‘ ist man in den gegebenen Macht- und Diskurspraktiken konstituiert. Spricht nun Foucault von der „kritische[n] Arbeit“ als einer „Arbeit entlang unseren Grenzen“ (ebd.: 707), so meint dies also die Grenzen unseres akzeptierten Subjekt-Seins. ‚Kritik‘ als Praxis der Entunterwerfung, so wird hier deutlich, riskiert dieses Subjekt-Sein. Und nur in diesem Einsatz des eigenen Seins (der nur praktisch sein kann als Erfahrung eines Sich-Aussetzens, vgl. dazu Masschelein 2004) kann die eigene Aktualität in ihrer Besonderheit erfasst und gleichzeitig verwandelt werden: „Um gegenüber einer als absolut auftretenden Autorität kritisch zu sein, bedarf es einer kritischen Praxis, die durch und durch selbst-transformativ ist.“ (Butler 2002: 256) Es wird deutlich, dass Foucaults ‚kritisches Projekt‘ der Entunterwerfung die ‚Entsubjektivierung‘ nicht nur in Kauf zu nehmen hat, sondern dass gerade sie das paradoxe Zentrum einer kritischen Ontologie unserer selbst ausmacht. Damit bietet sich ein unmittelbarer Anschluss an die Ergebnisse der Reformulierung der 123

BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

ersten beiden Dimensionen. Denn auch das Projekt der kritischen ‚Begründung‘ eines zeitgemäßen Bildungsbegriffs lenkt den Blick wiederum auf Subjektivierungspraktiken bzw. auf die Möglichkeiten, diesen Praktiken etwas entgegenzusetzen. Bei diesem ‚etwas‘ handelt sich um Momente der ‚Entsubjektivierung‘, in denen in experimentell-praktischer Weise die Bedingungen des eigenen Seins ausgetestet und damit gleichzeitig die eigene Subjektivität aufs Spiel gesetzt wird.55 Als vorläufiges Fazit kann man Folgendes festhalten: Mit Foucault lässt sich die „kritische Ontologie“ seiner selbst als ethisches Prinzip für die Reformulierung des Bildungsbegriffs fassen. Dabei scheint sich jedoch eine Art Umkehr zu vollziehen, die sich schon in den beiden vorhergehenden Dimensionen angedeutet hatte: Ziel von Bildung ist es nicht, Subjekt zu werden, Identität zu konstituieren, Wissen anzuhäufen, sich im Wahrheitsregime wie ein Fisch im Wasser zu bewegen, sondern Ziel ist die Bestimmung und der Entzug seiner Selbst (als Subjekt) durch ‚Kritik‘. Und es deutet sich an, dass dem an Foucault adressierten Vorwurf, man könne ohne autonomes Subjekt kein politisches Handeln mehr begründen, nicht nur der Boden unter den Füßen entzogen wird, sondern sich geradezu in das Gegenteil verkehrt. Entunterwerfung – als politischer Wille, nicht dermaßen regiert zu werden – bedeutet, dass „ich mich selbst zum Spieleinsatz mache“ (Butler 2002: 259) und deshalb stets riskiere „etwas zu werden [...], für das es im vorgegebenen System der Wahrheit keinen Platz gibt“ (ebd.). Der Verweis auf die in allem Gewöhnlichen lauernde „Gefahr“ (Foucault 2005j: 751) meint also nicht nur die Gefahr, sich in Gewohnheiten, Grenzen und Zwängen einzurichten, sondern ebenso das Risiko eines Verlustes einer anerkennbaren Subjektivität, wenn man diese nur scheinbar notwendigen Gewohnheiten und Grenzen problematisiert und verschiebt. Foucaults oft zitierte Zusammenfassung in der Formel Kritik als die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden (Foucault 1992: 12) bietet also tatsächlich Ansätze für eine Begründung von etwas, das man ‚Bildung‘ nennen könnte. Seine Perspektive ist der unbegründete, experimentelle und fiktionale Versuch, die Bedingungen des eigenen Seins ‚anders zu denken‘. Dies lässt nur eine ausgesprochen vage und relative Ethik zu, ohne jede Sicherheit, dass dieses ‚Anders-Denken‘ nicht selbst noch den Unterwerfungsprozeduren entspringt. 55 Jan Masschelein verfolgt eine ähnliche Perspektive. In seiner Auseinandersetzung mit Foucault kommt er zum dem Schluss, Kritik werde „der zentrale Gegenstand einer neu zu erfindenden Pädagogik, weil diese Grenz-Erfahrungen eine Form der Aufmerksamkeit, Anwesenheit und Generosität erfordern und insofern genau den Einsatzpunkt von e-dukativen Praktiken bilden. Solche Praktiken sind ‚unkomfortable‘ Praktiken, die uns zur ‚Welt‘ führen und in ihr halten, indem sie unsere immunisierenden und immunisierten Beziehungen zu uns selbst und zu anderen zugleich beleuchten und zerstören.“ (Masschelein 2004: 114)

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

Mit dieser ersten Annäherung an das, was ‚Bildung‘ mit Foucault heißen könnte, werden Fragen aufgeworfen, um die es im nächsten und letzten Abschnitt gehen soll. Wenn sich ‚Bildung‘ tatsächlich als eine Bewegung des ‚entsubjektivierenden Anders-Denkens‘ begreifen lässt, so gilt es genauer zu klären, was für Strukturmomente diese Bewegung charakterisieren und unter welchen Bedingungen sie möglich wird. Der Versuch einer solchen Annäherung an die Prozessstruktur von ‚Bildung‘ soll nun im folgenden Abschnitt unternommen werden.

2.5 Ambivalenzen: Bildung als ‚Entsubjektivierung‘? In der Sichtung neuerer bildungstheoretischer Studien wurde deutlich, dass ein theoretisch begründeter Bildungsbegriff die Frage zu beantworten hat, welche Prozessstruktur dem Geschehen von ‚Bildung‘ eignet. Denn, so Peukert, fasst man ‚Bildung‘ nicht als Resultat oder Besitz, sondern als Prozess der Veränderung, rückt die Reflexion und Bestimmung der inneren Struktur von Bildungsprozessen in das Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. Peukert 1998: 28). Dabei stammen die zentralen Ansatzpunkte aus den drei vorangehenden Dimensionen: der Konzeption des Subjekts, dem analytischen und kritisch-innovativen Gesellschaftsbezug und schließlich der ethischen Grundlage des als ‚Aufgabe‘ verstandenen Bildungsgeschehens. In ihrer Verknüpfung ergeben sie den Ausgangspunkt für den Versuch einer genaueren Bestimmung jenes Prozesses, der ‚Bildung‘ genannt werden soll. Wie gezeigt wurde, erlaubt Foucault eine produktive Reformulierung dieser ersten drei Dimensionen des Bildungsbegriffs. ‚Subjektivität‘, so wurde deutlich, wird in einem Netz aus Wahrheitsspielen, Machtbeziehungen und Selbsttechniken hervorgebracht und durch dieses geformt und begrenzt. Individuen sind damit in ein komplexes Spiel von Wissen, Macht und Ethik eingestellt, das sie auf drei Achsen subjektiviert und unterwirft. Drei Implikationen ergeben sich aus einer solchen Subjektkonzeption: Erstens macht Foucault deutlich, dass die Subjektivierungsformen keinen universellen Status haben, sondern historisch veränderlich sind. Entsprechend muss auch der Bildungsbegriff historisch je spezifisch, mit Blick auf die gegenwärtig vorherrschenden Subjektivierungsformen bestimmt werden. Zweitens arbeitet Foucault in seiner Subjektkonzeption heraus, dass Formen der ‚Führung der Selbstführungen‘ sowohl die subtilsten als auch die wirksamsten Unterwerfungsformen darstellen. Bildungstheoretisch aufgeladene Konzepte wie ‚Autonomie‘, ‚Identität‘ und ‚Emanzipation‘ müssen vor diesem Hintergrund auf ihre Verstrickung in Machtpraktiken hin befragt werden. Drittens muss die Frage gestellt werden, wie vor diesem Hintergrund ‚Bildung‘ als ein spe125

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zifisches Veränderungsgeschehen, das sich gegen diese Formen der Unterwerfung richtet, gedacht werden kann. Ein Entzug aus jenen Wissens-, Macht- und Selbstpraktiken scheint dabei in erster Näherung nur als ‚Entsubjektivierung‘ möglich. Allerdings blieb dieser Begriff unbestimmt. Die Lage ist deshalb so kompliziert, weil das Geschehen der Subjektivierung nicht als das schlichte Gegenüber von ‚Freiheit‘ und ‚Entunterwerfung‘ verstanden werden kann: Subjektivierung ist, wie im französischen Begriff des ‚assujettissement‘ deutlich wird, in sich ein ambivalenter Vorgang, denn die Unterwerfung unter spezifische Seinsbedingungen konstituiert gleichzeitig die Möglichkeit subjektiver Handlungen. In der zweiten Dimension konnte gezeigt werden, dass Foucaults analytisches Konzept der ‚Genealogie‘ eine differenzierte Gesellschaftsdiagnostik erlaubt, die einerseits die Entstehungsbedingungen des zu einer bestimmten Zeit akzeptierten Wissens, der gegebenen Machtbeziehungen und der spezifischen ‚Ethik‘ aufzeigt, andererseits kritisch die Bruchlinien bestimmt, gegen die sich dieses ‚System der Akzeptabilität‘ durchgesetzt hat. Demzufolge lässt sich unsere aktuelle Gesellschaft als ‚Kontrollgesellschaft‘ bezeichnen, die in erster Linie auf eine umfassende und sich verstärkende Subjektivierung zielt. Sie funktioniert durch subtile Kontrollprozeduren, die das Individuum dazu bringen, ein ‚Unternehmer‘ seiner selbst zu werden, der sich mittels Selbstpraktiken führt und ausarbeitet. Soll der Bildungsbegriff in Bezug auf diese soziokulturellen Bedingungen reformuliert werden, so muss er auf jene Tendenz reagieren. Ähnlich wie schon in der ersten Dimension zeigt sich dabei vor allem die Notwendigkeit, kritisch-innovativ mit der sich gleichzeitig verstärkenden und verschleiernden Tendenz zur Subjektivierung umzugehen. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass das Konzept der ‚Bildung‘ selbst Gefahr läuft, als subtiler Unterwerfungsmechanismus im Sinne einer ‚Pastoralmacht‘ zu funktionieren. Die Reformulierung der dritten Dimension des Bildungsbegriffs mit Foucault erlaubte dessen ethische ‚Begründung‘, indem mit dem Konzept der ‚Kritik‘ eine Form der Aufgabenhaftigkeit eingeführt werden konnte, die sich universalen Geltungsansprüchen verweigert. Das Ziel einer solchen als strategisches Grenzexperiment verstandenen ‚Kritik‘ besteht darin, „daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird“ (Foucault 1992: 12) und gleichzeitig selbst „mit dem geringsten Aufwand an Herrschaft“ spielt (Foucault 1985: 25). Als probates Vorgehen schlägt Foucault die Infragestellung und Verschiebung der Bedingungen unseres eigenen Seins als historisch geformte, in Machtbeziehungen stehende Subjektivität vor. Ein solch praktisch-strategisches Grenzexperiment bedeutet eine Arbeit an den Grenzen unseres akzeptierten Subjekt-Seins, die dieses als anders-möglich entwirft und damit die eigene Anerkennbarkeit riskiert. Die „kritische Ontologie unserer selbst“ (Foucault 2005h: 706) schließt damit an die beiden vorangehenden 126

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Dimensionen des ‚Bildungsbegriffs‘ an. Zum einen deutet sich hier die ‚innovative‘ Dimension von ‚Bildung‘ an: Es gilt, die Bedingungen des eigenen Seins als anders-möglich zu entwerfen. Zum anderen erhält die Forderung nach einer ‚Entsubjektivierung‘ hier ihre Basis: Kritik als eine Arbeit an den gegebenen Grenzen unseres eigenen Seins riskiert die eigene Subjektivität und entspricht genau in dieser Hinsicht dem Unternehmen einer ‚Entsubjektivierung‘. Gleichzeitig ergeben sich mit dem – eng mit der Genealogie verwobenen – Konzept der ‚Kritik‘ Hinweise auf problematische Aspekte eines solchen Geschehens. Entsprechend Foucaults Bestimmung von ‚Kritik‘ ist diese ihrem eigenen Ort gegenüber immer blind, und weder lässt sich ein Zielpunkt angeben noch im Sinne universell gültiger Kriterien entscheiden, ob ein jeweiliges ‚Anders-Denken‘ tatsächlich den Unterwerfungsmechanismen entkommt. Insgesamt ergibt sich mit dieser bildungstheoretisch orientierten Rekonstruktion Foucaultscher Begriffe, Konzepte und Theorien ein erster möglicher Ansatzpunkt für die Reformulierung von Bildung als spezifischem Prozess. Deutlich wird, dass in allen drei Dimensionen der Mechanismus der Subjektivierung in den Mittelpunkt rückt. Insbesondere vermittelt durch den Begriff der ‚Kritik‘ wird dabei auf die Möglichkeit und Notwendigkeit verwiesen, sich den Subjektivierungsmechanismen zu entziehen und die Bedingungen des eigenen Seins als anders-möglich zu entwerfen. ‚Bildung‘ ließe sich demnach als Prozess fassen, der von in Wahrheitsspielen, Machtbeziehungen und Selbstpraktiken konstituierten Subjekten ausgeht, einen analytisch-kritischen Bezug zur aktuellen Gegebenheit unserer Gesellschaft als ‚gouvernementaler Kontrollgesellschaft‘ herstellt und seine Begründung in der Aufgabe findet, das eigene Sein aufs Spiel zu setzen, um sich aus den spezifischen Regierungsformen, die dieses Sein begrenzen und bedingen, zu entziehen und diese neu zu entwerfen. Gleichzeitig wird allerdings ebenso deutlich, dass der Gedanke einer ‚Entsubjektivierung‘ als ‚Entzug‘ problematisch ist. Denn Foucault hat immer wieder darauf verwiesen, dass ein ‚Entzug‘ aus den Seinsbedingungen unmöglich ist. Stets unterhalten die Entzugsbewegungen in sich selbst undurchschaubare Verbindungen zu den Mechanismen der Unterwerfung/Subjektivierung. Die Dichotomie, die in der Rede von Subjektivierung und Entsubjektivierung suggeriert wird, erscheint vor diesem Hintergrund dem Phänomen nicht angemessen und damit auch nicht geeignet, die Klärung der Struktur von ‚Bildungsprozessen‘ unmittelbar anzuschließen. Geht man jedoch davon aus, dass ‚Entsubjektivierung‘ Voraussetzung und Teil eines Anders-Denkens und Werdens darstellt, so muss gefragt werden, wodurch sie als Moment von ‚Bildung‘ unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Gegebenheiten charakterisiert ist und wie sie möglich wird. Es gilt also, mit Blick auf ‚Entsubjektivierung‘ als mögliches Struktur- und Bedingungsmoment des

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Bildungsgeschehens erneut bei der Frage nach theoretischen und praktischen Voraussetzungen für ein Geschehen der Veränderung einzusetzen.

2.5.1 Wie ist Veränderung möglich? Die Frage nach der Möglichkeit von Veränderung wirft, wie bereits im Abschnitt 2.2 gezeigt wurde, im Rahmen von Foucaults theoretischen Überlegungen ein spezifisches Problem auf. In den bisherigen Überlegungen wurde immer wieder deutlich, dass die formierenden Diskurs-, Macht- und Selbstpraktiken unhintergehbar sind. Erst die Unterwerfung unter diese formierenden Bedingungen inauguriert überhaupt Subjekte, die durch diese Art der Subjektivierung niemals die Bedingungen ihres eigenen Seins vollständig erfassen können. Zudem gibt es kein ‚jenseits‘ dieser formierenden und regulierenden Praktiken. Subjekte sind damit Effekte eines Gefüges, das sie weder überschauen noch einfach hintergehen können. Wie aber ist die Veränderung eines solchen ‚Dispositivs‘ möglich, wenn am Ausgangspunkt der Veränderung immer nur das zu Verändernde selbst steht, nicht aber eine Instanz, die sich diesem System gegenüber in unabhängiger Opposition befindet? Bleibt nicht nur, die konstituierenden Praktiken als gegebenes System zu akzeptieren? Die Frage nach der Möglichkeit von Veränderung lässt sich im Rahmen dieser Problematik in folgender Weise genauer fassen: Um Veränderungen denken zu können, darf nicht alles in der Sphäre der Macht (bzw. der diskursiven Praxis) aufgehen, da dann nur bliebe, die gegebenen Bedingungen und Grenzen zu akzeptieren. Es muss eine Differenz eingeführt werden, ohne die Formen von Widerstand, Entzug oder Veränderung unmöglich wären. Diese Differenz kann Foucault zufolge jedoch nicht zwischen einem identifizierbaren ‚Außen‘ und einem demgegenüber klar abgegrenzten ‚Innen‘ liegen. Sie muss innerhalb der Machtverhältnisse und -praktiken selbst angenommen werden. Doch wie ist eine solche ‚immanente Differenz‘ zu denken, in welcher Weise macht sie Veränderungen möglich, und welche Rolle spielt das Subjekt darin?56 Machtbeziehungen (und Diskurse) konstituieren Subjekte in der Unterwerfung unter formierende Bedingungen. Diese Unterwerfung, die das Subjekt inauguriert, bindet es folglich an die Bedingungen seiner Entstehung, da es nur so als Subjekt, das spricht, handelt, denkt, wahrnimmt und fühlt, über-

56 Wie bereits angekündigt, beziehe ich mich im Folgenden auf Judith Butlers Überlegungen zum Verhältnis von ‚Macht‘ und ‚Wiederholung‘ bei Foucault (vgl. Butler 2001), ohne dabei jedoch in spezifischer Weise auf die Psychoanalyse einzugehen. Das Denken von Veränderung ist ein Problem, das Foucault auch schon im Zusammenhang mit der ‚diskursiven Praxis‘ beschäftigt hat (vgl. Foucault 1981). Das Vorgehen, das er dort in Bezug auf die diskursiven Praktiken vorschlägt, ist in Lüders 2004, S. 60ff. dargestellt.

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haupt bestehen kann. Macht stellt also die Voraussetzung jeglicher Subjektivität dar: Ohne ‚Macht‘ gibt es keine ‚Subjekte‘. Darüber hinaus ist das Subjekt nicht in der Lage, die es konstituierenden Bedingungen vollständig zu erfassen, da diese dem Subjekt vorausgehen und ihm keine Position jenseits dieser Bedingungen ermöglichen. Aus dieser Perspektive erscheint das Subjekt deshalb als rein passiver Spielball einer totalen ‚Macht‘, die es bedingt, inauguriert und formt und die es zudem nicht durchschauen kann. Allerdings vernachlässigt diese Perspektive einen entscheidenden Umstand: ‚Macht‘ ist nicht nur Voraussetzung für Subjektivität, sondern Subjektivität ist ebenso Voraussetzung für das Funktionieren von ‚Macht‘. Denn ‚Machtbeziehungen‘ bestehen in zeitlicher Hinsicht nicht ‚vor‘ den durch sie konstituierten Subjekten. Sie entfalten ihre Wirkungen nur in der Subjektkonstitution selbst. Das bedeutet aber zweierlei. Zum einen muss das Subjekt Machteffekte und damit die es unterwerfenden Bedingungen ‚annehmen‘. Denn will es Subjekt sein, so muss es seine bedingten Handlungen, Wahrnehmungen, Aussagen und Gefühle als eigene Handlungen, Wahrnehmungen, Aussagen und Gefühle verstehen. Die Unterwerfung wird damit aber gleichzeitig zu einer Selbstermächtigung, in der das Subjekt die Bedingungen der eigenen Subjektivierung zur Grundlage seiner Handlungen macht und so handelnd bestätigt. Zum anderen bedarf Macht, um zu funktionieren, der wiederholten Unterwerfung. Denn wenn ‚Macht‘ nur in dem Akt der Unterwerfung – also als Handlung (vgl. Foucault 2005f: 285) – existiert, so muss diese immer wieder aufs Neue stattfinden. Diese andauernde Wiederholung der Unterwerfung ist aber ebenso eine andauernde Wiederholung der Subjektivierung. Denn wenn ‚Macht‘ nicht ohne das sie anerkennende Subjekt existiert, das Subjekt jedoch in dieser Anerkennung nicht nur die Bedingungen seiner Unterwerfung wiederholt, sondern sich damit gleichzeitig als sprechendes, handelndes, wahrnehmendes und fühlendes Subjekt ermächtigt, wiederholt das Subjekt seine eigene Unterwerfung/Subjektivierung. In diese Figur der Wiederholung der eigenen Unterwerfung/Subjektivierung ist nun eine unvermittelbare Diskontinuität eingelassen. Wenn ‚Macht‘ nur mittels ihrer Wiederholung funktionieren kann, so wird allein damit bereits ein Moment der Nicht-Identität in die Machtmaschinerie eingebaut. Denn durch die Verschiebung in Zeit und Kontext ist keine Wiederholung identisch mit dem Wiederholten.57 Darüber hinaus liegt in der Unterwerfung/ Subjektivierung auch selbst eine unüberbrückbare Diskontinuität. Wenn eine auf das Subjekt ausgeübte Macht von diesem wiederholt wird, so kann zwischen diesen beiden Akten keine Kontinuität und Identität angenommen wer57 Dass jeglicher ‚Schrift‘ (bzw. jedem Zeichen) eine unhintergehbare Wiederholungsstruktur innewohnt und diese Wiederholung notwendig mit dem Anderen verbunden ist, führt Derrida in Signatur, Ereignis, Kontext aus (vgl. Derrida 1976). Butler greift diesen Gedanken der ‚Iterabilität‘ von Derrida auf.

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den, der Akt der Inauguration ist mit dem Akt der Aneignung und Wiedereinsetzung nicht identisch. Anders gesagt: Diskurs- und Machtpraktiken konstituieren das Subjekt zwar in der Unterwerfung, aber in seinen Handlungen ermächtigt sich das Subjekt, indem es seine eigene Unterwerfung herbeiführt. Das Subjekt entsteht aus dieser zeitlichen Umkehr und ist damit selbst diskontinuierlich, denn es ist passiv durch die Machtverhältnisse konstituiert und gleichzeitig aktiv als die Instanz, die sich selbst unterwirft/subjektiviert. Wie Butler schreibt, lässt sich „kein begrifflicher Übergang vollziehen zwischen der Macht, die dem Subjekt, auf es ‚einwirkend‘, äußerlich ist, und der Macht, die für das Subjekt, von ihm handelnd ‚bewirkt‘, konstitutiv ist“ (Butler 2001: 19). Im Handeln, Denken, Fühlen, Sprechen und Wahrnehmen wiederholt das Subjekt notwendig die es konstituierenden Bedingungen, ohne dass diese Akte vorab bestimmt wären. Es fehlt ein Ursprung oder ein übergreifender Bezugspunkt, der sie regulieren könnte. Die Mechanismen der Unterwerfung/ Subjektivierung sind demzufolge von einem Riss durchzogen, der weder vollständig kontrollierbar noch beherrschbar ist, und eben dies eröffnet nicht nur die Möglichkeit für Zufälle und ‚Ereignisse‘, sondern auch Handlungsspielräume für Widerstand. Machtverhältnisse werden also als formbar angenommen, sofern die Bedingungen des eigenen Seins in der diskontinuierlichen Wiederholung verändert werden können. Damit ist begründet, wie eine Veränderung der Seinsbedingungen möglich ist: „Wir sind“, so Foucault, „niemals von der Macht in die Falle getrieben worden: Man kann stets, unter bestimmten Bedingungen und nach einer genauen Strategie, ihren Zugriff verändern.“ (Foucault 2003b: 352) Allerdings ist damit noch nichts darüber gesagt, wie diese ‚bestimmten Bedingungen‘ aussehen und welche Strategien verfolgt werden müssen, um das der Wiederholung inhärente Veränderungspotenzial tatsächlich zu realisieren.

2.5.2 Die Unwahrscheinlichkeit von Veränderung Auch wenn im vorangehenden Abschnitt deutlich wurde, dass die Möglichkeit zur Veränderung systematisch begründet ist, so ist damit noch nicht gesagt, dass diese Veränderungen automatisch erfolgen. In seiner Inauguralvorlesung Die Ordnung des Diskurses macht Foucault diesen Unterschied deutlich, indem er zeigt, dass die Ereignishaftigkeit formierender Praktiken zwar immer gegeben ist, jedoch durch spezifische Wirkungen von Machtbeziehungen in vielfältiger und umfassender Weise begrenzt wird. Diskontinuität, Ereignishaftigkeit und Zufälligkeit sind, wie Foucault dort am Beispiel der diskursiven Praktiken zeigt, eher die Ausnahme als der Regelfall. Denn vielschichtige und ausgefeilte Prozeduren fließen in die Produktion von Diskursen ein, die diese einschränken und in ihrer Ereignishaftigkeit neutralisieren. 130

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Foucault unterscheidet beispielhaft drei Gruppen solcher ‚Machtprozeduren‘. Erstens werde durch Verbote, Grenzziehungen und Ausschließungsmechanismen die Macht des Diskurses begrenzt. Zweitens werde der dem Diskurs immanenten Zufälligkeit und Ereignishaftigkeit durch Identitätsprinzipien wie Kommentar, Autor oder Disziplin begegnet. Drittens schränkten Rituale, Doktrinen und gesellschaftliche Aneignungsvorgaben und Raumbegrenzungen die sprechenden Subjekte ein (vgl. Foucault 1991). Diese Momente von ‚Macht‘ sind in der bisherigen Darstellung weitgehend unerwähnt geblieben. Stets wurde betont, dass Foucault ‚Macht‘ in Abgrenzung zur „Repressions-“ oder „Gesetzes-Macht“ als produktiven Wirkmechanismus versteht. Vernachlässigt wurde dabei, dass Foucault selbst herausarbeitet, inwiefern Macht nicht nur produktiv, sondern auch selektiv und exklusiv ist. Sie ermöglicht, wirkt aber ebenso einschränkend und zurichtend: Sie grenzt aus, individualisiert, vereinnahmt und normalisiert.58 Interessant ist, dass Foucault eben diese zurichtenden und beschränkenden Wirkungsmechanismen von Macht als entscheidende ‚Antriebsformen‘ oder ‚Entzündungsherde‘ von Widerständen betrachtet. „Machtbeziehungen lösen ständig Widerstand aus, sie provozieren und ermöglichen Widerstand. Gerade weil Widerstand möglich ist und auch wirklich geübt wird, versucht der jeweils Mächtige seine Macht umso heftiger und listiger zu verteidigen, je stärker der Widerstand dagegen ausfällt. [...] Überall ist Kampf – zum Beispiel die ständige Revolte des Kindes, das bei Tisch den Finger in die Nase steckt, um seine Eltern zu ärgern. Auch das ist Rebellion.“ (Foucault 2003c: 525) In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass ‚Macht‘ eine in ihrer Form und Wirkungsweise historisch veränderliche Größe darstellt (vgl. Kapitel 2.1). Entsprechend verändern sich auch die Entzündungsherde für den Widerstand und auch die in der subjektivierenden Unterwerfung miterzeugten Widerstandspotenziale. Deutlich wird, dass sich an dieser Stelle die Überlegungen zur Möglichkeit einer Veränderung der unterwerfenden Bedingungen mit der Frage nach den tatsächlichen Seinsbedingungen kreuzen. Denn die vorherrschenden Machtformen gehen nicht nur mit typischen Unterwerfungsweisen, sondern mit ebenso charakteristischen Widerstandsformen einher. Nicht umsonst schlägt Foucault vor, ausgehend von den spezifischen Widerständen die jeweiligen Machtformen zu analysieren (vgl. Foucault 2005f: 273). Und wenn Foucault spezifische Gegenstände auf eine besondere Weise analysiert, 58 Diesen Mechanismus einer ermöglichenden und gleichzeitig verunmöglichenden – einer exklusiven und selektiven – Ordnung hat Bernhard Waldenfels in umfassender Weise ausgearbeitet (vgl. Waldenfels 1987). Zwar bezieht er sich dabei, abgesehen von wenigen Verweisen, nicht auf Foucaults Machtbegriff, die entsprechenden Überlegungen zu den Eigenschaften von Ordnungen scheinen mir aber übertragbar. Zumal Waldenfels selbst auf das „Problem der Macht“ verweist, das sich im Ordnungsgeschehen „meldet“ (ebd.: 112).

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so liegt, wie er selbst meint, die „Triebkraft“ dafür genau in den aktuellen „Fragen, Problemen, Wunden, Verunsicherungen und Ängsten“ der ihn umgebenden Gesellschaft (vgl. Foucault 2003c: 523). Denn, wie Foucault an anderer Stelle ausführt, „wenn es keinen Widerstand gäbe, gäbe es keine Machtbeziehungen. Weil alles einfach eine Frage des Gehorchens wäre“ (Foucault 2005m: 916). Zwischen Macht und Widerstand besteht also eine Korrelation. Eine spezifische Machtbeziehung in einer besonderen historischen Konstellation bringt genauso spezifische Gegentendenzen hervor, die damit nicht als das Gegenüber dieser Machtbeziehung verstanden werden können, sondern als ihre ‚Kehrseite‘. Einsichtig wird damit, weshalb bestimmte Formen des Widerstandes zu bestimmten historischen Zeitpunkten oder in spezifischen Situationen auftreten (und ‚passender‘ scheinen), andere nicht. Man könnte z.B. annehmen, dass eine extreme Unterwerfung unter Gesetze und Institutionen eher eine gewaltsame Revolte hervorruft als die Unterwerfung unter soziale Normen einer in Allianzstrukturen lebenden Gemeinschaft. Und zwar deshalb, weil es sich um völlig unterschiedliche ‚Subjektivierungstypen‘ handelt. Überträgt man diese Überlegungen nun auf die aktuell gegebene Konstellation von Machtmechanismen, so lässt sich Folgendes annehmen: Wenn gegenwärtig die am stärksten unterwerfende (und damit begrenzende) Machtpraktik die Führung der Selbstführung darstellt, so muss in dieser auch der Entzündungsherd für eventuelle Widerstandspraktiken liegen. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass dieser Widerstand das Moment einer ‚Entsubjektivierung‘ umfassen müsste. Dabei ist die Möglichkeit einer Entsubjektivierung als Widerstand gegen die ‚Führung der Führungen‘ systematisch prinzipiell gegeben. Das in der Wiederholung der eigenen Unterwerfung liegende Potenzial wird jedoch eher selten aktualisiert, da die Machtbeziehungen darauf gerichtet sind, diese Potenziale zu neutralisieren, um so die Bedingungen zu reproduzieren, statt sie zu transformieren. Dies funktioniert deshalb so gut, weil die Machtbeziehungen nicht das direkt sichtbare ‚Außen‘ eines unterdrückten ‚Innen‘ darstellen. Vielmehr ist jede Handlung ihrem Ansatz nach ambivalent: Sie kann sowohl subjektivierend als auch entsubjektivierend wirken, da die Wiederholungsstruktur der Unterwerfung immer beide Richtungen eröffnet: die der Bestätigung der eigenen Subjektivität oder die der kritischen Infragestellung der Bedingungen des eigenen Seins, die dieses aufs Spiel setzt und es als anders-möglich entwirft. Zu fragen ist nun, wie Foucault mit dieser Ambivalenz umgeht und welche Möglichkeiten von ‚Entsubjektivierung‘ als Widerstand gegen die Bedingungen der eigenen Unterwerfung er vor diesem Hintergrund tatsächlich gegeben sieht.

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2.5.3 Foucaults Projekt einer ‚Entsubjektivierung‘ Foucault selbst verfolgt das Projekt einer ‚Entsubjektivierung‘ auf doppelte Weise. Einerseits entwirft und reflektiert er in seinen Schriften, Vorträgen und Interviews dessen Umrisse, andererseits macht er es zum praktischen Zentrum seiner eigenen Forschung, insofern er sein eigenes Schreiben als Experiment einer entsubjektivierenden Praxis versteht (vgl. Foucault 1996: 28ff.). Doch trotz des zentralen Stellenwerts, den die ‚Entsubjektivierung‘ innerhalb von Foucaults Forschungspraxis einnimmt, sucht man vergeblich nach einer zusammenfassenden, kohärenten Darstellung der Charakteristika und Bedingungen eines solchen Geschehens. Zum Teil liegt diese fehlende Kohärenz darin begründet, dass sich Foucault besonders oft in Gesprächen und Interviews über seine eigene Forschung äußerte. Der damit einhergehende, gegenüber Aufsätzen und Büchern unverbindlichere Charakter führt leicht zu Uneindeutigkeiten und scheinbaren Widersprüchlichkeiten. Darüber hinaus machte Foucault aber immer wieder deutlich, dass diese Verschiebungen und Unklarheiten zum Modus der entsubjektivierenden Praxis selbst gehören. Niemals wollte Foucault ein ‚Theoretiker‘ sein, der Gewissheiten und Wissen in ein systematisches Begriffssystem einstellt, das bis auf Weiteres Anspruch auf Geltung erhebt. Lieber gab sich Foucault als „Experimentator“ (Foucault 1996: 24), der denkt, spricht, schreibt und handelt, um „nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden die verstreuten Hinweise auf das Projekt der ‚Entsubjektivierung‘ aufgegriffen werden. Vor allem in seinem Interview mit Ducio Trombadori bezieht sich Foucault explizit auf das „Unternehmen“ einer „Ent-Subjektivierung“ (Foucault 1996: 27), das er eng mit dem Begriff der ‚Erfahrung‘ verknüpft. Als Gewährsmänner dienen Nietzsche, Blanchot und Bataille, die aus Sicht Foucaults der ‚Erfahrung‘ die Funktion zusprechen, „das Subjekt von sich selbst loszureißen, derart, daß es nicht mehr es selbst ist oder daß es zu seiner Vernichtung oder zu seiner Auflösung getrieben wird“ (ebd.). Erfahrung ist damit, wie Foucault etwas abgeschwächt zusammenfasst, ein spezifisches Geschehen, das „eine Veränderung erlaubt, einen Wandel in unserem Verhältnis zu uns selbst und zur Welt“ (ebd.: 31); es verwehre, „derselbe zu bleiben wie bisher oder zu den Dingen, zu den anderen, das gleiche Verhältnis zu unterhalten“ (ebd.: 34). Diese Bestimmung ist insofern bemerkenswert, als hier mögliche Anschlüsse von Foucaults Überlegungen an die Bildungstheorie deutlich werden. Auch für Foucault geht es um den Wandel, i.e. die Transformation des Verhältnisses zur Welt, zum anderen und zu uns selbst. Und auch er beschäftigt sich mit der Frage, weshalb unter den gegebenen Bedingungen ein solcher Wandel wünschenswert ist und wie er möglich wird. Offen bleibt allerdings, wie Foucault Selbst-, Welt- und Anderenverhältnisse als 133

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veränderbare Subjektivität denkt bzw. wie und wo genau hier die Erfahrung als Motor der ‚Entsubjektivierung‘ eingreift. Neben den Formulierungen, wie die eine Art Vollständigkeitsanspruch auf die Wandlungsvorgänge suggerierende Rede von der Erfahrung als „etwas, aus dem man verändert hervorgeht“ (ebd.: 24), bietet Foucault nur recht vage Hinweise darauf, was ‚Veränderung‘ heißen könnte: Etwas „mit anderen Augen wahrnehmen“ (ebd.: 32) oder „nicht mehr dasselbe [...] denken wie zuvor“ (ebd.: 24). Zieht man andere Passagen hinzu und geht man von den bisherigen Überlegungen aus, so kann diese Veränderung nicht radikal gemeint sein in dem Sinne, dass sich das Subjekt tatsächlich ‚auflöst‘ bzw. sich vollständig aus den Grenzen seines eigenen Seins zu entfernen vermag. Wie schon mehrfach betont wurde, lassen sich die eigenen Bedingungen des Sprechens niemals hintergehen, da sie ihm vorausgehen. Stets läuft man Gefahr, sich durch Strukturen bestimmen zu lassen, deren man sich nicht bewußt ist und die man nicht beherrscht (vgl. Foucault 2005h: 704). Entsprechend müssten wir „auf die Hoffnung verzichten [...], jemals einen Standpunkt zu erreichen, der uns den Zugang zur vollständigen und endgültigen Erkenntnis dessen geben könnte, was unsere historischen Grenzen auszumachen vermag“ (ebd.). Doch noch ein zweiter Grund spricht gegen die Möglichkeit einer radikalen Form der ‚Entsubjektivierung‘. Denn das von Foucault angenommene Machtgefüge ist zwar begrenzend, aber nicht statisch. Ständig finden Veränderungen im Gefüge aus Macht, Wissen und Selbstpraktiken statt. Wie Foucault beispielhaft im Bereich des ‚Wissens‘ zeigt, bedarf jedes erkannte neue Objekt (z.B. der ‚Wahnsinn‘) eines erkennenden Subjekts (in diesem Fall das vernünftige Subjekt, das den Wahnsinn erkennen und verstehen kann) (vgl. Foucault 1996: 47f.). Jenes Subjekt wird also mit den Dingen zusammen konstituiert, ohne dass man dabei notwendigerweise von einer ‚Entsubjektivierung‘ (und noch weniger: von ‚Bildung‘) sprechen würde: „Der Mensch ist ein Erfahrungstier: Er tritt ständig in einen Prozeß ein, der ihn als Objekt konstituiert und ihn dabei gleichzeitig verschiebt, verformt, verwandelt – und der ihn als Subjekt umgestaltet.“ (Ebd.: 85) Es findet dabei nicht automatisch eine Verringerung von Regierung und Führung statt. Wenn der ‚Erfahrung‘ die Funktion zugesprochen wird, Wandel in der gegebenen Subjektivität zu bewirken, so stellt sich zudem eine weitere Frage: Produziert das Subjekt diese Erfahrung selbst oder ist es ihr als eine Art ‚Ereignis‘ ausgesetzt? Anders gefragt: Muss der Prozess der Erfahrung und damit auch der Prozess der Entsubjektivierung als aktiv oder als passiv gedacht werden? Foucaults vielfältige Bestimmungen des Erfahrungsbegriffs sind hier ausgesprochen uneindeutig. Wenn Foucault etwa erzählt, dass er seine eigenen Bücher stets als unmittelbare Erfahrungen verstanden habe, die darauf zielen, ihn von sich selbst loszureißen und ihn daran zu hindern, derselbe zu sein, so scheint diese Erfahrung eine aktiv produzierte zu sein. Dieser Ein134

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druck wird dadurch unterstützt, dass Foucault die Entsubjektivierung als eine „Unternehmung“ (Foucault 1996: 27) und als etwas „Selbstfabriziertes“ (ebd.: 30) bezeichnet oder an anderer Stelle davon spricht, dass er ein „Experimentator“ in dem Sinne sei, dass er schreibe, um sich selbst zu verändern. Gegenüber dieser aktiven Produktion ist eine Erfahrung aber eben so sehr dasjenige, was alle Planbarkeit und Steuerbarkeit überschreitet. Sie ist immer schon „in Gang“ (ebd.: 34), so dass man sich lediglich in sie einschreibt; sie ist derjenige Prozess, in den der Mensch eintritt, „der ihn als Objekt konstituiert und ihn dabei gleichzeitig verschiebt, verformt, verwandelt – und der ihn als Subjekt umgestaltet“ (Foucault 1996: 85). In diesem Sinne ist das Subjekt einer Erfahrung ausgeliefert, die „verwehrt, derselbe zu bleiben wie bisher“ (ebd.). Betrachtet man den im französischen Original eingesetzten Begriff der expérience, so zeigt sich, dass diese Doppeldeutigkeit bereits im Begriff selbst angelegt ist. ‚Expérience‘ bedeutet sowohl ‚Erfahrung‘ als auch ‚Experiment‘. Im Französischen existieren keine zwei Bezeichnungen für die eher passiv erlebte ‚Erfahrung‘ und das eher aktiv produzierte ‚Experiment‘. Im Rahmen einer expérience ist das ‚Subjekt‘ Erfahrungen demzufolge ebenso ausgeliefert, wie es diese gleichzeitig im praktischen Experiment provoziert. Es kann damit nicht einem der dichotomen Pole von aktiv oder passiv zugeordnet werden. Denn weder kann es die Effekte steuern, noch ist es ihnen hilflos ausgeliefert. Es bewegt sich jenseits der Opposition von Heteronomie und Autonomie und ist genauso Movens wie Effekt eines solchen Prozesses. Expérience ist etwas, das dem Subjekt als seine Subjektivität gegeben ist und von diesem als seine Subjektivität ausgeht, diese aber in unvorhersehbarer Weise zu irritieren vermag. Es besteht aber noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen dem ‚Experiment‘ und der ‚Erfahrung‘: Beide unterliegen spezifischen Ausgangsbedingungen und beide haben einen zwar erwarteten, aber prinzipiell offenen Ausgang. Diese Ausgangsbedingungen und damit die ‚Grenzen‘ der Erfahrung hat Foucault immer wieder hervorgehoben und in genauerer Weise als konstitutives Moment für Subjektivität gefasst. Er unterscheidet dabei „Grundelemente jeder Erfahrung“, die sich in unterschiedlichen Situationen und soziokulturellen Gegebenheiten auf unterschiedliche Weise verbinden: Wahrheitsspiele, Machtbeziehungen und Formen einer Selbstbeziehung sowie Beziehung zu anderen (vgl. Foucault 2005i: 731). Und es ist Foucaults erklärtes Projekt, die ‚Erfahrungen‘ als historische und gesellschaftlich spezifische Konstellationen zu untersuchen, die Individuen auf den drei Achsen von Wissen, Macht und Selbst dazu bringen, sich als wahnsinnige, delinquente, sexuelle, arbeitende, begehrende, forschende, sprechende oder biologische Sub-

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jekte zu erkennen.59 In diesem Sinne ist z.B. Foucaults Frage zu verstehen, wie das moderne Individuum die Erfahrung seiner selber als Subjekt einer ‚Sexualität‘ machen konnte (vgl. Foucault 1989: 10). Die spezifische Erfahrungsweise hängt deshalb eng mit den jeweiligen kulturell vorherrschenden Problematisierungsfeldern zusammen. Erst die Problematisierung gibt das eigene Sein als „eines, das gedacht werden kann und muß“ (ebd.: 19). So führte z.B. das ausgehend von sozialen und ärztlichen Praktiken definierte ‚Normalisierungsprofil‘ zur ‚Problematisierung‘ des ‚Anormalen‘ und damit einerseits zu einer (im Wissen begründeten) Unterscheidung zwischen ‚Pathologischem‘ und ‚Normalem‘, andererseits zur Konstitution seiner selbst als ‚wahnsinniges‘, ‚delinquentes‘ oder ‚gesundes‘ Subjekt. Als aktuelle vorherrschende Problematisierungsfelder, die spezifische Erfahrungen vorschreiben, nennt Foucault unter anderem die „Beherrschung oder Erkenntnis seiner selbst, mit denen der Einzelne seine Identität festlegen, aufrechterhalten oder im Blick auf bestimmte Ziele verändern kann oder soll“, und die damit einhergehenden Fragen, „was man mit sich selbst tun, welche Arbeit man an sich verrichten und wie man ‚Herrschaft über sich selbst erlangen soll durch Aktivitäten, in denen man selbst zugleich Ziel, Handlungsfeld, Mittel und handelndes Subjekt ist“ (Foucault 2005e: 259). Auch hier trifft man also wiederum auf spezifische Formen des ‚gouvernement‘, die sich auf die Selbstführung der Subjekte durch spezifische Selbstpraktiken richten. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Annahme stützen, dass diese Selbstpraktiken auch den Ausgangspunkt für die Erfahrung der Entsubjektivierung bilden. Tatsächlich lässt sich an dieser Stelle die Idee einer Wiederholungsstruktur mit der experimentellen/erfahrenden Selbstpraktik verbinden. Foucault arbeitet die entsprechende Figur sowohl in Bezug auf die Diskurs- als auch in Bezug auf die Macht- und die Selbstpraktiken aus. Die allgemeine Figur besteht in einer strategischen Wiederholung der unterwerfenden Bedingungen, die sich durch eine kritische Rückwendung auf diese Bedingungen des eigenen Seins auszeichnet. Es handelt sich dabei um das bereits ausführlich dargestellte Projekt einer Kritik als ‚Grenz-Experiment/Grenz-Erfahrung‘ also als Praxis, deren Gegenstand das eigene Sein in seinen Grenzen und Bedingungen darstellt. Ein Subjekt, d.h. ein den Bedingungen seines Seins unterworfenes Individuum, wiederholt dabei in seinem Denken, Sprechen, Handeln und Wahrnehmen diese Bedingungen ‚strategisch‘, insofern es die Gegebenheiten als anders-möglich entwirft.

59 Diese drei Achsen sind sehr umfassend zu verstehen. Sie beziehen sich auf alle Aspekte von Denken, Wahrnehmen, Handeln, Sprechen, Bewegen und Fühlen. So macht Foucault verschiedentlich deutlich, dass solche Erfahrungsbedingungen sich beispielsweise auch in Fotos, Raumkonzeptionen, sexuellen Praktiken und Musik manifestieren und konstituieren.

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

Der Verweis auf die ‚Strategie‘ impliziert zweierlei. Auf der einen Seite verweist der Begriff der ‚Strategie‘ auf die Möglichkeit, in gegebenen Situationen (des ‚Spiels‘ oder des ‚Krieges‘) mit entsprechenden Mitteln und durch ein spezifisches Vorgehen eine bessere (und das heißt auch: eine andere) Position zu erlangen. Als entscheidend erachtet Foucault dabei, die Gegebenheiten als Zusammenhänge aus vielfältigen Elementen – Prozessen, Ereignissen, Mechanismen, Zufällen, Kraftspielen, Zusammentreffen, Unterstützungen, Blockaden, Taktiken, Normen usw. – zu benutzen. Nimmt man die Dinge in dieser Weise wahr, so gelangt man Foucault zufolge „zu einer Art kausaler Demultiplikation“ (Foucault 2005a: 30), in der scheinbar evidente, universale und notwendige Gegebenheiten in heterogene, strategische und kontingente Elemente zerfallen. Eine solche analytische Trennung und (strategische, fiktive) Neuzusammensetzung der Elemente ermöglicht und ist jene Erfahrung der Entsubjektivierung. Auf der anderen Seite erinnert dieser Begriff der Strategie aber auch daran, dass diese Selbstpraktik im Rahmen eines Grenz-Experiments immer in der Ambivalenz zwischen Subjektivierung und Entsubjektivierung steht. Sie kann ebenso Moment der Unterwerfung wie Widerstand sein. Wie Menke in seinem Aufsatz „Zweierlei Übung“ (Menke 2003) deutlich macht, ist die Trennung zwischen subjektivierenden und entsubjektivierenden Selbstpraktiken tatsächlich außerordentlich schwierig. Menke führt dies anhand des Begriffs der ‚Übung‘ aus, den er von Foucault in unterschiedlicher Weise gebraucht sieht. Der erste Begriff von ‚Übung‘ entstammt Menke zufolge der Schrift Überwachen und Strafen (Foucault 1994) bzw. der Aufsatz- und Gesprächssammlung Mikrophysik der Macht (Foucault 1976). Er verweist auf die spezifische (subjektivierende) Technik in einer politischen Technologie des Körpers, mittels derer eine Unterwerfung erzielt wird. Geübt wird, um den Körper zu disziplinieren und die Seele zu formen. Den zweiten Begriff von ‚Übung‘ findet Menke in einer Sammlung von Gesprächen zwischen Foucault und den amerikanischen Philosophen bzw. Anthropologen Dreyfus und Rabinow zur Genealogie der Ethik (vgl. Dreyfus/Rabinow 1987). Er bezeichnet das Erlernen der Kunst des Lebens durch Übung bzw. Askese, die der Bestimmung des Verhältnisses zu sich selbst und der (entsubjektivierenden) Ausarbeitung dieses Selbstverhältnisses dient. Die Schwierigkeit liege nun in der Unterscheidung dieser beiden Begriffe von ‚Übung‘: „In beiden Kontexten von Foucaults Werk – der Analytik der Macht in seiner mittleren und der der Ästhetik der Existenz in seiner späten Phase – kommt der Praxis der Übung eine zentrale Bedeutung zu, weil sie das Medium der Konstitution von Subjektivität ist. Damit verweist der Bezug auf die Praxis der Übung in beiden Kontexten [...] auf eine tiefgreifende Gemeinsamkeit der Subjektbegriffe, die der Macht der Disziplin und der Ästhetik der Existenz zugrunde liegen: Beide, das [...] ‚disziplinäre‘ und das ‚ästhetischexistentielle‘ Subjekt, bilden sich übend. Negativ heißt das, daß sich zu üben 137

BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

nicht als solches schon eine ästhetisch-existentielle Praxis freier Lebensführung ist; sich zu üben kann auch eine Praxis der Disziplinierung sein.“ (Menke 2003: 284f.) Menke hebt also hervor, wie nahe sich die beiden Formen der ‚Übung‘ stehen. Weder unterschieden sie sich in ihrem Inhalt, noch gebe es eine ‚Methode‘ der Übung, der man folgen könne, um der Disziplinierung zu entkommen. Jede Übung könnte prinzipiell subjektivierend oder entsubjektivierend bzw. disziplinierend oder befreiend wirken, und keine Anleitung (aber auch kein Bruch mit einer Anleitung) könne sicherstellen, dass man eine ästhetisch-existentielle Übung ausführt (vgl. Menke 2003: 299).60 Dennoch meint Menke bei Foucault Anhaltspunkte zu erkennen, die zu einer Unterscheidung zwischen diesen beiden Formen der Selbstpraktik beitragen könnten. Er weist darauf hin, dass die ‚befreiende‘ Übung ewige Wiederholung beinhaltet, d.h. in Rechnung stellt, dass eine ästhetisch-existentielle Übung als Experiment an der Grenze des eigenen Seins (die das eigene Sein als anders-möglich imaginiert) niemals still gestellt, d.h. niemals ‚erfüllt‘ werden kann. Verlauf und Ziel dieser übenden Praktik seien und blieben deshalb unbestimmt und zeitigten unvorhersehbare, d.h. nicht im Vorhinein abzusichernde Effekte. Demgegenüber diene die ‚Disziplinierung‘ der Erfüllung einer vorgegebenen Norm/ Normalität, und die gouvernementale ‚Regierung‘ und ‚Führung‘, so könnte man im Anschluss an Menke ergänzen, versucht einen gegebenen Möglichkeitsraum vorzustrukturieren. Die diesen Vorgaben folgende (bzw. aus ihr resultierende) Selbstpraktik sei eine Übung, deren Ziel vorherbestimmt, festgelegt und damit erreichbar ist. Menke nennt demzufolge die offene wiederholte Selbstpraktik ‚Übung‘ und die Ausführung einer erworbenen oder zu erwerbenden Fähigkeit innerhalb einer teleologischen Ordnung ‚Tätigkeit‘ (vgl. Menke 2003: 298). Der erkennbare Unterschied liegt Menke zufolge einzig in dem, was Foucault ‚Haltung‘ nennt. Die Haltung, mit der eine Übung/Tätigkeit ausgeführt wird, könne nicht durch Entscheidungen erworben werden und 60 Obwohl Menke das Problem der „Kippfigur“ (ebd.: 285) zwischen disziplinärem und ästhetisch-existenziellem Subjekt genau herausarbeitet, vernachlässigt er mit seiner Unterscheidung von ‚disziplinärer‘ und ‚ästhetisch-existenzieller‘ Übung einen Aspekt, der die Problematik noch verstärkt. Menke versäumt es, bei seiner Unterscheidung zwischen der Übung als Disziplinartechnik und der Übung als Befreiungstechnik die Formen gouvernementaler Macht einzubeziehen. Er begrenzt seine Überlegungen auf den Unterschied zwischen ‚Disziplin‘ und ‚Autonomie‘. Vor dem Hintergrund gouvernementaler Forderungen nach mehr Autonomie, besserer Selbstführung und größerer Individualität gerät aber auch das Konzept der ‚Autonomie‘ selbst in die Kritik. Ich habe diese Problematik bereits im Kapitel 2.2 erläutert mit dem Hinweis, dass die Gefahr besteht, dass das gouvernementale Prinzip der ‚Führung der Führungen‘ möglicherweise den Bildungsbegriff unterläuft. Menkes Unterscheidung zwischen ‚Normalisierung‘ und ‚Autonomie‘ erscheint also, zieht man gouvernementale (Selbst-) Praktiken in die Überlegungen mit ein, unterkomplex.

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

lasse sich auch nicht an Entscheidungen festmachen. Sie drücke sich allein in der Art und Weise des Umgangs mit Tätigkeiten und Erfahrungen aus. Menke zufolge kann also jede Praxis beides sein. Es komme deshalb auf die Haltung bzw. jenes bereits erwähnte strategische Moment in dieser Praxis an. Eine ‚Übung‘ muss quasi beides gleichzeitig sein, ähnlich wie die Figur der Annäherung an das eigene Archiv. Sie wiederholt und konstituiert die Unterwerfung (es ist keine zeitliche Reihefolge auszumachen), gleichzeitig bricht sie mit ihr.

2.5.4 Strukturmomente von ‚Bildung‘ Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen zum Geschehen der ‚Entsubjektivierung‘ gilt es nun erneut zu fragen, was sich im Anschluss daran über die Prozessstruktur und die Bedingungen eines Bildungsgeschehens sagen lässt. Deutlich wurde, dass Momente der ‚Entsubjektivierung‘ durch Selbstpraktiken provoziert werden, die in einer kritischen Wendung auf die Bedingungen des eigenen Seins diese strategisch wiederholen und dabei als anders-möglich entwerfen. Deutlich wurde aber auch, dass sich diese Praktik des Selbst im Spannungsfeld von Subjektivierung durch Kontrolle/Führung und Entsubjektivierung durch die Erfahrung der Bedingtheit und Kontingenz des eigenen Seins bewegt: Entsubjektivierung ist nicht nur unwahrscheinlich, sondern auch in einer Ambivalenz befangen, die eine einfache Identifizierung unmöglich macht. Fragt man nun, was damit an Möglichkeiten für die Reformulierung des Bildungsbegriffs gewonnen wurde, so lohnt es, die bereits angedeuteten Analogien von Foucaults Überlegungen zu bildungstheoretischen Konzepten noch einmal aufzugreifen. Foucault spricht in seinem Interview mit Ducio Trombadori im Zusammenhang mit dem Begriff der ‚Erfahrung‘ von einer Änderung des Verhältnisses zu uns selbst und zur Welt. Obwohl Foucault diese Rede von einer Änderung nicht weiter ausgeführt hat, bieten seine Überlegungen doch die Möglichkeit, diese Änderung genauer zu fassen. In der Betrachtung der Wiederholungsstruktur der Subjektivierung/Unterwerfung konnte eine unhintergehbare Diskontinuität ausgemacht werden, die die systematische Voraussetzung für Veränderung darstellt. Die Annahme einer einerseits nicht identifizierbaren, andererseits nicht still zu stellenden Diskontinuität zieht aber eine Konsequenz nach sich, die in bildungstheoretischer Hinsicht entscheidend ist: Wenn Subjektivität nie vorausgesetzt werden kann, da sich Inauguration und Ermächtigung gegenseitig bedingen, ohne in einem logisch-kausalen Verhältnis zueinander zu stehen, so bleibt der ‚Seins-Grund‘ eines Subjekts notwendig unbestimmt. Das Subjekt kann sich seines ‚Selbst‘ prinzipiell nie sicher sein. Gewiss ist nur das, was in den spezifischen Bedingungen des Seins als ‚Subjektivität‘, also als Verhältnis zum (unbestimmten) ‚Selbst‘ und zur Welt 139

BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

gegeben ist. Seinsgewissheit und Seinsungewissheit liegen also sozusagen auf zwei verschiedenen Ebenen: Während die Seinsungewissheit systematisch gegeben ist und jede Selbstgewissheit verunmöglicht, liegt die Seinsgewissheit auf der Ebene der Diskurs- und Machtpraktiken, also in dem, was man das in Praktiken konstituierte, sich selbst und der Welt immer nur mittels Zeichen zugängliche ‚mediale Subjekt‘ nennen könnte. Gewissheit ist demnach nur als Überlagerung oder Verschattung jener radikalen (aber gleichzeitig auch nie ‚erfassbaren‘ oder ‚identifizierbaren‘) Seinsungewissheit denkbar.61 Vor dem Hintergrund der Frage nach Möglichkeiten der Veränderung bietet sich damit eine Unterscheidung an: Es ist denkbar, dass ein Subjektivierungsmuster ein anderes ablöst‚ sich die Bedingungen des Seins also wandeln, dabei aber keine ‚Entsubjektivierung‘ stattfindet. Demgegenüber lässt sich vermuten, dass die Ungewissheit des eigenen Seins als Voraussetzung für unvorhersehbare Effekte eine (qualitativ) andere Möglichkeit der Veränderung bietet, die mit dem Begriff der ‚Entsubjektivierung‘ angesprochen ist. Diese andere ‚Qualität‘ besteht darin, dass gerade jene Möglichkeiten der Selbstermächtigung aufs Spiel gesetzt werden, die mit dem Akt der Unterwerfung/ Subjektivierung gegeben sind. Wie gezeigt wurde, ist Subjektivierung ein zentraler Mechanismus gegenwärtiger sozialer Zusammenhänge. Die öffentlichen Debatten zum Kompetenzerwerb, zur Elitenbildung und zu Bildungsstandards zeigen, dass es gesellschaftspolitisch um eine immer stärker zunehmende Führung der Subjekte geht. Es wird damit ein Möglichkeitsfeld strukturiert, in dem das Subjekt zu immer größerer Autonomie, Effizienz und Flexibilität geführt wird. Dieses ‚Empowerment‘ lässt sich insgesamt fassen als Aufforderung zur ‚Selbstvergewisserung‘ der Subjekte. Gegenüber einer Gesellschaft, die in zunehmendem Maße mit Pluralität, Heterogenität und Exklusionswirkungen konfrontiert ist, scheint diese Ausrichtung auf eine sub61 Den Begriff der ‚Seinsungewissheit‘ übernehme ich von Rainer Kokemohr (vgl. Kokemohr 2004). Er geht davon aus, dass Seinsungewissheit eine vorauszusetzende Grundstruktur menschlichen Lebens darstellt. Unter anderem in Bezug auf Lacan versucht er zu zeigen, weshalb diese Seinsungewissheit nur selten hervortrete, dann aber die Möglichkeit für Bildungsprozesse biete. „Bildungsprozesse“, so seine These, „vollziehen sich [...] in der Wahrnehmung von Seinsungewissheit. Bildungsprozesse ‚erschüttern‘ uns in unserem Welt- und Selbstverhältnis oder in bestimmten seiner Figuren.“ (Ebd.: 3) Eine ähnliche Figur der „different bleibende[n] Einheit von sozialem Selbst und transzendentem Anderen, die ein ungebrochenes Selbstverhältnis kaum vorstellbar macht“ (Schäfer 1999: 9), steht auch im Mittelpunkt vieler (bildungstheoretisch interessierter) Texte Alfred Schäfers (vgl. auch Schäfer 2005b). In noch anderer Ausrichtung verweisen auch Andrea Liesner und Michael Wimmer in ihrem Aufsatz zum „Umgang mit Ungewissheit“ auf ein undenkbares „Außen“ als Bedingung für eine „andere Möglichkeit des Sozialen, des Politischen, der Zukunft“ (Liesner/Wimmer 2003: 43). Auf die leibliche Dimension dieser ‚Seinsungewissheit‘ verweist insbesondere Käte Meyer-Drawe (vgl. Meyer-Drawe 2005).

