Der Mensch hat seit seiner Entstehung und Entwicklung in Afrika einen langen Weg nach Mitteleuropa hinter sich: Er wande
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German Pages 232 [233] Year 2018
Table of contents :
Deckblatt
Titelseite
Impressum
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung: Eine Gebrauchsanleitung für das Buch
2 Die Anfänge der Archäologie des Paläolithikums
3 Von den ersten Menschen bis zu Homo sapiens
4 Die frühesten Kulturen in Afrika
5 Das Acheuléen: Migrationen bringen die ältesten Kulturen in die Mitte Europas
6 Methodisches Intermezzo: Wie wurden Faustkeile gemacht?
7 Das Jahrtausend-Objekt: Der Faustkeil von Salzuflen
8 Mittelpaläolithikum in Europa: Vom Heidelberger bis zum Neandertaler
9 Mittelpaläolithische Migrationen? Das Levallois- Konzept verbindet Afrika und Europa
10 Kulturen des Neandertalers: Moustérien und Micoquien
11 Neandertaler in ihrer Landschaft
12 Der so genannte Übergang: die spätmittelpaläolithischen Blattspitzen
13 Von der Savanne in die Mammutsteppe: der Weg des modernen Menschen von Afrika nach Europa
14 Angekommen: das Jungpaläolithikum in der Mitte Europas
15 »Homo migrans«: Zwei Millionen Jahre Migration
Danksagung
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Richter, Altsteinzeit 6.11.17
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Jürgen Richter
Altsteinzeit Der Weg der frühen Menschen von Afrika bis in die Mitte Europas
Verlag W. Kohlhammer
Richter, Altsteinzeit 6.11.17
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Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind. Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
Titelbild: Carolin Reintjes
1. Auflage 2018 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-033676-6 E-Book-Formate: pdf: ISBN 978-3-17-033677-3 epub: ISBN 978-3-17-034410-5 mobi: ISBN 978-3-17-034411-2 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
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Inhaltsverzeichnis
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1 Einführung: Eine Gebrauchsanleitung für das Buch
»Paläolithikum« (Ältere Steinzeit oder Altsteinzeit) bezeichnet den ältesten Abschnitt der Menschheitsgeschichte von 2,5 Millionen Jahre vor heute bis etwa 10 000 Jahre vor heute, in dem alle Menschen als wandernde Jäger und Sammler lebten. Bisher gab es im deutschsprachigen Raum noch keine Einführung, die den Fachbegriff »Paläolithikum« im Titel führt, vielleicht klang er doch zu sperrig. Das hat sich aber spätestens seit der Ausbreitung der Paleo-diet-Bewegung1 geändert. Viele Menschen sind seitdem, z. B. auch bei ihrer Suche nach einer gesunden Ernährung, auf das Paläolithikum aufmerksam geworden. Berührungsängste mit dem scheinbar sperrigen Begriff dürften also der Vergangenheit angehören. Das Buch möchte zur Beschäftigung mit dem Paläolithikum anregen, und es liefert Informationen dazu, die ich sehr subjektiv ausgewählt habe. Dabei ist keine Faktensammlung herausgekommen, die irgendwie vollständig sein könnte. Das Buch von Anfang bis Ende durchzulesen, ist möglich, doch vielleicht nicht ausnahmslos empfehlenswert – es kann auch von hinten nach vorn oder schmökernd genutzt werden. Man kann es sich auch als eine Art Führung durch ein imaginäres Museum vorstellen, das mit seinen Räumen und Gängen den Weg, der im Untertitel angekündigt ist, einigermaßen abbildet. Gleichzeitig soll es auch als Begleitbuch zur Ausstellung 2 Millionen Jahre Migration dienen, die im Mai 2017 im Neanderthal Museum in Mettmann begann.2 Viele der angesprochenen Themen habe ich in den letzten Jahren in Aufsätzen und Buchbeiträgen behandelt, aus denen vieles übernommen und nun in den großen Zusammenhang einer »Erzählung« über die »Wege der frühen Menschen« gestellt wird.3 Der Großteil dieser Erzählung basiert aber auf den Forschungen vieler Kolleginnen und Kollegen, denen ich für ihre Ausgrabungen und Ideen meinen Dank und Respekt aussprechen möchte: es lohnt sich, ihren Forschungen nachzugehen, der Fußnotenteil öffnet hierzu die Tür!
Drei Möglichkeiten, den »Weg« nachzuvollziehen »Der Weg des Menschen von Afrika bis in die Mitte Europas« ist dabei so zu begreifen, dass den Zielpunkt und den Mittelpunkt des Buches unser Paläolithi-
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kum in Mitteleuropa bildet, das auch am ausführlichsten behandelt wird. Mitteleuropa lag aber zumeist ganz am Rande der bewohnbaren Welt, und deshalb ist, wie ich zeigen möchte, unser Paläolithikum nur als Ergebnis zahlreicher Migrationen zu verstehen, und nur unter Einbeziehung der Quellgebiete dieser Wanderungen. Anders gesagt: Das Buch führt uns räumlich von Afrika nach Mitteleuropa, wobei es das, was auf dem Weg liegt, stärker beleuchtet, und das, was am Wegesrand liegt, zumeist im Dunkeln lässt. Zeitlich gesehen, erfasst dieses Buch überwiegend die Spanne zwischen der Entstehung des Menschen in Afrika (vor 2,5 Millionen Jahren) und der Ankunft der modernen Menschen in Europa (vor 40 000 Jahren). Das entspricht den Perioden »Altpaläolithikum« und »Mittelpaläolithikum« und dem allerfrühesten Teil des »Jungpaläolithikums«; das weitere »Jungpaläolithikum« und das »Spätpaläolithikum« sind demgegenüber nur kurz abgehandelt. Neben dem räumlichen Weg und dem zeitlichen Weg soll das Buch noch zusätzlich einen methodischen Weg aufzeigen, der in den afrikanischen Kapiteln mit der Schilderung des Wissensstandes, sozusagen als Sekundärliteratur, beginnt und umso mehr ins Detail geht, je weiter der Weg nach Mitteleuropa führt. Methodische Zielpunkte sind die Kapitel zur Arbeitsschrittanalyse bei Faustkeilen und bei der Abschlagherstellung, die den neuesten methodischen Stand im archäologischen Fachkern der Paläolithforschung wiedergeben. Ich hoffe, damit auch meine Studentinnen und Studenten dafür gewinnen zu können, einmal alle Skalen der archäologischen Erkenntnis zu durchschreiten, von der kontinentalen Skala bis hinunter zum gerade noch mit dem bloßen Auge erkennbaren Retuschiernegativ. Auf dem »Weg« des Buches liegen also Räume, Zeiten und Methoden. Im Hintergrund steht zugleich die Migrationsdebatte, die Europa seit einigen Jahren so kontrovers beschäftigt. Die Archäologie kann dazu beitragen, unser Wertesystem zum Thema »Migration« zu hinterfragen und zu ergänzen.
Migrationen als ein Motor der Menschheitsgeschichte Migration ist ein entscheidender Faktor in der Menschwerdung (Abb. 1.1): Unsere Vorfahren wurden vor etwa 2,5 Millionen Jahren zu huftierverzehrenden Steppenläufern, die gelegentlich Werkzeuge gebrauchten. Die Konzentration auf die überwiegend karnivore (auf Fleischverzehr basierende) Ernährung begünstigte ihre stärkere Unabhängigkeit von der jeweiligen lokalen Vegetation und damit ihre höhere Mobilität: Homo habilis war deshalb in der Lage, aus Afrika auszuwandern und das menschliche Habitat bis zum Kaukasus auszudehnen. Der Mensch war also von Anfang an ein Homo migrans, ein wandernder Mensch. Unsere weitere Verwandtschaft blieb demgegenüber relativ immo-
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bil (Australopithecinen und andere Hominini) und ist heute ausgestorben. Nationalstaaten, die mit ihren künstlichen Grenzen ursprünglich auf der Vorstellung von genetisch, ethnisch, sprachlich und kulturell weitgehend deckungsgleichen »Völkern« aufbauten, passen deshalb nicht zum Menschenbild des Archäologen, der die Migrationsfähigkeit des Menschen als ein Überlebensmoment ansehen muss.
Abb. 1.1: Die Gestalt der Erdoberfläche bestimmte die bevorzugten Wanderungsrouten menschlicher Populationen. Meerengen wirkten selten als Hindernisse, Wüsten und Hochgebirge dagegen umso häufiger.
Homo migrans verbrachte 95 % seines Daseins als Jäger und Sammler und wurde erst vor 10 000 Jahren sesshaft. Ohne Auswanderung und Rückwanderung hätten die Menschen die zahlreichen tiefgreifenden Klimaveränderungen nicht überleben können, seien es Jahrtausende lange Trockenzeiten in Afrika oder ebenso lange Perioden der Eisbedeckung im Norden Eurasiens. Die großen Vereisungen stehen uns in Kürze wieder bevor: In wenigen 1000 Jahren beginnt die nächste Kaltzeit, falls wir den Rhythmus des Erdklimas zuvor nicht durcheinanderbringen. Mehrere 100 Meter mächtige Eisschilde werden sich dann auf dem eurasischen Kontinent ausbreiten und nach einigen Jahrzehntausenden von Norden her bis Hamburg oder Düsseldorf und von Süden her bis nahe an München vordringen. Als Jäger und Sammler konnte die Gattung Homo diese Klimakatastrophen einige Male überleben, aber ob eine Industriegesellschaft damit fertig werden wird, bleibt ein Experiment. Ganz sicher werden Migrationen dabei eine Hauptrolle spielen. Die Karnivorie führte dazu, dass Humanpopulationen in ein direktes Verhältnis zur Verfügbarkeit von steppenbewohnenden Huftierpopulationen tra-
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ten, deren Verbreitung das potenzielle Habitat des Menschen bezeichnete. Die erste Migration der Gattung Homo, die um 1,8 Millionen Jahre vor heute abgeschlossen war, führte daher zu einem mehr oder weniger zusammenhängenden Siedlungsgebiet des Menschen zwischen dem südafrikanischen Kap der Guten Hoffnung und dem russischen Kaukasus, das allerdings die Regenwaldzone ausschloss. Der Übergang von der gemischten Ernährung (Omnivorie), die eigentlich unserer biologischen Ausstattung entspricht, zur Karnivorie war bereits eine sozio-kulturell gesteuerte Wahl und setzte die Nutzung von Werkzeugen offensichtlich voraus. Die Ausbreitung der Menschen, die damit einherging, folgte also der Ausdehnung der Habitate. Anders sieht es vielleicht bei der oben erwähnten, für uns Europäer noch wichtigeren Migration um 60 000 bis 40 000 Jahre vor heute aus. Wenn hier das Niltal tatsächlich die entscheidende Route war, kann es sich dabei nur um sehr kleine, stark linear und wohl auch relativ schnell wandernde Populationen gehandelt haben. Hierzu gibt es aber auch alternative Hypothesen, die auf verschiedenen möglichen Habitaten basieren (Ostsahara, ägyptische Ostwüste, arabische Halbinsel). Diese Ausbreitung des modernen Menschen und der naturräumliche Kontext dazu ist das Thema eines Sonderforschungsbereiches der Universitäten Köln, Bonn und Aachen (SFB 806 Our Way to Europe), der seit 2009 die Regionen, die in diesem Buch vorkommen, mit rund 80 Mitarbeitern in etwa 20 verschiedenen Arbeitsgruppen aus Geologie, Geographie, Geoarchäologie, Archäologie, Ethnologie und Philosophie erforscht.4
Praktische Hinweise Die radiometrischen Zeitangaben in diesem Buch werden in zwei verschiedenen »Währungen« dargestellt. Altersangaben über 10 000 Jahre werden in Kalenderjahren B.P. (before present, vor heute) angegeben. Wenn 14C-Daten zugrundeliegen, werden diese stets als kalibrierte Alter angegeben. Jüngere Altersangaben (ab 10 000) werden in Kalenderjahren v. Chr. und n. Chr. angegeben. Als zweite wichtige, weil weltweit gültige Zeitskala, die indes nur ein relatives Alter angibt, dient die Sauerstoff-Isotopen-Chronologie, die auf dem Nachweis warmzeitlicher und kaltzeitlicher Ablagerungen in marinen Bohrkernen beruht und deshalb mit dem Kürzel MIS (Marine Isotopen Stadien) gekennzeichnet sind. Gerade MIS-Nummern bezeichnen Kaltzeiten (MIS 6 z. B. die Saale- oder Riß-Kaltzeit), ungerade Nummern bezeichnen Warmzeiten (MIS 1 z. B. das Holozän, in dem wir leben, MIS 9 z. B. die Holstein-Warmzeit). Hierzu gibt es wenige Ausnahmen: MIS 5e entspricht der Eem-Warmzeit, und die Würm- oder Weichsel-Kaltzeit umfasst die Phasen MIS 5d, MIS 5c, MIS 5b, MIS 5a, MIS 4, MIS 3, und MIS 2.
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2 Die Anfänge der Archäologie des Paläolithikums
Wissenschaftler schildern uns die Forschungsgeschichte ihres Faches oft als einen langen Weg, der immer weiter nach oben führt: Erste Entdeckungen und Experimente werden geschildert, Pioniere werden gewürdigt, an die Auseinandersetzungen der frühen Genies mit ihren Gegnern wird erinnert – und es wird gezeigt, wie Irrtümer stets mit ihrer Widerlegung endeten. Ein stetiger Wissenszuwachs wird sichtbar, der im heutigen Stand der Forschung gipfelt. Der Forschungsstand einer Disziplin erklärt sich folglich aus ihrer Entwicklungsgeschichte. Aus den Anfängen begreift sich das Übrige1. Heutige Forscher sind demnach die Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen.
Gesellschaft prägt Wissenschaft Wenn wir heute um uns blicken, erleben wir die Entwicklung von Wissenschaft oftmals ganz anders: Die Embryonalforschung wird begrenzt, weil ethische Gründe dagegensprechen. Der Studiengang Vorderasiatische Archäologie wird an einer Universität zugemacht, weil zu wenige Studenten da sind. Ganze Forschungszweige entstehen neu, weil die Gesellschaft sie braucht, zum Beispiel die Alternsforschung. Komplette Fachgebiete werden eingemottet, wie hier und da die »Keilschriftkunde«, obwohl noch längst nicht alle sumerischen Texte entziffert sind. Die Forschungsgeschichte erklärt sich also nicht nur als ein Frageund Antwortspiel der wissenschaftlichen Probleme und Lösungen. Sie ist viel stärker von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig, als wir wahr haben wollen.
Paradigmen: Muster der Forschung Ein Außenseiter der Wissenschaftsphilosophie verdichtete diese Beobachtungen zu einer großen Theorie: Der amerikanische Wissenschaftsphilosoph Thomas S. Kuhn stellte 1962 die (damals!) provokante These auf, der Forschungsprozess werde weniger durch wissenschaftliche Erkenntnis gesteuert als vielmehr durch gesellschaftlichen Wandel.2 Überzeugend hatte Kuhn dies am Beispiel der wis-
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senschaftlichen Revolution aufgezeigt, die das Weltsystem des Nikolaus Kopernikus auslöste. »Paradigma«, ein Muster wissenschaftlicher Erkenntnis, ist dabei ein Schlüsselbegriff. Im alten Paradigma des Ptolemäus stand die Erde im Zentrum, umkreist von den Planeten: Astronomische Vorhersagen waren auf diese Weise nur mit kompliziertesten Berechnungen und anhand gewaltiger Tabellenwerke möglich. Kopernikus hatte sich nicht die Mühe gemacht, Ptolemäus zu widerlegen, sondern ersetzte dessen kompliziertes Konstrukt durch ein neues, sehr einfaches System und gewann eine Anhängerschar. Nun war es mit viel einfacheren Mitteln möglich geworden, astronomische Bahnen zu berechnen und Vorhersagen zu machen. Die Vertreter des alten Paradigmas wurden durch den Wechsel der wissenschaftlichen Akteure verdrängt, und das neue Paradigma, das kopernikanische Weltsystem, nahm so den Platz des alten ein. Die gesellschaftliche Durchsetzbarkeit eines Paradigmas ist demnach entscheidender als sein wissenschaftlicher Gehalt.
Archäologische Paradigmen Kuhns soziologisches Wissenschaftsmodell fand ein Jahrzehnt später Eingang in die anglo-amerikanische Theorieliteratur der archäologischen Fächer. Mehrere Paradigmenwechsel wurden ausgemacht, und die archäologische Forschungsgeschichte wurde zu einer Geschichte ihrer Paradigmen. Auch die Urgeschichtsforschung war und ist solchen Paradigmen, also Mustern des Erkennens, unterworfen. In einem langen Nacheinander spielten hier erst die Werkstoffe (Materialparadigma) eine Hauptrolle, dann die Erdschichten (Schichtenparadigma), dann die Entdeckung der Eiszeit (Katastrophenparadigma), dann der fossile Mensch (Gegen-Kreationismus), dann die Fauna als Umweltanzeiger (Umweltparadigma) und so weiter. Das Nacheinander der Paradigmen wurde zugleich zum Nebeneinander. Denn die Blickwinkel, die jedes Paradigma mit sich brachte, blieben auch dann erhalten, wenn ein neues Muster des Erkennens die Oberhand gewann. Insofern haben wir es nicht mit kompletten Umstürzen des Wissenssystems zu tun – nicht wirklich mit »wissenschaftlichen Revolutionen«. Was an den alten Paradigmen brauchbar war, wurde weiter genutzt. Die wechselnden Muster der prähistorischen Wissensentwicklung sind also von vergleichsweise kleinerem Zuschnitt, nennen wir sie »kleine Paradigmen«. Nebenbei bemerkt, ob die Radikalität des Ptolemäus/Kopernikus-Umstiegs nicht doch ein seltener Ausnahmefall ist, bleibt dahingestellt. Mir erscheinen die »kleinen Paradigmen« als die typischeren. Der lange Weg durch die Paradigmen begann im vorletzten Jahrhundert. Damals fand man rätselhafte, offenbar prähistorische Objekte, die sich nach den Werkstoffen zu ordnen schienen, aus denen sie gemacht waren.
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Jede Zeit hat ihren Werkstoff Die Werkstoffe Stein, Bronze und Eisen bewirkten das erste Muster prähistorischer Erkenntnis: Der Begriff »Steinzeit« stammt von Christian Jürgensen Thomsen (Abb. 2.1) 1788 geboren, wurde er Kustos der dänischen Altertümersammlung in Kopenhagen und veröffentlichte 1836 seinen berühmten Leitfaden zur nordischen Altertumskunde.
Abb. 2.1: Bedeutende Forscher und Entdecker (von links nach rechts): John Frere (1740– 1807), Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865), Jacques Boucher de Perthes (1788–1868).
Das schmale, ohne Nennung des Autors publizierte Heftchen markiert den Beginn der prähistorischen Archäologie als Wissenschaft. Thomsen schuf das Dreiperiodensystem: • Steinzeit • Bronzezeit • Eisenzeit Es bildet bis heute die Gliederung der prähistorischen Zeit. Thomsen war aufgefallen, dass in Ausgrabungskomplexen, die Steinartefakte enthielten, niemals Eisengegenstände enthalten waren – und umgekehrt. Als die Eisenverarbeitung erfunden wurde, müssen also Steinartefakte längst außer Gebrauch gewesen sein. Es muss also eine Eisenzeit gegeben haben, die jünger als die Steinzeit war. Die Menschheitsgeschichte muss also mit einer Steinzeit angefangen haben, auf die später die Eisenzeit folgte. Dazwischen gab es aber offenbar noch ein Zeitalter, nämlich eines, in dem sich keine Eisen-, jedoch Bronzegegenstände fanden. Es zeigte sich, dass hier gelegentlich Steinartefakte vorkommen konnten. In der Eisenzeit gab es hingegen keine Steinartefakte mehr, wohl aber noch Bronzegegenstände. Also musste es eine Bronzezeit gegeben haben, die zwischen der Steinzeit und der Eisenzeit lag.
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Schichten der Erkenntnis Erdschichten bestimmten ein weiteres Erkenntnismuster der prähistorischen Archäologie: Etwa zur Zeit von Thomsen begann der französische Zollkommissar Jacques Boucher de Perthes (Abb. 2.1) in den Schottern der Somme, nicht weit von dem Städtchen Abbeville, prähistorische Steinartefakte aufzusammeln. Er erkannte einen stratigraphischen Zusammenhang zwischen diesen Artefakten und den Knochen ausgestorbener Tiere. Mit dem Begriff »stratigraphischer Zusammenhang« ist gemeint, dass Artefakte und Knochen aus derselben geologischen Schicht stammen. Es haben also Menschen gemeinsam mit Tieren gelebt, die heute ausgestorben sind. Seit 1838 behauptete Boucher de Perthes immer wieder in Publikationen und Vorträgen, dass fossile Menschen existiert haben mussten. Niemand glaubte ihm. Und er wusste wohl auch nicht, dass der Brite John Frere (Abb. 2.1) schon um 1800 mit derselben Behauptung gescheitert war. Die Thesen beider Forscher setzten gewisse geologische Methoden und Theorien voraus, die sich ganz unabhängig von der anthropologischen Fragestellung entwickelt hatten. Besonders wichtig war der Begriff der Stratigraphie (wörtlich: Schichten-Beschreibung), den der deutsche Geologe und Arzt Georg Christian Füchsel in der Mitte des 18. Jahrhunderts am Fürstenhof von Schwarzburg-Rudolstadt in Thüringen entwickelt hatte. Boucher de Perthes, das dürfen wir vermuten, kannte sich mit geologischer Literatur aus, hatte aber mutmaßlich von Thomsen und seinem Dreiperiodensystem nichts gehört.
Die Katastrophe: nicht Sintflut, aber Eiszeit Boucher de Perthes und Thomsen waren auch einer dritten Person unbekannt, die ebenfalls zur gleichen Zeit, 1837, mit einer aufsehenerregenden These an die Öffentlichkeit trat. Es war der Schweizer Paläontologe Louis Agassiz, der vor der Schweizerischen Wissenschaftlichen Gesellschaft behauptete, es habe eine Zeit gegeben, in der die Alpengletscher erheblich größer gewesen seien als seinerzeit, eine geologische Epoche, für die er den Begriff »Eiszeit« einführte. Alexander von Humboldt soll ihm daraufhin den freundschaftlichen Rat gegeben haben, sich lieber wieder der Erforschung fossiler Fische zu widmen, um die er sich so verdient gemacht habe. Stattdessen publizierte Agassiz 1840 sein Hauptwerk Études sur les glaciers und wurde 1847 Professor an der Harvard University, wo er für seine unkonventionellen Lehrmethoden berüchtigt war. In seinen Seminaren war Lektüre verpönt, stattdessen sollte alles Wissen auf persönlicher Anschauung basieren. Kann man ihm das verdenken, angesichts einer Literatur, in der immer noch das Jahr 4004 vor Christus als das Gründungsjahr der Schöpfung galt, und in der man an die biblische Sintflut glaubte?
