Altnordische Rechtswörter: Philologische Studien zur Rechtsauffassung und Rechtsgesinnung der Germanen 3110995328, 9783110995329

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1961/62 von der Philosophischen Fakultät der Universität Hamburg als Habi

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German Pages VIII+264 [276] Year 1964

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Altnordische Rechtswörter: Philologische Studien zur Rechtsauffassung und Rechtsgesinnung der Germanen
 3110995328,  9783110995329

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS -- EINLEITUNG -- 1. RECHT UND ANSPRUCH -- 2. RECHT UND GEWOHNHEIT -- 3. RECHT UND RELIGION -- 4. RECHT UND FRIEDE -- 5. RECHT UND GESETZ -- 6. RECHT UND GEWALT -- 7. RECHT UND TREUE -- 8. RECHT UND WAHRHEIT -- 9. RECHT UND GERECHTIGKEIT -- ZUSAMMENFASSUNG -- ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS -- REGISTER.

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN N E U E FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HELMUT DB BOOR UND HEKMANN KUNISCH B A N D 16 K L A U S Y O N SEE A L T N O R D I S C H E RECHTSWÖRTER P H I L O L O G I S C H E S T U D I E N ZUR R E C H T S A U F F A S S U N G U N D R E C H T S G E S I N N U N G DER G E R M A N E N

ALTNORDISCHE RECHTSWÖRTER PHILOLOGISCHE STUDIEN ZUR RECHTSAUFFASSUNG UND RECHTSGESINNUNG DER GERMANEN

VON

KLAUS VON SEE

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1964

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität Hamburg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1964 Alle Kechte vorbehalten Printed in Germany Gesamtherstellung : Buchdruckerei H.Laupp jr Tübingen

INHALTSVERZEICHNIS Einleitung

1

Forschungslage 1, Philologische Probleme der Untersuchung: Gemeinsprache und Fachsprache 3, Schärfe der Begriffsbildung 4, Nominalstil 7, Kompositionsfähigkeit des Altnordischen 8, Ableitung 9. - Rechtssprachgeographie 10, Einheit des skandinavischen Sprachraums 13, Übersicht über die Rechtsquellen 14, anord. Lehnwörter im Aengl. 15, Fries., engl, und mnd. Lehnwörter im Anord. 16, Ostnordisch-westnordisch 17, Geringe Wandertendenz der Rechtstermini im Gegensatz zu anderen Fachsprachen 18. - Rechtssprache und Dichtersprache 20, Beispiel: das Wort moró in Skaldik, Edda und Saga 21. — Disposition der Untersuchung 23.

1. Recht und Anspruch

25

Die Wortsippe Recht, 25, Etymologie und älteste Bedeutung 26, die Vorstellung vom „geraden und krummen" Recht 27, die Entstehung des juristischen Terminus Recht 29. - Anord. réttr: „das, was einem zukommt; Anspruch" 33, „Befugnis, Privileg" 35, „Amtspflicht, Pflicht" 35, „Prozeßanspruch, Buße" 36, „Leugnungseid" 37 (gerœ rœt 37), „Strafe" 39. - Das Faktitivum rètta („richten") 40, das Nomen agentis rettori („Richter") 43, adän. rœt („Gericht") 50. - Die Bedeutimg „Rechtsordnung" 52, log und réttr 52, „Sonderrecht" (kristinn réttr, bjarkeyjarréttr) 53, landsréttr („Landrecht") 54, westnord. lyritr („Volksrecht"?) 55, ostnord. rœtlesœ63.- DeutscherEinfluß 67. Das tu-Abstraktum réttr und das neutrale Adjektiv rétt 68. Zusammenfassung 70.

2. Recht und Gewohnheit

73

Die Vorstellung vom Volksrecht als gutem altem Recht 73, Gewohnheitsrecht bei Griechen, Römern und Kelten 74. - „Volksrecht" oder „Juristenrecht"? 77, prudentes et juris periti 81, Forderung der Gemeinverständlichkeit kirchlicher Einfluß 83. Die Prozeßberichte der Sagas 83. Volkstümliche Elemente in der Rechtssprache : Stabreimformeln 84, Rechtssprichwörter 87, Witz und Humor 91. - Gewohnheitsrecht 92, westgerm. ëwa, thau 92, anord. siör, sibvenja 94, kirchlicher Einfluß 95. - Das „gute alte Recht" (forn log) 96, kirchlicher Einfluß 97, das Fehlen mythischer und sagenhafter Gesetzgeber 99, Die Terminologie der Gesetzes- und Urteilsflndung im Anord.: slita, shilia, orskuròr, gora 101.

3. Recht und Religion

103

Recht und Religion bei Griechen und Römern 103, bei den Germanen: westgerm. ëwa, ëwart 106, anord. gobi „Gode" 107, sakrales

ν

Strafrecht? 112, Rechtsgötter? 117 (Mars Thingsus 117, Titeas, Tyr 120,Forseti 121, F á r u n d £ i / n 121), Gottesurteil 122 {skírsl 123), Götter in Eidesformeln 125, „Weihbänder" vebönä 129,forvé 130, hamarskipt, sättr 131, heilagr als Rechtsterminus 131.

4. Recht und Friede

139

Die Lehre vom Rechtsbruch als Friedensbruch 139. - Die idg. Wurzel *pri- 142, Friede = „Stammes-, Volksfriede"? 143, „ f r e i " 143 (anord. fr jáis, freisi 144, friòr ok freisi 147), Friede = „Verwandtschaftsfriede"? 150 (*sibjö 150), Friede = „ Hausfriede"? 151. - Ältere Bedeutung von anord. friòr: „Liebe, Schonung" 153. Friöbrut „Friedensbruch" 155, friòr in der Acht-Terminologie 156 (friòlauss 157, friòkaup 158, friòheilagr 160). Die „Sonderfrieden" als Vorstufen des Landfriedens 162 (kunungxfriper, kvennafriòr u . ä . 163). Friòland 164. „Landfriede" (landcens frith, friòr u n d lög) 165. — Anord. griò „Sicherheit" 166, in bezug auf die Hausgemeinschaft 167, als freies Geleit 168, griò u n d friòr 170, älteste Bedeutung (got. grips) 171. Absterben u n d Wiederbelebung des Ausdrucks grid 173.

5. Recht und Gesetz

174

Die Za lyrittr also das „Volksrecht" sei 65 . Der Ausfall des inlautenden d vor r ist nämlich auch sonst belegt 66 , und ebensowenig " Noreen, Aisl. Gramm. § 267, Anm, 2. 55 S. Bugge, Rune-Indskriften paa Ringen i Forsa Kirke, 1877, 8. 55 ff. Vgl. Noreen, Aschwed. Gramm. S. 483 f. " Noreen, Aisl. Gramm. § 292.

57 6 von See, Hechts wortsohatz

bedenklich ist die Vokal- und Konsonantenkürzung im schwachtonigen zweiten Kompositionsglied57. Die Herleitung ist allgemein anerkannt. Auch vom semasiologischen Standpunkt aus sind bisher offenbar keine Bedenken erhoben worden. Und doch ist es erstaunlich, daß das Wort in der erschlossenen Grundbedeutung nahezu nirgends, nach meiner Meinung sogar überhaupt nirgends überliefert ist. Dabei ist es nicht etwa ein absterbendes Wort. Es ist vielmehr in auffällig hoher Zahl belegt, aber es ist ein Rechtsterminus mit eng beschränktem Anwendungsbereich. Im Anorw. erscheint es fast ausschließlich als Bestimmungswort in dem Kompositum Itfrittareidr, das einen Eid mit zwei Eidhelfern, also einen Dreiereid bezeichnet und meist als Leugnungseid dient, z.B. Frost. III, 3: En ef kann leueör nei vidr pafesti kann lyrittar eidfirir... („Aber wenn er nein dagegen sagt, da verspreche er einen Leugnungseid dafür..."). Im Aisl., wo die Institution des Dreiereides fehlt und daher auch das Kompositum, erscheint lyritr durchweg als Simplex und nur gelegentlich in Kompositis. Die aisl. Bedeutung ist „Einspruch; das Recht, gegen die Benutzung eines Grundeigentums seitens anderer Einspruch zu erheben", dann „Verbot" überhaupt, z.B. Grág. II, 222: ... oc veria lyriti styri mönnom öllom oc sva hasetom at feria kann a brott af landi („... allen Schiffsführern und Schiffsgenossen mit Einspruch verbieten, ihn außer Landes zu befördern"), oder Njáls s. Κ. 56, 16: eh ver pér ... Ipriti mài fretta at sœkja („ich verwehre dir ... mit Einspruch, in dieser Sache zu klagen"). Die Formel ά eignarlyrit fyrir landi wird in Grág. II, 424 erklärt : Ef sa madr â eignar lyrit fyrir lande pvi er kann varpe lyrite. enda a kann grasnautn alla a pvi lande bœdi engiar oc haga („Hat der Mann Einspruchsrecht für das Land, für das er den Einspruch erließ, da kommt ihm die ganze Grasnutzung auf dem Lande zu, von Wiesen wie von Triften"), d.h. der Eigentümer erläßt einen Einspruch, ein Verbot gegen die Benutzung der Grasweide usw. mit der Wirkung, daß die Zuwiderhandlung Strafe mit sich führt 68 . Die aisl. Bedeutung „Einspruch" liegt, wie mir scheint, auch dem anorw. Wort zugrunde. Beim Kompositum tyrittareiör, das meist in der Funktion „Leugnungseid" auftritt, wird diese Annahme wohl keine Bedenken erregen. Auch dort, wo anorw. " Noreen, Aisl. Gramm. § 151, 2 und 285, 4. 68 Vgl. ferner über goOalyritr Finsen 641 f., über lyritnœmar aakir Finsen 680; Merker, Strafrecht 71.

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lyrittareidr nicht diese spezielle Bedeutung hat, steht er dem aisl. Sprachgebrauch nahe, z.B. in Frost. II, 35, wo es sich um die Sicherung von Eigentum, nämlich angeschwemmtem Floßgut, mittels eines Dreiereides handelt. In den wenigen Fällen aber, in denen im Anorw. das Simplex lyrittr erscheint, glaubt man die erschlossene Grundbedeutung „Volksrecht" noch lebendig zu sehen. In Gul. 57 heißt es : ... kaupa saman laga kaupi oc lyritar (es wird übersetzt : „sie schließen einen Kauf nach Gesetz und Recht"), in Frost. X, 6: oc evedi harm laga cvöd oc lyritar („und spreche ihn an mit dem Spruch nach Gesetz und Recht"). Man könnte hier versucht sein, eine Formel log oc lyrittr zu erschließen, die der Formel log oc landsréttr genau entsprechen würde. Ebbe Hertzberg weist denn auch - noch vor S. Bugges Entdeckung - ausdrücklich auf die Alliteration hin und meint, lyrittr müsse hier eine Bedeutung haben, die irgendwie mit der von hg korrespondiere69. Die Alliteration besagt aber gar nichts über Alter und Gebräuchlichkeit einer Formel. Im übrigen ist die Formel log oc lyrittr nirgends belegt und m.E. hier auch gar nicht gemeint : Içg und lyrittr werden vielmehr getrennt auf kaup bzw. kvöd bezogen. Die einfachen Verbindungen lagakaup und lagakvöd sind andernorts bezeugt (Frost. X, 48 und X, 8) und gehören in die große Gruppe der Bildungen wie lagabod, lagadómr usw. M.E. hat lyrittr hier ebenfalls die spezielle Bedeutung „Einspruch": in Gul. 57 handelt es sich um einen Kauf, der dem Käufer das Einspruchsrecht gewährt, in Frost. X, 6 macht der Eigentümer einer Sache seinen Anspruch geltend, indem er Einspruch gegen Vorenthaltung und Benutzimg seines Eigentums durch einen andern erhebt. Auch im Aisl. ist die Formel laga kaup oc lyritar überliefert, und hier wird man wohl nicht zweifeln können, daß lyritr die so gut bezeugte spezielle Bedeutung hat, z.B. Grág. II, 418: Siòan scólo peir kaupande. oc seliande nefna ser vatta at pvi at Kann kaupir land at laga kavpe oc lyritar („Dann sollen sie, Käufer und Verkäufer, sich Zeugen dafür nennen, daß er das Land in einem gesetzlichen Kauf mit Einspruchsrecht kauft"). Diese Formel kaupa at laga kaupe ok lyritar entspricht übrigens der Formel des Forsa-Ringes aku at liupriti. Wie sich die angebliche Grundbedeutung „Volksrecht" zu der hier vorgeführten speziellen Bedeutung verengt haben soll, ist schwer zu " Hertzberg, Grundtraekkene 248. 59 6·

erklären. Inwiefern ist der Leugnungseid oder der Einspruch des Eigentümers der Inbegriff des „Volksrechts" ? Erklärbar wäre eine solche Entwicklung, wenn diesem „Volksrecht" irgendeine andere Rechtsordnung entgegenstünde, der gegenüber der Leugnungseid und der Eigentümereinspruch als altes „Volksrecht" behauptet wurden. So dient etwa im Aengl. der Begriff folcriht dazu, das Gemeinrecht vom Königsrecht, vom Baronialrecht usw. abzusetzen (vgl. Liebermann 73). Im Anord. fehlt so etwas. Also wird man vermuten müssen, daß tyrittr von vornherein die spezielle technische Bedeutung hatte. Dazu stimmt auch die Tatsache, daß der Terminus streng auf das Westnordische beschränkt bleibt. Hätte der Ausdruck ursprünglich eine allgemeinere Bedeutung gehabt, würde man auch Spuren im Adän. und Aschwed. erwarten ; - das Zeugnis des ForsaRinges, das ja bezeichnenderweise von kirchlichen Verhältnissen handelt, beruht wohl auf sporadischem norwegischen Einfluß. Das Wort fehlt auch in der Dichtung völlig, - wiederum ein Beweis dafür, daß es von Anfang an ein streng begrenzter juristischer Terminus war. Ein weiteres Bedenken meldet sich, wenn man die übrigen mit lyd- gebildeten Zusammensetzungen überprüft. Es stellt sich heraus, daß alle diese Zusammensetzungen ziemlich jung sind: entweder stammen sie aus dem kirchlichen Leben, wie anorw. lydbiskup ( < aengl. leodbisceop) „Diözesan-, Suffraganbischof ", oder aus dem hochma. Verfassungswesen, wie anorw. lydskylda, f. „Untertanenpflicht", das zuerst in den Landsl., dann vor allem in den Rechtsbesserungen seit 1280 bezeugt ist und übrigens nicht nur die Ergebenheitspflicht gegenüber dem Königtum meint, sondern gelegentlich auch die gegenüber dem Papst (lydskylda vid pafan). Auch lydmadr „der gemeine Mann" gehört wohl hierher, ist jedenfalls nur in späten Quellen belegt. Nur dem Adj. lydskœrr „(einWal), der von jedem geschnitten werden kann" (Frost. XIV, 10) könnte man auf Grund seiner Bedeutung ein höheres Alter zubilligen, wenn nicht auch diese Bestimmung über Fischstrandgut gerade einer jungen Schicht von Rechtsvorschriften angehört, die deutlich vom Interesse des Königtums diktiert ist 60 . Das Wort lijdr „Volk" scheint der nordischen Rechtssprache ursprünglich überhaupt nicht geläufig zu Im JR steht die Vorschrift über Walfunde (III, 62) jedenfalls in einem ganz jungen Abschnitt, der von III, 61-67 reicht u. starken königlichen Einfluß verrät.

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sein. Auch die Simplex-Belege in den Gesetzestexten sind spärlich und jung, und wieder spielt kirchlicher Einfluß mit, z.B. NGL I, 457 : allr lydr kristinna manna. Die Dichtung beweist ebenfalls, daß das Wort im Norden ungebräuchlich ist : es taucht nämlich überwiegend in den sog. Fremdstoffliedern auf, d.h. den eddischen Heldenliedern mit südlichen Sagenstoffen61. Besonders die Formel lond ok Ii/dir („Land und Leute", Hunnenschlachtlied Str. 7, Oddr. Str. 17) ist dem Norden sonst völlig unbekannt. Alle diese Tatsachen sprechen dafür, daß es den Begriff Hydréttr = „Volksrecht" im Norden gar nicht gegeben hat. Den philologischen Argumenten reiht sich noch ein rechtsgeschichtliches an: Wie gesagt, bezeichnet lyrittareidr im anorw. Recht den Dreiereid, und man sollte nun - wenn lyrittr tatsächlich das „Volksrecht" wäre - erwarten, daß es sich hier um eine ehrwürdige alte Institution handle. Der Vergleich mit den anderen germanischen Rechten zeigt aber, daß „der Zwölfereid im Mittelpunkt der Eidhilfe steht" und daß sich die „besondere Stellung des norwegischen Rechtes hinsichtlich der Eidhelferzahlen ... nur aus einer planmäßigen Neugestaltung des Eidhilferechtes in diesem Rechtsgebiete erklären" läßt 62 . Was sollte hier die Bezeichnimg „Volksrecht" ? Wie ist dann aber die philologische Erklärung ? Ich möchte vorschlagen, von einem anorw. Rechtsterminus *hljódréttr auszugehen. Er würde alle bedeutungsgeschichtlichen Voraussetzungen erfüllen, denn hljód, η. bedeutet „Stille, Ruhe", in die man hineinsprechen kann, daher dann auch „Gehör". Formeln wie kvedja sèr hljód „Gehör fordern",/« hljód „Gehör bekommen" sind wohlbekannt63. *hljódréttr ist dann also wörtlich : „Anspruch auf Gehör". Diesen Anspruch macht eben derjenige geltend, der Einspruch gegen einen Vorwurf, eine Klage oder gegen die Beschränkung seines Eigentumsrechts erhebt, der einen Vorwurf leugnet. Das anlautende h ist vor l, n, r im Anorw. im Laufe des 11. Jhs. weggefallen, etwas früher schon im Aschwed.64. Wie ist nun der Übergang von der unumgelauteten " W.Mohr, ZfdA. 76, 160f. • 2 CI. v. Schwerin, Zur aschwed. Eidhilfe 34. " Vgl. auch Gering, Edda. Komm. 1. H., S. 2, und Detter-Heinzel, Saemundar Edda II, S. 2. Im Deutschen entspricht die Gerichtsformel „Ich

gebiete Lust und verbiete Unlust" (lust = as. Must, aengl. hlyst „Gehör, Schweigen"). " Noreen, Aisl. Gramm. § 289; ders., Aschwed. Gramm. § 312.

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Form Hjódréttr zur umgelauteten Form Hydréttr zu erklären? Die Wortsippe hljód wird offenbar gerade in den christlichen Jahrhunderten - d.h. unter kirchlichem Einfluß - sehr beliebt: (h)lydinn, adj., „folgsam, gehorsam", (h)lydni, f. „Gehorsam". Diese umgelauteten Formen haben sich möglicherweise mit einem Wort vermischt, das ebenfalls gerade um diese Zeit im kirchlichen und im weltlichen Yerfassungsbereich Bedeutung gewinnt: eben mit dem Wort lydr, m. „Volk", das auch eine unumgelautete Form Ijódr neben sich hat (SnE Skáldsk. Κ. 63, S. 143: Lydr heitir landfólk eda Ijódr). Zwischen lydinn und lydskyldr besteht ja ein enger Bedeutungszusammenhang. Beim Wort lydbiskup „Suffraganbischof" hat sich diese Verwirrung sogar noch bis in die heutigen Wörterbücher erhalten, denn Möbius 273 erklärt, Ijódbiskup oder lijdbiskup sei eigentlich hljódbiskup, d.h. der „gehorsame Bischof", insofern als er einem Erzbischof untergeordnet war. Das Nebeneinander unumgelauteter und umgelauteter Formen wird den Übergang von Hjódréttr zu Hydréttr angeregt haben. Der Dissoziationsprozeß setzte sich fort in der Auslassung des d (Hydrittr > lyrittr), die wohl in das folgende 12. Jh. fällt. Das Wort an sich wurde dadurch unverständlich, aber es lebte in einer Funktion weiter, die genau seiner Grundbedeutung entsprach. Es war offenbar von Anfang an als ganz spezieller Rechtsterminus im streng technischen Gebrauch festgelegt. Die ausnahmslose Durchführung des ^-Ausfalls in der ganzen westnordischen Überlieferung scheint darauf hinzuweisen, daß das Wort erst nach diesem Ausfall seine weite Verbreitung fand. In Norwegen gab die Einführung des Dreiereid-Systems vielleicht den Anstoß hierzu. Wir müssen auch annehmen, daß das Wort erst ins Aisl. übernommen wurde, als das anlautende h im Anorw. bereits weggefallen war, denn im Aisl. hat dieser A-Ausfall im allgemeinen nicht stattgefunden 65 . Diese Annahme fällt nun gerade beim Wort tyrittr besonders leicht, denn es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Geschichte dieses Wortes, daß es ausschließlich in der Grágás reich vertreten ist und sonst nur ganz sporadisch in einigen wenigen jüngeren Sagas auftaucht, die offenbar unmittelbar aus der Grágás schöpfen (Njáls saga, Κ. 56. 121) 6β . Daß das Wort vor der Grágás « Hans Kuhn, APhS 22, 1954, S. 67, bemerkt, der Abfall des anlautenden h vor l, r, η habe „sich in Island zwar nicht durchgesetzt", habe „aber durchaus nicht nur in einzelnen Handschriften auf die Insel übergegriffen". " Vgl. Fritzners Zusammenstellung: neben unzähligen Grág.-Belegen für

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tatsächlich im Aisl. nicht existiert hat, zeigen die isl. Urkunden des 11.-13. Jhs.: Während die typisch isl. Rechtsterminologie in den Belegen des Dipl. Isl. vor 1250 durchweg belegt ist, fehlt lyrittr mitsamt seinen Zusammensetzungen völlig. Also ist lyrittr wohl erst im 12./13. Jh. von Norwegen nach Island gelangt, und zwar als fest ausgeprägter, bereits dissoziierter Rechtsterminus, der über das kasuistische Recht der Grágás hinaus nicht volkstümlich geworden ist. Es gab im Norden also keinen Begriff „Volksrecht", ebensowenig wie es ursprünglich einen Begriff „Landrecht" gab. Im landsréttr schimmert die Bedeutung „Anspruch" noch durch, im lyrittr bleibt sie ganz offensichtlich lebendig, auch als das Wort schon gar nicht mehr verstanden wurde. In diesem Zusammenhang ist jetzt noch einmal ein Wort aufzugreifen, das bereits im Abschnitt über die Bezeichnung des Bußanspruchs besprochen wurde : das Wort rêttlauss. Dort handelte es sich um einen westnord. Begriff, hier haben wir es mit ostnord. Belegen zu tun: adän. rœtloos, adj., adän./aschwed. rœtlosœjrœtlôsa, f. - Westnord, und Ostnord, scheiden sich streng: im Westnord, existiert nur das Adj. rêttlauss, im Ostnord, fast ausschließlich das Substantiv rcetlösa; das ostnord. Adj. rœtloos ist nur zweimal im JR belegt, wo auffälligerweise gerade das Substantiv fehlt. Im Westnord. bezieht sich rêttlauss auf die „gesetzliche Unfähigkeit, Bußen zu empfangen" und hat insofern fast die technische Bedeutung eines ständischen Begriffs. Im Ostnord, meint rœtlosa die „Weigerung, den Anspruch eines andern zu erfüllen, ihm rechtliche Genugtuung zu verschaffen" und hat insofern die technische Bedeutung eines Deliktbegriffs. Das Adj. rœtloos im JR steht dieser zweiten Verwendungsweise nahe, hat aber offenbar eine allgemeinere und untechnische Bedeutung. Hier soll die Darstellung einsetzen. Nach JR II, 88 soll ein Amtmann, der einen aufgegriffenen Dieb nicht in Gewahrsam nehmen will, sein Amt verlieren, for thy ai han gor bondœn rœt hos („denn er macht den Bauern rechtlos"), nach II, 53 soll der Amtmann, der keine Raubgeschworenen auswählen will, sein Amt verlieren, for thy at han wetœr bondœr rœt loos („denn er macht die Bauern rechtlos"). Im ersten Beleg könnte gemeint Ifritr und seine acht Komposita nur ein Beleg aus der Njáls saga. CleasbyVigf. bringen außerdem noch einen Beleg aus der Ljósvetn. saga.