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

jektivierende und subjektive Seinsgewissheit aber unangemessen zur Bearbeitung der damit gegebenen Problemstellungen. ‚Bildung‘ müsste demgegenüber als ein Geschehen gedacht werden, in dem die Bedingungen des eigenen Seins einer radikalen Seinsungewissheit ausgesetzt, damit in Frage gestellt und als anders-möglich entworfen werden. Es wird nun deutlich, auf welche Weise die Selbstpraktiken mit der prinzipiellen Seinsungewissheit und der Möglichkeit zur Veränderung von Weltund Selbstverhältnissen zusammenhängen. Das in (sozialen) Praktiken konstituierte Subjekt kann sich seiner ‚selbst‘ nicht gewiss sein, da es keinen Ursprung oder Grund hat. Diese Seinsungewissheit wird aber meist durch subjektivierende Praktiken, insbesondere gouvernementale Selbstführungspraktiken verschattet. Gleichzeitig stellen Selbstpraktiken den Ausgangspunkt für die Irritation der Subjektivierungsmuster dar. Seinsungewissheit kann jedoch nur dort ‚aufbrechen‘, wo Subjektivität an ihr Ende gerät und den Blick freigibt auf ein ungewisses Selbst, das sich einer Identifizierung entzieht. Sie kann nicht intentional hervorgerufen werden (denn wer wäre die handelnde Instanz dieser Intentionalität?), sondern steht als Ergebnis jenseits der Dichotomie von Aktivität und Passivität. Der Begriff der expérience macht genau dies deutlich: Der Handelnde muss seine Handlungen immer auch als Ereignis erfahren, das ihm selbst nicht verfügbar ist. Dennoch ist mit dieser Unterscheidung die Ambivalenz der Selbstpraktiken nicht beseitigt. Es ist nach wie vor unklar, ob eine spezifische Selbstpraktik jene radikale Seinsungewissheit provoziert und damit so etwas wie ‚Bildung‘ möglich macht oder ob sie Teil jener Gouvernementalisierungsstrategien ist. Foucault hat sich mit dieser Problematik selbst nur implizit auseinandergesetzt. Stattdessen gelten seine Untersuchungen in erster Linie der greifbaren, in Praktiken konstituierten Subjektivität. Das ist auch insofern nahe liegend, als dass sich über ein Jenseits der in Praktiken und damit im sozialen bzw. symbolischen System konstituierten Subjektivität tatsächlich nichts sagen lässt. Dennoch gibt es verschiedene Hinweise darauf, dass Foucault davon ausging, dass es dieses ‚Jenseits‘ gibt und dass es sogar entscheidend für das Projekt der ‚Entsubjektivierung‘ ist.62 Dieses Jenseits ist dabei stets nur als Paradox zu denken, da dem Subjekt die Erfahrung des eigenen Seins nur im Sozialen bzw. Symbolischen gegeben ist: Eine Erfahrung, die das Symbolische verlässt, ist undenkbar. Sie kann sich nur im Symbolischen als Grenze oder als Erschütterung des symbolischen Systems zeigen, also als „Selbstkonstitution, die die symbolischen Systeme zugleich verwendet und durchkreuzt“ (Foucault 2005j: 773). 62 Petra Gehring geht in einer umfassenden Analyse den „Spuren eines Denkens der Transzendenz“ (Gehring 1994: 18) in Foucaults Texten nach. In ihrem Gang durch die verschiedenen ‚Phasen‘ dieses Denkens zeigt sie, dass die Transzendenz entgegen häufigen Vorwürfen von Foucault nicht einfach ausgeklammert, sondern „auf bestimmte Weise anders zum Einsatz gebracht [wird]“ (ebd.: 16).

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BILDUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

Es ergeben sich damit drei Strukturmomente eines Geschehens, das ‚Bildung‘ genannt werden könnte. Erstens handelt es sich bei ‚Bildung‘ um Prozesse der Veränderung. Diese zeichnen sich zum einen dadurch aus, dass das Welt- und Selbstverhältnis als Bedingung des eigenen Seins als anders-möglich entworfen wird. Zum anderen besteht ihr Charakteristikum darin, dass sie keiner Teleologie folgen. Ziel ist nicht ein spezifisches anderes Welt- und Selbstverhältnis, sondern im Zentrum steht die Kritik an der scheinbaren Notwendigkeit der aktuellen Seinsbedingungen. Im Neuentwurf wird deren Nicht-Notwendigkeit vorgeführt. Zweitens wurde deutlich, dass der entscheidende Motor von ‚Bildung‘ Selbstpraktiken sind. Foucault zufolge ist ein rein spekulativer Entwurf neuer Welt- und Selbstverhältnisse unzureichend, um Veränderungen anzustoßen. Vielmehr gilt es, sich Erfahrungen aussetzen, die Effekte selbst produzierter ‚Grenz-Experimente‘ sind. Nur so vermag das Subjekt, sich zu transformieren. Der Begriff der Praktiken bzw. ‚Übungen‘ ist dabei recht weit gefasst: auch Lesen und Schreiben gehören beispielsweise dazu. Allerdings sind diese Praktiken immer in einer Ambivalenz befangen, die nicht zu einer Seite hin auflösbar ist: Eine Übung kann sowohl ‚gouvernemental‘ als auch ‚entsubjektivierend‘ wirken. Deshalb wurde drittens darauf verwiesen, dass ‚Bildung‘ ein Moment der Seinsungewissheit umfassen muss. Erst wo die prinzipiell gegebene Differenz zwischen Selbst und der ‚medialisierten‘ Subjektivität aufbricht, kann das Welt- und Selbstverhältnis in seiner Kontingenz erfahren, riskiert und in kritischer Weise neu entworfen werden. ‚Entsubjektivierung‘, verstanden als Erschütterung der ‚medialen‘ Seins- und Selbstgewissheit, wird so zur Voraussetzung eines Anders-Werdens. Die Möglichkeiten einer Bestimmung von ‚Bildung‘ im Anschluss an Foucault kommen hier allerdings an ihre Grenzen. So muss beispielsweise die Frage gestellt werden, ob es hinreichend ist, ‚Bildung‘ als etwas zu fassen, das im Rahmen von Selbstpraktiken durch den (ereignishaften) Einbruch von Seinsungewissheit möglich wird und sich als Neuentwurf der Bedingungen des eigenen Seins andeutet. In den meisten Bildungstheorien wird demgegenüber zumindest eine weitere Bestimmung eingeführt, die vollzogene Veränderungen qualifiziert. Mit Foucault lässt sich nicht sagen, was Bildung ‚ist‘, sondern nur die Vermutung äußern, dass die genannten Strukturmomente Teil eines solchen Geschehens sind. Gerade die Betonung des Momentes von ‚Seinsungewissheit‘ verweist dabei darauf, dass es eher um ein ‚Öffnen‘ und ‚Offenhalten‘ von Seinsbedingungen geht als um die ‚Güte‘ und ‚Kohärenz‘ neu entworfener Welt- und Selbstverhältnisse. Besonders problematisch erscheint jedoch, dass jede Selbstpraktik subjektivierend wie entsubjektivierend wirken kann, ohne dass es ein eindeutiges Kriterium der Unterscheidung gäbe. Wenn deshalb im Folgenden der Versuch einer qualitativen Analyse von ‚Bildungsprozessen‘ unternommen wird, so ist damit die Hoffnung verbunden, durch diesen Neueinsatz der Frage nach Möglichkeiten und Bedin142

AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

gungen von ‚Bildung‘ zumindest ein kleines Stück näher zu kommen. Die Untersuchung von Bildungsprozessen steht dabei unter Vorbehalt: Weder ist abschließend geklärt, was ‚Bildung‘ ist, noch wurden Möglichkeiten einer eindeutigen Unterscheidung von Subjektivierung und Entsubjektivierung gefunden. Dennoch lassen sich zwei mögliche Punkte des Neueinsatzes festhalten. Zum einen wurde deutlich, dass sich die Analyse nur auf die im Symbolischen konstituierte Subjektivität, also auf das ‚mediale‘ Subjekt richten kann. Zum anderen lässt sich annehmen, dass die Irritation dieser Subjektivität durch Selbstpraktiken erfolgen kann, die eine Seinsungewissheit aufbrechen lassen, welche die Möglichkeit eröffnet, die Bedingungen des eigenen Seins – man könnte sagen: das Verhältnis zur Welt und zu sich – als anders-möglich zu entwerfen. Die Texte Foucaults bieten einen empirischen Neueinsatz in besonderer Weise an, da sie mehrere Ebenen aufweisen: Sie lassen sich von ihren Ergebnissen her als historische Forschungen lesen. Gleichzeitig versuchen sie eine Art gegenstandsbezogene Theoriebildung. Darüber hinaus enthalten sie aber auch methodische Überlegungen, die das Werkzeug, mit dem die Gegenstände erfasst werden, selbst entwickeln. Und noch eine vierte Ebene, die bislang nur selten anklang, zeichnet das Schreiben Foucaults aus. Es ist, wie Foucault immer wieder hervorhebt, ein Versuch, sich den Bedingungen des eigenen Seins anzunähern und sie als anders-möglich zu entwerfen: Es ist mit anderen Worten eine Selbstpraktik.

143

II. Z UR VON

EMPRISCHEN

U NTERSUCHUNG

B ILDUNGSPROZESSEN

3.

Die qualitativ-empirische Untersuchung von Bildungsprozessen im Anschluss an Michel Foucault

3.1 Foucault und die qualitative Analyse von Bildungsprozessen Im ersten Kapitel dieser Arbeit wurde ausgehend von aktuellen Überlegungen zum Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung gefolgert, dass sich keine Theorie von ‚Bildung‘ der Forderung nach einer kritischen Befragung der Wirklichkeit entziehen darf. Diese Befragung sollte sich nicht auf die bloße empirische Prüfung theoretisch abgeleiteter Hypothesen beschränken. Entscheidend ist vielmehr, dass im Forschungsprozess die Eigenlogik des Gegenstands gewahrt bleibt. Nur so kann sich im Verlauf einer empirischen Untersuchung die tatsächliche theoretisch-analytische Reichweite des vorausgesetzten Bildungsbegriffs zeigen. Ziel der empirischen Untersuchung ist damit zum einen der genaue Blick auf die Struktur von Bildungsprozessen und auf die hemmenden und förderlich wirkenden Rahmenbedingungen von ‚Bildung‘. Zum anderen gilt es, den theoretisch entwickelten Begriff von ‚Bildung‘ in der Konfrontation mit empirischen Bildungsprozessen genauer auszuarbeiten und zu modifizieren. Es geht also insgesamt um den Versuch einer produktiven Verbindung von systematisch-theoretischen Erörterungen und empirischen Rekonstruktionen, der sich durch Offenheit dem Gegenstand gegenüber auszeichnet. Dabei erscheint es nahe liegend, dass eine Analyse tendenziell offener und unvorhersehbarer Prozesse nicht quantifizierend vorgehen darf. Es gilt, der Prozessualität des Bildungsgeschehens dadurch gerecht zu werden, dass man seine Offenheit, Diskontinuität und Nicht-Identifizierbarkeit in der Entwicklung einer Methode zur Untersuchung von Bildungsprozessen berücksichtigt. 147

ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

Im vorangehenden Kapitel haben sich Ansatzpunkte, aber auch Grenzen einer theoretischen Bestimmung von ‚Bildung‘ im Anschluss an Theorien und Konzepte Michel Foucaults gezeigt. Als ein zentrales Moment von ‚Bildung‘ wurde dabei die Bewegung der Entsubjektivierung bzw. der Widerstand gegen Subjektivierungsprozesse verstanden. Eine solche Bewegung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Bedingungen des eigenen Wahrnehmens, Sprechens, Handelns und Fühlens als nicht-notwendig reflektiert und als anders-möglich entworfen werden. Das Ungewöhnliche an dieser Art und Weise, ‚Bildung‘ zu denken, liegt darin, dass als ihr Ziel nicht primär spezifische (neue) Formen der Subjektivität erscheinen. Stattdessen werden zunächst die kontingenten Zwänge in den Blick gerückt, die mit Subjektivierungsprozessen als Prozessen der Unterwerfung verbunden sind, um demgegenüber die Bewegungen der Entsubjektivierung als zentrales Moment von Bildungsprozessen zu betrachten. Ziel einer empirischen Studie muss es deshalb sein, die spezifischen Struktur- und Bewegungsmomente herauszuarbeiten, die jenes Geschehen der Entsubjektivierung charakterisieren. Wie Foucault aber immer wieder deutlich macht, ist es unmöglich, sich den Bedingungen des eigenen Wahrnehmens, Sprechens und Handelns einfach zu entziehen. Vielmehr muss das eigene Sein in seiner ganzen subjektiven Bedingtheit den (unhintergehbaren) Ausgangspunkt jeder experimentellen Bewegung der ‚Entsubjektivierung‘ bilden. Jede ‚Selbstpraktik‘, die auf die Veränderungen der eigenen Seinsbedingungen zielt, wiederholt damit automatisch die unterwerfenden Bedingungen, ohne dass eindeutig wäre, ob es sich dabei um eine Subjektivierung oder eine Entsubjektivierung handelt. Es lässt sich zwar annehmen, dass Bildungsprozesse möglicherweise dann stattfinden, wenn das Subjekt in der strategischen Wiederholung der Bedingungen der Unterwerfung das eigene Sein einer konstitutiven Ungewissheit und Offenheit aussetzt und sich damit subjektivierenden Praktiken entzieht. Allerdings lässt sich diese Annahme auf theoretischer Ebene nicht prüfen. Der empirischen Untersuchung von Bildungsprozessen fällt damit die Aufgabe zu, diese Annahme einer Konkretisierung, Modifizierung und Prüfung zugänglich zu machen. Die Analyse von Bildungsprozessen sollte entsprechend von zwei ineinander verschränkten Bewegungsmomenten ausgehen. Sie muss einerseits nach Struktur, Mechanismus und Bedingungen von Subjektivierungsprozessen, andererseits nach Struktur, Mechanismus und Bedingungen von Entsubjektivierungsprozessen fragen. Da beide Bewegungen zwei Seiten derselben Praxis darstellen, lassen sich vermutlich erst in der Betrachtung ihres Zusammenspiels Aussagen über Möglichkeiten und Prozessstruktur von Bildungsprozessen treffen. Also bedarf es eines analytischen Werkzeuges, das geeignet ist, sowohl Prozesse der Formation von Subjektivität als auch Momente der strategischen Bewegungen der Entsubjektivierung zu analysieren. Es müsste in der Lage sein zu erfassen, was ‚Subjektivität‘ ist, wie sie sich zeigt, wie sie 148

UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN IM ANSCHLUSS AN MICHEL FOUCAULT

produziert wird und wie sich dieser Konstitutionsprozess verschiebt, öffnet und destabilisiert. Und es müsste dabei ermöglichen, die theoretische Ambivalenz zwischen Subjektivierung und Entsubjektivierung empirisch so zu konkretisieren, dass anhand bestimmter Strukturmomente zwischen entsubjektivierenden und subjektivierenden Praktiken unterschieden werden kann. Ein analytisches Werkzeug, das diese Fragen zu klären vermag, existiert bislang nicht. Die Rezeption der Arbeiten Foucaults in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft ist vor allem von dem Versuch geprägt, Foucaults begriffliche Konzepte – also seine Theorie zur Macht und Gouvernementalität sowie die in den späteren Schriften entwickelte Konzeption eines ethischen Selbstverhältnisses – als Anregung für die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung zu nutzen. Wenig Aufmerksamkeit wird hingegen seinen methodischen Überlegungen gezollt (vgl. Koller/Lüders 2004). Dabei bietet Michel Foucault in seinen archäologischen und genealogischen Studien eine ganz Reihe von Hinweisen zum methodischen und methodologischen Vorgehen. Zudem hat Foucault selbst ‚empirisch‘ gearbeitet, insoweit er seine Theorien und Begriffe ausgehend von historischen Quellen entfaltet hat. Es liegt also nahe, sich seiner ‚methodischen Werkzeuge‘ (vgl. Foucault 2002d, 887f.) zu bedienen und das Analyseinstrumentarium im Anschluss an Foucaults eigene Untersuchungen zu entwickeln. Hilfestellung bietet hier die Rezeption von Foucaults Schriften in anderen Disziplinen. In Literaturwissenschaft, Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft stößt die Diskursanalyse als kultur- und sozialwissenschaftliche Forschungsmethode seit einigen Jahren auf stetig wachsende Aufmerksamkeit (vgl. Koller/Lüders 2004: 58f.). Ebenso wird im Rahmen der ‚Gouvernementalitätsstudien‘ Foucaults Konzept der ‚Macht‘, verstanden als ‚Führung der Führungen‘, immer häufiger als analytisches Instrument aufgegriffen.1 Entsprechend lässt sich bei der Analyse von Machtbeziehungen und Prozessen der Wissensproduktion an bereits ausgearbeitete methodische Konzepte anschließen. Dabei müssen jedoch zwei Besonderheiten beachtet werden. Erstens hängt Foucaults analytisches Vorgehen immer vom spezifischen Untersuchungsgegenstand ab. Gegenstand und Methode bedingen sich gegenseitig, was eine jeweilige Modifikation der Instrumente erforderlich macht. Zweitens werden Foucaults Methoden der Diskurs- und Machtanalyse eher

1

Den ersten Schritt in diese Richtung im deutschen Sprachraum machte Thomas Lemke (vgl. Lemke 1997, aber auch Lemke/Krasmann/Bröckling 2000). An dieser Richtung zeigt auch die Erziehungswissenschaft zunehmend Interesse (vgl. z.B. Liesner 2004, Dzierzbicka/Sattler 2004, Lehmann-Rommel 2004, Pongratz 2004). Allerdings verzichten die meisten gouvernementalitätstheoretischen Studien darauf, in methodischer Hinsicht ihr Analyseinstrumentarium zu explizieren.

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ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

für breiter angelegte Untersuchung herangezogen.2 Will man jedoch Bildungsprozesse untersuchen, bedarf es eines genaueren Blicks, der geeignet ist, auch die erwartungsgemäß eher unscheinbareren Prozessstrukturen von ‚Bildung‘ sichtbar zu machen. Statt der makroskopischen Bestimmung ganzer Diskursformationen bzw. allgemeiner gouvernementaler Techniken muss deshalb mikroanalytisch vorgegangen werden, was eine entsprechende Zurichtung der Methode erforderlich macht. Im Folgenden sollen diese Anforderungen an die Entwicklung einer Methode zur Analyse von ‚Bildungsprozessen‘ aufgegriffen werden. Dabei ist zunächst die Frage zu stellen, welcher Gegenstand sich für die Analyse von Bildungsprozessen am besten eignet. Im Anschluss daran soll eine Methode zur Analyse von Bildungsprozessen als Geschehen zwischen Subjektivierung und Entsubjektivierung entwickelt werden. Im Zentrum steht dabei die Verbindung der bildungstheoretischen Konzeption des Welt-, Anderen- und Selbstverhältnisses mit Foucaults Konzeption von Wissen, Macht und Ethik. Sie bildet den Ausgangspunkt für den Vorschlag einer Methode zur Untersuchung von Subjektivierungs- und Entsubjektivierungsprozessen. Dabei muss insgesamt die begrenzte Reichweite dieser Untersuchung bedacht werden. Meine empirische Untersuchung von Bildungsprozessen ist auf allen ihren Ebenen explorativ und kann vor diesem Hintergrund nicht mehr sein als eine erste Annäherung an das, was sich möglicherweise als ‚Bildung‘ fassen lässt. Ziel ist es deshalb nicht, ein abgeschlossenes Urteil über die Reichweite des Begriffes zu erreichen. Vielmehr gilt die Untersuchung der Eröffnung eines Feldes für weitere Studien, in deren Verlauf einerseits die Struktur von Bildungsprozessen, ihre Bedingungen, Blockaden und Verlaufsformen deutlicher werden, andererseits der Bildungsbegriff selbst in seiner Tauglichkeit als theoretisches und erfahrungswissenschaftliches Konzept auf dem Prüfstand steht.

3.2 Der Gegenstand: ‚Weblogs‘ als Raum für Bildungsprozesse Fragt man nach den Kriterien der Auswahl eines spezifischen Gegenstandes für die Analyse von Bildungsprozessen, so gerät man zunächst in Schwierigkeiten. Im Zentrum der Analyse steht die Suche nach Momenten der Grenzverschiebung und Destabilisierung von Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata, die sich als Widerstand gegen die Formierungsprozesse auf den drei Achsen von Wissen, Macht und Selbst zeigen. Ausgangspunkt bilden dabei insbesondere die Machtverhältnisse, die, wie gezeigt wurde, stets auch 2

Ein Gegenbeispiel, wie mit Hilfe von Foucaults Machtbegriff auch Interaktionssequenzen analysiert werden können, bietet der Linguist Rüdiger Vogt, der Unterrichtssequenzen untersucht (vgl. Vogt 1998).

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UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN IM ANSCHLUSS AN MICHEL FOUCAULT

strategischen Widerstand provozieren. Folgt man Foucault, so durchziehen die Machtverhältnisse die gesamte Gesellschaft (vgl. Foucault 2005f: 289). Entsprechend lassen sich überall Konstitutionsmechanismen von Subjektivität – und damit eben auch: Widerstände und Momente der Entsubjektivierung – ausmachen. Bildungsprozesse, so die Schlussfolgerung, können prinzipiell immer und an allen Orten stattfinden, kein Untersuchungsfeld scheint privilegiert. Demgegenüber lassen sich aber bei einer genaueren Lektüre von Foucaults Schriften durchaus Hinweise darauf finden, dass die Untersuchung bestimmter Gegenstände hinsichtlich der Frage nach Möglichkeiten von ‚Bildung‘ interessanter und produktiver scheint als die anderer. So rät Foucault gerade in Bezug auf die Untersuchung von Machtverhältnissen (und viel stärker noch in Bezug auf die Untersuchung von ethischen Selbstpraktiken) davon ab, den Fokus auf Institutionen wie z.B. Schule oder Universität zu richten. Denn, so Foucault, „die Analyse von Machtbeziehungen in abgeschlossenen institutionellen Räumen hat auch einige Nachteile. Da ein großer Teil der eingesetzten Mechanismen der Selbsterhaltung der betreffenden Institution dient, läuft man Gefahr, vor allem in den ‚innerinstitutionellen‘ Machtbeziehungen nur die Reproduktionsfunktionen wahrzunehmen. Wenn man Machtbeziehungen auf der Basis der Institutionen untersucht, besteht zweitens die Gefahr, dass man in den Institutionen Ursprung und Erklärung der Machtbeziehungen sucht, letztlich also Macht durch Macht erklärt. Und da Institutionen hauptsächlich über das Wechselspiel zweier Elemente agieren, nämlich über (explizite oder stillschweigende) Regeln und einen Apparat, läuft man schließlich auch Gefahr, beiden übertriebene Bedeutung in der Machtbeziehung beizumessen und darin lediglich Modulationen von Gesetz und Zwang zu erblicken.“ (Ebd.: 288) Diese Argumente legen nahe, dass die Untersuchung von Bildungsprozessen in stark regulierten institutionellen Kontexten wie Schule oder Universität zwar möglich ist, sich für die genauere Analyse der Struktur und Bedingungen von ‚Bildung‘ jedoch zunächst andere, außerinstitutionelle Felder anbieten. Das Plädoyer für außerinstitutionelle Felder wird unterstützt durch Foucaults Unterscheidung von Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen (vgl. Foucault 1985: 11). Diese verweist darauf, dass nur in Machtbeziehungen, die „beweglich, umkehrbar und instabil“ (ebd.: 19) sind, d.h. in Beziehungen, die offene Handlungsspielräume aufweisen, Widerstände in Form von Entsubjektivierungsbewegungen überhaupt möglich sind. Demgegenüber unterscheidet Foucault „Herrschaftszustände“, in denen die Machtbeziehungen blockiert und erstarrt sind und den Beteiligten deshalb nicht gestatten, diese Zustände strategisch zu verändern (vgl. ebd.: 11). Das Untersuchungsfeld sollte sich also entsprechend durch größtmögliche Handlungsspielräume und ‚Freiheiten‘ auszeichnen: ein Umstand, der zumindest auf den ersten Blick in institutionellen Zusammenhängen eher weniger gegeben ist, gerade wenn man bei151

ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

spielsweise im Bereich der pädagogischen Handlungsfelder die zunehmende Tendenz zur Standardisierung institutioneller Bildungswege betrachtet. Darüber hinaus scheinen bei der Frage nach Momenten der Entsubjektivierung zwei Aspekte in den Vordergrund zu treten. Zum einen steht das Experiment der Entsubjektivierung eng im Zusammenhang mit den so genannten ‚Selbstpraktiken‘. Sie sind für Foucault der entscheidende Mechanismus, um das eigene Sein in seiner ganzen Bedingtheit praktisch zu erfassen und es gleichzeitig in dieser Praxis neu und anders zu entwerfen. Zum anderen spielen gleichzeitig auch Prozesse der wechselseitigen Anerkennung, Zuschreibung und Lenkung eine entscheidende Rolle. Wie Foucault stets betont, spielt und entfaltet sich ‚Macht‘ nur als Machtbeziehung: In die strategischen Kämpfe sind immer mehrere Diskurs- und Machtinstanzen als Handlungspartner involviert. Insgesamt bietet sich also für die Untersuchung von Bildungsprozessen ein außerinstitutionelles Feld an, das für die Subjekte Spielräume der Handlung eröffnet, ihnen Rahmen und Instrumente der Selbstausarbeitung anbietet und gleichzeitig die strukturelle Voraussetzung für die Etablierung, die strategische Veränderung und die Umkehr von Machtverhältnissen aufweist. Ein prominentes Untersuchungsfeld, das alle diese Voraussetzungen erfüllt, ist das Medium ‚Internet‘ mit seinen neuen Möglichkeiten der Information und Kommunikation.3 Kaum ein Feld erscheint (zumindest auf den ersten Blick) so offen für Erfahrungen, Experimente und Selbstentwürfe. Eine besondere Art der Kommunikation und Selbstpräsentation im Internet stellen die so genannten ,Weblogs‘ dar. Ein ‚Weblog‘ oder ‚Blog‘ ist eine Webseite, auf die der ‚Blogger‘ oder die ‚Bloggerin‘ regelmäßig neue persönliche Einträge stellt, die (zumeist) von den Lesern kommentiert werden können. Diese Einträge können thematisch völlig unterschiedlich sein. Während die Weblogs jedoch in ihrer Anfangszeit fast ausschließlich darauf zielten, die verschiedenen Stationen der Blogger auf ihrer ‚surftour‘ durch das Internet festzuhalten und zu kommentieren, entsteht mittlerweile eine rasch steigende Zahl an Weblogs, die man als private Online-Tagebücher bezeichnen könnte. Hier schreiben die Blogger (in weltweiter Öffentlichkeit) über ihre privaten Erlebnisse, aber auch über ihren Geschmack, ihre Sorgen, ihre Gedanken und Ähnliches, kommentiert von den gezielt oder zufällig vorbeisurfenden Lesern. Tagebuchartige Weblogs erscheinen in vielfacher Hinsicht für die Frage nach Subjektivierungs- und Entsubjektivierungsprozessen interessant. Foucault hob mehrfach die Praxis des Schreibens als Möglichkeit der Erfahrung hervor, vor allem, wenn es auf die Problematisierung des eigenen Seins zielt (vgl. z.B. Foucault 1996: 24ff.). Es lässt sich annehmen, dass solche Online-

3

Für einen ersten Überblick über diese neuen Kommunikationsformen und -wege vgl. Runkehl et al. 1998.

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UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN IM ANSCHLUSS AN MICHEL FOUCAULT

Tagebücher eine spezifische (neue) Form von schreibender Selbstpraktik darstellt, mittels derer sich Subjekte präsentieren und ausarbeiten. Und damit liegt die Vermutung nahe, dass jene oben genannten Kriterien für einen geeigneten Untersuchungsgegenstand auf ‚Weblogs‘ in besonderer Weise zutreffen. Da sie keiner institutionellen Kontrolle unterliegen und zudem nur selten einer spezifischen realen Person zuzuordnen sind, bieten sie für die Subjekte größtmögliche Spielräume der Handlung bzw. einen sehr weiten Rahmen für die Selbstausarbeitung. Darüber hinaus ist das Bloggen keine isolierte Tätigkeit, da die meisten Weblogs eine Kommentarfunktion besitzen, die es Lesern ermöglicht, ihre Anerkennung (oder ihr Missfallen) auszudrücken. Sie bieten dadurch eine strukturelle Voraussetzung für die Etablierung, die strategische Veränderung und die Umkehr von Machtverhältnissen. Aber noch ein zweiter Aspekt macht die Untersuchung von Weblogs hinsichtlich der Frage nach Prozessen der Subjektivierung und der Entsubjektivierung interessant. Während in der bisherigen Darstellung das Medium Internet vor allem als Ort der Gestaltungsfreiheit und Offenheit erschien, bietet es ebenso die Voraussetzungen für Formen einer ‚panoptischen‘ Kontrolle, also einer detaillierten, unsichtbaren und fortdauernden (gegenseitigen) Überwachung der Blogger, die deren Verhalten mitbestimmt. Übertragen auf die Frage nach ‚Bildungsprozessen‘ in Weblogs stellt sich damit die Frage, wie sich diese Form des öffentlichen Schreibens im Spannungsfeld der Möglichkeiten einer entsubjektivierenden Selbstausarbeitung einerseits und den gouvernementalen Führungstechniken andererseits bewegt. Da die ersten Weblogs um 1999 entstanden und erst seit ca. 2001 eine stärkere Verbreitung dieses Mediums erfolgt, existieren bislang nur wenige Studien dazu, welche Funktion Weblogs als neue Form des Selbstausdrucks im Leben der Blogger einnehmen und welche Effekte solche Online-Präsentationen haben können. Zieht man in Betracht, dass vermutlich ca. 95 Prozent der mittlerweile über elf Millionen Blogger weltweit zwischen dreizehn und dreißig Jahren alt sind, wird jedoch die soziale Relevanz dieses Phänomens deutlich.4 Die massive Verbreitung öffentlicher Tagebücher als Mittel der Selbstpräsentation von jungen Erwachsenen bildet ein neues, in der Erzie4

Es ist ausgesprochen schwierig, eine genaue Zahl der weltweit geführten Weblogs zu ermitteln. Die hier genannten Zahlen beruhen auf der Verbindung zweier Statistiken (Abrufdatum: 13.06.05): www.technorati.com ermittelt sowohl die Gesamtzahl an Weblogs als auch die Zahl der täglichen Einträge. Demgegenüber ermittelt http://www.livejournal.com/stats.bml nur die Nutzer der den Weblogs ähnlichen Livejournals (s.u.), allerdings mit genauer Angabe zu Alter und Nationalität der Blogger. Die oben genannten Prozentzahlen habe ich aus den Angaben der Altersverteilungen der Livejournal-Statistik errechnet und auf Weblogs übertragen, in der Annahme, dass diese dort ähnlich sind. Nur wenige Monate später wurden im Übrigen statt 11 Millionen 21 Millionen Blogs verzeichnet (vgl. www.technorati.com, 11.11.2005).

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ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

hungswissenschaft bisher wenig beachtetes Feld. Im Folgenden soll deshalb die Untersuchung von Bildungsprozessen anhand der Analyse eines Weblogs erfolgen. Dafür soll zunächst genauer erläutert werden, was ein Weblog ist. Anschließend wird dann der Frage nachgegangen, was Weblogs zu einem besonders geeigneten Untersuchungsgegenstand für die Analyse von Bildungsprozessen machen könnte.

3.2.1 Was ist ein ‚Weblog‘? Ein ‚Weblog‘ oder ‚Blog‘ (ein Kunstwort aus ‚Web‘ und ‚Logbuch‘) ist eine Webseite, die periodisch neue Einträge enthält. Neue Einträge stehen an oberster Stelle, ältere folgen in umgekehrt chronologischer Reihenfolge. In einem typischen Weblog hält ein Autor (der Blogger) seine ‚Surftour‘ durch das Internet fest, indem er mit einem link auf besuchte Seiten verweist und diese kommentiert. Während die ersten Weblogs Ende der 1990er Jahre noch individuell programmiert wurden und die Blogger somit über besondere Kenntnisse verfügen mussten, um Weblogs führen zu können, gibt es mittlerweile zahlreiche Anbieter (vielfach kostenloser) Weblog-Software. Mit einer solchen Software lässt sich auf relativ einfache Weise und ohne große Vorkenntnisse ein Weblog erstellen und nach eigenen Vorstellungen gestalten.5 Hier liegt vermutlich auch einer der Gründe dafür, dass diese Form des öffentlichen Schreibens in den letzten Jahren eine so starke Verbreitung erfahren hat. Mittlerweile gibt es in Deutschland über 60.000 verzeichnete Weblogs (vgl. http://blogg.de/list.php, Abrufdatum: 11.11.05), und sogar Printmedien und Nachrichtenmagazine unterhalten eigene Weblogseiten (vgl. z.B. http://www.zeit.de/blogs/index). Dennoch existiert bislang nur wenig Literatur, die sich mit dem Medium ‚Weblog‘ und den möglichen sozialen Effekten des Bloggens beschäftigt.6 Beim Bloggen handelt es sich insgesamt um eine Praktik von überwiegend fünfzehn- bis dreißigjährigen Internetnutzern. Viele Weblogs besitzen eine Kommentarfunktion, die es den Lesern ermöglicht, einen Eintrag zu 5

6

Eine Definition des Begriffs ‚Weblog‘ findet sich in http://de.wikipedia.org/ wiki/Weblog, über die Geschichte der Weblogs lässt sich bei Rebecca Blood 2000 nachlesen. Erfrischend ist auch der Artikel zum Thema Bloggen von Bö Lohmöller „Blogs sind? Blogs sind!“ (vgl. Lohmöller 2005). Abgesehen von einigen Artikeln (insbes. in der Online-Zeitschrift Journal of Computer-Mediated Communication http://jcmc.indiana.edu/, vgl. auch Döring 2001) wurde das Phänomen ‚Weblog‘ bis vor wenigen Jahren praktisch ausschließlich online diskutiert (eine Sammlung solcher Artikel findet sich etwa unter http://elmine.wijnia.com/weblog/references.html, 12.11.05). Erst seit ca. 2002 folgt Printliteratur. Diese richtet sich aber bislang vor allem auf die technische Seite des Bloggens (vgl. z.B. Koch/Haarland 2004). Die Lage beginnt sich erst allmählich zu wandeln (vgl. etwa Alphonso/Pahl 2004, Möller 2005).

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UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN IM ANSCHLUSS AN MICHEL FOUCAULT

kommentieren und so mit dem Autor oder anderen Lesern zu diskutieren. Weblogs sind untereinander stark vernetzt, und es wird häufig aus den Einträgen anderer Weblogs zitiert bzw. auf diese Einträge per link verwiesen. Die Gesamtheit aller Weblogs bildet die so genannte ‚Blogosphäre‘. Mit dem stetigen Wachsen der ‚Blogosphäre‘ nimmt auch die Vielfalt an unterschiedlichsten Weblog-Formen zu. So gibt es die ‚klassischen‘ Weblogs, in denen vor allem auf interessante Seiten im Netz verwiesen oder online gestellte Inhalte kritisch diskutiert werden, aber auch eine wachsende Zahl persönlicher Tagebücher, die als Weblog geführt werden. Zudem nimmt auch der Einsatz von Weblogs als journalistisches Medium zu, außerdem gibt es noch andere Arten von Weblogs, wie Themenblogs, Businessblogs, Fotoblogs oder Moblogs – also Weblogs, die vom Mobiltelefon aus gespeist werden.7 Viele der privat geführten Weblogs bestehen aus einer Mischung von Tagebucheinträgen, Netzfunden und Fotos. Eben diese Weblogs interessieren hier als besondere und neue Möglichkeit eines öffentlichen Schreibens über das eigene Leben. Das Besondere an Weblogs ist, dass sie ständiger Veränderung durch Aktualisierung, Verlinkung und Kommentierung durch LeserInnen unterliegen. Dabei werden allerdings ältere Einträge in einem ‚Archiv‘ festgehalten, sodass sich auch nachträglich ein Weblog als Ganzes lesen lässt. Die Unterschiede zu Newsgroups, Webforen, Mailinglisten, Chats, Homepages, Live Journals und ähnlichen (ausgesprochen vielfältigen) medialen Möglichkeiten im Internet sind teilweise nicht allzu groß. In allen Fällen geht es um Varianten ‚computer-vermittelter‘ Kommunikation. Während jedoch Newsgroups, Foren und Mailinglisten thematisch zentrierte, oft moderierte Formen des Austauschs und der Diskussion darstellen, gilt das Weblog vor allem der Darstellung des Bloggers, ist also nicht themen-, sondern personenzentriert. Und Diskussionen und Kommentare sind zwar möglich, aber der Blogger nimmt dabei eine Sonderrolle ein, da er gleichzeitig Verfasser sämtlicher Einträge in seinem Weblog wie auch ‚Moderator‘ der Leserkommentare ist. Weblogs unterscheiden sich entsprechend von der Kommunikation via Chat nicht nur dadurch, dass es sich nicht um ‚Echtzeitgespräche‘ handelt, sondern auch durch die Tatsache, dass es eine ‚Hierarchie‘ zwischen den Kommunikationspartnern gibt: Der Blogger kann Kommentare, die ihm nicht passen, jederzeit löschen. Homepages und Live Journals sind demgegenüber wohl am ehesten mit Weblogs vergleichbar. Jedoch ist eine Homepage meist so ausgerichtet, dass sie weder (öffentlich einsehbare) Kommentare erlaubt, noch ist sie speziell daraufhin angelegt, häufig aktualisiert und umgestaltet zu werden. Live Journals (www.livejournal.com) stellen hingegen tatsächlich eine Variante

7

Auf die technischen Funktionen im Weblog wie ‚RSS‘, ‚ping‘ oder ‚trackback‘ soll hier nicht näher eingegangen werden (vgl. dazu www.wikipedia.org).

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ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

von Weblogs dar, die eine immer stärkere Verbreitung finden. Es handelt sich um ein ‚blogging-tool‘, mit dem Internetnutzer kostenlos ihr eigenes ‚LiveTagebuch‘ erstellen können. Dieses ist im Vergleich zu Weblogs sehr stark formalisiert und zielt in erster Linie darauf, mit anderen Nutzern in Kontakt zu treten. Es gibt festgelegte Rubriken wie ‚friends‘, ‚interests‘, ‚location‘ und ‚birthdate‘, aber vor allem auch zahllose ‚communities‘, in denen sich Mitglieder mit ähnlichen Interessen, Vorlieben und Hobbys (z.B. ‚Fotografie‘, ‚Ally McBeal‘ oder ‚Afrika‘) zusammenfinden. Im Live Journal selbst werden, ähnlich wie im Weblog, persönliche Einträge verfasst, die von Lesern kommentiert werden können. Bei aller Ähnlichkeit zwischen Live Journals und Weblogs bieten letztere darüber hinaus zum einen die Möglichkeit einer persönlicheren Gestaltung. Zum anderen sind sie weniger offensichtlich auf eine Gemeinschaftsbildung hin ausgerichtet. Ein weiteres Unterscheidungskriterium stellt die Identifizierbarkeit der schreibenden Person dar. Während es in Chats fast selbstverständlich ist, anonym zu bleiben, zielt beispielsweise eine Homepage meist explizit auf eine Identifizierung. Weblogs bewegen sich demgegenüber oft in einem Spannungsfeld zwischen den impliziten oder expliziten Hinweisen zur eigenen Person und dem Spiel mit der Anonymität (vgl. Pahl/Alphonso 2004: 310). Dabei ist zu beachten, dass Weblogs nicht notwendig und automatisch auf einen individuellen Blogger verweisen. Es gibt ebenso Gruppenblogs (vgl. z.B. www.logladies.de).

3.2.2 Foucault, das Internet, Weblogs und ‚Bildung‘ In ihrer Einführung zum Themenschwerpunkt „Qualitative Internetforschung“ in der Zeitschrift für Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung konstatieren Marotzki und Neumann-Braun „die Etablierung eines neuen Forschungsfeldes“ (Marotzki/Neumann-Braun 2000: 147). Mit Blick auf zahlreiche Sammelbände und Überblicksmonographien lasse sich dieses Feld als „Online Research“, „Internet Research“ oder auch „Internet Forschung“ bezeichnen (ebd.). Tatsächlich existiert gegenüber der geringen Zahl an Veröffentlichungen zum Thema ‚Weblog‘ eine fast unüberschaubare Menge an Untersuchungen zum Internet. Dabei kristallisieren sich, so Marotzki und NeumannBraun, aus sozialwissenschaftlicher Sicht zwei thematische Forschungsschwerpunkte heraus. Der eine betreffe „die Frage, ob sich durch neue Informationstechnologien neue Kommunikationsmodi herausbilden, und was dies für Menschen bedeutet“, der andere konzentriere sich „am Beispiel von Online Communities auf neue Sozialisationsphänomene im Internet“ (ebd.: 147f.). Beide Richtungen betrachten mithin das Internet als einen sozialen bzw. sozialisatorischen Raum, der subjektkonstitutive Wirkungen entfalten kann (vgl. z.B. Marotzki 2000a), und entsprechend interessieren forschungspraktisch in besonderer Weise die Möglichkeiten, Grenzen, Herausforderun156

UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN IM ANSCHLUSS AN MICHEL FOUCAULT

gen und Effekte eines ‚Lebens‘ im Virtuellen.8 „Bildungstheoretische Dimensionen des Cyberspace“ (Marotzki/Nohl 2004) liegen damit auf der Hand: Untersuchungen von Identitäts- und Subjektkonstitution in virtuellen Welten lassen sich als Frage nach Prozessen der Personwerdung auffassen, in denen Individuen Welt- und Selbstbezüge herstellen. Diese lassen sich dann qualifizieren, je nachdem, in welch umfassender Weise neue Welt- und Selbstbezüge entstehen (vgl. ebd.: 338ff.).9 Die den an sozialen Phänomenen interessierten Studien zugrunde liegende Annahme lautet, dass Individuen durch den Umgang mit und dem Bewegen in virtuellen Welten spezifische neue, für das Welt- und Selbstverhältnis relevante Erfahrungen machen. Dabei werden meist zwei grundsätzliche Modi der Erfahrung vorausgesetzt. Die erste Betrachtungsweise geht davon aus, dass virtuelle Welten einen in seiner Qualität neuen Raum egalitär strukturierter, besonders reichhaltiger und flexibler Angebote für Welt- und Selbstbezüge bilden. Vor allem die neuen Kommunikationsmodi würden, wie Wenzel bemerkt, dabei als „gesteigerte Freiheitschancen für das Individuum“ und als Generator für „eine ungeahnte Entwicklungsdynamik für die Demokratie“ betrachtet (Wenzel 2000: 177). Diese Sicht auf das Internet finde sich häufig: „Viele veröffentlichten Ideen zur Gemeinschaftsbildung beruhen vor allem auf einer Erweiterung der technischen Grundlagen ins Soziale. Dies führt zu einer Entgrenzungsrhetorik, die vielfach von einer Überwindung von räumlichen Grenzen aufgrund der distanzüberbrückenden Eigenschaft von Medien ausgeht; wegen des Fehlens von Hinweisen auf strukturierende askriptive Eigenschaften wird von einer größeren Gleichheit unter den Teilnehmern und aufgrund von im Medium fehlenden Sanktionsmöglichkeiten und der postu8

9

Die Breite und Vielfalt der Forschungsansätze kann hier nicht wiedergegeben werden. Ein Überblick findet sich z.B. bei Marotzki/Neumann-Braun 2000, Wenzel 2000, Thiedeke 2000, Marotzki/Sandbothe 2000, Döring 20032 und Thiedeke 2004. Zwar zielen diese Sammelbände eher auf eine „Soziologie“ (vgl. Thiedeke 2004) bzw. eine „Sozialpsychologie“ (vgl. Döring 20032) des Internets, aber es ist wohl auch für die Erziehungswissenschaft von Belang, welche Rolle die mit dem Internet einhergehenden Möglichkeiten der Lebens- und Selbstgestaltung im täglichen Leben der Jugendlichen und Erwachsenen einnehmen. Gemeint ist damit in diesem Zusammenhang weniger der Einsatz des Computers als Medium in Lernprozessen, als vielmehr die Frage nach der Bedeutung virtueller Realitäten für individuelle Prozesse der Personwerdung. Fragen der ‚Medienkompetenz‘ und der ‚Mediendidaktik‘ sollen also ausgeklammert werden. Dass sich Personwerdungsprozesse und die Nutzung des Computers als Lernmedium bzw. Werkzeug der Organisation und Verteilung von Wissen möglicherweise überschneiden, soll allerdings keinesfalls bestritten werden (vgl. Meyer 2002). Das Internet in dieser Weise als Raum für Bildungsprozesse zu betrachten, ist vor allem von Winfried Marotzki und Arnd-Michael Nohl vorgeschlagen worden (vgl. Marotzki 2000b, Nohl 2002, Marotzki/Nohl/Ortlepp 2003, Marotzki/Nohl 2004).

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ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

lierten freien Wahl von ‚Identitäten‘ und ‚Bindungen‘ von einer Unverbindlichkeit von Sozialbeziehungen ausgegangen.“ (Stegbauer 2000: 154) Liest man in den von Stegbauer als ‚klassisch‘ bezeichneten Internetstudien, die von Eindrücken in einem kalifornischen Computernetzwerk (vgl. Rheingold 1992), von Beobachtungen in von Jugendlichen genutzten Chatrooms und Newsgroups (vgl. Tapscott 1998) und vom Verhalten der Mitglieder verschiedener MUDs, also spezifischer virtueller Räume, in denen man navigieren, kommunizieren und konstruieren kann (vgl. Turkle 1998) berichten, so scheint dort tatsächlich ein in weiten Teilen recht euphorischer Blick auf die Möglichkeiten des Cyberspace bzw. Internets vorzuherrschen. So sind MUDs für Turkle „Orte, wo Persona und Selbst ineinander übergehen, wo die multiplen Figuren sich zusammenschließen, um in Frage zu stellen, was das Individuum für sein authentisches Selbst hält.“ (Turkle 1998: 299) Und Rheingold geht in seinem einleitenden Kapitel von seiner eigenen Faszination bei den ersten Begegnungen mit dem ‚Cyberspace‘ aus (vgl. Rheingold 1992: 13ff.). Das Internet als sozialer Erfahrungsraum, so könnte man zusammenfassend feststellen, erscheint in diesen Perspektiven wahlweise als Abbild der ‚postmodernen‘ Verfasstheit der Gesellschaft, in der sich ‚dezentrierte‘ Individuen bewegen, die aus vielfältigen Ressourcen für lifestyle und Identitätsangeboten frei wählen können (vgl. z.B. Turkle 1998: 18ff., Heinrichs 2000: 486ff.). Oder aber es wird als Annäherung an die Utopie einer idealen, demokratischen Kommunikationsgemeinschaft betrachtet, in der Herrschaftsunterschiede aufgehoben sind und jedes Mitglied gleichberechtigten Zugang zur Kommunikation besitzt (vgl. z.B. Ess 1994, Wijnia 2004). Wie zu erwarten, lassen sich gegenüber einem solchen „Netzoptimismus“ (Wenzel 2000: 178) jedoch auch kritische Stimmen ausmachen, die diese Perspektive als zu einseitig verwerfen. Die Kritik hat zwei unterschiedliche Ausgangspunkte. Zum einen geht es schlicht um die Frage, ob die euphorische Einschätzung des Mediums Internet tatsächlich so ungebrochen zutrifft oder ob nicht „die Grenzen bedacht werden [müssen], die sowohl in den AnwenderInnen selbst (also in ihrer Konstituierung von Identitäten) als auch in der Technik liegen“ (Heinrichs 2000: 488). Die Grenzen eines Identitätsgewinns im Virtuellen werden vor allem in Bezug auf die Anonymität und Unverbindlichkeit im Netz und das Fehlen nonverbaler Kommunikationshilfen diskutiert (vgl. Wenzel 2000: 180), und es wird zusätzlich die Frage aufgeworfen, ob die Fülle an Möglichkeiten (z.B. des genderswappings) tatsächlich zu einer realen Aufweichung soziokultureller Normen (z.B. der Entweder-Oder-Geschlechtlichkeit der Menschen) führen (vgl. Heinrichs 2000: 488). Darüber hinaus wird immer wieder darauf verwiesen, dass allein schon in den Medien selbst eine Grenze liege, insofern diese „aufgrund ihrer technischen Eigenschaften jeweils nur ein begrenztes Verhaltensspektrum zu[lassen]“ (Stegbauer 2000: 153). Die zweite, radikalere Kritik am Netzoptimis158

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mus geht von den durch das Internet (und die Computertechnik) gegebenen Möglichkeiten der Überwachung, Normierung und Kontrolle aus. „Jeder digitale Vorgang hinterlässt potentiell Fingerabdrücke irgendwo im Cyberspace. Enorme Datenbanken mit persönlicher Information begannen sich anzusammeln. Und auch das Auswertungsproblem wurde gelöst; man konnte leistungsfähige Software schreiben, die Informationsbruchstücke aus zahlreichen Orten im Cyberspace sammelte und sie zu erstaunlich vollständigen Bildern unserer Lebensführung zusammensetzte. Wir traten in die Ära der digitalen Kontrolle ein.“ (Mitchell 1996: 166) Als Sinnbild dieser Kontrolltechnik wird zumeist das ‚Panopticon‘ von Jeremy Bentham in seiner bekannten Interpretation durch Foucault bemüht: „The prisonlike society, where invisible observers track our digital footprints, does indeed seem panoptic.“ (Lyon 1994: 71) Ebenso wie das Panopticon ist dieser Perspektive zufolge das Internet dadurch gekennzeichnet, dass das Subjekt einer prinzipiellen Ungewissheit ausgesetzt ist. Jeder kann Überwacher sein oder zum Objekt der Überwachung werden, „we may be under surveillance at any given time“ (Winokur 2003: 33). Außerdem werde der Prozess der Subjektkonstitution in ähnlicher Weise vorgestellt: „[T]he Internet and the panopticon make signifycantly similar assumptions about the creation of the subject within discourse. Both panopticism and the Internet construct space with a special attention to the subjekt’s internalizing a particular model of space, and a particular notion of how people are distributed throughout space in relation to one another, and with a special attention to the defining of the individual through the space she occupies. Further, both are intensely interested in the construction and distribution of authority over and within the subject.“ (Winokur 2003: 24) Sicherlich weisen viele dieser Studien gleichzeitig darauf hin, dass der Begriff des Panoptismus „also retains some serious disadvantages“ (Lyon 1994: 58) und fordern „some adjustment in the concept“ (Boyne 2000: 285). Dennoch bleibt meist die zusammenfassende Feststellung, „that the Panoptical impulse is not fading away, and that developments in screening and surveillance require the retention of the Panopticon as an analytical ideal type“ (ebd.).10 10 Und in der Tat nimmt das ‚Überwachen‘ im Netz zum Teil unheimliche Formen an. So wirbt beispielsweise der Anbieter etracker unter dem Titel „Web-Controlling“ für seine neue Version 5.8: „Die Rentabilität von Websites und ECommerce-Aktivitäten erfordert eine fundierte Analyse des Kundenverhaltens. etracker analysiert detailliert das Verhalten Ihrer Websitebesucher. Damit optimieren Sie Ihren Webauftritt, verwandeln Besucher in Kunden und ermitteln neue Kundenbindungspotenziale. Von jedem Internet-PC aus erfahren Sie live die Geheimnisse Ihrer Besucher. Mit einem Klick erkennen Sie exakt, wie viele Nutzer Ihre Website hat, woher sie kommen, welche Seiten ihre Aufmerksamkeit erregen, wo sie Ihren Auftritt verlassen sowie viele weitere wichtige Details.“ (http://www.etracker.de/?_pl=1, Abrufdatum: 12.11.05) Diese Möglichkeiten werden eindrücklich dadurch bewiesen, dass dem Websitebesucher auf

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Diese beiden (hier idealtypisch verkürzten) Perspektiven auf das Internet als einem sozialen und sozialisatorischen Raum der Erfahrung lassen sich auch auf das Medium ‚Weblog‘ übertragen. Tatsächlich wird in den – zumeist online geführten – Diskussionen immer wieder hervorgehoben, dass Weblogs ein kritisches Korrektiv der Massenmedien seien und in besonderer Weise zur demokratischen Befreiung von der Unterwerfung durch das massenmediale Informationsmonopol beitrügen. Weblogs seien in der Lage, kritisch, schnell und breitenwirksam Informationen zu hinterfragen und so nicht nur die von den Massenmedien behauptete ‚Wahrheit‘ zu erschüttern, sondern vor allem auch auf die Informationspolitik Einfluss zu nehmen. Weblogs sind demzufolge demokratisch, authentisch, lokal, schnell und subversiv.11 Darüber hinaus scheinen Weblogs die bereits im Zusammenhang mit anderen Arten der computervermittelten Kommunikation angesprochene Möglichkeit zu bieten, frei von den Zwängen des täglichen Lebens eigene Identitäten zu entwerfen. Umgekehrt wird ebenso auf den Aspekt der Überwachung, Disziplinierung und Kontrolle verwiesen. Dieser zeigt sich in Weblogs allerdings eher mittelbar und resultiert aus dem (prinzipiell erwünschten)12 Umstand, dass die persönlichen Einträge von jedem anderen Internetnutzer gelesen werden können. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer ‚Selbstkontrolle‘, d.h. das Bloggen muss in Abstimmung mit den vermeintlichen Vorlieben der Leser erfolgen: „Ewiges Jammern geht dem Publikum auf die Nerven, sofern keine Versuche zu erkennen sind, die Probleme anzugehen. Wenn Diaristen schon fluchen und jammern müssen, dann wenigstens in selbstironisch übertriebener Weise, mit Galgenhumor und Sarkasmus.“ (Döring 2001: 90) Zudem müssen selbst anonym bloggende Internetnutzer immer damit rechnen, dass ihre ‚wahre Identität‘ entdeckt wird, und entsprechend aufpassen, dass ihre Einträge keine Auswirkungen im realen Leben haben könnten: „Aktuelle oder zukünftige Arbeitgeber, Lebenspartner oder Kunden könnten das Vertrauen in den Diaristen verlieren: Ruf, Ansehen und persönliche Sicherheit stünden auf dem Spiel.“ (Ebd.: 92) Weitere Grenzen liegen in den schlichten Netzgepflogenheiten, der so genannten ‚netiquette‘, die auch für das Schreiben und Komder Startseite unter der Rubrik „wir über Sie“ gezeigt wird, auf welcher IP-Adresse (Internet Protokoll Adresse) er gerade surft, welches Betriebssystem er benutzt, von welchem Standort aus der Zugriff erfolgt und welcher Art die Internetverbindung ist (vgl. http://www.etracker.de/). 11 Als Beispiele dafür werden zum einen der sprunghafte Anstieg an ‚WeblogKommunikation‘ nach solchen Ereignissen wie „9/11“ und dem Tsunami im Dezember 2004 und zum anderen einzelne ‚subversive‘ Blogs wie z.B. das Weblog von ‚Salam Pax‘ http://dear_raed.blogspot.com/ und www.bildblog.de angeführt. 12 Viele Weblogs haben eine auch für den Leser einsehbare Statistiksoftware integriert, die die Besucherzahlen ermittelt. Es ist erstaunlich, wie hoch diese bisweilen sind.