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So entstand in nur drei Jahren, 1836 bis 1839, in dem Forscher-Dreieck Thomsen, Boucher de Perthes und Agassiz, das Fundament der Paläolithforschung, das in der Kenntnis der Stratigraphischen Methode, des Leitfossil-Begriffs, der formenkundlichen Klassifikation und der Umweltrekonstruktion aufgrund von Leitfaunen bestand. Was fehlte, war die Person, die das alles zusammenführte. Thomsen kam in Dänemark kaum mit paläolithischen Funden in Kontakt, Agassiz ging nach Amerika, und Boucher de Perthes kämpfte um seine Anerkennung.
Der fossile Mensch Erst 1859, als der renommierte britische Geologe Charles Lyell (Abb. 2.2) mit Boucher de Perthes gemeinsam ins Gelände ging, beschloss die Pariser Akademie der Wissenschaften per Abstimmung die Existenz des fossilen Menschen.
Abb. 2.2: Bedeutende Forscher und Entdecker (von links nach rechts): Charles Lyell (1797– 1875), Gabriel de Mortillet (1821–1898), Rudolph Virchow (1821–1902).
Lyell schrieb damals in seinem berühmten Buch den Satz: »Die notwendige Folgerung aus allem ist die, dass die Steinwerkzeuge und ihre Verfertiger gleichzeitig mit den ausgestorbenen und in denselben Erdschichten begrabenen Säugetieren gelebt haben mussten.«3 Lyell begutachtete auch die Fundstelle des 1856 von Johann Carl Fuhlrott bei Düsseldorf gefundenen Neandertalers, dessen Bedeutung als prähistorische Menschenform allerdings noch umstritten war. Es ist schon erstaunlich, dass Charles Darwin in seinem 1859 erschienenen Hauptwerk Die Entstehung der Arten von all diesen Vorgängen keinerlei Kenntnis nahm. Die Stichworte John Frere, Hoxne, Boucher de Perthes, Abbeville, St. Acheul kommen in seinem Werk nicht vor. Weder hatte zu jener Zeit
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die Steinzeitforschung auf Darwin, noch Darwin auf die Steinzeitforschung einen direkten Einfluss.
Höhlenbär, Mammut, Rentier, Auerochse Etwa zur gleichen Zeit hatte der Autodidakt Eduard Lartet (1801 geboren) begonnen, gezielte Ausgrabungen zu unternehmen, um eine größere Anzahl von Fundstellen zu einer »vergleichenden Stratigraphie« heranziehen zu können. Nach Ausgrabungen in Aurignac am Nordhang der Pyrenäen und besonders nach weiteren Ausgrabungen im Tal der Vézère bei Les-Eyzies-de-Tayac konnte er die Steinzeit bereits 1861 gliedern in • • • •
eine eine eine eine
Periode des Höhlenbären, Periode des Mammuts, Periode des Rentiers und Periode des Auerochsen.
Diese Gliederung sollte sich jedoch erst später, in korrigierter Form, durchsetzen. Wichtig an dieser Gliederung ist die Grundidee, eine Chronologie nicht anhand der archäologischen Funde selbst, sondern anhand der Begleitfauna aufzubauen. Die Person, die 30 Jahre Forschung in den Disziplinen Archäologie, Paläontologie, Geologie, Anthropologie und Ethnologie überblickte, trat nun auf den Plan: Das Universalgenie Sir John Lubbock führte die bisherigen Forschungen in seinem Werk Prehistoric Times 1865 zusammen und gliederte Thomsens Steinzeit in ein Paläolithikum und ein Neolithikum – eine ältere Steinzeit mit geschlagenen Steinwerkzeugen und ausgestorbenen Tieren sowie eine jüngere Steinzeit mit geschliffenen Steinwerkzeugen und noch lebenden Tierarten. John Lubbock ist also der Urheber der Begriffe Paläolithikum und Neolithikum.
Was machte eigentlich Darwin? Darwin war an diesen neuen Erkenntnissen recht wenig interessiert. Lubbocks Buch las er und widmete ihm eine halbe Seite in seiner Entstehung des Menschen von 1874. Die Archäologie, die ihm inzwischen wesentliche und zahlreiche Argumente hätte liefern können, ignorierte er weitgehend – im Gegensatz zur Ethnologie. Merkwürdigerweise war es die Bronzezeit-Archäologie, die später Darwins Ideen aufgriff. Der schwedische Archäologe Oscar Montelius (Abb. 2.4) schrieb 1903:
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»Die Entwicklung kann langsam oder schnell verlaufen, immer ist aber der Mensch bei seinem Schaffen von neuen Formen genötigt, demselben Gesetz der Entwicklung zu gehorchen, das für die übrige Natur gilt.« Und weiter: Wir seien gezwungen, »nur Schritt für Schritt, von einer Form zur andern, sei sie auch wenig abweichend, überzugehen.«4 Dieses Entwicklungsgesetz war für Montelius die Grundlage seiner »typologischen Methode«. Formenkundliche Entwicklungsreihen bildeten für ihn hypothetische Zeitabfolgen, die mit Hilfe der Stratigraphie und der Beobachtung geschlossener Funde zu prüfen waren (Abb. 2.3).
Abb. 2.3: Illustration von Oscar Montelius zu den Themen »typologische Reihe« und »typologisches Rudiment«.
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Die Methode (so der Titel seines programmatischen Aufsatzes) zeigte den Einfluss der Entwicklungstheorie Darwins – den Einfluss, den wir in der Paläolithforschung so sehr vermisst haben.
Eiszeitliche Kunst Seit den 1960er-Jahren hatten weitere und umfangreiche Ausgrabungen das Bild vom nunmehr so genannten Paläolithikum bedeutend erweitert. Beispiele sind die Pferdejägerstation von Solutré in Burgund, die Magdalénien-Rentierjägerstation bei der Schussenquelle nahe Schussenried in Südwestdeutschland, das Kesslerloch bei Thayingen in der Schweiz, die jungpaläolithischen spektakulären Bestattungen aus der Grotte du Prince bei Menton und zahlreiche weitere Fundstellen in Frankreich, insbesondere solche, die paläolithische Kunstwerke lieferten. Die Mammutgravierung aus Eduard Lartets Grabungen in La Madeleine überzeugte auch die letzten Zweifler, dass es eine Zeit gab, in der Menschen mit nun ausgestorbenen Tierarten zusammen lebten, ja diese, wie das Mammut, sogar zeichneten. Auch abstrakte Darstellungen wurden bald gefunden, wie die bemalten Kiesel von der spätpaläolithischen Fundstelle Mas d’Azil.
Echt oder unecht? Immer wieder entstand Streit um die Echtheit der paläolithischen Funde. Die Pioniere, wie Boucher de Perthes und Johann Carl Fuhlrott hatten nicht jedes Mal einen sicheren Griff bewiesen, so dass sich unter ihre Funde Pseudoartefakte (Naturprodukte, die Artefakten ähneln) mischten und ihre Entdeckungen in ein zweifelhaftes Licht rückten. Es ist bekannt, dass Rudolf Virchow den Neandertaler nicht als fossile Menschenform akzeptierte, und Virchows Ablehnung hatte sich noch verstärkt, nachdem Fuhlrott geschliffene Steinbeile vorwies, die angeblich zusammen mit den Resten des Neandertalers gefunden worden sein sollten. War die Existenz des fossilen Menschen einmal nachgewiesen, so meinte man nun, diese gleich bis ins Tertiär ausdehnen zu können. Wenn es um die ältesten Artefakte der Menschheit geht, spielen hier – wie auch heute – immer wieder Pseudoartefakte eine Rolle. Zudem wurden Fälschungen bekannt, mit denen Experten und Museen bewusst getäuscht werden sollten. So ist es kein Wunder, dass die ersten paläolithischen Malereien aus der Höhle von Altamira als Fälschungen angesehen wurden. Gabriel de Mortillet (Abb. 2.2) schrieb 1881 an Émile Cartailhac (Abb. 2.5):
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»Ich komme nun zu der Frage der Malereien der Höhle von Santander. Ich habe mir die Kopien genau angesehen. Ich bin überzeugt, es ist eine absichtliche Irreführung in dieser Angelegenheit. Das ganze ist nichts als ein witziger Schabernack, eine wahrhaftige Karikatur, geschaffen und in die Welt gesetzt, um lachen zu können über die leichtgläubigen Prähistoriker.«5 Die Entdecker von Altamira Don Marcelino Sanz de Sautuola und seine kleine Tochter María, die ihn auf die bunten Bilder erst aufmerksam gemacht hatte (Abb. 2.4), standen quasi als Betrüger da oder wurden doch zumindest ignoriert.
Abb. 2.4: Bedeutende Forscher und Entdecker (von links nach rechts): Marcelino Sanz de Sautuola (1831–1888), María Sanz de Sautuola, Oscar Montelius (1843–1921).
Erst 20 Jahre später widerrief Cartailhac (Abb. 2.5) in seinem berühmten Aufsatz Mea Culpa sein Urteil. Don Marcelino war aber schon 1888 gestorben.
Abb. 2.5: Bedeutende Forscher und Entdecker (von links nach rechts): Émile Cartailhac (1855–1921), Hugo Obermaier (1877–1946), Henri Breuil (1877–1961).
Die folgenden Jahre brachten die zahlreichen Entdeckungen der paläolithischen Höhlenkunst, die Entdeckung eines Neandertaler Friedhofes bei La Ferrassie –
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und vor allem die Internationalisierung der Forschungen von der Iberischen Halbinsel bis nach Osteuropa (Tab. 2). Das erste Vierteljahrhundert wurde von zwei Priestern dominiert, den beiden befreundeten Prähistorikern Hugo Obermaier (Abb. 2.5) und Abbé Henri Breuil (Abb. 2.5). Krasse Paradigmenwechsel sind hier nicht mehr zu beobachten, wenn auch zu den zentralen Themenkreisen »Klassifikation« und »Chronologie« zahlreiche Theorien- und Methodengebiete hinzukamen.
Mortillets System von 1883: heute noch gültig Im Zusammenhang mit Altamira fiel bereits ein weiterer Name: Gabriel de Mortillet. Mortillet, 1821 geboren, war Eisenbahningenieur, hatte sich am Widerstand gegen das zweite Kaiserreich Napoleons III. beteiligt, war deshalb in die Schweiz verbannt worden und kehrte nach einer allgemeinen Amnestie im Jahre 1863 nach Frankreich zurück, wo er sich offenbar sofort mit prähistorischen Forschungen befasste. Bereits 1869 stellte er eine formenkundliche Untergliederung des Paläolithikums auf, die jetzt auf einem System namengebender Fundorte basierte.
Abb. 2.6: Die Untergliederung des Paläolithikums von G. de Mortillet beruhte gleichermaßen auf geologischen und paläontologischen Kriterien.
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1883 erschien das Hauptwerk Gabriel de Mortillets Le Préhistorique, in dem er die bis heute gültige Grundlage der Unterteilung des europäischen Paläolithikums vorlegte. Die Gliederung Chelléen oder Acheuléen, Moustérien, Solutréen, Magdalénien hat sich bis heute als korrekt erwiesen. Neue Phasen kamen hinzu, bestehende Phasen wurden weiter unterteilt, nie aber wurde Mortillets System widerlegt, oder, im Zuge eines Paradigmenwechsels, abgeschafft. Jeder seiner Kulturbegriffe greift des Namen eines berühmten Fundortes der jeweiligen Epoche auf: Chelles an der Somme, St. Acheul an der Somme, Le Moustier im Périgord, La Madeleine im Périgord und Solutré in Burgund. Man nennt solche Fundorte auch »eponyme Fundorte« (eponym = namengebend), also Fundorte, die einem Kulturbegriff ihren Namen gaben. Die Funde aus diesen Fundorten dienen als Referenzinventare. Referenzinventare bilden eine Vergleichsmöglichkeit, um Funde aus anderen Fundorten den entsprechenden Kulturbegriffen zuzuordnen. So ist es seitdem auch immer wieder geschehen: Ergrub man zum Beispiel in der Vogelherdhöhle ein Inventar, das demjenigen von Le Moustier ähnelte, so ordnete man es dem »Moustérien« zu.
Die Entdeckung des Klimas
Abb. 2.7: Das Aussehen des Mammuts wurde durch die Funde aus dem sibirischen Dauerfrostboden einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Hier eine frühe Rekonstruktion aus dem Museum von St. Petersburg.
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Die erwähnte Gliederung des europäischen Paläolithikums durch Gabriel de Mortillet 1883 birgt für die paläolithische Archäologie ein wesentliches Problem: die Korrelation menschheitsgeschichtlicher Entwicklungen mit dem Klima, also mit den wechselnden Kalt- und Warmphasen des Eiszeitalters. Mammut – als kaltzeitliches Tier (Abb. 2.7) – und Waldelefant – als warmzeitliches Tier – standen zunächst einmal stellvertretend für die wechselnden Umwelten des paläolithischen Menschen.
Die Entdeckung der Tiefenzeit Doch welch weiter Weg von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als man die Erde auf kaum älter als 6000 Jahre schätzte, bis zu den Mutmaßungen Mortillets, der allein schon der Menschheitsgeschichte mehr als 200 000 Jahre einräumte. Die wirkliche Zeittiefe des Eiszeitalters wurde erst später sichtbar, als Milutin Milankovich 1920 seine astronomische Strahlungskurve veröffentlichte, in der jeder Kalt- und Warmzeitzyklus etwa 120 000 Jahre einnimmt. Wir sehen hierin die gleiche Entwicklung, die auch das Fach Paläontologie durchmachte, und die von dem amerikanischen Paläontologen, Geologen und Evolutionsbiologen Stephan Jay Gould in seinem Beststeller »Die Entdeckung der Tiefenzeit« beschrieben wurde.6
Das Fundament ist 150 Jahre alt Kein Zweifel: Mit Thomsen 1836, Lubbock 1865 und Mortillet 1883 war vor 150 Jahren ein Fundament für die paläolithische Archäologie gelegt, an dem später und heute weiter- und angebaut werden konnte und kann. Mortillet, der 1898 starb, hat sein Denkmal in Paris sicher zu Recht. Das neue Fachgebiet hatte einen rasanten Aufschwung genommen. Schon kurz nach der ersten Ausgrabungsserie in den 1860er-Jahren und kurz nach den Veröffentlichungen der ersten Chronologiesysteme von Lartet und Mortillet erschien die dunkle Vorzeit in so hellem Licht, dass Edgar Quinet 1870 über den prähistorischen Menschen schreiben konnte: »Welche Zukunft beginne ich zu ahnen in diesem seltsamen Wesen, das kaum sich selber eine bessere Hütte zu schaffen weiss, als die Höhle des Bären es ist, und das doch schon ängstlich bemüht ist, seinen Toten für alle Ewigkeit Herberge zu schaffen. Hier glaube ich auf den Grundstein gestoßen zu sein, auf dem alle göttlichen und menschlichen Dinge sich aufbauen. Nach diesem Anfang begreift sich alles Übrige leicht.«7
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Kultur- und Naturwissenschaft zugleich Geologie (Schichtenbeschreibung), Paläontologie (Faunenbestimmung) und Physische Anthropologie spielten, wie wir gesehen haben, eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der paläolithischen Forschung und der Disziplin »Prähistorische Archäologie« insgesamt. Besonders die von Mortillet vertretene Forschungsrichtung folgte von Anfang an der Überzeugung, dass die paläolithische Archäologie zugleich Natur- und Kulturwissenschaft ist (Abb. 2.6). Es sind deshalb auch bahnbrechende naturwissenschaftliche Entdeckungen, die die nächste Forschungsphase prägten. Die wichtigste unter ihnen ist die systematische Beschreibung und Deutung der Überreste der Eiszeiten.
Der Mensch im Eiszeitalter Albrecht Penck und Eduard Brückner fassten diese Entdeckungen 1909 in ihrem Buch Die Alpen im Eiszeitalter zusammen. Sie konnten zeigen, dass bestimmte, in der Landschaft noch heute sichtbare Oberflächenformen und entsprechende Sedimente als Reste gewaltiger Eisvorstöße zu deuten sind. Zeitweise mussten die Alpengletscher viel größer gewesen sein als heute. Mächtige Eisschichten füllten die Alpentäler und bedeckten Teile des Alpenvorlandes. Die Vereisungen konnten nur während mehrerer Kaltzeiten des Eiszeitalters, also im Quartär, entstanden sein.
Voralpenregion Jetztzeit – Interglazial, in dem wir leben
Holozän
Jetztzeit – Interglazial, in dem wir leben
Würm-Glazial
Weichsel-Glazial
Riß-Würm-Interglazial
Saale-Weichsel-Interglazial
Riß-Glazial
Saale-Glazial
Mindel-Riß-Interglazial Mindel-Glazial
Pleistozän
Pleistozän
Holozän
Nordeuropa und nördliches Mitteleuropa
Elster-Saale-Interglazial Elster-Glazial
Günz-Mindel-Interglazial
-
Günz-Glazial
-
Tab. 1: Kalt- und Warmzeiten im Quartär (jüngste Periode oben).
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Jahr
Land/Region
1797
Fundstelle Burggailenreuther Höhle Hoxne
1838
Abbeville
Somme
1852 1856 1860 1864 1865 1867
Aurignac Neandertal Massat La Madeleine Hohler Fels/Happurg Schussenquelle
Haute Garonne Rheinland Ariège Vézère Franken Oberschwaben
1870
Balver Höhle
Sauerland
1870
1871
Byciskala Mähren GrimaldiRiviera Höhlen/Ventimiglia Mammutova/Wierzchow Krakau
1872 1872 1874 1874 1875 1875 1879
Laugerie-Basse Duruthy Kesslerloch/Thayngen Wildscheuer Cro-Magnon Ofnethöhlen Altamira
1770
1871
Entdecker
Funde, Befunde
Oberfranken
Pfarrer J.F. Esper
Fossilfundstelle
Suffolk
J. Frere J. Boucher de Perthes E. Lartet J.C. Fuhlrott E. Lartet E. Lartet, H. Christy W. Gümbel O. Fraas H. von Dechen, R. Virchow H. Wankel
Faustkeil
Artefakte, Fauna Neandertaler Kunst: Bärenkopf Kunst: Mammut Artefakte Rentierjägerplatz
E. Rivière
Bestattungen
Vézère Vézère Schweiz Lahntal Vézère Nördlinger Ries Kantabrien
Stratigraphie Bestattung Bestattung Wohnplatz Stratigraphie Bestattungen Schädeldepot Wandkunst Mammutjägerplatz Stratigraphie Mammutjägerplatz „Pithecanthropus“ Wohnplatz Bestattungen Behausungen Fossilien
Predmost
Mähren
H. Wankel
Kulna-Höhle
Mähren
J. Szombathy
1880
Kostenki
Don
J.S. Poljakow
1891 1906 1909 1909 1913
Trinil Szeleta-Grotte La Ferrassie Mezin Olduvai
Java Ungarn Dordogne Ukraine Tansania
1922
La Ferrassie
Dordogne
1922 1924 1930
Parpallo Taung Chou-Kou-Tien
E. Dubois J. Hillebrand D. Peyrony P.P. Efimenko H. Reck D. Peyrony, L. Capitan L. Pericot R. Dart W.C. Pei
1931
Vogelherd
1933
Steinheim Tabun
1935
Swanscombe
England
1935
Stellmoor
1952 1953 1953 1955
Pollau Combe Grenal Olduvai Sungir
SchleswigHolstein Mähren Dordogne Tansania Russland
Artefakte, Fauna
E. Lartet, H. Christy L. Lartet J. Heierli A. von Cohausen E. Lartet, H. Christy O. Fraas M. Sanz de Sautuola
1880
1934
Stratigraphie
J. Zawisza
1880
Spanien Südafrika China BadenWürttemberg BadenWürttemberg Israel
Faustkeile
G. Riek
Stratigraphie Stratigraphie Australopithecus Homininen Kunst: Aurignacien
D. Garrod K.P. Oakley, G.M. Morant
Steinheimer Schädel Stratigraphie Menschlicher Schädel
A. Rust
Wohnplatz
B. Klima F. Bordes L.B. Leakey O.N. Bader
Jagdlager Stratigraphie Homininen Doppelgrab
F. Berckhemer
Tab. 2: Entdeckungen aus den ersten zwei Jahrhunderten der paläolithischen Archäologie und Paläontologie.
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Penck und Brückner beschrieben vier Kaltzeiten. Sie wurden nach Voralpenflüssen benannt. Das »Günz-Glazial« sollte die älteste Kaltzeit sein, gefolgt von »Mindel-«, »Riß-« und »Würm-«Glazial. Zwischen den Glazialen musste es Warmzeiten gegeben haben, ähnlich dem Holozän: jener Warmzeit, in der wir heute leben. So entstand ein Chronologieschema für das Quartär (Tab. 1).
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3 Von den ersten Menschen bis zum Homo sapiens
Wir Menschen bevölkern die Erde erst seit relativ kurzer Zeit. Wäre die Erdgeschichte eine Soap Opera im Fernsehen, und unser Planet wäre in der ersten Folge entstanden, träten wir erst in der 4000. Folge auf! Und auch dort erst nach der ersten oder zweiten Werbepause! Und auch das nur, wenn der Regisseur bereit wäre, in jede Folge eine Million Jahre zu packen. Erzählen wir diese Folge der Soap Opera oder, besser gesagt, Globe Opera kurz nach!
Die Stellung des Menschen in der Erdgeschichte Die Erde entstand vor etwa 4 Milliarden Jahren. Die ältesten Gesteine auf der Erde sind etwa 3,6 Milliarden Jahre alt. Die erste Periode der Erdgeschichte (Tab. 3) nennt man Präkambrium (Erdfrühzeit). Aus seinem älteren Abschnitt stammen die ersten Fossilien. Aus seinem jüngeren Anschnitt stammt die Ediacara-Fauna, in der bereits Baupläne unterschiedlicher Tierartenstämme erkennbar sind. Die ersten skelettartigen Konstruktionen treten auf.
Zeitabschnitte
Systeme
Serien
Alter
1.
Präkambrium (Erdfrühzeit)
4 Milliarden
2.
Paläozoikum (Erdaltertum)
570 Millionen
3.
Mesozoikum (Erdmittelalter)
225 Millionen
4.
Känozoikum (Erdneuzeit)
Tertiär
Quartär
Paläozän
65 Millionen
Eozän
56 Millionen
Oligozän
35 Millionen
Miozän
23 Millionen
Pliozän
5 Millionen
Pleistozän
2 Millionen
Holozän Tab. 3: Gliederung der Erdgeschichte
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Am Beginn des Erdaltertums (Paläozoikum), im Kambrium, erscheinen die ersten Tiere mit Rückgrat (Notochord), also die ersten Chordatiere. Im Ordovizium folgen die ersten Fische, im Silur die ersten Landpflanzen, im Devon die ersten Insekten und die ersten Amphibien, im Karbon die ersten Reptilien, bis im Perm schließlich die marine Fauna und Flora massenhaft zugrundegeht. Das Erdmittelalter (Mesozoikum) beginnt mit der Triaszeit, in der die ersten Säugetiere und die ersten Dinosaurier auftreten. In der Jurazeit entstehen, wohl aus den Sauriern heraus, die ersten Vögel. In die Kreidezeit gehören die ältesten Primaten, und zugleich verschwinden die Dinosaurier. Mit der Kreidezeit endet das Erdmittelalter. Die Erdneuzeit (Känozoikum) beginnt mit dem Tertiär, in dem sich die Säugetiere vermehren und ausbreiten. Im späten Tertiär, während des Miozäns, setzt die Entwicklung jener Linie ein, die später zu den Menschenaffen und Menschen führt. Im Pliozän, am Ende des Tertiärs, leben die unmittelbaren Vorfahren der Menschenaffen und Menschen und die allerersten Mitglieder der Gattung Homo. Die letzte erdgeschichtliche Periode innerhalb der Erdneuzeit, das Quartär, bildet die Bühne für das Auftreten der Menschen. Das Quartär wird in das Pleistozän und das Holozän gegliedert. Das Pleistozän umfasst das Eiszeitalter mit mehreren Kalt- und Warmzeiten, aus dem die gegenwärtige Warmzeit, in der wir leben, unter dem Namen »Holozän« oder Jetztzeit, ausgegliedert wird.