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sein : der Amtmann verweigert dem Bauern die Wiederherstellung der durch den Diebstahl gestörten Rechtsordnung, im zweiten Beleg: der Amtmann lähmt gleichsam die gesamte Rechtsordnung, indem er die gesetzliche Durchführung der Prozesse unterbindet. Es gibt in der deutschen Rechtssprache den Wortgebrauch einen rechtlos lassen = alieni denegare justiciam, aber die Belege hierfür gehören ins 15./16. Jh. Im 13. Jh. hatte rehilos offenbar ausschließlich die ganz andere Bedeutung „gerichtsunfähig"67. Also scheint ein Zusammenhang mit südlichem Wortgebrauch, der im JR ja immer naheliegt, nicht zu bestehen. Nach nordischem Wortgebrauch ist daher zu deuten: der Amtmann verweigert das, was den Bauern zukommt, er kommt dem Anspruch nicht nach, den die Rechtsgemeinschaft ihm gegenüber hat. Der Deliktsbegriff, also das Substantiv, ist nur in einem begrenzten Raum belegt: im seeländischen, schonenschen und west- und ostgötischen Recht (also im östlichen Dänemark und südwestlichen Schweden). EsR II, 51 handelt von der mehrfachen Weigerung, sich wegen einer Wundsache dem Gericht zu stellen, d.h. entweder Leugnungseid oder Bußen zu geben : thre marc for the rœt losœ han gorthœ hanum at han swarthœ ey „drei Mark für die Rechtlosigkeit', die er ihm dadurch antat, daß er nicht Rede und Antwort stand". Ähnlich EsR III, 51). ÖGR VaJ). 20 handelt von der Weigerung, Bußen wegen einer Wundsache zu zahlen (Überschrift: ...firi rœtlôsu). Ursprünglich scheint der Anwendungsbereich ein engerer gewesen zu sein. Die Mehrzahl der Belege bezieht sich nämlich auf Eigentumsdelikte : auf die Vorenthaltung oder sonstige unzulässige Benutzung fremden Eigentums. Das ist in SR K. 19 und 73 der Fall: einmal ist die Vorenthaltung von Erbstücken bei der Erbteilung gemeint, das andere Mal Vorenthaltung von Land durch Verweigerung einer Vermessung. Es scheint allerdings, daß rœtlesœ nicht die Vorenthaltung an sich ist, sondern die Weigerung des bzw. der Beklagten, vor Gericht Rede und Antwort zu stehen. Auch in VGR I Forn. sak. 2, § 1 ist nicht die Wegnahme des Holzes als rœtlesœ bezeichnet, sondern die Weigerung des Beschuldigten, zum Baumstumpf zurückzukehren, um an Ort und Stelle den Streitfall zu klären : Syn han til stums at farce, pa œr pœt rœtlôsœ („Weigert er sich, zum Stumpf zu ziehen, da ist «' Grimms Wb. VIII, 420f. Über „Rechtsverweigerung" vgl. H.Mitteis, HZ 163, 1941, S. 265f. = Herrschaft und Staat im Mittelalter, Darmstadt 1956, S. 31. 64

das .Rechtlosigkeit'"). Immerhin unterscheidet sich dieser VGRBeleg von den genannten SR-Belegen schon dadurch, daß er nicht die Mißachtung einer gerichtlichen Vorladung, sondern die außerprozessuale Weigerung meint. Ganz offensichtlich ist dann inVGR I Forn. b. 9 pr. und § 1, ferner in Arv. III, 23 mit rœtlôsœ/rœtloza das Eigentumsdelikt selbst bezeichnet. Eine Ähnlichkeit mit den genannten Fällen besteht in Arv. III, 23 wiederum insofern, als hier beim Holzschlag die Anwesenheit und das Verbot des Geschädigten vorausgesetzt werden : Mn fore withstort ellir fare annar skoghx hug tha a man ey beda konungs ret fore. Ν um thys at enu at bondin kumbir sielff withir. oc han ferir thz burt gen bondœns forbuth. tha man thz swa wortha fui retloza („Und für Großschlag und für anderen Holzschlag soll man nicht des Königs Bußanspruch büßen. Denn allein wenn der Bauer selbst hinzu kommt und er [der Täter] führt es [das Holz] fort gegen des Bauern Verbot, da soll es volle Rechtlosigkeit' werden"). Erst in VGR I Forn. b. 9 pr. und § 1 werden Verbrennen von eines andern Mannes Heu, Verbrennen von Mühlen-, Fischerei-, Brückenanlagen und Holzschlag rundweg als rœtlôsœ bezeichnet: pœt cer alt rœtlôsœ. Es läßt sich also eine ganze Skala von verwandten, aber doch verschiedenen Delikten aufzählen, die als rœtlôsœ bezeichnet werden. Was ist das Ursprüngliche? Man meint zunächst, es sei wohl ganz allgemein die Weigerung eines Beklagten gemeint, sich dem Gericht zu stellen. Erst die zuletzt genannten Belege deuten an, daß das Eigentumsdelikt der Ausgangspunkt ist, genauer gesagt: die Mißachtung fremden Eigentums, nachdem der Eigentümer ausdrücklich seinen Anspruch (réttr, rœt) - sei es als allgemeines Verbot, sei es als Einspruch - geltend gemacht hat. Bei Wegführung oder Zerstörung konnte der Einspruch an Ort und Stelle geltend gemacht werden (z.B. inVGR I Forn. sak. 2, § 1 und Arv. III, 21), bei Vorenthaltung dagegen nur durch Gerichtsklage (z.B. SR K. 19. 73). Von dorther mag sich der rœtlesœ-Begriïï dann auf Widersetzlichkeit gegen Gerichtsklage überhaupt ausgedehnt haben. Die Bestätigung liefert der Vergleich mit dem Westnordischen. Dort fehlt bekanntlich das Substantiv *réttleysa. Dagegen kommt in anorw. Gesetzestexten dreimal das Substantiv logleysa „Gesetzlosigkeit" vor (Gul. 34, 268, Landsl. VIII, 18). Auch hier scheint es zunächst, daß sich der Ausdruck logleysa auf die Weigerung bezieht, gerichtliche Genugtuung zu leisten. Aber in allen drei Abschnitten, 65

in denen das Wort vorkommt, handelt es sich um die Vorenthaltung bzw. widerrechtliche Benutzung fremden Eigentums und seines unmittelbaren Zubehörs wie Wiesenheu, Ackerfrucht und Baumbestand. Diese Übereinstimmung mit den ostnordischen Belegen kann kein Zufall sein. Die unmittelbare Beziehung des Begriffs logleysa auf das Eigentumsdelikt ergibt sich auch daraus, daß das gesetzliche Verbot, das der Eigentümer auf sein Land legt, um dadurch die Benutzung durch andere zu unterbinden, log genannt wird: festa logfirir akrinn eda engería „gesetzliches Verbot auf Acker oder Wiese legen" (Landsl. VII, 18). Ich vermute, daß die westnord. und ostnord. Terminologie ursprünglich wohl einheitlich gewesen ist und daß im Anorw. der Terminus *réttleysa durch Içgleysa ersetzt wurde. Der im Anorw. stark vorherrschende Gebrauch von réttr = „Bußanspruch" scheint réttr in anderen Verwendungsweisen zurückgedrängt und die Ersetzung von *réttleysa durch logleysa angeregt zu haben. Damit ist nun nicht gesagt, daß réttr und Içg synonym seien: réttleysa (rœthsœ) betont stärker die Mißachtung eines fremden „Anspruchs", logleysa stärker die Mißachtung eines „gesetzlichen Verbots", denn log in logleysa meint ja nicht „Gesetz, Gesetzesordnung", sondern bezeichnet den „gesetzlich begründeten Verbotsakt". Übrigens hängt mit dem erschlossenen anorw. *réttleysa vielleicht der aisl. Gebrauch von tyrittr = „Einspruch gegen Eigentumsverletzung" zusammen, der wohl auch für das Anorw. vorauszusetzen ist. Die Darstellung des rœtlôsa-Begnïïs wäre damit am Ende, bliebe nicht noch ein Beleg zurück, der der Forschung mehr Kopfzerbrechen gemacht hat als alle vorgeführten Belege zusammen : die Kapitelüberschrift in V G R I pœttœ œr rœtlôsœ bolkœr („Das ist der j-cefZôsœ-Abschnitt"). Nach Hugo Pippings Ansicht haben wir es hier nicht mit dem Femininum rœtlosce zu tun, sondern mit einem nur hier belegten Neutrum rcetlose in der Bedeutung „Gesetzlosigkeit; Fall, für welchen sich bisher keine Bestimmung im Gesetz findet"88. Nat. Beckman wendet sehr zu Recht ein, daß Pipping rœt mit lagh „Gesetz" identifiziere, obwohl ein scharf ausgeprägter Bedeutungsunterschied besteht 69 . M.E. ist die übliche Bedeutung gemeint: die " H.Pipping, Västgötalagens ordskafcfc, s.v., ferner A N F 40, 1924, S. 333 bis 335. Derselben Ansicht sind Sjöros 213 und E. Estlander, Festskr. tillägn. H. Pipping, 1924, S. 95. " Ν. Beckman, A N F 40, S. 240-246.

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Veranlassung zur Überschrift gaben die letzten Absätze, die von Eingriffen in fremdes Eigentum handeln. Die ersten Absätze haben freilich nichts damit zu tun. Man muß sich damit abfinden, daß der ganze Abschnitt - wie H. Pipping sagt - eine „Rumpelkammer" ist und daß es für rœtlôsœ keine Bedeutung geben wird, die alle Absätze des Abschnittes deckt. *

Nachdem auch diese Betrachtung zeigte, daß rœtlesœ nicht - wie etwa Cl. von Schwerin glaubt - die „Rechtlosigkeit", d.h. „Rechtswidrigkeit" schlechthin bedeutet 70 , daß also nicht die Kränkung des objektiven Rechts gemeint ist, sondern die Kränkung eines subjektiven Rechts, eines „Anspruchs", wird man ernsthaft die Frage stellen dürfen, ob es denn die Bedeutung réttr = „Rechtsordnung" überhaupt im Norden gegeben habe. Daß sie gelegentlich vorkommt, wurde ja bereits gezeigt, z.B. in Biarceyjarréttr, kristinn réttr. Aber sie erwies sich da als jung, sekundär erst aus der Bedeutung „Anspruch" entwickelt. Sonst scheint sie zu fehlen; das Wort log¡laghi logh deckte jeglichen Bedarf. Dagegen kommt réttr/rœtterjrœt in der Bedeutung „Recht, Gerechtigkeit" vor. Aber auch sie ist jung und nicht allzu häufig. Es ist deshalb zu fragen, woher sie stammen mag. Gelegentlich ist wohl deutscher Einfiuß anzunehmen, denn das dt. reht hat ja die deutliche Ambivalenz „objektives Recht - subjektives Recht" („das Recht - mein Recht"). Deutschen Einfiuß vermute ich am sichersten in JR II, 87, wo vom königlichen Amtmann die Rede ist, der einen Dieb hängen lassen soll: oc latœr hanum hœngœfor rœttœns saak. oc kunungs wald. oc œi for hceuœnd („und er läßt ihn hängen für die Sache des Rechts und die Königsmacht und nicht aus Rache") 71 . Im Anfang des Kapitels wurde gezeigt, daß réttr gelegentlich den Anspruch auf Rache meinen konnte. Hier stehen nun rœt und hœuœnd als Gegensätze nebeneinander: rœt und kunungs wald bezeichnen gemeinsam die vom Königtum garantierte staatliche Rechtsordnung - die Gerechtigkeit verbindet sich mit der äußeren politischen Macht, die es schützt - , während hœuœnd das bezeichnet, was diese Ordnung stört : die Selbsthilfe des Einzelnen, die individuelle Willkür. Eine für das Staatsgefühl des 13. Jhs. bedeutsame Äußerung! ,0

Cl. von Schwerin, Germanenrechte 7, S. 34, Anm. 1. Freilich ist ihm insofern zuzustimmen, als er Pippings Ansicht ablehnt. 71 Vgl. auch unten S. 197.

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Mitgewirkt hat vielleicht auch der Einfluß des A d j e k t i v s réttr „recht". Davon war bisher wenig die Rede, denn in der anord. Wortsippe „Recht" steht das Substantiv réttr (< *rehtuz) im Vordergrund. Das Adjektiv réttr (< *rehtaz) tritt dagegen zurück, obwohl es eine bemerkenswert andere Bedeutung als das Substantiv hat. Seiner Bildung nach ist es ja - in neutraler, prädikativer Verwendung - der legitime nordische Vertreter des gotischen und westgerm. Wortes garaihtjreht, n. „ R e c h t " ; und es zeigt sich nun, daß es ihm auch in seiner Bedeutung entspricht : während das Substantiv réttr vom subjektiven Recht, dem Anspruch ausgeht, bezeichnet das Adjektiv réttr die objektive Einzelrechtslage (dieses oder jenes ist „recht"). In EsR 1,14 heißt es : tha œr rœt um thes arf... („da ist die Rechtslage bezüglich des Erbes..."), in EsR I I , 51 : ¿En ey warthœr thet rœt. um the cumœ bathœ samœn til things („Und nicht ist es recht [entspricht es dem Recht], wenn die beiden zusammen zum Ding kommen"), in SR K . 22: pœt œr rœt um kopœ iorp ok bolfœ..., in SR Κ . 23: Der mopœr bornœ, pa œr pœt sammœ rœt um alt skifti („Stirbt die Mutter der Kinder, da gilt das gleiche Recht über alle Erbteilung"). Das anord. Substantiv réttr „Anspruch" konnte von sich aus nicht oder nur mühsam und mit Hilfe fremder Einflüsse die Bedeutung der objektiven Rechtsordnung entwickeln. Dagegen konnte das Adjektiv ohne weiteres von der Bezeichnung der Einzelrechtslage zur Bezeichnung der Gesamtheit der Einzelrechtslagen, also der Rechtsordnung weiterschreiten, und eben dies ist ja im Westgerm. geschehen. I m Anord. fehlte natürlich das Bedürfnis zu einer solchen Entwicklung, denn zur Bezeichnung der objektiven Rechtsordnung stand ja das Wort Içg zur Verfügung, und außerdem mag die Konkurrenz des Substantivs réttr, m., die Substantivierung des Adjektivs, also die Einbürgerung eines Substantivs *rétt, η., verhindert haben. Es gibt nur gelegentliche Ansätze in festen Wendungen wie a rœttu, at réttu, med réttu, z.B. in Arv. I V , 17: Μη mz guths miskund hawum wi vppi giort a rœttu huru mz hœrwirke skal fara („Und mit Gottes Gnade haben wir rechtmäßig festgesetzt, wie man mit Heerwerk verfahren soll"). Auch im Anorw. tauchen die Formeln at réttu, med réttu u.ä. auf, z.B. N G L I I I , S. 31 : peir er med rettu viliafara („diejenigen, die gemäß dem Recht verfahren wollen"), N D Nr. 28 (1291): ... takande af henni sua hennar frœlsi allt er par var í mott retto ( „ . . . der Kirche somit ihre Privilegien nehmend, was alles gegen das Recht war"), N D Nr. 49 68

(1297): landslcylldir ... serri pœir œigu med retto at hafa („Pachtabgaben ... die sie mit Recht zu bekommen haben"). Selten greift das Adj. réttr in den Bereich des subjektiven Rechts über. Jedenfalls ist die Formel hafa ritt, hafa réttara („Recht haben", „mehr Recht haben") selten. Sonst ist die Anwendung des Adj. réttr in bezug auf das subjektive Recht eine Eigentümlichkeit nur der aisl. Rechtssprache: honom er rétt oder hann er réttr („ihm steht es zu, er ist berechtigt") kommt in aisl. Urkunden und in der Grágás unzählige Male vor, z.B. II, 26: Oc er mönnom rett at kavpa tipir („Und die Männer sind berechtigt, Gottesdienste zu kaufen"), oder II, 347: ef peir ero rettir at tengpum („wenn sie auf Grund von Versippung berechtigt sind"), oder II, 456: oc peir ero rettir um at sciita („und sie sind berechtigt, darüber zu entscheiden"), schließlich auch in den Sagas, z.B. Egils s. K. 65, 14: hverjum manni var rétt („jedermann war berechtigt"). Im anorw. Recht fehlen solche Wendungen; sie tauchen nur in der Jónsbók, dem norwegischen Recht für Island, in denjenigen Partien auf, die von der Grágás übernommen wurden (vgl. Hertzberg 518). Ob dort, wo das Substantiv réttr/rcetter/rcet in der Bedeutung „(objektives) Recht, Gerechtigkeit" erscheint, ein Einfluß der deutschen Rechtssprache oder ein Einfluß des Adjektivs oder vielleicht gar eine selbständige Entwicklung vorliegt, ist im Einzelfall überhaupt nicht zu entscheiden. Sicher ist nur, daß solche Belege durchweg jung sind und gewöhnlich im Zusammenhang mit der königlichen und kirchlichen Rechtspflege stehen, und daß häufig - meist im Ostnordischen - Substantiv und Adjektiv formal zusammenfallen, so daß eine Vermischimg sehr nahe liegt. Häufig erscheint réttr in dieser Verwendungsweise als Partner irgendeines anderen Ausdrucks. Das zeigte ja schon der besprochene Beleg JR II, 87: die ideelle „Gerechtigkeit" wird dort mit der realen „Königsmacht" gekoppelt, und beides zusammen ergibt eine sinnvolle, lebendige Einheit. Ebenso ist es mit der Formel rœt ok loh, die genau der bekannten deutschen Formel „Recht und Gesetz" entspricht, z.B. SR K. 72 : pa œr pœttœ sammce rœt ok loh. Die Formel ist hier wohl pleonastisch, betont die Begriffe gelegentlich aber auch prägnanter, z.B. in der negativen Form in JR II, 7 über das Wahrmännerkollegium: at the hauœ antugh gerth vlogh œth vrœœt. œth bathœ („daß sie [dieWahrmänner mit ihrem Eid] entweder ,Ungesetz' oder .Unrecht' oder beides getan haben"). Neben dem Verstoß gegen die Prozeß69

regeln (vlogh), dem „Falscheid", steht der Verstoß gegen das Rechtsempfinden (vrœœt), der „Meineid". Der Blick auf das Westnordische zeigt wiederum, daß dort die Verwendung des Wortes réttr beschränkter ist als im Ostnordischen : réttr scheint in der Bedeutung „Gerechtigkeit" im Westnordischen nicht durchgedrungen zu sein. Hier wird der Begriff nicht durch das Substantiv, sondern gewöhnlich durch Zusammensetzungen mit dem Adjektiv réttr ausgedrückt, durch réttvísi und meist durch réttendi, η. pl. ( < *-wandi „gereichend, dienlich zu etw.") 7 2 . Die ostnordische Formel logh oc rœt erscheint hier als log ok réttendi, ζ. Β. im Königssp. 246, 12: logh oc rettendi dœma hanumfiarlat en œigi dauba („Gesetz und Gerechtigkeit verurteilen ihn [den Rechtsbrecher] zu einer Geldbuße, aber nicht zum Tode"), oder in der Egils saga Κ . 56, 28: Konungr muri oss láta ná logum ok réttendum á mali pessu („Der König wird uns zu Gesetz und Gerechtigkeit in dieser Streitsache gelangen lassen"), ferner mehrfach in norwegischen Königsurkunden, so ND Nr. 4 (1224), Nr. 11 (1265): umfram logh oc rettende („gegen Gesetz und Gerechtigkeit") usw. Es sei aber nebenbei bemerkt, daß rettendi in jüngeren norwegischen Urkunden gelegentlich auch die Bedeutung „Gerechtsame, Privilegien" angenommen hat, so in ND Nr. 62 (1299): allt pat œr pœir œigu j rettyndum ok godz („alles das, was sie in Gerechtsamen und Gütern besitzen"). *

Das Ergebnis der Untersuchung läßt sich in folgenden allgemeinen Bemerkungen zusammenfassen: Es ist nicht so - wie meist gesagt wird - , daß das anord. Wort réttr, m., schlechtweg die Entsprechung des westgerm. Wortes rekt, n., ist. Denn 1. hat anord. réttr dort, wo es frei von fremdem Einfluß ist, ausschließlich die Bedeutung „Anspruch", und 2. kennt auch das Anord. die Verwendung des neutralen Adjektivs rétt zur Bezeichnung der objektiven Rechtslage, ohne allerdings die Substantivierung zu erreichen. Wahrscheinlich besteht also ein alter, ausgeprägter Bedeutungsunterschied zwischen dem tu-Abstraktum und dem neutralen Adjektiv, der nur im Westgerm. dadurch verwischt wurde, daß dort das tu-Abstraktum verlorengegangen war und daß das Adjektiv notgedrungen dessen Funktion mit der eigenen vereinigen mußte. 72 Kluge, Stammb. § 245, vgl. HJ. Falk, P B B 14, S. 50, und E.Hellquist, A N P 7, 1891, S. 18.