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mentieren in Weblogs gilt, und der oftmals ähnlichen Struktur von Weblogs, die fordert, dass ein Eintrag mit der Rubrik ‚Stimmung‘ und der Angabe der gerade aufgelegten ‚Musik‘ beginnt. Ausgehend von diesen zwei gegenläufigen Perspektiven auf das Internet bzw. auf Weblogs lässt sich zusammenfassend feststellen, dass Weblogs offensichtlich weder ausschließlich als Teil eines virtuellen Panopticons noch als Ort unabhängiger Identitätsentwürfe betrachtet werden können: Weblogs sind ebenso wenig Medien der reinen Freiheit wie Medien der reinen Selbstdisziplinierung. Dennoch spielen beide Aspekte eine Rolle, die nicht einfach ausgeblendet werden kann, da davon auszugehen ist, dass sie in Prozessen der Konstitution von Welt- und Selbstbezügen wirksam werden. Schon Alan Aycock schlug 1995 deshalb eine Untersuchungsperspektive vor, die zwar einerseits die jeweiligen Wirkmechanismen beider Seiten einbezieht, ohne jedoch andererseits in einem problematischen Kurzschluss einer dieser Perspektiven den Vorzug zu geben (vgl. Aycock 1995). Es soll also mit anderen Worten nach den praktischen Selbstkonstitutionsprozessen gefragt werden, wie sie sich im Spannungsfeld von Kontrolle, Selbstdisziplinierung und Selbstgestaltung zeigen. Erst eine solche Zugriffsweise erscheint als angemessene Perspektive für die hier verfolgte Frage nach Bildungsprozessen in Weblogs. Denn wie gezeigt wurde, konstituieren sich Subjekte durch Selbstpraktiken. Die Rede von den Selbstpraktiken oder den Techniken des Selbst beinhaltet dabei immer zwei untrennbare Seiten von Unterwerfung und Entunterwerfung. Die erste Seite betrifft die Selbstpraktik als gelenkte Selbstführung, d.h. als ‚Gouvernement‘. Hierzu gehören Subjektivierungspraktiken wie Gewissensprüfung, Selbsterkenntnis, Selbstmanagement und ‚Identitätsarbeit‘. Die zweite Seite betrifft die der Entsubjektivierung als Erfahrung der Grenzen und Bedingungen des eigenen Seins. Hierzu gehören experimentelle Selbstentwürfe, genealogische Betrachtungen des eigenen Seins und das strategische Verschieben und Übertreten von Grenzen. Weblogs als Technologie des Selbst im Spannungsfeld von Subjektivierung und Entsubjektivierung zu betrachten, bedeutet, nach den spezifischen Praktiken zu fragen, mit denen ein Individuum das Verhältnis zu sich selbst herstellt. Als die zentrale Praktik eines Weblogs erscheint das Schreiben. Foucault hat dem Schreiben stets eine große Bedeutung bei der Konstitution von Selbstverhältnissen eingeräumt. Dabei lassen sich wiederum zwei Perspektiven auf das Schreiben von Notiz- bzw. Tagebüchern ausmachen: Es wird von Foucault zum einen als ‚ethische‘ und zum anderen als ‚gouvernementale‘ Praktik verstanden. Die Bedeutung des Schreibens als ‚ethische‘ Praxis hat Foucault vor allem in Bezug auf die in der Antike gängigen hypomnemata entfaltet: „Rechnungsbücher, öffentliche Register, aber auch individuelle Hefte […], die dazu dienten, Notizen zu machen. Ihr Gebrauch als Lebensbücher, Leitfäden zur Lebensführung, scheint unter den Kultivierten eine gän161

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gige Sache geworden zu sein. In sie trug man Zitate, Stücke von Arbeiten, Beispiele und Handlungen ein, deren Zeuge man gewesen war oder über die man Berichte gelesen hatte, Gedanken oder Überlegungen, die man gehört hatte oder die einem in den Sinn gekommen waren.“ (Foucault 2005j: 767f.). Diese Notizbücher seien aber, wie Foucault hervorhebt, nicht als intime Tagebücher zu verstehen. „Sie stellen keine ‚Selbsterzählung‘ dar; ihr Ziel ist nicht, die Arkana des Gewissens ans Licht zu heben, deren Bekenntnis – ob mündlich oder schriftlich – einen reinigenden Wert hat. Die Bewegung, die sie zu vollziehen versuchen, ist das Gegenteil von Letzterem: Es geht nicht darum, das Unentzifferbare aufzuscheuchen, das Verborgene aufzudecken, das Ungesagte zu sagen, sondern im Gegenteil das Bereits-Gesagte zu versammeln: das zu versammeln, was man hören oder lesen konnte, und dies in einer Absicht, die nichts anderes als die Konstitution seiner selbst ist.“ (Ebd.: 768f.) Insgesamt stellt Foucault diese Notizbücher als spezifische Technik in den Kontext der ‚Lebenskunst‘. Keine Technik und keine berufliche Fähigkeit lasse sich ohne Praxis erwerben. Auch die Lebenskunst, als eine besondere techne, erfordere eine spezifische askesis, d.h. eine Selbstbelehrung. Zu deren verschiedenen Formen (wie z.B. Abstinenz, Gedächtnistraining, Bewusstseinsprüfung, Meditation, Schweigen) sei das Schreiben erst spät dazugekommen, um dann aber eine wichtige Rolle zu spielen (vgl. ebd. 768). Schreiben ist demnach eine Praktik, mit der man versucht, „ein so angemessenes und vollkommenes Selbstverhältnis herzustellen wie eben möglich“ (ebd.: 769). Diese besondere Rolle des Schreibens hebt Foucault auch in Bezug auf sein eigenes Schreiben hervor. So beispielsweise im Vorwort der Archäologie des Wissens, wenn er darauf besteht, als Schreibender von der Logik der Identität und der „Moral des Personenstandes“ (Foucault 1981: 30) freigelassen zu werden. Oder wenn er seine Abhandlungen als „Erfahrungsbücher“ bezeichnet (Foucault 1996: 34) und darauf verweist, dass jedes Buch als ein Wagnis betrachtet werden könne (vgl. Foucault 2005k: 903). Auch Weblogs lassen sich in dieser Weise als Medium der schreibenden Selbstkonstitution fassen, die darauf zielt, sich den Bedingungen des eigenen Seins anzunähern und diese als anders-möglich zu entwerfen. Allerdings stehen diesem Verständnis des Tagebuchschreibens als einer Praxis der Selbstkonstitution Foucault zufolge die (christlich geprägten) Tagebücher gegenüber, deren Funktion die Ergründung seiner selbst mittels Geständnistechnik ist. Foucault sieht deren Grundlage in der christlichen Bekenntnisprozedur, die vom Beichtritual ausgehend sich immer weiter ausbreitete: „Das Christentum hat eine in der Geschichte der Zivilisation einzigartige Bekenntnisprozedur erfunden oder zumindest eingeführt, einen Zwang, der über viele Jahrhunderte aufrechterhalten wurde. Mit der Reformation breitete der Bekenntnisdiskurs sich sogar noch weiter aus, statt innerhalb des eigentlichen Beichtrituals zu verbleiben. Er wurde zu einem Verfahren, das 162

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rein psychologische Funktionen übernehmen konnte: eine bessere Selbsterkenntnis, bessere Selbstbeherrschung, die Erkenntnis der eigenen Strebungen, die Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten – Praktiken der Gewissenserforschung, die der Protestantismus gerade auch jenseits der eigentlichen Beichte oder der Beichte vor dem Priester so entschieden förderte.“ (Foucault 2003c: 530) Foucault verweist darauf, dass sich zu eben jener Zeit auch die in der ersten Person abgefasste Literatur entwickelt habe: persönliche Tagebücher, in denen die Menschen „über ihren Tagesablauf berichten und erzählen, was sie getan haben“ (ebd.). Ausgesprochen hellsichtig – das Interview fand 1977 statt – verweist er dabei auf jene neuen Sendungen in Radio und Fernsehen, „in denen Menschen erzählen: ‚Also wissen Sie, ich verstehe mich nicht mehr mit meiner Frau, ich kann nicht mehr mit ihr schlafen, ich bekomme bei ihre keine Erektion mehr, das bedrückt mich sehr, was soll ich tun?‘“; und er kommt zu dem Schluss, dass „die Geschichte des Bekenntnisses […] damit nicht zu Ende sein [wird], sie wird noch weitere Peripetien erleben“ (ebd.: 531). Auch hier liegt eine Übertragung auf die Funktion von Weblogs nahe. Tatsächlich wird oft behauptet, dass diese im „Ozean der Banalitäten“ (Süddeutsche Zeitung 17.02.05) vor allem eine „Forme d’exhibitionnisme“ (le Monde 21.05.05) darstellten: „Ein Online-Tagebuch steht irgendwo zwischen Bekenntnis-Talkshow und Soap-Opera – so zumindest die öffentliche Meinung, die wenig Verständnis für die Schreiber zeigt: Die Protagonisten frönten der Selbstbespiegelung, böten dem staunenden Netzpublikum einen Seelenstrip nach dem anderen – je reißerischer, desto besser.“ (Döring 2001: 88) Deutlich wird damit eine Spannung zwischen der Selbstpraktik des Tagebuchschreibens, die eher auf Seiten der Subjektivierung als gouvernementale Ausarbeitung seiner Selbst liegt und jener, die eher auf Seiten der Entsubjektivierung als ethische Arbeit an den Grenzen des eigenen Seins zu verstehen ist, die dieses anders zu entwerfen sucht. Und diese Spannung lässt sich in gleicher Weise für das Schreiben von Online-Tagebüchern annehmen. Daraus ergibt sich zum einen zwar die Möglichkeit eines produktiven Ansatzes zur Untersuchung von Bildungsprozessen in Weblogs, zum anderen aber auch ein spezifisches analytisches Problem. Trotz Foucaults hoher Affinität zum Schreiben als Selbstpraxis, hat er kaum Hinweise gegeben, wie zwischen den beiden Praktiken (schreibender) Subjektivierung und Entsubjektivierung im Sinne einer Differenz zwischen ‚Geständnis‘ und ‚kritischer Erfindung seiner selbst‘ zu unterscheiden ist. Ziel ist es deshalb, eine Methode zu entwickeln, die einerseits Foucaults Hinweise zur Untersuchung von Wissen, Macht und Ethik aufgreift, andererseits einen möglichen Fokus auf Prozesse der kritischen Entsubjektivierung entwickelt.

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3.3 Methodische Überlegungen zur Untersuchung von Bildungsprozessen in Weblogs Die Ausarbeitung und Prüfung einer empirischen Dimension der im vorangehenden Abschnitt vorgestellten bildungstheoretischen Überlegungen wirft verschiedene Probleme auf. Weder ließen sich auf theoretischer Ebene die genaue Prozessstruktur eines Bildungsgeschehens rekonstruieren oder hinreichende Bedingungen für Bildungsprozesse identifizieren, noch war es möglich, der Ambivalenz von Subjektivierungs- und Entsubjektivierungsbewegungen durch eine klare Unterscheidung zu begegnen. Es gibt damit kein vorgegebenes Design für eine empirische Untersuchung von ‚Bildungsprozessen‘ in Weblogs. Tatsächlich geht es bei der nun folgenden Untersuchung nicht um eine ‚Prüfung‘ der theoretisch entwickelten Kategorien und Hypothesen. Vielmehr gilt die empirische Analyse in erster Linie dem Versuch einer genaueren Klärung von Momenten der ‚Bildung‘ als eines Prozesses, dessen Voraussetzungen, Struktur und Bedingungen ungewiss erscheinen. Sie versteht sich also als komplementäre Lektüre zu den bisherigen theoretischen Überlegungen und fragt danach, auf welche Weise ‚Subjekte‘ sich selbst problematisieren und ausarbeiten. Als möglicher Ansatzpunkt für eine solche Untersuchung bietet sich der Blick auf Prozesse der Subjektivierung und der Entsubjektivierung an. Es gilt deshalb, ein analytisches Werkzeug zu entwickeln, das die Bewegungen von Subjektivierung und Entsubjektivierung empirisch zu erfassen vermag. Wie gezeigt wurde, lassen sich Weblogs im Anschluss an Foucaults Überlegungen zum (Tagebuch-)Schreiben als Selbstpraktik im Spannungsfeld von Subjektivierung durch Kontrolle und Führung einerseits und Entsubjektivierung durch die Erfahrung der Bedingtheit und Kontingenz des eigenen Seins andererseits betrachten. Weder erscheinen sie als eine Möglichkeit der völlig freien Selbstgestaltung, noch sind sie auf eine rein gouvernemental wirkende Geständnispraxis zu reduzieren. Vielmehr bewegt sich die Praxis des ‚Bloggens‘ immer in den durch Wissensformen, Machtbeziehungen und Selbstführungen vorgegebenen Bedingungen, die in ihrer (notwendigen) Wiederholung verstärkt oder gebrochen werden können. Damit lässt sich in den Online-Tagebüchern jene Ambivalenz wieder erkennen, auf die Menke mit dem Begriff der ‚zweierlei Übung‘ aufmerksam macht (vgl. Menke 2003). Dieser verweist auf die Schwierigkeit der Unterscheidung, ob eine Selbstpraktik im vorstrukturierten Möglichkeitsfeld der Selbstführung verbleibt oder ob sie einem ‚permanenten Werden‘ entspricht, das mit Blick auf die aktuell gegebenen Bedingungen des eigenen Seins dieses neu erfindet. Die Herausforderung, der sich die empirische Untersuchung gegenüber sieht, besteht also darin, zwischen diesen beiden Praktiken – den ‚prekären‘

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Experimenten an der Grenze des eigenen Seins und den ‚Identität sichernden‘ gouvernementalen Selbsttechniken – zu unterscheiden. Die bisherigen Anhaltspunkte für eine solche Unterscheidung bezogen sich auf Foucaults Begriff der ‚Haltung‘, mit der eine spezifische Selbstpraktik ausgeführt wird. Diese ‚Haltung‘ drückt sich Menke zufolge in der Art und Weise des Umgangs mit Tätigkeiten und Erfahrungen aus. Während ein möglicher Umgang mit Erfahrungen diese als Fixpunkt nimmt, das eigene Sein zu ergründen und sich zu ihm zu ‚bekennen‘, zielt die andere Weise des Umgangs mit Erfahrungen auf die problematisierende und experimentell zersetzende Wiederholung der Bedingungen des eigenen Seins. Der Begriff der ‚Haltung‘ meint einerseits, dass eine ästhetisch-existentielle Übung als Experiment an der Grenze des eigenen Seins, das dieses Sein als anders-möglich entwirft, niemals still gestellt, d.h. niemals ‚erfüllt‘ werden kann. Andererseits gilt die Haltung bei einer gouvernementalen Übung der Vergewisserung bezüglich des Zieles und vor allem des dahin führenden Weges. Sie zielt auf die Schließung und Abgrenzung des vorstrukturierten Möglichkeitsfeldes. Die beiden Richtungen der ‚Haltung‘ lassen sich, wie bereits deutlich wurde, bildungstheoretisch mit den Begriffen von ‚Seinsgewissheit‘ und ‚Seinsungewissheit‘ korrelieren. Bildungsprozesse stellen demnach eine praktische Wiederholung der Bedingungen der eigenen Unterwerfung dar, deren Charakteristik darin besteht, diese Erfahrung der eigenen Subjektivität zur Erfahrung einer Seinsungewissheit zu machen (d.h. eine Ungewissheit zu produzieren), die den vorstrukturierten Möglichkeitsraum öffnet und/oder verschiebt. Die Rede von Seingewissheit und -ungewissheit bietet nun einen möglichen Anschluss an die bildungstheoretische Konzeption von Subjektivität als Verhältnis zur Welt und zum Selbst. Bildungsprozesse lassen sich, wie gezeigt wurde, mit Foucault als Momente der Destabilisierung von soziokulturell gegebenen Figuren des Denkens, der Handlung, des Sprechens und der Wahrnehmung fassen. Diese Figuren des Denkens, Sprechens, Handelns und Wahrnehmens konstituieren Foucault zufolge Subjektivität. Sie lassen sich dementsprechend in erster Näherung auch als ‚Welt- und Selbstverhältnis‘ von Subjekten bezeichnen, sofern dieses Konzept in analoger Weise darauf zielt, Subjektivität zu erfassen. Seinsgewissheit meint vor diesem Hintergrund die Konsolidierung eines (vor-)gegebenen Welt- und Selbstverhältnisses. Seinsungewissheit hingegen erscheint als Moment, in dem die radikale Grund- und Ursprungslosigkeit des (vor-)gegebenen Welt- und Selbstverhältnis aufscheint. Diese radikale Seinsungewissheit durchkreuzt das figurierte Sein und bildet die Voraussetzung dafür, dass das Welt- und Selbstverhältnis ‚aufs Spiel‘ gesetzt und als anders-möglich entworfen werden kann. Foucault arbeitet in seinen eigenen Untersuchungen nicht explizit mit dem Konzept des ‚Welt- und Selbstverhältnisses‘. Dennoch stehen die Fragen nach der Konstitution der Subjekte im diskursiven Wissen, in Machtbeziehungen 165

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und konstituierenden Selbstpraktiken im Zentrum seiner Untersuchungen. Es lässt sich deshalb annehmen, dass Foucaults methodische Überlegungen geeignete Ansatzpunkte bieten, die Figuration des Welt- und Selbstverhältnisses von Subjekten in Diskurs-, Macht- und Selbstpraktiken zu erfassen: Die Diskursanalyse gilt der Position des Subjekts im Wissen, man könnte auch sagen dem Weltverhältnis als gegebener Position im Diskurs. Die Analytik der Macht zielt auf die strategischen Verhältnisse, in denen Subjekte gegenseitig auf ihre Handlungen einzuwirken versuchen, um so Möglichkeitsfelder zu generieren und zu strukturieren, sowie auf die Orientierung an Normen, Normalitäten und Kategorienrastern. Diese Machtbeziehungen kennzeichnet entsprechend das Anderenverhältnis. Die ethische Analyse interessiert sich für das Selbstverhältnis, also für die Art und Weise, in der sich das Subjekt auf sich selbst bezieht, um sich so als spezifisches Subjekt anzuerkennen und auszuarbeiten. Die Konstitutionsmechanismen des Welt- und Selbstverhältnisses lassen sich demzufolge gut mit Foucaultschen Begrifflichkeiten und Werkzeugen erfassen: Sie ergeben sich aus dem Zusammenspiel der Diskursposition (Wissen/Archäologie) und dem Netz der Machtbeziehungen (Macht/ Genealogie) einerseits und den Selbstbezügen (Selbst/Ethik) andererseits. Damit können allerdings die Momente, in denen möglicherweise eine Seinsungewissheit aufscheint, nicht erfasst werden. Will man deshalb Prozesse der Entsubjektivierung untersuchen, so muss neben den Momenten der Konstitution und Konsolidierung von Welt- und Selbstverhältnissen auch deren Irritation und Destabilisierung erfasst werden. Zweierlei wurde bislang deutlich. Zum einen liegt Foucault zufolge das Provokationspotenzial von Seinsungewissheit in den Selbstpraktiken, die in einer reflexiven Wendung auf die Bedingungen des eigenen Seins gerichtet sind. Zum anderen konnte gezeigt werden, dass Selbstpraktiken immer in einem Spannungsfeld von Subjektivierung und Entsubjektivierung stehen. Subjektivierungsmomente und Entsubjektivierungsmomente lassen sich dementsprechend nicht ohne Weiteres voneinander trennen. Es scheint also, als müsste man auch in der Untersuchung von Struktur und Bedingungen von Bildungsprozessen immer beide Momente in den Blick nehmen. Denn jede Praxis könnte beides sein: sowohl Subjektivierung als auch ‚Entsubjektivierung‘. Das im Folgenden entwickelte methodische Vorgehen geht davon aus, dass diesem Spannungsfeld nur mit einer doppelten Näherung begegnet werden kann. Den Ausgangspunkt bilden die drei von Foucault vorgeschlagenen Formen der Analyse: die Diskursanalyse, die Analytik der Macht und die ethische Analyse. Sie zielen auf die figurierte, in sozialen und kulturellen Praktiken konstituierte Subjektivität. Den drei Analyseformen ist jeweils ein Abschnitt gewidmet, in dem die Methode zunächst kurz allgemein dargestellt wird, um davon ausgehend die Aspekte herauszuarbeiten, die für die Untersuchung von Weblogs produktiv erscheinen. In einem letzten Schritt erfolgt 166

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dann die Zusammenführung dieser drei Achsen, um so zum Vorschlag eines methodischen Vorgehens zur Analyse von Diskurspositionen, Machtverhältnissen und Selbstverhältnissen zu gelangen, das die Untersuchung von Weblogs anzuleiten vermag. Diese erste Annäherung an das Spannungsfeld der Subjektivierung gilt damit vor allem den Figuren eines Welt- und Selbstverhältnisses ohne in spezifischer Weise Brüche in diesem Welt- und Selbstverhältnis erfassen zu können. Es muss deshalb eine zweite Annäherung an den Gegenstand erfolgen, in der nach Momenten der Seinsungewissheit gesucht wird. Da die Grenzen einer theoretischen Begründung des spezifischen Vorgehens einer solchen Suche bereits im vorangehenden Kapitel deutlich wurden, soll ihr Einsatz erst auf Basis der Ergebnisse der ersten Annäherung erfolgen. Die Überlegungen zur möglichen Methodisierung dieser Suche werden entsprechend an späterer Stelle erfolgen.

3.3.1 Diskurspraktiken: Foucaults ‚Diskursanalyse‘ Der diskursanalytische Ansatz Foucaults hat eine enorme Verbreitung im Rahmen empirischer Untersuchungen erfahren. Dies liegt vermutlich daran, dass Foucault das methodische Vorgehen in seiner Archäologie des Wissens (Foucault 1981) recht genau dargestellt sowie selbst eine Reihe von Beispielen eigener diskursanalytischer Untersuchungen vorgelegt hat. Für die hier verfolgte Fragestellung sind die verschiedenen Etappen und vielfältigen Linien der Rezeption und Weiterentwicklung des diskursanalytischen Zugriffs allerdings weniger relevant.13 Stattdessen sollen die Prinzipien einer Diskursanalyse direkt anhand der Archäologie des Wissens rekonstruiert werden, um so die Möglichkeiten einer Analyse der ‚Weltverhältnisse‘ von Subjekten in Weblogs ausloten zu können. Eine Diskursanalyse zielt Foucault zufolge auf die Beschreibung der Konstitution und Transformation von Wissensordnungen (vgl. Foucault 1981: 27). Mit einer Wissensordnung ist das Netz aus impliziten diskursiven Regeln gemeint, die die Strukturen des Sprechens, Handelns, Denkens und Wahrnehmens bestimmen. Diese Regeln werden von der diskursiven Praxis selbst ge13 Einen Überblick zu den verschiedenen Linien von Diskurstheorie und Diskursanalyse findet sich in Angermüller 2001 und in Keller 1997. Eine Sammlung methodischer Überlegungen und Studien der Foucaultschen Diskursanalyse im sozialwissenschaftlichen Bereich bietet das vom Arbeitskreis Diskursanalyse herausgegebene zweibändige „Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse“ (vgl. Keller et al. 2001 und 2003) sowie der Sammelband „Das Wuchern der Diskurse“ (vgl. Bublitz et al. 1999). Ganz eigene Ausgestaltungen der Foucaultschen Diskursanalyse bieten jeweils der Literaturwissenschaftler Jürgen Link (vgl. Link: 1999) und der Linguist Siegfried Jäger (vgl. Jäger 20044). Für die Rezeption der Foucaultschen Diskursanalyse in der Erziehungswissenschaft siehe Koller und Lüders 2004.

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neriert, sofern diese spezifische, sich strukturell wiederholende Beziehungen zwischen Aussagen herstellt und so konstituiert, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt an einem bestimmten Ort ‚gewusst‘ und damit gesagt werden kann. Eine Wissensordnung kann etwas sehr Umfassendes sein, wie z.B. die in der Ordnung der Dinge untersuchten ‚Epistemai‘ verschiedener Epochen (vgl. Foucault 1974). So ist Foucault zufolge die Episteme, d.h. die Wissensordnung der gesamten ‚Renaissance‘, die ‚Ähnlichkeit‘, während die Wissensordnung der ‚Klassik‘ dem Prinzip der ‚Repräsentation‘ folgt und die Moderne schließlich das Ordnungsschema ‚Mensch‘ einführt (vgl. ebd.). Gegenüber diesen umfassenden Ordnungen ermöglicht die in der Archäologie des Wissens rekonstruierte Methode auch die Beschreibung sehr viel lokalerer Ordnungen des Wissens (vgl. Foucault 1981: 29). Sie zielt auf einzelne ‚diskursive Formationen‘, d.h. auf die Regelhaftigkeit sozial und kulturell begrenzter diskursiver Praktiken. Den Ausgangspunkt einer (archäologischen) Diskursanalyse bildet die Frage nach den Bedingungen des Erscheinens einer Aussage: „[W]ie kommt es“, fragt Foucault, „daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?“ (ebd., 42). Aussagen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Diskursgegenstände, Subjektpositionen, begriffliche Ordnungen und diskursive Strategien – kurz: das spezifische historische „Wissen“ – hervorbringen. Dies vermag eine Aussage nur, sofern sie Teil einer regulierten diskursiven Praxis ist, die das Aussagenfeld ordnet und dabei charakteristische Beziehungen zwischen dessen Elementen hergestellt. Um dieses regelhafte In-Beziehung-Setzen zu erfassen, schlägt Foucault vor, die diskursive Konstitution von ‚Wissen‘ in vier Richtungen zu verfolgen (zum Folgenden siehe Koller/Lüders 2004: 60ff.). Als erstes fragt Foucault nach den Diskursgegenständen. Foucaults Grundannahme ist, dass ein Diskurs nicht auf gegebene Gegenstände referiert, sondern diese nach bestimmten Regeln überhaupt erst hervorbringt. Um diese „Formation der Gegenstände“ genauer zu beschreiben, betrachtet Foucault zunächst die gesellschaftlichen Felder, in denen ein Gegenstand als solcher erscheint. Gemeint sind soziale Gruppen, Milieus oder Institutionen wie Justiz, Kirche und Schule; d.h. „Oberflächen“, die für spezifische Unterschiede empfindlich sind und diese diskursiv konstituieren. Innerhalb solcher Oberflächen und Felder wird der Gegenstand weiter differenziert. Dabei interessieren einerseits die Instanzen, die den Gegenstand diskursiv eingrenzen und ausarbeiten. Andererseits fragt Foucault nach den Systemen und Rastern, mit deren Hilfe Gegenstände geordnet, klassifiziert, unterschieden und modifiziert werden (wie z.B. statistische Verfahren, logische Muster, Beschreibungskategorien, Prinzipien der Analogie und der Opposition). Die diskursiven Regeln für die Formation der Gegenstände ergeben sich aus dem charakteristischen

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Zusammenspiel von Oberflächen, Instanzen und Rastern, kraft derer ein Gegenstand an einem definierten Ort im Diskurs zur Existenz gekommen ist. Im zweiten Schritt fragt Foucault nach den Formationsregeln für die Äußerungsmodalitäten eines Diskurses. Die „Modalität“ einer Äußerung ist gekennzeichnet durch die Formation einer spezifischen Subjektposition, von der aus die Äußerung getätigt werden kann. Um zu beschreiben, wie die diskursive Praxis diese Positionen reguliert, betrachtet Foucault zunächst, wer spricht und welcher Status dem Sprechenden zuerkannt wird. Als zweites interessiert, welches der Ausgangs- und „Anwendungspunkt“ des Diskurses ist, d.h. von welchen institutionellen Plätzen aus gesprochen wird. Darüber hinaus wird gefragt, wie die Sprechsituation, d.h. das Verhältnis zwischen Sprecher und Diskursgegenständen, bestimmt ist. Eine Annäherung an Diskursgegenstände kann z.B. betrachtend, fragend oder urteilend erfolgen und von bestimmten (technischen) Hilfsmitteln oder Klassifikationssystemen abhängen. In dem Beziehungsspiel zwischen Sprecherstatus, institutionellen Orten der Rede und Sprechsituationen stellt die diskursive Praxis nach bestimmten Regeln Subjektpositionen her. Deutlich wird hier wiederum, dass Foucault nicht von einem autonomen, seiner selbst bewussten Subjekt als vorgängiger Instanz des Sprechens ausgeht. Gezeigt wird vielmehr, wie Individuen diskursiv formierte und zerstreute Positionen einnehmen müssen, um überhaupt als Subjekte auftreten zu können. Als drittes geht Foucault davon aus, dass der Diskurs Begriffe hervorbringt. Foucault zufolge ist die spezifische Organisation des Aussagenfeldes Bedingung für das Erscheinen von („verstreuten“, d.h. heterogenen) Begriffen. Deshalb bedarf es einer genauen Untersuchung der Ordnung des Aussagenfeldes, in dem ein Begriff auftauchen und zirkulieren kann. Foucaults Beschreibung greift drei Aspekte der Konfiguration eines solchen Feldes auf. Zunächst wird die für eine diskursive Praxis typische Anordnung von Aussagen betrachtet: ihre chronologische Reihung, ihre argumentativ-logische Gliederung und ihre rhetorische Aufbereitung. Dann wird untersucht, wie die diskursive Praxis Beziehungen zwischen dem aktuellen Äußerungsfeld und anderen, diskursfremden Aussagefeldern herstellt: Ein Diskurs gewinnt seine spezifische Form dadurch, dass er Felder von zitierten und als wahr übernommenen Aussagen bildet, dass er Nachbardiskurse als Modelle, Prämissen oder Analogien geltend macht und dass er aus nicht mehr ‚zugelassenen‘ Aussagen Gebiete historischer Ableitung, Abgrenzung oder Transformation etabliert. Des Weiteren interessieren die Prozeduren der charakteristischen Bearbeitung von Aussagen: ihre Formalisierung, Umarbeitung oder Systematisierung sowie Verfahren zur Steigerung bzw. Verringerung ihrer Gültigkeit. Die diskursive Regelmäßigkeit liegt nun in der Art und Weise, wie die innere Konfiguration eines Aussagenfeldes, seine Verbindungen zu anderen Feldern und sei-

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ne Formen der Bearbeitung von Aussagen durch die diskursive Praxis zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die vierte und letzte Untersuchungsrichtung zielt auf die thematische oder theoretische Bündelung eines Diskurses. Die Frage gilt dabei den Regeln, nach denen eine diskursive Praxis verschiedene inhaltliche Optionen eröffnet und realisiert. Solche Optionen ergeben sich aus der „strategischen“ Ausarbeitung von Diskursobjekten, Äußerungsformen und Begriffen, die sich einerseits diskursimmanent, andererseits durch Praktiken ergeben, die dem Diskurs äußerlich sind. Demzufolge zielt die Analyse auf die innere und äußere Organisation einer diskursiven Praxis. In einem ersten Schritt betrachtet Foucault die diskursimmanenten „Bruchpunkte“ und Verzweigungsstellen. Inkompatibilitäten im Diskurs können strategische Ausgangspunkte für verschiedene Themen sein. Da jedoch niemals alle thematischen Optionen tatsächlich realisiert werden, untersucht Foucault in einem zweiten Schritt, welche Instanzen in die Realisierung bzw. den Ausschluss bestimmter Themen involviert sind. Hierbei spielt einerseits die diskursive Gesamtkonstellation eine Rolle. Je nachdem, ob der Diskurs zu anderen Diskursen im Verhältnis der Über- oder Unterordnung, der Analogie, der Opposition, der Begrenzung oder der Komplementarität steht, sind bestimmte Themen möglich oder werden ausgeschlossen. Andererseits hängt die Realisierung einer strategisch-thematischen Möglichkeit auch von dem Feld der „nicht-diskursiven Praktiken“ ab. Je nach ihren Einsatzmöglichkeiten in praktischen Zusammenhängen (z.B. zur Aneignung des Diskurses durch bestimmte Gruppen oder zur Instrumentalisierung im Dienste von Bedürfnissen und Interessen) werden bestimmte Themen realisiert und ausgebaut.14 Auch hier ergibt sich die diskursive Regelmäßigkeit aus der spezifischen und konstanten Weise, in der diese Differenzierungsebenen miteinander in Beziehung gesetzt werden, sodass Themen realisiert bzw. ausgeschlossenen werden. Foucault zufolge werden in der diskursiven Praxis also Gegenstände, Äußerungsmodalitäten, Begriffsraster und thematische Strategien konstituiert. Von dieser Prämisse ausgehend beschreibt die Diskursanalyse jene Regeln, die festlegen, was zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gesagt, getan und wahrgenommen werden kann. Die vier von Foucault vorgeschlagenen Schritte einer archäologischen Diskursanalyse stellen allerdings keine vollständige und beliebig übertragbare Methode dar. Sie sind eher als spezifischer Blick zu verstehen, der Äußerungen nicht als Hervorbringung intentio14 Das Verhältnis von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken bleibt in der Archäologie des Wissens insgesamt vage (vgl. Waldenfels 1991: 291). Genau hier wird Foucault ein Jahr nach Erscheinen der Archäologie des Wissens im Rahmen seiner Inauguralvorlesung Die Ordnung des Diskurses mit einer genaueren Klärung einsetzen, der ihn zum ‚Machtbegriff‘ führt. Das Zusammenspiel von ‚Wissen‘ und ‚Macht‘ beschäftigt Foucault aber immer wieder.

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nal handelnder Subjekte, sondern als Produkte eines anonymen, aber regelhaften Geschehens begreift. Entscheidend ist dabei, dass synthetische Funktionen wie Autorschaft, Bewusstsein, Identität, Sinn und Teleologie eingeklammert und selbst als Regulationsprinzipien betrachtet werden: Ausgangspunkt der Analyse sind tatsächliche sprachliche Ereignisse, die nicht auf ihre Bedeutung, sondern auf ihre äußerlichen Erscheinungsbedingungen in ihrer Regelhaftigkeit hin untersucht werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, was eine solche Betrachtung von Diskursen zur Analyse von Weltund Selbstverhältnissen in Weblogs beitragen könnte. Es wurde bereits gezeigt, dass Foucaults ‚Archäologie‘ subjekttheoretische Implikationen beinhaltet (vgl. Kapitel 2.2). Demnach erfolgt die Konstitution von Subjektivität in der diskursiven Praxis. Ansatzpunkt ist dabei Foucaults zweiter Schritt seiner archäologischen Diskursanalyse: die Frage nach den Formationsregeln für die ‚Äußerungsmodalitäten‘ eines Diskurses. Die ‚Modalität‘ einer Äußerung ist, wie gezeigt wurde, gekennzeichnet durch die spezifische Subjektposition, von der aus die Äußerung getätigt werden kann. Sie ergibt sich durch das typische Zusammenspiel von Status des Sprechers, Ort der Rede und Verhältnis zwischen Sprechendem und Diskursgegenständen. Damit zeigt die Diskursanalyse, wie das Subjekt in spezifischer Weise zu Gegenständen, Begriffsrastern und Themenkomplexen positioniert wird. Diese Positionierung bedeutet gleichzeitig eine subjektivierende Unterwerfung unter die diskursiven Wissensordnungen. Die Position im Wissen ist also gleichzeitig die spezifische Subjektivität eines Individuums. Sie lässt sich, so meine These, deshalb auch als Teil der Figuration von Welt- und Selbstverhältnissen verstehen. Die Annahme ist also, dass die Wissensordnungen – vor allem mittels der Formation der Äußerungsmodalitäten einer Aussage – Positionen im Wissen und damit auch Weltverhältnisse konstituieren. Diese Perspektive scheint auch hinsichtlich der Untersuchung von Weblogs angemessen: Nicht die Bloggerin oder der Blogger entwirft sich im Weblog autonom und frei von Vorgaben als bestimmtes Subjekt, sondern es werden in der diskursiven Praxis Positionen formiert, die eingenommen werden müssen, um überhaupt als Subjekt auftreten und sprechen zu können. Foucault führt in der Archäologie des Wissens aus, dass von seiner vierfachen Analyse der diskursiven Formation von Gegenständen, Äußerungsmodalitäten, Begriffen und Themen ein Untersuchungsgegenstand meist eines dieser Felder in den Vordergrund treten lässt (vgl. Foucault 1981: 95). Dies lässt sich auf die Analyse von Weblogs übertragen. Will man die Figuration von Subjektivität untersuchen, so liegt es nahe, das Hauptaugenmerk auf jenes durch Äußerungsmodalitäten bedingte Weltverhältnis zu werfen. Die Frage nach der diskursiven Konstitution von Gegenständen, Begriffen und Themen muss deshalb nur dann aufgegriffen werden, wenn sie die Äußerungsmodalitäten und damit Figuren des Weltverhältnisses unmittelbar betreffen. Dabei 171

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darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass die vier Felder der Analyse dennoch miteinander verbunden bleiben: Von der Diskursposition des ‚Vernünftigen‘ aus lässt sich erst sprechen, wenn der Gegenstand ‚Wahnsinn‘ diskursiv konstituiert wurde. Neben dieser Konzentration auf die Äußerungsmodalitäten gibt es einen weiteren zentralen Unterschied zwischen der Untersuchung von Weblogs und der von Foucault vorgeschlagenen Diskursanalyse. Beide Untersuchungen verfolgen verschiedene Ziele. Foucault betreibt Diskursanalyse vor allem, um Brüche in den Ordnungen des Wissens ausfindig zu machen. Diesen Brüchen oder ‚Transformationen‘ von Wissensordnungen schreibt er keinerlei ‚bildende‘ Bedeutung zu. Er konstatiert sie einzig und allein, um durch sie die Regulation und Begrenztheit eines gegebenen Wissens und dessen Kontingenz zu zeigen. Damit verbunden ist zum einen die Notwendigkeit, viele verschiedene Dokumente zu untersuchen. Zum anderen darf nicht vorab eine zu untersuchende Einheit gesetzt werden, wie dies zweifellos in der Untersuchung eines einzelnen Weblogs geschieht. Da jedoch die Prinzipien einer Diskursanalyse trotz dieser Differenzen in der Zielsetzung gleich bleiben, halte ich es für legitim, einige ihrer Annahmen dafür zu nutzen, diskursive Subjektpositionen in Weblogs zu rekonstruieren. Foucaults These ist, dass in der diskursiven Praxis die Positionen des sprechenden und handelnden Subjekts im ‚Wissen‘ hervorgebracht werden. Diese Positionen im Diskurs müssen von Individuen eingenommen werden, damit sie als Subjekte sprechen können. In Bezug auf Weblogs ist zu fragen, welche diskursiven Subjektpositionen eingenommen werden, d.h. mittels welcher Äußerungsmodalitäten eine Subjektivierung stattfindet. Der Begriff der ‚Äußerungsmodalitäten‘ meint die spezifischen Bedingungen einer Aussage, die Foucault mit drei Analysefragen zu erfassen versucht: (a) Wer spricht und welcher Status wird dem Sprechenden zuerkannt? (b) Von welcher (institutionellen) Position aus wird gesprochen? (c) In welchem Verhältnis zum Feld oder Gegenstand wird gesprochen? Diese Trennung in drei Frageschritte resultiert vor allem aus dem Gegenstand, den Foucault im Blick auf die Formation von Äußerungsmodalitäten untersucht hat. In seiner Studie zur Geburt der Klinik (vgl. Foucault 1976) zielte er damit auf das Zusammenspiel des Status der Ärzte (a) mit den verschiedenen Institutionen wie Labor, Krankenhaus oder Privatpraxis (b) sowie den unterschiedlichen medizinischen Verfahrensweisen wie Horchen, Diagnostizieren, Fragen, Betrachten, mit ihren jeweils spezifischen technischen Hilfsmitteln wie Auge, Finger, Röntgenapparat oder Stethoskop unterstützt werden (c) (vgl. Foucault 1981: 76ff.). Dieser Dreischritt soll auf die Frage nach den Äußerungsmodalitäten in Weblogs übertragen und modifiziert werden.

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(a) ‚Wer spricht, …‘ In Weblogs wird stets als ‚jemand‘ gesprochen, d.h. als Person mit spezifischem Status. Dies gilt auch, wenn sich das Individuum als eine ‚andere Person‘ (mit erfundenem Namen und erfundenen Eigenschaften) ausgibt oder anonym bloggt. Denn mit der Frage ‚Wer spricht?‘ soll im Weblog nicht nach Hinweisen auf die ‚wahre‘ Identität gefahndet werden, sondern nach jenem Status, den ein Individuum einnehmen muss, um Subjekt einer bestimmte Äußerung sein zu können. Aussagen über das eigene chaotische Leben implizieren einen anderen Subjektstatus als Abhandlungen über das Layout von Webseiten. Zum Status können Merkmale wie Geschlecht, gesellschaftliche Positionierung, Kompetenzen, Interessen, Erfahrungen und Ähnliches gehören. Das ist so zu verstehen, dass bestimmte Äußerungen erforderlich machen, dass sie z.B. von einem ‚weiblichen‘ Subjekt oder einem ‚Kind‘ oder einem Subjekt mit spezifischer Erfahrung und Kompetenz getätigt werden. Es liegt nahe, dass bestimmte Aspekte in Weblogs über diese Frage nach dem Status einen besonderen Aufschluss ermöglichen. Dazu gehören zum einen Angaben über die eigene ‚Identität‘ und über Vorlieben, Abneigungen oder Kompetenzen. Zum anderen zeigen sich die Diskursposition aber nicht nur auf dieser semantischen Ebene, sondern auch in der Art und Weise, wie geschrieben wird, d.h. im Stil, in der Verwendung spezifischer Wortformen wie Metaphern, in dem Umgang mit Personalpronomina und Ähnlichem.

(b) ‚von welchem institutionellen Ort aus …‘ Foucault zielt mit dieser Frage auf die institutionellen Orte, von denen aus gesprochen wird. Damit spielt er in seiner Untersuchung des ärztlichen Sprechens auf die verschiedenen Orte wie Krankenhaus, Privatpraxis und Labor an. Übertragen auf Weblogs wäre zu fragen, wie ein Online-Tagebuch als spezifischer Ort und Raum des Sprechens konstituiert wird. Es kann z.B. als Ort der Kritik, als Raum der Selbstentfaltung, als Forum für Alltagserzählungen, als Feld zur Anbahnung von Beziehungen oder als Forum für Austausch mit Freunden funktionieren. Oder anders gesagt: Es kann sich um einen eher öffentlichen oder privaten, persönlichen oder technischen, analytischen oder informativen Raum handeln. Zu der Bestimmung des Ortes gehört dessen Begrenzung wie auch dessen Gestaltung, sowie seine Verbindungen zu bestimmten anderen Orten und Räumen, die sich in Weblogs unter anderem durch deren ‚Verlinkung‘ ablesen lässt.

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(c)

‚… und in welchem Verhältnis zum Diskursgegenstand?‘

Foucaults Frage nach dem Verhältnis zum Diskursgegenstand zielt auf das ‚Blickraster‘: Was wird betrachtet, mit welchem Raster, aus welcher Distanz, mit welchem Ziel und von welchen Prämissen ausgehend? Es geht also um den Abstand und die Einstellung des Subjekts gegenüber verschiedenen Gegenständen oder Feldern. Abstand und Einstellung können z.B. involviert, distanziert, kritisch, subjektiv, authentisch, ironisch, sarkastisch oder betroffen sein. Das Verhältnis zum Gegenstand ist dabei gleichzeitig Subjektivierungsmuster. Je nach ‚Stil‘ – Beschreibung, Erzählung, Interpretation, Bericht, Kritik, Polemik, Klage – würde es sich z.B. um ein bekennendes, fragendes, belehrendes, berichtendes oder kritisierendes Subjekt handeln. Es mag schwierig erscheinen, die hier genannten drei Schritte getrennt voneinander abzuarbeiten, da verschiedene Aspekte ineinander greifen. So impliziert ein bestimmter ‚Ort‘ oft auch einen spezifischen ‚Stil‘ und umgekehrt. Das ist aber insofern unproblematisch, als Foucault insgesamt selbst auf das Zusammenspiel der drei analytischen Fragen nach Status, Ort und Verhältnis zielt. Denn erst dieses ergibt die diskursive(n) Subjektposition(en) in einem Weblog. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie sich innerhalb eines Weblogs verschiedene Sprecherstatus, diskursive Orte und Abstände voneinander unterscheiden lassen. Denn es handelt sich um eine ich-basierte Textsorte, die formal meist einem einzelnen Individuum zugeschrieben wird. Das ‚ich‘ lässt sich dementsprechend formal immer eindeutig zuzuordnen. Aber genauso wie Foucault davon ausgeht, dass das Subjekt „keine Substanz“ ist, sondern in „unterschiedlichen Formen“ konstituiert wird (Foucault 1985: 18), lassen sich auch in Weblogs jenseits einer formalen ich-Zuordnung verschiedene Formen subjektiven Sprechens unterscheiden. Foucaults These ist, dass sich im Diskurs „ein Netz von unterschiedlichen Plätzen“ entfaltet (Foucault 1981: 82). Diese lassen sich bildungstheoretisch als Figuren des ‚Weltverhältnisses‘ fassen. Ausgangspunkte für die Bestimmung dieser Figuren sind dabei nicht primär die medialen Wechsel im Weblog zwischen Zitaten und Liedtexten, Fotos, links auf andere Seiten, und Texten oder Bildern. Vielmehr wird bei genauerer Lektüre deutlich, dass oft bereits im Rahmen der einzelnen Einträge mit unterschiedlichem ‚Status‘ gesprochen wird, das Weblog als ‚Ort des Sprechens‘ in seiner Funktion variiert und die auf die Diskursgegenstände angewandten ‚Raster‘ voneinander abweichen.

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3.3.2 Machtpraktiken: Foucaults ‚Analytik der Macht‘ Während Foucaults Diskursanalyse mit der Archäologie des Wissens eine umfangreiche methodische Schrift erhalten hat, sucht man nach einer solchen zusammenfassenden Darstellung von Hinweisen zum methodischen Vorgehen bei der Analyse von Machtbeziehungen vergeblich.15 Den Begriff, den Foucault selbst am häufigsten für sein Vorgehen wählt, ist der der ‚Genealogie‘. Die Prinzipien einer genealogischen Beschreibung wurden bereits erläutert (vgl. Kapitel 2.3). Ihr Ziel ist die Erschütterung vermeintlich wahrer Erkenntnisse und universeller Geltung, um stattdessen örtlich begrenzte Machtkämpfe und veränderliche Wissenssysteme in den Blick zu bekommen. Sie ist deshalb eine Art kritische „Einsichtigmachung“ (Foucault 1992: 37), die scheinbar universale und historisch notwendige Gegebenheiten durch die Analyse ihrer Akzeptabilitätsbedingungen als kontingent und gewaltsam entlarvt. Allerdings ist mit dieser Bestimmung von ‚Genealogie‘ für die konkrete Analyse noch nicht viel gewonnen. Zwar wird deutlich, dass man für die Untersuchung von Machtbeziehungen einen ‚genealogischen‘ – und das heißt vor allem: kritischen – Blick braucht. Aber wie genau der in Frage stehende Gegenstand in den Blick genommen wird, bleibt offen. Produktiver erscheint deshalb der Begriff der ‚Macht‘, den Foucault selbst als analytisches Konzept benutzt. Auch zu dem Begriff der Macht wurde bereits einiges gesagt. ‚Macht‘ meint „viele einzelne, definierbare und definierte Mechanismen […], die in der Lage scheinen, Verhalten und Diskurse zu induzieren“ (Foucault 1992: 32). Sie ist immer zu verstehen als Machtbeziehung, also als ein Verhältnis zwischen Handlungspartnern, die gegenseitig ihre Möglichkeitsfelder zu strukturieren suchen. Diese Strukturierungsversuche bzw. der Widerstand gegen sie (vgl. Foucault 2005f: 273) bilden den Fokus einer Analytik der Macht. Wichtige Aspekte sind die diskursiven Praktiken, denn der „Diskurs befördert und produziert Macht; er verstärkt sie, aber er unterminiert sie auch, er setzt sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam“ (Foucault 1983: 122). Aber die Analytik der Macht umfasst auch die konkreten Zugriffe auf den Körper durch Blick, Raum und Techniken der Übung und Disziplinierung. Insgesamt gilt die Analyse von ‚Macht‘ in Weblogs vor allem den gouvernementalen Machtbeziehungen, die eine Form des Einwirkens auf die Handlungen der anderen darstellen, die das Ziel verfolgt, dass dieser eine spezifische Selbstbeziehung herstellt bzw. diese ausar15 Das heißt nicht, dass Foucault keine methodischen Überlegungen unternimmt. Sie sind nur im Vergleich zur Archäologie des Wissens weniger genau durchgearbeitet, und Foucault hat nirgendwo eine umfassende Bündelung dieser methodischen Hinweise vorgenommen. Den Versuch einer Sammlung von zentralen Texten Foucaults zum Machtbegriff unternimmt Thomas Lemke (vgl. Lemke 2005).

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beitet und modifiziert. Die gouvernementale Machtform verknüpft dabei in enger Weise die Machtbeziehung mit dem (ethischen) Selbstverhältnis von Subjekten. In der Entwicklung einer Untersuchungsmethode ist nun die Frage zu beantworten, wie ausgehend von diesem Konzept der ‚Macht‘ ein analytischer Zugriff auf die Figuren von Welt- und Selbstverhältnissen möglich ist. Machtverhältnisse sind für Foucault „Interaktionsbeziehungen zwischen Individuen oder Gruppen“ (Foucault 1992: 38), die der Logik eines spezifischen Spiels folgen, das Optionen, Entscheidungen, Verhaltenstypen und vor allem Subjekte impliziert (vgl. ebd.). Genau dieses Spiel, das „ständig wechselnden Margen von Ungewissheit“ unterliegt (ebd.), lässt sich als subjektivierendes ‚Anderenverhältnis‘ fassen, wie Foucault immer wieder an Beispielen deutlich macht: „Die Machtbeziehungen sind überall. […] Allein schon die Tatsache, dass Sie Studentin sind, versetzt Sie in eine bestimmte Machtposition. Andererseits bin ich als Professor gleichfalls in einer Machtposition. Ich bin in einer Machtposition, weil ich keine Frau bin, sondern ein Mann. Und als Frau sind Sie gleichfalls in einer Machtposition, nicht in derselben, aber wir beide sind gleichermaßen in einer Machtposition. Von jedem, der etwas weiß, können wir sagen, dass er Macht ausübt. Stupide ist solch eine Kritik, wenn sie sich darauf beschränkt. Interessant ist dagegen, wie die Maschen der Macht in einer Gruppe, einer Klasse, einer Gesellschaft funktionieren, das heißt, wo sie jeweils im Netz der Macht lokalisiert sind und wie sie Macht ausüben, sichern und weitergeben.“ (Foucault 2005d: 244)

Diese Form der beweglichen Machtspiele lässt sich auf das Funktionieren eines Weblogs übertragen. Wenn in einem Weblog die Bloggerin in den Leserkommentaren z.B. als ‚attraktive Frau‘, als ‚amüsante Zynikerin‘ oder als ‚begabte Webdesignerin‘ angesprochen wird, so ist dies eine mögliche Form der Anerkennung als Subjekt. Gleichzeitig wird dem Subjekt ‚attraktive Frau‘, ‚amüsante Zynikerin‘ oder ‚begabte Webdesignerin‘ ein spezifisches Feld möglicher Optionen eröffnet: Es kann sich distanzieren, kokettieren, das Gespräch am Laufen halten, noch ‚zynischer‘ werden oder Ähnliches. Damit ist die Entscheidung selbst vorab zwar nicht festgelegt, aber die Optionen bewegen sich doch innerhalb eines vorstrukturierten Feldes, und es lassen sich möglicherweise typische Verhaltensmuster und Handlungsweisen feststellen. Umgekehrt stellt die Gestaltung des Weblogs und das darin Geschriebene selbst bereits eine strategische Strukturierung der Möglichkeitsfelder der Weblogbesucher dar: Es legt spezifische Weisen der Wahrnehmung und Reaktion nahe, andere nicht. Genau in diesen Machtbeziehungen erfolgt die Subjektivierung als Effekt aus Handlungsweisen, in denen Handlungspartner gegenseitig auf ihre Handlungen einwirken und in einem strukturierten Möglichkeitsfeld typische Entscheidungen treffen.

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Wie in allen gesellschaftlichen Feldern sind also auch in Weblogs Machtbeziehungen wirksam, die die Möglichkeitsfelder des Handelns konstituieren und strukturieren. Stärker als bei den Diskurspositionen geraten dabei die strategischen Möglichkeiten der ‚Führung‘ in den Blick. Sie zeigen sich einerseits in der interpersonalen Kommunikation, die in Weblogs vor allem durch die Kommentarfunktion ermöglicht wird, andererseits in den Mechanismen der ‚Disziplinierung‘ durch Normalitätserwartungen, Konventionen, Kategoriensysteme und Autoritäten. Diese Machtverhältnisse gilt es, als weiteren Aspekt der Figuration von ‚Welt- und Selbstverhältnissen‘ zu analysieren, und zwar als Verhältnis, in dem das Subjekt gleichzeitig Effekt und Ausgangspunkt strategischer Handlungen ist. Zu fragen ist also, wie in Weblogs Machtbeziehungen hergestellt, aufrechterhalten und verändert werden und ob sich dabei typische Verhaltensweisen und Handlungsmuster zeigen.

(a) Strategische Spiele der ‚Anerkennung‘ Machtbeziehungen in Weblog zeigen sich zum einen direkt auf der Ebene der interpersonalen Diskurse, also in den Kommentaren des Weblogs.16 Führungsmomente ergeben sich dabei vor allem aus dem, was sich im weitesten Sinne als Anerkennungsszenarien bezeichnen lässt. Anerkennung (und ebenso die ‚Nicht-Anerkennung‘) erfolgt stets als ein ‚jemand‘, d.h. als ein Subjekt. Führungsmomente manifestieren sich also z.B. in Formen der Bestätigung, der Kritik (an Meinungen, Haltungen und Handlungen), der spezifischen Weise des (Nicht-)Aufgreifens bestimmter Informationen, der Ansprüche, der Abwehr einer Anerkennung, der Bekenntnis und der Identifizierung. Einen möglichen Ausgangspunkt für diese Fragen bieten die diskursanalytisch beschriebenen Subjektpositionen. Zu fragen ist, wie diese Positionen im Rahmen von Machtpraktiken als Einsatzpunkte von Führungsstrategien genutzt werden: Wie funktionieren die Kommentare als Irritation, Bestätigung, Bruch oder Ambivalenz, und wie vollzieht sich das Wechselspiel von Ablehnung, Verschiebung, Verweigerung, Bestätigung?

16 Diese Perspektive muss allerdings notwendigerweise den anonymen Leser außer Acht lassen, der im Internet eine große Rolle spielt. Anhand der Besucherzahlen in den meisten Weblogs wird deutlich, dass nur ein Bruchteil der vorbeisurfenden LeserInnen Kommentare schreibt und sich damit ‚zu erkennen‘ gibt. Allerdings sind die Besucherzahlen in sich bereits ein Aspekt von Anerkennung, genauso wie der Verweis in einem fremden Weblog auf die eigene Seite.

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(b) Disziplinierungsmechanismen: Normen, Normalitäten, Konventionen Machtbeziehungen werden zum anderen auch dort konstituiert, wo sich Einträge implizit oder explizit auf Konventionen und Normen berufen. Beispiele solcher (sehr weit verstandenen) Konventionen sind die Kommunikationsregeln im Netz (‚netiquette‘), gesellschaftliche und kulturelle Normalitätserwartungen in Bezug auf Identität, Arbeitshaltung, Lebenslauf, Kleidung, Sprachstil und moralische Kriterien des sozialen Miteinanders. Machtbeziehungen lassen sich also anhand des Bezugs auf Konventionen untersuchen, die besagen, was man tun sollte und was nicht. Es reicht dabei allerdings nicht festzustellen, dass in einem Weblog solche Konventionen aufgerufen werden. Zusätzlich muss gefragt werden, in was für ein Verhältnis sich der Blogger oder die Bloggerin zu den evozierten Disziplinierungsmechanismen setzt. Normalitätserwartungen können in sehr unterschiedlicher Weise übernommen (und in Frage gestellt) oder als Beurteilungsraster eingesetzt werden. Entsprechend verschieden verläuft vermutlich auch die damit einhergehende Subjektivierung. Die Strukturierung von Möglichkeitsfeldern in Bezug auf Konventionen ist somit etwas anders gelagert als die unmittelbare interaktive Bezugnahme in den Kommentaren. Das Anderenverhältnis als Teil der figurierten Subjektivität ist in Weblogs primär sprachlich konstituiert und ergibt sich einerseits aus der interaktiven Lenkung, den daraus folgenden Optionen und den Handlungsentscheidungen, andererseits aus dem impliziten oder expliziten Bezug auf vermeintliche Erwartungen. Es enthält jedoch auch Elemente des ‚Körperlichen‘. Zu diesen Elementen gehören die Körperinszenierungen auf den ins Netz gestellten Fotos, die virtuelle Räumlichkeit mit ihren Möglichkeiten der Überwachung und schließlich die spezifischen Kommunikationsformen im Internet, die Emotionen und Bewegungen markieren bzw. ‚performativ‘ abbilden.17 Ansatzpunkte der Analyse bilden also sprachliche, aber auch im weitesten Sinne ‚körperliche‘ Handlungsweisen, die sich im Sinne der ‚Gouvernementalität‘ auf die (durch andere vermittelte) eigene Führung und auf die Führung anderer beziehen. Insgesamt sind die zwei hier vorgeschlagenen analytischen Ansatz17 Emotionen werden durch ‚Emoticons‘ angezeigt. Das sind Zeichenelemente, die die Stimmung des Schreibers ausdrücken. Benutzt werden dafür auf der Seite liegende ‚Smileys‘ in verschiedenster Form, z.B. :-), :-(, ;-) (hier: fröhlich, traurig, zwinkernd). Mit ‚performativen‘ Kommunikationsformen sind Aussagen gemeint, die, in Asterisken („*“) gestellt, physische und psychische Vorgänge darstellen: *werdrot*, *duckwegrenn*, *flenn*, *schäm* oder *lol*. Letzteres Beispiel stellt zusätzlich ein ‚Akronym‘ dar. Akronyme sind Abkürzungen häufig benutzter Ausdrücke für die Netzkommunikation (hier: lol = laugh out loud). Weitere Akronyme sind z.B. btw (= by the way) oder imho (= in my humble opinion).