Der Mensch im Pleistozän: Definition des Paläolithikums In der kulturgeschichtlichen Terminologie fällt das Pleistozän mit der ältesten Periode der Menschheitsgeschichte zusammen, dem Paläolithikum, der Älteren Steinzeit oder Altsteinzeit. Das Paläolithikum umfasst etwa 95 % der Menschheitsgeschichte. Alle weiteren prähistorischen Perioden sind im Holozän angesiedelt und entsprechen damit etwa 5 % der Menschheitsgeschichte. Ganz am Schluss steht das »Anthropozän« – die letzten 200 Jahre, in denen der Einfluss der Menschen auf Klima und Umwelt dominierte. Das Paläolithikum ist die älteste Periode der Menschheitsgeschichte. Im Paläolithikum lebten die Menschen vom Jagen und Sammeln. Man spricht von aneignender Wirtschaftsweise, weil die Menschen nur solche Nahrung verwerteten, die sie in der natürlichen Umwelt finden und erreichen konnten. Das Paläolithikum ist die einzige menschheitsgeschichtliche Periode, in der mehrere Arten der Gattung Mensch (Homo) lebten. Die gesamte anatomische Entwicklung des Menschen spielte sich also im Paläolithikum ab. Die einzige überlebende Art der Gattung Mensch, der Homo sapiens sapiens, entstand in einem relativ späten Abschnitt innerhalb des Paläolithikums.
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Wenn im Folgenden von Menschen die Rede ist, sind damit nicht nur die heutigen Menschen gemeint, vielmehr ist die gesamte Vielfalt der bisher nachgewiesenen – etwa sieben verschiedenen – Arten der Gattung Homo mit eingeschlossen.
Der Mensch ist ein Primat: die Stellung der Menschen in der Systematik der Arten Der Mensch besitzt eine Wirbelsäule. Seine Nachkommen werden, wie bei anderen Säugern, mit Muttermilch aufgezogen und während der Embryonalentwicklung über eine Plazenta ernährt. Er ist mit 5-gliedrigen Extremitäten, einem Schlüsselbein und einem Paar Brustdrüsen ausgestattet. Seine Augen befinden sich an der Vorderseite des Kopfes; er besitzt ein binokulares Sehvermögen und ein verhältnismäßig großes Gehirn.1 Demnach gehört der Mensch zu den Chordatieren, zu den Wirbeltieren, zu den Plazentatieren, zu den Säugetieren, zu den Primaten und, gemeinsam mit den Großen Menschenaffen, zu den Anthropoidea. Die Anthropoidea gliedert man noch einmal in die Pongidae, mit Orang-Utan als einzigem Vertreter, und in die Hominidae, mit einerseits Schimpanse, Bonobo und Gorilla und andererseits fossilen und lebenden Homini. Die Herkunft der menschlichen Linie muss also in eine Zeit zurückreichen, in der sich die Linien der Hominidae und Pongidae aufteilten. Diese Zeit war das Miozän.
Primaten in Afrika und Asien Fossile Anthropoidea sind nur aus Afrika und Asien bekannt. Die Kontinente Australien, Nord- und Südamerika fallen also als Entstehungsgebiete der Anthropoiden aus. Primatenfunde aus der gemeinsamen Vorfahrenreihe der Menschen und Menschenaffen konzentrieren sich in einem Dreieck zwischen Norditalien, Pakistan, China, Ostafrika und Namibia, mit einem Schwerpunkt in Ostafrika. Die jüngsten Kandidaten für diese gemeinsame Ahnenreihe sind Kenyapithecus und Sivapithecus, früher zusammen als Ramapithecus bezeichnet. Etwa gleichzeitig lebte noch eine weitere Primatengruppe, die Dryopithecinen, deren Fossilreihe noch weiter zurückgeht als die der Kenyapithecinen und Sivapithecinen, weshalb sie von vielen Autoren zusammen mit Proconsul in deren Vorfahrenreihe gestellt werden. Funde von Kenyapithecus sind nur aus Ostafrika bekannt, Funde von Sivapithecus nur aus der Türkei, dem westlichen Himalayagebiet und aus China. Kenyapithecus wird von einigen Autoren auch als Sivapithecus africanus bezeich-
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net. Die asiatischen Sivapithecinen werden heute als Vorfahren der Pongiden mit der einzigen Spezies Orang-Utan angesehen, deren Entwicklung sich demnach vor etwa 12 bis 14 Millionen Jahren von jener der Hominidae getrennt hätte. Die afrikanischen Kenyapithecinen sind demnach die Urahnen der Hominidae, also der Menschen und afrikanischen Menschenaffen. Louis B. Leakey ist der Entdecker des Kenyapithecus von Fort Ternan in Kenia, der ein Alter von rund 14 Millionen Jahren hat.
Afrika – Wiege der Menschheit Die entscheidenden Entwicklungsschritte, die auf Kenyapithecus folgten, sind nicht bekannt. Zwischen 12 Millionen Jahren und etwa 6 Millionen Jahren klafft eine gewaltige Lücke, aus der fast keine Fossilfunde bekannt sind. Dann folgt eine explosionsartige Entwicklung der Homininen, mit verschiedenen Vertretern der Gattungen Australopithecus, Paranthropus und Homo. Die große Zeit der Homininen (die Unterfamilie der Menschen und ihrer engsten Verwandten) ist also die Periode zwischen 6 und 2 Millionen Jahren. Die Explosion der Homininen blieb auf Afrika beschränkt (Abb. 3.1). Es gibt aus dieser Periode keine Funde von Homininen außerhalb Afrikas. Schon vor dieser Zeit oder zumindest zu Beginn dieser Periode waren die afrikanischen Menschenaffen aus der Vorfahrenreihe der Menschen ausgeschieden. Hier ist die Datenlücke noch größer, denn seit Kenyapithecus liegt die anatomische Entwicklung bis zu den heutigen Schimpansen, Bonobos und Gorillas im Dunkeln. Es fehlen uns jegliche Fossilfunde. Auch zu der von der Genetik postulierten Trennung von Panini (Schimpansen) und Hominini vor etwa 5 bis 6 Millionen Jahren fehlen noch fossile Belege. Wir halten fest: Die Aufteilung der Anthropoidea in eine afrikanische und eine asiatische Linie erfolgte vor mindestens 12 Millionen Jahren. Danach folgte die Aufteilung der afrikanischen Linie in Schimpansen (Panini) und Menschen (Hominini) zu einem unbekannten Zeitabschnitt zwischen etwa 12 Millionen und etwa 6 bis 5 Millionen Jahren. Danach – zwischen 6 und 2 Millionen Jahren – folgte die Zeit der größten Artenvielfalt der Hominini. Die Artenexplosion der Hominini spielte sich in Afrika ab. Schon Charles Darwin schrieb 1871 in seiner Abstammung des Menschen, dass »Afrika früher von jetzt ausgestorbenen Affenarten bewohnt war, die mit dem Gorilla und Schimpansen nahe verwandt waren; und da diese beiden Arten jetzt die nächsten Verwandten des Menschen sind, ist es wahrscheinlicher, dass unsere ältesten Vorfahren auf dem afrikanischen Festland gelebt haben als anderswo.«2
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0°
10°
A. bahrelghazali
20°
A. afarensis A. garhi P. boisei
P. aethiopicus 30° 30°
Lambertsche Azimutalprojektion 20° 10° 0°
A. africanus
A. anamensis 10°
20°
30°
40°
P. robustus
Abb. 3.1: Die wichtigsten Fundorte der Fossilien früher Homininen in Afrika. A. = Australopithecus; P. = Paranthropus;
Migration und Artenexplosion der Homininen innerhalb Afrikas Als der Paläontologe Raymond Dart 1924 in Taung/Südafrika den Schädel eines jugendlichen Primaten fand, war er überzeugt, die lang gesuchte Übergangsform zwischen den Menschen und ihren Primaten-Vorfahren gefunden zu haben. Er nannte sie den afrikanischen Südaffen, Australopithecus africanus. Neben Südafrika kennen wir Ostafrika als zweites wichtiges Fundgebiet. Hier hat Louis Leakey seit 1931 bahnbrechende Funde gemacht, vom Proconsul über den Kenyapithecus bis zu den Australopithecinen und frühesten Menschenarten. Gäbe es einen Archäologie-Nobelpreis – er hätte ihn sicher bekommen. Seine Frau Meave und sein Sohn Richard führten die Familientradition fort.
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Ostafrika bietet aufgrund seiner geologischen Verhältnisse besondere Aufschlusssituationen, besondere Erhaltungsbedingungen und besondere Datierungsmöglichkeiten, die kurz erläutert werden sollen.3 Inzwischen sind mehr als 2000 Überreste von Australopithecinen gefunden worden. Diese Funde stammen aus Südafrika, Ostafrika, aus dem Tschad und aus Äthiopien. Australopithecinen dokumentieren einen Verlauf in der Primatenevolution, an dessen Ende ein aufrechter Gang, ein vergrößertes Gehirn und eine Reihe weiterer Merkmale stehen, die uns Menschen ausmachen. Ob Australopithecinen jedoch wirklich unsere Vorfahren waren, ist heute nicht mehr so sicher wie vor zehn Jahren. Die Australopithecinen können in mehrere Arten gegliedert werden (Abb. 3.2). Im Folgenden werden nur einige wichtige Beispiele solcher Australopithecinenarten genannt, denn sie variieren je nach Forschergruppe und Forschungsstand.4 Die komplexe morphologische Gliederung in etwa 10 bis 20 Arten spiegelt sich in der Altersstellung wider sowie in der Tatsache, dass Australopithecinen in einer grazilen und in einer robusten Gruppe vertreten waren. Der robusten Gruppe gesteht man heute den Status einer eigenen Gattung mit dem Namen Paranthropus zu. – Gruppe der ältesten Australopithecinen Die ältesten Funde stammen von Australopithecus anamensis aus Allia Bay und Kanapoi in Kenia, mit einem Alter zwischen 4,1 und 3,9 Millionen Jahren. Zeitlich etwa parallel oder älter (bis zu 4,5 Millionen Jahre) sind Reste eines Ardipithecus ramidus aus Aramis, Äthiopien. Den ältesten Australopithecinen ist der Sahelanthropus chadensis an die Seite zu stellen, der ebenfalls zur Vorfahrenschaft des Menschen gehören könnte. Auch wenn seine Datierung um 7 bis 6 Millionen Jahre vor heute unsicher ist, belegt er doch, dass die ältesten Homininen nicht auf das Rift Valley und nicht auf Steppen und Savannenlandschaften beschränkt waren, sondern auch stärker bewaldete Regionen bis 2500 km weiter westlich, am Ufer des Tschad-Sees, nutzten.5 – Gruppe der grazilen Australopithecinen Die grazilen Australopithecinen, überwiegend zwischen 4 und 2,5 Millionen Jahre einzuordnen, wurden in drei Regionen des afrikanischen Kontinentes gefunden. Die bekanntesten Beispiele sind: • Australopithecus africanus in Südafrika • Australopithecus afarensis in Äthiopien und Ostafrika • Australopithecus bahrelghazali im Tschad.
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Homo moderne Omnivoren sapiens Denisova-Mensch Homo neanderthalensis
Homo soloensis
Zeit der großen Inlandvereisungen
0,5
Homo naledi Matuyama-BrunhesGrenze
Homo heidelbergensis Paranthropus boisei
Herbivoren
0
Aussterben der engsten Verwandten des Menschen
Homo erectus
1
1,5 Paranthropus robustus
Homo ergaster Homo rudolfensis
Paranthropus aethiopicus
Abkühlung des Klimas Olduvai-Event
2 Homo habilis
kulturelle Karnivoren 2,5
Australopithecus garhi
Omnivoren
3
Kenyanthropus platyops
Australopithecus bahrelghazali Australopithecus africanus
Australopithecus Australopithecus afarensis anamensis
3,5
4
4,5
5 Ardipithecus ramidus 5,5 Sahelanthropus tchadensis Orrorin tugenensis
6
Millionen Jahre
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S. 32
Abb. 3.2: Die Entwicklung der Homininen im Pliozän und im Pleistozän. Während des Paläolithikums spielte die Fleischernährung (Karnivorie) eine große Rolle, und erst seit dem Beginn der »Broad Spectrum Adaptation« vor etwa 20 000 Jahren nahm der Anteil vegetabiler Nahrung wieder zu: aus kulturellen Karnivoren wurden moderne Omnivoren.
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Es gibt unter den grazilen Australopithecinen einige weitere Fossilfunde, die zur Definition eigener Arten herangezogen wurden, zuletzt der Australopithecus sediba, der nur 2 Millionen Jahre alt ist und damit in eine Zeit fällt, aus der sonst kaum hominine Fossilien bekannt sind.6 – Gruppe der robusten Australopithecinen oder Paranthropinen Die Paranthropinen sind robuste Australopithecinen. Sie werden in die Zeitspanne zwischen 3 und 1,2 Millionen Jahren datiert und gliedern sich, entsprechend ihren grazilen Verwandten, in drei Gruppen: • Paranthropus robustus in Südafrika, • Paranthropus boisei in Ostafrika, • Paranthropus aethiopicus in Äthiopien, der deutlich älter als die beiden anderen ist. Diese robusten Paranthropinen gehören sicher nicht in die Vorfahrenreihe des Menschen, denn sie haben sich mit ihrer Schädel- und Kieferproportion und ihrer Gebisseigenschaften an eine rein vegetabile Ernährungsweise angepasst. Sie wurden damit zu Spezialisten einer Entwicklungsrichtung, die von der Linie unserer Vorfahren wegführt. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand ist in Ostafrika das Entstehungsgebiet der Homininen zu vermuten, und innerafrikanische Migrationen hätten von dort aus demnach vor 4 bis 2 Millionen Jahren zur Ausbreitung der Homininen (der Australopithecinen und ihrer Verwandten) bis ins nördliche Zentralafrika und nach Südafrika geführt.
Früheste Menschen Den grazilen Australopithecinen ist eine vieldiskutierte Art eng an die Seite zu stellen: Homo habilis.7 Dieser lebte zwischen 1,8 und 1,6 Millionen Jahren. Dieses Alter ergab sich aus dem Vorkommen von Homo habilis in den Schichten Olduvai Bed I und Lower Bed II. Etwa gleichzeitig und möglicherweise auch schon einige Jahrhundertausende zuvor, lebte eine zweite Menschenart, der bis zu 2,4 Millionen Jahre alte Homo rudolfensis. Er wurde von Meave Leakey eng an die Seite des 1999 entdeckten Kenyanthropus platyops gestellt, der wiederum gleichzeitig mit den grazilen Australopithecinen lebte. Seit dem Jahr 2000 lässt sich die Vorfahrenreihe Rudolfensis-Platyops vielleicht noch weiter zurück verfolgen: Ein französisches Team unter Brigitte Senut und Martin Pickford fand die ersten Überreste des 6 Millionen Jahre alten
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Millennium Man oder wissenschaftlich: Orrorin tugenensis, der bereits zur Zeit der frühesten Australopithecinen aufrecht ging. Je nachdem, wie man diese Funde beurteilen will, ergäbe sich hiermit eine alternative Vorfahrenreihe des Menschen: Es ist durchaus möglich, dass aufgrund der Kette Rudolfensis–Platyops–Orrorin die komplette Gruppe der Australopithecinen eines Tages beiseite rücken würde und aus der Ahnenreihe der Menschen ausgeschieden werden müsste. Beim augenblicklichen Stand der Forschung spricht aber mehr dafür, dass die Gattung Homo sich aus der verwandtschaftlichen Nachbarschaft des späten Australopithecus africanus herleitet. Mit Homo rudolfensis und Homo habilis sowie dem gleichzeitig lebenden Paranthropus endet die Zeit der größten Artenvielfalt der Hominini. Und die Schwelle ist überschritten zu demjenigen Lebewesen, das zweifelsfrei als vollentwickelter Mensch anzusehen ist: zum frühen Homo erectus oder genauer gesagt – zum Homo ergaster, dessen älteste Nachweise um 1,8 Millionen Jahre datiert werden.
Wie kam es zur Entstehung des Menschen in der afrikanischen Savanne? Wir Menschen haben unsere Existenz also einer Artenexplosion der Homininen vor 5 bis 2 Millionen Jahren zu verdanken. Unsere Verwandtschaft erlebte damals eine Hochkonjunktur. Sie dauerte bis in die Zeit vor 1 bis 2 Millionen Jahren. Danach blieb nur noch unsere Gattung, Homo, übrig. Was war am Ende der Periode der Australopithecinen mit den Homininen geschehen? Was hatte sich geändert? Worin liegen die Wesensmerkmale des Menschen, die sich damals ausgebildet hatten? Es sind nach Glynn Isaac, dem ich hier folge, vier Aspekte, die Homo, den Menschen, von seinen Verwandten im Primatenstamm unterscheiden8: Das Lokomotions-(Fortbewegungs-)System: Veränderungen von Fuß, Becken, Rücken und Händen. Das sozio-reproduktive System: Frauen verlieren sichtbaren Oestrus (Begattungsbereitschaft) und verbergen ihre Ovulation (Eisprung); Männer investieren in die Ernährung des Nachwuchses und der Partnerin. Das Gehirn-Sprache-Technik-Kultur-System: Vergrößerung und Umbau des Gehirns; Verlängerung der Kindheit mit Ausdehnung der Lernperiode, in der die Sprache erlernt wird; Herstellung und Gebrauch von Werkzeugen und ein Korpus von Gebräuchen, Regeln und Informationen. Das Ernährungs-Zerkleinern-Verdauungs-System: Mehr fleischreiche und stärkehaltige Nahrung; kleine Frontzähne und Seitenzähne mit dickem Zahnschmelz.
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Diese Veränderungen in der Entwicklungslinie der Homininen waren so tiefgreifend, dass sich vier Fragen aufdrängen: Unter welchen Umständen kam es zu dieser Entwicklung? Was waren die Selektionsmechanismen, die diese Entwicklung ermöglichten? Welche Faktoren führten zur Selektion dieser Merkmale in der Evolution? Wann hat jedes der vier oben genannten Systeme seinen Anfang genommen? – Damit sind die vier wissenschaftlichen Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung die Entstehung der menschlichen Art erklären könnte. Es ist schon erstaunlich, dass viele Menschen dennoch einem radikal und naiv verstandenen »Kreationismus« anhängen, der die hier geschilderten Tatsachen negiert.
Evolutionstheorie statt Kreationismus Bis vor 150 Jahren galt der Schöpfungsakt als Erklärung der Menschwerdung, und auch heute noch hängen einige Menschen der Lehre des »Kreationismus« an, die die Evolutionstheorie negiert. In der Bibel heißt es dazu:9 »Und Gott sprach: lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib.« Auch ein Teil des Islam lehnt die Evolutionstheorie ab, und die türkische Regierung plant im Jahr 2017 sogar die Absetzung der Evolutionstheorie von den Lehrplänen staatlicher Schulen. Seit Darwins Meisterwerk Über die Entstehung der Arten von 1859 bildet nicht mehr der sechste Tag der Schöpfung den Erklärungsrahmen auch für die Entstehung des Menschen, sondern die Evolutionstheorie: Unter Evolutionstheorie verstehen wir die Lehre von der Entwicklung neuer Arten aus ihren Vorformen durch Genmutation und natürliche Selektion unter dem Kriterium der bestmöglichen Anpassung des Individuums an seine Umwelt, das hieraus einen Fortpflanzungsvorteil erzielt. Diese Definition der Evolutionstheorie enthält die Stichworte Art, Genmutation, Selektion, Anpassung, Individuum, Umwelt, Fortpflanzung. Verfolgen wir nun das Zusammenwirken der verschiedenen Parameter in dem Zeitraum, dessen Beginn folgendermaßen festgelegt ist: Die Hominisation beginnt frühestens mit dem letzten Nachweis gemeinsamer Vorfahren der Menschenaffen und Menschen, also mit Kenyapithecus vor etwa 12 Millionen Jahren. Wie erwähnt, gibt es für den Zeitraum zwischen 12 und 6 Millionen Jahren keine aussagekräftigen Fossilien, jedoch gibt es Hinweise auf die Landschaftsentwicklung in Ostafrika in dieser Zeit.
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Die East Side Story nach Yves Coppens Die tektonische Hebung von Teilen Ostafrikas und die Herausbildung des ostafrikanischen Grabens (Rift Valley) zwischen etwa 18 und 8 Millionen Jahren führte zur Zergliederung des äquatorialen Regenwaldgürtels. Die Gebirgsketten am östlichen Rift wirkten als Klimabarriere. Das niederschlagsreiche, atlantische Klimaregime endete nun an dieser Barriere. Weiter östlich entstanden, unter Monsuneinfluss, anstelle des Regenwaldes offene Gehölzlandschaften, in denen die überwiegend suspensorische (an den Armen hängende) Lokomotion der Primaten einen Selektionsnachteil darstellte. Terrestrische (sich am Boden abspielende) Lokomotion bedeutete hingegen einen Selektionsvorteil. So entwickelten sich seit etwa 8 Millionen Jahren in Ostafrika Homininen mit kombiniert bipeder-quadrupeder (zweifüßiger-viergliedriger) Lokomotion (die Australopithecinen) und sogar mit überwiegend bipeder Lokomotion (Orrorin tugenensis). In Zentralafrika dagegen entwickelten sich die an den Regenwald angepassten Panini. Das erklärt, warum östlich des Ostafrikanischen Grabens weder Schimpansen noch ihre unmittelbaren Vorfahren gefunden werden. Die Artenbildung, die zur Aufteilung der Paninen und Homininen führte, ist damit durch eine so genannte ökologische Isolation erklärt. Es ist möglich, dass die großen Seen, die sich entlang des Ostafrikanischen Grabens bildeten, auch den physischen Kontakt zwischen den beiden neuen Gattungen erschwerten, so dass eine geographische Isolation hinzugekommen wäre. Der zunehmende Monsuneinfluss im Osten Afrikas bewirkte die Gliederung der Jahreszyklen in ausgeprägte Trockenzeiten und Regenzeiten. Es entstanden die afrikanischen Savannenlandschaften. Plattentektonische Bewegungen beschleunigten sich nach einigen Millionen Jahren und erreichten um 2,5 Millionen Jahren einen Höhepunkt, der zur Anhebung des Gebirgszuges am Rande des westlichen Grabensystems und zur Entstehung des westlichen Rifts führte. Hierdurch entstand ein zweiter Regenschatten, und das große zentrale Becken des Viktoria-Sees wurde in die Monsunzone einbezogen. In diese Zeit, die als nach Yves Coppens als (H)omo-Event bezeichnet wird, fällt das Auftreten der ersten Mitglieder der Gattung Homo.