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Die Vermutung wird bestärkt, wenn man bedenkt, daß auch das Gotische zur Bezeichnung des objektiven Rechts das Adjektiv garaikts in der neutralen (und vielleicht substantivierten) Form benutzt: Kol. 4, 1 Jusfraujans, garaihtjah ibnassu pewisam atlcunnaip („Ihr Herren, gewährt Recht und Gerechtigkeit den Knechten") 73 . Es ist nicht ausgeschlossen, daß es daneben auch noch das tuAbstraktum *raihtw gegeben hat, denn im Gotischen ist diese Wortklasse sonst gut überliefert. Wenn dies der Fall ist, dann ist aus dem genannten Zitat zu schließen, daß auch got. *raíhtus - ganz entsprechend dem anord. réttr - auf die Bedeutung „Anspruch" beschränkt war. Der Begriff des objektiven Rechts ist offenbar jünger. Wollte man irgendeine Einzelsituation als „richtig, einwandfrei" bezeichnen, so bediente man sich des Adjektivs, - nicht nur im Westgerm., sondern auch im Got. und Anord.: garaíht¡rétt¡réht. Als sich allgemein verbindliche Rechtsnormen entwickelten, mag dann das Adjektiv auch zur Bezeichnung der „Rechtsordnung" gedient haben. Aber das war eigentlich ein Verlegenheitsgebrauch, und er hat sich auch nur im Westgerm, durchgesetzt. Die Ursache dieses westgerm. Sprachgebrauchs hegt wohl darin, daß einerseits das tu-Abstraktum verschwand und damit die Substantivierung des Adjektivs erleichtert wurde und daß anderseits nicht gleich ein Ausdruck zur Verfügung stand, der den Bedeutungsbereich der „Rechtsordnung" eindeutig beherrschen konnte. Ein solcher Ausdruck stand dem Anord. wohl schon sehr früh in dem Wort log zur Verfügung. Daraus ergibt sich die merkwürdige Verteilung : im Westgerm. das substantivierte Adjektiv reht zur Bezeichnung des objektiven und des subjektiven Rechts, im Anord. das tu-Abstraktum zur Bezeichnung des subjektiven Rechts, das Adjektiv gelegentlich zur Bezeichnung der objektiven Einzelrechtslage und das Wort log als gewöhnlicher Ausdruck für die Rechtsordnung. Das höhere Alter des Begriffs für das subjektive Recht entspricht wohl der allgemeinen Rechtsentwicklung. H.Würdinger schreibt anläßlich einer Gegenüberstellung der germanischen und christlichen Elemente im angelsächsischen Recht: „Freilich ist Recht und Unrecht ursprünglich nicht eine bestimmte 73

Der Gebrauch des Adjektivs entspricht der griech. Vorlage (garaiht jah ibnassu = rò δίκαιον καί την Ισότητα), aber ich glaube nicht, daß er allein durch sie veranlaßt wurde.

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Rechtsvorstellung, die als solche im Bewußtsein des einzelnen Volksgenossen bestanden hätte; vielmehr verteidigt jedes Individuum von Natur aus den Bereich seiner persönlichen Sphäre, und der Eingriff in diese Sphäre löste die Selbsthilfe als Reaktion des Verletzten aus." 74 Aus dieser Entwicklungsstufe stammt wohl schon die Verwendung des tu-Abstraktums *rehtuz > anord. réttr. » H.Würdinger, ZRG 55, 1935, S. 114.

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2. RECHT UND GEWOHNHEIT Seit Jacob Grimms Aufsatz „Von der Poesie im Recht" (1816)1 und besonders seit Fritz Kerns Aufsatz über „Recht und Verfassung im Mittelalter" (1919)2 gilt es als ausgemacht, daß nach germanischer Auffassung das Recht seinem Wesen nach a l t e s R e c h t ist: Nicht deshalb ist ein Recht gut, weil es brauchbar und vernünftig, sondern weil es alt und ehrwürdig ist. Es ist die „ewige unverbrüchliche gerechte Lebensordnung des Volkes, ... Erbgut der Väter, das treu zu wahren ist" 3 . So wird das Recht eins mit Gewohnheit, Brauch und Sitte. „Vom gemeinen Mann ging es aus, in seinem Bewußtsein und mehr noch in seinem Gefühl lebte es"4. Es ist nicht künstlich geschaffen, und selbst dann, wenn es trübe und unklar ist, wird es nicht willkürlich geändert, sondern es wird nur wiederhergestellt und ans Licht gebracht, was schon immer vorhanden war. Das Recht wird „gefunden": „die richter heiszen finder, weil sie das urtheil finden, wie die dichter finder (trobadores, trouveurs)"5. Freilich weiß man, daß es Ausnahmen gibt. W. Merk zitiert das Weineinfuhrverbot der Sueben (Cäsar, De bello Gallico IV, 2), um zu beweisen, daß bewußte Rechtssatzung bei den Germanen nicht erst durch römischen Einfluß aufkam, und auch die detaillierten Bußentarife der Volksrechte führt er auf bewußte Satzung zurück (vgl. Ed. Rothari c. 74)6. Nach Hermann Krause gibt es im mittelalterlichen germanischen Recht geradezu zwei Schichten : die Schicht des Volksrechts, das möglichst alt sein muß, am als gut zu gelten, und die Schicht des Privilegien- und Konstitutionenrechts, das möglichst neu sein muß und das man sich immer wieder erneuern läßt, 1

Zuerst in der Zs. für geschichfcl. Rechtswiss. 2, 1816, S. 25-99, dann in den Kleinen Schriften VI, schließlich in der Einzelausgabe Darmstadt 1957. 2 Zuerst in der Hist. Zs. 120, 1919, S. 1-79, dann in der Einzelausgabe Tübingen 1952. 8 W. Merk, Wachstum und Schöpfung im germanischen Recht, Erich-JungFestschr. 1937, S. 127-175, Zitat S. 128f. 4 Amira-Eckhardt I, 1960, S. 5. 5 Grimm, Poesie im Recht, S. 11. • W.Merk, Erich-Jung-Festschr., S. 154.

73 β von See, Rechtswortschatz

damit es Gesetzeskraft behält 7 . Aber solche Ausnahmen berühren nicht den Kern der germanischen Rechtsauffassung, und zum Teil sind sie ja auch jüngeren, hochmittelalterlichen Datums. Man weiß schließlich auch, daß die Auffassung vom „guten alten Recht", vom Recht als Gewohnheit und Sitte nichts eigentümlich Germanisches ist, sondern eine natürliche Erscheinung in der Frühgeschichte jeglichen Rechts. Die griechischen Bezeichnungen des „Rechts" scheinen zwar darauf hinzudeuten, daß den Griechen die bewußte Rechtsschöpfung von Anfang an geläufig war - δίκη das Weisen des Geraden im Urteilsspruch, ϋέμις und ê εσμός die „Satzung", das „Gesetzte", νόμος das „Verteilen, Austeilen" 8 - , der Gebrauch der Bezeichnungen greift aber schnell über das rein Rechtliche hinaus und zeigt damit, daß Recht, Sitte und Brauch als ungeschiedene Einheit gelten. Schon in der Odyssee meint δίκη durchweg die Art und Weise, Eigenheit, Gewohnheit - es ist „Dike der Könige", ihre Macht zu mißbrauchen (Od. 4, 691), „Dike der Sklaven", ihre Herren zu fürchten (Od. 14, 59) - , so daß R. von Ihering aus diesem frühen Wortgebrauch sogar schließen wollte, das Recht sei bei den Griechen aus der Sitte entsprungen 9 . Auch „Themis" beschränkt sich nicht aufs Recht. I n der Ilias begegnet die „offenbar uralte Redensart" ή ΰέμις εστίν („wie es Gepflogenheit ist") wohl oft noch geradezu als „Spruch- und Rechtsformel" 1 0 . Aber Themis „umspannt die gesamte auf Herkommen ruhende und darum als göttlich empfundene Ordnung des Lebens" 1 1 : die Opferspende an die Götter ist Themis (Od. 3, 45), die Ehrung des Fremden (Od. 14, 56), die Überreichung eines Gastgeschenkes (Od. 9, 268), das Weinen der Frau um den verstorbenen Gatten (Od. 14, 130), der eheliche Verkehr (II. 9, 134). Einen Unterschied zwischen der altüberkommenen, von den Göttern stammenden Ordnung und der ' H.Krause, Dauer und Vergänglichkeit im ma. Recht, ZRG 75, 1958, S. 206-251. 8 K.Latte, Antike und Abendland 2, 1946, S. 65; W.Jaeger, Paideia I, з. Aufl., S. 144f. ; Ehrenberg, Die Rechtsidee im frühen Griechentum, 1921, S. 114f., K.Reinhardt, Personifikation und Allegorie, in: Vermächtnis der Antike, 1960, 8. 7ff., über Themis S. 26-32, zur Etymologie S. 27, Anm. 18. * Ihering, Der Zweck im Recht II, 4. Aufl. S. 40. Dagegen R.Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes S. 58 ff. 10 K.Reinhardt, a.a.O., 8. 27. Für ihn ist Themis ursprünglich die Göttin des auf der Agora gesprochenen Gewohnheitsrechtes, dann erst Orakelgöttin и. Erdgöttin. Vgl. allerdings Ehrenberg 18. 11 K.Latte, a.a.O., S. 63. 74

mehr zeitgebundenen weltlichen Satzung haben die Griechen allerdings zunächst deutlich empfunden : das eine sind für sie die νόμοι, das andere die ΰεσμοί12. Für Hesiod ist „Nomos" eine Art von Naturordnung, die Zeus den Menschen verlieh (Erga 274ff.) 13 , für Herodot die überkommene Lebensgewohnheit eines jeden Volkes, wie sie sich etwa in den Begräbnissitten offenbart (III, 38)14, für Pindar gar eine geheiligte, unverbrüchliche Ordnung, die über Mens c h e n u n d Göttern steht, πάντων βασιλεύς,

ϋνατών τε και ά&ανάτων

(fr. 169)16. Auch die Griechen rühmen am „Nomos" ausdrücklich das Alter (Hesiod: νόμος δ' αρχαίος άριστος)16. Aber schon in der Periode der schriftlichen Aufzeichnungen der Gesetze im 6. Jh. setzt die Spannung von Konvention und Rechtsempfinden ein 17 , Kleisthenes bezeichnet seine Staatsgesetze als νόμοι, und bei den Sophisten schließlich erscheint der νόμος als bloße Menschensatzung von zeitund ortsgebundenem Wert18. Erst den Römern schreibt man das Verdienst zu, das Recht aus dem Zusammenhang von Religion, Sitte und Moral wirklich gelöst zu haben 19 . Im Anfang scheint es allerdings auch hier keine menschliche Rechtssatzung gegeben zu haben. Max Käsers Bemerkung, selbst die spätere Abänderung von Normen sei „nicht bewußtes Neugestalten, sondern gleichsam Verbesserung einer unvollkommenen Erkenntnis" 20 , könnte ebensogut in einem Handbuch der germanischen Rechtsgeschichte stehen. Aber eine anfängliche Einheit von Recht und Sitte gibt es bei den Römern nicht: schon die ursprüngliche Begrenztheit des ws-Begriffes, der die im Gerichtsurteil festgelegte Erlaubtheit eines konkreten Verhaltens bezeichnete, spricht dagegen 21 . Auch davon weiß man nichts, daß hohes Alter den Römern für Qualität des Rechts bürgte. Die Römer entwickeln allerdings die Vorstellung vom Gewohnheitsrecht als einer selbständigen Rechtsquelle, die herangezogen wird, wenn 12

Vgl. dazu W.F.Otto, Die Gestalt und das Sein, 2. Aufl. 1959, S. 2 7 ff. Ehrenberg 114f., W.Jaeger, a.a.O., S. 103. » H . E . S t i e r , ΝΟΜΟΣ ΒΑΣΙΛΕΥΣ. Studien zur Gesch. der ΝΟΜΟΣIdee vornehxnl. im V. u. IV. Jh. v. Chr., Berlin 1927, S. 17. 15 H.E.Stier, a.a.O., S. 6ff. "W.Merk, Erich-Jung-Festschr. 1937, S. 132 mit Anm. 18; B.Hirzel, Themis, S. 361, Anm. 1 und 3. " K.Latte, a.a.O., S. 72ff. " H.E.Stier, a.a.O., S. 24; M. Pohlenz, Stoa, 2. Aufl. 1959, S. 133. " R.v.Ihering, a.a.O., S. 41 f. 20 Käser 40. 21 Käser 63, Anm. 52. 18

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es darum geht, die Lücken des aufgezeichneten Rechts auszufüllen 22 . Sie greifen dabei auf die griechische Lehre vom νόμος άγραφος zurück23, bedienen sich aber der Bezeichnungen mos und consuetudo oder Umschreibungen mit diesen Wörtern. Diese spezielle Rechtsquelle legitimieren sie dann auch mit Hinweisen auf die lange Dauer des Bestehens {longa, diuturna, perpetua u.a.) 24 . Für das Recht im allgemeinen gilt dies nicht. Aus dem Mund des Dichters hören wir, die Nützlichkeit sei die Mutter von Recht und Gerechtigkeit : utilitas, iusti prope mater et aequi. ¡ ... coeperunt... ponere leges, ne quis fur esset neu latro neu quis adulter ¡ ... nec natura potest iusto secernere iniquum ... adsit regula, peccatis quae poenas inroget aequas („die Menschen begannen ... Gesetze zu geben, damit nicht Diebstahl, Straßenraub und Ehebruch sei... / Die Natur [im Menschen] kann nicht Recht und Unrecht trennen... Es muß schon eine Regel vorhanden sein, die alle Verfehlungen mit gerechten Strafen sühnt". Horaz, Satiren I, 3, 98ff.). Das Recht wird in Rom seit dem Ende der Republik zu einer „auf sachkundige Oberschichten beschränkten Spezialkultur", aber eine solche Entwicklung gilt doch als großer Ausnahmefall: „ - allenfalls abgesehen vom jüdischen und islamischen Recht und der angelsächsischen Jurisprudenz. Nur in der klassischen Jurisprudenz, im oströmischen Klassizismus und in Europa seit Bologna ist das Recht, zunächst nur das Privatrecht, Gegenstand eines methodisch betriebenen und theoretisch vermittelten Fachwissens geworden"25. Die Vorstellung vom Gewohnheitsrecht scheint es schließlich auch im alten Irland gegeben zu haben 26 . Die wichtigste altirische Rechtssammlung heißt Senchas Mär „die große Überlieferung", und ein Abschnitt in ihr trägt den Titel côrus bëscna, ein anderer den Titel bëscna, nach R.Thurneysen „Gewohnheitsrecht" und „rechte Sitte, Brauch". Manche Rechtsregeln sind in Form von kurzen Rechtssprichwörtern (Sg. roscad) überliefert, und selbst die Präjudizien, auf die man sich beruft (Sg. fäsach), sind häufig Figuren der alten 22

Jörs-Kunkel, Rom. Privatrecht, 3. Aufl. 1949, § 2, 3. R.Hirzel, Νόμος άγραφος, 1900. 24 R.v.Ihering, a.a.O., 8. 21f. 25 Fr. Wieacker, Vulgarismus und Klassizismus im Recht der Spätantike, Heidelberger SB, Phil.-hist. Kl. 1955, 3. Abhl., 1955, S. 14. Vgl. auch W . K u n kel, Über die Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen, in: Festschr. A.Zycha, 1941, S. 1-42. 26 Hierzu R.Thurneysen, Das keltische Recht, ZRG 55, 1935, S. 81-104. 28

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Sage in den Mund gelegt. Das will nun aber offenbar nicht heißen, daß dieses altüberlieferte Recht ein volkstümliches Recht, ein Volksrecht gewesen ist. Die Bewahrer der Spruchüberlieferung waren nämlich die Dichter (fili), die einen „besonderen, hochangesehenen Stand" bildeten und sich einer „verkünstelten, stellenweise absichtlich dunklen Sprache" bedienten. Diese eigentümliche Art der Traditionspflege scheint auch dazu beigetragen zu haben, daß man nach der Christianisierung die Rechtsschöpfung im hl. Patricius verkörpert sah und daß namentlich das Recht des alten Testaments ins altirische Recht einzudringen begann. Die Auffassungen vom „Volksrecht", „Gewohnheitsrecht" und „guten alten Recht", die man den Germanen zuschreibt, sind also nicht ungewöhnlich, aber sie sind doch jeweils aus sehr unterschiedlichen Kulturverhältnissen entwickelt. Vor allem scheint das volkstümliche Element schwächer vertreten zu sein, als man erwarten möchte. Gerade dies aber schreibt man den Germanen zu, und dadurch gewinnt auch die Vorstellung vom „Gewohnheitsrecht" und „guten alten Recht" die Form, die man als eigentümlich germanisch empfindet. Als Ausdruck germanischer Gemüthaftigkeit, Ehrlichkeit und Biederkeit scheint sie dem kalten, leidenschaftslosen Vernunftrecht der Römer gegenüberzustehen, - mit Jacob Grimms Worten ein „frisches, freies recht, das unter dem volke selbst als brauch entsprungen, nicht wich noch wankte, und keiner gesetzgebung von Seite des herrschers bedurfte"27. Und gerade die skandinavischen Rechte ließen, wie Karl v. Amira sagt, „die entscheidende Teilnahme des Volkes, insbesondere der Bauerschaft an der Rechtsbildung im wesentlichen unangegriffen'128. Ist das „Volksrecht", die Vorliebe für das „Gewohnheitsrecht" und das „gute alte Recht" nicht nur eine mittelalterlich-westgermanische, sondern wirklich eine alt- und gemeingermanische Eigentümlichkeit, dann sollte man sie in den skandinavischen Rechten am ehesten finden.

Zunächst sei die Frage nach dem „ V o l k s r e c h t " verhandelt: In welchem Maß war das Recht Gemeingut aller freien Volksgenossen ? "J.Grimm, Kleine Schriften, Bd. 5, 1863, S. 453 f. Vgl. auch W.Merk, Werdegang und Wandlungen der dt. Rechtssprache (Marburger Akad. Reden 54), Marburg 1933, S. 7. 28 Amira-Eckhardt I, 82.

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Welche Rolle spielt die Teilnahme an der Rechtspflege im „öffentlichen Leben" der Germanen? Daß es den Begriff „Volksrecht" im Norden nicht gibt, wurde bereits gesagt: *fólkréttr - dem aengl. folcriht formal entsprechend - fehlt gänzlich, und Itfrittr hat durchweg eine so eingeschränkte Bedeutung, daß es schon deshalb nicht „Volksrecht (Leuterecht)" geheißen haben wird. Im Aisl. gibt es allerdings noch den merkwürdigen Ausdruck allsherjarlög. Möbius (S. 12) übersetzt ihn mit „allgemeines Landrecht", Heusler (Thüle IV, 133) mit „Volksrecht". Aber allr herr meint nur die Gesamtheit der Isländer im Gegensatz zur Bevölkerung einzelner Landesteile. Der Ausdruck hängt - ebenso wie die Parallelbildungen allsherjarfé, allsherjargodi, allsherjarpingi - eng mit der Institution des Alldings zusammen. Die Formel at alpingismáli ok alls herjar logum (z.B. Grág. II, 423, Njáls saga Κ. 56, 17) meint: „nach den Prozeßvorschriften des Alldings (im Gegensatz zur Verfahrensweise der Viertelsgerichte)". Das Grundstück des Alldings bezeichnet Âri (ísl. Κ. 3, 1) als allzheriar fé („Eigentum aller Leute"), und der Gode, der im Gebiet des Alldings ansässig ist und deshalb bestimmte Rechte im Allding genießt, wird im Gegensatz zu den Bezirksgoden allsherjargodi genannt (vgl. Isl. sög. I, 336). Der Ausdruck herr i. S. von „Leute, Volksmenge" ist rechtssprachlich nur im Aisl. und nur in diesem Zusammenhang gebräuchlich. In der - am nächsten verwandten - anorw. Rechtssprache fehlen Verbindungen mit allsherjarüberhaupt und herr kommt ausschließlich in der Bedeutung „Kriegsheer" vor (Hertzberg 283). Der Ausdruck land i. S. von „Rechtsgemeinschaft" war den Isländern ebensowenig wie den Norwegern geläufig; er scheint aufs Ostnord, beschränkt zu sein (vgl. allenfalls landherr bei Sigvat, unten S. 194). Der Terminus „Volksrecht" - wie er auch gebildet sein könnte - fehlt also dem Altnordischen. War das altnordische Recht deshalb ein „Juristenrecht" ? Von Paul Koschaker stammt der immerhin sehr erwägenswerte Satz, „daß schon wegen des formalen Charakters jedes alten Rechts, der fachmännische Beratung verlangt, die Juristen und damit die bewußte Rechtsfortbildung weit früher auftreten als Savigny und seine Schüler geglaubt hatten" 2 9 . Aber ebensowenig wie der Kultformalismus bei den Germanen einen eigenen Priesterstand verlangte, ebensowenig hat der Rechtsformalismus einen eigenen Juri29

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P. Koschaker, Europa und das römische Recht, Berlin 1947, S. 197 f.

stenstand hervorgebracht, und auch die Annahme, daß die germanischen Priester die Rechtspflege in Händen gehabt hätten, ist sehr zweifelhaft. Das hat zuerst Karl von Amira betont und damit die „Volksrecht"-Theorie noch konsequenter vertreten, als es Jacob Grimm und die historische Schule getan hatten30. Auch im Norden spricht nichts für ein „Priesterrecht", selbst der isländische „Gode" nicht. Ansätze zum „Juristenrecht" hat es im Laufe der Entwicklung aber doch wohl gegeben. Besonders deutlich ist dies in Island zu erkennen. Man will das allerdings nicht recht wahrhaben und konstatiert einen Gegensatz zwischen Gesetz und Leben, indem man die Schilderungen der Isländersagas gegen die Gesetzestexte der Grágás ausspielt. Mit eindringlichen Worten schildert V. Gr0nbech die groteske Situation, daß sich die Isländer auf ihrem Allding den Tötungsabschnitt der Grágás in all seiner kunstfertigen Umständlichkeit mit Ernst und Interesse vortragen ließen und sich dann doch stritten, schlugen und rächten „in der ganzen Einfachheit der Ehre". Er sucht die Erklärung darin, daß diese Menschen gespalten gewesen seien in ein „fortschrittliches" und in ein „konservatives Ich"31. Noch schärfer sieht A.Heusler den Gegensatz: er erschließt aus den Schilderungen der Sagas ein wirkliches, lebensechtes Strafrecht, und indem er dieses „Strafrecht der Isländersagas" dem Strafrecht der Grágás gegenüberstellt, wird die Grágás zu einem weltfremden, theoretisierenden Elaborat „eines kleinen kreises studierter leute". Heuslers Gegenüberstellung erregte freilich sofort den Widerspruch der Rechtshistoriker : mit gutem Grund wendete man ein, daß den Sagas eben nur die Rache- und Fehdetaten darstellungswürdig erschienen, nicht das gewöhnliche unheroische Rechtsleben des Alltags32. Derselbe Einwand gilt auch gegen V. Grenbech, und es kommt dort noch der Einwand hinzu, daß gerade die spitzfindigsten Partien der nordischen Rechtsbücher, die Kataloge über die Abstufung und Verteilung der Bußen, nicht den „Fortschritt" repräsentieren, sondern einer frühen Stufe der Rechtsentwicklung angehören, da sie Ausdruck der alten Verwandtschaftsgebundenheit sind, ólafur Lárusson erklärt die vielen kasuistischen Bestimmungen 30 Zuerst in einer Besprechung von K. v. Richthofens „Untersuchungen über fries. Rechtsgeschichte" in GGA 1883, Sp. 1057ff., dann u.a. in AmiraEckhardt I, 5. 11 V.Gronbech, Kultur und Religion der Germanen I, 5. Aufl. 1954, S. 88 f. 32 K.Lehmann, ZfdPh 45, 1913, S. 75-83; Cl. von Schwerin, ZRG 33, 1912, S. 491-520.