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punkte von Anerkennungsverhältnissen und disziplinierenden Bezügen auf ‚Dispositive‘ nicht trennscharf, sondern greifen ineinander. Es muss sich in der Untersuchung selbst herausstellen, welches dieser Momente (oder welche anderen Momente) zentrale strategische Führungsmomente in einem Weblog darstellen und auf welche Figuren des Welt-, (Anderen-) und Selbstverhältnisses davon ausgehend geschlossen werden kann.

3.3.3 Selbstpraktiken: Foucaults ‚Genealogie der Ethik‘ Anders als die Begriffe von ‚Macht‘ und ‚Wissen‘ wird der Begriff der ‚Ethik‘ von Foucault nicht explizit analytisch verwendet. Es gibt also eigentlich keine ‚Analytik der Ethik‘ bei Foucault, sondern nur eine ‚Genealogie der Ethik‘, die nach den historisch unterschiedlichen Weisen der Konstitution der Subjekte durch sich selbst mittels Selbstpraktiken fragt. Dennoch impliziert Foucaults Konzept der ‚Ethik‘ eine Reihe methodischer Überlegungen, die einen Anschluss für die Analyse der subjektivierenden ‚Selbstverhältnisse‘ in Weblogs möglich machen.18 Mit seiner Frage nach den (ethischen) Selbstpraktiken zielt Foucault auf die Art und Weise, in der sich Individuen mittels spezifischer Techniken selbst konstituieren. Es wurde bereits im Kapitel 2.2 erläutert, weshalb man bei der reflexiven Ausarbeitung seiner Selbst ausgerechnet von einer ‚Ethik‘ sprechen kann: Die Handlungsinstanz wird sich im Zuge einer ‚Problematisierung‘ ihrer eigenen Handlungen bewusst. Reflexivität wird demzufolge erst durch die (möglicherweise erzwungene) Rückwendung auf sich selbst erzeugt, bei der gleichzeitig so etwas wie ein Gewissen (bei Foucault: eine „Seele“) hervorgebracht wird. Foucault begründet sein Interesse für die ‚Genealogie der Ethik‘ gegenüber der zunächst geplanten Untersuchung der his18 Kögler macht als dritte methodische Achse demgegenüber den Begriff der ‚Hermeneutik‘ stark: „Neben eine Wissensarchäologie, die die immanenten Regeln des Diskurses aufspürt und so die epistemisch relevanten Strukturen erfasst, und eine Machtgenealogie, die sich auf die Mikropraktiken und die ihnen zugrunde liegenden Dispositive beschränkt, tritt nun eine ‚Hermeneutik des Subjekts bzw. der ethischen Selbsterfahrung‘, die nach den moralischen Subjektivierungsformen jeweiliger Kulturen oder Epochen fragt. […] Texte werden hier – durchaus hermeneutisch – als zum Sprechen zu bringende Dokumente auf das in ihnen zum Ausdruck kommende Selbstverhältnis interpretiert.“ (Kögler 1990: 216). Dies ist zwar eine charmante Idee, entspricht aber wohl nicht Foucaults Forschungsprogramm. Zwar hält Foucault 1982 eine Vorlesung zur ‚Hermeneutik des Subjekts‘ (vgl. Foucault 2004). Dabei geht es ihm aber gerade darum zu zeigen, dass die ‚Entzifferung des Selbst‘, d.h. die Selbsterkenntnis prinzipiell nur einen besonderen Fall der Selbstsorge darstellt, der erst im Zuge des Cartesianismus seine Vormachtstellung erhielt (vgl. die Vorlesung vom 6. Januar 1982). ‚Hermeneutik‘ wird hier also nicht als Methode eingesetzt, vielmehr ist sie Gegenstand von Foucaults analytischer Betrachtung.

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torisch veränderlichen ‚Moralen‘ damit, dass Moralvorschriften zur Erklärung der Verhaltensweisen von Subjekten nicht ausreichten. Denn wie Foucault in seinen Untersuchungen feststellt, divergieren die sozialen, politischen und religiösen Verbote zum Teil erheblich von den ethischen Themen und Reflexionen der Subjekte: Das, was in zentraler Weise von den Individuen problematisiert und ausgearbeitet wird, ergibt sich keinesfalls notwendig aus den moralischen Geboten (vgl. Foucault 1989: 32f.). Damit muss es methodisch also darum gehen, „nicht die Verhaltensweisen zu analysieren und nicht die Ideen, nicht die Gesellschaften und nicht ihre ‚Ideologien‘, sondern die Problematisierungen, in denen das Sein sich gibt als eines, das gedacht werden kann und muß, sowie die Praktiken, von denen aus sie sich bilden“ (ebd.: 19). Foucaults ‚ethische Analyse‘ setzt deshalb ein mit der Frage nach den Formen und Weisen der Problematisierung, mittels derer das Individuum sich selbst als ‚Moralsubjekt‘ konstituiert. Diese ‚Ethik‘ als subjektivierender Selbstbezug lässt sich Foucault zufolge an vier Aspekten festmachen: der ethischen Substanz, den Unterwerfungsweisen, den Techniken der ethischen Selbstkonstitution und der Teleologie (vgl. Foucault 1989, siehe auch Kapitel 2.2.4). Zu fragen sei: (1.) Welches Element unseres Verhaltens, welche Substanz unseres Seins wird als für das Selbstverhältnis relevant konstituiert? Sind dies Handlungen, Gefühle, das Gewissen oder Ähnliches? (2.) In welcher Weise und mit welcher Begründung unterwirft sich das Individuum einem spezifischen Code (z.B. dem der Autorität, dem des Wissens, dem des Rechts, dem der Ästhetik)? Man könnte auch fragen: Welche ‚Haltung‘ nimmt das Individuum zu diesem Code ein, und welchen Grund hat es für die Akzeptanz eines ethischen Prinzips? Ist es beispielsweise treu (in seinen Gefühlen), weil es christlich ist und Gott sagt, man dürfe nicht sündigen; oder ist es treu (in seinen Handlungen), weil es sich als vernünftigen Menschen sieht und deshalb so handeln muss, dass seine Handlungen als Beispiel für andere gelten können; oder ist es zynisch und witzig (in seinem Charakter), weil es unabhängig, autonom und kritisch erscheinen möchte und diese Charaktereigenschaften durch Witz und Zynismus transportiert werden? (3.) Durch welche spezifischen Selbstpraktiken und Techniken arbeitet sich das Individuum ausgehend von ‚Substanz‘ und ‚Haltung‘ als ethisches Subjekt aus? Solche Techniken könnten beispielsweise Enthaltsamkeit, Geständnis, Sühne, Neuerfindung oder Selbstergründung sein. Eine besondere Technik des Selbst ist Foucault zufolge das Schreiben als Möglichkeit der Erfahrung des eigenen Seins. (4.) Welches ist die Art des Seins, die das Individuum anstrebt, d.h. die ‚moralische Zielvorstellung‘? Es kann dies z.B. Freiheit, Reinheit, Beherrschung seiner selbst, Autonomie oder Unsterblichkeit sein. Deutlich wird in jedem Fall, dass diese vier Aspekte der ‚ethischen Analyse‘ bzw. der Analyse der ‚ethischen Problematisierungsweisen‘ eine analytische Qualität aufwei-

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sen. Diese soll im Folgenden auf die Untersuchung von Figuren des Weltund Selbstverhältnisses in Weblogs übertragen werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Untersuchung von Selbsttechnologien keinen Abschied von der Machtanalytik darstellt, sondern ihrer Fortführung dient. Unschwer lässt sich in der Konzentration auf ‚Selbstpraktiken‘ ein differenzierterer und erweiterter Blick auf gouvernementale Praktiken erkennen. Die Selbstführung – als die Ethik hier erscheint – ist nicht von der Fremdführung als ‚Lenkung der Führung‘ (Foucault 2005f: 286) entkoppelt. Mit der Ethik ergibt sich lediglich ein genauerer Blick darauf, wie sich das Subjekt in dem durch Machtbeziehungen strukturierten Möglichkeitsfeld selbst führt. Wenn sich ein Individuum beispielsweise als ‚schüchternes‘ oder ‚zynisches‘ Subjekt erkennt, problematisiert und ausgestaltet, so ist dies nicht allein aus den vorgelebten Normen und Verhaltensmustern der Gesellschaftsmitglieder zu erklären. Darüber hinaus muss sich das Individuum selbst als Subjekt konstituieren, indem es sein Gewissen befragt, Stellung zu den Moralvorschriften bezieht, ethische Zielvorstellungen fixiert und im Sinne dieser Vorgaben auf sich selbst einwirkt. Die Konstitution als ‚politisches Subjekt‘, als ‚Subjekt einer Sexualität‘, als ‚Subjekt der Arbeit‘, als ‚faule Socke‘, als ‚fleißige Streberin‘, als ‚Looserin‘ usf. verläuft jeweils unterschiedlich: „In jedem dieser Fälle spielt man mit, errichtet man verschiedene Formen der Beziehung zu sich selbst.“ (Foucault 1985: 18, Hervorhebung JL) Damit erscheint es möglich, diese ‚problematisierenden‘ Selbstbezüge als Figuren des Selbstverhältnisses zu lesen, die allerdings in unmittelbarer Beziehung zu den Figuren des Welt- und Anderenverhältnisses stehen. Analytisch bedeutet dies, einen genaueren Blick darauf zu werfen, wie sich das Subjekt in dem durch Machtbeziehungen strukturierten Möglichkeitsfeld selbst problematisiert und führt. Überträgt man nun die vier von Foucault vorgeschlagenen Ebenen der ‚ethischen Analyse‘ auf die Frage nach den Selbstverhältnissen in Weblogs, lassen sich die Formen der Selbstgestaltung in Weblogs genauer fassen:19

(a) Die ethische Substanz Zur Beschreibung von Figuren des Selbstverhältnisses sollte zunächst gefragt werden, welche Elemente des eigenen Seins von dem Blogger (aber auch von den jeweiligen Lesern) im Weblog problematisiert oder als besonders relevant 19 Soweit ich sehe, ist Alan Aycock der einzige, der in ähnlicher Weise ausgehend von den vier Ebenen der „Technologies of the Self“ eine Analyse der Selbstausarbeitung von Subjekten unternimmt (vgl. Aycock 1995). In seiner Studie untersucht er die postings einer Internetnewsgroup zum Schachspiel. Trotz ihrer methodischen Ungenauigkeit und Kürze verdanke ich Aycocks Untersuchung einige Anregungen, die in das hier entwickelte Raster eingegangen sind.

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in den Vordergrund gerückt werden. Dies könnten beispielsweise Handlungen, Gefühle, das Gewissen, das Äußere oder der ‚Charakter‘ sein. Um diese ‚ethische Substanz‘ zu erfassen, sollten Fragen gestellt werden wie: Auf welche Weise wird in den Einträgen das ‚ich‘ figuriert? Welche Gedanken, Handlungen, Wahrnehmungen, Gefühle und ‚Kompetenzen‘ werden in den Vordergrund gerückt und welche vernachlässigt? Welches Bild seiner selbst wird insgesamt im Weblog produziert?

(b) Die Haltung Die zweite Frage gilt der Haltung, die der Blogger oder die Bloggerin (und der Leser) zu sich selbst bzw. zum eigenen Schreiben einnimmt. Ein wichtiger Aspekt wäre z.B. der Grad der Involviertheit (Distanz, Reflexivität, Aggressivität usw.), der sich im Stil aber vor allem auch in der Selbstkommentierung durch Emoticons und Formeln in Asterisken ausdrückt. Zur Bestimmung der Haltung muss auch das Verhältnis zu den strukturierenden (expliziten oder impliziten) Vorgaben beachtet werden, wie z.B. die Forderung nach ‚Witz‘, ‚Authentizität‘, ‚Emotionen‘, ‚Coolness‘ oder ‚Kompetenz‘ durch die Netzgemeinde.

(c) Die Selbstpraktiken An dritter Stelle fragt Foucault nach den spezifischen Selbstpraktiken und Routinen, mittels derer sich das Selbst ausformt (z.B. durch Stil, Fotos, Layout, links, Berichte über spezifische Begebenheiten). Zu beachten ist, dass das Bloggen in sich bereits eine Selbstpraktik darstellt. Es könnte beispielsweise von Relevanz sein, zu welchen Uhrzeiten und wie häufig gebloggt wird, welcher Stil gepflegt wird oder wie das Weblog gestaltet wird. Eine davon unterschiedene Form der Praktik stellen die Erzählungen von Praktiken dar wie beispielsweise der Bericht über eine Diät, Lektüren, Aktivitäten im Internet und Ähnliches.

(d) Der Zielhorizont Zuletzt ist zu fragen, welches ist die Art des Seins ist, die das Individuum anstrebt, bzw. mit welchem Ziel das Bloggen als Selbstpraktik erfolgt. Denkbare ‚Funktionen‘ eines Weblogs sind z.B. Kundengewinn, Selbsttherapie, Beziehungsanbahnung, fachlicher Austausch, Pflege von Freundschaft oder Anerkennung. Die Aufmerksamkeit müsste auch der Diskrepanz gelten, die zwischen dem aktuellen Bild seiner selbst und dem erwünschten Zustand konstruiert wird.

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Es gilt wiederum, dass die vier benannten analytischen Ebenen unter Umständen nicht klar voneinander zu trennen sind. Sie ergeben in ihrem Zusammenspiel die möglichen Komponenten der Selbstverhältnisse von Subjekten. Ein Umstand scheint allerdings überraschend. Da im theoretischen Teil darauf verwiesen wurde, dass die ‚Selbstpraktiken‘ eine besondere Rolle spielen, mag es irritieren, sie hier eingegliedert als ‚dritten Schritt‘ in einem vierteiligen Analyseraster wieder zu finden. In der Tat ist Foucaults formale Einordnung der Selbstpraktiken fragwürdig, da sie auf einer anderen Ebene zu liegen scheinen, als die anderen drei Aspekte der Selbstbeziehung. Während jene die gegebenen Figuren des ‚Selbstverhältnisses‘ eher analytisch beschreiben, wurden die Praktiken eingeführt als dasjenige, was diese Figuren erst konstituiert bzw. möglicherweise gleichzeitig unterläuft. Diese Ambivalenz der Selbstpraktiken wird in der Tat später aufzugreifen sein, um den Ausgangspunkt für eine Relektüre zu bilden, in dem das Spannungsfeld von Subjektivierung und Entsubjektivierung mit der Frage nach ‚Bildungsprozessen‘ korreliert wird.

3.3.4 Zur Untersuchung von Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses in Weblogs Es ergibt sich damit nun der Vorschlag eines methodischen Vorgehens bei der Untersuchung von Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses in Weblogs. Die drei beschriebenen analytischen Achsen bilden gemeinsam eine Beschreibungsmöglichkeit von in komplementären Praktiken konstituierter Subjektivität. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass sich Diskurs und Macht ergänzen und aufeinander beziehen: Diskurspraktiken induzieren Machtbeziehungen und Machtpraktiken produzieren und formieren Diskurse. Wie Foucault selbst bemerkte, entgeht der Annahme anonymer Regelsysteme die „Energie“, also das dynamische Machtgefüge aus Strategien, Kämpfen, Spielen, Disziplinierungen und Führungen. Foucault hat deshalb seit seiner Inauguralvorlesung am Collège de France Macht und Wissen stets eng verknüpft und gezeigt, dass sich diese beiden Praxisformen gegenseitig bedingen und ergänzen. Die Diskurspositionen bilden demzufolge gleichzeitig den Einsatz- und Zielpunkt für verschiedenartige Machtbeziehungen, die in Spielen der Anerkennung und durch den impliziten oder expliziten Bezug auf Normen und Konventionen konstituiert und strategisch verschoben werden. Zur Beschreibung von ‚Subjektivität‘ gehört deshalb ebenso der Blick auf die Machtverhältnisse, denn erst gemeinsam konstituieren sie das, was bildungstheoretisch als das ‚Weltverhältnis‘ (oder auch: Welt- und Anderenverhältnis) bezeichnet werden könnte. Aber auch zwischen den Diskurspositionen, den Machtbeziehungen und den Selbstverhältnissen ist keine klare systematische Trennung möglich. Insbesondere mit dem Konzept der ‚Gouvernementalität‘ wird deut183

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lich, dass Machtbeziehungen immer ‚Freiheitsgrade‘ mit sich bringen, die Wahlentscheidungen erforderlich machen und damit einen Selbstbezug implizieren. Gerade in der „Logik eines Spiels von Interaktionsbeziehungen“ (Foucault 1992: 38) ist es notwendig, Entscheidungen zu treffen, d.h. sich ‚zu führen‘. Und diese Selbstführung ist kein solipsistischer Akt, sondern erfolgt mit Blick auf (den) andere(n) und auf ‚Basis‘ der eigenen Grundlosigkeit. Foucault selbst zielt mit seinem Begriff der ‚Gouvernementalität‘ ausdrücklich darauf, „die Freiheit des Subjekts und die Beziehung zu anderen geltend zu machen, was doch gerade den Gegenstandsbereich der Ethik konstituiert“ (Foucault 1985: 27). Das Verhältnis zur Welt und zum Anderen hängt also eng mit dem Selbstverhältnis zusammen und wird damit ebenso zu einer ethischen Frage.20 Die Untersuchung von Subjektivität als Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses findet also auf drei Achsen statt, die unmittelbar miteinander zusammenhängen: Die Diskursanalyse gilt dem Blick auf diskursive Subjektpositionen. Sie fragt, wie die Welt in der diskursiven Praxis Aussagepositionen konstituiert. Mit der Machtanalytik lässt sich weiterfragen, welche strategische Funktion diese Position einnimmt und welches Verhältnis sich zu Konventionen, Normen, Normalitäten und Kategorienrastern ergibt. Sie kann beschreiben, wie Mechanismen der Subjektivierung wirken, die sich aus Machtkämpfen und Führungstechniken ergeben, und wie andererseits strategische Maßnahmen ergriffen werden, um diese Mechanismen umzukehren oder zu verändern. Und die Frage nach den ethischen Selbstbezügen schließlich erfasst, wie sich das Subjekt im strukturierten Möglichkeitsfeld problematisiert und führt und so Möglichkeiten entwickelt, ‚ich‘, ‚mir‘, ‚mich‘ und ‚wir‘ zu sagen. Die damit vorgeschlagene ‚Methode‘ einer Beschreibung von Welt- und Selbstverhältnissen in Weblogs gerät allerdings auf zweifache Weise an ihre Grenzen. Die erste wurde bereits genannt: Untersucht man in dieser Weise Subjektivierungsmuster, so wird die Frage nach Momenten der ‚Entsubjektivierung‘ zunächst ausgeklammert. Sie kann erst in einem zweiten Schritt ausgehend von den aufgefundenen Subjektivierungsmustern gestellt werden. Die 20 Damit lässt sich einer Kritik Butlers begegnen, die moniert, dass für Foucault das Wahrheitsregime nur fraglich werde, wenn das Ich sich im Rahmen der gegebenen Existenzbedingungen nicht anerkennen kann. Foucault unterschlage dabei den Umstand, dass die Infragestellung des Wahrheitsregimes auch durch das – in den gegebenen Bedingungen unmögliche – Begehren motiviert sein könne, einen Anderen anzuerkennen (vgl. Butler 2003: 34ff.). Butlers Vorwurf übersieht aus meiner Sicht, dass sich Foucault sehr wohl für diesen Aspekt interessierte. Zwar hat Foucault tatsächlich nie explizit nach der ‚Anerkennbarkeit des Anderen‘ als Ausgangspunkt für die Problematisierung des eigenen Seins gefragt. Aber implizit ist genau diese Frage der Motor seiner Studien über ‚Wahnsinnige‘, ‚Mörder‘, ‚Delinquenten‘ oder ‚Homosexuelle‘.

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zweite Grenze ergibt sich aus dem Material der Untersuchung. Es handelt sich, wie meist in der Rekonstruktiven Sozialforschung, um text- bzw. zeichenförmiges Material. Zwar wurde bereits erwähnt, dass sich Weblogs unter anderem durch ihren ‚körperlichen‘ Sprachgestus und durch den Einsatz von Fotos, Musikfiles und links auszeichnen. Dennoch verbleibt das Material auf der symbolischen Ebene. Es stellt sich deshalb die Frage nach dem Verhältnis von der textuellen Ebene zur ‚Wirklichkeit‘.

3.4 Exkurs: methodische und methodologische Grenzen Die wohl am häufigsten diskutierte Schwierigkeit in der qualitativen Bildungsforschung ist die Frage nach der Möglichkeit eines methodisch geleiteten Erfassens der sozialen ‚Realität von Bildung‘. Es handelt sich dabei um das Problem einer Referenz auf Wirklichkeit, die sich vor allem aus der Art des Untersuchungsmaterials in der Rekonstruktiven Sozialforschung ergibt. Am Beispiel der bildungstheoretischen Biographieforschung lässt sich dies verdeutlichen: Ausgangspunkt sind narrative Interviews, in denen die Befragten im autobiographischen Rückblick ihre Lebensgeschichte erzählen, die im Anschluss transkribiert und hinsichtlich der in ihnen rekonstruierbaren Bildungsprozesse analysiert bzw. interpretiert werden. Das methodische Vorgehen bei diesem letzten Schritt hängt davon ab, welcher Status dem so produzierten Text zugeschrieben wird. Dabei lassen sich grob zwei grundsätzliche Annahmen unterscheiden. Die eine schreibt dem Erzählen die Funktion zu, (zumindest in den narrativen Passagen) die tatsächliche sukzessive Abfolge der Ereignisse im Leben des Befragten abzubilden, also die vergangene ‚Wirklichkeit‘ zu repräsentieren. Die andere versteht das Erzählen als Moment der Sinnproduktion, also als Prozess der Konstitution referenzieller Bezüge auf‚Wirklichkeit‘. Auf die vielfältige Kritik der Abbild- bzw. Homologiethese soll hier nicht näher eingegangen werden.21 Vielmehr interessiert, wie genau jenes Herstellen von Bezügen zur Welt und zu sich im Rahmen sprachlicher Handlungen gedacht wird. Koller fasst den Prozess der Sinnproduktion im autobiographischen Erzählen als rhetorischen Prozess auf, der im Zuge zunehmender Orientierungslosigkeit eine bedeutende Funktion erhalte: „Mehr und mehr machen Men21 Zur Kritik an der vor allem von Fritz Schütze vertretenen Homologiethese vgl. z.B. Koller 1993 und 1999, Kokemohr/Prawda 1989 und Reh 2003. Rehs Vorgehen zeichnet sich dadurch aus, dass sie zusätzlich zu dem Problem der Referenz auf Wirklichkeit die Problematik der (in Machtbeziehungen verwickelten) Interaktionssituation des Interviews und die Verstrickung in übergreifende Diskurse methodologisch reflektiert und methodisch aufgreift. Allerdings gilt Rehs Untersuchung nicht der Rekonstruktion biographischer Bildungsprozesse.

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schen unter den Bedingungen moderner oder gar postmoderner Gesellschaften die Erfahrung, daß einzelne Ereignisse, gewisse Phasen oder gar die Gesamtgestalt ihres Lebens ihnen fremd und unverfügbar gegenübertritt. Dieses Unverfügbare im autobiographischen Erzählen rhetorisch zu substituieren kann mit Blumenberg als eine Möglichkeit begriffen werden, diese Situation sprachlich-handelnd zu bewältigen.“ (Koller 1993: 38). Entsprechend stellt ‚Bildung‘ für Koller einen Prozess dar, der sich als rhetorisches Konstruieren im Sprechen vollzieht: „Die Frage nach Bildungsprozessen im Rahmen der Biographieforschung verschöbe sich so von der Ebene der erzählten Wirklichkeit auf den Prozeß des Erzählens selbst.“ (Ebd.: 43) Verstehe man ‚Bildung‘ als Umbildung oder Transformation grundlegender Kategorien unserer Welt- und Selbstorientierung, so sei also danach zu fragen, inwieweit rhetorische Figuren, in denen ein Erzähler seine Lebensgeschichte konstruiert, eine solche Transformation grundlegender Orientierungskategorien „möglich machen“ (ebd.). Erzählen erscheint vor diesem Hintergrund als ein praktischer Umgang mit Ungewissheit, die dem Subjekt von außen zugemutet wird. Seinen logischen Ort hat dieser Umgang im symbolischen System, da „Biographien bzw. Lebensgeschichten – unabhängig davon, welcher epistemologische Status ihnen zukommt – im Medium eines kulturellen Symbolsystems verfasst sind, das nicht in der Dichotomie von Subjekt und Objekt bzw. von Individuum und Gesellschaft aufgeht“ (Koller 1993: 33). Koller verzichtet also unter dem Verweis darauf, dass Subjekte prinzipiell ‚medial‘ verfasst, d.h. durch Zeichensysteme vermittelt sind, auf eine logische Unterscheidung von ‚textuellem‘ und ‚wirklichem‘ Ich. Diese Konsequenz scheint auch auf die Möglichkeiten einer Untersuchung von Weblogs übertragbar. Zwar handelt es sich bei Weblogs nicht um mündliche Erzählungen, die erst noch in schriftliche Texte übertragen werden müssen. Aber es liegen mit ihnen doch in analoger Weise sprachliche Handlungen vor, die als Moment einer Sinnproduktion betrachtet und entsprechend als rhetorische Konstrukte behandelt werden können. Die Konsequenz aus dieser Annäherung an Weblogs wurde in der Entwicklung meiner Methode deutlich: Gefragt wird nicht nach der Realität einer empirischen Person, sondern nach den rekonstruierbaren Figurationen von Welt- und Selbstverhältnissen in diskursiven Praktiken, Disziplinierungs- und Anerkennungsverhältnissen und Selbstbezügen. Schaut man genauer, so wird damit das oben angesprochene Problem der Referenz auf Wirklichkeit zwar gelöst, allerdings stellt sich ein anderes Problem. Folgt man diesem Argument der Textualität jeder Lebenspraxis, so muss auch das Geschehen der Bildung auf dieser Ebene des Symbolischen verortet werden. ‚Bildung‘ wird damit von einer Möglichkeitskategorie zu einer Wirklichkeitskategorie: Die Transformationen vollziehen sich im Symbolischen und sind entsprechend einer rhetorischen Textanalyse zugänglich. Das Unwohlsein an einer solch direkten Zugänglichkeit von 186

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Transformationsprozessen zeigt sich nun auch in Kollers Formulierungen: Er verweist darauf, dass rhetorische Figuren die Transformation grundlegender Orientierungskategorien „möglich machen“ (Koller 1993: 43). Wo allerdings diese Möglichkeit zur Transformation wirklich wird – in der Lebenspraxis, in einer rhetorischen Figur oder im Subjekt selbst – bleibt offen. Tatsächlich gelangt man damit an einen Punkt, der weite Bereiche der Bildungstheorie dazu gebracht hat, eine empirische Bildungsforschung schlicht abzulehnen. Bildung als ‚Möglichkeitskategorie‘ zu behandeln hat den Vorteil, dass man weder Rechenschaft darüber ablegen muss, was genau sich verändert hat, noch darüber Auskunft geben muss, ob es sich um eine wirklich nachhaltige Veränderung handelt, die auch in der ‚sozialen Realität‘ der Betroffenen trägt (vgl. Schäfer 2005b: 5). Will man aber, wie Koller, den Anspruch einer prinzipiellen Möglichkeit der Identifizierung solcher Bildungspotenziale nicht aufgeben, so lässt sich das oben genannte Problem nun in anderer Weise fassen. Es langt offensichtlich nicht, sich in seiner Frage nach Bildungsprozessen ausschließlich auf die textuelle (oder auch: symbolische) Ebene zu beziehen. Denn es soll ja gerade auf ‚etwas‘ zugegriffen werden, was die Figuration der Subjektivität irritiert und durchquert. Wie Koller hebt Schäfer hervor, dass dieses ‚etwas‘, auf das im Rahmen qualitativer Bildungsforschung zugegriffen werden soll, nicht einfach als ‚soziale Wirklichkeit‘ gehandelt werden kann. Seine Überlegungen gehen dabei allerdings von jener Seinsungewissheit aus, die als Grundkonstante menschlichen Seins gefasst werden muss. Schäfer verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass bereits die sprachphilosophischen Überlegungen zur Differenz zwischen Aussage und Ausgesagtem „Zweifel an die Vorstellung von ‚Wirklichkeit‘, von geäußerter wie interpretierter oder rekonstruierter Wirklichkeit, heran[trägt], die als solche wiederum zu jenen Problemen der ‚Wirklichkeit von Bildung‘ zurückführen“ (Schäfer 2004: 3). Das Subjekt ist sich demzufolge nie selbst transparent und verfügbar. Es kann seine eigenen Sprech-, Denk- und Handlungsakte niemals ganz einholen und ist damit auch nicht fähig, geschlossenen Sinn herzustellen. Auch wenn das Subjekt also schreibt, spricht und denkt – und dabei Sinn produziert – so ist dieser nicht geschlossen und vor allem für das Subjekt selbst in seinen Verstrickungen in Macht und Wissen nicht durchschaubar. Selbst wenn man also auf die ‚soziale Wirklichkeit‘ zuzugreifen meint, so hat man doch wiederum nur eine Differenz vor Augen, die immer unbestimmt bleiben muss. Demzufolge geht es also nicht darum, einen wie auch immer gearteten Zugriff auf die ‚soziale Realität‘ von Bildung zu erlangen, sondern es gilt, die Konsequenzen einer prinzipiellen Seinsungewissheit hinsichtlich der Möglichkeit einer qualitativen Erforschung von Bildungsprozessen methodisch ernst zu nehmen. Implizit lässt sich dieses Vorgehen tatsächlich auch in dem Verweis Kollers auf die ‚Rhetorizität‘ des Bildungsgeschehens erkennen. Denn gerade die rhetorischen Figuren der Metapher und der Metonymie um187

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fassen sowohl den Aspekt des ‚Neuen‘ als auch den der ‚Ungewissheit‘: Etwas kann in der bisherigen Sprache – also den verfügbaren Symbolen – (noch) nicht artikuliert werden. Dennoch wird mit dem Verweis auf die Seinsungewissheit eine Radikalisierung vorgenommen, insofern auf eine Grundbedingung menschlichen Seins verwiesen wird, die nun als Voraussetzung für Bildungsprozesse erscheint. Schäfer schlägt vor diesem Hintergrund einen Zugang zur Empirie vor, der auf die Vorabbestimmung des Gegenstandes verzichten und stattdessen das Unbestimmbare zum Ausgangspunkt der Frage machen, wie man sich ihm methodisch zu nähern vermag (vgl. ebd.). Eben dieses Vorgehen soll hier zumindest ansatzweise versucht werden. Der erste Schritt meiner Untersuchung konzentriert sich dabei in der vorgeschlagenen Weise auf die Rekonstruktion figurierter Subjektivierungsmuster bzw. Subjektpositionen. Ausgehend von den damit beschriebenen Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses soll dann in einem zweiten Schritt eine Annäherung an das ‚Unbestimmbare‘ unternommen werden. Allerdings hat der Einwand der konstitutiven Seinsungewissheit bereits für besagten ersten Schritt der Beschreibung von Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses methodische Konsequenzen. Nimmt man den Hinweis ernst, dass nicht nur die beforschte Person, sondern ebenso der Forscher und die Forscherin niemals ‚Herr‘ ihrer Subjektivität und damit auch nicht ‚Herr‘ ihrer Lektüren und Interpretationen sind, so ergibt sich ein Problem: Wie lässt sich die eigene Interpretation, der eigene Versuch also, eine kohärente, sinnvolle Lektüre oder Interpretation vorzuschlagen, rechtfertigen? Es geht mit andere Worten um die Frage nach den methodischen Möglichkeiten einer ‚objektiven‘ Analyse von Texten. Denn die Intransparenz von Beforschtem und Forscher, von Text und Interpretierendem bedeutet, dass keine Analyse ‚neutral‘ im Sinne einer subjektiven Kontrolle des Zugriffs sein kann. Immer ist sie in Machtspielen, Selbstbezügen und Diskursen befangen, die sie zu einer sich selbst nicht durchschaubaren strategischen Praktik werden lassen. Und diese strategische Praxis trifft auf einen inkohärenten, unabschließbaren und ebenfalls strategischen ‚Text‘. Die Versuche der Rekonstruktiven Sozialforschung durch methodische Kontrolle, wie z.B. ‚gegenstandsbezogene Theoriebildung‘, ‚methodische Reflexion‘, ‚Triangulation‘, ‚Kontextreduktion‘, ‚Kontrastierung‘ oder ‚Pluralität der Lesarten‘, dennoch die Annäherung an eine Objektivität der Interpretation zu erreichen, stellen sicherlich eine Möglichkeit dar, diesem Problem zu begegnen. Allerdings liegt gerade in dem methodisch-strategisch ‚abgesicherten‘ Versuch, einen homogenen, geschlossenen und kohärenten Sinn herzustellen, die Gefahr, einer Illusion von Objektivität und Neutralität zu verfallen. Foucault verwies auf diesen Umstand, indem er immer wieder deutlich machte, dass keiner seiner analysierten Gegenstände einheitlich, notwendig oder unvermeidlich so ist, wie er im Netz der verschiedenen Diskurs- und Machtpraktiken gegeben ist. Immer gebe es 188

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viele Prozesse, die ein Ereignis konstituierten (vgl. Foucault 2002a und 2005a: 29ff.). Wenn aber jede Analyse notwendig einen strategischen Zugriff darstellt, der für den Forschenden selbst nicht durchschaubar ist, so muss die Frage erneut gestellt werden, wie mit dieser Einsicht umgegangen werden kann. Wie, so müsste gefragt werden, kann ich mich als Forscherin zu der Tatsache verhalten, dass meine Lektüren immer auch Machtpraktiken sind und beispielsweise in der identifizierenden Schließungsbemühung um einen ‚Sinn‘ oder einen ‚Typus‘ dem Text Gewalt antun? 22 Das beschriebene Problem lässt sich, soviel wurde deutlich, nicht ‚lösen‘. Es bleibt deshalb nur, sich als Forscherin in irgendeiner Weise zu der Tatsache zu verhalten, dass die eigenen Interpretations- und Lektüreentscheidungen in nie ganz durchschaubaren Diskurs- und Machtpraktiken stehen, die sie fortschreiben. Dies fand in meinem Fall zunächst im Rahmen der Analyse- und Interpretationstätigkeit selbst statt. So erwies sich im Verlauf der Untersuchung beispielsweise mein vorab entwickeltes ‚Analyseraster‘ als unzureichend, was mich sowohl zu einem wiederholten Neuansatz meiner Untersuchung als auch zum ständigen Umschreiben meiner Methode nötigte.23 Ich 22 Dieses Problem stellt sich auch auf der Ebene der Lektüre von ‚Theorietexten‘. Man könnte meiner (recht semantischen) Foucaultlektüre vorwerfen, dass sie in ihrem systematisierenden Zugriff die vielfältigen Momente des Entzugs und des Selbstunterlaufens Foucaultscher Texte gewaltsam und unreflektiert glättet. Nun ist Foucault bisweilen selbst dieser ‚Übersystematisierung‘ verfallen, und folgt man Petra Gehring, so liegt in dieser „lesbar gemachten Übererfüllung“ ein mögliches Irritationspotenzial, das „den Blick genau auf die Normalität [lenkt], der der Text untersteht, so daß […] dem Leser an den normativ entscheidenden Stellen etwas Fragliches entgegenspringt“ (Gehring 1994: 56). Eine bedenkenswerte Alternative stellt demgegenüber der Vorschlag von Tobias Klass und Rainer Kokemohr dar, die in ihrer bildungstheoretischen Lektüre von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ versuchen, in den Bewegungen des Textes selbst einzusetzen – ohne der Illusion zu verfallen, dass dieses Vorgehen keine ideologische Vergewaltigung wäre (vgl. Klass/Kokemohr 1998). 23 Ursprünglich sollte eine getrennte Untersuchung von Welt- und Selbstverhältnis erfolgen. Das Weltverhältnis, so meine Idee, könnte die Konstitution der Subjekte in Diskurspraktiken zeigen, während das Selbstverhältnis mit der Kategorie der ‚Haltung‘ eine Aussage über Bildungsprozesse ermöglicht. Diese Idee entpuppte sich aus zwei Gründen als Illusion. Zum einen konnten Welt- und Selbstverhältnisse auf empirischer Ebene nicht voneinander unterschieden werden, denn der Blick auf Machtbeziehungen und Selbstverhältnisse schien dasselbe Ergebnis zu bringen wie der Blick auf Diskurspositionen. Es wurde deutlich, dass bei der Frage nach dem Weltverhältnis die Frage nach dem Selbstverhältnis immer schon eingeflossen war und umgekehrt das Selbstverhältnis nur mit Blick auf das Verhältnis zur Welt beschreibbar wurde. Zum anderen blieb bis zum Schluss unklar, wie auf jener künstlich abgetrennten Ebene der Selbstverhältnisse so etwas wie ‚Bildungsprozesse‘ sichtbar werden. Es gelang mir einfach nicht, über die sich bereits in den Diskurspositionen abzeichnenden Widersprüchlichkeiten und Veränderungsmomente hinaus Anhaltspunkte für so etwas wie ‚Bildung‘ zu finden.

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habe also versucht, nicht den Gegenstand dem vorab entwickelten Raster unterzuordnen, sondern die Methode an den Gegenstand anzupassen. Darüber hinaus gab es auch Sitzungen mit Interpretationsgruppen, deren Mitglieder nicht nur eigene (strategische) Lesarten eingebracht haben, sondern vor allem auch meine Zugriffsweisen in Frage gestellt haben.24 Doch solche Sackgassen, Umwege und Korrekturmaßnahmen werden spätestens bei der Darstellung der Ergebnisse problematisch. Auch in der vorliegenden Arbeit nehme ich zu Gunsten der Lesbarkeit eine Glättung vor, die nur noch die Lektüreform präsentiert, die am Ende der Untersuchung als die plausibelste erschien. Dennoch habe ich zwei minimale Vorkehrungen getroffen, die auf die genannten Probleme hinzuweisen versuchen. Um deutlich zu machen, dass sich meine Rekonstruktion im ersten Teil der Untersuchung nur auf figurierte Sachverhalte richtet, ist sie zum einen in weiten Teilen in indirekter Rede verfasst. Die bessere Lesbarkeit wurde damit eingeschränkt zu Gunsten einer wiederholten Erinnerung daran, dass sich mein Blick mit Foucaults archäologischer Beschreibung auf die im Medium des Symbolischen konstituierte Subjektivität richtet – nicht auf eine empirische Person. Passagen im Indikativ stellen entsprechend keine ‚ontologischen‘ Aussagen über die empirische Person dar, sondern markieren Momente meiner interpretativen Lektüre. Zum anderen habe ich versucht, in meinem ‚identifizierenden‘ Zugriff, der vier Subjektpositionen vorschlägt, nicht die Widersprüche im Material zu umgehen, sondern diese als ‚Inkohärenzen‘ im Text stehen zu lassen.

24 Dafür möchte ich Uwe Hericks, Matthias Trautmann, Frank Elster und Rainer Kokemohr noch einmal ganz herzlich danken!

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4.

Die Untersuchung: Bildungsprozesse in Weblogs

4.1 Einführung: Das Weblog ‚Stadtelfe‘ Das Weblog ‚Stadtelfe‘ ist ein privates Online-Tagebuch, auf das ich im Rahmen meiner Lektüre zahlreicher Weblogs im Frühjahr 2005 zufällig gestoßen bin. Weblogs sind zu komplex und umfangreich, als dass in einer ersten kursorischen Lektüre deutlich würde, ob sich ein spezifisches Weblog für die Untersuchung von Struktur und Bedingungen von Bildungsprozessen ‚lohnen‘ könnte. Insofern musste ich mich bei der Wahl auf einige formale Kriterien und meinen ‚ersten Eindruck‘ verlassen: Das Weblog www.stadtelfe.com wurde von dessen Autorin – der ‚Stadtelfe‘ – ziemlich regelmäßig aktualisiert und umfasst viele der typischen Funktionen und Nutzungsoptionen von Weblogs.25 Es gibt eine Kommentarfunktion, die (offensichtlich) ebenso von Bekannten und Freunden aus der ‚realen‘ Welt wie auch von zufällig vorbeisurfenden Lesern genutzt wird; vielfältige links verweisen innerhalb der einzelnen Einträge auf andere Seiten im Internet; zudem sind Digitalfotos und Musikfiles in das Weblog integriert. Weitere angegliederte Seiten der ‚Stadtelfe‘, wie z.B. das ‚Ego-Shooting‘ oder das im August 2005 begonnene ‚Style Diary‘ und wiederholte Berichte von chats und dem Besuch verschiedener Internetseiten, verweisen auf vielfältige und variantenreiche Tätigkeiten im Internet. Der besagte ‚erste Eindruck‘ konzentrierte sich vor allem auf zwei Aspekte, die mich schließlich dieses Weblog haben wählen lassen.

25 Ich möchte der Autorin des Weblogs ‚Stadtelfe‘ noch einmal herzlich für die Offenheit danken, die sie meinem – im Ergebnis ungewissen – Projekt entgegengebracht hat. Leider existiert das Weblog mittlerweile nicht mehr.

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Zum einen gefiel mir dieses Weblog ebenso in seinem Layout (das mittlerweile mehrfach geändert wurde) wie in seinen Einträgen: Es reizte mich schlicht, mit der Lektüre – die zu dem Zeitpunkt, übertragen auf ein normales Textverarbeitungsprogramm, bereits weit über ‚100 Seiten‘ umfasste – fortzufahren. Zum anderen schien sich bereits im Titel des Weblogs ein Spannungsverhältnis abzuzeichnen, das für meine Frage nach Bildungsprozessen möglicherweise interessant zu werden versprach. ‚Elfen‘ sind der romantischen Auffassung zufolge ätherische Wesen, die sich „in Steinklüften, Felshöhlen und alten Riesenhügeln“ oder „auf gewissen Lieblingsplätzen, gleichfalls heimliche und verborgene Orte, wie Bergthäler, Wiesengründen bei Bächen und Kirchhöfen, wohin selten Menschen kommen“, versammeln (Grimm 1992/1826: 405f.). Eine Stadtelfe stellt demnach eine Besonderheit dar, die zwei Dinge zusammenbringt, die eigentlich nicht zusammengehören. Dies weckte mein Interesse. Doch trotz dieser ‚Kriterien‘ bei der Wahl des Weblogs war von Beginn an klar, dass meine Untersuchung dem Risiko ausgesetzt ist, keine Anhaltspunkte für typische Strukturmomente und Bedingungen von Subjektivierungs- und Entsubjektivierungsprozessen und somit auch keine ‚Bildungsprozesse‘ zu finden. Das hängt nicht nur mit der letztlich zufälligen Wahl eines einzelnen Weblogs und der Unbestimmtheit des Bildungsbegriffes selbst zusammen, sondern vor allem mit dem durchgehend explorativen Charakter der Untersuchung: Die oben entwickelte These, dass Weblogs möglicherweise ein (besonders) geeignetes Medium für Selbstpraktiken im Spannungsfeld von ‚Subjektivierung‘ und ‚Entsubjektivierung‘ darstellen, ist lediglich eine Vermutung, die erst noch empirisch bestätigt (oder widerlegt) werden muss. Zudem war es notwendig, eine Analysemethode neu zu entwickeln. Diese Methode wurde im Verlauf der Analyse mehrfach verändert und modifiziert. Die hier vorgestellte Untersuchung kann vor diesem Hintergrund nicht auf ein ‚valides Ergebnis‘ zielen, sondern vermag nur erste Hinweise und Anregungen zu geben und damit zukünftigen Untersuchungen möglicherweise eine Orientierungshilfe bieten. Grundlage meiner Untersuchung ist das Weblog ‚Stadtelfe‘ von seinem Beginn im Mai 2004 bis zu einem von mir willkürlich gesetzten Endpunkt im März 2005. Das Weblog wird seitdem weiter fortgeführt. Auffällig ist, dass die Angaben zur ‚Identität‘ der ‚Stadtelfe‘ im Vergleich zu anderen Weblogs, die ich gelesen habe, relativ zahlreich sind.26 Man erfährt den Vornamen der

26 In seinem Artikel „Die Humanisierung des Netzes“ in der ZEIT (Nr. 35, 25.08.2005) konstatiert Mario Sixtus allerdings, dass mittlerweile „die meisten Weblog-Autoren unter ihrem echten Namen [agieren]“. Er erklärt diesen Wandel vom anonymisierten Netznutzer zum ‚echten Menschen mit echtem Namen‘ durch die Gesamttendenz in Richtung einer „Humanisierung des Netzes“. Im so genannten Web 2.0 dominiere die Social Software, also der Einsatz von An-

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DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

‚Stadtelfe‘, ihr Alter, ihren Wohnort, ihre Konfession, ihr Studienfach, zudem erhält der Leser Einblicke in die familiären Verhältnisse und den persönlichen Werdegang, darüber hinaus gibt es eine Reihe von Selbstportraits der Stadtelfe in Form von Digitalfotos. Dabei muss allerdings stets bedacht werden, dass völlig ungewiss ist, ob diese Identitätshinweise tatsächlich den ‚empirischen Tatsachen‘ entsprechen. Gegenstand ist die figurierte – d.h. die im symbolischen System konstituierte – Subjektivität. Nur auf dieser Ebene des Symbolischen kann sich die Analyse bewegen. Der erste Abschnitt der folgenden Untersuchung gilt der Rekonstruktion von Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses im Weblog ‚Stadtelfe‘ (4.2). Ziel ist es, in dieser Rekonstruktion typische Strukturen, aber auch Ambivalenzen, Spannungsverhältnisse und andere Auffälligkeiten im Welt- und Selbstverhältnis herauszuarbeiten. Im Zentrum der Analyse stehen dabei semantische Aspekte, die allerdings durch die Betrachtung formaler Aspekte – wie der Verwendung von Metaphern, der Wahl von Tempus und Modus und dem Einsatz der Personalpronomina – ergänzt werden. Die Einträge im Weblog wurden stets in ihrer originalen Schreibweise übernommen. Die daraus resultierende Menge an Flüchtigkeitsfehlern ist ‚normal‘ für das Medium Weblog. Der zweite Abschnitt der Untersuchung (4.3) nähert sich dieser Subjektivität noch einmal auf eine andere Weise. Ausgehend von den Spannungen und Ambivalenzen soll danach gefragt werden, ob sich im Rahmen der im Weblog vollzogenen ‚Selbstpraktiken‘ Momente erkennen lassen, die über die symbolische Ordnung hinausweisen und damit etwas markieren, das mit Foucault als ‚Entsubjektivierung‘ bezeichnet werden könnte. Natürlich kann sich auch hier der Blick nur auf das richten, was sich ‚im Symbolischen‘ zeigt. Dennoch geht er insofern darüber hinaus, als dass er im Symbolischen nach ‚Spuren‘ sucht, die auf einen Bruch in der symbolischen Ordnung verweisen. Nur in solchen (nie direkt erfassbaren) ‚Erschütterungen‘ im Rahmen selbstkonstitutiver textueller Praktiken wird ein Geschehen der ‚Bildung‘ überhaupt möglich, da nur in einem Bezug auf ein unbestimmbares ‚Außen‘ die Bedingungen des eigenen Seins als ‚anders-möglich‘ entworfen werden können. Der Fokus richtet sich also auf Momente in der symbolischen Figuration, in denen ‚Seinsungewissheit‘ aufscheint und fragt nach den spezifischen Umgangsweisen damit. Möglicherweise lassen sich davon ausgehend Aussagen über Anlässe und (förderliche bzw. hinderliche) Bedingungen eines ‚Anders-Werdens‘ treffen.

wendungen, die via Internet Kommunikation, Interaktion und Zusammenarbeit in besonderer Weise unterstützen und fördern.

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ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

4.2 Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses im Weblog ‚Stadtelfe‘ Welt- und Selbstverhältnisse werden konstituiert durch ein untrennbares Wechselspiel von Diskurs-, Macht- und Selbstpraktiken: Eine ‚Diskursposition‘ wird im Zusammenspiel von Sprecherstatus, diskursiven Sprechorten und Sprechrastern formiert. Gleichzeitig ist dieses Sprechen unhintergehbar in Machtbeziehungen eingestellt, die sich im Rahmen von strategischen Spielen der Anerkennung einerseits und disziplinierenden Bezügen auf Normen, Konventionen und Unterscheidungsraster andererseits konstituieren. Ebenso gilt, dass untrennbar von Diskurspositionen und Machtspielen Selbstbezüge hergestellt werden, die eine ‚Substanz‘ des eigenen Seins, eine ‚Haltung‘ gegenüber moralischen Codes und Verhaltensvorgaben und spezifische ‚Ziele‘ des Denkens, Handelns und Wahrnehmens umfassen. Im Folgenden geht es um diese drei Facetten des ‚Welt- und Selbstverhältnisses‘: Die Positionierung im Wissen, die Verortung in Machtbeziehungen und das reflexive Verhältnis zum eigenen Sein ergeben in ihrem Zusammenspiel das, was sich mit Foucault ‚Subjektivität‘ nennen lässt. Das übergreifende Ziel dieser Rekonstruktion ist es, Ambivalenzen und Spannungsverhältnisse innerhalb dieser ‚Subjektivität‘ herauszuarbeiten. Zu fragen ist beispielsweise, ob sich innerhalb einer Position oder zwischen zwei verschiedenen Positionen Brüche erkennen lassen, ob es Spannungen in den ‚Anerkennungsverhältnissen‘ gibt oder ob sich Ambivalenzen in der ‚Haltung‘ zeigen. In der Analyse selbst kristallisierte sich heraus, dass es produktiv scheint, die Diskursposition in das Zentrum der Analyse zu stellen, um von dort ausgehend jeweils die Machtbeziehungen und Selbstverhältnisse auszuloten. Diese dem Vorgehen geschuldete ‚Ordnung‘ bedeutet jedoch weder, dass die Diskurspositionen zeitlich ‚vor‘ den Machtbeziehungen und Selbstverhältnissen bestünden, noch dass Diskurspositionen, Machtbeziehungen und Selbstverhältnisse notwendig deckungsgleich sein müssen. Vielmehr wurde in meiner Untersuchung der diskursiven Sprechpositionen deutlich, dass diese immer schon den Blick auf Machtbeziehungen und Selbstverhältnisse eröffnen und umfassen. Im Folgenden werden die vier auffälligsten Subjektpositionen im Weblog ‚Stadtelfe‘ herausgearbeitet und hinsichtlich des jeweiligen Zusammenspiels von Status, Ort und Abstand zum Gegenstand sowie hinsichtlich der involvierten Machtbeziehungen und Selbstverhältnisses rekonstruiert. Es handelt sich um die Positionen der ‚Studentin‘, die der ‚Gestalterin‘, die des ‚sozialen Wesens‘ und die der ‚Haltlosigkeit‘.

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DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

4.2.1 Die Position der ‚Studentin‘ Eine erste, besonders klar umrissene Subjektposition ergibt sich aus dem im Weblog genannten formalen Status der Stadtelfe: Sie sei Studentin. Wie es unter der Rubrik „Fakten“ gleich auf der ‚ersten‘ Weblogseite „Und das ist die Stadtelfe“27 heißt, studiere sie im Hauptfach Soziologie. Die Stadtelfe habe bereits erfolgreich ihr Grundstudium absolviert und werde in absehbarer Zeit ihre Magisterarbeit schreiben. Meine dadurch hervorgerufene Erwartung, dass die durch den Status der Studentin formierte Diskursposition relativ häufig im Weblog auftaucht, wird jedoch nicht erfüllt. Die Stadtelfe berichtet nur ausgesprochen selten genauer über Ablauf und Inhalte der von ihr besuchten universitären Veranstaltungen. So schreibt die Stadtelfe zwar mehrfach von einem „bösen Philosophen“, mit dem sie sich „die gestrige Nacht [...] um die Ohren geschlagen“ habe (24.05.04)28 der Leser erfährt jedoch weder, wie dieser Philosoph heißt, noch um welches Themengebiet es geht. Ebenso erzählt sie, dass die zwei ersten Seminare des neuen Semesters besser angefangen hätten als gedacht, jedoch erfährt man im Folgenden lediglich, dass das ein Seminar „fächerübergreifend“ sei und sie sich im anderen „für ein Referat in 2 Wochen gemeldet“ habe (20.10.04). Niemals werden Seminarsituationen und studienrelevante Diskussionen geschildert, ebenso wenig erfährt der Leser, welches Nebenfach die Stadtelfe belegt. Lediglich von einigen Hausarbeiten und Referaten berichtet sie in ihrem Weblog etwas ausführlicher. Allerdings geht es auch dabei weniger um inhaltliche Fragen als vielmehr um die mit dem Leistungsanspruch verbundene Angst des Scheiterns. Immer wieder betont die Stadtelfe, sie habe „Mühe und Zweifel am eigenen Intellekt“ (11.06.04) und sei von der Theorie „überfordert“ (28.11.04). Ebenso habe sie „Panik“ vor einem Referat (17.07.04), möge sich nicht „blamieren“, male sich „Horrorszenarien“ bezüglich ihrer mündlichen Vorträge aus (02.11.04), hasse „sprechen vor Menschenmengen“ (20.10.04) und „mag nicht ständig feststellen müssen, daß [ihr] Intellekt versagt“ (31.10.04). Selbst die Passagen, in denen die Stadtelfe betont, dass sie trotz alledem ein inhaltli27 Es handelt sich um den ‚link 1‘ „elfe“, das Abrufdatum ist hier der 16.05.05. Einige Wochen zuvor wurde diese Seite inhaltlich geringfügig verändert, der Hinweis auf das Hauptfach Soziologie war allerdings schon in der vorherigen Version enthalten. 28 Aus dem Weblog wird in folgender Weise zitiert: Eine Klammer mit Datumsangabe, wie z.B. (28.07.04), verweist auf einen Eintrag der Stadtelfe. Er lässt sich unter der Adresse www.stadtelfe.com im Archiv nachlesen. Steht vor dem Datum ein K und ein Name, wie z.B. (K Moritz 03.01.05), so handelt es sich um einen Kommentar, der entsprechend zu einem bestimmten vorhergehenden Eintrag der Stadtelfe verfasst wurde, dabei ist es auch möglich, dass die Stadtelfe selbst Kommentare verfasst. Das Datum des Kommentars muss nicht notwendig mit dem Datum des kommentierten Eintrags übereinstimmen.

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ches Interesse an den Seminaren entwickle, werden meist wieder relativiert, indem sie in einen übergreifenden Rahmen von Ängsten und Selbstzweifeln eingestellt werden. So berichtet sie einmal: „Außerdem muß ich eine Hausarbeit zum Thema ‚Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Begriffsbildung bei Max Weber‘ verfassen, daß mich zum Teil ziemlich überfordert. Ich und Theorie... Das erstaunliche daran, ist aber, dass ich es mit der Zeit richtig interessant finde, was leider keine Garantie für Qualität bei mir ist.“ (03.03.05) Diese Figur der Vereinzelung und Deplatzierung in Bezug auf das eigenen Studium wird auf der formalen Ebene verstärkt durch eine Entgegensetzung von verallgemeinerndem ‚man‘ und individualisierendem ‚ich‘: [ Mai 12, 2004 | 19:00 ] Oje, den Rest dieses Semesters höre ich nur noch Europa, Grenzen Europas, Bürger Europas, Europa als Nation…und mir fällt auf, daß man hierbei über ein hervorragendes Geschichtswissen verfügen sollte, was ich natürlich nicht wirklich habe. [...]

Zudem werden häufig Verben verwendet, die eine Fremdbestimmung markieren, wie ‚muss‘, ‚müsste‘ und ‚sollte‘ (vgl. u.a. 10.05.04, 17.07.04 und 31.10. 04). Das Gesamtbild, das in dieser Art des Berichts über das eigene Studium entworfen wird, erfährt eine Unterstützung auch im Bereich der Universität als sozialem Feld. Die Kommilitonen der Stadtelfe spielen in den Einträgen im Weblog nur selten eine Rolle, und wenn, dann als zusätzlicher Angstfaktor. Die Stadtelfe wolle sich „weder vor den Kommilitonen noch vor dem Dozenten blamieren“ (24.05.04). Der einzige Ort, an dem die Stadtelfe die Begegnung mit ihren Kommilitonen als positiv schildert, ist eine Kasse in der Drogerie, an der die Stadtelfe laut eigener Aussage ihren Nebenjob ausübt: [ September 21, 2004 | 23:37 ] [...] Ansonsten ist arbeiten wieder ruhiger geworden und inzwischen habe ich wohl sämmtlicher meiner Kmomillitonen an der Kasse gehabt. Irgendwie sind die da viel netter (naja das denken die wohl andersrum von mir auch). [...]