Omo-Sequenz und (H)omo-Event Fossilien vom Omo-Fluss in Südäthiopien (Abb. 3.3) belegen eine Landschaftsentwicklung, die durch immer stärkere Aridisierung (Entwicklung zum trockeneren Klima) und damit durch die Ausbreitung von Grasvegetation geprägt waren. Sie erklärt die Entwicklung von Vegetation und Fauna im Zeitraum der großen Vielfalt der Homininen zwischen 6 und 2 Millionen Jahren. Der schnel-
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R o t e s M e e r
O
z e
a
n
Hadar
d
i s c h
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Östliches Rift
I n
ches Rift Westli
Turkana-See
r
Omo
ViktoriaSee
Olduvai-Schlucht Laetoli
Abb. 3.3: Die Fundlandschaften der frühen Homininen in Ostafrika.
le Wechsel der Umwelten und die damit verbundene mosaikartige Gliederung der Landschaftsräume hat wahrscheinlich die Vielfalt der Homininen begünstigt.10 Durchgehend arboreale (in Bäumen stattfindende) Lebensweise war unmöglich geworden, und terrestrische Bipedie gewann an Gewicht. Dies führte nach Winfried Henke und Hartmut Rothe zu folgenden Veränderungen körperlicher und verhaltensbezogener Art11: • Vergrößerung des Blickfeldes und der Blickweite, erleichterte Aasgewinnung durch Beobachtung von Aas-verwertenden Vögeln. • Bedrohungspotential gegenüber Konkurrenten und Raubfeinden, sexuelles Imponiergehabe. • Energetisch effiziente Überbrückung längerer Wegstrecken im Kontext des Nahrungserwerbs wie Sammeln, Aasfressen, Jagen (?). • Nutzung von arborealen Nahrungsressourcen durch Aufrichtung.
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• Verringerung der Sonnen-exponierten Körperoberfläche, Thermoregulation des wenig behaarten Körpers (Laufwesen). • Befreiung der Hände von Lokomotionsfunktionen, Möglichkeit zu Herstellung und Gebrauch von Geräten sowie zum Transport von Behältnissen, Nahrungsmitteln, Kindern. Der aufrechte Gang begünstigte das erwähnte Verbergen der Ovulation mit Folgen für feste Sexualpartnerschaft und Familienbildung. Das Bewusstsein der Familienzusammengehörigkeit eröffnete für Frauen nach der Menopause zudem eine neue soziale Funktion: die Rolle als nachwuchspflegende Großmütter. Nicht das erst viel später beherrschte Feuer, sondern bereits die verborgene Ovulation und die Menopause führten zur Bildung der Familie als Grundelement sozialer Gemeinschaft. Die höhere Bioproduktion in den entstandenen Graslandschaften vervielfachte die verfügbare Huftierbiomasse und machte Fleischnahrung leichter zugänglich. Zugleich stand während der Trockenzeiten weniger vegetabile Nahrung in Form von Knollen und Früchten zur Verfügung. Die rein vegetarische Ernährungsweise wurde dadurch erschwert. Das führte zur stärkeren Entwicklung der Kaumuskulatur, der Backenzähne und der Kiefergröße bei den robusten Paranthropus-Arten, die sich nur von Pflanzen ernährten.
Menschen als kulturelle Karnivoren Als Alternative bildeten manche Homininenarten einen karnivoren Ernährungsschwerpunkt heraus. Ob hierbei die Fleischgewinnung durch Aasverwertung oder durch Jagd im Vordergrund stand, ist erst in zweiter Linie wichtig. Entscheidend ist, dass die karnivore Ernährung mehr Unabhängigkeit gewährte vom saisonalen Wechsel zwischen Trockenzeit und Regenzeit, und zwar sowohl in räumlicher Hinsicht, von einer spezifischen Vegetationsdecke, als auch zeitlich vom Wechsel der Faunengesellschaften. Man sagt: Karnivoren sind eurytop. Dies gilt auch für die Beutegreifer der altpleistozänen Tierwelt, deren Verbreitung weitgehend kongruent mit der der Hominiden ist (z. B. die Säbelzahnkatzen). Die karnivore Ernährung ermöglicht eine Entlastung des Darms und verändert den Energiehaushalt zugunsten des Gehirns. Vegetarische Ernährung bedeutet dagegen eine weitaus größere Investition von Energie in den Verdauungsapparat. – Heute wird das Wachstum des Gehirns in der Evolution des Menschen deshalb im Wesentlichen auf die überwiegend karnivore Ernährungsweise zurückgeführt. Da die Fleischgewinnung zumindest zu einem großen Teil durch sekundäre Aasverwertung erfolgte, war die optimale und erschöpfende Ausnutzung der
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liegengelassenen Beutetiere großer Beutegreifer entscheidend. Hierzu wurden einfache Steinartefakte genutzt. Der karnivore Ernährungsschwerpunkt bestimmte vermutlich, vom Zeitpunkt ihrer Entstehung an, die Lebensweise der frühen Menschen, obwohl sie von ihrer biologisch-physiologischen Ausstattung her zur Omnivorie (gemischten Ernährung) fähig waren, wie wir heutigen Menschen auch (Abb. 3.4). Zusätzlich zur Fleischnahrung nutzten die frühen Menschen deshalb auch vegetabile Nahrung, besonders stärkehaltige Pflanzen, was Untersuchungen am Zahnschmelz belegen. Die vegetabile Komponente spielte aber eine untergeordnete Rolle, bis sie nach 2 Millionen Jahren durch die Menschen des Mesolithikums und des Neolithikums wiederentdeckt wurde. Man könnte sagen, dass erst vor rund 10 000 Jahren der Mensch seine Lebensweise wieder an seine naturgegebene Fähigkeit zur omnivoren Ernährung angeglichen hat, nachdem er im Paläolithikum zumeist als kultureller Karnivor überlebt hatte. Von »kultureller Karnivorie« spreche ich hier deshalb, weil sich unsere omnivore physiologische Ausstattung nie geändert hat: unsere Vorfahren blieben physiologische Omnivoren, ihr gemeinschaftlich entwickelter Ernährungsschwerpunkt verschob sich aber zugunsten fleischreicher Nahrung. Sie wurden zu »kulturellen Karnivoren«.
Diversifizierung der Habitate
Landschaftswandel (Omo-Sequenz)
Bipedie
Paranthropus Australopithecus Kenyanthropus/Homo
Herbivorie Omnivorie Karnivorie
Spezialisten Versatilisten
Nischenverbreiterung
Populationswachstum Auswanderung
Tendenz zu Besiedlung und Nutzung aller Habitate innerhalb der Fundamentalnische Abb. 3.4: Modell zur Herausbildung der ökologischen Nische der Gattung Homo. Versatilisten sind (nach einer Idee von R. Potts) Lebewesen, die an schnelle Wechsel angepasst sind und deshalb auf die vielfachen Umweltänderungen zwischen 4 und 2 Millionen Jahren reagieren konnten.
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Erste Steinartefakte Die Fähigkeit zur Herstellung und Nutzung von Werkzeugen war wohl bereits den Kenyapithecinen eigen. Und auch heutige Menschenaffen verfügen über diese Fähigkeit. Mit der überwiegend karnivoren Ernährung und der Bipedie kam diese Fähigkeit nun als regelhafter Bestandteil der Nahrungsgewinnung zur Anwendung und wurde damit zum festen Bestandteil der ökologischen Nische der Hominiden. Das geschah seit etwa 2,5 Millionen Jahren. Die Herstellung von Werkzeugen ist also Teil des Speziationsprozesses, der uns Menschen zu den huftierverzehrenden Steppenläufern machte, die sich von Afrika über die gesamte Erdoberfläche ausbreiteten. Mit der regelhaften Nutzung von Werkzeugen beginnt das Paläolithikum, die Ältere Steinzeit oder Altsteinzeit.
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Die Entwicklung der menschlichen Gattung Homo vom Homo rudolfensis oder Homo habilis bis zum modernen Menschen wird oft als Heldengeschichte1 erzählt. Dem heutigen Kenntnisstand nach ist diese Darstellungsweise zu relativieren: Es gab in der menschlichen Evolution Rückschläge, tote Enden und Phasen der Stagnation. Trotzdem: Ein wichtiger Schritt war ohne Zweifel die Nutzung von Artefakten zur Nahrungsgewinnung. Am Anfang waren das Steinwerkzeuge. Vielleicht nutzte man darüber hinaus auch Artefakte aus vergänglichen Materialien (Holz?), die aber nicht erhalten sind. Deshalb sind wir auf die Steinwerkzeuge angewiesen, wenn wir Aussagen zur Technologie der frühesten Menschen treffen wollen.
Die ältesten Steinartefakt-Industrien Die ersten Steinartefakte, einfache Abschläge und Kerne, stammen aus Kenia und werden unter dem Begriff »Lomekwian« zusammengefasst2. Sie sind 3,3 Millionen Jahre alt und müssten demnach zu einer älteren Homininen-Gattung als Homo gehören, z. B. zu Kenyanthropos. Bislang (Tab. 4) kannte man nur solche Artefakte als älteste Nachweise des Werkzeuggebrauches, die aus der etwa 700 000 Jahre späteren Zeit stammen, in der die Gattung Homo erstmals auftritt. Man unterscheidet die nach Fundplätzen bezeichneten Industrien als Oldowan Industry oder auch KBS-Industry (Kay Behrensmeyer Site; Geologin und Erstbeschreiberin der nach ihr benannten Tuffschicht) und als Developed Oldowan Industry oder Karari-Industry sowie als jüngste Phase das Acheulean (Acheuléen). Unter dem Begriff »Oldowan« werden Inventare zusammengefasst, in denen Artefakte aus Geröllen die Hauptrolle spielen (Abb. 4.1 und 4.2). Ein Geröll wird gekappt, und ein, zwei, drei Abschläge werden an einem Ende so abgetrennt, dass eine scharfe Schneide entsteht. Ein Chopper ist entstanden. Wenn die gegenüberliegende Fläche ebenfalls und in gleicher Weise bearbeitet wird, entsteht ein Bifacial Chopper oder Chopping Tool. Die entstandenen Abschläge sind keine Abfälle, vielmehr wurden ihre Schneidekanten ebenfalls genutzt. Bei mehrfacher Nutzung wurde die Kante nachbearbeitet, also retuschiert. Ein Schaber entstand. Chopper, und Bifacial Chopper bilden die Kernsteine, von
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denen man Abschläge gewonnen hat. Ein Oldowan-Inventar enthält außerdem Gerölle verschiedener Form, darunter auch zur Kugelform behauene Stücke.
Fundstelle
Geologischer Kontext
Land
Alter
Lomekwi
Nachukui Formation
Kenia
3,5 Millionen
Dikika
Hadar
Äthiopien
3,5 Millionen
Kada Gona
Hadar
Äthiopien
2,5–2,4 Millionen
Omo
Shungura Formation
Äthiopien
2,4–2,3 Millionen
Senga
Lusso Beds
Zaire
2,3 Millionen
Olduvai
Bed I
Tansania
2,0–1,6 Millionen
Koobi Fora
Okote Tuff
Kenia
2,0–1,6 Millionen
Tab. 4: Älteste Steinartefakte und Werkzeugspuren (Dikika).
Abb. 4.1: Einige der ältesten Steinartefakte der Menschheitsgeschichte aus Olorgesaille, Kenia.
Unter dem Begriff Developed Oldowan versteht man solche Inventare, in denen Abschläge und Schaber gegenüber den Kernsteinen bei weitem überwiegen. Die frühere Vorstellung, dass solche Inventare ein fortgeschritteneres Entwicklungsstadium darstellen, ist zu relativieren. Vielmehr dürften Unterschiede im Rohmaterial und in den Aktivitäten der Menschen zu den verschiedenen Inventarausprägungen geführt haben. Am wahrscheinlichsten ist nach meiner Meinung, dass zwischen Olduvai Bed I und Bed II sowie zwischen KBS-Tuff und Okote-Tuff keinerlei gerätetechnische Entwicklung stattgefunden hat. Da die Steinartefakte zur karnivoren Nische der Gattung Homo gehörten, gab es keinen Anlass zu einer Veränderung von Technologie und Artefaktform. Vielmehr müssten Veränderungen, angesichts der nischenbezogenen Funktion der Artefakte, ein hohes Risiko dar-
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Schlagstein
Grundformenproduktion
Geröll
Chopper
polyedrischer Kern
diskoider Kern
Schneiden
scharfkantiger Abschlag
Schaber
Schlachten und Zerlegen
scharfkantiger Abschlag
Schaber
diskoider Kern
Faustkeil
Zerlegen
Cleaver
Pick
Chopper
Faustkeil
Cleaver
Leichte Holzbearbeitung
scharfkantiger Abschlag
Abschlag
Glätten von Holz
Geröll
Schaber
scharfkantiger Abschlag
Schaber
Schwere Holzbearbeitung
Knochen aufschlagen
Gerölle
Cleaver
Chopper
Schaber
Faustkeil
Schaben von Häuten
Schaber
Schaber
Pick
Knacken von Nüssen
Abschlag Schaber Faustkeil
Schneiden von Gras
scharfkantiger Abschlag
Cleaver
Gerölle
Jagd/Verteidigung
Geröll
Abb. 4.2: Der Werkzeugkasten der frühen Menschen in Ostafrika: Steingeräte aus dem Oldowan, Developed Oldowan und Acheuléen mit ihren Funktionen nach R. Klein.
gestellt haben. Die Wahlfreiheit zu solchen Veränderungen dürfte deshalb gering gewesen sein. Daraus könnte man die Vermutung ableiten, dass Veränderungen der Form und der Technologie der Artefakte erst dann eintreten konnten, als sich die
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ökologische Nische der Gattung Mensch abermals veränderte. Dies wird später zu prüfen sein, nämlich dann, wenn es um das Acheuléen geht, das mit dem oberen Bed II von Olduvai zum ersten Mal erscheint. Das Acheuléen ist durch zwei besondere Werkzeugformen, den Faustkeil und den Cleaver (»Spalter«), gekennzeichnet. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die detaillierte Unterteilung der frühesten Steinartefaktindustrien in vier Traditionen oder Komplexe auf unsicherer Grundlage beruht. Es würde ausreichen, alle genannten, aus Geröllen gefertigten Steinartefaktformen aus der Zeit zwischen 2,5 und 1,5 Millionen Jahren unter dem Begriff »Oldowan« zu subsummieren.
Die ältesten Lager- oder Aktionsplätze In die Zeit des Oldowan fallen die ältesten Lagerplätze der Menschheitsgeschichte (oder sind es nur Aktionsplätze, also Plätze, an denen die Abfälle verschiedener Aktivitäten der Menschen konzentriert sind?). Lagerplätze sind durch archäologische Überreste kenntliche Areale, an denen sich eine prähistorische Menschengruppe für eine längere Zeit, zumindest für mehrere Tage, aufgehalten hat. Aktionsplätze sind Areale, an denen sich ein Mensch oder eine Menschengruppe für kurze Zeit einmal oder wiederholte Male aufhielt, um bestimmte Aktivitäten auszuführen, zum Beispiel die Zerlegung eines Kadavers oder die Herstellung von Steinartefakten. Die ältesten, planmäßig dokumentierten und unzweifelhaften archäologischen Fundplätze sind in das Olduvai-Event, also in die Zeit der paläomagnetischen Normalität um 1,8 Millionen Jahren, datiert: • Fundplatz DK I Site – Berühmt wegen einer Behausung, die aber wohl durch herausgewachsene Baumwurzeln vorgetäuscht wurde. • Fundplatz FLK N Site – ältester Elefantenschlachtplatz (Abb. 4.3). • Fundplatz Olduvai Bed I, FLK Zinj-Site – Berühmt wegen der Auffindung des Schädels von Zinj (Australopithecus boisei). Allen drei Fundplätzen aus dem Olduvai-Event ist gemeinsam, dass keine räumliche Gliederung erkennbar ist. Es handelt sich offenbar um Akkumulationen, an denen Hominiden beteiligt waren, außerdem auch große Karnivoren3 sowie fluviale Prozesse. Nur so ist die Gemengelage zwischen Artefakten, BeutetierKnochen mit Schnittspuren und Verbissspuren, Karnivoren-Knochen und Geröllen zu erklären, in der zuweilen auch Hominidenreste vorkommen. Dies führte Glynn Isaac4 zur detaillierten Analyse der verschiedenen Vorgänge, die zur Entstehung eines Fundplatzes führen (Abb. 4.4. und Abb. 4.5).
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Abb. 4.3: M. D. Leakey’s Grabungsplan der Fundstelle Olduvai FLK N (2,3) mit dem Skelett eines Elefanten und Steinartefakten. Unten einige der dort gefundenen, aus Flußgeröllen gefertigten Werkzeuge (Geröllgeräte: 1 und 6) und kleine Werkzeuge aus Abschlägen (2 bis 5).
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Abb. 4.4: Die Steinartefakte auf einem Fundplatz stehen nicht für sich, sondern sind Zeugen eines Transformationsprozesses, den sie durchlaufen haben. Hier ein Beispiel aus Koobi Fora, Turkana-See, Kenia, wo G. Isaac die gefundenen Abschläge wieder zusammensetzen konnte. Zusammensetzungen von Steinartefakten spielten eine große Rolle bei der Entwicklung der Methoden zur prozessualen Archäologie.
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×
×
× Knochen
•
• Steinartefakte
•• × ••
••
N
•• 1
0 ×
2m •
×× •
•• •
• •• • •• • • • •• • •• Steinartefakt• • • • Komplex 10 • • • •
110
× •• × • •• • •• • × × • •× • •• × • × • ו• • ו • • • •• •• × × • • • × •×• • •• × • × × •• •• • • • • • •• • × × • • • Knochen• • • × • Komplex 1 ×× × ×• • • × ••• • • ו • • • • • •
100
•• • • ••
• • •
90
Abb. 4.5: Grabungsplan von G.Isaac: Die Zusammensetzungen der Steinartefakte und der Knochen machen in der Kartierung die ehemaligen Siedlungsvorgänge auf einem archäologischen Fundplatz sichtbar. Unter anderem ist hier der Steinartefaktkomplex 10 aus Abb. 4.4 kartiert.
Diese nennt man auch site formation processes (SFP). Diejenige Methode, die der Entschlüsselung der SFP anhand der Steinartefakte dient, nennt man Transformationsanalyse. Diejenige Methode, die der Entschlüsselung der SFP anhand der Faunenreste dient, nennt man Taphonomische Analyse. Beide Methoden, und weitere Methoden, zielen auf die Erstellung einer Theorie der Fundplatzentstehung. Eine solche Theorie nennt man Middle Range Theory (Theorie mittlerer Reichweite). Theorien längerer Reichweite wären die Theorien des Kulturzusammenhanges und der historischen Kontexte archäologischer Fundplatze oder Fundplatzgruppen.
Middle Range Theory Der Begriff der Middle Range Theory trat mit der New Archaeology in den 1970er-Jahren auf und ist mit den Namen von Lewis Binford und Michael Schiffer verknüpft. Die Idee der Middle Range Theory, die sich mit den Prozessen befasst, welche zur Bildung von Fundplätzen führen, stand in der New Archaeology so sehr im Vordergrund, dass man für die New Archaeology auch den Begriff Processual Archaeology verwendet. Das genaue Verständnis der Prozesse, die zur Fundplatzbildung beitragen, erlaubt es, Prozesse der »n-Transformation«, also der Einwirkung von Naturprozessen und der natürlichen Ver-
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änderungen von solchen der »c-Transformation«, also der kulturellen Anteile am Zustandekommen von Fundplätzen zu unterscheiden. Dies ist die Voraussetzung, um die Funktion eines Fundplatzes im ehemaligen kulturellen Kontext bewerten zu können. Wohnen, Teilen der Nahrung, gemeinschaftliche Arbeitsteilung und Werkzeuggebrauch konstituierten einen sozialen Fokus, als dessen Überrest wir den archäologischen Fundplatz verstehen (Abb. 4.6).
Superstrukturen: Sprache und kulturelle Regeln
Wohnplätze Jagd
toleriertes Betteln Werkzeuggebrauch
Jagd und Aasverwertung
Teilen der Nahrung
Sammeln
Teilen der Nahrung
Arbeitsteilung
Werkzeuggebrauch
Technologie
Abb. 4.6: Der soziale Kontext des frühen Werkzeuggebrauches nach dem Modell von G. Isaac. Im Zentrum seines Modelles stand die Interpretation der Oldowan-Fundplätze als »home bases«, also als Siedlungsplätze früher Homininen. Heute muss man von einer multikausalen Entstehung dieser Plätze ausgehen.
So bildete die Untersuchung der frühen Wohn- und Aktionsplätze in Ostafrika eine wichtige Quelle der modernen Methodologie der Archäologie des Paläolithikums. Glynn Isaac sah das Teilen der Nahrung an den home bases (Lagerplätze) als wesentlichen Schritt zur menschlichen Gesellschaft. Wir haben aber auch das Problem besprochen, dass wohl nicht allein die damaligen Menschen am Zustandekommen der Fundkonzentrationen in Olduvai und Kobi Fora beteiligt waren, sondern auch natürliche Vorgänge. Ob es sich also tatsächlich um home bases handelt, bleibt in jedem Einzelfall zu prüfen.
Out-of-Africa-I: Migration der Gattung Homo nach Eurasien – ein Gastspiel? Weil die unmittelbaren Vorfahren der Frühmenschen bislang nur in Afrika gefunden worden sind, ihre Nachkommen jedoch sowohl in Afrika als auch in
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Eurasien, muss es irgendwann eine erste interkontinentale Wanderungsbewegung (Migration) von Afrika nach Eurasien gegeben haben. Diese Wanderung nennt man das Out-of-Africa-I-Ereignis (Abb. 4.7). Wann es genau stattfand, wissen wir erst seit 25 Jahren.
Pi
K rro oza No rnik rd a
Orce
Dmanisi
Ain-al-Fil Longgupo
Sangiran
Abb. 4.7: Migration des Homo habilis und Homo erectus: »Out of Africa I« – erster Anlauf: Die Auswanderung folgt zunächst der Fundamentalnische (Savannen mit artenreichem Huftierbestand) des Homo habilis in der Zeit des Olduvai-Events vor 1,8 Millionen Jahren. Nach dem Olduvai-Event sind die Menschen in Eurasien vielleicht wieder ausgestorben. Alle Fundplätze sind mit der Oldowan-Industrie verknüpft.Die Datierungen der Fundplätze Pirro Nord, Sangiran und Longgupo sind unsicher: diese Vorkommen könnten somit auch jünger sein.