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der Grágás sehr einleuchtend aus dem Umstand, daß die Parteien dann, wenn die Gesetzesauslegung unklar war oder wenn ein Sachverhalt vorlag, der gesetzlich bisher noch nicht geregelt war, ihren Streit vor die Lögretta, den Gerichtsausschuß des Alldings, bringen sollten, wo die Sache entschieden und die Entscheidung dann ins Gesetz aufgenommen wurde 33 . Die Rechtsfortbildung lag also in der Hand einer kleinen Schicht von Fachleuten, und so ist die Grágás ein Recht von Kennern und für Kenner, im Stil nüchtern, klar und logisch. Prozeßdurchführung und Gesetzeskenntnis war eine Sache der Oberschicht, der Häuptlinge. Häufig hören wir in den Sagas von Prozeßvertretungen. Man hat sogar einen eigenen Ausdruck für den Gesetzeskundigen : logmadr oder lagamadr, und wer ein Häuptling sein will, muß ein Içgmadr sein. Von dem schnell zu Macht und Wohlhabenheit emporgestiegenen Oddr sagt der Gode Styrmer (Band. s. S. 37, 11): Solcar eige, at hann reyne, huerso bgkmn hann er! („Es schadet nichts, daß er einmal erprobt, wie gesetzeskundig er ist!"). In der Gunnlaugs saga Ormstungu k. 5, 11 (ed. E.Mogk, 2. Aufl. S. 6) heißt es: Ok par var harm pau misseri ok nam, logspeki at porsteini („So blieb er [Gunnlaugr] dort ein Jahr und lernte Gesetzeskunde bei Jaorsteinn"), und die Bjarnar saga hitdœlakappa k. 34 (Reykjavik 1898, S. 87f.) erzählt, Björns Vater habe sein Klagerecht abgetreten, weil er zu alt gewesen sei und sich in seiner Jugend nicht genügend in Rechtssachen umgetan hätte (ok hafdi eigi vid pat vanizt, at fylgja malum, par er hann var yngri). In Gul. K. 187 ist vom Streit im Bierhaus die Rede, und es wird bestimmt, daß über den Streit an Ort und Stelle geurteilt werden könne: pa megu menn dœma um sœc peirra par sem a pingi. ef peir kunnu log („da mögen die Männer über ihre Streitsachen urteilen wie auf dem Ding, wenn sie das Gesetz kennen"). Es wird also ausdrücklich zur Streitschlichtung Gesetzeskenntnis verlangt, und es wird für möglich gehalten, daß unter den Anwesenden niemand ist, der die erforderlichen Gesetzeskenntnisse besitzt, da ja die Verhandlung nicht auf dem Dingplatz stattfindet. Die glückliche Durchführung eines Prozesses verlangte nicht nur Macht und Ansehen, sondern auch Redegewandtheit, - in der Sturi, s. I, 88 heißt es von Einarr Jaorgilsson : Engt var hann lagamadr, ok blestr í mali („Er war kein Mann, der »» Vgl. Ólafur Lárusson, Grágás, Tidsskrift for Rettsvitenskap 66, 1953, S. 465-479 bes. 474ff.; ders., Kulturhist. Leks.V, 411. 80

mit Rechtsdingen umging, er lispelte nämlich"). Der gewöhnliche Kleinbauer (der „gemeine Mann") war solchen Prozeßsituationen sicher nicht gewachsen, wenn er sich nicht der Mithilfe eines angesehenen Mannes versicherte. Natürlich konnte sich auch ein Händelsucher seine Gerichtserfahrung erwerben - Samr var uppivozlumadr mikül ok logkœnn (Hrafnk. s. K. 3, S. 27, 20) -, und es wird auch den verschlagenen Kleinbauern gegeben haben, der beim Prozeß die Häuptlinge in die Tasche steckte, eine Figur wie den alten Ofeigr in der Bandamanna saga. Aber das waren wohl Ausnahmen. Als die Schriftlichkeit aufkam, gehörten die Gesetze zu den wichtigsten literarischen Bildungsstoffen. Der Verfasser des sog. „ersten grammatischen Traktats" aus der Mitte des 12. Jhs. (Islands gramm. Litteratur I, SGNL XVI, Kbhn. 1886, S. 24) bemerkt, daß eine genaue Orthographie vor allem vonnöten sei, um Zweideutigkeiten in den Gesetzen vorzubeugen. Der Verfasser der isl. Hungrvaka aus dem Beginn des 13. Jhs. will die jungen Männer anregen, sich mit Werken zu beschäftigen, die sonst noch in nordischer Sprache geschrieben sind: log eòa sogur eòa mannfrœdi („Gesetze oder Sagas oder Geschichtswissen", Hungrv. K. 1, S. 72,10f.). Im norwegischen Königsspiegel empfiehlt der Vater seinem Sohn, sich möglichst viel Wissen anzueignen, aira mœst um logbœcr pviat pat er raunar at aira annaRa er vit minna en peira er af bokum taca monvit („vor allem aus den Rechtsbüchern, denn die Erfahrung lehrt, daß alle an Klugheit denen nachstehen, die sich aus Büchern die Weisheit holen", S. 9, 9ff.). Johs. Brcndum-Nielsen stellt in einer Untersuchung der ältesten Handschriften des SR fest, daß die Rechtssprache im ungewöhnlichen Grade eine literarische Sprache war, u.a. charakterisiert durch eine Menge toter Flexionsformen34. „Diese Sprache unterschied sich wohl noch mehr von der gleichzeitigen Umgangssprache als die heutige Bibelsprache und frühere Predigersprache von der allgemeinen dänischen Umgangssprache."35 Es waren - mit den Worten des Erzbischofs und Kanzlers Anders Suneson - die prudentes et juris periti, weltliche Rechtskundige der vornehmen und einflußreichen Familien, die diese Rechtssprache formten. In einer Gegenüberstellung der Verordnung Knuts VI. in lateinischer Sprache und den Abschnitten des SR, die die Verordnung in adän. Sprache '* Johs. Brendum-Nielsen, Danske lovhàndskriffcer og dansk lovsprog i den aeldre middelalder, Α Ν Γ 34, 1918, S. 105-137. 85 Br0ndum-Nielsen, A N P 34, 131.

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wiedergeben, zeigt Brondum-Nielsen, daß sich die lateinische Sprache einer so entwickelten literarischen Sprache unterordnen mußte, während das gleichzeitige klösterliche Schrifttum ganz in den Fesseln der ausländischen Vorbilder lag 36 . Es ist nun unwahrscheinlich, daß die Kenntnis der Gesetze erst mit dem Aufkommen der Schriftlichkeit zu einem wissenschaftlichen Bildungsstoff wurde, während dieselben Gesetze in Zeiten der Mündlichkeit Gemeingut aller Volksgenossen gewesen sein sollen. Wahrscheinlich ist vielmehr, daß ihre wirkliche Kenntnis zu allen Zeiten einem kleinen Kreis von angesehenen Männern vorbehalten war, in älterer Zeit wohl noch mehr als in jüngerer. Auch eine Formulierung wie VGR I Rsetl. 3 Bondce sun skal lagmaper vœrœ („Ein Bauernsohn soll Gesetzessprecher sein") ist nicht so auszulegen, als sei hier das Gesetzessprecheramt als eine spezifisch volksrechtliche Institution gekennzeichnet 37 . Kurz vorher, in Rsetl. 2, heißt es nämlich vom Bischof ganz entsprechend: Han skal bondœ sun vœrœ39. Gemeint ist hier nicht das alte Bauernvolk im Gegensatz zur königlichen Beamtenschaft, zum Dienstadel o.a., sondern die Schicht der unabhängigen, seßhaften Landbesitzer im Gegensatz zu Pächtern, Knechten, Unfreien o. ä. Ähnliche Bestimmungen gibt es auch sonst (vgl. JR 1,1); Grundbesitz wird meist deshalb verlangt, weil dadurch die Haftungsmöglichkeit gesichert ist (vgl. JR II, 50. 51) 39 . 36

Br0ndum-Nielsen, A N F 34, 133 ff. Vgl. ferner P. Diderichsen, Ssetningsbygningen i skaanske Lov, APhS 15, 1941, S. 168, und dazu dann freilich die etwas einschränkende Bemerkung von Aage Hansen, A N F 60, 1945, S. 140. 37 Falsch ausgelegt wird sie, wie mir scheint, in dieser Hinsicht von K. Haff, Der germanische Rechtsprecher als Träger der Kontinuität, ZRG 66, 1948, 8. 364ff., und danach von K.Wührer, ZRG 76, 1959, S. 4: „Bauernsöhne..., deren Erinnerung in die heidnische Zeit zurückreichte" und die „Gewohnheitsrecht" vortrugen. 88 B.Sjöros, Äldre Västgötalagen (Skr. utg. av Svenska Litteratursälls. i Finland 144), 1919, S. 217, meint, die Bestimmung sei von der Kirche inspiriert und diene dem Zweck, illegitim geborene Priestersöhne von Kirchenämtern auszuschalten. Der päpstliche Legat Wilhelm von Sabina stellte auf dem Skeninge-Treffen von 1248 tadelnd fest, daß nahezu alle Priester Priestersöhne seien. 39 Snorris berühmte Erzählung vom schwedischen Gesetzessprecher ]x>rgnyr (Heimskr. 01. helg. K. 78ff.) betont sehr stark den Gegensatz zwischen Bauernvolk und Königtum. In K. 77 heißt es: En ef konungr eòa jarl e da byskupar fara y fir landit ok eigu ping vid bœndr, βά svarar logmadr af hendí bónda („Wenn König, Jarl oder Bischöfe durchs Land ziehen, um Ding mit den Bauern zu halten, dann antwortet der Gesetzessprecher im Namen der Bauern"). Man darf nicht daraus schließen, der Gesetzessprecher sei ein

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Der Verfasser des „ersten grammatischen Traktats" kennt drei Typen von Fachleuten (hofundar „Autoritäten"): die Skalden (sMM) in bezug auf die Sprache, die Handwerker (smiöir) in bezug auf Metallschmuck, die Gesetzesmänner (logmenn) in bezug auf die Gesetze (SUGNL XVI, Kbhn. 1886, S. 32). Die Forderung, daß ein Gesetz volkstümlich und gemeinverständlich sein solle, wird erst in jungen Texten unter kirchlichem Einfluß erhoben, so in der Vorrede des JR (DGL II, S. 7) : ein Gesetz solle opœnbarce sein, swa at alice mœn mughœ witœ oc undœrstandœ hwat loghœn sighœr („deutlich, so daß alle Menschen erkennen und verstehen können, was das Gesetz sagt"). Vorlage dieser Lehre ist das kanonische Recht (c. 2 Dist. 4) : ... utilis manifesta quoque, ne aliud per obscuritatem, inconueniens contineat...i0. Im adän. Text sind opœnbarce und undœrstandœ Lehnwörter aus dem Mnd.41. Ähnlich fordert der dreißig Jahre jüngere Prolog der Landsl., daß man die Gesetze vereinfachen solle, weil man auf diejenigen Rücksicht nehmen müsse, er fakunnigir eru („die wenig kundig sind"). Auch die Vorliebe der Isländersagas für Prozeßgeschichten ist kein Zeugnis für die Volkstümlichkeit des Rechts. Juristisches Fachwissen und literarische Kunst sind offenbar zweierlei. Man weiß längst, daß in der Njáls saga „eine fleißige, aber nicht gründliche, häufig mißverständliche oder geradezu gedankenlose Entlehnung der Normen und Formeln der Rechtsbücher... stattgefunden hat"42. Aber nicht nur das : der Sagaverfasser erzählt seine Prozeßgeschichten, besonders die von Mords Klage gegen Flosi K. 141 ff. überhaupt nicht aus irgendeiner - und sei es auch nur dilettantischen - Neigung zur Jurisprudenz, sondern er benutzt sie allein für seine künstleribloßes Ausführungsorgan der Bauern gewesen, ein Bauer wie alle anderen. Snorri erwähnt nämlich auch, Jiorgnyr habe eine große Haustruppe gehabt

(kann hafdi um sik mikla hirä, K. 78) und sein Geschlecht habe bereits über die Herrschaftszeiten vieler Könige hin die Gesetzessprecherstellung innegehabt (hofdu verit logmenn ά Tíundalandi um margra konunga œvi). In Wirklichkeit handelt es sich also nicht um einen Gegensatz von Königtum und Volk, sondern um einen Gegensatz von Königtum und landsässiger Aristokratie, das eigentliche Thema des ganzen Snorrischen Geschichtswerkes. Zur historischen Glaubwürdigkeit vgl. B.Nerman, Torgny lagman, A N F 32, 1Θ16, S. 302-315. 40 Vgl. N.K.Andersen, Kanonisk Rets Indflydelse paa Jyske Lov, in: Med Lov skal Land bygges, 1941, S. 88. 41 Vgl. P.Skautrup, Sproget i Jyske Lov, ebdt. S. 245. 42 K.Lehmann-H. Schnorr v. Garolsfeld, Die Njalssage insbesondere in ihren juristischen Bestandteilen, Berlin 1883, S. 137.

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sehen Zwecke, so etwa in dem Hin und Her zwischen Klage und Verteidigung in K. 142, das geradezu ein burleskes Spiel wird. Heuslers Kennzeichnung der Njáls saga als „die wahre Juristensaga" halte ich insofern für falsch43. Dasselbe gilt z.B. für die Prozeßgeschichten der Egils saga, den Erbstreit zwischen den Hildiridsöhnen und Thorolf Kveldulfsson und Egils Prozeß vor dem Gulading. Schon Gustav Ne ekel bemerkt, man erkenne daran, „wie wenig er [der Sagaverfasser] - und die von ihm verarbeitete tradition - sich im gründe für das abstrakte recht interessierten"; die Geschichte „endet nicht mit einem richterspruch, sondern mit dem durchbeissen der kehle des letzten Widersachers"44. Die Interpreten (K.Maurer, F. Jónsson, A.Bley) kamen zu keinem endgültigen Urteil über den Streit, weil sie ihn als Rechtshistoriker und nicht oder nur nebenbei als Literaturhistoriker behandelten. Schließlich sind an dieser Stelle auch einmal die angeblich volkstümlichen Elemente in der Sprache der Rechtstexte zu durchmustern - Stabreimformeln, Sprichwörter, Witz und Humor - , die oft zitiert werden, um die innige Verbundenheit von Volk und Recht im Mittelalter nachzuweisen45. Die knorrig-kernigen Stabreim formein gelten als Spuren frischer, mündlicher Rede46, als eigentlich heidnisch oder doch wenigstens von vornherein als altertümlich47. Es läßt sich aber zeigen, daß gerade hochmittelalterliche, kirchlich beeinflußte Rechtstexte eine besondere Vorhebe für den Stabreim haben. Der Kirchenabschnitt von Smálandslagen beginnt mit den Worten: Guz früher oc sánete marie, vari meth us. hUt 45

Heusler, Strafrecht 13. G.Neckel, A N F 27, 1911, S. 210. 46 Vgl. allgemein W. Merk, Werdegang u. Wandlungen der dt. Rechtssprache, 1933. Die stärkste Kritik kam von Th. Siebs, der meinte, es gäbe im Recht keinerlei Poesie in dem Sinne, daß durch poetische Formen, Gedanken und Gefühle rechtliche Zwecke erreicht werden sollten (ZfdPh 29, 1897, S. 405ff.). H.Meyer erwiderte darauf, die Poesie im Recht vermittle nicht nur poetischen Stimmungsgehalt, es seien vielmehr „poetische Kraft und Form" bewußt verwertet worden „zur Erhöhung des Eindrucks oder zur Stütze des Gedächtnisses". Die Rechtspoesie sei nicht „eine Anleihe . . . aus der Dichtung", sondern es handle sich „um eine Parallelentwicklung von Anbeginn an" (Hansische Geschichtsblätter 59, 1934, S. 8). Das Problem bedarf m . E . noch näherer Untersuchung. 46 B.Rehfeldt, Saga und Lagsaga, ZRG 72, 1955, S. 34-55, hier S. 48. 47 Vgl. Paul V. Rubows Essay über den Stil der adän. Rechtsprosa: Den seldste Prosa, in: Betragtninger, Kbhn. 1947, S. 7-27, hier S. 20: „Ganske hedensk virker Stavrimene." 44

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komande. oc hœthan farande. The seen alle skylde till gilzla oc grutha. ey œru hiltugha eller banzatte [!]. alle the som boa innœn mioaholt. oc myrtlekis. oc mœllin brutabek oc biurekis. In SR 168 haben die älteren Hss. : Far man mœp uiliœ sinu mœp hiorpo sinni i annœrs mansz uang mœp hund ok hirpœ... Erst jüngere Hss. (z.B. C 4 , Ende des 15. Jhs.) haben in diesem Satz die Alliterationsmöglichkeit erkannt und ihn danach rhythmisiert und geordnet : Far man mœp sin wïliœ i anners mans wong mz hund oc hirthœ oc meth all sin Mort... Gelegentlich arten solche Stabreimformeln in sinnlose Reimereien aus, so in VGR I, J)iuv. b. 3, wo es über die Verurteilung von Dieben heißt: Sipœn skal han dômœ til hogs ok til hangœ, til draps ok til döpce, til torfs ok til tiœru... Nach R.Pippings Ansicht sind die Worte til draps ok til döpce ein späterer Einschub 48 . D.A.Seip hat gezeigt, daß der nordische Übersetzer der lateinischen Epigramme Prospers von Aquitania (12. Jh.) in sehr geschickterWeise den Stabreim in seine Übersetzung einzufügen verstand und selbst seine Vorlage veränderte, um den Reim zu erreichen, so wenn er ... piorum atque sanctorum mit himinrikismenn einir ok helgir menn übersetzt 49 . Der Verfasser der Hungrvaka, ein geistlicher, lateinisch versierter Buchgelehrter (Anf. des 13. Jhs.), schlägt seinen Lesern den Stabreim geradezu bündelweise um die Ohren: Hann vigdi marga hindi, ... kirkjur ok klukkur, brúar ok brunna, vod ok votn, bjorg ok bjollur (K. 3, ed. Helgason, S. 81, 6ff.). Er liebt auch die in der Rechtssprache geläufigen Begriffskoppelungen, z.B.: ungr ok gamall, sœll ok fâtœkr, konur ok karlar (Κ. 4, S. 85, 9) 50 . Man vergleiche dazu Rechtsformeln wie Landsl. II, 11 (Eid des Rechtswahrers) : ... sua vm rikan sem fatœkan, vm ungan sem gamlan, vm sakadan sem siuiadan, Gul. 98 : oc verdr hann at pvi kunnr oc sannr. pa er hann utlagr oc uheilagr, Frost. II, 10 (über Kirchfrieden): pa hefir safirir gort fe oc fridi, lande oc lausum œyri (dieselbe Formel u. a. in Landl. " R.Pipping, Acta academias Aboensis VII, 2, S. 14ff. " D. A. Seip, Maal og Minne 1943, 8. 114 ff. 60 Übrigens hat Paul Kirn, ZRGl· 52, 1932, S. 58ff., anläßlich der Formel aequitas et iustitia darauf hingewiesen, daß der parallelismus membrorum der mittelalterlichen Literatur und damit auch der Rechtsliteratur durch die Bibelsprache vermittelt wurde. Anders J. Grimm, Poesie im Recht (Neudruck 1957), S. 17 if. Vgl. noch Gerh. Salomon, Die Entstehung und Entwicklung der dt. Zwillingsformeln, Diss. phil. Göttingen 1919.