Diese Gegenüberstellung von den Kommilitonen – die erst in der von der Stadtelfe ‚kontrollierten‘ Umgebung der Drogerie als ihre Kommilitonen betitelt werden – und der eigenen Person wird, folgt man den weiteren Äußerungen im Weblog, offensichtlich durch keine Arbeitsgruppe, Mensabekanntschaft oder Studienfreundschaft aufgebrochen. So bleibt in der Szene, in der die Stadtelfe schildert, wie sie vor dem Getränkeautomaten in der Uni steht, an dessen Bedienung ‚scheitere‘ und deshalb „immerhin Tränen gelacht“ habe (18.05.04), völlig unklar, ob sie dies allein erlebt oder in Gesellschaft von Mitstudierenden. Und von einer MTV-Veranstaltung auf dem Unigelände erzählt die Stadtelfe, dass sie sie nicht mit Kommilitonen, sondern mit ihren 196

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Arbeitskolleginnen aus dem Drogeriemarkt besucht (vgl. 03.07.04). Auch darüber hinaus wird die Universität nicht als Ort des Wohlfühlens geschildert. Das Soziologiegebäude habe zerbrochene Fensterscheiben und sehe „aus wie ein altes verfallenes Fabrikgebäude, welches im Winter entsprechende Temperatur aufzuweisen hat“ (09.06.04). Als relevant für dieses Unwohlsein wird auch die finanzielle Situation und die drohende – aber nicht näher ausgeführte – „Perspektivenlosigkeit“ (24.01.05), die die Stadtelfe mit ihrem Status als Studentin verbunden sieht, angeführt. Sie spricht von sich selbst als „einer sich in Geldnot befindlichen Studentin“ (08.10.04) und schreibt, sie wolle „einen richtigen Job, nicht mehr Studentin sein und solchen Ereignissen [dem Kaputtgehen ihres PCs, JL] so ausgeliefert sein“ (15.05.04). Die Gegenüberstellung eines ‚richtigen Jobs‘ und ihres ‚Unistudiums‘ tritt in einem Eintrag besonders deutlich hervor, in dem die Stadtelfe von ihrem ersten Unitag berichtet: „Heute geh ich wieder zum ersten mal nach den Ferien in die Uni, das Arbeiten gehen hat mich mit mehr stolz erfüllt. Die Zahlen auf einer Lohnabrechnung machen halt doch glücklicher, als die auf einem Schein.“ (19.10.04) Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Stadtelfe eigentlich gar nicht als Studentin spricht, sondern nur distanziert über das Studium berichtet, dem gegenüber der Status eines ‚theoriefernen‘, unsicheren und desintegrierten Subjekts figuriert wird. Ein Bruch in diesem Gesamtbild zeigt sich in der Schilderung eines sozialen Ereignisses, das nur mittelbar etwas mit dem ‚normalen‘ Unibetrieb zu tun hat. „Morgen verabschieden wir unseren Lieblingsprofessor“, erzählt die Stadtelfe am Ende des Sommersemesters. „Ich bin wirklich zutiefst traurig über seinen Weggang, schließlich war er der einzige, der Uni noch schmackhaft machen konnte.“ (20.07.04) Bemerkenswert an diesem Eintrag ist nicht nur, dass hier zum ersten Mal die Universität in ihrer Gesamtheit als etwas auftaucht, das „schmackhaft“ sein kann. Darüber hinaus wird die Stadtelfe auch ausnahmsweise als gestaltender Teil des Unibetriebes präsentiert. Sie berichtet nicht davon, dass am nächsten Tag ein Professor verabschiedet wird, sondern sie tritt in dem Bericht als Teil jener Gruppe auf, die diese Verabschiedung aktiv vornimmt. Die Distanz zwischen ‚der Stadtelfe‘ und ‚den Kommilitonen‘ wird damit auf formaler Ebene zu Gunsten eines gemeinsam handelnden und fühlenden wir aufgehoben. Hier erfolgt das Sprechen deshalb tatsächlich als Studentin, d.h. die Aussage erfolgt von einer Position aus, die den spezifischen Status des Universitätsmitgliedes erfordert und das Weblog zu einem Ort der Erzählung über einen offensichtlich zentralen Lebensbereich des Sprechers macht. Geht man allerdings von den in ihrer Zahl überwiegenden Einträgen aus, in denen das Studium mit der Äußerung von Zweifeln verbunden wird, so ergibt sich eine spezifische Subjektposition. In ihren Berichten über Professoren, Referate, Hausarbeiten und Kommilitonen spricht die Stadtelfe zwar formal als Studentin. Dieser Status wird jedoch mit einem spezifischen ‚Ab197

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stand‘ zum ‚Gegenstand‘ des Berichts verbunden: nämlich einer ungewöhnlich großen Distanz zu dem eigenen universitären Studium, die sich zum Teil aus der geäußerten Überzeugung der eigenen ‚Theorieferne‘, zum Teil auch aus der formulierten Angst der ‚Blamage‘ vor Dozenten und Kommilitonen ergibt. Das ‚Ich‘, das spricht, wird damit gleichzeitig als deplatziertes figuriert. Als Studentin sprechend, bewahrt es doch größtmöglichen Abstand zum universitären Feld. Von wo aus dieser Modus der Aussage erfolgt, d.h. welcher institutionelle oder funktionelle Ort im Rahmen dieser Diskursposition eingenommen wird, ist demgegenüber weniger eindeutig. In Bezug auf die mit dem ‚Gegenstand‘ des universitären Studiums verbundene „Perspektivlosigkeit“ und ‚Angst‘, lässt sich annehmen, dass der eingenommene Ort im Diskurs ein ‚Ort des Zweifelns‘ (und vielleicht auch der ‚Klage‘) darstellt, an dem die Unsicherheiten, Ängste und Selbstzweifel reflektiert werden. Gleichzeitig nehmen Aussagen wie „ich und Theorie“ die Funktion einer Bestätigung dessen ein, was bereits ‚feststeht‘ und im Rahmen der Diskursposition ‚Studentin‘ nur noch einmal scherzhaft-vergewissernd wiederholt wird. Ein etwas anderer Blick ergibt sich, wenn man den von der Stadtelfe häufig geäußerten ‚Stolz‘ mit in die Betrachtung einbezieht. Sie spricht etwa davon, „stolz“ zu sein, weil sie sich „richtig viele Notizen in der Uni gemacht“ habe (18.05.04) oder weil ihre „Hausarbeit im Prinzip fertig [ist]“ (26.08.04). Fügt man dem die oben erwähnte Passage der kurzzeitigen Integration und die Aussagen der Stadtelfe, in denen sie von ihrem „Spaß“ an der Theorie berichtet, hinzu, so wird damit nicht nur eine Verringerung des Abstandes zum Themenfeld ‚Universität‘ produziert. Darüber hinaus ließe sich vor diesem Hintergrund der ‚Ort des Sprechens‘ in seiner Funktion als Selbstmotivation, Selbstaufforderung und Selbstkontrolle bestimmen: „Wenn ich täglich 3 Seiten bei meiner Hausarbeit tippe, packe ich es noch diese Woche und habe Zeit für Korrektur, das ist eigentlich in Ordnung, oder?“ (21.08.04). Die Uneindeutigkeit des ‚Ortes des Sprechens‘ hat ihren Grund in einem Umstand, der erst in der Betrachtung der Machtbeziehungen deutlicher hervortritt. Zunächst entspricht der Feststellung, dass die Diskursposition der ‚Studentin‘ im Weblog eher selten eingenommen wird, eine sehr verhaltene Reaktion auf diese Position durch die Kommentatoren. Kaum ein Leser greift die Subjektposition der ‚Studentin‘ auf – sei es, um die Stadtelfe in dieser Position zu bestätigen und unterstützen, sei es, um sie in ihrem Sprechen von dieser Position aus explizit abzulehnen. Von dieser stillschweigenden ‚Ignoranz‘ gibt es nur sehr wenige Ausnahmen. Neben den Lesern Moritz und Rallé, die der Stadtelfe „Viel Kraft“ wünschen (K Moritz 20.08.04) bzw. sie als „armes Schaf“, das durch das Hausarbeitschreiben „keine Zeit“ für andere Dinge habe, bedauern (K Rallé 22.08.04), geht allein der Leser Steffen explizit auf die Position der ‚Studentin‘ ein. Als die Stadtelfe einmal von einer noch zu tippenden Hausarbeit berichtet, hakt er nach: „wie war noch mal das 198

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thema? ich hab ungefähr zwanzig arbeiten im archiv. vielleicht ist ja was dabei, was du zumindest nutzen kannst.“ (K Steffen 15.08.04). Auch im Folgenden fragt Steffen immer wieder nach, wie die Stadtelfe mit der Hausarbeit vorankomme, und nimmt, den Hinweisen im Weblog zufolge, diesbezüglich sogar telefonischen Kontakt mit ihr auf. Diese geringe Anzahl an Kommentaren lässt zwar keine verallgemeinerbaren Rückschlüsse auf deren Funktion zu. Auffällig ist jedoch, dass die Stadtelfe in den wenigen Kommentaren stets als jemand angesprochen wird, der Zuspruch und Hilfe brauche. Das umgekehrte Szenario – die Stadtelfe als diejenige, die um Rat ersucht wird und die Zuspruch erteilt – kommt nicht vor. Vor diesem Hintergrund scheint der funktionelle ‚Ort‘ dieser Diskursposition klarer bestimmt: Sie wird tatsächlich figuriert als Ort des Zweifelns und der Suche nach unterstützendem Zuspruch. Dieser Betrachtungsweise widerspricht allerdings der Umstand, dass in den Aussagen der Stadtelfe trotz allen Jammerns ihr Studium als etwas Selbstgestaltetes und individuell zu Bewältigendes erscheint. Auf Steffens Angebot einer Hausarbeit zum geforderten Thema heißt es: „kannst du mir die arbeit zum zitieren vielleicht geben, das wäre klasse.“ (K Stadtelfe 17.08.04) Die von Steffen angebotene Hilfe wird demnach zwar angenommen, aber in den wissenschaftlich vorgegebenen Grenzen: In der Aussage ist vom ‚Zitieren‘ die Rede, nicht vom Abschreiben. Und auch später, kurz vor Abgabe der Hausarbeit, schreibt die Stadtelfe: „Ich habe auch bereits 28 Bücher bzw. Aufsätze verwendet, es scheint ich will einen neuen Rekord aufstellen.“ (23.08.04) Auch das Gefühl des ‚Stolzes‘, das die Stadtelfe im Zusammenhang mit ihrem Studium erwähnt, zeigt, dass diese Diskursposition nicht völlig in der Figur der ‚theoriefernen, desintegrierten Studentin‘ aufgeht. Diese Brüchigkeit wird zumindest teilweise erklärlich, wenn man die beiden einander überschneidenden normativen Unterscheidungsraster betrachtet, die in den Einträgen des Weblogs auf den Gegenstand ‚Studium‘ angelegt werden. Das erste dieser Raster kontrastiert das ‚perspektivlose‘ Universitätsstudium mit der Kategorie des ‚richtigen‘ Jobs. Im Rahmen dieses Rasters erscheint das Studium als eine Beschäftigung, die nicht wirklich ernst zu nehmen ist: Man „tippt“ seine Hausarbeiten (vgl. z.B. 17.08.04), arbeite in vernachlässigten, kalten Räumen, die an „ein altes verfallenes Fabrikgebäude“ gemahnen (09.06.04), müsse sich mit „schlechtbezahlten Hiwis“ (ebd.) herumärgern, und die Rede vom „Urlaub“ (11.05.04) bezieht sich nicht auf die Semesterpause, sondern auf den Nebenjob der Stadtelfe. Demgegenüber steht dann der „richtige Job“, der dem Status der Studentin und damit vor allem auch der Phase der „Geldnot“ und der „Perspektivenlosigkeit“ ein Ende setzen könne. Das zweite Raster unterläuft diese Gegenüberstellung insofern, als dass es Anforderungen des universitären Studiums ins Zentrum stellt, deren Erfüllung ebenso schwierig wie erstrebenswert erscheint. Theorieverständnis, ein hoher Intellekt, sowie ein breites und fundiertes Wissen stellen die Basis dar, über 199

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die „man“ „verfügen sollte“ (12.05.04) und die die Stadtelfe „natürlich nicht wirklich“ habe (ebd.). Wenn die Stadtelfe deshalb an einer Stelle den „Satz des Tages“ zitiert: „‚Ich war beim Lesen der Texte erstaunt, was man alles so wissen könnte‘“ (20.07.04) oder wenn sie davon spricht, dass sie sich durch ein Buch „durchgekämpft“ hat (11.06.04) und Themen nach längerer Einarbeitung „richtig interessant“ findet (03.03.05), so wird hier die ‚Desintegration‘ in anderer Weise figuriert als beim ersten Raster. Während dort der ‚richtige‘ Job im Vordergrund steht, den die Stadtelfe (noch) nicht habe, ist es hier das ‚richtige‘ Studium, dem sie (meist) nicht gerecht werden könne. Somit scheint erklärlich, weshalb die Stadtelfe im Rahmen der Diskursposition der Studentin einmal davon sprechen kann, dass sie „das Arbeiten gehen [...] mit mehr stolz erfüllt“ als die Uni (19.10.04), und ein anderes mal die Rede von ‚Stolz‘ auf eine abgegebene Hausarbeit oder umfangreiche Seminarnotizen bezieht. Der ‚Ort‘ der Rede im Rahmen der Diskursposition der Studentin erscheint damit tatsächlich als brüchig, und man könnte von einer ‚doppelten Deplatzierung‘ sprechen. Die erste ergibt sich aus der immer wieder behaupteten ‚Theorieferne‘, die mit der wiederholten Rede von Zweifeln an der eigenen Studierfähigkeit einhergeht. Die zweite ergibt sich aus dem formulierten Unwohlsein in einer Situation, die als finanziell problematisch und ‚perspektivlos‘ dargestellt wird. Auch der Blick auf das in der Position der Studentin figurierte ‚Selbstverhältnis‘ zeigt die doppelte Deplatzierung. Die Stadtelfe problematisiert ihr eigenes Sein als Studentin in zweierlei Hinsicht: Zum einen beklagt sie sich wiederholt über das angebliche Versagen ihres Intellekts (vgl. 31.10.04), zum anderen wird der Status insgesamt als schwierige Lebenssituation geschildert. Diese Problematisierungsmuster erscheinen dabei allerdings – bis in die formale Sprachstruktur hinein – als wenig beeinflussbare äußerliche Gegebenheiten: „Es geht mir im Grunde also ziemlich gut, wenn da halt nicht immer die Uni und die Perspektivenlosigkeit drohend darüber schweben würde.“ (24.01.05) Und als die Stadtelfe im Zusammenhang mit dem Bericht von einer finanziellen Unterstützung ihrer Mutter von ‚Scham‘ spricht, benutzt sie keine aktive, sondern eine passivische Wendung: Sie sei „etwas beschämt“ (15.05.04). Zwar bezieht sich die Stadtelfe in einigen ihrer Äußerungen auch auf die eigene ‚Faulheit‘ (vgl. z.B. 15.08.04), aber auch die wird als etwas dargestellt, das einer unterstützenden Hilfe von Außen bedürfte: „Könnte mir bitte jemand morgens in den Arsch treten“, bittet die Stadtelfe in diesem Zusammenhang (ebd.). Auch im Blick auf die Seite im Weblog, auf der sich die Stadtelfe vorstellt, wird deutlich, dass das Selbstverhältnis im Rahmen der Subjektposition der Studentin für die hier behandelte Frage wenig Auffälliges zu bieten hat. Während auf besagter Seite ausführlich und mit großer sprachlicher Kreativität Hobbys und der Geschmack in Mode, Literatur, Musik und Film beschrieben werden (s.u.), taucht der Status der Studentin nur unter der Rubrik „Fakten“ auf. An Fakten ist nicht zu rütteln, 200

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sie stehen nicht in Frage und nicht zur Debatte. Für die Stadtelfe als ‚Studentin‘ steht die Ausarbeitung ihrer selbst als Subjekt ihrer Handlungen also anscheinend nicht im Vordergrund. Entsprechend lassen sich auch, abgesehen von dem Schreiben über sich selbst als Studentin, keine spezifischen ‚Selbstpraktiken‘ erkennen, mit denen sich die Stadtelfe in Bezug auf die Position der Studentin ausarbeitet. Problematisiert wird die Position der Studentin immer als Ganzes, dem Subjekt Gegebenes: entweder als dasjenige, was die Stadtelfe nicht ausfüllen könne, oder als dasjenige, was es zu beenden gelte. Dennoch zeigt sich im Selbstverhältnis eine Auffälligkeit. Es handelt sich um die rhetorische Praxis der Ironie. Diese scheint vor allem in den Wendungen auf, mit denen die Stadtelfe von ihrem Gefühl des ‚Stolzes‘ berichtet: „Und ich bin ja sooo stolz, ich habe heute richtig viele Notizen in der Uni gemacht. (18.05.04)“, „P.S.: Meine Hausarbeit ist im Prinzip fertig, hach ich bin so stolz auf mich.“ (26.08.04). Besonders klar tritt sie in einer Passage hervor, in der sich die Stadtelfe über sich selbst als Soziologin lustig macht: [ Mai 14, 2004 | 18:08 ] Und ich will morgen allen Ernstes Grand Prix anschauen, aber das ist nicht groß verwunderlich, ich schau schließlich auch Big Brother. Naja, eher Nachtfalke, weil ich die zynischen Sprüche des Moderators Jochen mag. Selbstverfreilich schau ich die Sendung auch aus soziologisch-psychologischen Aspekten;-)

In diesem Eintrag wird – verstärkt durch den zwinkernden Smiley – deutlich, dass die semantische Bedeutung der Aussage durch die textuelle Praktik der Ironie teilweise unterlaufen wird. Ein ironisches Sprechen zieht zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten eine Differenz ein, die auch Effekte auf das Selbstverhältnis hat. Die Position, von der aus gesprochen wird, wird im Sprechen gleichzeitig in Frage gestellt. Eine solch ‚abgeklärte‘ Amüsiertheit über das eigene Unvermögen figuriert einen Abstand zum eigenen Sein: Ironie produziert Selbstdistanz. Allerdings ist das ironische Sprechen kein spezifisches Charakteristikum der Position der ‚Studentin‘, sondern es durchzieht auch die im Folgenden dargestellten Positionen.29

29 Des Weiteren deutet sich in der Position der ‚Studentin‘ in allgemeinerer Hinsicht auch die Ausarbeitung ihrer Selbst als ‚nonkonform‘ bzw. ‚besonders‘ an: z.B. wenn die Stadtelfe in einer Vorlesung eine neue „Handschrift“ „ausprobiert“ (18.05.04) oder über den Begriff der „‚Figuraldeutung‘“ „sinnierte“ (12.05.04). Auf diese ‚Nonkonformität‘ wird im Rahmen der Position der ‚Gestalterin‘ ausführlicher eingegangen.

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4.2.2 Die Position der ‚Gestalterin‘ Auf der Seite „Und das ist die Stadtelfe“, auf der diese sich vorstellt und einige ihrer Interessen und Vorlieben aufzählt, heißt es unter der Rubrik ‚Hobbys‘: „gestalten“. Tatsächlich tritt die Stadtelfe in vielfältiger Hinsicht in der Subjektposition der ‚Gestalterin‘ auf. Am offensichtlichsten und zentralsten erscheint dabei die Tätigkeit der Aus- und Neugestaltung des Weblogs, die sich den regelmäßigen Besuchern des Weblogs zeigt. Diese intensive Entwurfstätigkeit lässt sich streckenweise auch anhand der Einträge rekonstruieren, wenn es etwa heißt: „Neues Layout!“ (14.08.04), oder wenn die Stadtelfe schreibt: „Ich bastel grad an einem neuen Design... ja und ich finds toll. [So] wird es nämlich aussehen... {schon da!}“ (28.09.04). Neben der häufigen Änderung des gesamten Layouts ihres Weblogs entwirft die Stadtelfe z.B. auch CD Cover (vgl. 09.06.04), eine Comicfigur (vgl. 16.07.04) und einen Brush (vgl. 11.10.04), die sie jeweils online präsentiert. Darüber hinaus ergänzt und modifiziert sie ihre Linklisten, fügt zwischendurch die Fotoseite „Egoshooting“, eine Seite mit „low-carb-Rezepten“ und später sogar ein „style diary“ ein und überarbeitet immer wieder einzelne Funktionen ihres Blogs. Sicherlich sind Weblogs per se ein Medium, das sich besonders gut für eine fortwährende Umgestaltung anbietet, weshalb die Position der ‚Gestalterin‘ für eine Bloggerin auf den ersten Blick kaum erwähnenswert erscheint. Aber abgesehen davon, dass viele Blogger – trotz der durch die Bloggersoftware gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten – bei ihrem einmal gewählten Design bleiben, präsentiert sich der Gestaltungswille der Stadtelfe als weit über den Rahmen ihres Weblogs hinausreichend. Folgt man den Einträgen im Weblog, so richtet sich ihr Hobby „gestalten“ nicht nur auf typische Designobjekte, wie z.B. Kinderbücher, CD-Cover, Layouts oder Fotos, sondern betrifft insbesondere auch die ‚Gestaltung‘ der eigenen Person mittels Kleidung, Parfüms, Accessoires und Schminke, aber vor allem auch mittels einer differenzierten Ausarbeitung des eigenen ‚Geschmacks‘ in Bezug auf Mode, Musik, Literatur, Kinofilme, Männer, Fernsehshows und Essen. „Achja und bis vor ein paar Tagen hatte ich eine Vanillephase“, schreibt die Stadtelfe z.B. an einer Stelle, „Vanille-Parfum, VanilleShampoo, Vanille-Haarkur, Vanille-Duschgel, Vanille-Zigaretten, Vanille-Sirup, Vanille-Cappuccino. Inzwischen bin ich bei Kokos gelandet. Koskosmilch zum Kochen, Kokosflocken ins Müsli, Kokos-Shampoo, Kokos-Duschgel. Jetzt brauche ich noch Parfum, Sirup...öhm Kokos-Zigaretten gibt es wohl nicht? Yeah, ich bin das lebende Bounty :-)“ (17.08.04). Sehr häufig berichtet die Stadtelfe außerdem kritisch über Kinofilme, gibt „Musik Tipps“ (24.09.04), diskutiert über neue Parfüms und Bücher, erwähnt Cocktails und asiatische Gerichte oder erstellt Listen der von ihr akzeptierten Geschmäcke. Dieser Gestaltungswille reicht bis in den Gebrauch der Sprache selbst hinein, 202

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der im Rahmen dieser Diskursposition einen auffälligen Reichtum an Bildern und ungewöhnlichen Formulierungen aufweist: etwa wenn die Stadtelfe im Zusammenhang mit Kleidung von „pink-bestrumpften“ Beinen (10.05.04), „quietschgelben Klamotten“ (20.07.04) und den „zerknitterten beigefarbenen Leinen-Frauen“ (ebd.) spricht, sich selbst als „lebende[s] Bounty“ (17.08.04), „rosa Stadtelfe“ (19.10.04) und „parfum-freak“ (K Stadtelfe 23.09.04) präsentiert, Frauen metaphorisch als „augentierchen und nasentierchen“ (K Stadtelfe 27.05.04) und gängige Scroll-Funktionen im Internet als „otto normalbalken“ (K Stadtelfe 05.10.04) tituliert, oder wenn sie von ihrer Begeisterung für Neologismen und Sprachverdrehungen berichtet: „Halbschlafittchen ist mal wieder mein Lieblings-Neologismus. Ich will auch so tolle Wörter erfinden.“ (21.11.04) Oder wenig später: „Mein neues Lieblingswort ist übrigens: Kotletten-Schnittchen.“ (25.11.04) Die Tätigkeit der Gestaltung wird insgesamt als ein zielgerichtetes und spaßbetontes Hobby präsentiert, das auf der Basis spezifischer Kompetenzen erfolgt. In Bezug auf die Gestaltung des Weblogs betont die Stadtelfe gelegentlich, dass ihr „ganz toll geholfen wurde“ und bestimmte Ideen „mal wieder“ ihre Fähigkeiten und Zeit überstiegen (28.09.04) oder sie sich „ans Flash“ „einfach nicht so ran[traut]“ (06.10.04). Demzufolge beruhe ihre Kompetenz in diesem Bereich zwar auch auf technischen Fertigkeiten, resultiere aber vor allem aus den Gestaltungsideen, der Genauigkeit und der ausgeprägten Energie, mit der die Stadtelfe ihre Ideen umzusetzen sucht: „Ich bastel und bastel und bastel, wenn ich nicht gerade arbeite oder schlafe.“ (11.10.04) Fast noch ausgeprägter erscheint diese Geschmackssicherheit im Bereich der Mo-de. Mehrfach berichtet sie davon, dass sie als Einkaufsberaterin tätig wird: „Lustig war allerdings der gestrige Tag, da ging ich nämlich mit meiner Mum einkaufen. Da sie so dolle abgenommen hat, habe ich sie komplett mit neuen Klamotten ausstaffiert. Ich bin wahrlich weltbester Einkaufsberater.“ (16.12.04) Ihre Vorstellungen von einem ‚passenden‘ Outfit beschreibt die Stadtelfe sehr dezidiert und selbstbewusst. Im Rahmen eines Berichts über eine schlaflose Nacht und den darauf folgenden (müden) Tag schreibt sie beispielsweise: „Damit das aber nicht ein allzu mitleidserregendes Bild wurde, entschied ich mich für quietschgelbe Klamotten und Schminke.“ (20.07.04) Das Hobby der Stadtelfe ‚gestalten‘ richtet sich demnach ebenso auf das Design des Weblogs wie auf die eigene Ausgestaltung durch einen individuellen Geschmack, der bei der Wahl von Outfits, Accessoires, Parfüms, Büchern, sprachlichen Ausdrücken, Musik, Filmen und Essen eingesetzt und entwickelt wird. Wirft man nun einen Blick auf die sich im Rahmen der Position der ‚Gestalterin‘ konstituierenden Machtbeziehungen, so zeigt sich, dass diese verschiedenen Gestaltungsaspekte von den Kommentatoren in unterschiedlicher Weise aufgegriffen werden. Auf der Ebene ihrer auf das eigene Weblog bezogenen Designtätigkeiten erfährt die Stadtelfe quasi durchweg 203

ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

nachhaltige Bestätigung: „Super süße Seite“ (K Mel, 10.09.04), „ei, ei, ei. was für eine schöne seite“ (K mona 20.06.04), „sehr schön, gefällt mir immer wieder extrem gut was du hier so machst :D“ (K vronie, 14.08.04), „kompliment“ (K steffen, 14.08.04), „Mach weiter so!“ (K Barbara, 04.09.04), „bin richtig beeindruckt, das layout ist schlicht aber hat seine wirkung!“ (K gemini, 19.09.04), „Wow, superschönes Design. *neid*“ (K Gwen, 08.10.04), „bin ganz zufällig über deine seite gestolpert und mit den augen kleben geblieben – ein traum!“ (K Destiny, 31.01.04). Diese – hier bei weitem nicht in ihrer Vollständigkeit wiedergegebenen – Komplimente erfahren noch eine Steigerung, wenn sie von vorgeblichen ‚Fachmännern‘ oder ‚Fachfrauen‘, wie beispielsweise dem Leser ‚Entlein‘, ausgesprochen werden: „Also, wenn ich was an dir bewundere, dann ist es definitiv deine 'Designsucht' und deine Fähigkeiten im HTML. Da ich selbst auch Geld damit verdiene, kann ich dir nur empfehlen deine Energien gegen Bares einzusetzen.“ (K entlein 11.10.04) Die Subjektposition der kompetenten, kreativen und vor allem geschmackssicheren Webdesignerin wird voll und ganz anerkannt. Weniger einheitlich stellen sich diese ‚Anerkennungsszenarien‘ allerdings in den anderen Gestaltungsbereichen dar. Interessant sind vor allem jene Kommentare, die der Stadtelfe ‚Oberflächlichkeit‘ vorwerfen. Der Vorwurf der ‚Oberflächlichkeit‘ gilt dabei weniger den „gelegentlichen Geschmacksverirrungen“ (18.12.04) der Stadtelfe: diese werden insbesondere von den – dem Namen nach – weiblichen Kommentatoren meist humorvoll unterstützt. Vielmehr wird dieser Vorwurf vor allem dann virulent, wenn die Stadtelfe die Kategorie des ‚Geschmacks‘ scheinbar als Urteilskriterium zur Bewertung ihrer Mitmenschen (insbesondere: Männer) einsetzt. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Szene, in der die Stadtelfe „im Cosmopolitanrausch“ einige „Geschmacksklisches bei Männern“ aufzählt: [ Juli 10, 2004 | 22:14 ] Und da ich grad im Cosmopolitanrausch bin mal ein Klatsch-Thema. Immer wieder stiegen mir nämlich bestimmte Geschmacksklisches bei Männern auf. Daher: diese Dinge darf ein Mann nicht mögen, damit ich ihn mögen kann;-) - Julia, Roberts, Meg Ryan und Sandra Bullock als Traumfrau (auch nicht Kate Hudson und dergleichen) - biedere Kostüme und Schuhe, nur blasse/braune/graue Farben, eingeföhnten Pony / billige Orsay Outfits - Pur, Herbert Grönemeyer, Peter Maffey, Bruce Springsteen, Simply Red - ausschließlich Bier als Alkohol - ausschließlich deutsche und italienische Küche akzeptiert werden: - Frauentyp: Maggie Gyllenhall, Christina Ricci, Catherine Deneuve ... - Klammotten: was zum Typ paßt ziwschen schick und flippig (einschließlich spitzer Schuhe in allen Farben)

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DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

- Alkohol: gute Cocktails, trockene Weine, Champagner, Prosecco - Musik: mindestens eine Musikrichtung muß übereinstimmen - Folk, Pop/Rock/80er, House, Modern Jazz, Latin/World Music - asiatische Küche, italienische Küche über den Horioznt der Pizza und mit oliven!

„Auweia“, schreibt daraufhin ein Kommentator. „Wie schrecklich oberflaechlich, Elfe. Schade, Schade.“ (K some sinatra 10.07.04) Und ein weiterer Leser schreibt: „Herrlich, einfach herrlich …. eine Liste zum Ankreuzen … mag ich, mag ich nicht, bin ich, bin ich nicht, ess ich, ess ich nicht … warum das Leben kompliziert machen, wenn es auch einfach geht : ) Wie sieht es aus mit geregeltem Einkommen, Einfamilienhaus und Familiensinn, mit Zärtlichkeit, Einfühlungsvermögen, Kreativität ….??“ (K hässliches Entlein, 10.07.04). Interessant ist die Reaktion der Stadtelfe auf diese Vorwürfe. Sie wehrt sich weniger dagegen, als ‚oberflächlich‘ bezeichnet zu werden, sondern geht vielmehr auf die in der Kritik implizierten Ansprüche der Kommentatoren ein, selbst nicht ‚oberflächlich‘ zu sein: „[T]ja nicht nur männern sollte es gestattet sein, oberflächlich zu sein“, ist ihre erste Reaktion. Und in einem weiteren Kommentar fügt sie hinzu: „Und ich finde es ja wirklich entzückend wie sich Leute darüber echauffieren, wenn man oberflächlichere Vorstellungen an den Tag legt. Ich möchte ja mal gerne wissen, wie unoberflächlich Ihr denn wirklich seid. Schließlich hat jeder seine Vorlieben ... optisch, charakterlich, geschmacklich.“ (K Stadtelfe 10.07.04) Schließlich beendet sie die Diskussion mit den Worten: stadtelfe @ 2:38:31 | 2004-07-13| permalink na das wird ja richtig lustig hier... ich sollte öfters oberflächliche einträge schreiben;-) [...]

Bemerkenswert daran ist, dass die Stadtelfe den Vorwurf der ‚Oberflächlichkeit‘ zwar als Kritik auffasst, ihn aber zur eigenen Bestätigung nutzt. Sie bezeichnet sich selbst als oberflächlich und steht dazu. Doch was heißt ‚Oberflächlichkeit‘ im Rahmen der Subjektposition der ‚Gestalterin‘? „Und erwähnte ich, daß ich kleine Männer mag? Und ältere?“ (03.08.04), schreibt die Stadtelfe etwa einen Monat später. Woraufhin Steffen kommentiert: „es ist aber beruhigend, dass es in unserer stylishen society scheinbar doch nicht nur auf optische reize ankommt. wahrscheinlich bist du aber eine ausnahme.“ (K Steffen 03.08.04) Statt diesen Kommentar als Anerkennung für eine ‚Tiefgründigkeit‘ zu nutzen, der es auf innere statt auf äußere Werte ankommt, pariert die Stadtelfe lapidar: „och so unoberflächlich bin ich wohl nicht, nur ist mein geschmack variabel und eher an meiner größe etc orientiert als an irgendwelchen schönheitsnormen. das find ich ganz in ordnung so, schließlich hat jeder seine vorlieben (die er dann von zeit zu zeit über bord wirft)“ (K 205

ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

Stadtelfe 03.08.04). ‚Oberflächlichkeit‘, so wird hier deutlich, heißt für die Stadtelfe als ‚Gestalterin‘ tatsächlich der Blick auf äußerliche, vor allem optische Merkmalen, die dem eigenen Geschmack entsprechen. Doch dieser ‚geringe Tiefgang‘ wird von der Stadtelfe in keiner Weise mit einem negativen Urteil belegt: Oberflächlichkeit sei wunderbar. Dass in der Position der ‚Gestalterin‘ disziplinierende Konventionen und Raster dennoch eine Rolle spielen, wird deutlich, wenn man nachvollzieht, in welcher Weise die Stadtelfe auf den Begriff der ‚Normalität‘ rekurriert. Tatsächlich wird ihr Geschmack auf den ersten Blick als sehr variabel und breit gefächert gezeichnet, er scheint an kein Schema und keine Vorgaben gebunden. Dieser Eindruck entsteht vor allem dadurch, dass die Stadtelfe neben den bereits angedeuteten häufigen Geschmackswechseln (z.B. von Vanille zu Kokos) gleichzeitig zwei prinzipiell unvereinbare ‚Geschmacksrichtungen‘ vertritt. Die eine dieser Richtungen, die vor allem in der Gestaltung des Weblogs hervortritt, zielt auf ein zartes Layout, sanfte Farben, kleine Schrifttypen und insgesamt alles, was nicht „globig“ (K Stadtelfe 10.05.04) sei: „Ich neige zum Spartanischen. Aber Herbstfarben mußten sein“ (14.08.04), begründet die Stadtelfe an einer Stelle ihr neues Design. Und auf einige Kommentare hin, die sich über die geringe Größe der Schrift im Weblog beschweren, meint sie: stadtelfe @ 11:32:01 | 2004-09-30| permalink @limone: ja schrift ist klein, ich mag das sehr.. meine mutter würde wohl auch motzen. ich seh aber noch so gut*gg* und ich mag halt zart und das geht ja leider nur mit klein. ich finds auch doof, daß man im internet nur so wenig schriftmöglichkeiten hat.

Ähnliches lässt sich über die von der Stadtelfe erwähnte Vorliebe für finnische Filme sagen, in denen es „kein Gut und Böse gibt, sondern nur die Grautöne dazwischen“ (17.08.04). Demgegenüber steht die zweite Richtung, die sich vor allem in auffälligen Kleidungsstücken, einseitigen Vorlieben und überraschendem Konsumverhalten manifestiert. Die Stadtelfe berichtet von ihren „pink-bestrumpften Beinen“ (10.05.04), ihrem „kitisch-japanisch[en]“ Mouse-Pad (22.05.04), ihren „quietschgelben Klamotten“ (20.07.04), ihrem Faible für „Pucca“ und „Hello Kitty“ (10.12.04), dem Genuss eines „giftgrünen und orangenen türkischen Tee[s]“, der „sehr künstlich und entsprechend genial“ für die „gelegentlichen Geschmacksverirrungen“ der Stadtelfe sei (18.12.04) und der „rosa Stadtelfe“ (19.10.04). Dennoch erfolgt gerade in dieser vordergründigen Flexibilität und Variabilität des Geschmacks ein dezidierter Bezug auf ‚Normen‘ und ‚Konventionen‘: Diese werden nämlich als Raster genutzt, demgegenüber die Stadtelfe als ‚nonkonform‘ positioniert wird. Genau darin liegt auch die Gemeinsamkeit dieser auf den ersten Blick sehr gegensätzlichen Geschmacksrichtungen. Mit ihren „quietschgelben Kla206

DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

motten“ grenzt sich die Stadtelfe als ‚Gestalterin‘ genauso von den „beigefarbenen Leinen-Frauen“ (20.07.04) ab, wie sie sich mit ihrem zarten Weblog-Layout mit entsprechend schmalen Scrollbalken von den „otto normalbalken“ distanziert, die ihr „zu globig“ seien. „[I]ch war noch nie ein mitläufer“, heißt es an einer Stelle, „immer schön gegen die masse schwimmen ;-)“ (K Stadtelfe 26.08.04). Nicht der Geschmack als solcher sei demnach also entscheidend, sondern vielmehr der Umstand, dass dieser unvorhersehbar, nonkonform und individuell erscheint. Damit wird nun deutlich, weshalb der Vorwurf der ‚Oberflächlichkeit‘ für die Position der ‚Gestalterin‘ unproblematisch ist. In den erwähnten Kommentaren wird das normativ aufgeladene Raster ‚Oberflächlichkeit vs. Tiefgründigkeit‘ angelegt. Die Stadtelfe hingegen unterscheidet zwischen ‚gewöhnlich‘ und ‚nonkonform‘. Tiefgründigkeit kann dabei genauso ‚konform‘, wie Oberflächlichkeit ‚nonkonform‘ sein. Und noch etwas anderes unterscheidet diese beiden einander verfehlenden Raster: Während die Unterscheidung zwischen Oberflächlichkeit und Tiefgründigkeit in den Kommentaren als eine allgemeingültige auftritt, beansprucht die Stadtelfe als ‚Gestalterin‘ niemals eine Position, von der aus sie allgemeine Werturteile über Personen fällen könnte. Zwar vertritt die Stadtelfe in ihren Äußerungen extrem dezidierte Geschmacksvorstellungen und setzt diese dabei durchaus als Bewertungsmaßstab für die Geschmäcke anderer ein. Sie macht ihren Geschmack jedoch in keiner Weise zur Basis universal-normativer ästhetischer Urteile. Geschmack, so ließe sich diese Perspektive zusammenfassen, erscheint als ein konstitutiver Teil der Persönlichkeit, sei damit individuell und müsse entsprechend undogmatisch gehandhabt werden, da er sich einer Verurteilung prinzipiell entziehe. Man könne niemanden für seinen Geschmack verurteilen, ihn aber sehr wohl aufgrund seines Geschmacks mögen oder nicht mögen: „Ich sage ja nicht, daß andere Geschmäcker falsch sind, nur passen sie [die von der Stadtelfe ‚akzeptierten‘ Geschmäcke, JL] eben im Sammelsurium zu mir. Z.B. mag ich Phil Collins, zumindestens die alten Sachen und da dreht es manch einen Herren auch den Magen um;-)“ (K Stadtelfe 12.07.04). Die Subjektposition der ‚Gestalterin‘ lässt sich nun folgendermaßen umreißen: Foucault weist darauf hin, dass sich ein spezifischer Status vor allem aus dem ‚Wahrheitsanspruch‘ einer Aussage ergibt. Der Status der ‚Gestalterin‘ ergibt sich für die Stadtelfe entsprechend aus ihrer Erfahrung und Kompetenz beim Design, ihren kreativen Gestaltungsideen, der Intensität, mit der sie sich diesem ‚Hobby‘ widmet, und vor allem durch ihren individuellen, selbstbewussten Geschmack. Die Mühelosigkeit, mit der die Stadtelfe dabei offensichtlich ihre Ideen entwickelt, unterstützt diese Status bildende Kompetenz: Ebenso wie ihr gesamtes Weblog aus „purer Langeweile“ (09.05.04) heraus entstehe, erscheint an anderer Stelle das Designern als Ersatzhandlung für eigentlich anstehende andere Arbeiten und wird entsprechend mit ‚exorbi207

ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

tanter Faulheit‘ assoziiert (vgl. 24.10.04). Gestalten ist für die ‚Gestalterin‘ Hobby, Spaß, Ablenkung, Werkeln, Ausprobieren und immer besser werden. Der Ort des Sprechens erscheint nun in einem besonderen Licht. Denn hier erfolgen nicht nur ausgehend von einem (mehr oder weniger bestimmten) Punkt Aussagen über die verschiedenen Gestaltungstätigkeiten und deren Objekte. Vielmehr wirken auch die Aussagen selbst ‚gestaltend‘. Damit ist das Weblog nicht nur ein Raum, in dem über kreative Ideen, Spaß am Gestalten und Geschmack berichtet wird. Sondern gleichzeitig ist es der Raum, in dem diese Tätigkeiten sich vollziehen. Dies gilt sowohl für das Design des Weblogs als auch für die Gestaltung seiner selbst im Schreiben. Entsprechend gibt sich auch der Abstand zum Gegenstand bzw. das Raster, das an diesen Gegenstand angelegt wird. Dabei muss zunächst noch einmal gefragt werden, welcher ‚Gegenstand‘ eigentlich konstituiert wird, wenn die Stadtelfe von der Subjektposition der ‚Gestalterin‘ aus spricht. Den entscheidenden Hinweis darauf gibt bereits der erste Eintrag im Weblog: [ Mai 9, 2004 | 18:59 ] Aus purer Langeweile kam ich wieder auf die Idee, einen anständigen Blog zu kreieren. Ohne Blogger-Software tippt man halt doch nur halb sooft Irrungen und Wirrungen des Alltags auf eine Seite.

Demnach wird es im Folgenden also um einen „anständigen Blog“ als Rahmen für „Irrungen und Wirrungen des Alltags“ gehen. Damit stehen nicht die eigentlichen Inhalte im Vordergrund, sondern es geht um das ‚Gefäß‘, in das diese hineingegossen werden können. Nicht das chaotische Leben, sondern dessen Präsentation – sozusagen dessen Auftauchen an der Oberfläche des Weblogs – ist damit der ‚Gegenstand‘, auf den sich die Aussagen von der Position der ‚Gestalterin‘ aus beziehen. Und damit ist der Abstand zum ‚Gegenstand‘ sehr gering: Das Weblog selbst ist dieses Gefäß und die Aussagen selbst sind die Oberfläche. Jedes Sprechen hat unmittelbare Auswirkungen auf den ‚Gegenstand‘, der sich entsprechend veränderlich gibt. Vor allem mit dem Blick auf die Machtbeziehungen lässt sich zeigen, dass das dazugehörige ‚Raster‘ eine Trennungslinie zwischen dem ‚Gewöhnlichen‘ gegenüber dem ‚Nonkonformen‘ zieht. Dabei geht es um eine Art ästhetisches Urteil, das als zentrales Kriterium den ‚Geschmack‘ einführt, diesen aber als individuelle Kategorie ohne universalen Anspruch versteht. Das Selbstverhältnis, das diese Subjektposition konstituiert, scheint damit klar umrissen: Die verschiedenen gestalterischen Praktiken richten sich auf die Oberfläche: entweder im Sinne der wahrnehmbaren Selbstpräsentation (Kleidung, Parfüm, Accesoires, Layout, Fotos) oder im Sinne einer Art ‚inneren Oberfläche‘ (geschmackliche Vorlieben, Rahmen für berichtete Inhalte). Mit Foucault ließe sich diese ‚Oberfläche‘ damit als die ‚Substanz‘ des Selbst 208

DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

bezeichnen, auf die die reflexive Ausarbeitung zielt. Das ‚Ziel‘ dieser Ausarbeitung besteht in der Konfiguration einer ‚Nonkonformität‘, die sich in auf verschiedene Weisen zeigen kann: durch Flexibilität, Unvorhersehbarkeit, Nichtkategorisierbarkeit und extremen bzw. ungewöhnlichen Geschmack. Diesem Ziel entspricht gleichzeitig eine ‚Haltung‘ gegenüber Normen und Konventionen, die diese als eine Art ‚Negativmaßstab‘ nimmt: Es gilt, sich von diesen Vorgaben abzugrenzen. Die verschiedenen Formen der gestalterischen Selbstpraktiken, die dabei eine Rolle spielen, lassen sich zwei Gruppen zuordnen. Zum einen gibt es die Praktiken, über die die Stadtelfe berichtet: die Gestaltung des eigenen Körpers durch Diät, Sport, Mode und Parfüm und die Gestaltung des Geschmacks durch den Konsum ausgewählter Literatur, Filme und Musik. Zum anderen stellt das Weblog in sich eine gestalterische – bild- und zeichenhafte – Selbstpraktik dar, über die nicht berichtet wird, sondern die sich im Bloggen vollzieht.

4.2.3 Die Position des ‚sozialen Wesens‘ Eine dritte Subjektposition ergibt sich aus der eigenen Verortung der Stadtelfe in sozialen Beziehungen: als ‚Freundin‘, ‚Arbeitskollegin‘, ‚Tochter‘, ‚Schwester‘ und – in besonderer, noch zu erläuternden Weise – als ‚Frau/ Partnerin‘.30 Während die Stadtelfe gerade als ‚Gestalterin‘ immer wieder betont, dass es sich bei dem Geschriebenen um ihre persönliche Meinung bzw. um ihren individuellen Geschmack handelt, und damit auf universelle Ansprüche verzichtet, nimmt sie im Zusammenhang mit sozialen Beziehungen oftmals unhintergehbare Urteilskriterien in Anspruch. Damit erscheint dies als der Bereich, in dem bestimmte Dinge außer Frage stehen und in dem entsprechend normative Urteile gefällt werden können. In besonders deutlicher Weise zeigt sich das, wenn die Stadtelfe als ‚Freundin‘ spricht. Ihre Erwartungen an eine Freundschaft sind laut eigener Aussage ziemlich hoch: „Ich habe gute Freunde, [...] von daher habe ich zum Teil erhöhte Erwartungen. Allerdings nie mehr, als ich selbst zu geben bereit bin/war.“ (26.07.04) In ähnlicher Weise heißt es auf einer Liste der Dinge, die die Stadtelfe ‚schon gehabt‘ habe: [ November 2, 2004 | 21:42 ] [...] Gehabt: 8. Ganz ganz tiefe Verbundenheit zu einem/mehreren Menschen haben 9. Absolute Loyalität gespürt haben 10. Absolute Loyalität gezeigt haben

30 Prinzipiell würde dazu natürlich auch der Status der ‚Kommilitonin‘ gehören. Dieser unterscheidet sich jedoch, wie bereits in Abschnitt 4.1.1 angedeutet wurde, von den anderen genannten sozialen Beziehungen.

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ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

Dieser Modus des (unbedingten) gegenseitigen Gebens und Nehmens als Grundprinzip einer wahren Freundschaft durchzieht die Einträge im Weblog auf zweierlei Weise. Zum einen präsentiert die Stadtelfe es als eigenes ‚Lebensmotto‘. Immer wieder berichtet sie davon, dass sie „Postkarten“ und „Päckchen“ bekommt (21.11.04), „ein sehr liebes Mail“ (13.07.04) und „nette Chatbotschaften“ erhält (22.09.04), „schöne tiefe Gespräche“ führt (21.05. 04), Abende mit „ganz tollen, tiefen Frauengesprächen“ verbringt (05.07.04) oder etwas von ihrer „besten Freundin geschenkt“ bekommt (17.07.04). Komplementär zu diesen Momenten, in denen sie von erhaltenen ‚Gaben‘ berichtet, finden sich solche Passagen, in denen die Stadtelfe als ‚Gebende‘ spricht. Besonders markant sind dabei die Berichte von Momenten eines tief empfundenen Mitgefühls: [ Juni 21, 2004 | 04:43 ] Manchmal fühlt man das Leid anderer, als wäre es das eigene. Weil man die Person so mag und weil man irgendwann festgestellt hat, daß diese auch immerwieder in die selben Teufelskreise gerät. Ich weiß, es gibt nichts zu sagen, nichts zu trösten. Es zerreißt einen förmlich nichts tun zu können, nicht die Kraft zu geben, die man jedesmal benötigt und die von mal zu mal weniger wird. [...]“

In ähnlicher Weise berichtet die Stadtelfe an anderer Stelle von den „Sorgen“, die sie sich um andere Menschen mache (10.09.04) oder von der intensiven „Vorstellung des Verliebtseins einer anderen Person“ (30.07.04). „Tiefe Verbundenheit“, „absolute Loyalität“ und eine aufmerksame Gegenseitigkeit machen demzufolge für die Stadtelfe als ‚soziales Wesen‘ die Qualität einer Beziehung aus. Zum anderen lässt sich diese Form der ‚sozialen Beziehung‘ gleichzeitig als Maßstab verstehen, an dem nicht nur ihre Freundschaften gemessen, sondern insgesamt das gesellschaftliche Miteinander (und die Gesellschaftsmitglieder) beurteilt werden. Dieser angelegte Maßstab zeigt sich beispielsweise in der Äußerung von Freude an unerwarteten ‚Gaben‘: [ Mai 21, 2004 | 15:24 ] Wochenlang hat man das Bedürfnis ein, zwei schöne tiefe Gespräche zu führen und keiner ist da, der mit einem über die Welt sinniert. Schon alleine, weil ich das heute hatte, geht es mir jetzt gut. Ich mag es mit Leuten zu reden, die vernünftige (=ähnlich wie meine) Ansichten haben. [...]

Oder: [ Juli 5, 2004 | 02:30 ] Ich hatte ein schönes Wochenende...juhu sowas kanns noch geben. Die gestrige Gegenparty zum MTV-Happining war zwar ohne Film, aber dafür mit Alkohol und ganz tollen, tiefen Frauengesprächen. Nun weiß ich wenigstens, es gibt

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DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

noch spannende Frauen, die sich auch danach sehnen offen und ehrlich über das Leben reden zu können. Wirklich schön! [...]

In diesen Äußerungen werden Urteile von einem Standpunkt aus gefällt, der seinerseits außer Frage steht: Kriterien wie ‚Vernunft‘, ‚Offenheit‘ und ‚Ehrlichkeit‘ beziehen sich nicht mehr länger nur auf einen individuellen ‚Geschmack‘, sondern erheben einen unhintergehbaren Anspruch. Und indem solche Urteile gefällt werden, wird in der Position des ‚sozialen Wesens‘ dieser normative Standpunkt eingenommen, ohne ihn dabei in irgendeiner Weise in Frage zu stellen oder auch nur explizit zu markieren. Gelungenes soziales Miteinander kann in dieser Logik nur auf jener vorab definierten Ebene stattfinden. Entsprechend werden Empörung und Enttäuschung geäußert, wenn die genannten Kriterien als nicht erfüllt empfunden werden: „Und ich finde es doch reichlich unerhört nach einem langen Tag keine anständige Mail in meinem Postfach zu finden.“ (12.05.04) „Und was ich auch nicht leiden kann, wenn man auf meine Anrufe oder SMS nicht reagiert….“ (26.05.04). Diese ‚Empörung‘, lässt sich zwar in Bezug auf das Ausbleiben ‚anständiger Mails‘ noch als scherzhaft gemeinte verstehen, weitet sich aber verschiedentlich zu einer Kritik am gesellschaftlichen Leben insgesamt aus: [ Mai 28, 2004 | 19:59 ] [...] Ansonsten fällt mir mal wieder auf, wieviel Gleichgütligkeit, Verantwortungslosigkeit und unpassendes Benehmen an den Tag gelegt wird. Nein, es ist nicht zu viel verlangt, Tschüß bei einem Chat zu sagen. Nein, es ist nicht zuviel verlangt, eine Antwort auf eine klargestellte Frage zu bekommen. Nein, man muß die Tür nicht extra zudrücken, man darf sie dem nächsten auch ruhig aufhalten. Nein, man muß nicht mit Beleidigungen um sich schmeißen. Nein, man muß sich nicht um die Arbeit drücken und sie anderen aufbrummen. Nein, Bruderherz, man muß nicht seine abgekieften Hühnerknochen auf dem Teller des anderen legen, wenn man mit seinem leergegessenem Teller ohnehin am Müll vorbei kommt... Schön, daß es auch andere Beispiele und Momente gibt. [...]

Wenn die Stadtelfe davon spricht, dass Jim Carrey in einem Interview „erstaunlich sensibel und vernünftig“ klang (K Stadtelfe 23.05.04), wenn sie sich darüber ‚amüsiert‘, „wie Menschen es schaffen aus jeder Lächerlichkeit einen Konkurrenzkampf“ zu machen (31.05.04), wenn sie behauptet, „jeder hat Menschenkenntnis“ (19.06.04) und „jeder“ ist „schwach“ und „bedürftig“ (06.08.04) oder wenn sie kritisch reflektiert, dass „die Menschen“ auf brutale Art „in einer kapitalistischen Welt nach neuen Zielen/Herausforderungen/ Reizen suchen“ (09.08.04), so handelt es sich dabei um Urteile mit tendenziell universeller Geltung, die auf besondere Weise die diskursive Position des ‚sozialen Wesens‘ kennzeichnen. Diesen unverrückbaren Maßstab wendet die Stadtelfe dabei auch auf ihr eigenes Handeln an: „Eigentlich fand ich die 211

ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

ganze Zeit, daß der Tag schlecht gelaufen sei, aber nun fällt mir auf, daß es eigentlich undankbar wäre dies zu behaupten. Immerhin erhielt ich heute morgen ein sehr liebes Mail, welches mir viel bedeutet.“ (13.07.04) Und die eigene Undankbarkeit stellt die Stadtelfe auch an andere Stelle fest: [ Oktober 19, 2004 | 11:39 ] Manchmal bin ich ziemlich undankbar, ich weiß. Die Geschichte mit dem kleinen Finger und der ganzen Hand und so.... Manchmal brauch ich das eben, die ganze Bestätigung und so, ...nur für einen Tag/einen Abend.Dann nehm ich mich wieder brav zurück und stelle mich stets hinten an, schaue zu wie ich dann doch zumeist nicht mehr an "die Reihe komme". Meist ist das ok, ich wollte schon immer lieber Regisseur statt Schauspieler werden, lieber Songwriter als Sänger. Aber es gibt eben auch diese wenigen Tage... [...]

Das Prinzip des ‚Gebens und Nehmens‘ und der ‚Loyalität‘ zeigt sich nicht nur im Rahmen des Schreibens über Freundschaft, sondern auch in Bezug auf Familie, Arbeitskolleginnen und andere Menschen aus dem sozialen Umfeld. Die Einträge figurieren die Stadtelfe genau in dieser Hinsicht auch eher als ‚Freundin‘ statt als ‚Tochter‘ ihrer Mutter. Zwar berichtet die Stadtelfe davon, dass sie von dieser einen neuen PC und später auch einen neuen Monitor geschenkt bekommt, im Gegenzug erzählt sie aber auch von ihrer Tätigkeit als „Einkaufsberater“ der Mutter und als fachkundige Partnerin in einem „erotischen“ Gespräch, in dem sie ihrer Mutter unter anderem genauer erläutert habe, was „Blümchensex“ sei (16.12.04). Ähnliche Figuren kennzeichnen die Einträge der Stadtelfe zu ihren jüngeren Geschwistern, vor allem wenn sie davon berichtet, dass sie ihrem Bruder Nachhilfe gibt, aber ebenso erwähnt, dass dieser sie bei gemeinsamen Filmabenden beruhige und seine Schwester „mausebär“ nenne (07.07.04). Die soziale Verbundenheit der Stadtelfe mit ihren Arbeitskolleginnen wird ebenso in der Äußerung behauptet, dass „gute Arbeitskollegen nur vom 2mal wöchentlichen miteinander arbeiten merken, daß man mal wieder in einer ‚ich mag mich nicht‘-Phase ist“ (05.06.04), wie in dem Bericht über das Hineinfühlen in das „Verliebtsein“ einer „Arbeitskollegin“ (30.07.04) und über die gegenseitige Unterstützung in schwierigen Situationen: „Hachja und es gibt noch nette Menschen. Heute abend arbeitet eine liebe Kollegin für mich, nachdem ich mich bereitschlagen ließ für jemanden anderes morgen zu arbeiten“ (15.12.04). Und diese Verbundenheit erscheint sogar möglich mit Kunden an der Kasse im Drogeriemarkt oder mit Verkäuferinnen beim eigenen Einkauf: „Manchmal ist es wirklich ein Vorteil hier in einem kleinen dorfähnlichen Stadtteil zu leben. So hat meine Lieblings-Norma-Verkäuferin mir extra Himbeeren bestellt und sich gefreut, daß ich mich dafür bedankte.“ (10.02.05)

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DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

Es liegt auf der Hand, dass eine diskursive Position, die sich vor allem durch die Form ihrer ‚normativen Urteile‘ auszeichnet, Machtbeziehungen in besonders prominenter Weise hervortreten lässt. Dies gilt allerdings nicht für die Machtbeziehungen, die sich auf der Ebene strategischer Anerkennungsszenarien ergeben. Gerade weil die Position des ‚sozialen Wesens‘ so wenig verhandelbar ist, finden hier tatsächlich kaum ‚Aushandlungsprozesse‘ statt. Die Aussagen der Stadtelfe von dieser unhintergehbaren Ebene des Sprechens aus können offensichtlich nur bestätigt, nicht aber irritiert und verschoben werden. Die Bestätigung erfolgt dabei sowohl auf inhaltlicher wie auch auf persönlicher Ebene: „Manchmal fühlt man das Leid anderer, als wäre es das eigene“, führt die Stadtelfe an einer Stelle aus und erläutert weiter, dass es „einen förmlich [zerreißt] nichts tun zu können, nicht die Kraft zu geben, die man jedes Mal benötigt und die von mal zu mal weniger wird“ (21.06.04). Woraufhin Südwind erwidert: Südwind @ 22:45:07 | 2004-06-21| permalink Für Freunde tut man einfach alles, auch wenn man selbst an seine Grenzen kommt. [...]

In ähnlicher Weise wird der Stadtelfe Recht gegeben, wenn sie sich beklagt über „all die Mädels mit ihren Seiten [...], die Rechtsklicksperre haben, riesengroßes Copyright, aber dann geklaute Scripte/ Scripte mit entfernten Namen und Starfotos verwenden“ (06.10.04): Steffi @ 16:34:02 | 2004-10-07| permalink Ja, ja endlich mal jemand, den das auch nervt. Dachte schon ich zu pingelig. [...]