Frühe Menschen am Kaukasus Es war eine Sensation, als 1991 tatsächlich 1,8 Millionen Jahre alte Hominidenfunde veröffentlicht wurden, die man außerhalb Afrikas gefunden hatte. Man nennt diese Zeit auch die Epoche des Olduvai-Event, einer Zeit magnetischer Normalität, die sich in den Schichten zahlreicher geologischer Aufschlüsse auf der ganzen Welt nachweisen lässt. Die Zeit vor und nach dem OlduvaiEvent gehört zu der umgekehrt magnetisierten Matuyama-Epoche, die bis 780 000 Jahre vor heute dauerte. »Umgekehrt magnetisiert« bedeutet, dass magnetischer Süd- und Nordpol in dieser Zeit (im Vergleich mit der Gegen-
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wart) vertauscht waren. Die Matuyama-Epoche wurde durch die heutige (aus unserer Sicht »normal« magnetisierte) Brunhes-Epoche abgelöst. Das OlduvaiEvent war mithin eine Phase normaler Magnetisierung innerhalb der Matuyama-Zeit. Seit 1991 bildet der Fundplatz Dmanisi in Georgien, mittlerweile zusammen mit dem kürzlich entdeckten, sogar noch unter dem Olduvai-Event liegenden Fundplatz Ain-al-Fil im Gebiet von El Kowm in Syrien5 den gesicherten Nachweis für die Anwesenheit der Gattung Homo aus dieser Zeit in Eurasien. In dieser Zeit lagerten also Frühmenschen in der Gegend Georgiens, in der heute das Dorf Dmanisi liegt. Seine mittelalterliche Festung befindet sich auf einem Bergsporn hoch über dem Mündungsbereich zweier Flüsse. Die paläolithischen Funde machte man zufällig, anlässlich der Untersuchung zur mittelalterlichen Ortsgeschichte. Die Fundschicht wurde in einer stratigraphischen Position oberhalb einer vulkanischen Schicht angetroffen, die radiometrisch auf 1,8 Millionen Jahre vor heute datiert werden konnte. Die zahlreichen Faunenfunde zeichnen das Bild der Lebensgemeinschaft einer Savannenlandschaft nach, ganz wie sie auch im oben erörterten Nischen-Nutzungsmodell der menschlichen Evolution in Ostafrika ihren Platz hat. Ein Vergleich der Faunenreste von ZinjSite und Dmanisi zeigt verblüffende Ähnlichkeiten. Rätselhaft bleibt dabei die Anatomie der Menschenfunde: Einige Individuen sind so verschieden, dass sie einerseits dem Homo habilis und andererseits dem Homo erectus zugewiesen werden könnten. Waren es wirklich zwei Arten oder belegen diese mehr oder weniger gleichalten Individuen eine für uns Heutige kaum vorstellbare, enorme Variation innerhalb einer Gemeinschaft des Homo habilis? Kozarnika und Orce: Balkanhalbinsel und Iberische Halbinsel Zu derselben Migrationsphase der frühen Menschen, auf die Dmanisi zurückgeht, könnte das einige Jahrhunderttausende jünger datierte Kozarnika (Schicht 13; 1,6 bis 1,4 Millionen Jahre B.P.6) gehören. In dieser langen Schichtenabfolge ist erstmals die Anwesenheit des Menschen (ein Molar, Artefakte einer mit dem Olduwan vergleichbaren Industrie und früh-pleistozäne Fauenreste) am Nordrand des Balkangebirges bezeugt. Die Funde von Dmanisi und Kozarnika zeigen einerseits die Ausdehnung des Habitats der frühen Menschen von Afrika bis zum Kaukasus und zum Balkan an, also in den Südwesten Eurasiens, andererseits geschah dies offensichtlich innerhalb der gegebenen ökologischen Nische, nach dem ökologischen Grundgesetz, das jede Art dazu neigt, seine ökologische Nische mit dem ihr zugehörigen Habitat vollständig auszufüllen (Abb. 4.8).
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Aussterben von Homo in Eurasien
Homo-habilis-Nische
Afrika: Landschaftswandel, Aridisierung
Faunenbruch: mehr Megafauna
Homo ergaster Homo erectus
Nischenverbreiterung: Ausdehnung des karnivoren Ernährungssegmentes
Entwicklung schwerer, beidflächig bearbeiteter Werkzeuge zur Markgewinnung und zum Zerlegen von Großtieren
Populationswachstum, Auswanderung
Abb. 4.8: In Afrika erfolgte seit dem Olduvai-Event eine Veränderung der Fundamentalnische des Homo habilis. Schwere Werkzeuge ermöglichten die Markgewinnung aus Knochen großer Tiere. Mit dieser neuen Strategie war wahrscheinlich die erneute Auswanderung nach Eurasien vor rund 1,5 Millionen Jahren verknüpft. In Afrika war diese Zeit mit der Herausbildung des Homo ergaster verbunden. In diese Zeit fällt auch eine Veränderung im Artenspektrum der Huftiere in Ostafrika (»Faunenbruch«).
Dieses Habitat wurde nach wie vor durch die von Huftieren bevölkerten Savannen- oder Steppenlandschaften gebildet. Alle anderen Hinweise auf eine mögliche Anwesenheit des Menschen in diesem Zeitraum um etwa 1,8 Millionen bis etwa 1,2 Millionen Jahre sind unsicher oder zumindest noch ungenügend abgesichert. Dazu gehören z. B. die Funde aus Orce/Spanien, Pirro Nord/Italien, Longgupo/China und einige Funde aus Sangiran/Java. Beim jetzigen Forschungsstand ist es am wahrscheinlichsten, dass die Menschen ihre ursprüngliche ökologische Nische erst 300 000 Jahre später überschritten, als sie lernten, auch in Waldlandschaften zu überleben. Bevor wir uns dieser Zeit zuwenden, noch ein kurzer Blick auf Afrika und auf die Frage, wie sich die Daheimgebliebenen weiterentwickelten.
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Die frühesten Kulturen in Afrika
Die daheimgebliebenen Afrikaner: Homo ergaster Der afrikanische Zweig des Homo erectus wird heute als Homo ergaster bezeichnet. Er tritt zuerst im Okote-Tuff auf, der um 1,6 bis 1,4 Millionen Jahre vor heute datiert. Berühmtestes und vollständigstes Fossil jener Zeit ist der Turkana Boy, wissenschaftliche Bezeichnung »Nariokotomé III«: ein 12-jähriger Junge, in einem Sumpf am Turkana-Westufer gefunden und etwa 1,64 m groß. Er hätte als Erwachsener eine Körpergröße von 1,80 m erreicht – allerdings bei einem Hirnvolumen von nur 900 cm3 – der heutige Mensch verfügt über rund 1500 cm3. Über die Schichtenfolge der verschiedenen vulkanischen Eruptionsprodukte, wie z. B. über den Okote-Tuff, lassen sich die Sedimentfolgen rund um den Turkana-See miteinander in Beziehung bringen. Ein Beispiel hierfür ist der Fundplatz »Koobi Fora FxJj50« am Ostufer des Turkana-Sees, an dem die Menschen dieser Zeit Steinwerkzeuge herstellten, welche sie zur Zerlegung von Giraffen, Boviden (Rinderartigen), Pferden und Flusspferden nutzen (Abb. 4.4 und Abb. 4.5).
Vom Oldowan zum Acheuléen – zweite interkontinentale Migration? Gibt es ein Wanderungsereignis Out-of-Africa-I: zweiter Anlauf, das bis nach Asien reicht? Spätestens in der Zeit des Turkana Boy kommen die ersten Faustkeile vor, wie neue Funde aus Kenia7 und Südäthiopien8 zeigen. Da Faustkeile als definierende Leitformen des »Acheuléen« angesehen werden, wird dessen Beginn also neuerdings mit 1,76 Millionen Jahren vor heute (Kenia) angegeben. Andererseits ist dies der Zeitraum des Bed II von Olduvai, dem Referenzvorkommen der Developed Oldowan-Industrie mit ihren Geröllgeräten. Auch die Steinartefakte von Dmanisi in Georgien stammen aus dieser Zeit, und auch sie gehören zu einem Oldowan oder Developed Oldowan. Die Zeit zwischen 1,8 und 1,5 Millionen Jahre vor heute bildet also einen Übergangszeitraum, in dem Faustkeile gelegentlich in Kenia und Äthiopien, sonst aber nirgendwo auf der Welt, auftreten. Der Gedanke liegt deshalb nahe, dass die Ausbreitung der Faustkeile nach Eurasien erst in einer weiteren Migrationsphase, nach der Zeit des Olduvai-Events erfolgte (Abb. 4.9). Ein gutes Argument hierfür liefern die um 1,5 Millionen Jahre vor heute datierten Fundschichten von Ubeidiya in Israel, in denen Geröllgeräte zusammen mit den ältesten Faustkeilen Eurasiens vorkommen. Ähnlich wie vorher in Dmanisi, zeigen die Faunenreste eine Steppen- oder Savannenlandschaft an, z. B. Kolpochoerus olduvaiensis (eine auch in Ostafrika vorkommende Schweineart), Giraffe, Kamel, Nashorn, Elefant und Säbelzahnkatze. Demnach hatte
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auch die damalige Ausbreitung nur innerhalb des angestammten Habitats der frühen Menschen stattgefunden.
Ubeidiya Gongwangling OH9
Abb. 4.9: Migration »Out of Africa I« – zweiter Anlauf: Mit der Auswanderung des Homo ergaster / erectus vor rund 1,5 Millionen Jahren gelangten Faustkeile nach Eurasien. Mit den Faustkeilindustrien, dem sogenannten Acheuléen, könnte die Erweiterung des Habitats in die Waldsteppe erfolgt sein, so dass erstmals die Besiedlung der gemäßigten Zonen Eurasiens möglich wurde (Gongwangling in China; in der Olduvai-Schlucht steht der Fossilfund OH 9/Olduvai-Hominine Nr. 9 für diese Zeit).
Migration von den Savannen und Steppen in die Waldlandschaften Die frühen Menschenfunde des Homo erectus aus Südostasien (Sangiran, Modjokerto/Indonesien) fallen in relativ trockene Klimaperioden und sind an offene, savannen- und steppenartige Landschaften gebunden, ähnlich wie ihre afrikanischen Gegenstücke. Aus den beanspruchten Datierungen um 1,5 Millionen Jahre vor heute für einige Fossilien aus Sangiran/Java ergibt sich ein Mindestansatz für die Besiedlung im Süden Asiens.9 Wann erfolgte aber die Besiedlung der nördlicheren, gemäßigten Zonen? – Sie setzt voraus, dass die einwandernden Menschen ihr Verhalten auf das Überleben in Waldlandschaften, zumindest in
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Waldsteppen, umgestellt hatten.10 Große Huftierherden können in Waldlandschaften nicht überleben, und deshalb ist die Umstellung der menschlichen Lebensweise auf die gezielte Bejagung eines größeres Spektrums von Standwildarten, möglicherweise auch ergänzt durch eine größere vegetabile Nahrungskomponente, unbedingte Voraussetzung für die Besiedlung der bewaldeten, gemäßigten Zonen Eurasiens (Abb. 4.10). Der älteste, stratigraphisch einigermaßen gesicherte Nachweis für diese fundamentale Verbreiterung der ökologischen Nische des Menschen kommt aus Gongwangling in China. Hier wurden innerhalb einer langen Löss-Abfolge Steinwerkzeuge, darunter auch ein Faustkeil, zusammen mit menschlichen Fossilien vom Homo erectus (Lantian Man) und mit einer umfangreichen Waldfauna gefunden und neuerdings auf rund 1,5 Millionen Jahre vor heute datiert.11 Vielleicht gehören auch die ältesten Acheuléen-Vorkommen aus Attirampakkam in Indien in einen ähnlichen naturräumlichen Kontext.12
Atapuerca
2,5 Mio. Homo-habilis-Nische
0,78 Mio.
Migration aufgrund Nischenverbreiterung
Trend zu Karnivorie
um 1,2 Mio.
1,5 Mio. Ergaster-OH9-Nische Markgewinnung optimiert Karnivorie
Ubeidiya (Steppe mit afrikanischen Elementen)
Waldsteppe Gungwangling (Waldsteppe)
? 0,5 Mio. Heidelberg (Waldsteppe)
Peking
Aussterben in Ostasien oder Diffusion in Eurasien?
Abb. 4.10: Das Nischenmodell für den Homo erectus und Homo heidelbergensis ist durch die wiederholte Migration in die Waldsteppenlandschaften gekennzeichnet, die zuerst vor rund 1,5 Millionen Jahren erfolgte.
Damit wurden die Waldlandschaften der gemäßigten Zonen Eurasiens für die Menschen zugänglich. Ob dieser Sprung von den Steppen in die Waldlandschaften nachhaltig war, oder im Verlauf der Menschheitsgeschichte mehrfach unternommen werden musste, wissen wir nicht. Denn über den Zeitraum zwischen 1,5 und etwa 700 000 bis 600 000 Jahren vor heute, als die gemäßigten
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Zonen Europas nördlich der Pyrenäen und der Alpen erstmals besiedelt wurden, ist noch zu wenig bekannt. Auf die Zeit von Ubeidiya folgen im südlichen Teil des westlichen Eurasien nur wenige Fundstellen, darunter Kocabas in der Türkei mit einem Alter von ca. 1,2 Millionen Jahren vor heute13 und als zuverlässig datierter, ältester Nachweis in Europa die Sima del Elefante in Atapuerca in Spanien (Abb. 4.11), mit dem Fossilfund des Homo antecessor (heute nur noch vorsichtig als Homo sp., also lediglich als zur Gattung Homo gehörig, bezeichnet), der auf 1,2 Millionen Jahre vor heute datiert ist.14
Atapuerca Orce
Hippo-Diffusion
Abb. 4.11: Migration »Out of Africa I« – dritter Anlauf: Vor etwa 1 Million Jahren wird Südeuropa wohl von Afrika aus besiedelt. Nördlich der Pyrenäen und nördlich der Alpen gibt es jedoch aus dieser Zeit keine Nachweise der Gattung Homo. Etwa zur gleichen Zeit erfolgt die Einwanderung verschiedener Säugetiere, vor allem der Flusspferde, von Zentralasien nach Europa (»Hippo-Diffusion«).
In die Zeit vor dem Ende der paläomagnetischen Matuyama-Periode soll die zweite Fossilfundstelle im spanischen Atapuerca gehören, die berühmte Gran Dolina mit ihren Fossilien von sechs menschlichen Individuen. Wenig später sind an der Fundstelle von Gesher Benot Yakov in Israel, um 780 000 Jahre vor heute, Feuergebrauch, vermehrte Nutzung von vegetabilischer Nahrung und Nutzung von Knochenmark bereits nachgewiesen. All diese Nachweise haben noch mit der Nutzung offener Landschaften zu tun.
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Rhythmische Migrationen nach Norden: Besiedlung der Waldsteppen Europas Irgendwo zwischen Atapuerca und Gesher muss das Ursprungsgebiet der menschlichen Population gelegen haben, die schließlich den Sprung in die gemäßigten Waldsteppen Europas nördlich der großen Gebirge geschafft hat (Abb. 4.12). Wenn die britischen Kollegen recht haben, gelangten die ersten Nordeuropäer während einer 800 000 Jahre zurückliegenden Warmzeit des »Cromer-Interglazial-Komplexes« bis nach Happisburgh15 an der englischen Ostküste. Während an der Datierung, am Artefaktcharakter und an den Lagerungsverhältnissen dieser Werkzeugfunde und Fußabdrücke (menschliche Fossilien gibt es von dort nicht) noch berechtigte Zweifel angemeldet werden, liegt allerdings für die 700 000 bis 500 000 Jahre alten Fundschichten von Mauer bei Heidelberg ein zweifelsfrei menschliches Fossil vor, der berühmte Unterkiefer des Homo heidelbergensis. Die vor allem durch die Faunenreste nachgewiesene Umwelt der »Waldzeit von Mauer« ergibt ein klares Bild vom Zusammenleben der frühen Menschen mit waldbewohnenden Tierarten, und die Verwertung von Aas (Elefanten, Nashörner) dürfte erheblich zur Ernährung beigetragen haben. Die ökologische Nische, die hier erstmals in unserem Raum durch Menschen besetzt wurde, war auf die Warmzeiten innerhalb des Eiszeitalters beschränkt, also die Perioden des »Cromer-Interglazial-Komplexes« mit MIS 15, MIS 13, MIS 11 und als letzte altpaläolithische Warmzeit schließlich MIS 9 (Holstein-Interglazial, 340 000 bis 300 000 B.P.)16. Die Besiedlung in dieser Phase beschränkte sich in Mitteleuropa (bis auf ganz wenige Ausnahmen) auf diese kurzen warmzeitlichen Perioden. Zwischen ihnen lagen jeweils 100 000 Jahre lange Kälteperioden, in denen Mitteleuropa menschenleer war. Die altpaläolithischen Besiedlungen Mitteleuropas müssen also das Ergebnis vieler, wiederholter Einwanderungen sein: Ein dauerhaftes Überleben der Gattung Homo war mit der kulturellen Ausstattung des Altpaläolithikums nicht möglich. Immer wieder wanderten aber die Menschen aus ihren südlich gelegenen Refugien nach Mitteleuropa.
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Pakefield Boxgrove Heidelberg Atapuerca Gesher
Chou-Kou-Tien
Abb. 4.12: Mit der Nutzung der interglazialen Waldsteppen wurde auch die Besiedlung Mittel- und Westeuropas möglich – ab ca. 800.000 Jahre vor Heute bis zum Ende des Altpäolithikums um 300.000, nur während der Warmzeiten: Alle altpaläolithischen Fundplätze nördlich der großen Gebirge finden sich in diesem Habitat, das dort immer mit einem Interglazial verbunden ist. An manchen Fundplätzen Europas fanden sich Faustkeile aus dieser Zeit. Auch Asien ist zu dieser Zeit bereits durch den Homo erectus besiedelt. Während der Eiszeiten dienten Südeuropa und Südeurasien als Refugien, aus denen heraus die gemäßigten Zonen während Phasen der Wiedererwärmung wiederbesiedelt wurden. Die Verbreitung des Acheuléen (grün) deckt sich weitgehend mit diesen Refugien und belegt – durch die gleichen technischen Rezepte – vielfachen Informationsaustausch zwischen Afrika und Eurasien. Gesher = Gesher Benot Ya’aqov, wo die erste Feuernutzung nachgewiesen ist.
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In Afrika, der Wiege der Menschheit, sind die Pebble Tools als älteste Werkzeuge der Frühmenschen belegt. Diese einfachen Geröllgeräte und einfachen Abschläge gab es dort seit 3,5 Millionen Jahren. Erst viel später, vor rund 1,7 Millionen Jahren, kamen Faustkeile dazu. In Eurasien scheinen dagegen die beiden technischen Prinzipien über einen sehr langen Zeitraum nebeneinander bestanden zu haben: Faustkeile mehr im Westen und Abschlaggeräte mehr im Osten.1 Zwischen vielleicht 700 000 B.P. und 300 000 B.P. erscheinen Faustkeile und Cleaver (des Acheuléen) sowohl im Westen und Südwesten Eurasiens (von West- und Südeuropa bis nach Indien), also auch in verschiedenen Regionen Afrikas. Konzepte der Steinwerkzeugproduktion müssen in dieser Zeit immer wieder ihren Weg von Afrika nach Südwesteurasien gefunden haben, und wahrscheinlich geschah dies durch interkontinentale Migrationen. Wegen der zunehmenden Auswirkung der zyklisch auftretenden Kaltzeiten, werden diese Migrationen nicht nur von Afrika aus nach Norden, sondern auch teilweise in umgekehrter Richtung verlaufen sein. Solche Migrationen sind den damaligen Menschen vielleicht nicht bewusst gewesen. Eine allmähliche Verlagerung der Schweifgebiete mobil lebender Jäger und Sammler reicht aus, um einen Migrationstrend auszulösen.
Westen und Osten: schon damals getrennt? Der amerikanische Archäologe H. L. Movius zog eine Linie quer durch Eurasien, die nach ihm benannte »Movius-Linie«. Diese beschreibt eine der ersten kulturellen Grenzen der Menschheitsgeschichte, welche nicht nur Eurasien, sondern die komplette Alte Welt in zwei Hemisphären teilt: einerseits Afrika gemeinsam mit Süd- und Westeuropa, dem Nahen Osten und Indien und andererseits das nördliche Eurasien und Ostasien. Auf der einen Seite Industrien mit Faustkeilen und Cleavern und auf der anderen Seite Geröllgeräte und Abschlagindustrien. Faustkeile gibt es nur westlich und südlich der Movius-Linie, abgesehen von einigen Ausnahmen. Obwohl in seiner Schlichtheit faszinierend, wirft das Movius-Modell mehr Fragen auf, als es beantwortet, sofern es auf regionalem Maßstab getestet wird. Hier ist insbesondere die mitteleuropäische Situation aufschlussreich.
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Grenzraum Mitteleuropa? Faustkeile des frühen und des mittleren Acheuléen scheinen im westlichen Mitteleuropa zu fehlen. Gemäß der deutschen Nomenklatur wird nur das frühe und das mittlere Acheuléen dem Altpaläolithikum zugerechnet, das späte Acheuléen (Acheuléen supérieur, Jungacheuléen) wird dagegen als Teil des Mittelpaläolithikums betrachtet, da eine standardisierte Abschlagproduktion, wie etwa in Form der Levallois-Methode, solche Inventare begleiten und sogar dominieren. Das mitteleuropäische Micoquien (Keilmessergruppen/KMG, Moustérien mit Micoque-Option/M.M.O.) weist vorrangig asymmetrische bifaziale (zweischneidige) Werkzeuge auf, manchmal mit einer stumpfen Längskante, auch Rücken genannt (Keilmesser oder Pradnikmesser); sie sind häufiger als die nur in geringer Anzahl auftauchenden Faustkeile. Das mitteleuropäische Micoquien tritt ganz am Ende des Mittelpaläolithikums auf, im Verlaufe von MIS 4/3 um etwa 60 000 bis 43 000 B.P. Folglich betreffen nur das frühe und das mittlere Acheuléen das mitteleuropäische Altpaläolithikum. Für Mitteluropa gilt: »Chronologisch gehören nahezu alle Faustkeile – soweit typologisch erkennbar – in eine jüngere Entwicklungsphase, d. h. vornehmlich ins Jungacheul und Micoquien, z. T. vielleicht auch ins ›Moustérien de tradition acheuléenne‹, was bei Einzelfunden kaum entschieden werden kann.«2 Diese Aussage kann immer noch – bis auf wenige Ausnahmen – Gültigkeit für sich beanspruchen, obwohl sich der Forschungsstand bezüglich des deutschen Altpaläolithikums seitdem wesentlich verbessert hat. Während damals altpaläolithische Siedlungsplätze praktisch nicht existierten, wurden seither etliche gut datierte Fundstellen entdeckt und systematisch ausgegraben (Abb. 5.1). Dennoch wurden die meisten mitteleuropäischen Faustkeile isoliert, ohne archäologischen Kontext gefunden. Wurden im Mitteleuropa Faustkeile in archäologischem Kontext gefunden, erwiesen sie sich zumeist als den mittelpaläolithischen Industrien zugehörig, wie dem Jungacheuléen in Markkleeberg (MIS 8 oder 6) und dem mitteleuropäischen Micoquien (M.M.O.) in Salzgitter-Lebenstedt (MIS 4/ 3), welche allesamt, begleitet von bifazial gearbeiteten Werkzeugen, über eine einflächig bearbeitete Geräteausstattung gemäß den Werkzeugherstellungsprinzipien des Moustérien verfügen. Grundsätzlich gehörte Mitteleuropa sicherlich nicht zu den frühesten von Menschen besiedelten Gebieten in Europa. Mit Ausnahme der Fundorte Miesenheim und Kärlich sowie des Unterkiefers von Mauer gibt es kaum einen sicheren Nachweis für menschliche Anwesenheit vor dem MIS 9, d. h. vor 340 000 B.P. Der bedeutende Fundort Bilzingsleben sowie mehrere Stellen in
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Schöningen konzentrieren sich im MIS 9 (Holstein-Interglazial, 340 bis 300 000 B.P. (Abb. 5.2)
Schöningen Bilzingsleben Kartstein
Miesenheim
Wangen Memleben
Kärlich
Mauer Steinheim
Abb. 5.1: Altpaläolithische Fundstellen in Deutschland.