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I, 5, 1), Frost. Einl. 10. 19. 24, UR ^Erff). b. 23: konungr oc Icari, Landsl. IV, 3, 5 : pa eru peir ubota menn bcede firir konungi oc karle, drœpir oc dœyddir..., UR JorJ). 7, § 2: lep sum liufft, UR iErfJ>. b. 10, § 1: arff ok o r f f , UR Manh. b. 11, § 1: Fylghir man laghum ok leznum. gangœr peer gen wigh ok wœrn..., Grág. II, 322 : fyrir ordì oc eidi, Grág. II, 383 (über gewerbsmäßige Räuberei) : i holma eòa i heïla. Die Beispiele zeigen, daß diese (meist alliterierenden) Zwillingsformeln in jungen Gesetzen (vor allem in Landsl. und UR) und auch sonst in jungen Textabschnitten (so etwa Frost. Einl., Frost. II, 10, Grág. II, 383) besonders beliebt sind. Auch die hochmittelalterliche Urkundensprache verwendet gern solche stabenden Formeln, so z.B. ein Brief des Königs Magnus Hakonarson von 1265 (ND Nr. 11): Magnus konongr ... scender / leer dorn mannom oc leendom I bondom oc bupœgnon / verandom oc vidrkomandom ¡ ... Quediu Guôs oc sina ... ¡ hus pœirra oc hœrbyrgi / ... ¡i lande oc i lausum œyri / ... ¡ rœidi oc reef sing / ... / vart bod oc bœnastad / bref oc jnsigli. Es ist deshalb nicht angängig, die Alüterationen in den Aufgebotsbestimmungen der Frost. (VII, 1 : Konungr seal rada bodi oc banni, IX, 22: gera ródr oc reidu, danach wohl auch UR: gora rop ok rep) als ein Kriterium für hohes Alter dieser Bestimmungen geltend zu machen. Die Isländersagas dagegen kennen die Zwillingsformel als bewußtes Stilmittel überhaupt nicht, und sie vermeiden auch die Alliteration, - jedenfalls die älteren unter ihnen. Es ist sicher kein Zufall, daß die Eyrbyggja saga, deren Pseudo-Historizität man gewöhnlich für bare Münze nimmt, die aber in ihrer antiquarisch-interessierten, gelegentlich auch parodistischen Einstellung zur Heidenzeit m.E. ganz modern wirkt, eine auffällige Vorliebe für alliterierende Wortpaare und Sprüche hat. Otto Springer hat in seinem vorzüglichen Aufsatz über den Stil der Isländersagas darauf hingewiesen, daß es zwei mögliche Quellen für die Alliteration gäbe: die altgermanische Dichtung und die Tradition klassischer Rhetorik, d.h. gelehrten, klerikalen Buchstils61. Es würde wohl, wie mir scheint, ein genauer Stilvergleich ergeben, daß die anord. Rechtssprache der gelehrten Buchliteratur nicht so fern und der schlichteren (volkstümlichen ?) Sagasprache nicht so nahe steht, wie 51 O.Springer, The Style of the Old Icelandic Family Sagas, JEGP 38, 1939, S. 107-128, bes. 117. Vgl. auch M. Nygaard, Den lserde stil i den norrene prosa, Sproglig-historiske studier tilegn. prof. C.R. Unger, Kristiania 1896, S. 153-170, bes. 169f.

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man gewöhnlich meint. Damit soll keineswegs verkannt werden, daß es viele alte Spuren des Stabreims in den Rechtstexten gibt. Aber seiner Rolle wird eine übertriebene Aufmerksamkeit gewidmet, und dort, wo er gehäuft auftritt, haben wir meist nicht altes „Urgestein" vor uns, sondern junges, buchmäßiges, oft kirchlich beeinflußtes „Geröll". Übertrieben wird wohl auch die Rolle der R e c h t s s p r i c h w ö r t e r . W.Weizsäcker bemerkt in seiner Untersuchung über „Volk und Staat im deutschen Rechtsprichwort"62, daß die von ihm angeführten Sprichwörter nur zu einem geringen Teil aus dem Mittelalter, sondern überwiegend aus den neuzeitlichen Jahrhunderten stammen. Er meint allerdings darin „nur mehr ruinengleiche Reste einer ehemals ungleich reicheren Überlieferung" sehen zu müssen. Auch M.Szadrowsky hält die friesischen Rechtssprichwörter für „urgermanisches oder noch älteres Erbe"63. Ich möchte das bezweifeln. Die Sammlungen aisl. Sprichwörter und sprichwörtlicher Redensarten, die F. Jónsson in ANF 30 (1914) und H. Gering in ANF 32 (1916) vorlegen, deuten jedenfalls daraufhin, daß das Rechtswesen im Alltagsleben der Nordleute eine geringe Rolle spielte. Es überwiegen Sprichwörter des häuslichen Lebens, der Alltagsmoral, der bäuerlichen Arbeit, der kriegerischen Ethik und der religiösen Lebenserfahrung64. Dasselbe Ergebnis entnehme ich Rolf Pippings Studien über Sprichwörter in den aschwed. Rechtstexten 55 . Sie stammen fast durchweg aus dem Bereich des bäuerlichen Lebens, z.B. garpr ir gratina setr („Der Zaun ist Versöhner der Nachbarn", GR 41 2 , Gul. 82, Hák. 99, Landsl. VII, 29), saman œr brôprœ bo bœzst („Was Brüdern gehört, bleibt am besten zusammen", UR iErfJ). 11, § 2, Gisla s. K. 10, S. 14271·), illt œr wip eghanden delœ („übel ist es [für einen Pächter], sich mit einem Grundeigentümer gerichtlich zu streiten", UR Jorja. 13, § 3), pa œr tompt akœrs moper („da ist der Hofplatz des Ackers Mutter" [d.h. Grundlage der Acker62

W.Weizsäcker in: Aus Verfassungs- u. Landesgeschichte, Festschr. Th. Mayer, 1954, Bd. I, 8. 305-329, hier 3271F. Vgl. auch von dems., Rechtssprichwörter als Ausdrucksformen des Rechts, Zs. f. vgl. Rechtswiss. 58, 1956, S. 9-40. 63 M.Szadrowsky, Stil u. Syntax der afries. Rechtssprache, P B B 81, Tübingen 1959, S. 131-160, hier 155f. 64 Zu beachten ist dabei, daß P. Jónssons Register in A N F 30, S. 214ff., irreführend ist. " R.Pipping, Ordspráksstudier I (Studier i nord. fil. X X V I I I , 3), Helsingfors 1938, über Rechtstexte S. 40 ff.

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Verteilung], UR WiJ). b. 2, § 6). Dem bäuerlichen Bereich entstammt übrigens auch eine der wenigen anorw. Rechtswendungen: gera kaldakol a iörÖu eins („kalte Kohlen auf jds. Land machen" [d.h. das Pachtland vor Ablauf der Pachtzeit verlassen], Frost. XIII, 2 und dann mehrfach in jüngeren Texten). In F. Jónssons Sammlung gibt es nur wenige reine Rechtssprichwörter, z.B. fár gengr sekr af sjálfs dòmi („wenige gehen geächtet vom Selbsturteil" [d.h. man spricht sich selbst kein allzu hartes Urteil zu], Nr. 348), besonders: í salti liggr sçk ef sœkjendr duga („im Salz liegt eine Sache, wenn die Kläger taugen" [d.h. eine Schuldforderung verjährt nicht, solange die Gläubiger auf dem Posten sind], Nr. 405). Dieses Sprichwort hat nebenbei den Vorzug, tatsächlich in einem Rechtstext überliefert zu sein (Gul. 39, Landsl. VIII, 6, 2 u.ö.), und es ist ja auch eine wirkliche Rechtssatzung, während viele der eben zitierten Sprichwörter bloße Lebenserfahrungen wiedergeben. Im allgemeinen zeigt sich, daß Sprichwörter in jüngeren Rechtstexten häufiger sind als in älteren, so unter den schwed. Rechtsbüchern gerade im UR, einem auf königliche Veranlassung zu Ende des 13. Jhs. redigierten Gesetz. Es ist wohl kein Zufall, daß Ed. Sievers seine Theorie, das alte Recht sei in Verse gebunden gewesen, gerade an diesem verhältnismäßig jungen Königsgesetz zu exemplifizieren begann 66 . Auch das berühmteste Rechtssprichwort des Nordens: Mœth logh seal land byggœs („Mit dem Gesetz soll man das Land bebauen") ist, wie mir scheint, ziemlich jung. Es nimmt seinen Ausgang wohl vom JR, einem von König Waldemar II. redigierten Gesetz von 1241, und es wird bezeichnenderweise vom Frost, und vom UR aufgegriffen57. Seine besondere Bewandtnis hat es schließlich mit dem Sprichwort tunga höfudbani („Die Zunge ist der Haupttöter"), das in einem aschwed. Gesetzesfragment, dem sog. „Heidengesetz" (Hednalagen) vorkommt (SGL III, 275). Darin wird bestimmt, daß eine Ehrverletzung durch einen Zweikampf bereinigt werden könne, und das Sprichwort will sagen, daß der Ehrabschneider, wenn er fällt, an seinem Tod selbst schuld sei und deshalb bußlos bleibe 58 . Das Frag" Ed. Sievers, Metrische Studien IV, Die aschwed. Upplandslagh nebst Proben formverwandter germ. Sagdichtung, Abh. d. Sachs. Ges. d.Wiss., Phil. hist. Kl. 35, Leipzig 1918-19, S. 615ff. 67 Vgl. dazu Kapitel 5 (S. 188. 191, Anm. 28). 66 Vgl. B. Estlander, Hednalagen och dess stadgande om tvekamp, Tidskr. utg. af Juridiska Föreningen i Finland 1912, S. 571-594. A.Nelson, Envig

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ment gilt als eines der altertümlichsten Stücke der aschwed. Rechtsüberlieferung69, wegen seiner Dialogschilderung, des darin enthaltenen Stabreims und der sprichwörtlichen Pointe geradezu als Paradebeispiel für den frischen, volkstümlichen Stil des alten Rechtsvortrags60. Ich möchte es aus verschiedenen Gründen für unecht halten, für die Erfindung eines (spätmittelalterlichen? ) Altertumsfreundes61. och ära. E n Studie over ett fornsvenskt lagfragment, Saga och sed. Κ ungi. Gust. Ad. Akademiens Ârsbok 1944, Uppsala 1945, S. 57-94. 69 Zur Überlieferung besonders L. Fr. Leffler, Om den fornsvenska hednalagen, Kungl. Vitterhetsakademiens Mänadsblad 1879, S. 100-140, der eine deutliche Übereinstimmung m i t der Sprache des VGR I feststellen zu können meint, u n d G.I.Stähle, A N P 69, S. 130-139, der das F r a g m e n t wieder a n das U R anschließt. Vgl. z.B. Bernh. Rehfeldt, ZRG 72, 1955, S. 48. 61 Die Echtheit scheint verbürgt zu sein durch die Bemerkung des Olaus Petri in seiner Schwedischen Chronik, er gäbe das Gesetz ordhfrä ordh wieder, som, i gambla laghböker firmes (Samlade Skrifter a v Olaus P e t r i IV, 44). An anderer Stelle schreibt Olaus Petri, es habe derjenige in früherer Zeit als Grundeigentümer gegolten, der so viel Land besessen habe, daß er darin bestattet werden konnte, das sind 7 F u ß in der Länge u n d 3 F u ß in der Breite. Auch diesen Bericht leitet Olaus Petri m i t den Worten ein : och ther före finnes bescriffuit i the gambla laghböker... (Saml. Skrifter IV, 73). C.I. Stähle (ANF 69, 1954, S. 135) meint, hier müsse Olaus P e t r i seine Quelle wohl gründlich mißverstanden haben, denn eine solche Bestimmimg sei weder überliefert noch ü b e r h a u p t denkbar. Ich halte sie f ü r eine Erfindung, die Olaus Petri aus irgendeiner Chronik o.a. geschöpft haben mag, jedenfalls nicht aus irgendeinem alten Gesetz, denn sie ist typisch f ü r die pseudoaltertümlichen Züge, mit denen schon die hoch- u n d spätmittelalterliche Geschichtsschreibung die Heidenzeit auszustatten pflegte. Die Vorstellung scheint aus dem christlichen vanitas-Gedanken zu stammen, vgl. Straßburger Alexander V. 7274 ff. Schon die Siebenzahl weist auf christliche H e r k u n f t . Dort, wo Olaus Petri sich auf ein bestimmtes, wirklich existierendes Gesetz berufen kann, drückt er sich durchaus präzis aus : konung Birgers lagh ( = U R ) u . ä . Damit verliert die Bemerkung zum „Heidengesetz" ihre Glaubwürdigkeit. Gegen die Echtheit des Gesetzes sprechen folgende Gründe: 1. der Treffpunkt dreier Wege (priggia vœgha mot), a n dem sich die Zweikämpfer treffen sollen, k o m m t in der anord. Überlieferung sonst nirgend vor. Überh a u p t spielt der Kreuzweg im anord. Recht keine Rolle (vgl. Grimm, RA). Der Erfinder des „Heidengesetzes" scheint durch das lat. trivium (τρίοδος) angeregt worden zu sein. 2. Das Wort höfudbani fehlt in der aschwed. Rechtssprache. Das Sprichwort k o m m t sonst nur noch in der westnord. Dichtung v o r : tunga er höfuds bani (Hávm. 73). 3. Auch glöpr orö fehlt im Aschwed., h a t aber Ähnlichkeit m i t westnord. glöpyrdi. 4. Der Ausdruck full vapn ist jung u n d ersetzt älteres folkvapn. 5. Der Ausdruck vitnisbœr ist sonst nur noch in Gesetzen des 14./15. Ths. (MELR u n d ChrLR) belegt. Ü b e r h a u p t ist vom E n t z u g der Eid- u n d Zeugnisfähigkeit zuerst in diesen Gesetzen die Rede. (Auch A.Nelson, S. 85, Anm. 1, zitiert zum Vergleich nur M E L R J>g. b. 32, ohne allerdings hier u n d in allen anderen Fällen im geringsten stutzig zu werden.)

89 7 von See, Rechtswortechatz

Soweit es sich um Sprichwörter handelt, scheint also wenig volkstümliches Gut in die Rechtstexte eingegangen zu sein. Auch die Gegenprobe versagt : in welchem Maße sind Sprichwörter, Formeln und Floskeln der juristischen Sprache in die Volkssprache oder in die Sprache anderer literarischer Gattungen eingedrungen ? An der skaldischen und eddischen Bildersprache hat die Rechtssprache nur geringen Anteil. Die schon erwähnte Verwendung von mord und myrdir ist nicht eigentlich hierher zu rechnen62, allenfalls der Übergang des Rechtsausdruckes rannsaka in die Gemeinsprache (eig. „Haussuchung halten", dann allgemein „untersuchen, prüfen"). Es bleibt dann wohl nur der häufige Gebrauch von ping in der „Kampf " Metaphorik. Damit mag es auch zusammenhängen, daß einmal in einem eddischen Lied, dem ersten Helgilied 29, 3, der ganz spezielle Rechtsbegriff pinglogi „derjenige, der sich einer Dingversammlung entzieht" als Metapher verwendet wird: vardat hrçnnom hçfn pingloga („Die Schiffsmannschaft wurde nicht zum pinglogi gegenüber den Wogen", d.h. wich dem Zusammenstoß mit den Wogen nicht aus). Diese Art von Metapher ist aber eine große Ausnahme. Auch in der Umgangssprache gibt es wohl nur wenige Rechtsfloskeln. Die Sagasprache zeigt verschiedene Beispiele für das Eindringen seemännischer Floskeln in die isl. Umgangssprache, z.B. Bandamanna saga S. 2828: pessa ipn hefer hann núfyrer stafne („Diesem Gewerbe geht er nun nach", eig. „Diese Arbeit hat er nun vor dem Schiffssteven"), oder 3410: vera mikell borpe („großgesinnt sein", eig. „einen hochragenden Schiffsbord haben"), oder S. 5619: sigla á vepr einem („jdn. übertrumpfen", eig. „ihm den Wind absegeln"), oder Hrafnkels s. K . 10, S. 4327: roa vík á einn („sich gegen jdn. wenden", eig. „ihn anrudern"). Aus dem Brettspiel stammt eine Redensart der Honsn. s. S. 434, wo es über die Futternot kleiner Bauern heißt: ok ero marger pá upp teflder („und manche waren da schon mattgesetzt"). Floskeln aus der Rechtssprache sind viel seltener, z.B. Band. s. S. 3420f·, wo Vale zu seinem Freund Oddr sagt, er möge den óspakr nicht vorschnell des Schafdiebstahls verdächtigen: Nú vil ek, ai pú snúer eige suá skiótt máleno til áfelles honom („Ich will, daß du ihm ·« Einleitung S. 21f.

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nicht so schnell in der Sache das Verdammungsurteil sprichst"). Auch Sprichwörter, die eine allgemeine Lebenserfahrung im Bild einer juristischen Erscheinung sehen, sind ganz selten. Vielleicht gehört Nr. 113 in H.Gerings Sammlung (ANF 32, S. 27) dahin: allr dagr til stefnu („solange der Tag währt, kann eine rechtsgültige Ladung vorgenommen werden", sprichwörtlich nach Geringe Vermutung in dem Sinne: „der ganze Tag soll zur Arbeit ausgenutzt werden"). Wer an die zahlreichen juristischen Redewendungen und Sprichwörter der heutigen deutschen Umgangssprache denkt („über jdn. den Stab brechen", „jdn. verurteilen", „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst"), der wird den geringen Anteil in der anord. Sprache wohl auffällig finden. Wie steht es schließlich mit W i t z u n d H u m o r ? „DasVolk liebte sie zu allen Zeiten", schreibt Hans Fehr. „Darum fanden sie auch Aufnahme im Recht, im Volksrecht" 63. Man erinnert sich an Sätze: „Wo sich der Esel wälzt, da muß er Haare lassen", wodurch der Tatort als Gerichtsstand vorgeschrieben wird. In den deutschen Rechtsbüchern gibt es allerlei von dieser Art. Der traditionelle Ort für humorvolle Auslassungen sind die sog. „Spottbußen". Im Sachsensp. III, 45, § 9, heißt es z.B.: Kempen unde er hindere dene gift men to bute den blik van eneme kampscilde jegen de sunnen. Das anord. Glanzstück ist Borg. II, 15, wo erklärt wird, daß der Unfreie im Gegensatz zum Freien kein Tötungsrecht gegenüber dem Verführer seiner Frau oder Tochter hat : Ef han tœkr man i hia henni, Pa skal han ganga til brundz ok taka span fuit vatz ok slœtta a pau ok biôia hœilan sofua magh sin („Wenn, er einen Mann bei ihr antrifft, da soll er zum Brunnen gehen und einen Eimer voll Wassers holen und über die beiden schütten und seinem neuen Verwandten wohl zu ruhen wünschen"). Erst neuerdings ist diese Stelle wieder als charakteristisch für den anord. Rechtsstil hervorgehoben worden 84 . Aber es ist zu beachten, daß das Zitat aus einem christenrechtlichen Abschnitt stammt. In unmittelbarer Nähe - Borg. II, 14 - findet sich noch ein zweites Beispiel (vgl. dazu R. Meißner, Germanenrechte N.F., S. 63), sonst nur noch in auffälliger Häufung im UR, das ja auch nicht zur ältesten Schicht der Rechtsbücher gehört und «» H.Fehr, Die Dichtung im Recht, Bern o. J. (1936), S. 12. " H.Liermann, ZRG 76, 1959, 8. 358: „ein Beispiel für den grimmigen Humor primitiven Rechtes". Wäre es ebenso gewagt, hier von „Juristenhumor" zu sprechen?

91 7*

dessen hochmittelalterliche Stileigentümlichkeiten schon erwähnt wurden: Fyndir aghu neest piuffnœpi standee, py at piuffwœr hittœ giœrna. swa sum kbkkœrin hitti kalkin („Die Funde haben [im Gesetzestext] nächst dem Diebstahl zu stehen, weil die Diebe gern .finden', so wie der Glöckner den Kelch ,finden' möchte", Manh. b. 52), far man hœst äff hirpmanni œllr äff wœghfarandœ manni ... pœr œr œngin frestmark fore, œn pœr komee œptru fôtœr. sum fyrree warufrœmbru („Bekommt man ein Pferd von einem Hirdmann oder einem des Weges ziehenden Mann [durch Kauf oder Tausch], da gibt es keine [längere] Probezeit dafür, als bis die hinteren Füße dahin kommen, wo die vorderen waren", Kiöpm. b. 5, § 4), œr eldœr höghri œn hawœ porff („ist das Feuer höher, als er es zu haben braucht" [d.h. ist ein Brand in seinem Haus ausgebrochen], Kun. b. 12, § 2), pa œr want pœnningœ takœ pœr œngi til œru („da ist es schwer, Geld zu nehmen, wo keines ist", iErf]3. b. 25). I n dän. Rechtsbüchern fehlt so etwas überhaupt. Z.B. gilt der „Versuch" in dän. Landschaftsrechten als straffrei, aber erst in Peder Laales Sprichwortsammlung findet sich das Sprichwort: „Für ungetane Tat büßt man ungeborenes Vieh" (vgl. Peder Syv Nr. 2656). Die Durchsicht zeigt, daß in den anord. Rechtstexten alles das fehlt oder auffällig schwach vertreten ist, was man nach landläufiger Auffassung für ein Charakteristikum volkstümlichen, volksnahen Stils hält. Gerade das anord. Recht zeigt aufgrund seiner günstigen Überlieferungsverhältnisse, daß diese Elemente nicht zur ältesten Schicht gehören. „Dichtung im Recht" und „Humor im Recht" sind erst das Charakteristikum des hoch- und spätmittelalterlichen Rechtsstils. *

Die nächste Frage gilt der Vorstellung vom „Gewohnheitsrecht". In der westgerm. Rechtsterminologie ist sie gut bezeugt. An erster Stelle ist das Wort ëwa (germ. *aiwi-, ahd. afries. ëwa, asächs. ëo, aengl. œ[w], mhd. mnd. e) zu nennen, das - soweit belegt - sowohl dem rechtlichen als auch dem religiösen Bereich angehört und „Gesetz, Rechtsbrauch, göttliches Gesetz, Kultbrauch" bedeutet. Die Etymologien sind ziemlich unsicher. Meist verbindet man es mit ig. *aiu- (lat. aevum, griech. α'ιών, got. aiws) „lange Zeit, Ewigkeit" 65 65 So J.Weisweiler, Streitberg-Festschr. 458 ; M.Mincoff, AfdA 53, 1934, S. 232f.; Fr. Stroh, in: Maurer-Stroh, Dt. Wortgeschichte I, 2. Aufl. 1959,

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und kommt damit zu der Grundbedeutung „ewige Ordnung, alte Gewohnheit, seit langem geltendes Recht". Marco Mincoff verweist auf eine slavische Parallele: zakoni „Gesetz", eigentlich „Anfang" ββ. Das Wort gehört im Westgerm, zu den Grundbegriffen der Rechtsterminologie. Um so erstaunlicher ist es, daß es im Gotischen und im Nordischen vollständig fehlt (anord. ektakona „Ehefrau" u.ä. sind erst aus mnd. ehi- entlehnt). Die Vorstellung, daß es ein Kennzeichen der Rechtsordnung sei, etwas Altererbtes zu sein, beschränkt sich also - was dies Wort betrifft - auf das Westgermanische67. Im Westgerm, gibt es außerdem verschiedene Wörter für Gewohnheit und Sitte, die gelegentlich auch auf Gesetz und Recht angewendet werden und dabei geradezu in terminologischen Gebrauch kommen. Das älteste unter ihnen ist ahd. as. thau, aengl. pëaw, afries. thäw („Volksbrauch, Gepflogenheit, Sitte" und dann auch „Unsitte"), das allerdings auf dem Kontinent kaum und nur im Aengl. mitunter im juristischen Bereich erscheint, z.B. be peawe „nach Gewohnheitsrecht" (Liebermann 218). Dieses Wort fehlt im Nordischen ebenfalls ! Die beiden anderen Wörter sind ahd. situ, mhd. site, as. aengl. sidu, und mhd. wonheit, aengl.· gewunan. Als Beispiel diene „Christus und Pilatus" 63 (C.Kraus, Dt. Gedichte des XII. Jhs.): „ich ne weiz nicht, waz nu sprechen me: occipite eum vos, et secundum legem vestram ivdicate!" - daz spricht: nemt in, und richtet na uwer wonheit / „ez wirt her na uns allen leit." si sprachen: „wi haven einen site, des muoz tu nu uns volgen mite. S. 40. - H.Wesche, P B B 61, 1937, S. 23, entscheidet sich nicht. Fr. Kern, Recht und Verfassung, S. 15f., möchte aus sachlichen Gründen der Verbindung mit lat. aequurn „Billigkeit" den Vorrang geben. Aber gerade aus sachlichen und auch aus bedeutungsgeschichtlichen Gründen ist das m. E. ausgeschlossen: es gab bei den Germanen ursprünglich keine Billigkeitsjustiz und auch die Verwendung des Wortes im religiösen Bereich wäre mit der Grundbedeutung schwer erklärbar. Zu erwähnen ist noch der Anschluß an aind. èva „Lauf, Gang, Gewohnheit, Sitte", für den sich Eckhardt in AmiraEckhardt I, S. 4, entscheidet (vgl. ferner SY. Mezger, Zs. f. vgl. Sprachf. 76, 1960, S. 86). Indiskutabel ist schließlich wohl der Versuch von Marco Scovazzi (vgl. ZRG 76, 1959, S. 354), êwa als „gleiches Recht für alle" (d.h. alle Vertragspartner eines Bundes) zu deuten. · · M. Mincoff, AfdA 53, 232 f. " Es ist deshalb auch irreführend, das Wort êwa in der Interpretation anord. Rechtsverhältnisse zu verwenden, wie B.Rehfeldt, ZRG 71, 1954, S. 8, es tut.