Oder auch wenn sich die Stadtelfe darüber ‚amüsiert‘, „wie Menschen es schaffen aus jeder Lächerlichkeit einen Konkurrenzkampf zumachen. Wer macht die besten Icons, wer gründet die beste Community, wer hat die meisten Comments...ganz zu schweigen von der Realität. Es scheint Menschen zu geben, die ihren ganzen Lebenssinn im Dauerwettbewerb finden.“ (31.05.04): kev @ 16:25:59 | 2004-05-31| permalink Da geb ich dir mal recht mit diesem Kokurrenzkampf...

Der Anspruch der Stadtelfe kann wiederum ebenso leicht bestätigt wie enttäuscht werden: „Hach, hach und ich bekam heute ein ganz liebes Mail, da gehts ein doch gleich mal viel besser. Und ja, nette Chatbotschaften kriege ich auch... so ein schlechter Mensch kann ich also gar nicht sein. Und überhaupt habe ich ganz viel positive Gefühle zu einigen Menschen, so schlimm ist es nicht mich zum Freund zu haben, ich bin nämlich sehr loyal.“ (22.09.04) 213

ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

stephani @ 23:42:17 | 2004-09-22| permalink ich wollte nur sagen: ich für meinen teil mag dich sehr! stadtelfe @ 0:02:55 | 2004-09-23| permalink @stephani: *blush* danke... und du weißt, das kann ich nur erwidern

Einige Monate später heißt es dann demgegenüber: „Hm, und wie immer habe ich das Gefühl, daß sowohl alte, als auch erst neuere Kontakte ziemlich zerbröseln. Ich frage mich, ob das an mir liegt... fühle mich aber irgendwie unschuldig...“ (20.02.05) stephani @ 21:51:39 | 2005-02-21| permalink [...] jetzt fühl ich mich ein wenig schuldig! - das nächste mal wieder, ja?! stadtelfe @ 8:39:28 | 2005-02-22| permalink [...] hm, jo war ein bisserl enttäuscht, muß aber zugeben, daß ich in letzter Zeit selbst wenig Zeit hatte/habe, von daher lieber verschieben. [...]

Deutlich wird allerdings, dass diese Enttäuschung nicht den sozialen Anspruch an sich angreift. Stephani bestätigt noch in ihrem Gefühl der ‚Schuld‘ die Erwartungen der Stadtelfe und entschuldigt sich entsprechend für ihr Verhalten. Umso reichhaltiger ist gegenüber diesen eher eindimensionalen Anerkennungsverhältnissen der Blick auf die Machtbeziehungen, die sich aus der Orientierung an Unterscheidungsrastern und Normen ergeben. Es wurde bereits gezeigt, dass es das genuine Charakteristikum der Position des ‚sozialen Wesens‘ darstellt, dass von einer Position aus gesprochen wird, die selbst außer Frage steht und die das eigene Verständnis von angemessenem sozialen ‚Sein‘ zum Maßstab für menschliches Miteinander macht. In besonderer Weise ergänzt und verstärkt wird dieses Raster von ‚sozial erwünscht‘ und ‚sozial unerwünscht‘ durch den spezifischen Einsatz eines Unterscheidungsrasters zwischen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘. Weiblichkeit und Männlichkeit erscheinen dabei als ontologische Kategorien, die zur Grundlage von Urteilen und Zuschreibungen gemacht werden. „Jaja so sind die Männer“ (nämlich: „dominant-chauvinistisch“), schreibt die Stadtelfe an einer Stelle (30.11.04). Es sei ebenso typisch, „wenn zb. männer von titten oder ärschen reden“ (K Stadtelfe 04.09.04), wie die meisten Männer „meinen, Frauen haben sich bezüglich der Häufigkeit ihre Geschlechtsverkehrs im Vergleich zu einem Mann zurückzuhalten“ (22.10.04). Ebenso sei es männlich, Geburtstage zu vergessen (07.09.04) und immer nur an Sex zu denken (vgl. 30.07.04). Männer, so fasst die Stadtelfe einmal zusammen, seien „oft sehr ähnlich gestrickt“ (K Stadtelfe 03.06.04). Dies wird von ihr illustriert, indem sie beispielsweise erzählt, wie „die beiden männli214

DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

chen Insassen“ eines „schicke[n] Mercedes-Sportwagen[s]“ ihretwegen hätten abbremsen müssen, weil ihr Schuh in einer Straßenfuge hängen geblieben sei, woraufhin beide „wie Lebkuchenpferde“ gegrinst hätten (23.07.04). Das ‚Normalbild‘ des Mannes wird folgendermaßen entworfen: Sie seien „typisch 0815“ (K Stadtelfe 04.09.04), ihr Verhalten scheine berechenbar (vgl. 18.07.04), sie wiesen kein Feingefühl auf, seien insgesamt schlicht gestrickt und wollten ihre Autorität erzwingen (vgl. 22.11.04). Von diesen ‚Durchschnittsexemplaren‘ gebe es jedoch Ausnahmen. [ Juni 2, 2004 | 07:25 ] [...] Es tut gut bei Telefonaten mit dem anderem Geschlecht festzustellen: ja es gibt Unterschiede, nein sie sind nicht alle gleich. Wenn solche Männer mir dann noch erzählen, daß sie mit Exfreundinnen gemeinsam Sonntagsmorgens Sendung mit der Maus gesehen haben, haben sie auf jeden Fall ein Stein bei mir im Brett. [...]

Und an anderer Stelle berichtet die Stadtelfe von „zwei Kategorien kleiner Männer [...]. Die einen kompensieren ihre Größe mit Wortwitz und Charme [...], die anderen sind eher giftig und versuchen Autorität mittels ihrer sozialen/beruflichen Stellung [zu] erzwingen.“ (22.11.04) Zieht man den bereits in der Rekonstruktion der Subjektposition der ‚Gestalterin‘ zitierten Eintrag hinzu, in dem die Stadtelfe bestimmte „Geschmacksklisches bei Männern“ aufzählt (19.07.04), so wird deutlich, wie Männer sein sollten (vgl. 07.06.04). Zunächst müssten sie sich vor allem durch besonderen Geschmack und sprachliches Feingefühl von der Masse gewöhnlicher Männer abheben – also ‚nonkonform‘ sein. Doch zu diesem bereits bekannten Raster tritt die Notwendigkeit hinzu, trotz (oder gerade wegen) dieser Nonkonformität ‚männlich‘ zu sein. D.h. sie sollten männliche Kleidung tragen (vgl. 17.07.04), die Frau in ihrem ‚kleinen Schwarzen‘ schick zum Tanzen ausführen (vgl. 30.06.04), und einen sicheren Halt „zum Dahingleiten“ bieten (18.05.04). Auch bei der Rede über Frauen rekurriert die Stadtelfe auf so etwas wie eine ‚Ontologie‘ der ‚klassischen‘ Frau. Diese lasse sich bei anstehenden Veränderungen „erstmal die Haare schneiden“ (05.06.04), brauche „ein kleines schwarzes“ (30.06.04), betrachte frühmorgendliches Arbeiten als einen „furchtbare[n] Job“ (12.08.04) und könne gelegentlich sehr „neurotischweiblich“ sein (K Stadtelfe 15.08.04). Anders als der ‚normale‘ Mann wird dieser gängige Frauentypus jedoch nicht negativ belegt. Es scheint so, als könnten Frauen als „augentierchen und nasentierchen“ (27.05.04) ruhig an Äußerlichkeiten orientiert sein, da diese Oberflächlichkeit durch ‚tiefe Frauengespräche‘ (vgl. 05.07.04) und ‚weibliche Zweisamkeit‘ (vgl. 03.08.04) komplementiert werde. Frauen besitzen demzufolge viele der Eigenschaften, die ‚normale‘ Männer haben, sind aber darüber hinaus wesentlich komplexer strukturiert. Genau deshalb müssten die Frauen – sozusagen als überlegene 215

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Spezies – stets ein wachsames Auge auf die Männer haben (vgl. K Stadtelfe 03.06.04). Allerdings gebe es ebenso wie beim männlichen auch beim weiblichen Geschlecht Ausnahmen, die diese typisch weibliche Kombination von ‚Oberflächlichkeit‘ und ‚Tiefsinn‘ offensichtlich nicht besitzen. Erwähnt werden z.B. „Leinen-Frauen“, die „mit giftigen Blicken“ das Outfit der Stadtelfe „beäugen“ (20.07.04). Daraus ergibt sich das Bild eines reziproken Rasters: ‚Normale‘ Männer erscheinen als 0815 und berechenbar: Man muss sich also die wenigen Exemplare raussuchen, die aus dieser breiten Masse herausstechen. ‚Normale‘ Weiblichkeit erscheint demgegenüber als ‚tief‘ und ‚oberflächlich‘ zugleich, sozial und variabel: Man muss nur die Exemplare meiden, die in negativer Weise von diesem Bild abweichen. Tatsächlich ist damit die Behandlung des Diskursgegenstandes der ‚Partnerschaft‘ und damit das Sprechen als ‚Frau‘ im Weblog keinesfalls abschließend in allen seinen Facetten dargestellt (vgl. Abschnitt 4.1.4). Zudem wird in den zitierten Ausschnitten über die Frau und den Mann ‚an sich‘ deutlich, dass auch hier (zumindest teilweise) die textuelle Praktik der Ironie am Werk ist. Dennoch erscheint es nahe liegend, die ontologisierende Unterscheidung von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ als der Subjektposition des ‚sozialen Wesens‘ zugehörig zu betrachten. Denn das soziale Urteilsraster und die geschlechtsbezogenen Unterscheidungen überschneiden sich in den Einträgen des Weblogs in auffälliger Weise. „Im Übrigen finde ich, daß Mary Poppins wesentlich revolutionärer und feministischer als Pippi Langstrumpf ist, daher erkläre ich sie hiermit zu meinem neuen Idol“ (07.06.04), schreibt die Stadtelfe und erläutert diese Entscheidung damit, dass Pippi „zu egozentrisch“ sei und sich „mehr um ihren spaß kümmert, als um ihre freunde“ (K Stadtelfe 09.06.04). Die Gegenseitigkeit, die im Rahmen der Subjektposition als angemessenes soziales Miteinander gilt, wird hier gleichzeitig zur Grundlage für feministisch-revolutionäre Gedanken. Vor allem aber hält die Stadtelfe auch in der Mann-Frau-Rasterung an dem zentralen Urteilskriterium der Vorstellung einer angemessenen sozialen Interaktion fest. Besonders deutlich wird dies in einer Diskussion mit ‚Steffen‘, einem regelmäßigen Leser des Weblogs ‚Stadtelfe‘, über das männliche Feingefühl in der Sprache. „[I]ch hasse es wenn zb. männer von titten oder ärschen reden… ich schätze ein wenig feingefühl gerade in der sprache“, kommentiert die Stadtelfe (K Stadtelfe 04.09.04). Wenn Steffen mit verschiedenen Argumenten seine „nicht chauvinistisch“ gemeinte (K Steffen 06.09.04) These zu vertreten versucht, dass solche Redeweise zum einen schlicht das wiedergäbe, was alle Männer dächten, nur eben nicht alle laut aussprächen, und zum anderen „die Senoritas das [...] unterbewusst auch genießen und sich somit in ein gewisses Rollenspiel einfügen“ (ebd.), reagiert die Stadtelfe sehr engagiert:

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stadtelfe @ 14:24:43 | 2004-09-06| permalink @steffen: sorry aber die argumentation klingt wie die aussage "eine frau will doch vergewaltigt werden, wenn sie einen kurzen rock trägt". [...] und nein, ich kann dir sicher sagen, das kein mensch auf sein optisches reduziert werden möchte. manche frauen nehmen es halt hin, weil sie daraus kapital schlagen können.. mehr aber auch nicht. außerdem finde ich es ja schon sehr anmaßend, wenn männer beurteilen, was frauen wollen. das sollte man doch bitte den frauen selbst überlassen, das zu formulieren.

Als Steffen dennoch auf seiner Argumentation beharrt und auf die „disziplin psychologie“ und Untersuchungen von „verhaltensforschern“ verweist, lässt sich die Stadtelfe nicht auf diese Ebene des ‚wissenschaftlichen‘ Redens ein, sondern bleibt bei ihrem kategorischen Urteil: stadtelfe @ 16:05:37 | 2004-09-06| permalink @steffen: gesagtes bleibt gesagt. ich brauch da jetzt nicht groß auf irgendwelche bücher eingehen. du weißt nicht was frauen im unterbewußten wollen. punkt! [...] interpretiere in mich und in frauen also bitte nicht generell rein, was du irgendwo gelesen hast. und es gibt männer, die begriffe wie titten und ärsche nicht ständig verwenden; die wissen wie man sich in anwesenheit einer frau benimmt. [...]

Obwohl Steffen weiterhin durch verschiedene Strategien, wie z.B. der Anrufung eigener Erfahrungen, wissenschaftlicher Untersuchungen und dem Angebot einer Relativierung seiner Meinung, viele Aushandlungsoptionen eröffnet, verweigert sich die Stadtelfe dieser Möglichkeit, sodass beide Positionen am Ende unvermittelt nebeneinander stehen bleiben – die Kommunikation bricht (zumindest an dieser Stelle) mit den Worten Steffens „ich nix böse, ich guter junge…“ (K Steffen 03.09.04) ab. Bemerkenswert ist, dass in dieser Diskussion mit Steffen die im Weblog allgegenwärtige Ironie – und damit auch alle Distanz zur eigenen Position – ausgespart ist. Die Stadtelfe spricht hier als ‚soziales Wesen‘ tatsächlich ‚apodiktisch‘ und ohne einen argumentativen Verhandlungsspielraum zuzulassen: Die Regeln des sozialen Miteinanders sind festgelegt – egal ob es sich um Freund oder Freundin, Arbeitskollegin, Mutter oder den Partner handelt. Folgendermaßen lässt sich nun die Subjektposition des ‚sozialen Wesens‘ zusammenfassen: Der ‚Wahrheitsanspruch‘ jener Aussagen, die als ‚soziales Wesen‘ getätigt werden, besteht zum einen in ihrem doppelseitigen Geltungsanspruch. Die Stadtelfe wendet den an das Verhalten anderer angelegten Maßstab immer auch auf sich selbst an: Was für Freunde, Partner, Kollegen und Menschen insgesamt gilt, gilt auch für die Stadtelfe. Zum anderen wird dieser ‚Wahrheitsanspruch‘ auch dadurch untermauert, dass die Stadtelfe als 217

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eine Person figuriert wird, die diesen Anspruch von Loyalität, Treue, Empathie und Aufmerksamkeit selbst konsequent lebt. Aber der Wahrheitsanspruch wird zusätzlich noch durch ein drittes Kriterium konstituiert: Als ‚soziales Wesen‘ spricht die Stadtelfe nicht (nur) als besonderes Individuum, sondern auch als ‚menschliches Wesen‘, das durch seinen anthropologischen Status per se bestimmten Bedingungen und Anforderungen unterliegt. Diese können zwar verdeckt und verleugnet, nicht aber grundsätzlich bestritten werden. Einmal verweist die Stadtelfe darauf, „wie schwach doch jeder ist und wie sehr bedürftig“ (06.08.04). Der Wahrheitsanspruch dieser Aussage ergibt sich nicht aus der Person, die diese Aussage tätigt, sondern daraus, dass diese sich selbst als Teil jener bedürftigen und schwachen Menschen zu verstehen gibt. Der Status ist damit einer, an dem die Stadtelfe nicht ‚arbeiten‘ muss, sondern der ihr ‚gegeben‘ und damit unhinterfragt ist. Entsprechend gestaltet sich das in diesem Fall normativ-kategorische Raster, das mit einer Subjektivierung durch die Unterwerfung unter dieses Raster verbunden ist. Jede Abweichung von dem zur Normalität umgedeuteten sozialen Miteinander ist zu kritisieren. Die Position ist damit dadurch gekennzeichnet, dass sie keinen Abstand zu ihrem Gegenstand zulässt. In den Aussagen über das soziale Miteinander ‚an sich‘ wird das eigene soziale Sein unmittelbar zur Basis für darüber gefällte Urteile. Der Ort des Sprechens lässt sich demnach als ‚transzendentaler‘ Ort des Urteilens fassen. Hinsichtlich des Selbstverhältnisses ergibt sich damit ein ähnlicher Befund wie schon in der Subjektposition der ‚Studentin‘: Die Ausarbeitung seiner selbst als Subjekt der eigenen Handlungen erscheint innerhalb dieser Position nicht notwendig. Und ‚Problematisierungen‘ erfolgen kaum hinsichtlich des eigenen Seins (Ausnahmen stellen hier einige wenige Einträge dar, in denen die Stadtelfe andeutet, sie sei launenhaft und selbstzynisch, vgl. 21.06.04 und 23.08.04), sondern eher in Bezug auf andere Personen, die von den vorgegebenen sozialen Normen abweichen. Allerdings spielt vereinzelt auch im Rahmen der Position des ‚sozialen Wesens‘ die Praktik der Selbstironie eine Rolle. Eine Aussage wie: „Ich mag es mit Leuten zu reden, die vernünftige (=ähnliche wie meine) Ansichten haben“ (21.05.04) zieht mit ihrem Klammereinschub – je nach Lesart – eine Selbstdistanz ein, die mit einem eindeutigen und unhintergehbaren Ort des Sprechens‘ nicht völlig in Einklang zu bringen ist.

4.2.4 Die Position der ‚Haltlosigkeit‘ Gegenüber den bislang dargestellten Subjektpositionen gibt es im Weblog eine ganze Reihe Einträge von einer unklaren und wenig konturierten ‚Position‘ der Unzufriedenheit, Einsamkeit und Unsicherheit aus. Die Stadtelfe ist laut eigener Aussage „‚Lebens verdrossen‘“ (11.06.04) und spricht diese Unzufriedenheit im eigenen Leben immer wieder in vielfältiger Weise an. Be218

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sonders auffällig sind dabei die häufigen Zitate aus Liedtexten, Kinofilmen und Gedichten, wie z.B.: [ September 21, 2004 | 23:37 ] [...] Katie Melua - Crawling up a hill My life is just a slow train crawling up a hill. Minute after minute, Second after second, Hour after hour goes by, Working for a rich girl, Staying just a poor girl, Never stop to wonder why

Viele Zitate handeln in ähnlicher Weise von Müdigkeit, Einsamkeit, unglücklicher Liebe, Sinnlosigkeit des Lebens oder sogar Lebensmüdigkeit. Es gibt zudem auch immer wieder Einträge, in denen die Stadtelfe ihre Unzufriedenheit direkt anspricht. „Es wäre jetzt schön zu wissen, was mich glücklich machen würde…das würde wenigstens einen Sinn im Leben suggerieren“ (14.06.04), heißt es an einer Stelle. Die Frage, „was einen in nächster Zeit glücklich machen könnte“ (17.05.04), taucht auch vorher schon auf und erscheint später schließlich sogar in einer Auflistung der Stadtelfe von ihren „Abgründen, Wünschen, Bedürfnissen…“. [ November 2, 2004 | 21:42 ] [...] Noch nicht gehabt: 1. Glücklich auf Dauer verliebt gewesen 2. Sicherheit/Geborgenheit bekommen haben 3. Erkennen was "Glückliches Leben" bedeutet [...]

Dieses Leiden an der eigenen Lebenssituation kommt auch in dem von der Stadtelfe immer wieder geäußerten Wunsch nach Abwechslung und Erlebnissen zum Ausdruck: „Überhaupt hätte ich so Lust was besonderes zu erleben“ (26.07.04). „Ich muß raus, weg…brauch Erholung, Spaß, Spannung.“ (08.07.04); und „ich lebe, habe aber noch immer kein Leben.“ (15.09.04). Auch auf besagter Liste mit „Bedürfnissen“ der Stadtelfe, ist der Wunsch danach sehr prominent: [ November 2, 2004 | 21:42 ] [...] 10. in San Francisco gewesen sein 11. in Kanada gewesen sein 12. In einem tollen Hotel mit Wirlpool mind.. eine Nacht verbracht haben 13. beim Karneval in Venedig gewesen zu sein

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14. Weihnachten bis Neujahr verliebt in einer Hütte im Schnee (mit Kamin) verbracht haben 15. Händchen haltend, verliebt am Strand entlang gelaufen zu sein 16. auf einer Dinnerparty gewesen zu sein [...]

Diesem Wunsch nach ‚action‘ steht die Stimmung der Melancholie gegenüber, die in anderer Weise das ‚Unwohlsein‘ im eigenen Leben zu verstehen gibt. Meist handelt es sich um nostalgische Rückblicke auf die eigene Vergangenheit, die verbunden werden mit der Angst vor dem Älterwerden (vgl. z.B. 18.12.04) und dem Wunsch, noch mal „von Vorne beginnen [zu] wollen“ (05.12.04), um Dinge anders zu machen. Es ergibt sich aus diesen unterschiedlichen Markierungspunkten insgesamt der Status einer ‚Haltlosigkeit‘ bzw. eines ‚Ausgeschlossen Seins‘ aus dem eigenen Leben. „Alles läuft“, wie die Stadtelfe an einer Stelle zusammenfasst, „irgendwie schief“, (21.08.04). „Ich weiß nicht mehr, wo ich stehe und wie ich zu bestimmten Leuten stehe. Ich bin ständig unsicher, als hätte ich die letzte Form von Urvertrauen verloren.“ (17.10.04) Die ‚Haltlosigkeit‘ tritt nicht nur auf semantischer Ebene hervor, sondern zeigt sich in besonderer Weise auch auf der formalen Ebene der Sprache. Zunächst fällt die im Vergleich zum Sprachgebrauch im Rahmen der anderen Subjektpositionen häufigere Verwendung von Unbestimmtheitspartikeln auf: „Irgendwie beruhigt mich es“ (31.05.04), „irgendwie glaub ich nun zu wissen“ (14.06.04), „Alles läuft irgendwie schief“ (21.08.04), „Naja und ‚Bei Mondschein‘ verläuft der größte Teil meines Lebens ja irgendwie auch…“ (26.08.04), „Irgendwie fast absurd“ (17.10.04), „Langeweile kenne ich normal gar nicht, ich konnte mich immer irgendwie selbst beschäftigen“ (31.10.04), „jedenfalls macht atmen keinen Spaß. So einfach aufhören geht aber irgendwie auch nicht…“ (10.12.04). Neben der damit gegebenen Vagheit auf der Ebene des Ausgesagten zeigt sich aber auch eine Unbestimmtheit auf der Ebene des Aussagens selbst. Die Ungewissheit ‚wer spricht‘ resultiert dabei aus der häufigen Verwendung des Indefinitpronomens ‚man‘, dem (teilweise unmarkierten) Sprechen in Zitaten oder dem völligen Verzicht auf ein ‚Subjekt‘ der Aussage. „Das Wetter ist soooo toll!“, heißt es an einer Stelle, „es gibt nichts besseres als schönes Wetter. Gerade dann, wenn man nicht so genau mehr weiß, was einen in nächster Zeit glücklich machen könnte.“ (17.05.04) Wenig später folgt ein Eintrag, in dem kursiv gedruckte Zitate verschiedener Schriftsteller mit ‚subjektlosen‘ Reflexionen verbunden werden: [ Mai 19, 2004 | 02:33 ] Melancholie ist das Vergnügen, traurig zu sein. Es heißt allein mit einem Rotwein hiersitzen, [solche Lieder] hören und Märchen lesen.

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Glück entsteht oft durch Aufmerksamkeit in kleinen Dingen, Unglück oft durch die Vernachlässigung kleiner Dinge. Merken, daß die Zeit verrennt, aber innere Wahrnehmungen, alte Gedanken/Gefühle nicht erloschen sind, sich gar kaum verändert haben. Je weiter ich mich zurückerinnern muss, desto mehr wird mir bewusst wie alt ich schon bin Noch wissen, wie man die abende vor langer Zeit damit verbrachte traurige Bilder zu malen, Tagebuch über nicht geschehene Ereignisse zu führen und Gedichte zu schreiben. Allzuviel Verletzlichkeit macht einsam und allzuviel Einsamkeit macht verletzlich. Zu wissen, daß man mit der Zeit undankbar geworden ist, zu anspruchsvoll. Vergessen zu haben, was man war und was die Ideale waren, um sich dann doch wieder zu erinnern. Ach ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!?

Eine ähnliche Verbindung von Infinitiv und völliger Aussparung des Subjekts findet sich auch später: [ Dezember 5, 2004 | 03:31 ] Träumen, aufwachen und merken, daß Leben ist an einem vorbei gerannt. Nochmal von Vorne beginnen wollen. Andere Entscheidungen treffen, mutiger sein. Kind sein, große Augen machen, Glück im Bauch bitzeln spüren. Stark sein, cool sein, durchziehen. Kein Weglaufen, kein Augen zupressen, hinsehen, hinspringen. Leben...

Diesem Verschwimmen der Konturen des ‚Subjekts der Aussage‘ steht allerdings eine erhebliche Menge an Momenten der expliziten, Ich-betonten Selbstaufforderung gegenüber, die um die Notwendigkeit von Veränderung kreisen: „Ich muß definitiv einiges ändern!“ (05.06.04), „ich sollte doch nach Berlin ziehen“ (ebd.), „Ich muß raus, weg…brauch Erholung, Spaß, Spannung“ (08.07.04), „ich [...] sollte entsprechend anders agieren“ (27.07.04), „Vielleicht hätte ich manche Erfahrungen früher machen sollen“ (30.07.04), „Vielleicht sollte doch bald jemand neben mir einschlafen, manchmal beruhigt das ja“ (22.09.04), „Allerdings glaube ich, daß Rituale eine Form von Geborgenheit und Halt geben, daher sollte ich mir bald mal welche einfallen lassen“ (24.10.04), „Ich sollte wieder aufhören mit dem Verkriechen“ (21.11.04). Die mit diesen Aufforderungen der Veränderung und Selbstverortung angedeutete ‚Suche‘ nach „halt in diesem seltsamen leben“ (K Stadtelfe 16.06.04) präsentiert sich tatsächlich als eines der zentralen Motive des Weblogs. Mal vermutet die Stadtelfe diesen Halt in einem „richtigen Job“, der die finanziellen Nöte lindert und von äußerer Hilfe unabhängig macht 221

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(15.05.04), mal in dem Wissen, wie man „das momentane Glücksgefühl“ zu „halten“ vermag (30.07.04), mal in einer Person, die einem „morgens in den Arsch“ tritt und „abends [...] in den Arm“ nimmt (15.08.04), mal in der spezifischen „Form von Geborgenheit und Halt“, die „Rituale“ zu geben vermögen (24.10.04) oder auch mal schlicht in einer „Hand“ zum „festhalten“, wenn man einen unheimlichen Film anguckt (28.05.04) oder „verliebt am Strand entlang“ läuft (02.11.04). Während sich auf der formalen Ebene vor allem die Haltlosigkeit selbst manifestiert – in der Schwebe gehaltene Aussagen im Infinitiv, Indefinitpronomen und Unbestimmtheitspartikeln – zeigen sich auf der semantischen Ebene darüber hinaus vielfältige Suchbewegungen. Auffällig ist, dass die Suche nach Halt dabei stets als eine Entzugsbewegung figuriert ist. Hinsichtlich des erklärten Wunsches der Stadtelfe nach „Erholung, Spaß, Spannung“ (08.07.04) und danach, „was besonderes zu erleben“ (26.07.04) wurde dies bereits angedeutet. Er wird praktisch immer mit ‚Ortswechseln‘ oder zumindest besonderen ‚Orten‘ verbunden, also mit einem ‚Entzug‘ aus dem gewohnten, alltäglichen Raum. Dies könnten Konzerte in anderen Städten, Reisen in ferne Länder, romantische Aufenthaltsorte wie eine „Hütte im Schnee“ (02.11.04) oder besondere Situationen wie „Sex im Auto in einer Waschstraße“ (ebd.) sein. In ähnlicher Weise lassen sich die Affinität der Stadtelfe zu „Märchen“ (19.05.04), ihr Leben „‚bei Mondschein‘“ (26.08.04), d.h. ihre nächtlichen Aktivitäten aufgrund von andauernder Schlaflosigkeit, aber auch ihre Rede von Taumel (u.a. 29.06.04), Schwindel (u.a. 18.05.04) und Schwanken (20.07.04) und die häufigen Erzählungen von (Alb-)Träumen (u.a. 08.07.04, 18.07.04, 12.08.04) verstehen. Auch dabei handelt es sich um Entzugsbewegungen, die von einem ‚normalen‘ Tagesrhythmus in das Leben ‚bei Mondschein‘, aus dem Realen in die Fiktion und aus der körperlichen Kontrolle in die unkoordinierte Taumelbewegung führen. Doch ungewöhnlicher als diese – durchaus bekannte – Idee einer Verbindung von äußerlichen Ortswechseln mit der Hoffnung auf dadurch gegebene neue Möglichkeiten der Selbstverortung sind drei weitere Formen des ‚Entzugs‘ im Weblog, die sich gleichzeitig als Versuche des Haltsgewinns lesen lassen: das Leben in der Virtualität, die Suche nach einem Partner und schließlich das ‚Kind Sein‘. Den ersten dieser Versuche bezeichnet die Stadtelfe dabei selbst als wenig Erfolg versprechende ‚Fluchtbewegung‘. [ Juli 26, 2004 | 01:27 ] Ich bin an einen ziemlichen Tiefpunk angelangt, aber mehr und mehr beginne ich darin eine Chance zu sehen. Ich möchte kein Internetwesen mehr sein, bzw. ich war es nie und sollte entsprechend anders agieren. Ich habe gute Freunde, besser vielleicht als die meisten hier und von daher habe ich zum Teil erhöhte Erwartungen. Allerdings nie mehr, als ich selbst zu geben bereit bin/war. Ab nächsten Monat gibts keine Flat mehr und ich hoffe auch, daß einiges anderes sich ändern wird. Angefan-

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DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

gen habe ich mit der Löschung des LJ. Meine Seite wird weiter existieren, am Gestalten habe ich einfach viel zu viel Spaß.

An welchen „Tiefpunkt“ die Stadtelfe hier gelangt sei, wird deutlich, wenn man einen der zahlreichen Kommentare hinzuzieht, die auf diesen Eintrag folgen. Nicht die Öffentlichkeit sei für sie das Problem ihrer Internetaktivitäten gewesen, führt sie dort aus, sondern „das problem ist dass der halt, der hier einen stark kommt nicht wirklich halt ist, sondern eine flucht vor dem wirklichen…“ (K Stadtelfe 27.07.04). Entsprechend kündigt die Stadtelfe hier die Konsequenz an, nicht mehr als „Internetwesen“ zu agieren, sondern sich ihren Freunden in der Realität zuzuwenden. Als erste Maßnahme habe sie ihr „LJ“, d.h. ihr Live Journal – eine spezifische, stark formalisierte Form des Online-Tagebuchs – gelöscht und Maßnahmen zur Kündigung ihrer Flatrate ergriffen. Der Schlüsselbegriff lautet hier wiederum ‚Halt‘. Ihn sucht (bzw. suchte) die Stadtelfe laut eigener Aussage im Internet, ohne ihn jedoch wirklich zu finden. Offen bleibt an dieser Stelle jedoch, ob die Stadtelfe etwas an die Stelle des Internets setzt. Bezogen auf das Weblog scheint dies erst einmal nicht der Fall zu sein. Denn die Stadtelfe führt ihr Weblog weiter und berichtet auch im Folgenden immer wieder von verschiedenen chats mit Unbekannten. Aus dem Weblog geht mithin nicht hervor, ob beispielsweise die ‚realen‘ Freunde der Stadtelfe die Rolle der ‚Haltgeber‘ übernehmen. Zwar berichtet die Stadtelfe von einer Reihe guter Freunde außerhalb des Internets. Diesen wird dabei aber nie explizit die Möglichkeit einer solchen Rolle zugesprochen (dies gilt sogar für die mehrfach erwähnte ‚beste Freundin‘). Vielmehr werden diese Freunde ihrerseits als hilfs- und haltbedürftig figuriert: [ Juni 21, 2004 | 04:43 ] Manchmal fühlt man das Leid anderer, als wäre es das eigene. Weil man die Person so mag und weil man irgendwann festgestellt hat, daß diese auch immerwieder in die selben Teufelskreise gerät. Ich weiß, es gibt nichts zu sagen, nichts zu trösten. Es zerreißt einen förmlich nichts tun zu können, nicht die Kraft zu geben, die man jedesmal benötigt und die von mal zu mal weniger wird. [...]

Oder auch einige Monate später: „Und ich hasse es mit ansehen zu müssen, wenn Menschen das durchleben, was ich vor 3-4 Jahren durchmachen durfte. Aber ich weiß, es hilft nichts zu sagen, die Erfahrungen muß jeder selbst machen. Ich mach mir Sorgen, viel zu viel...“ (10.09.04) Für die Flucht in die Virtualität, die die Stadtelfe als inadäquat für ihre Suche nach Halt im Leben verwirft, ergibt sich also anscheinend kein ‚realer‘ Ersatz. Die Suche nach einem (männlichen) Partner stellt eine zweite Bewegung dar, die in ähnlicher Weise das Weblog durchzieht. Immer wieder deutet sich in den Einträgen der Wunsch nach einer Beziehung an: „Kann sich jetzt bitte 223

ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

wer neben mich ins Bett legen und mir ein schönes buch vorlesen? Danke!“ (11.05.04), oder wenig später: „[...] Ach ja, Bruno Ganz ist einfach toll… Luka Bloom auch… Ich hätte bitte gern so einen Mann (naja, er muß nicht unbedingt ganz so alt sein).“ (17.05.04) Die Rolle des männlichen Partners als ‚Haltgeber‘ wird sogar – ironisch – direkt benannt, als die Stadtelfe einmal von ihren Schwindelanfällen berichtet: „Es ist jedenfalls ziemlich unspaßig ständig vor Schwindel zu taumeln, besonders wenn kein attraktiver Mann griffbereit zum Dahingleiten in der Nähe ist.“ (18.05.04) Oder wenn sie schreibt: „Könnte mir bitte jemand morgens in den Arsch treten und abends mich in den Arm nehmen? Mehr will ich ja gar nicht…“ (15.08.04). Aber genau dieser Umstand, dass die Stadtelfe mehr nicht wolle, lässt diese Suche nach einem Halt gebenden Partner gleichzeitig als Entzugsbewegung erscheinen. Die Stadtelfe möchte nämlich, wie sie wiederholt betont, gar keine Beziehung und lehnt in ihren Kommentaren entsprechend die – durchaus zahlreichen – diesbezüglichen Angebote der männlichen Leserschaft ab. Bei den Männern, die sie als geeignete Exemplare aufzählt, handelt es sich praktisch ausschließlich um bekannte Sänger oder Schauspieler, die (wie Basil Rathbone oder Jack Lemmon) oft bereits tot sind bzw. auch sonst (wie Jim Carrey oder Bruno Ganz) auf jeden Fall unerreichbar bleiben. Das Ziel der dargestellten Männersuche erscheint also, wie die Stadtelfe selbst schreibt, als eine ungefährliche ‚Schwärmerei‘ für „Opfer“, die „fern genug [sind], um nicht gefährlich zu werden oder so…“ (20.05.04). Diese Form der Männersuche wirft zwar tatsächlich keine weiterreichenden Probleme auf, bietet aber eben auch keine wirkliche Perspektive eines soliden Halts. Die Position der ‚Haltlosigkeit‘ zeigt sich also in ähnlicher Weise in diesem Bereich, indem sich die Stadtelfe auch hier der Möglichkeit des angeblich erwünschten Halts entzieht.31 Die dritte Form der Haltsuche nimmt eine besonders zentrale Position im Weblog ein. Die Kindheit und das ‚Kind Sein‘ stellen einen Themenkomplex dar, auf den die Stadtelfe immer wieder zurückkommt. Dies wird zunächst in ihrer Vorliebe für ‚Kinderprodukte‘ und Artikel aus ihrer eigenen Kindheit deutlich:

31 Es muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass das untersuchte Material nur bis zum März 2005 reicht. Im weiteren Verlauf des Weblogs werden zwar viele der hier vorgestellten Lesarten weiter unterstützt, es präsentieren sich aber auch Änderungen. Eine dieser ‚Änderungen‘ betrifft Stellenwert und ‚Ergebnis‘ der Partnersuche. Auch bezüglich der Position der ‚Studentin‘ scheinen sich die Figuren zu verschieben. Einer der faszinierenden Aspekte von Weblogs ist ja gerade der Umstand, dass sich diese fortlaufend um- und weiterschreiben.

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DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

[ August 11, 2004 | 02:37 ] Mir gefallen die Kinderelfenflügel bei H&M. Vielleicht sollte ich mir endlich welche kaufen, damit ich mein derzeitiges Wunschalter ausleben kann. [...]

In weiteren Beiträgen ergänzt die Stadtelfe dieses Selbstbild. So erzählt sie von ihrer „Therapie“ den „Frust mit Kinder-Lollis zu bewältigen“ (29.08.04), ‚gesteht‘ ihre Leidenschaft für die Kinderkrimiserie „???“ (10.05.04), schreibt, sie möchte „Lego-Land“ und „Fabuland“ besuchten (11.05.04), begeistert sich an Sachen aus ihren „Ü-Eiern“ (22.05.04), berichtet über ihren Ärger, dass „alle Girlies“ ihr „die Kinderunterhosen in der H&M Abteilung weggekauft haben“ (26.05.04), dass sie für ihre Freundin „Emily Erdbeer“ fotografiert (29.06.04), dass sie „Pucca Taschen“ und „Miffy Taschen“ besitzt (10.12.04) und „Lust auf Fasching“ hat (05.02.05). Doch die Stadtelfe präsentiert sich nicht nur als affin zu Kinderprodukten, sondern benimmt sich laut eigener Aussage selbst wie ein Kind. Dies wird beispielsweise figuriert in den diversen Schilderungen, wie sie bei Gruselfilmen „Wie ein Kleinkind“ zusammenzucke (04.08.04) und die Hand ihres Bruders festhalten müsse (vgl. 28.05.04) oder ihre aufgeschlagenen Knie mit dem Ausdruck „Kleinkindsynmdrom!“ kommentiert (30.09.04). Selbst das „Älter-Aussehen“ hindere die Stadtelfe „in keinsterweise“ sich „zu benehmen wie ein Kleinkind“ (30.11.04). Unterstützt wird diese figurierte Affinität zum Kind-Sein durch positive Rückblicke der Stadtelfe in die eigene Kindheit, wie z.B. die Erinnerung an das „Lieblingspuzzle“, auf dem „ein kleiner brauner Hund“ abgebildet gewesen sei (10.12.04), an einen Urlaub in Italien, wo die Stadtelfe an den Eisständen in Ermangelung italienischer Sprachkenntnisse „Uno Schokoladenteller“ (statt Stracciatella) bestellt habe (13.12.04), oder eine Liste, auf der deutlich wird, dass die Stadtelfe bereits „[a]ls Kind auf Konzerte mitgenommen worden“ sei und „[v]iele Länder bereist“ habe (02.11.04). Auffällig sind auch einige Einträge, in denen eine besondere Verbundenheit der Stadtelfe zu Kindern hervorgehoben wird: [ Mai 10, 2004 | 16:51 ] Am Mittag rannte ein kleines 3-4-jähriges Mädchen vor mir her und sang vom Leben, der Lust und der Liebe, wobei sie mich mit ihren blauen Augen immer wieder mal fixierte. Ein Lied für mich? Gerade in der Bahn las eine etwa 30jährige Frau ein ???-Buch, worüber ich mich natürlich tierisch freute. Als ich letztens die neuste Hörspielfolge kaufte, kam ich mir schon ein wenig albern vor, aber nun? Ich darf das also...Fein! Und das allerfeinste des heutigen Tages waren meine pink-bestrumpften Beine, auf die nahzu jeder wie irre starrte (bis auf das Mädchen, das sah mir in die Augen).

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Nur das Mädchen scheint hier die ‚Oberflächlichkeit‘ der pink-farbenen Strumpfhosen zu durchbrechen und der Stadtelfe direkt „in die Augen“ zu gucken. Ähnliches berichtet die Stadtelfe auch später: [ September 18, 2004 | 13:24 ] Letztes Jahr zahlte bei mir an der Kasse mehrmals ein Mädchen mit den tollsten blauen Augen, die ich je gesehen habe. Dieses Jahr war sie wieder zweimal bei mir und wir grinsten nur, weil wir uns natürlich wieder erkannten. Schließlich habe ich ihr damals ein Kompliment gemacht... [...]

Diese Rückwendung auf das Kind-Sein lässt sich als Haltsuche verstehen, insofern als dass darin der Wunsch nach einer spezifischen Geborgenheit und Sicherheit markiert wird, die einer Ungewissheit und „Perspektivlosigkeit“ der Zukunft gegenüber steht: [ November 16, 2004 | 01:31 ] Oh, hold me like a baby That will not fall asleep Curl me up inside you And let me hear you through the heat [...]

Die Position der ‚Haltlosigkeit‘ wird verbunden mit dem Wunsch nach jemandem, der sich neben einen ins Bett legt und „ein schönes Buch“ vorliest (vgl. 11.05.04), der einen „abends in den Arm“ nimmt, gleichzeitig aber streng über die Bewerkstelligung des Lebens wacht (vgl. 15.08.04) und der einen „betüttelt“, wenn man krank ist (vgl. 10.12.04). Gleichzeitig lässt sich auch diese Form der Haltsuche als ‚Entzug‘ verstehen, wie unter anderem in den Passagen deutlich wird, in denen die Stadtelfe darüber reflektiert, dass „[a]lles schneller [geht], besonders das Altern…“ (29.05.04). „[W]erd ich etwa alt?“, fragt sie an einer Stelle, und fährt fort: „Ach halt ich vergaß, ich bin ja schon in dem Alter in dem man beginnt, jeden Geburtstag das selbe Alter zu zuweisen.“ (18.06.04) Die mit dem Kind-Sein verbundene Chance, noch einmal „von Vorne“ zu beginnen und das Leben anders zu leben, scheint deshalb tatsächlich nur in schillernden (und subjektlosen) Momenten ‚bei Mondschein‘ auf: [ Dezember 5, 2004 | 03:31 ] Träumen, aufwachen und merken, daß Leben ist an einem vorbei gerannt. Nochmal von Vorne beginnen wollen. Andere Entscheidungen treffen, mutiger sein. Kind sein, große Augen machen, Glück im Bauch bitzeln spüren. Stark sein, cool sein, durchziehen. Kein Weglaufen, kein Augen zupressen, hinsehen, hinspringen. Leben...

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Betrachtet man nun die Machtbeziehungen im Rahmen der Position der ‚Haltlosigkeit‘ so fällt zunächst auf, dass sich – ganz im Gegensatz zur der Position des ‚sozialen Wesens‘ – kaum Bezüge auf Konventionen und kategoriale Unterscheidungsraster erkennen lassen. Zwar tauchen verschiedentlich Topoi wie z.B. der der ‚Melancholie‘ und der ‚Romantik‘ und der des ‚richtigen Jobs‘ und der ‚starken männlichen Arme‘ auf. Aber weder findet deren klare Unterscheidung und Attribuierung statt, noch ist die Positionierung der Stadtelfe innerhalb dieser konventionellen Bilder eindeutig. Wesentlich interessanter sind deshalb die strategischen Machtspiele in den ‚Anerkennungsszenarien‘. Die Position der ‚Haltlosigkeit‘ scheint auf den ersten Blick ein besonders breites Spektrum an Reaktionen hervorzurufen: Verständnis, Unverständnis, Zuspruch, Ablehnung und Identifikation. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass Kommentare, die Aussagen von der Position der ‚Haltlosigkeit‘ aus unmittelbar aufgreifen, eher selten sind. „Boahh…. bitte, bitte unbedingt wieder was lustigeres und netteres schreiben. Das zieht ja einen mit runter. Also, erleb mal wieder was lustiges die naechsten paar Tage, ok?“ (K some sinatra, 21.06.04), lautet eine dieser wenigen unmittelbaren Reaktionen auf einen entsprechenden Eintrag der Stadtelfe. Viel häufiger sind demgegenüber Kommentare von Lesern, die die Position der ‚Haltlosigkeit‘ und die daraus folgenden Suchbewegungen offensichtlich als Einsatzpunkt für ihre eigenen Interessen nutzen. Ein Beispiel für eine solchen Versuch der ‚strategischen Anerkennung‘ ist der Leser ‚Andreas‘. Wie auch eine Reihe anderer Kommentatoren greift dieser die Suchbewegung der Stadtelfe auf, um sie stark in Richtung eines Flirts zu lenken: andreas @ 17:22:43 | 2004-05-11| permalink [...] wann immer ich hierher komme und deine Tagebucheinträge lese finde ich zwischzen den Zeilen mehr als darin und fange automatisch an zu träumen ... warum findet die elfe keinen Prinzen, der mit ihr Buchstaben zählt und Lieder schweigt, der mit seinen und ihren Händen das Glück aller Momente festhält und sie zärtlich in seinen Augen spiegelt ... ? [...]

Auch im Weiteren hinterlässt Andreas der Stadtelfe selbstverfasste Gedichte und stark auf das ‚Elfenhafte‘ und ‚Zauberhafte‘ gemünzte Kommentare. Relativ schnell wird allerdings deutlich, dass die Stadtelfe eher verhalten auf diese Flirtversuche reagiert. Und während die Stadtelfe auf einen der nächsten Kommentare, in dem Andreas ihr versichert „ich denk an dich!“ (K andreas 17.05.04), immerhin noch mit den Worten antwortet: „danke das ist sehr lieb…“, unterlässt sie dies im Folgenden ganz. Vermutlich bringt dieser Umstand Andreas schließlich dazu, sich zu verabschieden:

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andreas @ 9:46:07 | 2004-05-19| permalink [...] Ich merke schon, dass meine Kommentare nicht unbedingt geeignet sind die Frau Elfe zu erheitern und deswegen werde ich mich wieder in mein Zauberreich tief hinter den hohen Bergen, deren Spitzen wie Finger in die Wolken ragen, zurück ziehen und dich künftig vor meiner eigenen Melancholie bewahren ... lebe wohl kleine Elfe!

Da diese Verabschiedung unmittelbar nach einem ausgesprochen ‚melancholischen‘ Eintrag der Stadtelfe erfolgt (vgl. 19.05.04), liegt die Vermutung nahe, dass Andreas‘ Einstieg auf der ‚Melancholieschiene‘ lediglich eine Strategie war, um die Stadtelfe ihrerseits auf die ‚Flirtschiene‘ zu locken. Denn wäre es tatsächlich um den (platonischen) Ausbau einer ‚Seelenverwandtschaft‘ zwischen zwei ‚haltlosen‘ Melancholikern gegangen, so würde Andreas’ Verabschiedung just zu diesem Zeitpunkt keinerlei Sinn machen. Es zeigt sich anhand dieser Auseinandersetzung noch einmal die Ambivalenz, die das Verhältnis der Stadtelfe zu diesem Typus des (männlichen) Lesers kennzeichnet. Wie bereits in der bisherigen Darstellung der Position deutlich wurde, suggerieren die Einträge der Stadtelfe eine Suche nach (männlichem) Halt, vollziehen aber gleichzeitig – zumindest auf der semantischen Ebene – eine Entzugsbewegung: Die Stadtelfe sagt, sie wolle keine feste Beziehung und lehnt diesbezügliche Avancen explizit ab. Diese Verlaufstypik gilt auch, als Andreas wenig später einen ‚neuen Anlauf‘ unternimmt. Dieses Mal bewegt er sich konsequenter auf der ‚Melancholieschiene‘ und entspricht damit der Position der ‚Suche nach Halt‘, ohne sie unmittelbar in Richtung eines Beziehungswunsches umzudeuten. Tatsächlich antwortet die Stadtelfe dieses Mal wesentlich häufiger auf Andreas’ Kommentare. Doch als dieser daraufhin wiederum einen Beitrag verfasst, der von der Stadtelfe als Versuch der Beziehungsanbahnung gelesen wird (vgl. K andreas, 16.06.04), weist ihn die Stadtelfe sehr deutlich in seine Schranken: „ich suche aber ausnahmsweise grade keine beziehung, sondern eher allgemeinen halt in diesem seltsamen leben…“ (K Stadtelfe 14.06.04). Zwar verwehrt sich Andreas gegen diese Auslegung seiner Worte, zieht sich dann aber schnell endgültig zurück. Insofern könnte man sagen, dass hier die gegenseitige ‚Anerkennung‘ misslingt: Während die Stadtelfe Andreas ihre Bestätigung als ‚potenziellen Partner‘ versagt, lassen Andreas’ Kommentare keine nachhaltige Bereitschaft erkennen, die Position der ‚Haltlosigkeit‘ zu akzeptieren. Etwas anders gestaltet sich dieses ‚Spiel‘ bei dem Leser Dimitrij. Dessen Kommentare greifen nämlich gerade jene Ambivalenz auf, die sich aus der Rede über Beziehungswünsche und Flirt und der gleichzeitigen strikten Ablehnung ‚ernsthafter Absichten‘ ergibt. Dabei macht sich Dimitrij zwar die meiste Zeit über die Stadtelfe lustig, aber auf eine Art und Weise, die diese gleichzeitig in ihrem Status als ‚Nicht-Normale‘ bestätigt und anerkennt. 228

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[ Juni 3, 2004 | 20:00 ] Arx! Ich habe definitiv Sprachprobleme. [...] Ansonsten sperre ich mich regelmäßig aus dem Haus aus, ärgere mich über Sachen, die mich nicht kümmern sollten, verzweifle an den Tücken meines neuen PCs. Dimitrij @ 21:36:47 | 2004-06-03| permalink Chaotisch, ja... aber wenigstens erlaubst Du der Welt (uns) sich an Deinem Schicksal zu weiden. Du wirst immer komischer... Altersdemenz? *duckwegrenn* ;-)))))

Oder etwas später: [ Januar 5, 2005 | 16:35 ] [...] Na heute bekam ich auch mal ein originelles Kompliment: "Gegen Deine Fotos ist übrigens keine Walther gewachsen. Ich bin total mattgesetzt..." (Er meint eine Walther Pkk, ich bin nämlich "sein" Bondgirl) Dimitrij @ 7:42:48 | 2005-01-08| permalink Mäuschen, Bond ist aber mit Walther PPK unterwegs, nicht mit Walther PKK. *duckwegrenn*

Dimitrij greift damit genau das Spiel der Stadtelfe auf. Er macht sich über die Stadtelfe als ‚Mäuschen‘ und als ‚Chaotin‘ zwar lustig, bestätigt dabei aber ihr komisches Talent und anerkennt sie als besondere Person (vgl. 02.06.04). Gleichzeitig konstituiert sich Dimitrij dabei selbst als ein ‚Besonderer‘, der eine hervorgehobene Beziehung zu der Stadtelfe unterhält. Zum einen wird er durch eingestreute englische Halbsätze, pointierte Witze, die genaue Kenntnis der Internetsprache und spezifische Urteile als ‚Kenner‘ charakterisiert. Er figuriert sich als jemand, der den kabarettistischen Film „Anleitung zur sexuellen Unzufriedenheit“ von Bernhard Ludwig gesehen (vgl. K Dimitrij 05.08. 04), aber ebenso Arthur Schnitzler gelesen hat (vgl. K Dimitrij 23.08.04), berichtet von seinem Irakaufenthalt, verweist durch Links und Zitate auf sein politisch positioniertes Wissen und grenzt sich von „umfassend halbgebildeten Spiegel-Leser[n] und andere[n] Studienabbrecher[n]“ ab, die das neue „Filmchen“ von Jim Jarmusch gut fänden (K Dimitrij 04.09.04). Zum anderen präsentiert er sich als derjenige, der alle anderen Leser des Weblogs durchschaut und der Stadtelfe vor allem bezüglich der hartnäckigen Flirtversuche der männlichen Kommentatoren entsprechende ‚Ratschläge‘ erteilen könne: Dimitrij @ 18:31:40 | 2004-06-16| permalink boahhh... nimm Dich in acht, die Burschen probieren wirklich hart... HA!

In ähnlicher Weise verurteilt er den Weblogleser Steffen (s.u.), über den er sich zunächst verhalten, dann aber immer stärker lustig macht: 229

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Dimitrij @ 10:12:22 | 2004-08-05| permalink also ich glaub, der steffen hat den bernhard ludwig auch gesehen... ich sag nur: Dampfdruckkessel... hehehe...

Obwohl die Stadtelfe damit scheinbar in ‚adäquater‘ Weise in ihrer ambivalenten Suche, die gleichzeitig Entzug ist, anerkannt wird, lässt sich auch für den Leser Dimitrij behaupten, dass er die Position der Stadtelfe lediglich als strategischen Ausgangspunkt für seine eigene Positionierung nutzt. Diese zielt nicht auf eine Partnerschaft mit der Stadtelfe, sondern auf die eigene Besonderheit und Abgehobenheit von den restlichen Lesern des Weblogs. Tatsächlich versagt die Stadtelfe Dimitrij ausgerechnet dann ihre Anerkennung, als dieser für sich selbst die Position der Haltlosigkeit in Anspruch nimmt: [ Dezember 5, 2004 | 03:31 ] Träumen, aufwachen und merken, daß Leben ist an einem vorbei gerannt. Nochmal von Vorne beginnen wollen. Andere Entscheidungen treffen, mutiger sein. Kind sein, große Augen machen, Glück im Bauch bitzeln spüren. Stark sein, cool sein, durchziehen. Kein Weglaufen, kein Augen zupressen, hinsehen, hinspringen. Leben... Dimitrij @ 8:58:03 | 2004-12-05| permalink Willkommen im Club! stadtelfe @ 15:30:06 | 2004-12-06| permalink @dimitrij: was um himmels willen hast du denn verpaßt? [...]

Auch der Leser ‚Steffen‘ steigt auf die Diskursposition der ‚Haltsuche‘ ein, und genauso wie Andreas bezieht er sich dabei insbesondere auf die melancholischen Einträge der Stadtelfe. Dennoch unterscheiden sich seine Beiträge in wesentlicher Hinsicht von denen Andreas’ und Dimitrijs. Steffens erster Kommentar bezieht sich auf einen Eintrag der Stadtelfe in dem sie von dem „Verliebtsein“ ihrer 19jährigen Arbeitskollegin und ihrer Rührung von diesem „unschuldigen Gefühl“ berichtet. „Mir wurde bewusst“, schreibt die Stadtelfe, „so wie sie (mit ihren 19 Jahren) werde ich nie wieder verliebt sein.“ (30.07.04) Steffen @ 15:43:13 | 2004-07-30| permalink "the deeper in love the harder the crying..." Am Anfang ist es exakt so, wie Du beschreibst. Vor allem, wenn man das ganze von außen beobachtet. Aber, wahrscheinlich haben wir Balddreißiger alle schon die Erfahrung gemacht, dass dieses zarte, zerbrechliche, dieses unschuldige glück sich zu einer reißenden bestie verwandeln kann. tiefe traurigkeit und unübersehbare narben waren bei mir

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DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

die folge. immerhin: der erfahrungsschatz ist im laufe der zeit angewachsen. bestimmt auch bei dir stadtelfe, oder? liebe grüße und ein bezauberndes wochenende...

Ohne das von der Stadtelfe Geschriebene umzudeuten, bestätigt Steffen hier zunächst schlicht deren Beobachtungen. Die Anerkennung der Stadtelfe läuft damit auf einer inhaltlichen Ebene und wird nicht (wie bei Andreas) strategisch zur Einleitung eines Flirts eingesetzt. Außerdem bezieht sich Steffen nicht auf eine ‚besondere‘ ich-du-Beziehung, sondern ruft den übergreifenden Erfahrungsschatz der „Balddreißiger“ auf. Dieser Kollektivhorizont rahmt auch den Bericht seiner individuellen Erfahrungen und seine Frage an die Stadtelfe, ob es dieser nicht ebenso gegangen sei. Es scheint also, als werde die Subjektposition der Stadtelfe hier aufgegriffen und bestätigt, gleichzeitig aber auch mit eigenen Erfahrungen gefüllt, auf die die Stadtelfe wiederum reagieren kann: stadtelfe @ 17:34:08 | 2004-07-30| permalink @steffen: ja genau so ist es... leider? oder gut? dir auch ein schönes wochenende.. ich glaub meins wird gut!

Bereits in diesem ersten Eintrag deutet sich damit an, wie Steffen die Position der ‚Suche nach Halt‘ für sich ‚strategisch‘ nutzt: als Projektionsfläche für die eigene Melancholie und als Identifikationsmöglichkeit für die eigene Suche nach ‚Sinn‘ und ‚Halt‘. In seinen (für ein Weblog ungewöhnlich langen und ausführlichen) Kommentaren wird dies vor allem deutlich, wenn er von seinen Stimmungen berichtet: Steffen @ 16:31:14 | 2004-08-03| permalink [...] ich war am wochenende in hamburg und hab festgestellt, dass hamburg doch schön sein kann. [...] irgendwann hat mich dann wieder dieses erbarmungslose fernweh gepackt (die alkoholleichen haben auch genervt) und ich bin schnell abgehauen. verloren zwischen uneingeschränkter freiheit und beklemmender melancholie. [...] Steffen @ 10:37:11 | 2004-08-12| permalink [...] bin heute völlig ohne sehnsüchte, komisch eigentlich. was ich an menschen gleichzeitig faszinierend und angsteinflößend finde: die unberechenbarkeit. war ich gestern melancholisch laufe ich heute amok? nein, ja, vielleicht auch nicht. wir schweben zwischen unseren eigenen unzulänglichkeiten und äußeren strukturen von einem fragezeichen zum nächsten. auf in den wind... [...]