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100.000
Eem-Interglazial MIS 5e Saale-/WartheGlazial MIS 6 Saale-/DrentheGlazial MIS 6
200.000
Maximale Ausbreitung des Skandinavischen Eisschilds Markkleeberg ?
SchöningenWacken-DömnitzInterglazial MIS 7
Rheindahlen Maastricht-Belvedere BIACHE
Schöningen 13-II-4 HolsteinInterglazial MIS 9
Schöningen 12, BILZINGSLEBEN, Kartstein, Cannstatt, STEINHEIM Memleben, Wangen
Elster-AnglianGlazial MIS 10 400.000
Kärlich-PracleauxInterglazial MIS 11
KärlichSeeufer
Glazial MIS 12
500.000
EHRINGSDORF
Markkleeberg ?
FuhneGlazial MIS 8 300.000
Frühes Mittelpaläolithikum
Interglazial MIS 13
MIS 14
Tal der Somme Acheuléen
Kärlich H CromerKomplex MAUER
?
TAUTAVEL
Kärlich G
Miesenheim 1 600.000
Interglazial MIS 15
Wechsel von Mimomys zu Arvicola
Pakefield
MIS 16
700.000 780.000 Matuyama-Brunhes (paläomagnetische) Umkehr
Abb. 5.2: Chronologietabelle zum Altpaläolithikum in Deutschland. In Großbuchstaben: Hominidenfundstellen. Kaltzeiten in blau.
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Da das westeuropäische (altpaläolithische) Acheuléen kurz nach 300 000 beendet war, bleibt theoretisch nur ein kurzes Zeitfenster für eine mögliche Acheuléen-Kultur in Mitteleuropa. Dasselbe Zeitfenster fällt mit der Wärmeperiode des Holstein-Interglazials und mit dem letzten Abschnitt der Kälteperiode zuvor (MIS 10) zusammen. Wichtige Fundstellen dieses Zeitfensters (Schöningen, Bilzingsleben) wurden wahlweise entweder dem Kulturkomplex des Acheuléen zugeordnet3, auf der Grundlage von mehreren bifazialen Artefakten, oder aber einem »altpaläolithischen mikrolithischen Komplex«4 – und somit zeitgleichen westeuropäischen Faustkeilkulturen gegenübergestellt.
Kein Nachweis für menschliche Anwesenheit vor 600 000? Wie festgestellt worden ist, fehlen altpaläolithische Fundstellen nördlich der Alpen aus geologischen Kontexten mit umgekehrter Magnetisierung (außer vielleicht, wie oben erwähnt, in England). Dies bedeutet, dass alle mitteleuropäischen Fundstellen jünger sind als die paläomagnetische Matuyama-BrunhesUmkehr des Erdmagnetfeldes um 780 000 B.P., welche die Grenze zwischen frühem und mittlerem Pleistozän definiert (siehe Abb. 5.2). Innerhalb des mittleren Pleistozäns hat die Evolution der Nagetiere einen weiteren wichtigen chronologischen Anzeiger gesetzt. Zwischen 600 000 und 500 000 B.P. war das Gebisssystem der Spezies Mimomys savini einer schrittweisen Veränderung ausgesetzt, die zur Herausbildung der wurzellosen Spezies Arvicola terrestris führte. Dieser evolutionäre Übergang, auch als »Mäuseuhr« bekannt, ermöglichte die Korrelation zahlreicher wichtiger paläolithischer Fundstellen und führte zu der von Thijs van Kolfschoten und Wil Roebroeks initiierten short chronology-Diskussion seit den 1990er-Jahren.5 Bislang ist kein einziger unumstrittener paläolithischer Fundplatz mit dem Auftreten von Mimomys savini verknüpft. Das heißt, dass in Mitteleuropa keine menschliche Besiedlung vor 600 000 B.P. stattgefunden hat. Die bedeutende stratigraphische Sequenz von Kärlich (Mittelrhein) weist beide oben genannten grundsätzlichen chronologischen Indikatoren auf: Die paläomagnetische Matuyama-Brunhes-Umkehr wurde in Schicht Kärlich B entdeckt.6 Mimomys savini taucht in den Schichten Kärlich C, Kärlich E und Kärlich F auf. Arvicola terrestris cantiana kommt in Schicht Kärlich G (MIS 14) vor, assoziiert mit einigen der ältesten in Mitteleuropa gefundenen Steinartefakten.
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Forderungen nach Füllung der früh- und mittelpleistozänen Lücke Der Forschungsstand7 wurde oft hinterfragt, verschiedene Autoren haben versucht, die früh- und mittelpleistozäne Lücke zu füllen. Im Laufe der Jahre wurde für eine wachsende Anzahl von Fundstellen beansprucht, älter als 600 000 B.P. zu datieren;8 keine einzige Fundstelle lieferte jedoch einen glaubwürdigen Nachweis. Unter diesen Fällen befinden sich drei Gruppen von Fundstellen, die ich mit den Kürzeln ECOL, OCOL und RAOC kennzeichnet habe,9 um etwas Ordnung in die verschiedenen Unsicherheiten zu bringen, die mit diesen Fundstellen verknüpft sind: 1) Die Fundstellengruppe der Early Context-Obscure Lithics (ECOL) Diese Gruppe umfasst Funde aus vermeintlich frühpleistozänem Kontext, der in einigen Fällen durch geologische Untersuchungen verlässlich bestätigt wurde. Allerdings werden für gewöhnlich lithische (steinerne) Funde als Artefakte angesprochen, die jeglicher Spuren menschlicher Einwirkung ermangeln. Fundstellen dieser Gruppe verdienen wiederholte Be(ob)achtung, da sie geochronologische Kandidaten für eine frühe menschliche Besiedlung sind. Ein herausragendes Beispiel dieser Gruppe bildet die Fundstelle Dorn-Dürkheim 310, die um 800 000 vor heute datiert wird (Mimomys savini-Fauna und umgekehrte Magnetisierung). Drei Steine (polyedrischer Kern, Seitenschaber, Abspliss; siehe Abb. 5.3 – A) aus umgelagerten Sanden an einem ehemaligen Seeufer werden als Artefakte angesprochen, bleiben jedoch fragwürdig. 2) Die Fundstellengruppe der Obscure Context-Obscure Lithics (OCOL): Diese Gruppe umfasst Fundstellen aus verschiedenen Kontexten, sehr häufig aus Flussterrassen und Kiesbetten, die entweder nicht sicher datiert werden können oder bei denen das Alter der lithischen Funde nicht zuverlässig mit einem kontextuellem Alter in Beziehung gesetzt werden kann. Jedoch zeigen diese Funde Spuren, die jenen von tatsächlichen Artefakten ähneln (Bulben, manchmal sogar Schlagflächen, regelmäßige Formen, schneidende Kanten). Manchmal sind die Spuren nicht deutlich, und die schlechte Erhaltung der Stücke ermöglicht hier kontroverse Interpretationen. All diese Fälle basieren vorzugsweise auf dem vermeintlichen artifiziellen Ursprung der Artefakte. Hier taucht das Problem auf, dass diese Funde aus grobkörnigen, mobilen lithischen Umgebungen (für gewöhnlich Flussterrassen) stammen, die eine natürliche Produktion von Pseudoartefakten zulassen. Selbst detaillierte Analysen, mittels derer einzelne Stücke entweder als einfache Artefakte oder als Pseudoartefakte klassifiziert werden
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H − Schöningen 13 II-4
Spätes Holstein-Interglazial
MIS 9/8 ca. 300.000 B.P. Holstein-Interglazial
0
5 cm
G − Schöningen 12 F − Bilzingsleben
MIS 9 ca. 300.000– 350.000 B.P.
Spätes Elster-Glazial
E − Memleben D − Wangen
MIS 10 ca. 350.000 B.P.
älter als 350.000 B.P. C − Miesenheim I − 500.000?
A − Dorn-Dürkheim − vor 700.000
B − Mauer − 500.000?
Abb. 5.3: Dem Altpaläolithikum zugeschriebene Pseudoartefakte und Stücke mit unsicherem Artefaktcharakter (A, B und z. T. C?) sowie eindeutige Artefakte (D–H) in Deutschland, in Beispielen.
könnten, müssen fehlschlagen. Innerhalb dieser Fundstellengruppe ist es grundsätzlich unmöglich, irgendeine sichere menschliche Besiedlung in Beziehung zu einem verlässlich datierten Kontext nachzuweisen. Folglich sollten solche Inventare aus der wissenschaftlichen Argumentation ausgeschlossen werden.11
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3) Die Fundstellengruppe der Real Artefact-Obscure Context (RAOC) Diese Gruppe umfasst in der Regel einzelne Artefakte aus undatiertem oder ungesichertem Kontext. Häufig sind diese Artefakte von einiger technologischer Komplexität und daher gut von Nicht- oder Pseudoartefakten zu unterscheiden. In manchen Fällen, insbesondere wenn Faustkeile involviert sind, ist es sogar möglich, bestimmte Stücke mit jenen aus datierten Kontexten zu vergleichen, vor allem mit jenen in Westeuropa (Abb. 5.4). Die Fundstellen dieser Gruppe verdienen wiederholte Be(ob)achtung, da sie typologische Kandidaten für eine frühe menschliche Besiedlung darstellen.
Abb. 5.4: Faustkeile aus Deutschland. Sicher altpaläolithisch: Kärlich-Seeufer/Mayen-Koblenz (A); dem typologischen und technologischen Vergleich nach altpaläolithisch: Hochdahl/Düsseldorf-Mettmann (B) und Bad Salzuflen (C).
Theoretisch verlangen alle drei Gruppen eine logische Ergänzung durch eine weitere Gruppe, die Real Artefact-Reliable Environment (RARE) genannt werden könnte, die aber aus mitteleuropäischem Kontext vor 600 000 B.P. fehlt.
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Vereinzelte Spuren der frühesten menschlichen Besiedlung in Mitteleuropa (MIS 15–MIS 11) Der Hominidenfund der Art Homo erectus aus den unteren Bereichen der Sandgrube bei Mauer nahe Heidelberg stellt den frühesten Hinweis auf die Anwesenheit von Menschen dar und folglich den Beginn menschlicher Besiedlung in Mitteleuropa nördlich der Hochgebirgsketten von Alpen und Pyrenäen. Basierend auf dem Fauneninventar der einbettenden fluvialen Sande datiert der Unterkiefer von Mauer entweder in das MIS 15 oder MIS 13 und müsste demnach zwischen 700 000 und 500 000 Jahre alt sein. Mauer ist die eponyme Stelle des »Mauerer Waldzeit«-Interglazials. Da Arvicola unter den Nagetierresten vorkommt, kann ein früheres Stadium als MIS 15 für Mauer ausgeschlossen werden. Lithische Funde aus Mauer, die dem Homo erectus-Unterkiefer gelegentlich zugeordnet werden, gehören zur Fundgruppe OCOL (siehe oben). Der artifizielle Ursprung der meisten lithischen Funde scheint fragwürdig zu sein. Veröffentlichte Stücke, zumeist Trümmer, weisen Kantenbeschädigungen statt retuschierte Arbeitskanten auf, und die überwältigende Mehrheit der Funde ist ohne stratigraphischem Kontext (Abb. 5.3 – B).
Mittelrheingebiet: Früheste kaltzeitliche Besiedlung? In der Mittelrheinregion gibt es nur eine Fundstelle von ungefähr demselben Alter12: Miesenheim I. Diese Fundstelle nordwestlich von Koblenz lieferte eine Anzahl von 1500 Faunenresten interglazialer Natur (z. B. Nashorn, Schwein, Pferd, Rothirsch, Elch) zusammen mit einigen einfachen Abschlägen, Kernen und Trümmern.13 Die Nagetierüberreste umfassen Arvicola als wichtigen chronologischen Indikator. Da der Fundhorizont unter glazialen Sedimenten liegt, welchen eine auf 464 000 ± 4000 Jahre datierte interglaziale vulkanische Eruption folgt, muss das ungefähre Alter des Fundhorizonts dem vorherigen Glazial-Interglazial-Zyklus entsprechen (um 600 000, während MIS 15). Die kleinen Artefakte, hergestellt aus lokalem tertiärem Quarzit und Quarz, weisen unregelmäßige, eher unbeabsichtigte Formen auf; zwei von ihnen sind verbrannt und bezeugen somit die frühe Nutzung von Feuer (Abb. 5.3 – C). Die enorme Akkumulation von Knochen wurde als Resultat sowohl von menschlichen als auch von natürlichen Agenten interpretiert.14 Aus der im Vergleich zu Miesenheim I nur wenig jüngeren Schicht G der Tongrube Kärlich wurden 14 Artefakte geborgen (darunter drei Kerne, fünf Abschläge, ein Cleaver, zwei Bohrer, ein Schaber und ein Chopper).15 Die Funde stammen aus Löss-Sedimenten, die unter der geologischen Sequenz Kärlich
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H liegen. Kärlich H beinhaltet eine untere Tephra-Schicht (KAE-DT 1) und eine obere Tephra-Schicht (KAE-DT 2), beide mittels der 49Ar/39Ar-Methode auf ca. 450 000 B.P. datiert (MIS 12). Somit muss die Schicht Kärlich G einen klimatischen Zyklus älter sein als Kärlich H und folglich in das MIS 14 gehören, d. h. um 550 000 B.P. datieren. MIS 14 bildet einen moderat-kalten klimatischen Abschnitt, der dem Interglazial von Miesenheim I folgt (Abb. 5.2). Die Schicht Kärlich H (wahrscheinlich der untere Bereich) lieferte 128 Artefakte, von denen einige durch bipolare Technik hergestellt wurden. Gemäß den radiometrischen Daten der eingebetteten Tephra-Schichten, kann diese Schicht in das MIS 12 datiert werden, und liefert somit zum ersten Mal in Mitteleuropa den Nachweis der Anwesenheit von Menschen unter strengen klimatischen Bedingungen in einer durch Kältesteppe geprägten Umwelt. Ein Stoßzahn von einem Steppenelefanten wurde zusammen mit den Artefakten gefunden.
Waldelefanten in »Kärlich-Seeufer« Die bedeutendste Fundstelle in Kärlich, »Kärlich Seeufer«, eine interglaziale Seeuferstelle, erbrachte 146 Artefakte (darunter zwei untypische Faustkeile, z. B. Abb. 5.4 – A) und reichlich Faunenreste, bei welchen Elephas antiquus (Waldelefant) eine wichtige Rolle spielt.16 Eine menschliche Besiedlung erfolgte kurz nach der Deponierung des »Kärlicher Brockentuffs« (der den Horizont Kärlich H überdeckt), einer bis zu 6 m dicken Tephra-Schicht, entstanden durch einen Vulkanausbruch in der Mitte des MIS 12 (Kärlich-Rhume-Bilshausen-Pracleaux-Interglazial). Zusammen mit den publizierten, unbestrittenen Artefakten enthalten die lithischen Funde zudem einen ungewissen Anteil durch vulkanische Aktivitäten modifizierter Stücke (Geofakte oder »Tephrafakte«).17 Bezüglich früher Phasen des Altpaläolithikums (vor 350 000 B.P.) sind die genannten Hinweise die einzigen Anhaltspunkte für die Anwesenheit früher Menschen. Andere bisweilen erwähnte Artefakte dieses Alters sowie Funde, für die Artefaktcharakter beansprucht wurde, erwiesen sich als Pseudoartefakte oder verblieben unsicher in Bezug auf ihren artifiziellen Ursprung. Wenige Dutzend Artefakte aus Miesenheim I, Kärlich G und Kärlich H – zumeist Abschläge – ermöglichen keinerlei technologische oder typologische Klassifikation, weder zugunsten eines Acheuléen noch dagegen. Nur die Faustkeile von »Kärlich Seeufer«, obwohl recht untypisch, könnten Beziehungen zur Ausprägung des westeuropäischen Acheuléen während MIS 11 anzeigen. Darüber hinaus liegt aus westeuropäischer Perspektive die geographische Position der Kärlicher Tongrube westlich des Rheintales an der Peripherie eines möglichen Acheuléen-Kulturareals.
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Warum wurde Mitteleuropa so spät besiedelt? Seit rund 2 Millionen Jahren leben wir Menschen im Eiszeitalter, das durch den Wechsel langer Kaltzeiten und kurzer Warmzeiten geprägt ist. Während der Kaltzeiten sank die Jahresmitteltemperatur um fünf Grad, und es breiteten sich allmählich riesige Inlandgletscher über Nordeurasien aus. Dies führte ganz offensichtlich dazu, dass die Menschen des Altpaläolithikums nur während der kurzen Warmzeiten in Mitteleuropa überleben konnten. Erst die frühen und klassischen Neandertaler schafften es, ab 300 000 B.P. Mitteleuropa auch während der Kaltzeiten zu besiedeln. Um die großklimatischen Rhythmen verstehen zu können, werfen wir einen kurzen Blick auf die so genannte Strahlungskurve der auf die Erdoberfläche wirkenden Sonnenenergie.
Astronomische Parameter steuern die Klimaschwankungen des Eiszeitalters Die Strahlungskurve hängt mit den Milankovic´-Zyklen18 zusammen: Hierbei handelt es sich um rhythmische Veränderungen der auf die Erde treffenden Sonnenstrahlungsintensität oder Sonnenenergie, die über den saisonalen Jahresgang hinaus variiert. Sie erklären einerseits die auf der Erde auftretenden natürlichen Klimaschwankungen zu einem großen Teil und sind daher im Kontext der Klimatologie, Paläoklimatologie – und somit vor allem der Problemkreise Klimawandel und Treibhauseffekt – von großer Bedeutung. Aufgrund vielschichtiger Wechselwirkungsprozesse und Rückkopplungen ist aber andererseits eine Reduzierung des Klimawandels auf die Variabilität der Sonneneinstrahlung allein nicht möglich, weder für vergangene klimatische Prozesse noch für zukünftige. Es handelt sich hierbei um Abweichungen der Solarkonstante in der Größenordnung von ungefähr 5 bis 10 %. Diese Zyklen setzen sich unter anderem aus den überlagernden Effekten der Präzession der Erdachse (Zyklen: 18 000 und 23 000 Jahre), der Veränderung des Neigungswinkels der Erdachse (Zyklus: 41 000 Jahre) und der Änderung der Exzentrizität (Zyklus: 100 000 Jahre) zusammen. Diese Effekte wurden 1941 als erstes von Milutin Milankovic´ mathematisch zusammengefasst, und in der Folge wurden die daraus resultierenden Zyklen auch nach ihm benannt. Die Zyklen der Strahlungskurve (vor allem der 100 000 Jahre dauernde Großzyklus) zeigen eine hohe Übereinstimmung mit den Warm- und KaltzeitZyklen der Sauerstoff-Isotopen-Stadien aus den marinen Bohrkernen (MIS) und bilden damit den Kalender des Weltklimas.
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Jüngste Probleme bezüglich der mittelpleistozänen Chronologie Im Gegensatz zum – wohl klimatisch bedingt – dürftigen Nachweis des frühen Altpaläolithikums scheinen die späten altpaläolithischen Fundstellen in Mitteleuropa sehr ergiebig hinsichtlich Artefakten und Faunenresten. Solche Fundstellen streuen über Mitteldeutschland, mit Bilzingsleben und Schöningen als bedeutendste Stätten. Wangen, Memleben, Wallendorf, Rudko, Trzebnica und Wroclaw gehören zur selben zeitlich-räumlichen Fundstellengruppe. Ein chronologisches Problem ist eng mit dieser Fundstellengruppe verknüpft: Es hat sich das Holstein-Interglazial als deutlich jünger erwiesen als zuvor vermutet (Abb. 5.2). Alle Fundstellen dieser Gruppe wurden in das Holstein-Interglazial gestellt und hier in und kurz vor oder nach dem MIS 11 chronologisch verankert, da MIS 11 zuvor als Äquivalent der paläobotanischen Holstein-Einheit angesehen wurde. Jüngere Neubewertungen der stratigraphischen Evidenz an der namengebenden paläobotanischen Fundstelle19 erbrachten jedoch eine lange Serie von radiometrischen Daten für das MIS 9 und beinhalten seither die Hypothese einer späten und kürzeren Chronologie der späten altpaläolithischen Fundstellengruppe Mitteldeutschlands. Obwohl diese neuen Daten für das Holstein-Landos-Hoxne-Mazovia-Interglazial20 (MIS 9) in dem Artikel von Mebus Gey und Helmut Müller aus dem Jahr 2005 als maßgeblich erkannt wurden, muss festgestellt werden, dass die chronologische Debatte fortgesetzt wird. Die laufenden Ausgrabungen im Schöninger Braunkohletagebau werden zur Frage des Alters der Bilzingsleben-Schöningen Fundstellengruppe (entweder MIS 11 oder MIS 9) beitragen, wenn nicht gar diese lösen. Als weiteres zu lösendes Problem wurden die Fundstellen Bilzingsleben und Schöningen dem neu definierten Reinsdorf-Interglazial zugeordnet (Abb. 5.2), welches jünger als das Holstein (nunmehr MIS 9) eingeschätzt wurde und älter als das Schöningen-Dömnitz-Wacken-Interglazial (MIS 7). Hier ergibt sich das Problem, dass kein Raum übrig bleibt für ein zusätzliches Interglazial (Reinsdorf) an dieser Stufe der globalen Klima-/Tiefsee-Aufzeichnung. Zwei Lösungen wurden für dieses Problem diskutiert: Basierend auf der Ähnlichkeit zwischen beiden palynologischen Sequenzen, hat Thomas Litt jüngst dafür argumentiert, dass sowohl Holstein als auch Reinsdorf zu ein und derselben Wärmeperiode (nunmehr MIS 9, um 300 000 B.P.) gehören, das letztere als Äquivalent zu den späteren Stufen des ersteren.21 Falls Reinsdorf verschieden und jünger als Holstein (MIS 9) ist, könnte es zum interglazialen Komplex MIS 7 gehören, welcher, wie Tiefseekerne anzeigen, dreigeteilt ist. In diesem Fall würde es in den ersten Abschnitt dieses interglazialen Komplexes gehören, und das »Schöningen-Wacken«-Interglazial müsste ein späterer Abschnitt desselben bilden. Diese Version wurde kürzlich durch Sylvain Soriano befürwortet.22
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Die nachgewiesene Ähnlichkeit von Teilen der Holstein- und der Reinsdorf-Vegetationsgeschichte unterstützt gegenwärtig aber die erste Lösung. Vor einigen Jahren wurde eine weitere Chronologie vorgeschlagen, die auf der Annahme beruhte, dass Schöningen 13 II-4 (der Speer-Horizont) zeitgleich mit dem MIS 9 ist, was wiederum auf der Vermutung basierte, dass das Holstein- und das Pracleaux-Interglazial identisch sind und zum MIS 11 gehören.23 Da das Holstein nun in das MIS 9 datiert wird, muss dieses Argument heute verworfen werden, obwohl sich dieses Ergebnis nahe an der von Litt dargelegten ersten Lösung befindet.