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her seal sterven na unser e, iz tu im wol oder we!" Das dreimalige lex der Vorlage (Joh. 18, 31 und 19, 7) wird also durch die Wörter wonheit, site, e wiedergegeben68. Die beiden Wörter, um die es hier geht, wonheit und site, gibt es unter verschiedenen Formen auch im Anord. : sidr, m., vani, m., verija, f., sidvenja, f., sidvandi, m., sidsemi, f. Von ihnen wird nur sidr in erweiterter Bedeutung gebraucht, dann aber ausschließlich im religiösen Bereich : „Kultbrauch, Glaubenssitte, Glauben". Forn sidr („alte Sitte") ist geradezu ein Terminus für „Heidenglaube, Zeit des Heidenglaubens", und nyr sidr wird gelegentlich für die christliche Zeit gebraucht. Prägnant ist das Nebeneinander der beiden Ausdrücke log („Gesetz, Recht") und sidr („Glauben") in Ares Isländerbuch K. 7, 15: ... oc hovom aller ein log oc einn sip („... und [daß] wir alle ein Gesetz und einen Glauben haben"). Deutlicher kann nicht gesagt werden, daß „Gesetz, Recht" im Norden n i c h t „Sitte" ist! Mindestens ebenso häufig, aber stärker beschränkt auf den einzelnen Akt ist sidvenja. Auch dieses Wort wird durchweg nicht auf Rechtsgewohnheiten bezogen, sondern meist auf religiös bestimmte Bräuche und Zeremonien, z.B. heidnische Begräbnissitten (Gísla s. K. 13, S. 2012, Eyrb. s. K. 33, 11), auf Gelagebräuche (Heimskr. Yngl. s. K. 36) u. ä. Das gilt, wie mir scheint, selbst für die ganz ungewöhnliche Verbindung log ok forn sidvenja („Gesetz und alte [d.h. vormalige] Gewohnheit"), die die Egils saga in K. 65, 14 auf eine alte, der heidnischen Zeit zugeschriebene Holmgang-Bestimmung anwendet : log bezeichnet das juristische, sidvenja das religiöse Moment an dieser Bestimmung (denn der christliche Sagadichter betrachtet den Holmgang als Bestandteil alten, heidnischen Brauchtums). Alle genannten Ausdrücke kommen gelegentlich natürlich auch in den Rechtstexten vor, meinen aber auch dort nicht das „Gewohnheitsrecht", nicht einmal die einzelne „Rechtsgepflogenheit", sondern irgendeine konkrete Einzelheit, die örtlich verschieden ist und daher meist eine unterschiedliche Anwendung der allgemeinen Rechtsregel mit sich führt, ohne daß das Gesetz sich damit befaßt, diese Anwendung noch näher zu bestimmen. So kommt aschwed. sipuœnia im ÖGR Bygd. 44, § 1, in einer Stelle vor, die von der sog. brandstup, einer Unterstützung für Brandschäden handelt, die der 68 Weisweiler, Streitberg-Festschr. 424. Vgl. ferner S.Brie, Die Lehre v. Gewohnheitsrecht I, Breslau 1899, S. 219ff.

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Geschädigte vom ganzen. Herad oder einem Teil des Herads empfangen sollte, œfte py sum sipuœnia œr „wie es Gewohnheit ist", d.h. je nachdem, wie diese Feuerversicherung landschaftlich organisiert war. Ähnlich steht es mit forn vani in Landsl. I, 2 : oc hafe huarfarar fee sit eftir fornom vana („und habe jeder sein Dingfahrtgeld nach alter Gewohnheit"). Die Höhe des Fahrtgeldes ist nämlich gestaffelt nach der Entfernung der einzelnen Bezirke vom Dingplatz. Vergleichbar ist die Wendung at forno fare „nach alter Verfahrensweise", die in Gul. und Frost, und häufiger noch in Landsl. vorkommt, z. B. Landsl. VII, 34, 1 : Gautur aliar oc garda lid skolu sua uera, sem at forno fare hafa writ („Alle Wege und Zauntore sollen so sein, wie sie von altersher gewesen sind"), oder Landsl. III, 14, 5: Nu skolu peir par uppsat hafa, sem peir hafdu at forno fare („Nun sollen sie [die Bauern] dort den Liegeplatz [ihres Ledingschiffes] haben, wo sie ihn seit altersher hatten"). Auffälliger ist schon die Überschrift zu Frost. I, 3: Enn um sidsemi á Frostopingi („Weiteres über den Brauch auf dem Frostoding"). Aber hier sind weder materielle noch formelle Rechtsregeln gemeint, sondern das Zeremoniell der Dingeröffnung, Fastenregeln, Glockengeläut usw. Außerdem ist gerade diese Bestimmung ziemlich jungen Datums, einer der wenigen Fälle, wo ausdrücklich der Name des Gesetzgebers erwähnt wird: Erzbischof Eysteinn von Nidaros (1157-1188). Der Ausdruck sidsemi will also nicht sagen, daß die Bestimmung alt sei und aus dem Halbdunkel der Volksüberlieferung stamme. In den Urkunden und den jüngeren Gesetzen des 13. Jhs. ist dann freilich die Vorstellung vom Gewohnheitsrecht auch im Norden belegt. Am Anfang stehen bezeichnenderweise lateinische Urkunden kirchlicher Kreise. Sie verwenden den römisch-mittellat. consuetudoBegriff, der ja - neben mos - auch die Verwendung der westgerm. Ausdrücke wonheit und site und wohl die Vorstellung vom Gewohnheitsrecht überhaupt beeinflußt hat. In einem Brief des Papstes Innozenz III. von 1206 heißt es: legislatores [die schwedischen Gesetzessprecher] annis singulis tenentur coram populo legem consuetudinis publicare (DS I, S. 156, nr. 131). Es steht dahinter die von der Kirche propagierte Lehre, daß alle Gesetze und Rechtseinrichtungen die Ausprägung der jeweiligen Landes- und Volkssitten seien und sein sollten. In einem Brief des Erzbischofs Anders Suneson von Lund und des Bischofs Bengt von Linköping von ca. 1220 (DS nr. 832) wird diese Lehre folgendermaßen formuliert : „Jedes Land 95

hat seine eigenen und abweichenden Gesetze, alles nach seiner Art und der besonderen Beschaffenheit seiner Sitten. Aber das Gesetz soll, wie Isidoras sagt, dem Ort und dem Land angepaßt sein. So kommt es, daß ebenso wie die Insel Gotland durch eine lange Meeresstrecke von den andern Ländern getrennt ist, sich deren Bewohner im hohen Grade von andern Völkern hinsichtlich ihrer Gesetze und ihres Gewohnheitsrechts unterscheiden, sowohl des weltlichen als auch des geistlichen." Interessant ist übrigens, daß diese Belehrung sich anschließt an die Feststellung, es sei nützlich, die bestehenden Gesetze schriftlich niederzulegen. Offenbar fürchtete man, die Schriftlichkeit könne zu einer Vereinheitlichung der einzelnen Landschaftsrechte führen. Derselbe Gedanke ist gemeint, wenn die Vorrede zum JR (DGL II, S. 7) betont: Logh seal wœrœ œrlic oc rœt. thollich. œftœr landœns wanœ, quœmœlich oc thurftœlic oc opœnbarœ („Das Gesetz soll ehrbar, rechtlich und duldsam sein, nach der Gewohnheit des Landes, bequem und nützlich und deutlich"). Der Satz stammt aus dem kanonischen Recht (c. 2 Dist. 4), dort wiederum aus Isidor von Sevilla : œftœr landœns wanœ ist eine Wiedergabe von secundum consuetudinem patriœ69. Aus der kirchlichen Rechtssprache stammt offenbar auch der Ausdruck gamul sipwœniœ („alte Gewohnheit") in UR Kirk. b. 7, § 5, wo es über die Leistung des Zehnten heißt : oh aghum wir tyundœ äff lin ok äff hampu..., swa sumfyr hawœr gamul sipwœniœ wœrit. *

Die letzte Frage gilt der Vorstellung vom „ g u t e n a l t e n R e c h t " . Einige Belege für forn réttrjgamall réttr wurden bereits in einem früheren Abschnitt behandelt. Es wurde dort gezeigt, daß nicht das „Recht" gemeint war, sondern irgendein „persönliches Vorrecht", und außerdem ergab sich, daß die Belege durchweg jung und teilweise kirchenrechtlichen Inhalts waren. Wenn solche Vorrechte als „alt" bezeichnet werden, dann nicht i.S. von „altüberliefert", sondern i.S. von „früher, vor der jetzigen Ordnung schon bestehend, nicht neu erlassen und daher keiner Begründung bedürftig". Wieviel Zeit verflossen sein mußte, damit ein Rechtsverhältnis als forn gelten konnte, zeigt Frost. X, 28 : nach zwanzig bzw. zehn Wintern solle man schwören, at pat mal er sváfornt at pat er òr vátta ábyrgd („daß ·» N.K.Andersen, in: Med Lov skal Land bygges, S. 88.

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die Rechtssache so alt sei, daß sie aus der Verantwortung der Zeugen sei"). Der oben schon erwähnte Gegensatz von „alt" und „neu" ist gemeint in Frost. III, 10 über den Ehescheidungsakt eptir landzlagum fornum oc [Hss. A.S. fügen ein: œigi] med guds lagum, d.h. nach älterem weltlichen Gesetz und [nicht] nach dem (neueren) Christenrecht. Dasselbe gilt für die Bemerkung, die Ari in seinem Isländerbuch K. 7, 17 über die neuen Gesetzesvorschriften nach Annahme des Christentums in Island macht : en of barna útburp scylldo standa en forno Içg oc of hrossaJciotz át „und über Kindesaussetzung und das Essen von Pferdefleisch soll das alte Gesetz bestehen bleiben", d.h. nicht „das altüberlieferte", sondern „das bisher bestehende Gesetz". Ausdrücklich kommt die bloße Relation „alt-neu" zum Vorschein in K. 10, 9: Scylldo peir g&rva narricele pau oll í logum, es peim litesc pau betre, an en forno log („Sie sollten alle die neuen Bestimmungen ins Gesetz einführen, die ihnen besser erschienen als das alte Gesetz"). Auch in der Grág. II, 404 ist ein Gegensatz gemeint, nämlich der zwischen isländ. Recht und norw. Recht : pat ero forn lög a landi váro... Enn pat ero lög i noregi oc a alla danska tungo..was heißen soll : Wir Isländer haben nicht etwa eine neue abweichende Regel aufgestellt, sondern das war schon immer so bei uns ! Es spielt allerdings der Gedanke hinein : weil die Regel alt ist, bedarf sie keiner Rechtfertigung. Ganz deutlich scheint dies in Borg. I, 12 zu sein: pœtt ero forn log at prestr skal hava lagagift... („Das ist altes Gesetz, daß der Priester die gesetzlichen Gebühren [von den Bauern] haben soll..."). Vielleicht ist aber die Wendung pœtt ero forn log oder doch wenigstens das Wort forn eine Interpolation, durch die das in I, 12 geschilderte Gebührensystem als das ältere, „früher bestehende Gesetz" gegenüber der gleich darauf erwähnten jüngeren Zehntordnung charakterisiert werden soll70. Wie dem auch sei: es handelt sich hier auf jeden Fall nicht um eine volksrechtliche, sondern um eine kirchenrechtliche Bestimmung. Selbst wenn forn hg „altes Gesetz" bedeuten sollte, so würde auch das nicht verwunderlich sein, denn offenbar ist die Vorstellung vom „guten alten Recht" - ebenso wie die vom „Gewohnheitsrecht" - durch Vermittlung der Kirche zum Norden gelangt71. Schon in der Verordnung über den , 0 So E.Hertzberg in: Historiske Afhandlinger tilegnet Prof. Dr. J.E.Sars, Kristiania 1905, S. 105. 71 Nach Fr. Kern, Recht und Verfassung, S. 37 f., Anm. 3 (vgl. auch S. 42, Anm. 1) ist dem Kirchenrecht der Grundsatz geläufig, daß altes Recht das

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schonenschen Landfrieden vom 28. Dezember 1200 (DS I, nr. 118) betont der Dänenkönig Knut VI, daß er zwar befugt sei, Gesetze zu geben und zu verändern, daß er dieses Gesetz aber nicht als neues gebe (legem hanc ex nouo non, condimus), sondern nur ein Gesetz, das seit alters geltend war (ab antiquis temporibus constitutam), in die menschliche Erinnerung, aus der es entglitten war, zurückrufe (ad humanam a qua lapsus est memoriam revocamus). Daß kirchlicher Einfluß dahintersteht, zeigen die Worte, in denen Knut VI. von seinem Königsamt spricht: ministerium nobis diuina gracia traditum. Die lange Rechtfertigung erwies sich übrigens schon insofern als notwendig, als gerade diese Verordnung das erste Gesetz des Nordens ist, das auctoritate regis, also ohne Mitwirkung und Zustimmung des Landesdinges zustande kam. In den Vorreden der königlichen Gesetze des 13./14. Jhs. taucht diese Vorstellung gelegentlich wieder auf. In der Confirmatio des UR heißt es (S. 3) : po at forni laghœ rœttir sein wirpningœ wœrpir... („Obwohl altes gesetzmäßiges Recht der Verehrung würdig ist...") und dann noch einmal (S. 4): fore py at wir wildum œi gamul lagh oskiœllilcœ umskiptœ („denn wir wollten nicht altes Gesetz unüberlegt ändern"). Nach MELR Kunungxb. 5, § 4 soll der neue König im Treueid schwören: Fiarpe, at han rike sino suerike skal styra ok rapa mep inlœnzskum mannum ok ei vtlœnskum, œfter py sum gamul lagh ok rikisins rœter hauer af alder varit („Viertens, daß er sein Reich Schweden führen und leiten soll mit inländischen Männern und nicht mit ausländischen, so wie es altes Gesetz und Recht des Reiches von altersher gewesen ist"). Hier zeigt sich schon die Verbindung von Rechtstraditionalismus und Nationalgedanken, die besonders in den nationalen Freiheitsbewegungen des späten Mittelalters eine Rolle spielt 72 . Die Vorstellung vom alten Recht fehlt im Norden auch insofern, als die Fiktion vom mythischen, sagengeschichtlichen oder frühjüngere bricht. Das Motiv ist freilich ein anderes als das der Volksrechte: „Ältestes Recht galt dem inspirierten Recht der Bibel und der ersten Konzilien am nächsten" (E.Hölzle, Historisches Recht, in: Aus Verfassungs- u. Landesgesch., Festschr. Th. Mayer, 1954, Bd. I, S. 275).- 8. auch oben S. 34. 78 Vgl. G. Franz, Der Kampf um das ,alte Recht' in der Schweiz im ausgehenden Mittelalter, Vierteljahrsschr. f. Soz.- u. Wirtschaftsgesch. 26, 1933, S. 105fif. Das „alte Recht", das die Schweizer Urkantone beanspruchen, war das überlieferte, von den habsburgischen Landvögten verletzte Recht. Auch im niederländischen Freiheitskampf berief man sich in der Absagungsurkunde von 1581 auf das oude herkommen. Zu dieser Erscheinung i. allg. E.Hölzle, Festschr. Th.Mayer I, besonders S. 267, 273f., 277f.

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geschichtlichen Gesetzgeber ursprünglich zu fehlen scheint. Bekanntlich führte man den Sachsenspiegel und anderes Recht auf Karl d.Gr. zurück (Karies recht), um damit „Alter, Güte und Unantastbarkeit des ihm zugeschriebenen Rechts" zu begründen73. Wie nicht anders zu erwarten, wird in Norwegen eine solche Gesetzgeberrolle dem König Olaf (1015-30), dem Nationalheiligen und rex perpetuus Norvegiae, zugeschrieben, aber diese Rolle bezieht sich anfangs wohl nur auf christenrechtliche Bestimmungen und wird nur gelegentlich auf das gesamte Gesetz ausgedehnt, z.B. in Frost. Einl. 16: eptir hins helga Ólafs konungs lagasetning oc lögmanna orskurÖi skyle hverr sitt mal til lycta leiÖa („nach der Gesetzgebimg König Olafs des Heiligen und dem Rechtsbescheid der Rechtswahrer [Königsrichter] sollte jeder seine Rechtssache zum gerichtlichen Abschluß bringen"). Die Zeit, in der der Heilige lebte, war angeblich eine Zeit, in der alles zum Rechten bestellt war und auf die man sich immer wieder berufen konnte, z.B. in Frost. X I I I , 9, wo bestimmt wird, daß man über alle Gewässer, auf denen nicht geflößt wird, einen Zaun zum Abfangen der Lachse führen könne : En ef peir er fyrir ofan sitia segia at eigi var svá gört um daga ólafs hins helga. pa fari peir til oc festi log fyrir... („Und wenn die, welche weiter oben sitzen, sagen, daß es in den Tagen des heiligen Olaf so nicht bestellt gewesen sei, da sollen sie zufahren und Gesetzverbot einlegen..."). Auch anderswo werden solche Gesetzgeber erwähnt. Nur unterscheidet sich deren Rolle von der des heiligen Olaf dadurch, daß es sich um Personen handelt, die sonst ganz unbekannt sind. In der Praefatio des UR, die erst am Ende des 13. Jhs. verfaßt und kirchlich beeinflußt ist, erscheint der merkwürdige Satz : Laghœ yrkir war wiger spa, hepin i hepnum timœ. Hwat œr wi hittum i hans laghsaghu, œr allum mannum parffiikt œr, pcet sodium wir i bok pessce („Ein Gesetzesmacher war Viger der Weise, ein Heide in heidnischer Zeit. Was wir linden in seinem Rechtsvortrag, das allen Leuten brauchbar ist, das setzen wir in dieses Buch"). Dieser Viger wird nur hier erwähnt; wir wissen sonst gar nichts über ihn. Im Borg.-Christenrecht II, 4 ist es ein gewisser Bessi, ein Gesetzeskundiger aus der Zeit des Königs Olaf kyrri (1066-93), also weder ein mythischer noch ein besonders prominenter Gesetzgeber, der über die Verlobungsauflösung eine Bestimmung gegeben hat : ... pa gerdi Bessi par log til ok hafa pau œ ' 3 H.Krause, ZRGl· 75, 206ff.

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veret sidan („... da hat Bessi ein Gesetz darüber gemacht und das hat seither immer gegolten"). Eine ähnliche Rolle spielt Ulfljot für das alte island. Recht, das nach ihm den Namen Ülfliotslög trägt. Auch Ulfljot ist kein mythischer und natürlich auch kein königlicher Gesetzgeber; aber er ist auch nicht etwa der angeblich älteste Landnehmer oder etwas ähnliches, sondern ein sonst ganz unbekannter Mann, der sich durch nichts auszeichnete, als daß er über praktische juristische Kenntnisse verfügte. Ari weiß über ihn nichts weiter zu sagen als: mapr austrœnn..., sá es Ülfliótr Mt („ein Mann aus Norwegen, ... der Ulfljot hieß", ísl. Κ. 2, 5)74. Die Erwähnungen solcher Gesetzgeber wie Bessi und Ulfljot dienen also nicht dem Zweck, die Herkunft des Gesetzes in ein frühgeschichtliches Halbdunkel zu hüllen. Sie lassen im Gegenteil vermuten, daß man die Gesetzesschöpfung als ein Ergebnis verstandesmäßiger, praktischer Überlegungen betrachtete. Diese Einstellung gibt sich auch in anderen Äußerungen zu erkennen. Von dem ebengenannten Ulfljotsgesetz schreibt Ari in seinem Isländerbuch K. 2,5, Ulfljot habe die Vorlage, das Guladingsrecht, aus Norwegen mitgebracht, und es sei nun mit dem Rat eines andern rechtskundigen Norwegers beratschlagt worden, hvar vip scyllde auca epa af nema ep arman veg setia („wo etwas erweitert oder weggelassen oder abgeändert werden sollte"). Man hat also nicht den Eindruck, daß das norw. Guladingsrecht dazu dienen sollte, dem island. Recht eine ehrwürdige Tradition zu verschaffen75. Der Abschaffung und Änderung von Gesetzesbestimmungen stand die Rechtsauffassung offen74

Die angeblichen Schöpfer der Lex Salica, die im Prolog des Gesetzes genannt werden, Vuisogast, Vuidogast, Arogast, Bodegast, Salegast, sind insofern nicht zu vergleichen, als es sich hier eindeutig um fiktive Namen handelt, mag man nun der Deutung Kerns oder der Deutung Clements folgen ; vgl. dazu u.a. W.Kaspers, ZfdA. 82, 1950, S. 332ff. 76 B.Rehfeldt, ZRG 71, 1954, S. 8, allerdings benutzt gerade diesen AriBericht, um die Vorstellung vom „alten Recht" im Norden nachzuweisen. Aber nicht die bloße Tatsache, daß eine ältere Rechtsordnung als Vorlage benutzt wurde, ist m . E . entscheidend, sondern entscheidend ist, ob diese Vorlage unter dem Zwang des Traditionsglaubens oder aus praktischen Erwägungen benutzt wurde, denn selbstverständlich wird man schon aus praktischen Gründen nicht ohne Bedürfnis von der bewährten Ordnimg abweichen. Das andere Argument, das Rehfeldt (S. 9) benutzt - die Angabe der Yngl. saga Κ. 8, Odin habe solches Recht gesetzt, das früher schon bei den Asen gegolten habe - ist m . E . auch nicht beweisend, denn die ganze Asengeschichte der Yngl. saga beruht an sich schon auf dem Gedanken der Kontinuität.