Häufig werden diese Stimmungen auch über den von ihm immer wieder angestoßenen Austausch über Literatur oder Musik transportiert. Es ist dabei 231

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insgesamt so, dass er – im Gegensatz zu den meisten anderen Lesern – mit der Stadtelfe nicht nur auf einer oder zwei, sondern auf allen vier Diskurspositionen die inhaltliche Auseinandersetzung sucht. Während sich Andreas völlig auf die Position der ‚Haltsuche‘ kapriziert und Dimitrij vor allem die ‚Chaotin‘ anspricht oder in ironischer Weise mit der Stadtelfe flirtet, interessiert sich Steffen offensichtlich auch für die Stadtelfe als ‚Studentin‘ und als ‚soziales Wesen‘. Auf den Seufzer der Stadtelfe, sie sei ein „dummes, depressives, faules Schaf“ (15.08.04), bemerkt er entsprechend, sie sei für ihn „ein ganz nettes schaf. eins mit hohem identifikationspotenzial *:-)*“ (K Steffen 15.08.04). Allerdings muss sich auch Steffen mit dem Verdacht der „second thoughts“ (K Steffen 05.08.04) auseinandersetzen. Zunächst weil er sich laut eigener Aussage selbst über seine Motive nicht ganz im Klaren ist. Während er zu Beginn noch darauf beharrt, dass er „nur einfache grußbotschaften ohne irgendwelche second thoughts“ (K Steffen, 05.08.04) schreibt, scheint er eine gute Woche später bereits sehr von den Fotos der Stadtelfe angetan: „die fotos sind bezaubernd. du hast wundervolle augen, gefährlich, romantisch, durchdringend und geheimnisvoll.“ (K Steffen, 15.08.04) Wenige Minuten später fragt er sich dann: „ist das die stelle für second thoughts? nein, vielleicht, wenn überhaupt dann unbewusst…“ (K Steffen, 15.08.04), und einige Stunden darauf heißt es: „und deine augen sind wohl der ultimative beweis dafür, dass es einen gott gibt. ich glaube, dass war jetzt eine anmache.“ (K Steffen, 15.08.04) Doch diesen Überlegungen wird durch den Eingriff anderer Kommentatoren relativ schnell ein Ende bereitet. Insbesondere Dimitrij behauptet von dem „ewig-süsslichen Gesülze“ Steffens genervt zu sein (K Dimitrij, 21.08.04) und reagiert entsprechend allergisch auf dessen Einträge, und auch Rallé meint, dass man „als Dritter [...] schon sehr leicht den Eindruck gewinnen [kann], einem öffentlichen Flirt beizuwohnen“ (K Rallé, 21.08.04). Steffen reagiert auf diese Vorwürfe mit einem raschen Rückzug: „und ich flirte nicht. ich habe die stadtelfe niemals gesehen, bin eher zufällig hier gelandet und hab entdeckt, dass sie (unbewusst) sehr viele dinge so empfindet wie ich es auch tue“ (K Steffen 21.08.04). Doch auch wenn sich im Verlauf des Weblogs in den Beiträgen Steffens möglicherweise ein Interesse an der Stadtelfe als Frau und Partnerin herauslesen lässt, so hebt sich dieses von den bisher dargestellten Avancen ab. Denn Steffens Beiträge nutzen nicht wie die von Andreas die Subjektposition der ‚Haltsuche‘ als Einsatzpunkt für ein – vorab definiertes – strategisches Interesse. Vielmehr basiert das weiterführendes Interesse an der Stadtelfe auf der Identifikation mit deren Position der ‚Haltsuche‘. Diese Lesart scheint dadurch bestätigt, dass Steffen als einziger Kommentator von der Stadtelfe explizit als ‚Melancholiker‘ anerkannt wird:

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DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

stadtelfe @ 15:15:24 | 2004-08-12| permalink @steffen: [...] schönen tag dir.... (auch so als malancholischer romantiker oder so)

Versucht man nun (in eher diskursanalytischer Hinsicht) Status, Ort und Raster dieser Subjektposition zu beschreiben, so lässt sich Folgendes festhalten. Die Position der ‚Haltlosigkeit‘ impliziert insgesamt den Status der Selbstungewissheit. Hier spricht kein starkes, festgelegtes, sich seiner Position sicheres ‚Ich‘, sondern eines, das als flüchtig und ortlos figuriert wird. Ein solches ‚Ich‘ ist eher der Reflexion und der Kontemplation als der Tätigkeit oder dem Urteil verschrieben. Man kann deshalb eigentlich nicht von einem ‚Status‘ sprechen, denn die Position ist gerade charakterisiert durch ihre ‚Statuslosigkeit‘. Der Ort, von dem aus gesprochen wird, ist entsprechend brüchig. Ohne Genaueres über diesen Ort zu erfahren, wird deutlich, dass die Stadtelfe ihm entkommen möchte: Der Ort des Sprechens wird also im Sprechen problematisiert. Gleichzeitig erscheint der Ort als durch äußere Gegebenheiten beeinflussbar: Immer wieder berichtet die Stadtelfe zum Beispiel vom Einfluss des jeweiligen Wetters auf ihre Stimmung. Das Weblog als virtueller Raum wird dabei in widersprüchlicher Weise in Anspruch genommen. Die Stadtelfe bezeichnet ihn einerseits als ‚Ort der Flucht‘, der keinen Halt biete; andererseits ist (und bleibt) das Internet gleichzeitig tatsächlicher ‚Ort der Suche‘ nach Halt. Der ‚Gegenstand‘, der im Rahmen dieser Diskursposition formiert wird, ist das eigene Sein – und zwar in Bezug zu ‚etwas‘, das diesem Sein einen möglichen Haltepunkt bieten könnte. Dieses ‚etwas‘ bleibt jedoch unbestimmt in der Ambivalenz zwischen Suche und gleichzeitigem Entzug: ein ‚Halt‘, der nie gefunden und erreicht werden kann und damit in seiner genaueren Bestimmung ‚leer‘ bleibt. Das verwendete Raster ist fast ebenso unklar wie Status und Ort, denn der Abstand zum eigenen Sein in den Aussagen ist variabel: mal völlig unbestimmt, wenn das ‚Ich‘ unmarkiert bleibt oder sich via Zitat andere Stimmen einschalten, mal zumindest durch negative Folien konturiert, die sich im Rahmen von Selbstaufforderungen ergeben, die sich darauf richten, wie das eigene Sein nicht (mehr) sein sollte. Da im Weblog praktisch an keiner Stelle Zukunftsperspektiven eröffnet werden, sondern es – auch auf der formalen Ebene des Tempus – auf Gegenwart und Vergangenheit gerichtet ist und besagte Suchbewegungen gleichzeitig Entzugsbewegungen darstellen, bleiben insgesamt mögliche Veränderungsoptionen opak. Das Raster hat somit keinen ‚Maßstab‘, der über den Gegenstand – also das eigene Sein – urteilt, sondern nimmt die Funktion einer offen gehaltenen Frage an, die erfahren möchte, wie das eigene Sein ist, war und sein könnte. Diese offene Frage nach dem eigenen Sein findet sich tatsächlich abgebildet in konkreten Praktiken der Stadtelfe: den ‚Selbsttests‘. Immer wieder bin-

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ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

det die Stadtelfe Ergebnisse von Online-Tests zur eigenen Persönlichkeit in ihre Einträg ein: [ August 11, 2004 | 02:37 ] Ich bin eine Malancholikerin. Das ist nicht ganz so schlimm wie eine Alkoholikerin, aber schon schlimm. (Edit: temperamentenlehre.de hats mir bestätigt, ich bin zu 93% Melancholiker, eben eine typische 4)

Des Weiteren erwähnt die Stadtelfe einen „Käsequiz“, der ermittelt habe, dass die Persönlichkeit der Stadtelfe einem „swiss cheese“ entspreche (vgl. 06.08.04), die Adresse http://www.berufskompass.at/, derzufolge die Stadtelfe „Gerichtsbeamter werden [sollte]“ (26.08.04), ein „Handschriftstest-Ergebnis“ (14.07.04) und das Ergebnis im „Wahlomat“ (11.06.04). Die Leser des Weblogs werden sogar direkt in diese Frage einbezogen, indem die Stadtelfe eine Sprechprobe ins Netz stellt: [ Juni 23, 2004 | 00:24 ] ich und die fränkische sprache. für alle die es mal wissen wollten...und für alle die mich kennen, ...kling ich wirklich so???

Weitere textuelle Selbstpraktiken stellen wiederum die ‚Ironie‘ und insbesondere das ‚Zitat‘ dar: Es ist auffällig, dass in der Position der ‚Haltlosigkeit‘ häufig (in markierten oder unmarkierten Zitaten) andere Stimmen zu Wort kommen. Gleichzeitig ergibt sich über den Bereich der Selbstpraktiken eine mögliche Verbindung zu der Position der ‚Gestalterin‘. Während von der Position der ‚Haltlosigkeit‘ aus eine Veränderung gewünscht wird, erfolgen von der Position der ‚Gestalterin‘ aus tatsächliche Veränderungen. Allerdings zielt in einem Fall die Veränderung auf einen ‚Halt‘, während sie im anderen Fall auf Dauer gestellt ist, mit dem Ziel möglichst ‚unerwartet‘ und ‚nonkonform‘ zu erscheinen. Auf dieser übergreifenden Ebene scheint sich also die Ambivalenz innerhalb der Position der ‚Haltlosigkeit‘ zu wiederholen. Die Bestimmung der ‚Substanz‘ jener Praktiken, die in der beschriebenen ambivalenten Weise auf einen Halt für das eigene Sein gerichtet sind, ist davon ausgehend wiederum schwierig, da nicht deutlich wird, wie ein ‚Halt‘ wirklich aussehen und erreicht werden könnte. Zudem wird das eigene Sein von der Stadtelfe nicht in spezifischen Aspekten, sondern in eher allgemeiner Weise problematisiert. Entsprechend wird nicht deutlich, auf welches ‚Ziel‘ sich die Änderungsversuche richten: wiederum auf eine ‚Oberfläche‘ bzw. auf die äußerlichen Bedingungen des Seins oder auf etwas anderes. Festhalten lässt sich dennoch eines: In der Position der ‚Haltlosigkeit‘ artikuliert sich semantisch und textuell ein Unbehagen im und am eigenen Sein, das sich als Figur des Welt- und Selbstverhältnisses lesen lässt. 234

DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

4.3 Relektüre: Selbstpraktiken im Weblog ‚Stadtelfe‘ 4.3.1 Methodischer Neueinsatz: Praktiken des Selbst Mit der Rede vom ‚Welt- und Selbstverhältnis‘ ist die symbolisch figurierte Subjektivität angesprochen, die sich mit Hilfe Foucaultscher Begriffe und Konzepte erfassen lässt. Das Weblog ‚Stadtelfe‘ gibt zu verstehen, dass eine einzelne Person schreibt, deshalb lassen sich die im Rahmen der vier Subjektpositionen beschriebenen Charakteristika als ‚Figuren‘ eines Welt- und Selbstverhältnisses lesen. Sie konstituieren die spezifische Subjektivität der Stadtelfe im Weblog in dem untersuchten Zeitabschnitt. Von dem Welt- und Selbstverhältnis zu sprechen, meint also die Summe und das Zusammenspiel der in den Aussagen formierten, teils widersprüchlichen, teils komplementären Figuren und Positionen. In der Untersuchung konnten in der Rekonstruktion dieser Figuren Auffälligkeiten und Besonderheiten festgestellt werden, deren Bezug auf Prozesse der ‚Bildung‘ allerdings noch aussteht. Während sich die Position der ‚Studentin‘ vor allem durch die Diskrepanz zwischen formalem und figuriertem Status auszeichnet und sich die Position des ‚Sozialen Wesens‘ als unhinterfragt und homogen erweist, erscheinen vor allem die beiden Positionen der ‚Gestalterin‘ und der ‚Haltlosigkeit‘ hinsichtlich der Frage nach möglichen Prozessen der Wandlung interessant. In der Position der ‚Gestalterin‘ figuriert ein Subjekt, dessen Status bildende Kompetenz im Rahmen der eigenen Selbstgestaltung unmittelbar im Weblog sichtbar wird. Auffällig scheint an dieser Position auf den ersten Blick zweierlei: Zum einen wurde deutlich, dass sich die Gestaltungstätigkeiten der Stadtelfe explizit auf eine ‚Oberfläche‘ richten, deren andauernde Umwandlung keinerlei Festschreibung, Homogenität oder Vorhersehbarkeit ermöglicht. Zum anderen scheint in dieser Position ein großer Unterschied zur Position des ‚Sozialen Wesens‘ auf. Während als ‚Soziales Wesen‘ ein unhintergehbarer normativer Standpunkt eingenommen wird, beurteilt die ‚Gestalterin‘ zwar Geschmäcke anderer, bezeichnet dieses Urteil jedoch explizit als individuell und relativ. In der Position der ‚Haltlosigkeit‘ zeichnet sich demgegenüber ein Welt- und Selbstverhältnis ab, das vor allem durch eine in sich widersprüchliche Suche nach ‚Halt‘ gekennzeichnet ist. Das sich seiner selbst ungewisse Subjekt zielt dabei auf bestimmte Möglichkeiten des Halts, denen es sich gleichzeitig systematisch entzieht. In beiden Positionen – der ‚Gestalterin‘ wie der ‚Haltlosigkeit‘ – tritt damit das ‚Selbst‘ als Gegenstand der Wandlung in den Vordergrund, wobei es einmal um die Bejahung dieser andauernden Selbstverwandlung geht, das andere Mal um Möglichkeiten ihrer Feststellung bzw. Unterbrechung.

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Ausgehend von diesem Ergebnis stellt sich nun die Frage, inwiefern sich in Bezug auf diese (figurierten) Wandlungsbewegungen möglicherweise von Bildungsprozessen sprechen lässt. Dabei scheint auf den ersten Blick Skepsis angebracht. Insbesondere bezogen auf die Positionen des ‚Sozialen Wesens‘ und der ‚Studentin‘ finden sich keinerlei Hinweise auf Momente eines experimentellen und verändernden Bezugs auf die Bedingungen des eigenen Seins. Aber auch die anderen beiden Positionen scheinen als Beispiele von ‚Bildung‘ fragwürdig. Zwar findet sich in der Position der ‚Gestalterin‘ in erster Näherung vieles von dem, was im Anschluss an Konzepte Foucaults als Bestimmung von ‚Bildung‘ vorgeschlagen wurde: wiederholte aktive Umgestaltung seiner selbst, die sich gleichzeitig gegebenen Normalitätserwartungen entzieht und einer Festlegung widersetzt. Allerdings weckt diese unmittelbare Analogisierung ein Unbehagen. Sich als ‚nonkonform‘ auszuarbeiten, lässt sich zwar auf den ersten Blick als ‚Entsubjektivierung‘ lesen, da ein Entzug aus vorgegebenen Normen erfolgt. Allerdings bleibt in diesem Entzug eine Allianz bestehen, insofern als man sich noch in ihrer strikten Ablehnung der ‚Normalität‘ im Sinne einer Negativfolie unterwirft. Ob sich hier also begründet von ‚Bildung‘ sprechen lässt, scheint fraglich. Auch die Position der ‚Haltlosigkeit‘ ist kaum vielversprechender. In den Entzugspraktiken der Stadtelfe lassen sich zwar Anklänge an das angedachte Konzept von ‚Bildung‘ finden: Sie liegen in der Bewegung des ‚Entwurfs‘ eines erstrebenswerten Seins (das probehalber auch jeweils eingenommen wird) und der gleichzeitigen Verunmöglichung eines Wirklich-Werdens dieser Entwürfe. Doch auch hier muss gefragt werden, ob es sich tatsächlich um ‚Grenzexperimente‘ handelt, die in kritischer Weise die Bedingungen des eigenen Seins betreffen. Denn die Bewegung ließe sich schlicht als ein (auf Dauer gestellter) Positionswechsel vom Kind zur Partnerin, zum Internetwesen, zu einem anderen ‚Ort‘ lesen. Bereits im Theorieteil deutete sich an, dass die Untersuchung figurierter Welt- und Selbstverhältnisse als ‚Subjektivität‘ noch keinerlei Qualifizierung von Bildungsprozessen ermöglicht, und es wurde vorgeschlagen, sich auf das zu beziehen, was Foucault mit dem Begriff der ‚Selbstpraktiken‘ anspricht. Die Rede von ‚Selbstpraktiken‘ erscheint jedoch problematisch, da sich über das ‚Selbst‘ immer nur im Nachhinein etwas sagen lässt. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass diese Unbestimmtheit des ‚Selbst‘ systematische Gründe hat. Das Selbst ist das, was unbestimmt bleibt und damit zum grundlosen ‚Grund‘ des Welt- und Selbstverhältnisses avanciert: eine „ahnbare, aber niemals mittels der Reflexion einholbare Voraussetzung“ der Reflexion eines ‚Ich‘ über sich (vgl. Schäfer 2005: 3). Die damit angesprochene Differenz ist Schäfer zufolge bekannt aus der sozialbehavioristischen Theorie Meads, der von ‚I‘ und ‚me‘ spricht, und auch aus der Reflexionsparadoxie, der zufolge „der, der über sich nachdenkt, nicht mit dem identisch ist, über 236

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den er nachdenkt“ (ebd.). Das Subjekt, das sich auf ‚sich‘ bezieht, bezieht sich also auf etwas sozial nicht Kodierbares. Man ‚verhält‘ sich zu etwas, was nicht bestimmbar, nicht identifizierbar und nicht erreichbar ist. Dieses ‚etwas‘ ist deshalb mit der Metapher des ‚Grundes‘ auch nicht treffend beschrieben. Es ist eher eine Lücke oder eine Differenz, also etwas, was deutlich macht, dass die Menschen in ihren symbolisch codierten Welt- und Selbstverhältnissen nicht aufgehen. Gerade weil das Selbst aber in der sozial codierten und symbolisch vermittelten Selbstreferenz stets verfehlt werde, muss sich das Subjekt zu dieser Differenz noch einmal verhalten. Geht man davon aus, dass das Welt- und Selbstverhältnis die Differenz zum ‚Selbst‘ zwar verschatten und überlagern, nicht aber still zu stellen vermag, so muss die Frage gestellt werde, wie ein solches Verhalten zur Differenz zwischen Welt- und Selbstverhältnis und Selbst möglich ist. Schäfer rekonstruiert in seinen ethnologisch orientierten Studien verschiedene Wege eines solchen Umgangs. Dabei scheint sich ein generelles Prinzip abzuzeichnen: Soll dieser Riss nicht in phantasmatischen Konstruktionen übergangen oder verschattet werden, so muss dieses Verhältnis zum differenten Verhältnis praktisch ‚agiert‘ werden. Schäfer zeigt dies beispielhaft in seiner Analyse von Initiationsriten, Kulten und anderen Zeremonien hinsichtlich ihrer Bedeutung für Personwerdungsprozesse (vgl. insbes. Schäfer 1999a, 1999b und 2004c).32 Dabei werden im szenischen Agieren und Inszenieren diese Differenzen als nicht repräsentierbar und identifizierbar ‚sichtbar‘ gemacht (vgl. Schäfer 2004c). Es erfolgen also Annäherungen an diese Differenz in Praktiken, die das eigene Sein in seiner Unverfügbarkeit zu berühren suchen. Wie bereits deutlich wurde, nehmen sowohl Schäfer als auch Kokemohr eine universale Geltung dieser Seinsdifferenz bzw. Seinsungewissheit an. In Foucaults Konzept des ‚Archivs‘ zeigt sich, dass Foucault in ähnlicher Weise von einer solchen universellen (wiewohl: historisch gedachten) Seinsdifferenz ausgeht. Allerdings konzentriert er sich weniger auf jenes unbestimmte ‚Selbst‘, als vielmehr auf die Seite des Welt- und Selbstverhältnisses, dessen Bedingtheit in Diskurs-, Macht- und Selbstpraktiken er analytisch ausdifferenziert. Gleichzeitig geht Foucault aber mit seinem Konzept der Selbstpraktiken von einer Möglichkeit der praktischen Veränderung dieser Seinsbedingungen aus. Die von Foucault beschriebenen Praktiken des Selbst können dabei nicht direkt auf ein ‚Selbst‘ einwirken bzw. die Effekte, die die Selbstpraktiken möglicherweise haben, können nie als selbstwirksam ‚erkannt‘ werden. Denn Spuren oder Erschütterung zeigen sich nur nachträglich im symbolischen System als Selbstverhältnis, also als die Reflexion über sich als Objekt. Schäfer hält es in Bezug auf ‚Bildung‘ für entscheidend, dass diese 32 Schäfer deutet aber auch eine Perspektive an, wie man diese praktischen Konstruktionen in hiesigen pädagogischen Kontexten untersuchen könnte (vgl. Schäfer 2004b).

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Reflexion der eigenen Reflexivität so erfolgt, dass man seiner eigenen Grundlosigkeit innewird, sich also zur Differenz von grundlegender Unbestimmbarkeit und (sozialer, symbolischer) Bestimmtheit verhält. Das SichVerhalten zur eigenen Grundlosigkeit und Unbestimmbarkeit sei dann keine Selbstbehauptung, sondern eine unendliche Annäherung an jene Differenz, die man ist, ohne jedoch dieses ‚ist‘ fassen zu können. Fügt man beide Figuren zusammen, so ergibt sich ein möglicher Fokus für den zweiten Abschnitt der Untersuchung: Foucault geht davon aus, dass das Individuum seine eigenen Seinsbedingungen nur in der praktisch-experimentellen Annäherung verändern kann. Eben jene Praktiken der Annäherung finden im Symbolischen statt und können beobachtet, analysiert und interpretiert werden. Gleichzeitig muss sich der Blick jedoch auf das in den Selbstpraktiken konstituierte Verhältnis zur ‚Selbstdifferenz‘ und damit auf Momente der Seinsungewissheit richten. Ausgangspunkt der zweiten Annäherung an den Untersuchungsgegenstand sollen also im Weblog rekonstruierbare Selbstpraktiken sein, die als eine auf das Welt- und Selbstverhältnis gerichtete Verhaltenspraxis verstanden werden. Eine solche Relektüre wird keinen Zugriff auf das ‚Selbst‘ haben. Sie wird lediglich Momente und Effekte einer Selbstpraktik erfassen können, die auf das figurierte Verhältnis zur eigenen Grundlosigkeit gerichtet sind. Allerdings ist das mehr als nichts: Denn möglicherweise lassen sich in der Untersuchung dieser Selbstpraktiken Momente einer experimentellen Grenzpraxis erkennen, die einen systematischen Bezug auf die Struktur, Voraussetzungen und Bedingungen von Bildungsprozessen möglich erscheinen lässt. Freilich erfolgt damit bereits eine kleine Abweichung von den von Foucault vorgezeichneten Wegen. Es musste ein ‚Denken des Außen‘ (vgl. Gehring 1994) in dessen methodologische Überlegungen eingeführt werden, das zwar nicht erreichbar ist, an das man sich aber mittels verschiedenster Praktiken annähern kann. Selbstpraktiken können in dieser Weise Versuche der ‚Selbstberührung‘ darstellen, die ‚bildend‘ darauf verzichten, die Seinsungewissheit – beispielsweise in einem Bild oder einer Identität (vgl. MeyerDrawe 2005) – zu begreifen und zu fixieren, um so Gewissheit zu produzieren. ‚Anders-Werden‘ hieße dann, die eigenen Seinsbedingungen so zu entwerfen, dass diese Selbstdifferenz offen gehalten wird. Geht man vor diesem Hintergrund davon aus, dass die Untersuchung von Praktiken des ‚Selbst‘ eine aussichtsreiche Perspektive für die Frage nach Bildungsprozessen sein könnte, so bleibt zu klären, wie solche Praktiken genau aussehen und wo sie vorkommen. Foucault zufolge sind Selbstpraktiken ethopoetische Techniken der praktischen Ausarbeitung seiner selbst im strukturierten Möglichkeitsfeld von Machtbeziehungen und Wissensformationen, die auf das Welt- und Selbstverhältnis als sozial konstituiertes Sein zielen. Ein Beispiel einer solchen Selbstpraktik ist das ethopoetische Schreiben, also ein 238

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Schreiben, das in spezifischer Weise auf die Ausarbeitung des eigene Seins gerichtet ist. In einer Analogie dazu wurde das Schreiben eines Online-Tagebuchs als ethopoetische Technik gefasst. Im Rahmen eines Online-Tagebuchs treten jedoch offensichtlich verschiedene weitere Arten von Selbstpraktiken auf. Sie lassen sich in zwei Praxisformen unterteilen: diejenigen, von denen berichtet wird, und diejenigen, die im Schreiben selbst stattfinden. Da das Welt- und Selbstverhältnis symbolisch figuriert ist, interessieren vor allem die Praktiken, die im Symbolischen selbst wirken, also nicht nur das konfigurierte Welt- und Selbstverhältnis, sondern seine Konfiguration betreffen. Aus diesem Grund sind ‚berichtete‘ Praktiken, wie Diäten, Sport und Mode, weniger interessant. Aussichtsreicher erscheinen textuelle Praktiken, die im ethopoetischen Schreiben selbst wirksam werden. Eine Reihe solcher ‚selbstwirksamen‘ Schreibpraktiken lässt sich im Weblog finden: Neben den ‚performativen‘ Sprechmöglichkeiten im Internet, wie Emoticons oder Akronymen, die tatsächlich eine Art von ‚Körperlichkeit‘, Mimik und Prosodik hervorbringen, handelt es sich vor allem um bestimmte Praktiken der (sprachlichen) ‚Maskierung‘ durch Topoi, Ironie, Zitate und der Selbstinszenierung in Bildern. Da es den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, diese Selbstpraktiken in all ihren Facetten und Ausprägungen zu verfolgen, soll beispielhaft eine einzelne Praktik untersucht werden: die Praktik des Zitierens. Das Weblog Stadtelfe ist durchzogen von Zitaten aus Kino, Fernsehen, Internet, Musik, Literatur und Märchen. Der Begriff ‚Zitat‘ lässt sich etymologisch aus dem lateinischen Wort citare herleiten, das ‚herbeirufen‘ bedeutet. Die rhetorische Figur des Zitats besteht formal gesehen darin, dass sie in einen Text Segmente aus einem Prätext aufnimmt und neu konfiguriert (vgl. Plett 2000: 239).33 Die wörtlich übernommene Stelle wird im Allgemeinen mit einem Hinweis versehen, der sie als Zitat kennzeichnet und ihren Fundort angibt. Als rhetorische Praxis kann das Zitieren insofern als Selbstpraktik verstanden werden, als dass die eigene Stimme mit einer anderen Stimme auf spezifische Art und Weise verbunden wird: Zitieren bedeutet wiederholen und verschieben, es ist eine Form des Referierens und Verweisens. Das Zitat ruft etwas herbei, das das eigene Sprechen affiziert. Die Verbindungen mit fremden Stimmen im Zitat funktionieren auf verschiedene Art und Weise und haben unterschiedliche Wirkungen. Zunächst scheint es, als beruhe das Zitat auf

33 Plett ordnet das Zitat dem Bereich der intertextuellen Figuren zu und verweist darauf, dass die klassische Rhetoriktradition diese Figurenkategorie noch nicht kennt, „da Intertextualität eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts (Bachtin, Kristeva) bildet“ (Plett 2000: 239). Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf die überaus reiche literaturwissenschaftliche Forschung zum Zitat und zur Intertextualität einzugehen. Auch die Frage, inwieweit die Zitatförmigkeit (bzw. Iterierbarkeit) einen Grundcharakter des sprachlichen Zeichens (bzw. Graphems) darstellt, soll hier nicht diskutiert werden (vgl. Derrida 1976).

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einer vom Zitierenden aktiv vollzogenen Auswahl eines Text-, Bild- oder Musikelements, das an einer bestimmten Stelle in die eigene Rede eingeflochten wird, um spezifische Wirkungen hervorzurufen. In dieser Sichtweise liegen jedoch zwei Probleme: Zum einen kann das Zitieren misslingen, d.h. man kann falsch oder verfälschend, unerkannt oder unbewusst zitieren. Zum anderen sind die Wirkungen eines Zitats auf die eigene Stimme nie völlig absehbar. Der Versuch einer autoritativen Legitimierung des eigenen Sprechens kann ins Lächerliche gezogen werden, es können sich weitere Stimmen einmischen oder das Subjekt auf andere Art und Weise die Kontrolle über das Zitat verlieren. Die Sprecherposition, von der aus eine fremde Stimme herbeigerufen/-zitiert wird, tritt deshalb auch nur scheinbar als das kontrollierende (begrenzende, auswählende, einsetzende, kontextualisierende) Organ auf, das das Zitat strategisch einzusetzen weiß. Denn genauso, wie sich der Sprecher des Zitats bemächtigt, indem er es herbeiruft und einsetzt, konstituiert und unterläuft das Zitat jenes ‚Ich‘, das es herbeiruft, d.h. im Zitieren wird das sprechende ‚Ich‘ (bzw. die Subjektposition der Aussage) ein anderes. Im Weblog ‚Stadtelfe‘ finden sich unterschiedliche Typen von Zitaten und verschiedene Funktionsweisen des Zitats. Ein besonderer Typus des Zitats ist der link, mit dem auf andere Internetseiten verwiesen sind. Neben dem Einsatz von links finden sich im Weblog aber auch direkt eingefügte Zitate aus Songtexten, Gedichten, mündlichen Gesprächen, chats, Kinofilmen und Literatur. Die Art und Weise, wie ein Zitat strategisch eingesetzt wird, ist nicht immer eindeutig zu bestimmen. Allgemein lassen sich vor allem folgende Funktionen bzw. Wirkungen von Zitaten festhalten: Zitate können einen Gedanken mit einer autoritativen Beglaubigung unterlegen bzw. Handlungen, Wahrnehmungen oder Äußerungen legitimieren. Zitate können den Zitierenden als ‚Wissenden‘ und als pointierten Kenner der Welt auszeichnen oder als Mittel der besseren Klassifizierung, Beschreibung und Einordnung von Meinungen und Gefühlen genutzt werden. Zitate können dazu dienen, etwas Erzähltes ‚authentisch‘ erscheinen zu lassen. Zitate können aber auch anrühren und anregen und die Funktion einer Vergegenwärtigung des Vergangenen einnehmen. Alle diese Formen des Zitateinsatzes trifft der Leser in verschiedener Gewichtung im Weblog ‚Stadtelfe‘ an. Und in all diesen Funktionen, so wird deutlich, kann das Zitat (machtvolle) Effekte zeitigen, die das Gesagte und damit auch die Subjektposition betreffen. Eben diese Effekte sind in bildungstheoretischer Hinsicht interessant und genauer in ihrer Wirkung auf das Welt- und Selbstverhältnis zu untersuchen. Es geht also insgesamt um die Frage, inwiefern die Praktik des Zitierens als eine praktische ‚Gestaltung‘ des Verhältnisses zu sich und zur Welt verstanden werden kann und wie diese Gestaltung auf das Verhältnis zur eigenen Differenz und Unbestimmbarkeit wirkt: identifizierend und vergewissernd oder ‚bildend‘.

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4.3.2 „19. Mai 2004“ [ Mai 19, 2004 | 02:33 ] Melancholie ist das Vergnügen, traurig zu sein. Es heißt allein mit einem Rotwein hiersitzen, [solche Lieder] hören und Märchen lesen. Glück entsteht oft durch Aufmerksamkeit in kleinen Dingen, Unglück oft durch die Vernachlässigung kleiner Dinge. Merken, daß die Zeit verrennt, aber innere Wahrnehmungen, alte Gedanken/Gefühle nicht erloschen sind, sich gar kaum verändert haben. Je weiter ich mich zurückerinnern muss, desto mehr wird mir bewusst wie alt ich schon bin Noch wissen, wie man die abende vor langer Zeit damit verbrachte traurige Bilder zu malen, Tagebuch über nicht geschehene Ereignisse zu führen und Gedichte zu schreiben. Allzuviel Verletzlichkeit macht einsam und allzuviel Einsamkeit macht verletzlich. Zu wissen, daß man mit der Zeit undankbar geworden ist, zu anspruchsvoll. Vergessen zu haben, was man war und was die Ideale waren, um sich dann doch wieder zu erinnern. Ach ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!?

Der Eintrag findet sich relativ zu Beginn des Weblogs und erscheint aus mehreren Gründen bemerkenswert. Er erfolgt nachts um halb drei, also in der unbestimmten Zeit ‚zwischen‘ gestern, heute und morgen. Auffällig ist die symmetrische Aneinanderreihung von durch Kursivdruck graphisch abgehobenen und normal geschriebenen Abschnitten. Bei den kursiv gedruckten Abschnitten handelt es sich um Zitate, deren Ursprung jedoch nicht angegeben wird. Der Leser muss sich sowohl den Status der Sätze als auch die Herkunft der Zitate selbst erschließen: Die Aphorismen stammen von Victor Hugo, Wilhelm Busch, Shred und Peter E. Schumacher, das letzte Zitat ist der mehrfach wiederholte Seufzer der Königstochter aus dem Märchen ‚König Drosselbart‘ von den Brüdern Grimm. Darüber hinaus findet sich in dem Eintrag ein link, der auf einen Song der bretonischen Folkmusikgruppe Laridée im mp3-Format verweist.34 Inhaltlich kreist der Eintrag um den Topos der ‚Melancholie‘, der zunächst mit Victor Hugo pointiert als „das Vergnügen, traurig zu sein“ aufgerufen und durch die Beschreibung einer spezifischen Szenerie mit Rotwein, stimmungsvoller Musik und der einsamen Lektüre von Märchen genauer bestimmt wird. Es folgen Reflexionen und Zitate, die sich um den Topos der verrinnenden (hier: ‚verrennenden‘) Zeit gruppieren und sich in der Spanne zwischen äußerlich bedingtem Älterwerden und Rückbe34 Der link ist mittlerweile inaktiv, weil Laridée eine neue domain hat: www. laridee.de

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sinnung bewegen. Auch dabei wird auf Einsamkeit und Traurigkeit in Verbindung mit ästhetischen Momenten verwiesen. Erst im letzten nicht-kursiv gedruckten Absatz erfolgt der Einsatz moralischer Kategorien, wie Undankbarkeit, zu hoher Anspruch und das Vergessen seiner selbst, denen ein zitierter Ausruf im Modus des Irrealis folgt: „Ach ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!?“ Richtet man die Aufmerksamkeit zunächst auf die Passagen des Eintrags, die offensichtlich keine Zitate darstellen, so fällt vor allem das Fehlen eines Subjekts auf der symbolischen Ebene auf. Die Verben stehen durchgehend im Infinitiv: sitzen, lesen, merken, wissen, vergessen. Selbst in den Nebensätzen taucht nur das Indefinitpronomen ‚man‘ auf. Die Sätze scheinen dadurch gewissermaßen zu schweben. Sie sind zeitlos und ohne ein ‚Ich‘, dem die beschriebenen Tätigkeiten zugeordnet werden könnten. Es lassen sich nur einige wenige deiktische Begriffe ausmachen. Sie eröffnen symbolische Räume und figurieren Szenen, die im diesem Fall jedoch praktisch alle leer bleiben. Die Rede vom „hiersitzen“ impliziert zwar ein ‚Ich‘, das auf ‚sich‘ als in Raum und Zeit verortetes Ich verweist. Doch weder taucht dieses ‚Ich‘ tatsächlich auf, noch wird das symbolisch eröffnete ‚hier‘ gefüllt. Der Leser weiß nicht, wo ‚hier‘ ist, und ob ‚dort‘ tatsächlich ‚jemand‘ sitzt. Zumal die Szene insofern irritiert wird, als dass das vermeintliche ‚Ich‘ dieser Szene diese schreibend entwirft, also eben gerade nicht ‚hiersitzen‘ und Märchen lesen kann, sondern ‚dort‘ am Computer sitzt und einen neuen Eintrag für das Weblog schreibt.35 Auch die Rede vom „sich [...] erinnern“ bleibt in ähnlicher Weise leer. Es ist ein unpersönliches „man“, das „sich“ hier erinnert. Der einzige deiktische Begriff, der tatsächlich auf etwas verweist, ist der link, mit dem der Hinweis auf „solche Lieder“ unterlegt ist. Die Sätze bleiben damit subjekt-, zeit- und ortlos. Das implizite ‚Ich‘ der Rede wird zwar als namenloses ‚man‘ in Situationen figuriert, bleibt aber körperlos und unbestimmt. Es ließe sich als Leerstelle bezeichnen, auf die zwar von vielen Richtungen aus verwiesen wird, die selbst aber opak bleibt: hiersitzen, hören, lesen, merken, erinnern, wissen, vergessen haben. Dieser formale Eindruck wird auch auf der inhaltlichen Seite unterstützt. Während der (bezogen auf die Nicht-Zitate) erste Eintrag immerhin deutlich macht, was getrunken wird, welche Lieder gehört werden und was für eine Art von Literatur konsumiert wird, werden im Folgenden genauere Bestimmungen ausgespart. So wird beispielsweise auf „innere Wahrnehmungen, alte Gedanken/Gefühle“ verwiesen. Es bleibt jedoch völlig unklar, um was für „innere Wahrnehmungen“ es sich handelt und um welche „Gedanken/Gefühle“ es geht. Auch der Schrägstrich zwischen „Gedanken“ und „Gefühle“ zeigt eine Unentschiedenheit und Vagheit, die nirgendwo beseitigt wird. Sie wird noch verstärkt, wenn es heißt, dass „Tage35 Wobei natürlich denkbar ist, dass die Märchen am Computer gelesen werden.

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buch über nicht geschehene Ereignisse“ geführt wurde. Dieser Satz lässt sich in zwei Richtungen verstehen: Zum einen wäre es möglich, dass über erfundene Ereignisse berichtet wird. Zum anderen könnte es bedeuten, dass über ‚fehlgeschlagene‘ Ereignisse berichtet wird, also Ereignisse, die stattfinden sollten, aber vergeblich herbeigewünscht wurden. In jedem Fall geht es aber um ‚fiktive‘ Ereignisse, die wiederum nur als Ereignisse angedeutet werden, ohne dass sie mit irgendeinem Inhalt gefüllt würden. Auch die Rede davon, „[v]ergessen zu haben, was man war und was die Ideale waren“, ist in dieser Weise unbestimmt. Es wird im Weiteren nichts darüber gesagt, „was man war“ und „was die Ideale“ waren, außer dass man „sich dann doch“ wieder erinnert. Die Unbestimmtheit wird auch durch die spezifische Ausdrucksweise verstärkt. Es geht nicht darum, wer man war, sondern was man war. Und es geht nicht darum, welches meine Ideale, sondern was die Ideale waren. Ideale und eigenes Sein scheinen abstrakt und für sich zu bestehen. Deshalb erinnert man auch nicht sie, sondern man erinnert sich. Der Ausdruck ‚sie erinnern‘ verwiese auf eine festgelegte Subjektposition, von der aus die Ideale erinnert würden. Die Rede davon, sich zu erinnern, lässt demgegenüber das gegenwärtige ‚man‘ und das vergangene ‚was‘ als voneinander getrennt erscheinen. Wer oder was man war, ist vergessen: eine Figur, an die ‚man‘ sich erst aus der Ungewissheit heraus erinnern muss. Damit wird in diesem Eintrag insgesamt noch einmal deutlich, was sich bereits ansatzweise in der Position der ‚Haltlosigkeit‘ rekonstruieren ließ. Das Welt- und Selbstverhältnis, das hier figuriert, ist deshalb so unbestimmt, weil es zwar auf ‚etwas‘ verweist, dieses ‚etwas‘ als das eigene Selbst jedoch opak bleibt: eine symbolisch entworfene Szenerie, die von vielen Richtungen aus auf einen Mittelpunkt zeigt, der selbst aber leer ist. Betrachtet man nun demgegenüber die eingefügten Zitate, so ergibt sich bezüglich der Figuration der Subjekte auf der symbolischen Ebene ein anderes Bild. Zunächst gibt es drei Aphorismen in Form schlichter Aussagesätze über die Charakteristika von Melancholie, über die Entstehungsbedingungen von Glück bzw. Unglück und über den Zusammenhang von Einsamkeit und Verletzlichkeit. Melancholie, Glück/Unglück und Verletzlichkeit/Einsamkeit tauchen dabei als Satzsubjekte auf, die Verben stehen im Präsens. Damit gibt es zwar keinen direkten Hinweis auf den Sprecher, aber die Position, von der aus eine solche Aussage getätigt wird, erscheint als fraglos und sicher. Keine Ungewissheit des ‚Ichs‘ unterminiert die Behauptung, Melancholie sei das Vergnügen, traurig zu sein. Dasselbe gilt für die Feststellungen, dass Glück mit der Aufmerksamkeit in kleinen Dingen zusammenhänge und dass Verletzlichkeit und Einsamkeit einen Teufelskreis konstituierten. Gerade weil hier das ‚Sprecher-Ich‘ so klar von der Aussage selbst getrennt wird, erscheint es fraglos. Anders verhält es sich mit den beiden anderen Zitaten. Der Satz „Je weiter ich mich zurückerinnern muss, desto mehr wird mir bewusst wie 243

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alt ich schon bin“ figuriert ein Subjekt, das sich erinnert und des eigenen Alters selbst bewusst wird. Ebenso handelt es sich bei dem Ausschnitt aus dem Märchen König Drosselbart um ein Zitat, das in der direkten Rede ein prominentes Subjekt figuriert: „Ach, ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!?“ Zu fragen ist nun, wie die Verknüpfung zwischen diesen unterschiedlichen Zitaten und den dazwischen geschalteten ‚Nicht-Zitaten‘ erfolgt. Die formale Verbindung ist bemerkenswert lose: Zitat und Nicht-Zitat erscheinen lediglich durch die räumliche Nähe und das Prinzip der Abwechslung verbunden: auf ein Zitat erfolgt stets ein Nicht-Zitat. Nirgendwo taucht eine Konjunktion auf, die einen logisch zwingenden Zusammenhang herstellen würde, außerdem fehlen innertextuelle kataphorische und anaphorische Elemente, die eine Vernetzung erzielen könnten. Die einzige leichte Abweichung von diesem Schema findet sich zwischen dem ersten Zitat und dem folgenden Satz, der durch das Pronomen ‚es‘ mit einem Rückbezug einsetzt. Melancholie als „das Vergnügen, traurig zu sein“, wird dadurch ergänzt: „Es“ – also jenes Vergnügen – „heißt allein mit einem Rotwein hiersitzen, [solche] Lieder hören und Märchen lesen.“ Während damit auf formaler Ebene der Eindruck einer rein zufälligen, unverbundenen Reihung von Sätzen entsteht, erscheint deren inhaltliche Verknüpfung ausgesprochen vielfältig. Sie ergibt sich in Form von Bedeutungsassoziationen. Die sich dabei überlagernden semantischen Felder lassen verschiedene Motive erkennen, die jedoch alle in Verbindung mit dem Topos der ‚Melancholie‘ stehen. Der Topos der ‚Melancholie‘ spielt auf das Ineinandergreifen von Trauer und Vergnügen an. Es klingen Aspekte wie Einsamkeit, Verletzlichkeit, Verlust, verrinnende Zeit, Reue, Fantasie, (ästhetischer) Genuss, Poesie, Innerlichkeit, Rührung und Selbstaufmerksamkeit mit. Sie finden sich in verschiedener assoziativer Kombination in den Zitaten und Nicht-Zitaten des Eintrags. Gleich zu Beginn wird eine entsprechende Situation entworfen: „[A]llein mit einem Rotwein hiersitzen“ verweist auf Feinsinnigkeit. Es wird kein durstlöschendes Bier und kein mondäner Cocktail konsumiert, sondern Rotwein, ein Getränk, für das es edlen Geschmack und Kennerschaft braucht. Und dieser Rotwein wird nicht ‚getrunken‘, sondern er steht bereit, um an ihm zu nippen, während man stimmungsvolle Lieder hört und Märchen liest. In dieser Weise „allein“ zu trinken, zeugt sowohl von besinnlich-trauriger Einsamkeit als auch von dem damit einhergehenden Genuss, sich auf sich selbst zurückzuziehen. In ähnlicher Weise wird das Motiv der „Aufmerksamkeit in kleinen Dingen“ als Voraussetzung für „Glück“ verfolgt. Die Aufmerksamkeit bezieht sich auf das Leben an sich als Bedingung für das eigene Sein: „Zeit verrennt“, aber wenn man aufmerksam hinschaue, merke man, dass es sich dabei nur um Äußerlichkeiten handelt, während „innere Wahrnehmungen, alte Gedanken/Gefühle nicht erloschen sind“. Entsprechend werde man zwar immer älter, wisse aber doch 244

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noch, „wie man die abende vor langer Zeit“ verbracht habe. Und auch diese Rückbesinnung verbindet Verlust und Trauer mit ästhetisch-poetischem Genuss. Man habe Bilder gemalt, Tagebucheinträge erfunden und Gedichte geschrieben, sei dabei aber dem ‚wahren Leben‘ fern geblieben. Dies führe in einen Teufelskreis von sich gegenseitig verstärkender Einsamkeit und Verletzlichkeit und schließlich zu einem Moment der Reue über den durch Unaufmerksamkeit produzierten Verlust des richtigen Bildes seiner selbst und der damit verbundenen Ideale. Das letzte Zitat greift dieses Motiv des bereuten Lebens in einem romantischen Seufzer auf, der mit seinem „ach, hätt ich“ einen unerfüllbaren Wunsch aufruft. Versucht man nun in diesem assoziativen Feld von Motiven und Topoi auszumachen, in welcher Weise die Zitate als ‚Selbstpraktik‘ wirken, so scheint vor allem das Zusammenspiel von ‚leerem‘ und ‚dezentriertem‘ Selbst und der durch die Zitate angeregten semantischen ‚Überfülle‘ bemerkenswert. Überträgt man die doppelseitige Struktur von ‚Melancholie‘ (Verlust/Genuss) auf den gesamten Eintrag, so ergibt sich eine Vermutung: Auf der symbolischen Ebene wiederholt sich die Struktur der Melancholie als Verlust und Genuss. Während einerseits das ‚Selbst‘ als etwas Unbestimmtes, Leeres und Opakes figuriert wird, erfolgt andererseits der ‚Selbstgenuss‘ durch äußerlich gegebene Anrührung. Diese Anrührung erfolgt durch die Aphorismen und deren assoziative Bedeutungsaufladung, die die fiktive Situation eines einsamen Selbst figurieren, das sich in seiner Einsamkeit genießt. Sie erfolgt aber ebenso durch die Sprache selbst, die sich auch in den Passagen der Nicht-Zitate als besondere gibt: durch den Einsatz von Infinitiven, durch die symmetrische Struktur, durch den Verzicht auf ein ‚Ich‘, durch das Hervorheben von Wörtern durch Umstellungen, wie beispielsweise in der Wendung „sich gar kaum“. Es erfolgt also eine Verdoppelung der Struktur. Zum einen wird über Melancholie berichtet. Sie ist das Thema dieses Eintrags und wird mittels der verschiedenen Zitate und Nicht-Zitate facettenreich beschrieben. Gleichzeitig wird damit auf symbolischer Ebene eine tatsächliche Option des ‚Genießens‘ eröffnet. Während das ‚Selbst‘ als Instanz ‚verloren‘ geht, wird in der durch andere Stimmen gegebenen Sprache in diesem Verlust ein ‚Genuss‘ ermöglicht: Der Genuss des eigenen Welt- und Selbstverhältnisses als melancholisch. Freilich bleibt dabei unklar, ‚wer‘ hier genießt. Vor diesem Hintergrund fragt sich, ob damit möglicherweise etwas eröffnet wird, das man ‚Bildung‘ nennen könnte. Die nahe liegende Antwort lautet: Nein, denn es handelt sich um eine praktische ‚Verdoppelung‘ des Welt- und Selbstverhältnisses. Entworfen wird eine statische, zeitlose Situation, die keinen Wandel impliziert, sondern nur ein allmähliches Verschütten und Vergessen von (unveränderten) Gefühlen, Gedanken und Idealen. Alle beschriebenen Tätigkeiten implizieren weder Ziel noch Abschluss. Es figuriert ein unbestimmtes, spannungsarmes, freischwebendes Sein, das einfach 245

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nur ‚ist‘. Die zitierten Aphorismen funktionieren dabei vor allem als Identifizierungs- und Verdoppelungsmuster des eigenen Seins: Es erscheint als haltlos und verloren, aber dabei genießend auf sich selbst bezogen. Das, was über die Melancholie gesagt wird, spiegelt sich in den Aussagen selbst und führt diese so gleichzeitig als Aussagen eines melancholischen Subjekts vor. Auch der Einsatz der Zitate als Mittel der poetischen Anrührung folgt dieser Verdoppelungsstruktur. Es erfolgt kein kritischer Bezug auf die Bedingungen des eigenen Seins. Vielmehr scheint es (auf inhaltlicher Ebene) um dessen Restituierung bzw. (auf formaler Ebene) um dessen Identifizierung und Versicherung zu gehen. Besonders deutlich wird dies auf inhaltlicher Ebene in der Metapher der ‚nicht erloschenen‘ Gefühle: Es wird das Bild eines Feuers oder einer Glut evoziert, dass zwar heruntergebrannt, aber nie völlig erloschen ist. Man müsste es nur neu entfachen, dann wäre alles beim Alten. Dem folgt auch das Bild der unveränderten Innerlichkeit, der Selbstkritik, die nicht auf eine Veränderung in der Zukunft abzielt, sondern auf eine Rückbesinnung auf das frühere Sein. Dieser Raum der Innerlichkeit bleibt dabei allerdings opak: ein leerer Verweisungsraum, der in seiner Verschattung und Abgeschlossenheit unangetastet bleibt und nur als leerer Fixpunkt dient. Entsprechend erscheinen als Bedingungen des eigenen Seins nur die ‚verrennende Zeit‘ und das damit einhergehende Älterwerden. Diese Bedingungen werden aber als unbeeinflussbar wahrgenommen, während das eigene Sein diesen Bedingungen zwar ausgesetzt ist, aber korrigiert werden könnte. Aus dieser Einsicht folgt ein melancholischer Blick auf Vergangenes, der in einer abschließenden, feststellenden Erkenntnis kumuliert: Ein Entzug aus diesen Bedingungen wäre nur im Irrealis, nicht aber als Potenzialis denkbar, also als unmögliche Möglichkeit, derer man sich seufzend entsinnt. Die einzig verbleibende strategische Option liegt deshalb in dem Versuch an die Annäherung des alten Seins, um vielleicht noch einmal eine ähnliche Möglichkeit zu erhalten und sich dann ‚richtig‘ zu entscheiden. Allerdings findet sich ein Detail in dem Eintrag, das in dieser Lesart nicht aufgeht. Im abschließenden Zitat wird auf das Märchen König Drosselbart verwiesen. Es handelt von einer stolzen und hochmütigen Königstochter, die sich über ihre Freier lustig macht und deshalb von ihrem Vater gezwungen wird, den erstbesten Spielmann zu heiraten und mit ihm als Bettelweib das Schloss zu verlassen. Der wiederholte Seufzer „ach, hätt’ ich genommen den König Drosselbart!“ entfährt der Königtochter, als sie mit ihrem mittellosen Gatten an den Ländereien von König Drosselbart vorbeifährt und bereut, dass sie diesen (reichen) Mann so hochmütig verschmäht hat. Das Ende des Märchens ist bekannt: Die Königstochter ist unfähig zu eigenem Broterwerb und versucht schließlich in ihrer Not auf einem Fest im Schloss ihres Vaters heimlich Essensreste zu ergattern. Als sie dabei überraschend zum Tanz aufgefordert wird und vor versammeltem Hof die geklaute Suppe über den Bo246

DIE UNTERSUCHUNG: BILDUNGSPROZESSE IN WEBLOGS

den spritzt, will sie voller Scham entfliehen. Aber König Drosselbart ist zur Stelle: Er hatte sich als mittelloser Spielmann ausgegeben, um der stolzen Königstochter eine Lektion zu erteilen. Diese begreift, bereut ihre Hochmut und entschuldigt sich. Es kann (zum zweiten Mal) Hochzeit gehalten werden (vgl. Grimm ohne Jahr: 193ff.).36 Der im Weblog zitierte Ausruf greift die doppelseitige Grundstruktur der Melancholie auf. Betrauert wird ein Verlust, der zu verhindern gewesen wäre: Die Königstochter sieht einer erzwungenen Ehe in Armut entgegen, obwohl sie doch ohne Weiteres ein Leben in Reichtum hätte führen können. Der ‚Genuss‘ liegt demgegenüber eher auf der Ebene der Lektüre dieses moralischen Märchens, wie gleich zu Beginn angedeutet wird: bei einem Glas Rotwein und untermalt durch stimmungsvolle Musik. Betrachtet man darüber hinaus die inhaltlichen Anklänge an das Märchen, wenn zum Ende hin von Undankbarkeit, zu hohem Anspruch und von vergessenen Idealen die Rede ist, so scheint sich insgesamt eine enge Verbindung zwischen dem ‚Ich‘ der zitierten Märchenpassage und dem ungewissen ‚Selbst‘ der Nicht-Zitate zu ergeben. Das unbestimmte, leere ‚Selbst‘ wird gewissermaßen allegorisch ersetzt durch das im Zitat aufgerufene ‚Ich‘ der Königstochter. Das damit evozierte Bedeutungsfeld scheint in seinen Konturen festgelegt: In beiden ‚Geschichten‘ geht es um eine undankbare, hochmütige, viel zu anspruchsvolle schöne Frau, die alle Männer verschmäht und sich über sie lustig macht – um dann irgendwann einsam und ohne Unterstützung da zu stehen. Die Geschichte der Königstochter geht allerdings weiter: Sie lernt ihre Lektion, überwindet Stolz und Hochmut und wird glücklich. Diese zielgerichtete, wenig Spielraum lassende Moral könnte nun als das im Zitat herbeigerufene (metaphorische) Ideal verstanden und als der vom ungewissen ‚Ich‘ verpasste, aber vielleicht durch Anstrengung und Rückbesinnung doch noch zu erreichende ‚richtige‘ Lebensweg betrachtet werden. Nun lässt sich aber bei genauerer Lektüre eine Modifikation des Märchenzitats erkennen. Statt den Ausruf der Königstochter wie im Original mit einem Ausrufezeichen enden zu lassen, wird ein Fragezeichen hinzugefügt: „ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!?“ Damit wird jedoch der tiefe romantische Seufzer in seiner Unbedingtheit und Verzweiflung irritiert. Der mit dem Märchen aufgerufene moralische Bedeutungsraum scheint in Frage gestellt (vielleicht war es ja klug, König Drosselbart abzulehnen? Möglicherweise ergeben sich daraus völlig neue Möglichkeiten jenseits der langweiligen und einförmigen Hofbälle?). Durch das hinter das Ausrufezeichen gesetzte Fragezeichen erscheint die Identifizierung eines erstrebenswerten ‚wahren‘ Seins sowohl auf der Ebene des Märchens als auch auf der allego-

36 Es gibt verschiedene Versionen des Märchens König Drosselbart. Die Rahmenhandlung ist jedoch in allen mir bekannten Fassungen dieselbe.

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ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

risch aufgerufenen Ebene der ortlosen Sprecherin berührt. Das ungewisse Selbst hat nicht mehr nur eine einzige ‚richtige‘ Option, sondern es gibt noch andere Möglichkeiten. Sehr weit interpretiert könnte man sagen, dass das ungewisse, leere ‚Selbst‘ hier als in seiner Unbestimmtheit ‚freies‘ berührt wird – allerdings ohne es im Symbolischen zu erfassen, es handelt sich eher um einen Bruch in der homogenen symbolischen Konstruktion des Eintrags. Das Pathos der eigenen Rückbesinnung und der Selbstkritik wird damit aufgehoben in einem simplen Zeichen der Offenheit: So sicher ist das alles nicht mit dem reichen Mann und dem glücklichen Leben. Die Modifikation des Zitats ließe sich also lesen als Entzug aus einer Festschreibung. Ob dies tatsächlich als ein Bildungsprozess verstanden werden kann, bleibt dabei nach wie vor fraglich. Die Bedingungen des eigenen Seins werden in dessen allegorischer Ausgestaltung, die in ihrer Bedeutungsfestlegung gleichzeitig in Frage gestellt wird, prinzipiell als anders-möglich vorgestellt. Es handelt sich aber nicht um einen tatsächlichen Neuentwurf. Es werden keine Optionen vorgestellt, wie die Bedingungen des Seins stattdessen sein könnten. Eher handelt es sich um eine implizite Reflexion und die praktische Gestaltung einer Selbstdifferenz, die nicht auf Vergewisserung zielt, sondern die Differenz als Offenheit figuriert.

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5.