Große Inventare und die frühesten nachgewiesenen Lagerplätze (MIS 10/9) Zieht man die Länge der Zeitspanne zwischen dem MIS 11 und dem MIS 9 in Betracht, so ist der archäologische Befund sehr dürftig. Die einzigen sicheren Spuren menschlicher Anwesenheit im westlichen Mitteleuropa stammen aus Deutschland. In Memleben und Wangen wurden Abschläge und retuschierte Werkzeuge in einem geologischen Kontext gefunden, der dem Holstein-Interglazial unmittelbar voranging. Wenn das Holstein nun in das MIS 9 datiert werden muss, gehören die Funde aus Memleben und Wangen in das MIS 10. Diese Fundstellen sind verknüpft mit Flussschotter der Unstrut und der Saale, welche dem späten Elster-Glazial zugeschrieben werden.24 Dietrich Mania schließt die Möglichkeit nicht aus, dass diese Funde zum vorhergehenden Interglazial gehören25, welches nun mit MIS 11 zusammenfallen würde. Wangen lieferte um die 50 und Memleben 104 Artefakte, einschließlich Abschlägen, Kernen und einfachen Werkzeugen. Diese Artefakte werden gewöhnlich als »Clactonien«26 klassifiziert. Einige weisen präparierte Schlagflächen auf, z. B. diedrisch (siehe Abb. 5.3– D) und facettiert (Abb. 5.3 – E).
Bilzingsleben: Artefakte und Fossilien des Homo heidelbergensis In Bilzingsleben/Thüringen erbrachten kontinuierliche Ausgrabungen während mehrerer Jahrzehnte mehr als 100 000 Steinartefakte zusammen mit Überresten des späten Homo erectus oder Homo heidelbergensis und reichhaltigen Überresten einer interglazialen, so genannten Antiquus-Fauna (nach dem Leitfossil Elephas antiquus benannt), die nunmehr in das MIS 9 gestellt wird. Die Funde stammen vom Ufer eines kleinen fossilen Sees, der später durch Travertinbildung versiegelt wurde.
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Die Steinindustrie ist charakterisiert durch mikrolithische Dimensionen, standardisierte Werkzeugformen (Schaber, Bohrer etc.) und eine standardisierten Abschlagproduktion an zentripetalen und unidirektionalen Kernen. Jüngst hat Thomas Laurat eine ganze Serie von kleinen, bifazial gearbeiteten Artefakten von Bilzingsleben zusammengetragen.27 Die Existenz von bifazialen Werkzeugen führte ihn zu dem Schluss, dass Bilzingsleben als Inventar des mittleren Acheuléen aufgefasst werden sollte, das aus funktionalen Gründen wenige unifaziale Werkzeuge enthält. Zukünftige technologische Untersuchungen müssen diese Hypothese überprüfen. Zum gegenwärtigen Forschungsstand ist es unklar, ob die erwähnten Artefakte wirklich Produkte eines Formüberarbeitungskonzepts (façonnage, wie es im Acheuléen der Fall sein sollte) sind, oder ob sie durch Reduktionsprozesse von unifazialen Werkzeugen entstanden sind.
Der so genannte »mikrolithische Technokomplex« Die mikrolithische Größe der Artefakte aus Bilzingsleben ist stark vom beteiligten Silex-Rohmaterial abhängig. Die Rohmaterialquellen befanden sich in der Nachbarschaft, wo Sedimente, die Silex nordeuropäischen Ursprungs beinhalteten, durch die Gletscher der Elster-Kaltzeit und durch Schmelzwasser transportiert und deponiert wurden. Eine Merkmalsanalyse der Abschlagdimensionen durch Dieter Schäfer erbrachte zwei unterschiedliche Gruppen bei separater Untersuchung der Artefakte aus Silex und jener, die nicht aus Silex bestanden (Abb. 5.5). Die Nicht-Silex-Gruppe besitzt größere Dimensionen und ähnelt den Werten aus Memleben und Wangen. Die Silex-Gruppe verfügt über kleine Größen und ist denen aus Verteszöllös und Miesenheim I sehr ähnlich, deren Inventare über extrem kleine Rohmaterialvolumen verfügen. Kleine Knollen bewirken kürzere Operationsketten mit nur wenigen von einem Kern hergestellten Abschlägen. Das kann zu Schwierigkeiten bei der Identifizierung von standardisierten Konzepten der Abschlagproduktionen führen, wie sie nur an wenigen größeren Knollen durchgeführt werden konnten. Daher ist es durchaus möglich, dass die Erzeuger der Bilzingslebener Abschläge die Abschlagproduktion besser beherrschten und über wesentlich größere Fertigkeiten verfügten, als von gegenwärtigen Untersuchern erwartet wird. Bilzingsleben und Verteszöllös spielen eine zentrale Rolle in dem von Jan Michal Burdukiewicz vorgebrachten Modell eines altpaläolithischen »mikrolithischen Technokomplexes«, der Schöningen, Rudko, Wroclaw, Trzebnica und die (jedoch fragwürdigen) lithischen Funde aus Mauer umfasst.28 In diesem Modell wird die Nutzung von Mikrolithen in Form von Einsätzen in Kompositwerkzeugen als ein gemeinsames Kennzeichen des mitteleuropäischen Altpaläolithikums angesehen und als hauptsächlicher Grund für die Mikrolithisierung. Zukünftige Gebrauchsspurenanalysen könnten dazu beitragen, dieses Problem durch die Identifizierung möglicher Schäftungsspuren zu beleuchten.
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40 y = 0,9807x + 0,1842 R2 = 0,9905
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Memleben (n = 62) Wangen (n = 39) Bilzingsleben (n = 77, Nicht-Silex)
30 Breite (in mm)
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25 20
Miesenheim I (n = 24) Verteszöllös (n = 208, Nicht-Silex) Verteszöllös (n = 120, Silex) Bilzingsleben (n = 4112, Silex)
15 10 5 0
0
10
20 30 Länge (in mm)
40
50
Daten von D. Schäfer 1993, Tabelle 11
Abb. 5.5: Mittelwerte zu den Größen von altpaläolithischen Abschlägen. Die Stichprobe aus Bilzingsleben zeigt kleinere Maße für Silexartefakte und größere Maße für Nicht-Silexartefakte. Die Größe der Artefakte hängt also von den vorhandenen Rohmaterial-Arten ab.
Schöningen: Jagd am Ende des Holstein-Interglazials Im Tagebau Schöningen bei Helmstedt liegen unter glazialen Sedimenten der Saale-Kaltzeit (Drenthe-Phase) mehrere Fundschichten mit Resten altpaläolithischer Siedlungsplätze29. Diese werden gegenwärtig dem Holstein-Interglazial zugerechnet (falls das richtig ist, entspricht dies einer Einordnung in das MIS 9). Dazu gehört die Fundstelle Schöningen 13 I, die einen Elefantenstoßzahn (außer Boviden-[Rinderartige]), Pferde- und Hirschknochen) und Silexabschläge erbrachte, darunter mehr als 100 verbrannte Artefakte. Eine kleine Anzahl retuschierter Stücke weist Kerben und gezähnte Kanten auf.30 Die beiden archäologischen Fundhorizonte Schöningen 12, Schicht 1 und Schöningen 12, Schicht 2 stammen aus dem Klimaoptimum des Holstein-Interglazials, der obere archäologische Horizont der Fundstelle Schöningen 13 (Schöningen 13 II-4) stammt vom späten, kalten Stadium desselben interglazialen Komplexes oder vom Beginn der folgenden glazialen Stufe. Aus Schicht 1, dem unteren Horizont der Schöningen 12-Sequenz31 wurden Steinartefakte geborgen, inklusive gekerbte Stücke und Spitzen, die denen des Inventars aus Bilzingsleben entsprechen. Die Steinartefakte (siehe Abb. 5.3 – G, außer dem ersten Stück in der obersten Reihe) von Schöningen 12, Schicht 1 scheinen jedoch etwas größer zu sein als die mikrolithischen Stücke von Bilzingsleben (Abb. 5.3 – F), betonen folglich die spezielle Natur des nahe Bilzingsleben verfügbaren Rohmaterials schlechterer Qualität. Die Faunenreste von
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Schöningen 12 spiegeln die interglaziale Waldumwelt mit Elephas antiquus, Stephanorhinus kirchbergensis, Equus mosbachensis, Bär, Hirsch und Schwein wider. Unter den organischen Resten wurden hölzerne Artefakte, hergestellt aus Abies alba, geborgen. Drei von diesen wiesen künstliche Einkerbungen auf, die offenbar zur Schäftung von Steinartefakten genutzt wurden. Schicht 2, der obere Horizont der Schöningen 12-Sequenz, stammt aus einer Phase der Klimaverschlechterung, kurz nach dem Klimaoptimum des Holstein-Interglazials. Eine Streuung verbrannten Holzes taucht hier auf, demzufolge eine mögliche Feuerstelle anzeigend, neben Steinartefakten (Abb. 5.3 – G, erstes Stück in oberster Reihe) und Knochen.
Die Schöninger Speere Der erwähnte obere Horizont der Fundstelle Schöningen 13 II-4, berühmt durch die hier gefundenen hölzernen Werkzeuge (drei Speere aus Pinus sylvestris und ein Wurfstock aus Fichte bzw. Picea sp.), neben Steinartefakten und Skelettresten von Pferden, welche 96 % aller Faunenreste ausmachen. Einige Steinartefakte (siehe (Abb. 5.3 – H) weisen sorgfältig retuschierte Schaberkanten auf, die mittelpaläolithischen Retuschierungstechniken ähneln. Konvergente, alternierende und einfache Seitenschaber beschwören eine gewisse Werkzeugstandardisierung herauf. Die Fundstelle Schöningen 13 II-4 wurde seither als spezialisierter Pferde-Jagdplatz interpretiert, somit einer der frühesten weltweit. Pferdeherden müssen die Steppenlandschaft am Ende dieser Warmzeit bevölkert haben. Ein See diente den Tieren als Tränke. Bemerkenswerterweise wurden die Artefakte (allesamt aus Flint von Elster-Schotter) anderswo hergestellt, an die Fundstelle mitgebracht (»importiert«), genutzt und erneut bearbeitet, wie etwa 1500 retuschierte Absplisse anzeigen.32 Außerhalb Mitteldeutschlands gibt es einen weiteren Kandidaten für das MIS 9-Interglazial (wahrscheinlich das Holstein): Der Travertinkomplex vom Kartstein nahe Mechernich im südlichen Nordrhein-Westfalen. Hier entdeckte 1977 Hartwig Löhr 31 Artefakte aus Quarz und Quarzit (Abschläge, teilweise durch bipolare Ambosstechnik hergestellt, Kerne) im radiometrisch auf ungefähr 300 000 Jahre datierten Travertin.33 Die erwähnten, durch Artefaktreichtum gekennzeichneten Holstein-Lagerplätze tauchen in Mitteldeutschland am Ende des Altpaläolithikums auf. Die chronologische Phase, die auf MIS 9 folgt, der erste Glazialabschnitt des SaaleKomplexes (Fuhne-Glazial, MIS 8) entspricht wahrscheinlich dem Beginn des Mittelpaläolithikums, repräsentiert durch die berühmte mittelpaläolithische Fundstelle Markkleeberg nahe Leipzig. Das dortige Inventar zeigt Faustkeile und andere bifaziale Werkzeuge begleitet von einer Levallois-Abschlagindustrie. Durch den stratigraphischen Nachweis gehören die Funde aus Markkleeberg zu
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einer Kältephase, die älter ist oder die an den Beginn der maximalen Ausdehnung (Drenthe-Glazialstufe des MIS 6) der Saale-Eisdecke einzuordnen ist. Dies bedeutet, dass außer Stadium MIS 8 auch ein frühes MIS 6-Stadium als zweite chronologische Alternative für Markkleeberg erwogen werden muss. Chronologie, Typologie und Technologie passen gut zu Fundstellen des westeuropäischen »Acheuléen supérieur«, die alle in das frühe Mittelpaläolithikum gehören.
Das Ende des Acheuléen Das französische mittlere Acheuléen begann etwa im MIS 15 (Abbeville »Carrière Carpentier«) und dauerte bis MIS 9 an (Cagny-»l’Epinette«), erstreckt sich somit über 300 000 Jahre.34 Innerhalb dieser Zeitspanne ist der Nachweis aus Mitteleuropa für eine lange Zeitperiode sehr dürftig und lässt keinerlei kulturelle Zuordnungen zu, mit der möglichen Ausnahme der Fundstelle KärlichSeeufer. Der letzte Abschnitt des französischen mittleren Acheuléen fällt jedoch in denselben Bereich (MIS 10/9) wie die Serie der mitteldeutschen altpaläolithischen Fundstellen. Die neue chronologische Hypothese (MIS 9) für die Schöningen-Bilzingsleben-Fundstellengruppe legt eine Zeitgleichheit mit der formation IV von Cagny-l’Epinette nahe. Die hauptsächliche Acheuléen-Besiedlung von Cagny-l’Epinette 11 datiert in das Klimaoptimum des Holstein-Interglazials und muss daher als zeitgleich mit Bilzingsleben, Schöningen 13 I und Schöningen 12 angesehen werden, wobei dort (in Mitteldeutschland) typische Faustkeile fehlen. Das nur wenig jüngere Acheuléen-Inventar von Cagny-l’Epinette H stammt aus demselben Zeitfenster wie die Speer-Fundstelle Schöningen 13 II-4 (MIS 9, finale Phase). Obwohl in Bilzingsleben einige kleine bifaziale Stücke gefunden wurden, zeigen die Steininventare der Schöningen-Bilzingsleben-Gruppe kaum Spuren von façonnage, sondern fokussieren deutlich auf dem débitage-Konzept der Steinartefaktproduktion. Es muss gleichfalls beachtet werden, dass die débitage-Systeme offensichtlich sehr heterogen sind und nicht alle zu ein und derselben technologischen Tradition gehören. Jenseits kultureller Traditionen können jedoch zwei weitere Faktoren das Fehlen von Formüberarbeitung im deutschen Altpaläolithikum verursacht haben: die Verfügbarkeit von geeigneten Rohmaterialien und die Muster der Landnutzung.
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Rohmaterialverfügbarkeit In Schöningen war Silex aus der lokal vorliegenden Elstermoräne verfügbar, in Bilzingsleben musste dasselbe Rohmaterial aus einiger Distanz gewonnen werden. Dies führte zu einer intensiven Reduktion bei den Silexartefakten von Bilzingsleben, die im Gegensatz zu größeren Dimensionen der nicht aus Silex gefertigten Artefakte an derselben Fundstelle steht. Südlich des Gebietes, welches einst durch den Elster-Eisschild bedeckt wurde, war die Rohmaterialsituation noch schlechter, dort fehlt Silex ganz oder war nur in sehr geringer Menge verfügbar. Quarzit, Quarz, Lydit und andere Rohmaterialien wurden stattdessen verwendet, die sich allerdings noch schlechter zur Herstellung von beidflächig bearbeiteten Werkzeugen eignen.
Landnutzungsmuster Als zweiter Faktor, der die Menschen daran gehindert haben könnte, Werkzeuge beidflächig zu bearbeiten, was typisch für ein Acheuléen wäre, könnte die Struktur der Landnutzungsmuster eine Rolle gespielt haben. Die Herstellung von Faustkeilen und die Abschlagproduktion könnte an räumlich voneinander entfernten Stellen innerhalb desselben Landnutzungssystems stattgefunden haben. Dies würde die erstaunlich häufigen Vorkommen von isolierten Faustkeilen35 erklären, welche demnach überwiegend außerhalb der Lagerplätze bei Außenaktivitäten genutzt worden wären. In Soucy/Frankreich hat die Kartierung der Grabungsfunde Argumente dafür geliefert, dass eine solche Differenzierung in der Tat existiert haben könnte. Drei Arten von Fundkonzentrationen wurden hierbei auf ein und derselben Siedlungsfläche aus dem Holstein-Interglazial nachgewiesen36: Fundkonzentrationen mit Faustkeilen (beidflächig bearbeiteten Werkzeugen), ohne deren Herstellungsreste. Die Faustkeile wurden woanders hergestellt, dann zur Fundstelle importiert und hier verworfen. Alle sonstigen Werkzeuge der Fundkonzentration wurden aus Abschlägen gefertigt (Soucy 5, niveau I). Fundkonzentration mit Resten der Abschlagproduktion, gemeinsam gefunden mit Abfällen aus der beidflächigen Zurichtung (Formüberarbeitung), aber ohne Faustkeile (Soucy 5, niveau II). Die Faustkeile müssen also nach Gebrauch aus der Fundkonzentration herausgetragen worden sein. Fundkonzentration mit Faustkeilen, dazu Abfälle aus allen Abschnitten der Herstellungskette der Formüberarbeitung, sowie einflächig bearbeitete Werkzeuge, die entweder aus Grundformen der Abschlagproduktion oder aus Abfällen (Nebenprodukten) der Formüberarbeitung stammen (Soucy 3). Die Beispiele aus dem MIS 9 von Soucy zeigen, dass sowohl Faustkeile (und das mit ihnen verbundene Herstellungsprinzip der Formüberarbeitung)
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als auch Abschläge (und das damit zusammenhängende débitage-Produktionsprinzip) eine bestimmte Rolle innerhalb der Mobilität und des Landnutzungsmusters dieser Zeit spielten. Das lässt die Möglichkeit zu, dass Fundstellen mit Faustkeilen und ohne Faustkeile zu derselben kulturellen Einheit gehören. Ein solches Landnutzungssystem könnte also ebenso die Ursache für das Fehlen von Faustkeilen in den mitteldeutschen altpaläolithischen Fundstellen darstellen. Gegenwärtig kennen wir auch tatsächlich isolierte Funde von Faustkeilen, die den französischen Beispielen des mittleren Acheuléen bezüglich Form und technologischer Kennzeichen ähneln. Diese Stücke können sehr wohl Kandidaten eines deutschen mittleren Acheuléen darstellen, obgleich sie der Fundstellengruppe der Real Artefact-Obscure Context (RAOC, siehe oben) angehören. Folgende zwei Stücke habe ich aus einer größeren Anzahl von ähnlichen Beispielen ausgewählt: Zum einen gehört vielleicht der große bikonvexe Quarzit-Faustkeil aus Erkrath-Hochdahl in Nordrhein-Westfalen hierher (Abb. 5.4 – B); er wurde 1927 neben einem massivem Cleaver und einem Abschlag, beide ebenfalls aus Quarzit, gefunden.37 Diese Funde stammen aus dem Liegenden eines 10 bis 12 m mächtigen Lösspaketes und wurden zusammen mit Resten von Rentier, Mammut, Wollnashorn und Höhlenbär zutage gefördert, wobei die Zusammengehörigkeit von Faunen und Artefakten unklar blieb. Zum anderen soll der Kieselschiefer-Faustkeil aus Salzuflen38 genannt werden (Abb. 5.4 – C), der bei Bauarbeiten am Ufer der Werre im östlichen Westfalen gefunden wurde. Dieses Beispiel weist eine besondere Kombination aus schaberartigen Arbeitskanten mit Kanten, die durch feine, alternierende, beidflächige Verdünnung entstanden sind, auf. Dieselbe Kombination wurde bei einigen Faustkeilen aus Soucy beobachtet. Die Frage entsteht, ob Schwabedissens Aussage (siehe oben) wirklich richtig ist, dass alle in Deutschland gefundenen Faustkeile zwangsläufig als mittelpaläolithische Exemplare angesehen werden sollten. Den Fall Soucy im Hinterkopf, ist es durchaus möglich, dass altpaläolithische Faustkeile unter den vielleicht Hunderten von isolierten und undatierten Faustkeilfunden in Deutschland versteckt sind.
Fazit: Ost und West Dem Auftreten des frühesten Acheuléen in Westeuropa fehlt ein mitteleuropäisches Gegenstück, da kein sicherer Nachweis für menschliche Anwesenheit vor 600 000 Jahre (MIS 15) existiert, während Inventare zwischen 600 000 und 400 000 Jahren (MIS 11) von unklarem Charakter oder schlicht zu klein sind, um ihre typologische oder technologische Zugehörigkeit zu beurteilen.
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Kärlich, eine Mittelrhein-Fundstelle aus dem MIS 11, lieferte (untypische) Faustkeile und könnte folglich Beziehungen zum westeuropäischen Acheuléen anzeigen. Die meisten altpaläolithischen Fundstellen in Deutschland gehören in das letzte Stadium des Altpaläolithikums (MIS 10/9), der späten Elster-Kaltzeit und dem Holstein-Interstadial. In diesen Inventaren herrscht die Abschlagproduktion vor, und die Formüberarbeitung fehlt weitgehend. Jüngste Ausgrabungen in Frankreich (Soucy) haben auf die spezifische, räumlich differenzierte Nutzung von Produkten der façonnage und der débitage innerhalb desselben kulturellen Systems hingewiesen. Isolierte Funde von Faustkeilen können ebenfalls auf funktionale Varianten desselben, vielleicht hochgradig differenzierten Acheuléen-Landnutzungsmusters hinweisen, wie dies in Westeuropa beobachtet wurde. Die Existenz eines Acheuléen-Kulturkontextes in Mitteleuropa während MIS 10/9 kann zum gegenwärtigen Forschungsstand nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Die Annahme, es hätte im Altpaläolithikum Mitteleuropas einen gesonderten »mikrolithischen Technokomplex« oder ein gesondertes »Clactonien« gegeben, bleibt damit spekulativ. Zukünftige Forschungen bedürfen einer detaillierten technologischen Bestandsaufnahme aller in Deutschland gefundenen Faustkeile, eines Vergleiches mit stratifizierten westeuropäischen Exemplaren und einer Untersuchung der vorhandenen Abschlagindustrien der Schöningen-BilzingslebenGruppe (MIS 10/9). Dabei müsste geklärt werden, ob es in diesen Inventaren nicht doch Überbleibsel der beidflächigen Bearbeitung (Formüberarbeitung) gibt, und welche Stellung sie in den zugehörigen Systemen der Mobilität, der Landnutzung und der Rohmaterialbeschaffung einnahmen. Die bedeutenden altpaläolithischen Fundstellen Mitteleuropas haben fast ausschließlich Abschlagindustrien hervorgebracht, die beispielsweise mit Überresten des Homo heidelbergensis in Bilzingsleben oder den hölzernen Speeren in Schöningen assoziiert sind. Dagegen lassen sich im frühen Mittelpaläolithikum Faustkeile der Industrie des »Jungacheuléen« (Acheuléen supérieur d’Europe centrale; Markkleeberg – frühe Saalezeit) beobachten. Im ganz späten Mittelpaläolithikum, im Micoquien/M.M.O. Mitteleuropas, also den »Keilmessergruppen« (z. B. Bockstein, Sesselfelsgrotte, Buhlen – mittlere Weichselzeit), sind hauptsächlich formüberarbeitete Stücke feststellbar, wirkliche Faustkeile bilden aber die Ausnahme. Gleichwohl bleiben Funde von Faustkeilen in Mitteleuropa sehr selten. Häufiger werden diese ohne stratigraphischen Kontext und isoliert gefunden. Einige dieser Stücke können durch Analogieschluss dem Mittelpaläolithikum zugeordnet werden, andere, deutlich weniger, erinnern an beidflächig bearbeitete Werkzeuge des mittleren Acheuléen Westeuropas.