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bar nicht entgegen, z.B. heißt es in der Grágás einmal beiläufig (II, 101) : pat er oc af tekit er ritat var i fornum bgbócum... („Das ist auch abgeschafft, was in den alten Gesetzbüchern stand..."). Dieselbe sachliche Einstellung zeigt das GR, das ursprünglich mit den Worten Schloß : pet ir oc semp sic et pet iru lag, sum hier ir scrifat i. pet sculu allir menn halda („Darauf ist man übereingekommen, daß dies das Gesetz sein soll, das hierin geschrieben ist ; das sollen alle Männer halten", GR 58, 22). Über Gesetzeserneuerungen heißt es dann weiter: pa en nequarar atbyrpir cunnu par uerpa, sum ai hittas hier i, pa sculu par slitas mip domerà tali oc pet sueria et pet sein ret guta lag oc sipari scrifas hier i („Wenn irgendwelche Ereignisse eintreten können, die hier [im Gesetz] nicht vorgefunden werden, da sollen die entschieden werden mit der Mehrzahl der Richter und man soll sie zum rechten Gutagesetz schwören und dann hier hineinschreiben", GR 59, 2ff.). Das Recht wird also nicht „gefunden", die Rechtsschöpfung wird vielmehr im Bild des Zergliederns, Auseinanderlegens gesehen (slita bedeutet im GR sonst „Zerreißen, Zertrennen von Kleidern"), d.h. als verstandesmäßige Überlegung, und das Ergebnis wird auf Grund eines Mehrheitsbeschlusses ermittelt. Die kontinentale Vorstellung der „Rechtsfindung, Urteilsfindung" (z.B. Sachsensp.: ordel vinden) ist dem Norden überhaupt fremd. Unter den Ausdrücken, die Gesetz und Rechtsordnung bezeichnen, steht im Norden fast alleinherrschend ein Wort an der Spitze, das deutlich die Rechtsentscheidung als einen Akt bewußten Schaffens charakterisiert: log, das mit leggja, swv., „bestimmen, festsetzen" zusammenhängt. Die Amtstätigkeit der Gesetzessprecher, die Rechtsbelehrung und Rechtserläuterung, aisl. logskil / aschwed. laghskila, wird als ein „Trennen, Scheiden, Entscheiden, Auseinandersetzen" (vgl. s hila, skilja swv.) angesehen. Auch die richterliche Urteilertätigkeit wird als skilia bezeichnet (z.B. JR I, 44: tha sculœ sannœnd mœn thœrœ vm skiliœ, Landsl. I, 11, 2: sem logmadr hefir skilt peirra milium, Grág. II, 317: pa seal tolptar quidr scilia vm drepin), gelegentlich auch als skipa, eig. „ordnen, einrichten" (z.B. Landsl. I, 11, 2: sidan logmadr skipade fyrsta sinni milium peirra). Die Entscheidung des norw. Königsrichters wird órskurdr genannt; das Wort meint eigentlich die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten, wobei die gewählte aus den andern „herausgeschnitten" wird (skera ór). Die schiedsrichterliche Tätigkeit schließlich wird als gora „machen, festsetzen, bestimmen" bezeichnet, der Schieds101

sprach danach als gerd (vgl. Njáls s. Κ. 56, 26: at málin váru oll lagid í gerd „daß die Streitsachen alle einem Schiedsspruch unterstellt wurden"), die Schiedsmänner als gerdarmenn (z.B. Njáls s. Κ. 122, 10). Aus der Zusammenstellung ergibt sich, daß man die Gesetzesschöpfung und die Richtertätigkeit als eine von praktischen Bedürfnissen bestimmte, verstandesmäßige Tätigkeit auffaßte. Die Vorstellung vom „Volksrecht", „Gewohnheitsrecht" und „guten alten Recht" ist spärlich belegt, taucht erst spät auf und steht mehr oder weniger deutlich unter kirchlichem Einfluß.

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3. RECHT U N D R E L I G I O N Die Frage nach dem Verhältnis von Recht, Gewohnheit und Sitte steht im engen Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Religion. Denn dort, wo man die Rechtsordnung nicht als eine aus dem Nutzen des Tages entsprungene Einrichtung betrachtet, sondern als eine altehrwürdige, brauchtümliche Lebensordnung, dort hegt auch die Vorstellung nahe, daß diese Ordnung von den Göttern selbst geschaffen oder doch jedenfalls ihrem dauerhaften Schutz anvertraut sei und daß altüberlieferter Kult und altüberlieferte Rechtspflege ein und dasselbe seien. Den Griechen scheint von früh an die ganze menschliche Lebensordnung unter dem Willen der Götter gestanden zu haben, denn alles das, was dieser Lebensordnung entspricht, nennen sie ΰεμις, und &έμις ist zugleich der Name einer Göttin 1 . Im Rat der Götter ist sie Beisitzerin des Zeus (II. 20, 4), ihre Aufgabe ist es, die Versammlung der Männer, die Agora, das „Ding", einzusetzen und aufzulösen (Od. 2, 68). Sie ist die Göttin des auf der Agora gesprochenen Gewohnheitsrechtes. Der Gedanke, daß Zeus für das Recht auf Erden sorge und das Unrecht bestrafe, taucht schon bei Hesiod auf. Bei ihm wird Themis durch Zeus Mutter der Hören Eunomia, Dike und Eirene, „die über das Tun der Sterblichen wachen" 2 . Die einzelnen Gesetzesordnungen betrachten die Griechen wohl als das Werk menschlicher Gesetzgeber, aber Herkommen und Sitte, die hinter ihnen stehen, vornehmlich die άγραφοι νόμοι, das ungeschriebene Gewohnheitsrecht, gelten ihnen als göttlichen Ursprungs. Ins Gerichtsverfahren selbst greifen die Priesterschaft und ein etwa durch sie vermittelter göttlicher Wille allerdings nicht ein 3 , und es 1 Vgl. Kurt Latte, Der Rechtsgedanke im archaischen Griechentum, Antike u. Abendland 2, 1946, S. 63-76, auch Y. Ehrenberg 49 f. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung will K. Beinhardt, Vermächtnis der Antike, 1960, S. 32, die Möglichkeit nicht ausschließen, daß auch Themis zur Gattung der „Personifikationen" gehöre. 2 K.Latte 8. 68, K.Reinhardt S. 28. ' K. Latte, Heiliges Recht, Untersuchungen zur Gesch. d. sakralen Rechtsformen in Griechenland, 1920, S. 47.

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gelten wohl auch Ächtung und Tötung von Verbrechern nicht als Sühnung gegenüber den Göttern4. Eine besondere Rolle beginnt dann allerdings in der nachhomerischen Zeit der delphische Apollonkult zu spielen : Apollon fordert die Reinigung dessen, der sich mit Menschenblut befleckt hat. Das hat seine Wirkung auf das Verhalten der Rechtsgemeinschaft zu Mord und Totschlag, aber eine eigentliche Rechtsvorstellung liegt der Forderung des Gottes nicht zugrunde, denn die Reinigungspflicht betrifft sowohl den berechtigten als auch den unberechtigten Totschlag. Den Römern ist die Idee der göttlichen Rechtsschöpfung fremd5. Doch scheint ihnen die göttliche Rechtsdeutung im Gottesurteil geläufig gewesen zu sein, denn der itw-Begriff bezeichnet ursprünglich eine Handlung als erlaubt, „weil die Befugnis zu ihr durch Eid mit göttlicher Hilfe als wahr erweislich oder erwiesen ist" 8 . Nach allen etymologischen Erklärungen bezeugt ius in irgendeiner Weise den Zusammenhang von Recht und Religion : entweder hängt er mit aind. yoh „Heil" zusammen und weist auf die sakrale Reinheit, die man durch den Eid erlangt7, oder aber er geht von Heu-, iug- aus und bezeichnet die mit einem Seil gehegte und damit einem Gott geweihte Gerichtsstätte, dann das von dieser Gerichtsstätte ausgehende Recht8, oder er hängt - was freilich am wenigsten wahrscheinlich ist - mit Iovis zusammen und bestätigt damit die Tatsache, daß das iurare regelmäßig beim Jupiter geschah9. Auch außerhalb des Prozeßrechts deuten sich Zusammenhänge an, vor allem in der Sakration, d.h. in der Bestrafung schwerer Frevel, die weder vom Einzelnen noch vom Staate vorgenommen, sondern den Göttern überlassen wurde, indem sich die Gemeinde damit begnügte, den Fluch über den Täter auszusprechen10. Schließlich gibt sich in 1 H.Swoboda, Beiträge zur griech. Rechfcsgeschichte, I. Kritisches zur Ächtung, ZBQ- 26, Romanist. Abfc., 1905, S. 149-190, hier 187f. Vgl. auch K . Latte, Beiträge zum griech. Strafrecht, I I . Die Strafen, Hermes 66, 1931, S. 129-158. s R.Heinze, Vom Geist des Römertums, 3. Aufl. 1960, S. 84. β M. Käser, Das alfcrömische ius, 1949, S. 28. 305. Vgl. auch L.Deubner, Die Antike 2, 1926, S. 63. 7 Walde-Hofmann, W b . 1, 733. 8 Vgl. Jost Trier, G G A 203, 1941, S. 423 ff. 9 Käser 26 ff. 10 R . Heinze, Vom Geist des Römertums, S. 85. Welchen Gefahren die Wortdeutung gerade auf dem Gebiet von Recht und Religion ausgesetzt ist, zeigt vorzüglich Heinzes Aufsatz über „Supplicium" (Vom Geist des Römertums, 3. Aufl. I960, S. 28-42): lat. supplicium, bedeutet sowohl „ G e b e t " als

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den eigentümlich römischen Begriffen der pietas und der fides, mit denen die Verpflichtungen gegenüber der Familie und den Mitbürgern bezeichnet werden und die zugleich religiöse Tugenden sind, die menschliche Ordnung als göttliche Ordnung kund 11 . Wie steht es bei den Germanen ? Die Forschung hat sich - vor allem durch Karl v. Amiras Einsatz - darauf geeinigt, daß der Gedanke einer göttlichen Herkunft des Rechts den Germanen fremd ist und daß auch von einer „spezifisch priesterlichen Überlieferung des altgermanischen Rechts" keine Rede sein kann 12 . Trotzdem gilt der Zusammenhang von Recht und Religion als so eng, daß Amira den Satz prägte, der noch in der Auflage von 1960 zu lesen ist: „Recht ist geradezu angewandte Religion" 13 . Und der Sprachhistoriker Weisweiler stellt dazu fest: „Charakteristisch für die adt. Rechtssprache ist der enge Zusammenhang mit der Sprache der Religion." 14 Jan de Yries will sogar die germanische Kultsprache erschließen mit Hilfe der „Rechtssprache, deren sakrale Wurzel ja nicht bestritten wird" 16 . Inwieweit gilt dieser Satz auch für das Altnordische ? *

Wenn davon die Rede ist, daß Rechtsausübimg und Kultbrauch im engsten Zusammenhang standen, pflegt man zuerst auf das westauch „Todesstrafe", u n d m a n zog daraus u . a . den naheliegenden Schluß, die Hinrichtung sei ein Opfer gewesen oder doch ein Versuch, die Götter zu versöhnen. Heinze zeigt aber, daß das supplicium ursprünglich das Erflehen der Gnade bedeutet, im juristischen Bereich also die Abwendung der Todesstrafe bezweckt habe, d a n n die Bedeutung „Zwangsbuße" angenommen und sich schließlich über „ S t r a f e " zu „Todesstrafe" entwickelt h a t , während sich im religiösen Bereich ganz unabhängig von dieser Entwicklung auf natürliche Weise die Bedeutung „ G e b e t " ergab, da es sich hier ja tun die Gnade der Götter handelte. 11 Heinze, S. 86. 12 Amira-Eckhardt I, 5. H a n s Fehr, Dt. Rechtsgesch., 1948, S. 10, meint allerdings, der altgerm. Urteilsspruch sei „durch den Gerichtsgott . . . inspiriert". Mit bloßer Berufung auf Fehr stellt K . F . Freudenthal, Arnulf.-Karoling. Rechtswörter, 1949, S. 96, die Hypothese a u f : „ D a das Gerichtswesen der ältesten Zeit sakraler N a t u r war, nehme ich an, daß *döma- ursprünglich etwa ,die Bestimmung, Anordnung der Gottheit, der heiligen Gesetze (Gebräuche)' bedeutet h a t . " ls Amira-Eckhardt I, 215. R . v . Kienle, Germ. Gemeinschaftsformen, 1939, S. V. 319. Wenig brauchbar H.Schreuer, Altgerm. Sakralrecht I, ZRG 34, 1913, S. 313-404. 14 J.Weisweiler, in: Maurer-Stroh, Dt. Wortgesch. I, 2. Aufl., S. 71. 16 J . de Vries, i n : Zur germ.-dt. Heldensage, D a r m s t a d t 1961, S. 404.

105 8 von See, Rechtswortschatz

germ. Wort éwa¡eo¡o¡(w)¡é zu verweisen, das - soweit überliefert sowohl „weltliches Gesetz, Rechtsordnung" als auch „göttliches Gesetz, Religion" bedeutet, ferner auf zwei Komposita, die mit diesem Wort gebildet sind: ahd. euuart, ags. ceweweard, das den Priester bezeichnet, und ahd. as. eosago, afries. asega, das den Richter und Rechtsprecher bezeichnet. Man hält den doppelten Gebrauch von ëwa im rechtlichen und religiösen Sinne für altgermanisch. Weisweiler meint, die Entwicklung zu „Religion" sei durch das Christentum „bestenfalls nur gefördert" worden16. H.Wesche führt Weisweilers These konsequent weiter, indem er ewa als einen ursprünglich ganz und gar einheitlichen Begriffskomplex ansieht : Recht und Religion sind ursprünglich eins, „es gibt nur ein gesetz, einen cult" 17 . Auch euuart „Priester" und eosago „Richter", die beide als gemeinwestgerm. Wörter gelten, sind nach Wesches Ansicht von e i n e r Grundbedeutung ausgegangen und haben sich erst im Laufe der Zeit zu „Priester" einerseits und „Jurist" anderseits spezialisiert18. Die Bemerkungen des Tacitus (Germ. c. 7. 11) bestätigen diesen Befund freilich nur halbwegs, denn der taciteische sacerdos eröffnet mit seinem Schweigegebot zwar die Dingversammlung und ist insofern Hüter des Dingfriedens, aber er ist weder Gesetzessprecher noch Richter und seine Strafgewalt bezieht sich - wenn man Tacitus hier überhaupt vertrauen darf - nur auf Delikte, die sich gegen den Heeres- und Dingfrieden richten19. Dieser sacerdos ist also kaum ein vollwertiger Vorläufer des ewartjesago. Die Rechtsauffassung, die sich in der Entwicklung des ewa- und ewart/esago-Begññs kundtut, ist wohl keine gemeingermanische, sondern nur eine spezifisch westgerm. Erscheinung. Für diese Annahme spricht die Tatsache, daß das Wort ewa (mit allen Ableitungen und Zusammensetzungen) im Anord. überhaupt fehlt. Das könnte Zufall sein, wenn nicht schon Weisweiler, Streitberg-Festschr., S. 430. 432. " H.Wesche, P B B 61, 1937, 8. 13. 20. 18 H.Wesche, S. 14. V g l . dazu übrigens auch die Bemerkungen von Erik Booth, Altgerman. Wortstudien, Halle 1926, S. 54ff., über das W o r t got. witô//ahd. wizzôd, das — nach Rooths Annahme — in den großen Bedeutungsbereich „(kultische) Speise, Opfermahl, rituelle Observanz, Recht, Gesetz" gehört. " Die Aufzählung der Strafarten in c. 7 stammt aus römischen Verhältnissen (vgl. Cicero, Verr. 5, 170). Das velut deo imperante stimmt mit unseren allgemeinen Kenntnissen der germ. Götterauffassung nicht mehr überein. Schließlich widerspricht die ganze Aussage einer A n g a b e über die Befehlsgewalt der Heerführer bei Caesar, Bell. Gall. 6, 23. 1β

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die vorhergehenden Abschnitte gezeigt hätten, daß die westgerm. Rechtsauffassung sich von der anord. unterscheidet : die Vorstellung vom altüberlieferten Gewohnheitsrecht, die ja mit dem ewa-Begriff und natürlicherweise auch mit der Vorstellung vom priesterlich verwalteten Recht eng verbunden ist, scheint im Westgerm, überhaupt früher und breiter belegt zu sein als im Norden. Hinzu kommt, daß das Wort ewart „Priester", das ja am eindeutigsten die religi o-Bedeutung bezeugt, außerhalb des Ahd. nur noch ein einziges Mal im Aengl. vorkommt 20 . Die Ausweitung des ewa-Begriffs auf den religiösen Brauch hat sich also vielleicht erst in spätheidnischer Zeit und auf beschränktem, vornehmlich deutschem Raum durchgesetzt, und erst das Christentum hat dann diese Ansätze benutzt, um ewa in der religiösen Terminologie heimisch zu machen. Gerade im Norden ist nun aber ein Wort gut bezeugt, das die religiös-rechtliche Doppelstellung des ewart eindrucksvoll zu bestätigen scheint: aisl. godi. Die isländischen Goden sind in der „freistaatlichen" Verfassung der Insel neben dem gewählten Gesetzessprecher, dem logsogumadr, die einzigen Träger einer öffentlichen Gewalt. Man vergleicht ihre Stellung gewöhnlich mit der der Bezirkshäuptlinge (hersar) im norwegischen Mutterland. Sie hatten Einfluß auf die Gesetzgebung am Allding, leiteten die Dingversammlungen, sprachen zwar nicht selbst Recht, ernannten aber die Richterkollegien und übten in ihrem Bezirk eine Art Polizeigewalt. Von priesterlichen Funktionen ist in den christlichen Jahrhunderten natürlich keine Rede mehr, aber der Name selbst „weist auf den priesterlichen Kern des Amtes" 21. Der godi ist „der zum Gott gehörende, der mit Gott zu tun hat". Nah verwandt ist die Bildung got. gudja „Priester", die auch im Norden die ältere Form zu sein scheint, jedenfalls in einer norwegischen Runeninschrift als gudija belegt ist (Stein von Nordhuglen, ca. 400) 22 , ferner die Bildung ahd. gotinc. Während got. gudja mit allen verwandten Bildungen (gudjinon, gvdjinassus, ufargudja) ausschließlich den Priester und die priesterliche Tätigkeit bezeichnet, bezeugt ahd. gotinc abermals die juristisch-religiöse Doppelstellung des Priesters, auf die schon das ahd. Wort èwart hinwies : gotinc ist eine Glosse für tribunus, das an anderer 20

H.Wesche, S. 8. Heusler, Strafrecht 23. Am ausführlichsten K. Maurer, Island, S. 187 bis 211. 22 W.Krause, Runeninschriften im älteren Futhark, S. 497f. (Nr. 45). 81

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Stelle wohl zutreffender mit ambahtman übersetzt wird. Der Beleg ist aber nicht einfach als Mißverständnis beiseitezuschieben, denn das von *goto ( = gotinc) abgeleitete Verb gotten ist außerdem als justificare glossiert. Was der gotinc genau ist, wissen wir nicht : Müllenhoff hält ihn für einen „Dorfschulzen", R.Schröder sieht in ihm einen Hilfsgeistlichen, der dem Gaufürsten zur Seite gestanden habe23. Auf jeden Fall läßt sichWesches Feststellung nicht leugnen: „Im ahd. beziehen sich alle drei belege nicht mehr auf den priester, sondern sind von ihm auf eine von seinen tätigkeiten, auf das richteramt übertragen."24Will man aber den Zusammenhang von Rècht und Religion beweisen, beruft man sich mit Vorliebe nicht auf den ahd. gotinc, sondern auf den aisl. godi. Hier scheint der Zusammenhang breiter und sicherer belegt. Aber es erheben sich gegen die Annahme einige Bedenken : 1. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß irgendwo sonst im Norden das Wort godi zur Bezeichnung weltlich-politischer Machtträger gedient habe. Keine der vielen (juristischen oder dichterischen) Häuptlings- und Fürstenbezeichnungen des Nordens - konungr, jarl, fylkir, hersir, pjódmann, visi - weist auf ein priesterliches Element. Anderseits lassen die spärlichen Runenbelege und das Verschwinden des Wortes godi/gudja in den anderen nordischen Ländern darauf schließen, daß das Wort keine herrschaftlichen, sondern ausschließlich heidnisch-priesterliehe Elemente enthielt. Selbst in den Worten des Steins von Glavendrup (Fünen) feupa uia „Godeder Heiligtümer" zeigt der Zusatz uia, daß leupi (gobi) hier nicht als allgemein politischer Titel gilt, und ähnlich wird der gudija auf dem norwegischen Nordhuglen-Stein durch den Zusatz ungandiR „gegen Zauber gefeit" eindeutig als Priester charakterisiert. Diese spärlichen Belege außerhalb Islands stehen in keinem Verhältnis zu der Häufigkeit, mit der das Wort im Isländischen erscheint, und das hängt offenbar eben damit zusammen, daß godi allein auf Island zur Bezeichnung weltlicher Häuptlinge geworden ist und dadurch auch die Christianisierung überdauert hat. Überhaupt nur auf Island ist das Wort godord überliefert, das den Inhalt der Godenwürde bezeichnet. Man darf also vermuten, daß die Rolle des isländischen Goden auf einem " Müllenhoff, Dt. Altertumskunde IY, 238 (so auch R.Much, Die Germania des Tacitus, 2. Aufl., S. 145), B.Schröder, Dt. Rechtsgesch. I, β.Aufl., S. 35. 24 H.Wesche, S. 7.