‚Bildung‘ in ambivalenten Selbstpraktiken

Ausgangspunkt meiner empirischen Untersuchung war der Versuch, den Bildungsbegriff im Anschluss an theoretische Überlegungen und Konzepte Michel Foucaults neu zu fassen. Dabei hatte sich gezeigt, dass insbesondere die Prozessstruktur eines Geschehens der ‚Bildung‘ nicht eindeutig bestimmt werden kann, da sich die für Möglichkeiten eines ‚Anders-Werdens‘ entscheidenden Selbstpraktiken immer im ambivalenten Spannungsfeld von Subjektivierung und Entsubjektivierung bewegen. Mit meinem empirischen Neueinsatz war deshalb die Hoffnung verbunden, mögliche Anlässe, Strukturen und Bedingungen von Prozessen der ‚Bildung‘ genauer zu klären. Gefragt wurde nach der Art und Weise, in der sich ‚Subjekte‘ selbst problematisieren und ausarbeiten, ob und unter welchen Voraussetzungen in den dabei eingesetzten Selbstpraktiken ‚Seinsungewissheit‘ aufscheint und welche spezifischen Umgangsweisen mit dieser (konstitutiven) Ungewissheit des Selbst Möglichkeiten eines ‚Anders-Werdens‘ eröffnen. Die Annäherung an den Gegenstand erfolgte auf eine doppelte Weise: Einsatzpunkt war der Blick auf die im Symbolischen figurierte Subjektivität und die sich in dieser Figuration abzeichnenden Wandlungsbewegungen, Spannungsmomente und Ambivalenzen. Davon ausgehend wurde in einem zweiten Schritt nach Momenten in der symbolischen Figuration gefragt, in denen im Rahmen von Selbstpraktiken ‚Seinsungewissheit‘ aufscheint. Es stellt sich nun die Frage, ob sich im Rückblick auf die Ergebnisse der Untersuchung Aussagen über Voraussetzungen, Bedingungen und Strukturen von Bildungsprozessen treffen lassen, die zu einer Reformulierung des Bildungsbegriffs beitragen und die bisherigen theoretischen Überlegungen zu ergänzen und/oder zu korrigieren vermögen. In der Rekonstruktion der im Weblog ‚Stadtelfe‘ figurierten Welt- und Selbstverhältnisse kristallisierten sich zwei Subjektpositionen heraus, die in sich auf eine Wandlung des eigenen Seins zielen: die der ‚Gestalterin‘ und die der ‚Haltlosigkeit‘. In beiden Positionen erscheint das Weblog nicht nur als 249

ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

ein Ort des Berichts über Handlungen, sondern wird selbst zum Raum für Selbstgestaltung und Haltsuche. Demgegenüber scheinen die Positionen der ‚Studentin‘ und des ‚Sozialen Wesens‘ keinen solchen Wandlungsaspekt zu umfassen. Dies lässt die Annahme zu, dass Weblogs nicht notwendigerweise, sondern nur unter bestimmten Umständen solche Praktiken darstellen, die tatsächlich auf die Ausarbeitung (und den Wandel) des Welt- und Selbstverhältnisses gerichtet sind. Unter welchen Bedingungen ein Weblog zu einem Raum der gestaltenden Ausarbeitung des eigenen Seins wird, kann ausgehend von der Analyse eines einzelnen Weblogs nicht valide bestimmt werden. Es lassen sich lediglich einige Vermutungen anstellen, die durch weitere Untersuchungen zu ergänzen und zu prüfen wären. Auffällig ist zunächst, dass sich die Positionen der ‚Gestalterin‘ und der ‚Haltlosigkeit‘ im Vergleich zu den Positionen der ‚Studentin‘ und des ‚Sozialen Wesens‘ einer festen und eindeutigen Zuschreibung entziehen. Dies gilt zum einen für den Status: Zwar wird in der Position der ‚Studentin‘ auf die eigene Desintegration hingewiesen, dennoch erscheint dieser Status als ‚Faktum‘, ohne die Möglichkeit oder Notwendigkeit einer Änderung dieses Status anzudeuten. In noch stärkerer Weise gilt diese Unhintergehbarkeit des Status für die Position des ‚Sozialen Wesens‘. Demgegenüber erscheint der Status sowohl bei der Position der ‚Gestalterin‘ als auch bei der Position der ‚Haltlosigkeit‘ als nicht-notwendig. Er resultiert im ersten Fall aus der Erfahrung, der erarbeiteten Kompetenz, der immer wieder erprobten Kreativität und der Energie, mit der das Hobby betrieben wird. Im zweiten Fall ist der Status unklar und zeigt sich eher in der Selbstungewissheit und dem Wunsch nach einem (äußeren) Halt. So unterschiedlich beide Positionen sind, zeichnet sich also eine Gemeinsamkeit darin ab, dass der Status als beeinflussbare, veränderliche Gegebenheit erscheint. Dem entspricht auch ein bestimmter Abstand zum ‚Diskursgegenstand‘. Während die Position der ‚Studentin‘ durch eine sehr große Distanz zum eigenen Sein gekennzeichnet ist und dieser Abstand bei der Position des ‚Sozialen Wesens‘ auf Null zu schrumpfen scheint, wird er in der Position der ‚Gestalterin‘ zwar als gering figuriert, dennoch fallen die eigene Position und der Gegenstand nicht völlig in eins. Ebenso ist der Abstand in der Position der ‚Haltlosigkeit‘ variabel. Auch hier gilt also, dass keine einseitigen Festlegungen erfolgen. Auffällig ist darüber hinaus, dass in den beiden Positionen der ‚Wandlung‘ die Anerkennungsverhältnisse besonders reichhaltig und variantenreich erscheinen, während die normativen Unterscheidungsraster demgegenüber zurücktreten. Bei den Positionen der ‚Studentin‘ und des ‚Sozialen Wesens‘ stellt sich dies genau umgekehrt dar. Eine letzte Gemeinsamkeit der beiden Positionen ergibt sich aus ihrer spezifischen ‚Teleologie‘: Sowohl in der Position der ‚Gestalterin‘ als auch in der Position der ‚Haltlosigkeit‘ werden Ziele der Selbstausarbeitung figuriert, die in sich widersprüchlich sind und eher Bewegungen des ‚Entzugs‘ in den Vordergrund stellen. Hinsichtlich 250

‚BILDUNG‘ IN AMBIVALENTEN SELBSTPRAKTIKEN

der Position der ‚Gestalterin‘ resultiert dieser Entzug aus dem Wunsch nach Nonkonformität und Unvorhersehbarkeit: Ein solches ‚Ziel‘ ist dadurch charakterisiert, dass es keinen positiven Referenzpunkt aufweist (‚so will ich sein‘), sondern negative Maßstäbe anlegt (‚so bin ich nicht‘). Als kohärent erscheint dieses ‚Ziel‘ also tatsächlich nur in Bezug auf das, was abgelehnt, nicht aber in Bezug auf das Sein, das angestrebt wird. Regelrecht widersprüchlich ist das ‚Ziel‘ der Ausarbeitung des eigenen Seins im Rahmen der Position der ‚Haltlosigkeit‘, insofern die Möglichkeiten des Haltgewinns ausschließlich als Momente des Entzugs inszeniert werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Untersuchung des Weblogs ‚Stadtelfe‘ keine Verallgemeinerungen, sondern nur die Rekonstruktion der ‚Typik‘ eines einzelnen Falles zulässt. Dieser ‚Typik‘ zufolge tritt das eigene Sein als Gegenstand der Wandlung vor allem im Zusammenhang mit dem Verzicht auf klare Raster, eindeutige Zuordnungen und definierte Zielvorgaben auf. Das Subjekt ist dann nicht eines der ‚Erkenntnis‘, das sich als feste Basis seiner Urteile und Zuschreibungen versteht, sondern eines der ‚Erfahrung‘, das sich jenseits der binären Logik von ‚Ermächtigung‘ und ‚Unterworfensein‘, Aktivität und Passivität aufhält (vgl. Masschelein 2004: 109). Allerdings ist mit dieser ‚Typik‘ noch nichts über den spezifischen Verlauf der Wandlungen gesagt. Insbesondere stellt sich die Frage, ob sich diese Wandlungen als ‚Bildungsprozesse‘ qualifizieren lassen. Im Rahmen der Rekonstruktion von Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses wurde dabei auf einen Widerspruch zwischen den beiden Positionen der ‚Gestalterin‘ und der ‚Haltlosigkeit‘ verwiesen: Während die ‚Gestalterin‘ dezidiert auf eine NichtFestlegbarkeit zielt, gilt die andere Position der – freilich widersprüchlichen – Suche nach Halt. Und diese Gegensätzlichkeit spiegelt sich teilweise durchaus auf der Ebene der Selbstpraktiken, die einmal primär auf die ständige Umgestaltung zielen, das andere Mal im Rahmen von ‚Selbsttests‘ eher die Frage nach der ‚Wahrheit‘ des eigenen Seins in den Vordergrund rücken. Doch es wäre voreilig, den ‚Gestaltwandel‘ und die ‚Haltsuche‘ mit Prozessen der Entsubjektivierung und der Subjektivierung gleichzusetzen. Besonders deutlich wird dies, wenn man demgegenüber auf die Spannungsmomente in den beiden Positionen schaut. Während die Position der ‚Haltlosigkeit‘ in der gegenläufigen Tendenz von Haltsuche und Entzug Spannungsmomente figuriert, erscheint die Position der ‚Gestalterin‘ als relativ spannungs- und krisenarm. Gegenstand der Ausarbeitung ist die ‚Oberfläche‘, die einem Formwandel ohne erkennbare Widerstände ausgesetzt ist: Es scheint fraglich, ob vor dem Hintergrund fehlender Spannungen ein ‚Anders-Werden‘ im Sinne eines kritischen Bezugs auf die Bedingungen des eigenen Seins überhaupt möglich ist. Doch auch hier wäre es wiederum voreilig, scheinbare Spannungen und Widerstände eher mit Entsubjektivierung zu verbinden und vermeintliche Spannungsarmut als Zeichen von Subjektivierung aufzufassen. Es zeigt sich viel251

ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

mehr, dass mit Blick auf die Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses nicht mit Gewissheit zu unterscheiden ist, ob es sich bei den genannten Wandlungen um Formen der Selbstvergewisserung oder um Momente des Entzugs aus Festschreibungen handelt. In beiden Fällen bleibt die ‚Qualität‘ des Wandels unklar. Im ersten Fall gilt er der ‚Oberfläche‘, ohne dass dabei ein klarer Zielpunkt erscheinen würde: Die Ausarbeitung als ‚nonkonform‘ wird auf Dauer gestellt und verzichtet auf die Entfaltung des Gegensatzpaares ‚Oberfläche vs. Tiefe‘, mit dem Spannungsmomente etabliert würden. Im zweiten Fall erscheint zwar ein klarer Zielpunkt des Wandels – nämlich: ‚Halt im Leben‘ – aber der Bewegung dorthin wird systematisch der Boden entzogen, ohne dass entscheidbar wäre, ob die damit gegebenen Spannungsmomente öffnend oder festschreibend wirken. Wandel stellt sich damit einmal als ein zielloses und bejahendes Gleiten von Oberfläche zu Oberfläche, einmal als sich selbst unterlaufender und damit nie abschließend zu vollziehender Positionswechsel dar. Ausgehend von diesem Ergebnis wurde im zweiten Teil der Untersuchung ein Versuch unternommen, durch die Betrachtung von Selbstpraktiken die Verlaufsformen des Wandels genauer in den Blick zu bekommen. Am Beispiel der Praktik des Zitierens wurde dabei gefragt, wie das Verhältnis zu sich und zur Welt gestaltet wird und wie diese Gestaltung auf das Verhältnis zur eigenen Differenz und zur konstitutiven Unbestimmbarkeit wirkt: schließend und festschreibend oder eröffnend und entunterwerfend. In der exemplarischen Analyse eines einzelnen Eintrags zeigte sich, dass der darin angesprochene Wandel nur vordergründig auf die Restitution einer als Ideal vorgestellten Innerlichkeit gerichtet ist. Denn mit der strategischen Modifikation des Märchenzitats scheint eine Unbestimmbarkeit auf, die sich zwar formal auf der Ebene des Symbolischen bewegt, jedoch gleichzeitig als ein strategisches Verhalten zur eigenen Seinsungewissheit gelesen werden kann. Mit der symbolischen Infragestellung des zitierten Ausrufs der Königstochter („ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!?“) wird der einen ‚richtigen‘ Lebensoption die Basis entzogen, indem das eigene Sein als prinzipiell andersmöglich vorgestellt wird. Damit erfolgt ein Entzug aus identifizierenden Festschreibungen zu Gunsten eines Offenhaltens möglicher (allerdings nicht näher ausgeführter) Alternativen. Es stellen sich jedoch zwei Fragen. Zum einen ließe sich der Analyse vorwerfen, dass sie in Bezug auf das gewählte Weblog nicht ‚valide‘ ist, da hinsichtlich der Selbstpraktik des Zitats nur ein Weblogeintrag exemplarisch ausgewählt wurde. Tatsächlich wäre es wünschenswert, die rekonstruierte Struktur des Entzugs und der Öffnung zusätzlich in anderen Einträgen zu prüfen. Doch auch ohne eine solche Prüfung wage ich die These, dass die Ana-

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‚BILDUNG‘ IN AMBIVALENTEN SELBSTPRAKTIKEN

lyse weiterer ‚Zitat-Einträge‘ zu ähnlichen Ergebnissen führen würde.37 Es ist beispielsweise auffällig, dass das Zitieren verschiedener – melancholischer oder zynischer – Gedichte und Songtexte im Weblog oft durch Kommentare begleitet wird, die darauf verweisen, dass die im Zitat beschriebenen Stimmungen gar nicht der Stimmung der Stadtelfe entsprächen. So heißt es nach der Wiedergabe zweier stimmungsvoller Gedichte von Theodor Kramer: „Aber keine Angst, sie [die Gedichte, JL] beschreiben keine gegenwärtigen Gefühle, ich find sie nur einfach schön.“ (12.08.04) In ähnlicher Weise zitiert die Stadtelfe aus den ‚sadopoetischen Gesängen‘ von Konstantin Wecker: [ August 11, 2004 | 02:37 ] [...] Mein linker Arm - Konstantin Wecker Ich habe meinen linken Arm in Packpapier gepackt und hab ihn nach Paris geschickt. Am 3. Mai zur Nacht hab ich ihn abgehackt, denn ich bin so verliebt. Es klebt noch nasses Blut dran, doch das stört mich nicht, das trocknet schnell und riecht auch ganz superb. Nonette freut sich sicher, denn ich glaube nicht, daß oft ein linker Arm versendet wird.... Ich bin nicht so krank, wie es scheint... noch nicht.

Auch hier ließe sich zeigen, dass symbolische Figurationen unterlaufen werden: Die Rede von einem „Ich“, das (noch) nicht so krank sei, wie „es“ scheint, spielt mit inszenierten Widersprüchen. Denn der vom „Ich“ als falsch bezeichnete Schein wird gleichzeitig von diesem selbst durch das Zitat hervorgerufen. Die Stadtelfe figuriert sich also als ‚krankes‘ „Ich“, das solche ‚sadopoetischen‘ Songs kennt und goutiert38, und zugleich als „Ich“, das sich zu dieser Inszenierung noch einmal verhält und ihr – ironisch abschwächend – den Boden entzieht. Und auch in weiteren Einträgen wird deutlich, dass die Praktik des Zitierens einen spezifischen Modus des strategischen Verhaltens zu ‚sich‘ als Differenz zwischen Figuration und unbestimmtem Selbst darstellt.

37 Was nicht heißt, dass Zitate nur in dieser Weise eingesetzt werden. Es finden sich auch andere Funktionen, wie z.B. die der Beschreibung des eigenen Lebens durch Zitate (vgl. z.B. 16.07.04 oder 26.08.04). 38 Einen Tag später zitiert die Stadtelfe eine weitere Strophe aus diesem Lied mit dem Kommentar „Heh, meine Lieblingsstrophe aus ‚Mein linker Arm‘“ (12.08.04).

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ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

Die zweite Frage ist demgegenüber schwieriger zu beantworten und betrifft das Geschehen der ‚Bildung‘. Geht man davon aus, dass sich in den Einträgen des Weblogs ein Verhalten zur eigenen Seinsungewissheit rekonstruieren lässt, so ist damit noch keinesfalls die Frage beantwortet, ob dies tatsächlich Anlass eines ‚Anders-Werdens‘ ist. Gerade in dem Eintrag vom 19. Mai scheint ein solches ‚Anders-Werden‘ nicht umgesetzt. Stattdessen zeigen sich lediglich die Öffnung von und der Entzug aus identifizierenden Festschreibungen. Dieses ‚Ergebnis‘ ist nun typisch für Versuche der rekonstruktiven Untersuchung von Bildungsprozessen, die in methodologischer Hinsicht dem ‚Konstitutions-‘ statt dem ‚Repräsentationsparadigma‘ folgen. Es wird zumeist kein sich vollziehender Bildungsprozess identifiziert, sondern lediglich das Potenzial einer sich möglicherweise anbahnenden ‚Bildung‘ bzw. dessen Blockade (vgl. z.B. Kokemohr 2004: 4f., Prawda/Kokemohr 1989: 266f., Koller 2002: 114, Koller 1999: 233)39. In analoger Weise könnte man auch für die analysierte Passage annehmen, dass sich mit den durch das hinzugefügte Fragezeichen ausgelösten Irritationen der symbolischen Figuration Bildungspotenziale zeigen, insofern zum einen ein Entzug aus der festschreibenden Identifizierung stattfindet, der zum anderen die Möglichkeit eines ‚Anders-Werdens‘ eröffnet. Dies ließe sich auch schlüssig damit begründen, dass „es sich bei Bildungsprozessen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um einmalige und sich instantan vollziehende Akte [handelt], die unmittelbar im Vollzug zu erfassen wären, sondern vielmehr um längerfristige Vorgänge“ (Koller 1999: 161). Allerdings läuft dieser Hinweis Gefahr, von dem entscheidenden Charakteristikum des vorgeschlagenen Bildungsbegriffs abzulenken: der Betonung des Moments eines irritierenden und destabilisierenden Aufscheinens von Seinsungewissheit gegenüber der Identifizierung neuer Welt- und Selbstverhältnisse. Denn wie bereits Menke mit seiner Unterscheidung von ‚Übung‘ und ‚Tätigkeit‘ deutlich macht, geht es gerade nicht in erster Linie um jene neu formierten Seinsbedingungen, sondern um das auf Dauer gestellte, ‚gefährliche‘ (weil einerseits zerstörerische und andererseits sich selbst aufs Spiel setzende) Grenzexperiment, das es ermöglicht, diese Bedingungen anders zu entwerfen. Dies meint jedoch nicht die fantasmatische Idee ewig sich entziehender Wandlungen: Natürlich kann und muss es in diesen Grenzexperimenten Neuentwürfe geben. Aber diese Entwürfe stehen per 39 Wobei Koller jeweils auch Beispiele ‚gelungener‘ Bildungsprozesse anführt (vgl. Koller 1999: 266, Koller 2002: 104). Allerdings schreibt er zugleich mit Verweis auf die Schwierigkeit einer Identifizierung von Bildungsprozessen: „Möglicherweise besteht Bildung ja viel eher in solchen Suchprozessen als darin, auf einer einmal gefundenen Formulierung oder Diskursart zu beharren. Das entscheidende Indiz eines Bildungsprozesses angesichts radikaler Pluralität wäre in diesem Fall also die rhetorische Öffnung (oder das rhetorische Sich-Offenhalten) für neue Selbstdefinitionen in einer von der beständigen Möglichkeit des Widerstreits geprägten Welt.“ (Koller 2002: 114)

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‚BILDUNG‘ IN AMBIVALENTEN SELBSTPRAKTIKEN

definitionem immer am Beginn einer erneuten Festschreibung, die sich im Folgenden wiederum auf ihre (machtförmigen) Akzeptabilitätsbedingungen und ihre (willkürlichen und gewaltsamen) Herkünfte hin befragen lassen muss. ‚Bildung‘ wird damit tatsächlich zu einem wiederholten Geschehen, dessen ‚Qualität‘ darin besteht, kritisch Möglichkeiten zu eröffnen und identifizierenden Festschreibungen den Boden zu entziehen, um das ‚Anders-Geworden-Sein‘ immer wieder durch Prozesse des ‚Anders-Werdens‘ zu verflüssigen.40 Vor diesem Hintergrund gilt das besondere Interesse den Auslösern oder Anstößen für solche Prozesse, in denen im Verhalten zur Seinsungewissheit die Bedingungen des eigenen Seins als anders-möglich entworfen werden. Solche Prozesse scheinen eher unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass mit ihnen immer auch die eigene Anerkennbarkeit riskiert wird. Leider lässt sich ausgerechnet über die Anstöße der im Weblog Stadtelfe rekonstruierten Prozesse des praktischen Entzugs aus Festschreibungen und der Eröffnung anderer Möglichkeiten wenig sagen. Geht man von den beiden Positionen der ‚Gestalterin‘ und der ‚Haltlosigkeit‘ aus, so findet sich im ersten Fall, abgesehen von der reinen Lust am Entwerfen und Gestalten der eigenen Person, kein ‚Anstoß‘ oder ‚Auslöser‘ einer solchen Bewegung. Im Rahmen der Position der ‚Haltlosigkeit‘ könnte man vielleicht am ehesten von einer Krisenerfahrung sprechen, die als ein sich in vielen Bereichen artikulierendes Unbehagen figuriert wird. Etwas weiter kommt man mit Blick auf den Eintrag vom 19. Mai, der diese beiden Momente zusammenzubringen scheint. Einerseits wird in dem Topos der Melancholie und der expliziten Kritik an der eigenen Undankbarkeit jenes Unwohlsein deutlich, das aber andererseits durch den ästhetischen Genuss an der Sprache und der allegorischen Ersetzung des sprechenden Ichs durch ein fiktives Text-Ich ergänzt wird. Man könnte also vermuten, dass hier beide Momente zusammenkommen: Problematisierung des eigenen Seins und Lust an der eigenen Gestaltung. Damit werden einige Grenzen der Untersuchung deutlich. Es müssten weitere Weblogs untersucht werden und zwar auch hinsichtlich verschiedener Arten der Selbstpraktik. Zudem wäre es notwendig, andere Sorten von Datenmaterial einzubeziehen, um beispielsweise die Frage stellen zu können, ob eher spannungsarme oder spannungsreiche, interaktive oder individuelle, konfliktreiche oder kooperative, institutionelle oder außerinstitutionelle Situationen zur Irritation des im Symbolischen gegebenen Welt- und Selbstverhältnis führen und somit ein ‚Anders-Werden‘ ermöglichen. Darüber hinaus ergibt sich noch eine Schwierigkeit, die sich aus der Art der theoretischen und methodischen Annäherung an das Geschehen von ‚Bildung‘ ergibt. Bereits zu 40 Allerdings gilt es zu prüfen, ob sich ein solcher Bildungsbegriff nicht ebenso widerstandslos in neoliberale Fantasien der Flexibilisierung und Selbsterfindung einfügen lässt (vgl. Masschelein/Ricken 2003).

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ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

Beginn der Arbeit wurde darauf verwiesen, dass mit den Theorien und Konzepten Michel Foucaults eine Folie zur Reformulierung des Bildungsbegriffs gewählt wurde, die nicht völlig kompatibel mit bildungstheoretischen Überlegungen ist. Wo, so müsste man rückblickend fragen, liegen nun tatsächlich die Möglichkeiten und Grenzen einer bildungstheoretischen Lektüre von Foucaults Schriften? Welche bildungstheoretischen Anregungen und Ergänzungen treten hervor und welche Problematik weist eine solche Analogie auf? Gezeigt wurde, dass sich alle vorgeschlagenen ‚Dimensionen‘ von Bildung im Anschluss an theoretische Überlegungen Michel Foucaults in produktiver Weise reformulieren lassen. Allerdings macht vor allem die Frage nach der Prozessstruktur des Bildungsgeschehens deutlich, dass die bildungstheoretische Lektüre der Schriften Foucaults an eine spezifische Grenze stößt. Sie liegt dort, wo es darum geht, Prozesse der Wandlung von Welt- und Selbstverhältnissen als Bildungsprozesse zu qualifizieren. Die sich gegenwärtig in der bildungstheoretischen Debatte abzeichnende Tendenz, die unhintergehbare Normativität des Bildungsbegriffs in Formen der ‚Kritik‘ umzuwenden, entspricht dem Anliegen Foucaults: Kritik erscheint dabei als grundlose Praxis, die eigene und fremde Geltungsansprüche in Frage stellt, indem sie sich den Bedingungen des eigenen Seins strategisch annähert und diese dabei als ‚anders-möglich‘ entwirft. Diese Praxis, so wurde deutlich, ist eine Selbstpraktik, die sich im ambivalenten Spannungsfeld von Subjektivierung und Entsubjektivierung bewegt. In bildungstheoretischer Hinsicht muss dabei unterschieden werden zwischen einer rein formalen Änderung des Welt- und Selbstverhältnisses und einem Wandel, der darüber hinaus als kritisch bezeichnet werden kann und somit dem Geschehen der ‚Bildung‘ genügt. Die Rede von der formalen Änderung meint, dass die Seinsbedingungen einem permanenten – mal stärkeren, mal geringeren – Wandel unterliegen, der sich notwendig auch auf die subjektiven Welt- und Selbstverhältnisse auswirkt bzw. neue Subjektpositionen hervorbringt. ‚Formaler Wandel‘ bedeutet also schlicht, dass sich etwas ändert. Der ‚kritische‘ Wandel des Welt- und Selbstverhältnisses meint demgegenüber ein ‚Anders-Werden‘, das sich in seinen Entwürfen auf bestimmte ethische Prinzipien bezieht, und verweist infolgedessen auf die Notwendigkeit zu erfassen, was genau sich ändert und wie der Prozess der Veränderung beschaffen ist. Eben diese qualifizierende Unterscheidung ist jedoch mit Foucault, obgleich er sie implizit einfordert, ausgesprochen schwierig zu denken. Das liegt, wie deutlich wurde, vor allem daran, dass Foucaults Interesse in erster Linie dem in der symbolischen Ordnung verfassten ‚medialen‘ Subjekt und dessen Konstitution gilt. Entsprechend erlaubt dies einen genauen theoretischen und analytischen Blick auf die symbolisch-soziale Figuration der Subjektivität als Welt- und Selbstverhältnis, der für empirische Untersuchungen reichhaltige methodische Anschlüsse bietet.

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‚BILDUNG‘ IN AMBIVALENTEN SELBSTPRAKTIKEN

Es finden sich jedoch kaum Anhaltspunkte für die Möglichkeit der genannten qualifizierenden Unterscheidung im Feld der ambivalenten Selbstpraktiken. An diese Grenze einer Reformulierung des Bildungsbegriffs im Anschluss an Foucault ist auch das hier dargestellte Unternehmen geraten. Mein Verweis auf das in Foucaults Schriften rekonstruierbare ‚Denken des Außen‘ (Gehring 1994) und auf die von bildungstheoretischer Seite aufgegriffene systematische Gegebenheit der ‚Seinsungewissheit‘ ist ein Versuch, mit und gegen Foucault über diese Grenzen hinaus zu gelangen. Vorgeschlagen wird damit der Bezug auf ein unbestimmtes ‚Etwas‘: eine prinzipielle Diskontinuität und Grundlosigkeit, die im Spiel der symbolischen Ordnung, also in den Diskurs-, Machtund Selbstpraktiken nicht aufgeht. ‚Bildung‘ wird demnach als ein Prozess gefasst, in dem durch Selbstpraktiken die im Symbolischen gegebene Subjektivität irritiert und ein ‚Anders-Werden‘ als Verhalten zur eigenen Seinsungewissheit möglich wird. Dieser Gedanke einer ‚Seinsungewissheit‘ lässt sich nun mit Foucaults eigenen Argumenten zwar einführen. Es stellt sich aber die Frage, ob hier nicht tatsächlich die Grenze der Lektüre von Foucault als einem ‚Bildungstheoretiker‘ erreicht wird. Da die Notwendigkeit eines Denkens der ‚Seinsungewissheit‘ erst am Ende meiner Arbeit deutlich wurde, konnte diese Frage noch nicht abschließend beantwortet werden. Vor allem zwei Bedenken wäre in einer solchen Antwort genauer nachzugehen: Das erste Bedenken gilt der Frage, ob es sich bei der Bildungstheorie nicht um einen spezifischen Theorietypus handelt, der mit Überlegungen, die diese Spezifik nicht aufgreifen, prinzipiell nicht korrelierbar ist. Alfred Schäfer verweist darauf, dass Bildungstheorie immer eines quasi metaphysischen Bezugspunktes bedürfe, der in sich unbestimmt bleibt. Als Beispiel eines solchen Bezugspunktes führt er die Kategorie der ‚Individualität‘ ein. Individualität werde immer nur in der Ordnung des Wissens entfaltet, verweise aber in sich darauf, dass sie gerade in solchen Ordnungen nicht aufgeht. Damit werde sie zum Bezugspunkt einer Abweisung von Ansprüchen sozialer und normalisierender Art. Eben solche letztlich leeren und unbestimmbaren Bezugspunkte machten es möglich, das Spezifische von ‚Bildung‘ zu thematisieren, da mit ihnen eine unschließbare Differenz zu den gegebenen Ordnungen des Wissens eröffnet werde. Jene Öffnung ermögliche positive Bestimmungsversuche von ‚Bildung‘, die sich gleichzeitig kritisch auf Versuche der Identifizierung und Festschreibung richteten (vgl. Schäfer 2005a). Im Zusammenhang einer Lektüre der Schriften Foucaults einen ‚metaphysischen‘ Bezugspunkt einzuführen scheint jedoch ausgesprochen gewagt, da Foucaults Anliegen ja gerade darin besteht, auf eine solche ‚Metaphysik‘ zu verzichten. Das zweite Bedenken betrifft die theoretischen Konsequenzen, wenn man von einer systematisch gegebenen Seinsungewissheit als Bezugspunkt von ‚Bildung‘ ausgeht. Denn damit wird eine Universalität eingeführt, die Foucault mit seinem Verweis auf (immer historische) „Herkünfte“ und „Entstehungspunkte“ strikt ablehnt. Der 257

ZUR EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG VON BILDUNGSPROZESSEN

universalistische Zugriff folgt aus dem Verweis auf eine konstitutive Seinsungewissheit, die als prinzipielle Voraussetzung von ‚Bildung‘ eingeführt wird. Der vorgeschlagene Bildungsbegriff wäre somit aus dem historischen Wandel von Konzepten und Begriffen herausgenommen: ‚Bildung‘ müsste demnach immer auf diese Seinsungewissheit als universelle anthropologische Struktur (vgl. Ricken 2004: 139) bezogen sein. Auch hier wäre zu fragen, ob eine solche Perspektive noch mit Foucault vereinbar scheint. Doch trotz dieser erkennbaren Grenzen lässt sich festhalten, dass die Konzepte Foucaults reichhaltige bildungstheoretische Anregungen bieten. Diese liegen zunächst in einer strikten Ablehnung dichotomer Denkmuster. Auf Basis der von Foucault herausgearbeiteten ambivalenten Spannungsmomente zwischen Subjektivierung und Entsubjektivierung, Aktivität und Passivität, ‚Experiment‘ und ‚Erfahrung‘ lässt sich ‚Bildung‘ als ein Geschehen denken, das sich weder im Sinne einer Bewegung von einem Zustand A über eine Phase der ‚Krise‘ zu einem Zustand B vollzieht, noch in einer kumulativen Anhäufung von Wissen und Kompetenz besteht. Bildungsprozesse lassen sich stattdessen als Effekte von Selbstpraktiken verstehen, in denen Seinsungewissheit aufscheint und Möglichkeiten eines Verhaltens zu dieser Seinungewissheit entworfen werden, die nicht mittels einer Identifizierung und Selbstvergewisserung auf eine Abwehr dieser Selbstdifferenz zielen. ‚Bildung‘ bedeutet demzufolge auch den Verzicht auf Souveränität, Autonomie und Herrschaftsfantasien und erfordert damit eine Haltung, die sich dem Anderen und Fremden aussetzt (vgl. Masschelein 2004: 107 und Ricken 2004: 135ff.). Bereichernd für bildungstheoretische Überlegungen erscheint auch Foucaults Konzeption des Machtbegriffs, die es erlaubt, einen differenzierten Blick auf Machtverhältnisse zu richten, ohne Macht dabei auf das schlichte Gegenüber von Freiheit oder auf ein zu besitzendes Gut zu reduzieren. Sogar das Bildungskonzept selbst lässt sich damit auf seine Verstrickungen in Machtprozeduren hin befragen. Doch nicht nur an Foucaults Machtbegriff lässt sich in analytischer Hinsicht anknüpfen. Foucaults theoretische Konzepte bieten insgesamt vielfältige methodische Hinweise, die die Basis meines empirischen Zugriffs bilden. Foucaults ‚Methodik‘ verleugnet dabei nicht die strategische Zurichtung ihres Gegenstandes, sondern versteht diese konsequent als notwendiges Moment von (theoretischer wie empirischer) Praxis. In besonderer Weise produktiv für die Reformulierung des Bildungsbegriffs erscheint zuletzt das Konzept der ‚Selbstpraktiken‘. Foucault zufolge gestatten solche Praktiken den Individuen, „selbst eine Reihe von Operationen mit ihrem Körper, ihrer Seele, ihren Gedanken, ihrem Verhalten vorzunehmen, sie auf diese Weise zu verwandeln oder zu verändern“ (Foucault 2005c: 210). Der Verweis auf Selbstpraktiken als entscheidender Anstoß und Modus von Bildungsprozessen erlaubt eine Dynamisierung bildungstheoretischer Konzepte. Welt- und Selbstverhältnisse sind vor diesem Hintergrund nicht mehr 258

‚BILDUNG‘ IN AMBIVALENTEN SELBSTPRAKTIKEN

als statische ‚Figuren‘ zu verstehen, sondern sie artikulieren sich in und als Praktiken. Jede Haltung und jedes Schema des Denkens, Handelns und Wahrnehmens bildet sich in solchen Praktiken als „Übung in Gedanken und der Übung in der Realität, meleté und gymnasia“ (Foucault 2005n: 987). Vor diesem Hintergrund sind Welt- und Selbstverhältnisse in sich als Welt- und Selbstpraktiken und damit als prozessual zu fassen, und zwar als ein Prozess, in dem die übliche Trennung von körperlichen und geistigen Akten nicht mehr zureichend ist. Selbstpraktiken stellen dabei kulturelle Praktiken dar, wie beispielsweise Schreiben, Lesen, Meditation, Malen, Musizieren, Dichten, Ernährung, Sport, Riten und Zeremonien, die „in sämtlichen Kulturen in verschiedenen Formen gefunden werden können“ (Foucault 2005g: 495). Demzufolge lässt sich annehmen, dass kulturelle Selbstpraktiken in spezifischer Weise ‚bildungsrelevant‘ sind. Nimmt man diesen Verweis auf den ‚bildenden‘ Charakter kultureller Selbstpraktiken ernst, so könnte dies auch Auswirkungen auf institutionalisierte Lehr-Lern-Prozesse und auf außerinstitutionelle Bildungsangebote haben. Jenseits eines auf kanonisierten ‚Kulturgütern‘ und Wissensmodulen basierenden Curriculums müssten kulturelle Praktiken die Möglichkeit einer individuellen Erfahrung bieten: „Zu den Hauptfunktionen des Bildungswesens gehört neben der Bildung des Einzelnen die Bestimmung seiner gesellschaftlichen Stellung. Heute müsste man diese Funktion so ausgestalten, dass der Einzelne die Möglichkeit hat, sich nach seinen Wünschen zu verändern, und das ist nur möglich, wenn Bildung zu einem ‚permanenten‘ Angebot wird.“ (Foucault 2005b: 135) Dass auch ein solcher auf ambivalenten ‚kulturellen Selbstpraktiken‘ begründeter Bildungsbegriff nicht voraussetzungslos ist, darf dabei freilich nicht übersehen werden.

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LITERATUR

Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 259-274 Lemke, Thomas 2005: Analytik der Macht, Frankfurt am Main: Suhrkamp Lenzen, Dieter 1997: Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab?, in: Zeitschrift für Pädagogik 1997, Heft 6, S. 949-968 Lenzen, Dieter 2000: „Bildung im Kontext – eine nachgetragene Beobachtung“, in: Dietrich, Cornelie; Müller, Hans-Rüdiger (Hrsg.): „Bildung und Emanzipation – Klaus Mollenhauer weiterdenken“, Weinheim und München: Juventa, S. 73-86 Liesner, Andrea 2002: Zwischen Weltflucht und Herstellungswahn. Bildungstheoretische Studien zur Ambivalenz des Sicherheitsdenkens von der Antike bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann Liesner, Andrea 2004: Von kleinen Herren und großen Knechten. Gouvernementalitätstheoretische Anmerkungen zum Selbständigkeitskult in Politik und Pädagogik, in: Ricken, Norbert; Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden: VS, S. 285-300 Liesner, Andrea; Wimmer, Michael 2003: Der Umgang mit Ungewissheit. Denken und Handeln unter Kontingenzbedingungen, in: Helsper, Werner; Hörster, Reinhard; Kade, Jochen (Hrsg.): Ungewissheit, Weilerswist: Velbrück, S. 23-49 Link, Jürgen 1999: Diskursive Ereignisse, Diskurse, Interdiskurse: Sieben Thesen zur Operativität der Diskursanalyse, am Beispiel des Normalismus, in: Bublitz et al. 1999 (Hrsg.): Das Wuchern der Diskurse: Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt am Main: Campus, S. 148161 Lohmann, Ingrid 2000: Bildung und Eigentum. Über zwei Kategorien der kapitalistischen Moderne, in: Abeldt, Sönke; Bauer, Walter et al. (Hrsg.): „...was es bedeutet, verletzbarer Mensch zu sein“. Erziehungswissenschaft im Gespräch mit Theologie, Philosophie und Gesellschaftstheorie, Mainz: Grünewald, S. 267-276 Lohmann, Ingrid; Rilling, Rainer 2002 (Hrsg.): Die verkaufte Bildung: Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schule, Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaft, Opladen: Leske + Budrich Lohmöller, Bö 2005: Blogs sind? Blogs sind!, in: Lehmann, Kai; Schetsche, Michael (Hrsg.): Die Google-Gesellschaft. Vom digitalen Wandel des Wissens, Bielefeld: transcript, S. 221-228 Lüders, Jenny 2004: Bildung im Diskurs. Bildungstheoretische Anschlüsse an Michel Foucault, in: Pongratz, Ludwig A.; Nieke, Wolfgang; Masschelein, Jan (Hrsg.): Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Perspektiven der Pädagogik, Wiesbaden: VS, S. 50-69

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

Lyon, David 1994: The Electronic Eye. The Rise of Surveillance Society, Cambridge/Oxford: Polity Press Marotzki, Winfried 1990: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, Marotzki, Winfried 1991: Aspekte einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, in: Hoffmann, Dietrich; Heid, Helmut (Hrsg.): Bilanzierungen erziehungswissenschaftlicher Theorieentwicklung, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 119-134 Marotzki, Winfried 2000a: Transformation der Identität. Einige anthropologische und ethische Dimensionierungen angesichts neuer technologischer Herausforderungen, in: Abeldt, Sönke; Bauer, Walter et al. (Hrsg.): „ …was es bedeutet, verletzbarer Mensch zu sein“. Erziehungswissenschaft im Gespräch mit Theologie, Philosophie und Gesellschaftstheorie, Mainz: Grünewald, S. 472-482 Marotzki, Winfried 2000b: Neue kulturelle Vergewisserung: Bildungstheoretische Perspektiven des Internet, in: Marotzki, Winfried; Sandbothe, Mike (Hrsg.): Subjektivität und Öffentlichkeit. Kulturwissenschaftliche Grundlagenprobleme virtueller Welten, Köln: Halem, S. 236-258 Marotzki, Winfried; Neumann-Braun, Klaus 2000: Qualitative Internetforschung – Einführung in den Themenschwerpunkt, in: Zeitschrift für Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 2000, Heft 2, S. 147-149 Marotzki, Winfried; Nohl, Arnd-Michael 2004: Bildungstheoretische Dimensionen des Cyberspace, in: Thiedeke 2004 (Hrsg.): Soziologie des Cyberspace. Medien, Strukturen und Semantiken, Wiesbaden: VS Verlag, S. 335-354 Marotzki, Winfried; Nohl, Arnd-Michael; Ortlepp, Wolfgang 2003: Bildungstheoretisch orientierte Internetarbeit am Beispiel der universitären Lehre, in: MedienPädagogik 2003, Heft 1, www.medienpaed.com/031/marotzki03-1.pfd (10.11.05) Marotzki, Winfried; Sandbothe, Mike (Hrsg.) 2000: Subjektivität und Öffentlichkeit. Kulturwissenschaftliche Grundlagenprobleme virtueller Welten, Köln: Halem Marti, Urs 1988: Michel Foucault, München: Beck Masschelein, Jan 2003: Trivialisierung von Kritik. Kritische Erziehungswissenschaft weiterdenken, in: Zeitschrift für Pädagogik 2003, 46. Beiheft, S. 124-141 Masschelein, Jan 2004: ‚Je viens de voir, je viens d’entendre‘. Erfahrungen im Niemandsland, in: Ricken, Norbert; Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden: VS, S. 95-115

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LITERATUR

Masschelein, Jan; Ricken, Norbert 2003: Do We (Still) Need the Concept of Bildung?, in: Educational Philosophy and Theory 2003, Vol. 35, No. 2, S. 139-154 Masschelein, Jan; Wimmer, Michael 1996: Einleitung. Alterität Pluralität Gerechtigkeit und der Einsatz der Dekonstruktion in der Pädagogik, in: dies. (Hrsg.): Alterität Pluralität Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, Academia Leuven University Press, S. 7-23 Meder, Norbert 1996: Der Sprachspieler. Ein Bildungskonzept für die Informationsgesellschaft, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 1996, Heft 2, S. 145-162 Meder, Norbert 2001: Möglichkeiten und Unmöglichkeiten pädagogischer Zukunftsantizipationen, in: Nieke, Wolfgang; Masschelein, Jan; Ruhloff, Jörg (Hrsg.): Bildung in der Zeit. Zeitlichkeit und Zukunft – pädagogisch kontrovers, Weinheim und Basel: Beltz, S. 39-52 Menke, Christoph 2003: Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz, in: Honneth, Axel; Saar, Martin (Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 283-299 Mertz, Tabea 1997: Krisis der Bildung. Zur Postmoderne-Rezeption in der bildungstheoretischen Diskussion, Essen: Verlag Die Blaue Eule Metzler Philosophie Lexikon 19992: Begriffe und Definitionen, hrsg. von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard, Stuttgart: Metzler Meyer, Torsten 2002: Interfaces, Medien, Bildung. Paradigmen einer pädagogischen Medientheorie, Bielefeld: transcript Meyer-Drawe 2005: „Du sollst Dir kein Bildnis noch Gleichnis machen …“. Bildung und Versagung, Vortrag am 9. Oktober auf dem Symposion zur Emeritierung von Rainer Kokemohr vom 07.10. - 09.10.2005 in Hamburg (unveröffentlichtes Manuskript) Meyer-Drawe, Käte 1990a: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich, München: Kirchheim Meyer-Drawe, Käte 1990b: Provokationen eingespielter Aufklärungsgewohnheiten durch „postmodernes Denken“, in: Krüger, Heinz-Hermann (Hrsg.): Abschied von der Aufklärung. Perspektiven der Erziehungswissenschaft, Opladen: Leske + Budrich, S. 81-90 Meyer-Drawe, Käte 1991: Das „Ich als die Differenz der Masken“. Zur Problematik autonomer Subjektivität, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 1991, Heft 4, S. 390-400 Meyer-Drawe, Käte 1996: Versuch einer Archäologie des pädagogischen Blicks, in: Zeitschrift für Pädagogik 1996, Heft 5, S. 655-664 Meyer-Drawe, Käte 1998: Streitfall „Autonomie“. Aktualität, Geschichte und Systematik einer modernen Selbstbeschreibung von Menschen, in: Bauer,

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

Walter; Lippitz, Wilfried; Marotzki, Winfried et al. (Hrsg.): Jahrbuch für Bildungs- und Erziehungsphilosophie, S. 31-49 Meyer-Drawe, Käte 1999: Zum metaphorischen Gehalt von „Bildung“ und „Erziehung“, in: Zeitschrift für Pädagogik 1999, Heft 2, S. 161-175 Mitchell, William J. 1996: City of Bits – Leben in der Stadt des 21. Jahrhunderts, Berlin: Birkhäuser Mollenhauer, Klaus 1983: Vergessene Zusammenhänge: über Kultur und Erziehung, München: Juventa Verlag Mollenhauer, Klaus 19964: Bildung, ästhetische, in: Lenzen, Dieter (Hrsg.): Pädagogische Grundbegriffe. Band 1: Aggression bis Interdisziplinarität, Reinbek: rowohlt, S. 222-229 Mollenhauer, Klaus 2000: „Über die Schwierigkeit, von Leuten zu erzählen, die nicht recht wissen, wer sie sind“. Einige bildungstheoretische Motive in Romanen von Thomas Mann, in: Dietrich, Cornelie; Müller, Hans-Rüdiger (Hrsg.): „Bildung und Emanzipation – Klaus Mollenhauer weiterdenken“, Weinheim und München: Juventa, S. 49-71 Möller, Erik 2005: Heimliche Medienrevolution: wie Weblogs, Wikis und freie Software die Welt verändern, Hannover: Heise Nagl-Docekal, Herta; Vetter, Helmuth (Hrsg.) 1987: Tod des Subjekts? Wien und München: Oldenbourg Nieke, Wolfgang; Masschelein, Jan; Ruhloff, Jörg (Hrsg.) 2001: Bildung in der Zeit. Zeitlichkeit und Zukunft – pädagogisch kontrovers, Weinheim und Basel: Beltz Nietzsche, Friedrich 1999 (1887): Zur Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: de Gruyter Nohl, Arnd-Michael 2001: Qualitative Bildungsforschung und Pragmatismus. Empirische und theoretische Reflexionen zu Bildungs- und Wandlungsprozessen, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2001, Heft 4, S. 605623 Nohl, Arnd-Michael 2002: Personale und soziotechnische Bildungsprozesse im Internet, in: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 2002, Heft 2, S. 215-240 Peukert, Helmut 1976: Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Düsseldorf: Patmos-Verlag Peukert, Helmut 1998: Zur Neubestimmung des Bildungsbegriffs, in: Meyer, Meinert; Reinartz, Angela (Hrsg.): Bildungsgangdidaktik, Opladen: Leske + Budrich, S. 17-24 Peukert, Helmut 2000: Reflexionen über die Zukunft von Bildung, in: Zeitschrift für Pädagogik 2000, Heft 4, S. 507-524

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LITERATUR

Pleines, Jürgen-Eckhardt 1989: Studien zur Bildungstheorie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Plett, Heinrich F. 2000: Systematische Rhetorik. Konzepte und Analysen, München: Fink Pongratz, Ludwig 1988: Bildung und Alltagserfahrung – Zur Dialektik des Bildungsprozesses als Erfahrungsprozess, in: Hansmann, Otto; Marotzki, Winfried (Hrsg.): Diskurs Bildungstheorie I. Systematische Markierungen, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 293-310 Pongratz, Ludwig 1989: Pädagogik im Prozess der Moderne: Studien zur Sozial- und Theoriegeschichte der Schule, Weinheim: Deutscher Studien Verlag Pongratz, Ludwig 1990: Schule als Dispositiv der Macht – pädagogische Reflexionen im Anschluß an Michel Foucault, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 1990, Heft 3, S. 289-308 Pongratz, Ludwig 2004: Freiwillige Selbstkontrolle. Schule zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft, in: Ricken, Norbert; Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden: VS, S. 243-259 Pongratz, Ludwig; Wimmer, Michael; Nieke, Wolfgang; Masschelein, Jan 2004 (Hrsg.): Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Perspektiven der Pädagogik, Wiesbaden: VS Reh, Sabine 2003: Berufsbiographische Texte ostdeutscher Lehrer und Lehrerinnen als "Bekenntnisse": Interpretationen und methodologische Überlegungen zur erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt Reichenbach, Roland 1997: Bildung als Ethos der Differenz, in: Koch, Lutz; Marotzki, Winfried; Schäfer, Alfred (Hrsg.): Die Zukunft des Bildungsgedankens, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 121-141 Reichenbach, Roland 2001: Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt. Demokratische Bildung und Erziehung in der Spätmoderne, Münster: Waxmann Rheingold, Howard 1992: Virtuelle Welten. Reisen im Cyberspace, Reinbek: Rowohlt Ricken, Norbert 1999a: Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen Diskurs, Würzburg: Königshausen & Neumann Ricken, Norbert 1999b: Subjektivität und Kontingenz. Pädagogische Anmerkungen zum Diskurs menschlicher Selbstbeschreibungen, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 1999, Heft 2, S. 208-237 Ricken, Norbert 2004: Die Macht der Macht – Rückfragen an Michel Foucault, in: Ricken, Norbert; Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden: VS, S. 119-143

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

Ricken, Norbert; Rieger-Ladich, Markus 2004 (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden: VS Ricken, Norbert; Rieger-Ladich, Markus 2004: Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden: VS, S. 7-13 Rieger, Markus 1997: Ästhetik der Existenz? Eine Interpretation von Michel Foucaults Konzept der ‚Technologien des Selbst‘ anhand der ‚Essais‘ von Michel de Montaigne, Münster: Waxmann Rieger-Ladich, Markus 2002: Müdigkeit als Pathosformel: Beobachtungen zur pädagogischen Semantik, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft Rieger-Ladich, Markus 2004: Unterwerfung und Überschreitung: Michel Foucaults Theorie der Subjektivierung, in: Ricken, Norbert; Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden: VS, S. 203-223 Ruhloff, Jörg 1980: Das ungelöste Normproblem der Pädagogik, Heidelberg: Quelle & Meyer Ruhloff, Jörg 2000: Wie ist ein nicht-normativer Bildungsbegriff zu denken?, in: Dietrich, Cornelie; Müller, Hans-Rüdiger (Hrsg.): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken, Weinheim und München: Juventa, S. 117-125 Ruhloff, Jörg 2003: Problematisierung von Kritik in der Pädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik 2003, 46. Beiheft, S. 111-123 Runkehl, Jens; Schlobinski, Peter; Siever, Torsten 1998: Sprache und Kommunikation im Internet, Opladen: Westdeutscher Verlag Sattler, Elisabeth 2003: Bildung, die an der Zeit ist. Diverse, vielleicht diversifizierende Bemerkungen zu bildungstheoretischen Entwürfen, Wien: Universitätsverlag Schäfer, Alfred 1993: Selbstkritik und Autonomie? Überlegungen zu einem problematisch gewordenen Selbstverständnis, in: Koch, Lutz; Marotzki, Winfried; Peukert, Helmut (Hrsg.): Revision der Moderne? Beiträge zu einem Gespräch zwischen Pädagogik und Philosophie, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 41-56 Schäfer, Alfred 1996a: Autonomie – zwischen Illusion und Zumutung, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 1996, Heft 2, S. 175189 Schäfer, Alfred 1996b: Das Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion, Weinheim: Deutscher Studien Verlag Schäfer, Alfred 1999a: Unsagbare Identität. Das Andere als Grenze der Selbstthematisierung der Batemi (Sonjo), Berlin: Reimer Schäfer, Alfred 1999b: Unbestimmte Transzendenz. Bildungsethnologische Betrachtungen zum Anderen des Selbst, Opladen: Leske + Budrich

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LITERATUR

Schäfer, Alfred 2001: Bildende Fremdheit, Vortrag an der Universität Dortmund im Rahmen der Ringvorlesung „Wie ist Bildung möglich?“ (Organisation: Lothar Wigger) am 9. Mai 2001 (unveröffentlichtes Manuskript) Schäfer, Alfred 2004a: „Die Seele: Gefängnis des Körpers“. Überlegungen zur Säkularisierungsproblematik bei Michel Foucault, in: Pongratz, Ludwig A.; Nieke, Wolfgang; Masschelein, Jan (Hrsg.): Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Perspektiven der Pädagogik, Wiesbaden: VS, S. 97-113 Schäfer, Alfred 2004b: Bildungsforschung: Annäherung an eine Empirie des Unzugänglichen. Vortrag auf der Jahrestagung der Kommission Bildungsund Erziehungsphilosophie zum Thema „Bildungsphilosophie und Bildungsforschung“ vom 29.09. - 1.10.2004 in Witten-Bommerholz (unveröffentlichtes Manuskript) Schäfer, Alfred 2004c: Das Unsichtbare sehen. Zur Initiation in einen Voodoo-Maskenbund, Münster: Waxmann Schäfer, Alfred 2005a: Individualität – Allgemeine Bildung als Gegenentwurf zur Normalisierung, Vortrag auf der 3. Tagung der Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft zum Thema „Elitenbildung – Bildungselite“ vom 6.4. - 8.4.2005 in Gießen (unveröffentlichtes Manuskript) Schäfer, Alfred 2005b: Bildungsprozesse – zwischen erfahrener Dezentrierung und objektivierender Analyse. Vortrag am 9. Oktober auf dem Symposion zur Emeritierung von Rainer Kokemohr vom 7.10. - 9.10.2005 in Hamburg (unveröffentlichtes Manuskript) Schäfer, Thomas 1995: Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp Schmitz, Gabriella 2004: Auswahlbibliographie zur Michel Foucault-Rezeption, in: Ricken, Norbert; Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden: VS, S. 303-310 Schütz, Egon 1992: Macht und Ohnmacht der Bildung, Weinheim: Deutscher Studienverlag Schweitzer, Friedrich 1988: Identität statt Bildung? Zum Wandel pädagogischer Leitbegriffe, in: Hansmann, Otto; Marotzki, Winfried (Hrsg.): Diskurs Bildungstheorie I. Systematische Markierungen, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 55-73 Sennelart, Michel 2004: Situierung der Vorlesungen Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (1978) und Die Geburt der Biopolitik (1979), in: Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, herausgegeben von Michel Sennelart, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 527-571

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AMBIVALENTE SELBSTPRAKTIKEN

Stegbauer, Christian 2000: Von den Online Communities zu den computervermittelten sozialen Netzwerken. Eine Reinterpretation klassischer Studien, in: Zeitschrift für Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 2000, Heft 2, S. 151-173 Stroß, Annette M. 19942: Ich-Identität – eine pädagogische Fiktion der Moderne?, in: Hoffmann, Dietrich; Langewand, Alfred; Niemeyer, Christian (Hrsg.): Begründungsformen der Pädagogik in der ‚Moderne‘, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 261-277 Sünker, Heinz 1996: Kritische Bildungstheorie – Jenseits von Markt und Macht?, in: Zeitschrift für Pädagogik 1996, 35. Beiheft, S. 185-201 Tapscott, Don 1998: Net Kids. Die digitale Generation erobert Wirtschaft und Gesellschaft, Wiesbaden: Gabler Tenorth, Heinz-Elmar 1997: „Bildung“ – Thematisierungsformen und Bedeutung in der Erziehungswissenschaft, in: Zeitschrift für Pädagogik 1997, Nr. 6, S. 969-984 Thiedeke 2000 (Hrsg.): Virtuelle Gruppen. Charakteristika und Problemdimensionen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Thiedeke 2004 (Hrsg.): Soziologie des Cyberspace. Medien, Strukturen und Semantiken, Wiesbaden: VS Thompson, Christiane 2004: Diesseits von Authentizität und Emanzipation. Verschiebungen kritischer Erziehungswissenschaft zu einer ‚kritischen Ontologie der Gegenwart‘, in: Ricken, Norbert; Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden: VS, S. 3956 Turkle, Sherry 1998: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Reinbek: Rowohlt Visker, Rudi 1991: „Michel Foucault“. Genealogie als Kritik, München: Fink Vogel, Peter 19962: Von Umfang und Grenzen der Lernfähigkeit empirischanalytischer und systematischer Pädagogik, in: Hoffmann, Dietrich (Hrsg.): Bilanz der Paradigmendiskussion in der Erziehungswissenschaft. Leistungen, Defizite, Grenzen, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 17-30 Vogt, Rüdiger 1998: Lehrer Macht Unterricht. Zur Normalitätskonstitution im Klassenzimmer, in: OBST (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie), Nr. 57, S. 117-136 Waldenfels, Bernhard 1983: Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt am Main: Suhrkamp Waldenfels, Bernhard 1987: Ordnung im Zwielicht, Frankfurt am Main: Suhrkamp Waldenfels, Bernhard 1991: Michel Foucault: Ordnung in Diskursen, in: Ewald, François; Waldenfels, Bernhard (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 277-297 276

LITERATUR

Wenzel, Ulrich 2000: Computergestützte Kommunikation zwischen Interaktion und Interaktivität, in: Zeitschrift für Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 2000, Heft 2, S. 175-185 Wijnia, Elmine 2004: Understanding Weblogs: a communicative perspective. Gekürzte Version der Masterarbeit „Een goed gesprek onder miljoenen ogen: het weblog als knooppunt voor on line interactie“ an der Universiteit Enschede, http://elmine.wijnia.com/weblog/archives/scriptie_ elminewijnia.pdf (17.02.05) Wimmer, Michael 1996a: Von der Identität als Norm zur Ethik der Differenz. Kritik, Dekonstruktion und Verantwortung, in: Masschelein, Jan; Wimmer, Michael (Hrsg.): Alterität Pluralität Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, Leuven: Academia Leuven University Press, S. 25-58 Wimmer, Michael 1996b: Die Gabe der Bildung, in: Wimmer, Michael; Masschelein, Jan (Hrsg.): Alterität Pluralität Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, Leuven: Academia Leuven University Press, S. 127-162 Winokur, Mark 2003: The Ambigous Panopticon: Foucault and the Codes of Cyberspace, http://www.ctheory.net/text_file.asp?pick=371 (23.03.05)

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Theorie Bilden Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung Interdisziplinäre Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse April 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-588-X

Katharina Willems Schulische Fachkulturen und Geschlecht Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole? März 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-688-6

Andrea Sabisch Inszenierung der Suche Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch. Entwurf einer wissenschaftskritischen Grafieforschung Februar 2007, ca. 330 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN: 3-89942-656-8

Jenny Lüders Ambivalente Selbstpraktiken Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs

Michael Wimmer Dekonstruktion und Erziehung Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik September 2006, 420 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 3-89942-469-7

Bettina Suthues Umstrittene Zugehörigkeiten Positionierungen von Mädchen in einem Jugendverband April 2006, 296 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-489-1

Peter Faulstich (Hg.) Öffentliche Wissenschaft Neue Perspektiven der Vermittlung in der wissenschaftlichen Weiterbildung Januar 2006, 244 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-455-7

Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Grenzgänge Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane 2005, 178 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 3-89942-286-4

Januar 2007, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-599-5

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Theorie Bilden Jürgen Budde Männlichkeit und gymnasialer Alltag Doing Gender im heutigen Bildungssystem 2005, 268 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-324-0

Andrea Liesner, Olaf Sanders (Hg.) Bildung der Universität Beiträge zum Reformdiskurs 2005, 164 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-316-X

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de