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6 Methodisches Intermezzo: Wie wurden Faustkeile gemacht?
Die beidflächig bearbeiteten Werkzeuge des Alt- und Mittelpaläolithikums sind durch komplexe, zahlreiche Arbeitsschritte umfassende Operationssequenzen entstanden.1 Als langfristig genutzte Werkzeuge sind sie auf vielfältige Herstellungsweisen und unterschiedlichste Nutzungen zurückzuführen. Ein standardisiertes Formblatt wird hier zur Beschreibung derjenigen Arbeitsschritte entworfen, welche mit der Produktion eines flächig formüberarbeiteten Werkzeugs verbunden sind. Die daraus resultierende Datenbank bildet die Voraussetzung zur Bestimmung von chronologischen Beziehungen, welche durch eine HarrisMatrix dargestellt werden können.
Definition von formüberarbeiteten Stücken Formüberarbeitete Stücke2 werden aus Rohmaterialknollen oder aus großen Abschlägen hergestellt, die ihr endgültiges Volumen und ihre endgültige Kontur durch eine spezielle, allumfassende, flächige Zurichtung erhalten. Formüberarbeitung betrifft in der Regel den Großteil der Oberfläche und wird zumeist durch direkten weichen Schlag ausgeführt.3 Formüberarbeitung kann sowohl bifazial (beidflächig) wie etwa bei Faustkeilen oder unifazial (einflächig) wie bei typischen »Halbkeilen« des zentraleuropäischen Micoquien erfolgen. Aus diesem Grund verwende ich im folgenden Kapitel den Begriff »formüberarbeitetes Werkzeug« (entspricht sinngemäß der französischen Bezeichnung pièce foliacée) an Stelle von »bifaziales« Stück. Für die hier gewählte Definition ist die spezielle Art der Formüberarbeitung durch die Abtrennung von Abschlägen von einem Ausgangsstück entscheidend, nicht der Umstand, dass diese auf beiden Seiten oder nur auf einer Seite eines Stückes stattfinden kann. Darüber hinaus können formüberarbeitete Stücke eine funktionale Arbeitskante besitzen, die marginale Retuschen trägt. Die entsprechenden technischen Kategorien zeigt Tab. 5.
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Methodisches Intermezzo: Wie wurden Faustkeile gemacht?
Originaler Zustand
11 – Kortex 12 – zerbrochener Bereich 13 – Abbaukante eines Kerns (Nicht-Levallois) 14 – Abbaukante eines Kerns (Levallois)
Formüberarbeitung
21 – plane Formüberarbeitung 22 – konvexe Formüberarbeitung
Kantenretusche
31 – flache Retusche 32 – semi-steile Retusche 33 – steile Retusche 34 – Quina-Retusche
Präparation
40 – Präparation der Abbaufläche zur Verdünnung oder für Schneidenschlag
Verdünnung
51 – laterale Verdünnung 52 – distale Verdünnung
Schneidenschlag
61 – lateraler Schneidenschlag 62 – terminaler Schneidenschlag
Gebrauchsspuren
71 – Nutzungsspuren 72 – (aus)gesplitterte Kanten 73 – kleine „Clacton“-Kerbe 74 – unregelmäßige Zähnung
Bruch
81 – latitudinal (in Querrichtung) 82 – diagonal 83 – longitudinal (in Längsrichtung)
Thermische Veränderung
90 – krakeliert
Tab. 5: Produktion formüberarbeiteter Stücke: Herkunftsarten der Arbeitsschritte.
Untersuchungsprinzipien Die Untersuchung zielt auf die Operationsketten ab, welche mit der Produktion von formüberarbeiteten Stücken verknüpft sind.4 Die Analyse von Operationsketten basiert auf der chronologischen Sequenz zwischen den auf der Oberfläche eines Artefaktes zu erkennenden Negativflächen, welche durch die Abtrennung vorhergehender Abschläge verursacht wurden. Die Anordnung dieser Negativflächen bewirkt die besondere Oberflächenform der Steinartefakte, und zwar auf • der Dorsalfläche (Oberseite) eines Abschlags,
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• der gesamten Oberfläche eines Kernsteins (für die Abschlagproduktion), • einer oder zweier5 Oberfläche(n) eines formüberarbeiteten Stücks.
Beurteilung der Vollständigkeit von benachbarten Negativen Bestimmte Merkmale, die Indizien sind für die Vollständigkeit eines Negativs, kennzeichnen die zeitliche Abfolge von jeweils zwei aufeinander folgenden Abtrennungen. Das folgende, überlagernde Negativ reduziert die Vollständigkeit des vorherigen Negativs. Daher nimmt die Vollständigkeit vom jüngsten (vollständigsten) zum ältesten Negativ (unvollständigsten) ab.
Abb. 6.1: Zeitbezüge zwischen Arbeitsschritten können erkannt werden, indem jüngere und ältere Negativen der Steinbearbeitung unterschieden werden: 1 – Das jüngere Negativ ist konkaver als das vorherige; 2 – Strahlenrisse des jüngeren Negativs sind vollständiger; 3 – Lanzettförmige Splitter begleiten den Grat des jüngeren Negativs; 4 – Die Umrisslinie des jüngeren Negativs folgt der Oberfläche des vorherigen; 5 – Das jüngere Negativ endet in einem Mikro-Angelbruch.
Zur Beurteilung der Vollständigkeit von Negativen tragen folgende Beobachtungen bei (Abb. 6.1). • Das jüngere Negativ weist eine größere laterale Konvexität auf als das vorhergehende. • Das jüngere Negativ weist Strahlenrisse an der Peripherie auf. Diese Narben fehlen beim vorhergehenden Negativ und bezeugen folglich, dass das jüngere Negativ diese Peripherie entfernt hat und das vorangehende Negativ unvollständig ist. • Kleine Aussplitterungen, meist lanzett- und schuppenförmig, begleiten oft die Strahlenrisse des jüngeren Negativs. Sie können auch am Grat zwischen den beiden Negativen gefunden werden. • Die Umrisslinie des jüngeren Negativs folgt dem Oberflächenrelief des vorherigen Negativs. • Der distale Bereich des jüngeren Negativs weist eine stärker ausgeprägte Konkavität als das darunter liegende Negativ auf. Mikroskopisch kann ein Mikro-Angelbruch an jener Stelle, an der das jüngere Negativ endet, festgestellt werden.
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Beurteilung der Vollständigkeit von überschneidenden Negativen Ein Negativ der Unterseite und ein Negativ der Oberseite stehen sich an derselben Stelle an der Kante gegenüber. Das jüngere der beiden Negative weist alle mit dem Abschlagprozess zusammenhängenden Merkmale auf, wie etwa die Negative am Schlagflächenrest und an der Abbaukante. Dieselben Merkmale fehlen am vorhergehenden Negativ auf der anderen Seite, da dessen basaler Bereich als Schlagfläche für den jüngeren Abschlag der anderen Seite gedient hat. Die Aufstellung einer zeitlichen Abfolge wird folglich durch sich überschneidende Negative zwischen den beiden Seiten eines formüberarbeiteten Stücks erleichtert, während benachbarte Negative chronologische Beziehungen auf einer der beiden Seiten offenbaren.
Definition eines Arbeitsschrittes Zeigen auf der Oberfläche eines Stückes mehrere Negative von benachbarten Abtrennungen dieselbe Schlagrichtung und verfolgen diese denselben technischen Zweck (Formüberarbeitung, Kantenretuschierung, Verdünnung etc.), so werden sie als ein und derselbe »Arbeitsschritt« verstanden. In der Regel umfasst ein Arbeitsschritt mehr als nur eine Abtrennung. Die einzelnen Abtrennungen eines Arbeitsschrittes erfolgten unmittelbar nacheinander. Eine häufige Ausnahme, bei der eine einzelne Abtrennung einen vollständigen Arbeitsschritt repräsentiert, ist zum Beispiel der isolierte laterale Schärfungsschlag. Die chronologische Sequenz bei Arbeitsschritten ergibt sich aus den oben beschriebenen Merkmalen. Für die momentane Analyse ist der Vergleich von Merkmalen nur wichtig, falls die verglichenen Negative von zwei unterschiedlichen Arbeitsschritten stammen, wohingegen Merkmale von Negativen, die zum gleichen Arbeitsschritt gehören, ignoriert werden können. Folglich ist die Definition von Arbeitsschritten, die die Oberfläche eines Stückes formen, erst einmal die Voraussetzung für die Anwendung der Untersuchungsmethode.
Die Glieder einer Operationskette Die Arbeitsschritte, die wir mittlerweile aus einer großen Zahl von Datensammlungen kennen, lassen sich sechs Stufen der Produktion und Modifikation von formüberarbeiteten Stücken zuordnen: 0 Rohmaterialbeschaffung 1 Initiale Formgebung 2 Schlagflächenpräparation
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3 Formüberarbeitung 4 Retuschierung 5 Verjüngung Rohmaterialbeschaffung Die Formen und Volumina, die man bei Rohmaterialknollen findet, sind in Bezug auf den technischen Prozess von grundsätzlicher Bedeutung. Rohmaterialstücke können als kugelförmige Knollen, nierenförmige Knollen, Platten und unregelmäßige Stücke vorliegen. Bei der Beschaffung des Rohmaterials spielt die Auswahl der am besten geeigneten Formen und Größen eine wichtige Rolle. Initiale Formgebung Die ausgewählten Rohmaterialstücke müssen auf spezifische Weise umgeformt werden, um sie für die weitere Bearbeitung vorzubereiten. Große, unregelmäßige Rohmaterialstücke werden häufig durch Abtrennung großer Kortexabschläge aufgeschlossen. Die Produkte dieser Formgebung werden als »Vorformen« (oder Halbfabrikate) bezeichnet. Manchmal wurden von großen Rohmaterialstücken großformatige Abschläge genommen, welche unmittelbar als Vorformen oder Trägerstücke für formüberarbeitete Werkzeuge dienten. Schlagflächenpräparation Die Vorformen benötigen eine weitere Präparation, um die endgültige Formüberarbeitung zu ermöglichen, die dann gewöhnlich mittels weichen Schlags (z. B. mit einem Holzschlägel) ausgeführt wird. Daher richtet sich die spezielle Kantenpräparation nach bestimmten technischen Vorgaben begründet, wie einem regelmäßigen Umriss, einer spezifischen Form der Schlagfläche (für die spätere Behandlung mit dem weichen Schlagwerkzeug) oder einer möglichst präzisen Vorherbestimmung des Schlagwinkels. Wenn große Abschläge an Stelle von Vorformen genutzt werden, sind einige der erwähnten Kriterien bereits erfüllt, und eine zusätzliche Präparation muss nicht unbedingt nötig sein. Formüberarbeitung Eric Boëda hat zwei Methoden der Formüberarbeitung (französisch: façonnage) identifiziert.6 Die erste Methode wird »plane Formüberarbeitung« (façonnage plan) genannt: Eine gratförmige Schlagfläche wird auf der Kante eines Werkstücks eingerichtet, von welcher mittels weichem Schlagwerkzeug und gerader
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Schlagführung (Geste) ein hauchdünner Abschlag abgetrennt wird. Dieser Abschlag ist dabei oft zerbrochen und endet häufig mit einem Angelbruch. Der Basalteil eines solchen Abschlags zeigt dorsale Reduktion. Der Längsschnitt des Abschlags ist gerade. Die zweite Methode wird »konvexe Formüberarbeitung« (façonnage convex) genannt. Hier wird durch Retuschierung erst einmal eine gezähnte Kante hergestellt. Die herausstehenden Zähne zwischen den kleinen Kerben der Kante werden als Schlagflächen für die Formüberarbeitung genutzt, welche mittels tangential geführten, weichen Schlags durchgeführt wird. Die Abschläge sind konvex und weisen zipfelartige Schlagflächenreste auf; sie zeigen dorsale Reduktion, oft lanzettförmige Narben auf der Ventralseite und einen konvexen Längsschnitt. Retuschierung Nach der Formüberarbeitung einer oder beider Seiten liegt ein Trägerstück vor (entsprechend dem Abschlag bei der Abschlagproduktion), das nun durch weitere Retuschierung auf einer oder mehreren Kanten zu einem Werkzeug umgewandelt wird. Sehr oft sind Retuschierungen nur auf der konvexen Oberseite eines formüberarbeiteten Stücks zu finden. Karl-Heinz Rieder hat anhand der bayerischen (spätmittelpaläolithischen) Micoquien-Fundstelle Hohler Stein bei Schambach gezeigt, dass die meisten formüberarbeiteten Werkzeuge dem Funktionsprinzip »Werkzeuge mit schneidender Kante« folgen, mit diesen Kennzeichen: plane Unterseite, zugespitzter Umriss, schneidende Schärfe an der rechten Kante der konvexen Oberseite und schneidende Schärfe nahe der Spitze.7 In Schambach beträgt die durchschnittliche Länge der Retuschierung an der schneidenden Kante nur rund 20 mm. Verjüngung Während ihrer Nutzung werden die Kanten eines Werkzeugs beschädigt oder ihre Schärfe nimmt ab. Erneuerungen der Arbeitskanten des Werkzeugs sind dann erforderlich. Durch die Nachbearbeitung eines Werkzeugs kann man nicht nur eine abgenutzte Kante erneuern, sondern man kann auch einer Kante eine andere funktionale Bestimmung geben. Gewöhnlich erfolgt die Erneuerung einer Kante durch sekundäre Retuschierung. Falls hierfür dieselbe Kante erneut ausgenutzt wird, ist eine sekundäre Formüberarbeitung oder Verdünnung notwendig, bevor die Kante noch einmal retuschiert wird. Eine spezielle Methode der Kantenschärfung, sehr typisch für das zentraleuropäische Micoquien, ist die Anwendung eines lateralen Schneidenschlags (Pradnikschlag8), welcher zumeist an der Oberseite, manchmal jedoch auch an der Unterseite eines formüberarbeiteten Stückes auftaucht. Dieselbe Methode kann auch am termin-
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alen Ende eines Stückes angewendet werden, als terminaler Schärfungsschlag. Ein einzelnes formüberarbeitetes Stück kann viele Stufen der Erneuerung durchlaufen, wie etwa sekundäre Retuschierung, sekundäre Formüberarbeitung, sekundäre Verdünnung, laterale und terminale Schärfungsschläge. Während Spuren der letzten Formüberarbeitungs- und Verdünnungsschritte zumeist auf der Oberfläche eines Stückes konserviert sind – zumindest in kleinen Überresten –, wurden Retuschierungen der Kanten oft durch weitere Überarbeitungen wieder entfernt und sind deshalb für uns nicht mehr erkennbar.
Wie sieht das Untersuchungsergebnis aus? Manchmal besitzen formüberarbeitete Stücke lange »Biographien« – sie wurden genutzt und wiederholt erneuert, innerhalb einer langen Zeitspanne von der Herstellung bis zum Verwerfen. Während dieser Zeitspanne können sie mehrere Volumen- und Umrissveränderungen durchlaufen. Eine Klassifikation von formüberarbeiteten Stücken allein nach ihrer äußeren Form ist daher immer fragwürdig: Ist die äußere Form das Produkt eines kulturellen, typologischen und funktionalen Konzepts oder ist es »nur« eine Etappe der Reduktion innerhalb einer langen Werkzeugbiographie. Die Reduktionssequenz, nebenbei bemerkt, könnte ja ihrerseits einem regelmäßigen wiederkehrenden Konzept folgen. Die Umrissform eines Stückes ist im höchstem Maße Veränderungen durch Gebrauch und Reparatur ausgesetzt, denn diese betreffen in erster Linie die Kanten eines Werkzeugs. Folglich sollte es in Zukunft keine formale Klassifikation von formüberarbeiteten Stücken mehr geben, die nicht von einer Arbeitschrittanalyse begleitet wird. Wie erwähnt, haben Boëda und andere zwei Methoden der Formüberarbeitung unterschieden9: konvexe Formüberarbeitung und plane Formüberarbeitung. In Acheuléen-Industrien überwiegt beispielsweise die bikonvexe Formüberarbeitung. Im späten Mittelpaläolithikum war plan-konvexe Formüberarbeitung (eine Seite konvex, die andere Seite plan) wesentlich üblicher. Innerhalb des zentraleuropäischen Micoquien dominiert die plan-konvexe Formüberarbeitung (eine Kante plan-konvex bearbeitet und die gegenüberliegende Kante umgekehrt plan-konvex).
Eine Datenbank der Operationsketten Jeder einzelne Arbeitsschritt wird innerhalb eines strikten terminologischen Rahmens beschrieben, und ein spezieller Code zeigt den genauen Ort des Arbeitsschrittes auf der Oberfläche eines formüberarbeiteten Stückes an. Zu diesem Zweck wird eine Regel benötigt, wie die Artefakte auszurichten sind:
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Jede Ausrichtung basiert auf der Längsachse des Stückes. Spitze Stücke werden mit der Spitze nach oben orientiert. Stücke mit plan-konvexem Querschnitt werden mit ihrer planen Fläche als Unterseite orientiert. Stücke mit bikonvexem Querschnitt werden mit der retuschierten Kante nach rechts orientiert. Falls ein Stück sowohl über einen bikonvexen Querschnitt als auch über eine retuschierte linke und rechte Kante verfügt, ist die Orientierung frei wählbar. Jeder Arbeitsschritt liefert einen Datensatz bezüglich Ort und bezüglich Eigenschaften wie Umriss, Ursprung, Anordnung, Zustand der Kanten und logische Position innerhalb einer Sequenz von Schritten (Mikro-Chronologie).
Der Ort eines Arbeitsschrittes Ist das zu untersuchende Stück gemäß den oben angezeigten Regeln orientiert, sind Oberflächen und die Kanten eines Stückes durch systematische Codes repräsentiert (Abb. 6.2). Jeder Code repräsentiert einen spezifischen Ort, eine Adresse, auf dem Stück, welcher durch die Spuren eines Arbeitsschrittes bedeckt ist. Codes für die Oberseite eines Stückes besitzen ein »O«, jene der Unterseite ein »U« als Initiale. Die folgende Zahl repräsentiert einen Bereich der Kante: 1 Spitze 2 rechte Seite 3 Boden/Unterkante 4 linke Kante 5 weitere linke Kante, an die Spitze grenzend und von 4 durch einen Winkel separiert Falls der Ort eines Arbeitsschrittes im Zentrum einer Fläche liegt und ohne Kontakt zu einer der Kanten, wird dies durch »0« angezeigt. Falls derselbe Ort (zum Beispiel O2) mehr als einen Arbeitsschritt beinhaltet, werden den anderen Schritten sekundäre Code-Nummern vergeben, korrespondierend mit ihrer Position, etwa O21, O22 usw. Häufig sind weniger als fünf Kanten-Abschnitte auf einem Stück vorhanden. Nur diejenigen Abschnitte, die eigene Merkmale aufweisen (Arbeitsschritte oder Primärzustände wie Kortex), werden gezählt. Zum Beispiel hat ein dreieckiges formüberarbeitetes Stück keinen Code O5/U5. Die folgenden Merkmale werden immer im Bezug auf eine solche festgelegte Adresse beschrieben.
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O1
U1
O5
O4
U5
O2
U2
U4
O3
U3
O1
U1
O4
O2
O3
U2
U4
Keilmesser
dreieckiges Faustkeilblatt
U1
Abb. 6.2: Im Uhrzeigersinn angeordnete ›Adressen‹ bezeichnen die verschiedenen Platzierungen von Arbeitsschritten auf einem formüberarbeiteten Stück. Die verschiedenen Bereiche auf der Oberseite (O1 – O5) und auf der Unterseite (U1 – U5) eines Keilmessers und eines dreieckigen Faustkeilblattes.
Die Eigenschaften eines Arbeitsschrittes Umrisslinie Eine Zahl zwischen 1 und 5 zeigt die spezifische Form einer Umrisslinie im Bereich des beschriebenen Arbeitsschrittes an: konkav-konvex konkav gerade
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konvex konvex-konkav Die Nummern lassen hier dazwischen liegende Bewertungen zu: z. B. »3.5« für eine nur geringfügig konvexe Kante. Ursprung Die Art des Ursprunges eines zu untersuchenden Kantenbereichs ist der wichtigste Bestandteil der vorliegenden Analyse. Die möglichen Herkunftsarten sind in Tab. 6 (Spalte »Bearbeitungsweise«) aufgeführt. Anordnung Das Attribut »Anordnung« beschreibt die Regelmäßigkeit, die unter den einzelnen Negativen, die einen Arbeitsschritt bilden, zu beobachten ist: • • • •
parallel angrenzende Negative regelmäßige, aber nicht parallele Negative unregelmäßig angrenzende Negative isolierte, unzusammenhängende Negative.
Zustand der Kanten Dieses Merkmal beschreibt die funktionale Qualität der Kante: • scharf • noch scharf, aber abgenutzt • stark abgenutzt oder nicht zum Schneiden gedacht.
Mikro-Chronologie Da ein Werkzeug Schritt für Schritt bearbeitet wird, hat jeder einzelne Arbeitsschritt einen exakten Platz innerhalb einer Operationssequenz. Die Beziehungen angrenzender Negative, auf welche durch bestimmte Merkmale geschlossen werden kann, definieren diesen Platz innerhalb einer Sequenz. In der Regel sind nicht alle Merkmale, die im Bezug zur Mikro-Chronologie stehen, erhalten, da nachfolgende Schritte diese oftmals entfernen. Folglich ist es wichtig, alle Beziehungen, die auf der Oberfläche eines Stücks zu beobachten sind, zu dokumentieren. Zu diesem Zweck werden Adressen für die einzelnen Arbeitsschritte ver-
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Adresse
Bearbeitungsweise
Kontur
Anordnung
Zustand
Rang O24 >O22; >O21; >O4; >O24
O1
22 – konvexe Formüberarbeitung
-
regelmäßig
-
O2
22 – konvexe Formüberarbeitung
-
regelmäßig
-
geradekonvex
regelmäßig
scharf
>O23
geradekonvex
singulär
relativ scharf
-
-
-
relativ scharf
O21; >U2
gerade
regelmäßig
-
>U44
gerade
regelmäßig
-
>U45 >O21; >O22; >U41
O41 O42
40 – Präparation der Abbaufläche für Verdünnung 40 – Präparation der Abbaufläche für Verdünnung
U2
21 – plane Formüberarbeitung
geradekonvex
regelmäßig
relativ scharf
U3
11 – Rinde
-
-
-
>U2; >U41; >U42 >U45 U44; >U45
U4
21 – plane Formüberarbeitung
-
regelmäßig
-
U41
51 – laterale Verdünnung
gerade
singulär
-
U42
51 – laterale Verdünnung
gerade
regelmäßig
-
U43
52 – distale Verdünnung
geradekonkav
singulär
scharf
>O1
gerade
singulär
-
(älter als) und < (jünger als) dargestellt, z. B. O21>O22 und O22) oder spätere (