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äußeren Ereignis gerade der isländischen Rechts- und Verfassungsgeschichte beruht: „die ruhige Weiterentwicklung gegebener Verhältnisse bietet keine genügende Erklärung dieser Erscheinung" 25 . 2. Auffallend ist es, wie selten die Sagas einen engeren Zusammenhang zwischen dem Besitz eines Tempels und dem Besitz der politischen Macht andeuten. Die Sagas setzen vielmehr voraus - und in dieser Hinsicht wird man ihnen vertrauen dürfen - , daß es viele Tempelbesitzer gab, die keine godordliche Gewalt besaßen, und viele Goden, die ohne Tempel waren 26 . Bei näherem Zusehen zeigt sich sogar, daß Tempelbesitzer und weltlicher politischer Häuptling terminologisch ziemlich streng geschieden werden : um den Tempelbesitzer zu bezeichnen, bedient man sich regelmäßig des Kompositums hofgodi. Dagegen wird der politische Häuptling im technischjuristischen Sprachgebrauch der Grágás einfach godi genannt, in den Sagas godordmadr oder noch häufiger - freilich weniger präzis hofdingi („Häuptling"). Besonders wichtig ist, daß das Wort godord ausschließlich zur Bezeichnung der politischen Godenwürde, niemals zur Bezeichnung der Stellung des Tempelbesitzers dient 27 . 3. Nicht gerade auffallend, aber doch immerhin bemerkenswert ist es, daß die Ausdrücke pingmadr und pripjungsmadr, die den „Anhänger", modern ausgedrückt: den „Untertanen" des Goden bezeichnen, dem politisch-juristischen und nicht dem religiösen Bereich entnommen sind, denn beide Ausdrücke beziehen sich auf das Bezirksding, das jeweils von drei Goden gemeinsam verwaltet wird28. Man hätte ja immerhin so etwas wie *hofmadr („Tempelmann") oder *blótmadr („Opfermann") erwarten können, wenn die Godenwürde tatsächlich aus der Herrschaft über einen Tempelbereich hervorgegangen wäre. Überhaupt ist nicht das Godentum die feste Verwaltungs- und Gerichtseinheit, sondern das Bezirksding, und die Dinggenossen sind nicht je einem der drei Goden fest verbunden, sondern sie können sich demjenigen Goden anschließen, den sie sich wünschen. Konrad Maurer u.a. wollen diesen Mangel an territorialer Geschlossenheit und die freie Anschlußfähigkeit aus der alten Tem25 Fr. Boden, Die isländische Regierangsgewalt (Gierkes Untersuchungen 78), Breslau 1905, S. 14. 24 Fr. Boden, Die isländischen Häuptlinge, ZRG 24, 1903, S. 148-210, bes. 156. 163. 27 Fr. Boden, ZRG 24, 167f., 209. 28 Zum pingmadr vgl. Fr. Boden, Regierungsgewalt 27, Anm. 1.

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pelverfassung erklären29. Sie setzen dabei wohl den modernen Standpunkt voraus, die „Konfession" sei die persönliche Angelegenheit des Einzelnen. Das würde für alte Kult-(Tempel-)verbände, wenn es solche in Island gegeben hätte, natürlich nicht gelten. Es scheint mir daher, man müsse aus dem Mangel an territorialer Geschlossenheit der Godenherrschaft und aus der freien Anschlußfähigkeit der pingmenn gerade schließen, daß das politische Godentum von vornherein nicht im Tempel seinen Schwerpunkt hatte, sondern in der Funktion auf dem Bezirksding. 4. Ein tinmittelbarer Zusammenhang zwischen dem alten Tempelpriestertum und dem späteren Godentum wird eigentlich nur von einer einzigen Saga ausdrücklich betont, der Eyrbyggja saga (vgl. K. 4, 9 und 12, 7), und gerade diese Saga, die freilich noch immer als eine der zuverlässigsten gilt 30 , ist sehr unzuverlässig, weil der Verfasser - in dem Bemühen, ein Bild der heidnischen Vergangenheit zu zeichnen - bewußt altertümelt. Gern vergleicht er mit Hilfe von Analogien aus seiner Gegenwart das Einst mit dem Jetzt. 5. Einen wichtigen Einwand gegen die enge Verbindung von Godentum und Tempelpriestertum bietet schließlich die Tatsache, daß die Einführung des Christentums i. J . 1000 an der Institution spurlos vorübergegangen zu sein scheint. Die Stellung des Goden scheint damals bereits vorwiegend durch seine juristisch-politischen Funktionen charakterisiert gewesen zu sein31. Die herrschende Ansicht ist wohl noch heute, daß sich die politische Godenwürde allmählich aus den gleicherweise religiösen, richterlichen und allgemeinherrschaftlichen Ursprüngen des Tempelpriestertums entwickelt habe und daß dann nach Beseitigung des Heidentums der weltliche Inhalt samt dem Titel allein übriggeblieben sei. Die aufgezählten Bedenken sprechen aber eher dafür, daß die isl. Godenverfassung nicht aus einer Tempelpriesterverfassung hervorgegangen ist, sondern nur lose und äußerlich mit dem alten Tempelpriestertum verknüpft ist. Man wird sie aus den besonderen Bedingungen erklären müssen, die in einem neu kolonisierten Land herrschen. Den Isländern ist es gelungen, die politischen Verhältnisse 2»

K.Maurer, ZfdPh. 4, 1873, 126. H. Gering, Alto. Saga-Bibl. Heft 6, S. X I ; Heusler, Strafrecht 12, danach auch Wallén, Die Klage gegen den Toten 145, ferner E.Ó.Sveinsson, Dating the Icelandic Sagas, London 1958, S. 66. " Vgl. Fr. Boden, ZRG 24, 153 ff. 30

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ihrer Insel ohne die einseitige Initiative eines herrschaftlichen Elements zu ordnen. Die Organisation der zunächst wohl diffusen Rechtsverhältnisse, vor allem die Einsetzung des Alldings, des gemeinschaftlichen Gerichts für die ganze Insel wird irgendwann im Jahrhundert nach der Landnahme erfolgt sein (Ùlfljôtslçg 930 oder 965 ?). Man benötigte hierzu Funktionäre, in deren Händen die Leitung des Alldings und der Bezirksdinge und die Richterernennung liegen konnte. In der buntscheckigen aristokratischen Gesellschaft, in der es keine festen Herrschaftsformen und erst recht kein Beamtenwesen gab, bot sich für diese Ämter wohl nur die Tempelpriesterwürde an, da sie eine gewisse Verbreitung und Stabilität verbürgte. Mit einem Schlage wurde damit die Godenwürde in den politisch-juristischen Bereich hineingestellt - genauer gesagt : nicht eigentlich die Godenwürde selbst, sondern deren jeweilige Inhaber. Aber der Titel der ersten Inhaber blieb an dem Amt haften ; es entstand ein neuer Typ von godar, von dem man die älteren Goden schied, indem man sie hofgodar („Tempelgoden") nannte. Die Dingleitung und das Recht der Richterernennung sind die Wurzeln der politischen Stellung der godar. Daher gab es denn bald auch godar, die über gar keinen Tempel verfügten. Daß die Tempelpriester schon vor dieser Rechtsreform in ihrem Tempelbereich irgendwelche Polizei- und Richterfunktionen ausgeübt hätten, wie A.Heusler und andere vermuten, halte ich für unwahrscheinlich. Denn wäre dies wirklich der Fall, dann wäre wohl der Tempelbezirk des Goden zum Dingbezirk geworden. Auch die mangelnde territoriale Geschlossenheit des Godenbereichs weist - wie schon gesagt - auf das Bezirksding als die grundlegende politische Einheit hin 32 . Die isländische Rechtsgeschichte ist bekannt für eine sehr fruchtbare Gesetzgebungsarbeit, die sich im praktischen Leben dann nur sehr mühsam und gelegentlich wohl auch gar nicht durchsetzte. Daß auch der politische „Goden"-Titel aus einem etwas abrupten, gewaltsamen Gesetzgebungsakt hervorgegangen ist, erkennt man daran, daß er gar nicht recht populär wurde: die Sagas bevorzugen die einfache Bezeichnung hofdingi („Häuptling"). Auch die genau festgelegte Zahl von 39 Goden bestand wohl nur auf dem Pergament. Aus e i g e n e r Wurzel hat das isländische Godentum keine politisch-juristische Herrschaftsform entwickelt. An dieser Tatsache scheitert der Versuch, « Daß das Bezirksding (várping und leid) eine weit geringere Bolle als das Allding spielt (vgl. Fr. Boden, Regierungsgewalt 46f.), spricht nicht dagegen.

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den Goden als Beispiel für sakrale Herrschaftsformen heranzuziehen oder die Goden zu Hütern eines sakralen Strafrechts zu machen. Nur nebenbei sei schließlich noch bemerkt, daß der pulr (*puliz, aengl. pyle), den W.H.Vogt als „frühgermanischen Kultredner" interpretiert und der im Altenglischen als Ratgeber des Fürsten erscheint, keinerlei nachweisbare Beziehungen zum Rechtswesen hat, obwohl W.H.Vogt solche Beziehungen als selbstverständlich voraussetzt 33 . *

Die Frage, ob es denn bei den Germanen überhaupt ein sakrales Strafrecht gegeben habe, wurde lange Zeit unbestritten bejaht. Die Worte K. Müllenhoffs : „wer altes recht verbrochen hatte, fiel den göttern zur sühne" 34 , zeigen, wie leicht sich die Vorstellung vom Sakralrecht mit der Vorstellung vom „alten Recht" verbindet. Eugen Mogks Theorie, die in den Quellenzeugnissen nur Menschenopfer kultischen, nicht juristischen Charakters findet, galt als Widerspruch eines Außenseiters 35 . Ihren geradezu klassischen Ausdruck fand die Sakraltheorie noch 1922 in dem Werk Karl von Amiras, „Die germanischen Todesstrafen", und abermals fünfzehn Jahre später konnte der Amira-Schüler C. von Schwerin schreiben, daß „in der Annahme des sakralen Charakters der Todesstrafe heute Philologen, Juristen und Volkskundler einig sind" 36 . Nach Amiras Ansicht kannte das altgermanische Recht zwei scharf voneinander abgegrenzte Strafsysteme: ein sakrales Strafsystem mit der Todesstrafe und ein profanes Strafsystem mit der Friedlosigkeitsstrafe. Die profane Strafe trat bei den normalen Friedensbrüchen ein, die sakrale Strafe bei den abartigen und verachtenswürdigen Verbre33 W.H.Vogt, Stilgesch. der eddischen Wissensdichtung I, Breslau 1927, besonders S. 135f., und ders., APhS 2, 1927/28, S. 250-263. 31 K.Müllenhoff, Dt. Altertumsk. IV, 215. 35 E.Mogk, Die Menschenopfer bei den Germanen, Abh. der kgl. sächs. Ges. d.Wiss. Phil.-hist. Kl. 27, Leipzig 1909, S. 603-643. Dazu ablehnend W.Ranisch, DLZ 1911, Sp. 596f., und Fr. Kauffinann, ARW 15, 1912, 8. 614. Dann nochmals E.Mogk, „Ein Nachwort zu den Menschenopfern bei den Germanen", A R W 15, 1912, 8. 422-434. In diesem Zusammenhang soll hier nur auf einige Odinsnamen hingewiesen werden, die eine Beziehung zu Ge-

hängten verraten: Hangatyr „Gott der Gehängten", Hangagud, hanga dróttinn u. a. Sie erklären sich aus dem in den Hávamál 138 ff. erzählten Mythos. 38 ZRG 57, 1937, 8. 500, nach G. Neckeis Worten in Kultur der alten Germanen, S. 50. Ähnlich K.A.Eckhardt, ZRG 60, 1940, S. 252,W.Baetke, P B B 66, 1942, S. 41 f., O.Höfler, Festschr. Felix Genzmer, 1952, S. 2.

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chen. Durch die Hinrichtung wurde der Delinquent den Göttern geopfert, damit die Gemeinschaft sich von der Entartung reinige und dadurch den Zorn der Götter von sich abwende37. „Mit Vergeltung" hat also die Todesstrafe „nichts zu schaffen, nichts auch mit Abschreckung, überhaupt nichts mit irgend einem der Zwecke, die moderne Philosopheme der öffentlichen Strafe unterlegen"38. Die Todesstrafe war ein Kultakt : Die Gehenkten gehörten dem Wetterund Sturmgott, die Ertränkten den Wassergottheiten, die Geräderten dem Sonnengott usw. Amira glaubt diese kultzeremonielle Differenzierung bestätigt zu finden in den Worten des Tacitus, Germ. c. 12: Distinctio poenarum ex delicto, die er in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Strafsystem des 13. Jhs. setzt. Den Zwischenraum überbrückt Amira mit dem Argument, daß die sakralen Todesstrafen zunächst von der Kirche bekämpft und daher aus den älteren der uns überlieferten Gesetze ausgeschieden worden seien, während der ganzen Zeit aber in der volkstümlichen Anschauung als „Vulgärrecht" weitergelebt hätten, bis sie schließlich wieder ins offizielle Recht aufgenommen worden seien39. Nach Tacitus, Germ. c. 12, ist allein noch der vielbemühte Tit. XI der Additio legis Frisionum der locus classicus der Amiraschen Theorie: ein Tempelschänder wird verstümmelt und den Göttern geopfert, deren Heiligtum er geplündert hat. Die Sakraltheorie erfreute sich einer so allgemeinen Anerkennung, daß Walter Baetke 1942 kein Bedenken haben konnte, sie auch noch auf die Friedlosigkeit auszudehnen. Er verweist auf H. Brunner, der annimmt, daß die Todesstrafe - wie alle anderen Strafen - aus der Friedlosigkeit hervorgegangen sei40, und er schließt daraus, daß auch die Friedlosigkeit ursprünglich sakralen Charakter gehabt habe : der Verbrecher mußte ausgestoßen werden, „wenn nicht der durch die Missetat erregte Zorn der Götter sich gegen das Gemeinwesen kehren sollte"41. Hans Planitz spricht sogar von einer „religiösen Pflicht aller Volksgenossen", den Friedlosen zu verfolgen und zu vernichten 42 . So etwas sollte man in der Tat erwarten, wenn die Ächtung sakralen Charakter getragen hätte. Aber wir wissen nichts von einer 37 88 88 40 41 12

Amira, Todesstrafen 233; ders., Grundriß, 3. Aufl., S. 240f. Amira, Todesstrafen. 67. Amira, Todesstrafen 234. H.Brunner, Dt. Rechtsgesch. I, 2. Aufl., 8. 244f. P B B 66, 1942, S. 41 f. H.Planitz, Dt. Rechtsgesch., Graz 1950, S. 27. 113

solchen „religiösen Pflicht", nicht einmal von einer gewöhnlichen Verfolgungspflicht aller Volksgenossen43. Baetke stützt seine Sakraltheorie auf die anord. Begriffe der „Friedheiligkeit", „Mannheiligkeit", „Unheiligkeit", die auf den folgenden Seiten noch zu verhandeln sind. Auch schon Amira hatte seine Theorie zum nicht geringen Teil auf der anord. Rechtsterminologie aufgebaut: Der Bereich der Verbrechen, die „Ausfluß einer schändlichen Gesinnung" waren und daher mit der sakralen Todesstrafe geahndet wurden, war nach seiner Ansicht mit dem Wort „Neidingswerk", anord. niöingsverk, begrifflich umrissen („Diese Klasse der Neidingswerke ist urgermanisch")44, und die germanische Auffassung von der verbrecherischen Entartung glaubte er in den anord. Ausdrücken pjófsaugu, pjófsnef, pjófstennr wiederzufinden („Kurz, man glaubte allenthalben an das ,Galgengesicht'")45. Außerdem gehörten die aisl. Sagas zu den wenigen Zeugnissen germanischer Sprache, die verschiedene Todesstrafarten wie Steinigen, Hängen, Felssturz, Vermoorung für die heidnische Zeit ausdrücklich bezeugten. Eben deshalb ist es bedeutsam, daß die ersten Angriffe gegen die Amirasche Sakraltheorie gerade von skandinavischen Rechtshistorikern ausgingen: Poul Gaedeken, Torsten Wennström, Ragnar Hemmer, Poul Johs. J0rgensen, Folke Ström. Gaedeken meint, die Todesstrafe habe nur gelegentlich bei Verbrechen gegen die Volksgemeinde gegolten und sei nie als Opfer aufgefaßt worden4®. Jorgensen weist darauf hin, daß die Todesstrafe bei Vergewaltigung in einigen dänischen Rechten des 13. Jhs. nicht etwa der Nachklang einer alten sakralen Strafordnung ist, wie Amira behauptet, sondern der strafverschärfenden Tendenz der hochmittelalterlichen Gesetzgebung zugeschrieben werden muß47. Folke Ström schließlich meint, daß die Ausdrücke nídingr, nidingsverk u.ä. von Haus aus keine juristischen, sondern moralische Begriffe waren und auch dort, " H. Siuts, Bann und Acht und ihre Grundlagen im Totenglauben, Berlin 1959, S. 48. R. Hemmer, Studier rörande straffutmätningen i medeltida svensk rätt, 1928, S. 85. 44 Amira, Todesstrafen 57 if. 46 Amira, Todesstrafen 65 ff. " Von einem wirklich vollzogenen Menschenopfer wissen übrigens auch die isländischen Sagas nichts, vgl. dazu L.Wolif, AfdA. 58, 1939, S. 107. 47 P. J. Jargensen, Haervserkaforbrydelsen, Festskr. Kr. Erslev, 1927, S.40, Anm. 48, gegen Amira, Todesstrafen 61 ff.

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wo sie in Gesetzestexten verwendet wurden, einen Teil ihrer moralischen Bedeutung behielten und sich niemals auf einen bestimmten Bereich schwerer Verbrechen beschränkten48. Schon dreißig Jahre früher hatte Andreas Heusler darauf hingewiesen, daß den Isländersagas die Voraussetzung für sakrale Strafe fehlt, nämlich die Unterscheidung besonderer unsühnbarer Schandtaten, die nach dem Eingreifen des staatlichen Priesters verlangen49. In Deutschland gab Bernhard Rehfeldts Schrift über „Todesstrafen und Bekehrungsgeschichte" (1942) den entscheidenden Anstoß zu einer Revision der Ansichten. Rehfeldt bleibt dabei, daß schon das altgermanische Recht die Todesstrafe für Kriegsverrat, Zauberei, Diebstahl und gewisse Sexualverbrechen gekannt habe, aber er zieht sie aus dem Bereich der Religion in den Bereich der Magie : Aus den Strafgebräuchen schließt er, daß dem Verbrechen Zauberwirkungen zugeschrieben wurden, die einen Gegenzauber durch die Art der Hinrichtung erforderten. Der „Götterzorn" bleibt also aus dem Spiel, aber insofern steht Rehfeldt dem Amiraschen Standpunkt immer noch sehr nahe, als er meint, das Verbrechen sei als böse Entartimg, als Befleckung angesehen worden und als solche einer öffentlichen Strafe unterworfen gewesen. Erheblich weiter entfernen sich Folke Ström und Franz Beyerle vom Amiraschen Standpunkt60. Beide bezweifeln - ebenso wie Gsedeken - die Echtheit des berühmten Tit. XI der Additio legis Frisionum51, der selbst dann wenig besagen würde, wenn er zum alten Text gehörte, da er von einem Verbrechen handelt, das sich gegen die Götter selbst richtete und dessen Bestrafung daher auch die Götter selbst fordern konnten62. Ström und Beyerle zweifeln überhaupt daran, daß es die Hinrichtung in Form eines öffentlichen Strafvollzugs im altgermanischen Recht gegeben habe. Ström verweist darauf, daß Sexualverbrechen und Zauberei erst durch das Christentum zu gesetzlich strafbaren Taten wurden63. Die Tötungen von Verbrechern in älterer Zeit scheinen eine Art von Privatstrafakt gewesen zu sein, und die Hinrichtungsarten erklären sich - wie Beyerle wohl zu Recht vermutet - teilweise aus den Um" Folke Ström, On the Sacral Origin of the Germanic Death Penalties, Stockholm 1942, S. 58 if. 66. " Heusler, Strafrecht 30 ff. 40 Franz Beyerle in der Besprechung der Rehfeldtschen Arbeit, ZRG 69, 1952, S. 426-438. " Ström 80 if. Vgl. demgegenüber Cl. von Schwerin, ZRG 57, 1937, S. 501. " Ström 84ff. 90. " Ström 54f. 115

ständen und dem Zweck dieses Aktes : Vermooren spricht f ü r heimliche B e s e i t i g u n g , wie sie im „Sippeninteresse" lag, Henken dagegen folgt dem Ergreifen auf frischer Tat und schließt die Verk l a r u n g ein. Die Ausbildung der verschiedenen Hinrichtungsriten im Strafrecht des Mittelalters erklären Ström und Beyerle plausibler als Rehfeldt und ähnlich wie schon Ernst Mayer 1924 in einem wenig beachteten Aufsatz 6 4 : Nicht ein im Verbrechen liegender Zauber hat die Riten hervorgerufen, sondern das Erlebnis der öffentlichen affektlosen Hinrichtung, ,,a superstitious fear of supernatural dangers associated with the critical act of killing" 85 . Auch die Strafterminologie gibt keine Andeutung von einer Sakralstrafe. Nur die Herrschaft der Sakraltheorie scheint Gustav Roethe und Heinrich Brunner dazu verführt zu haben, in wîze (as. wîzi, ags. wîte, anord. viti) „die germanische Bezeichnung der peinlichen Strafe, ursprünglich wol sacralen Ursprungs" zu sehen 66 . Ausgangspunkt der Vermutung ist bezeichnenderweise der christliche Ausdruck hellawizi (hellewitilhellewite/helviti) „göttliche Strafe, besonders Höllenstrafe, Hölle", der in der Kirchensprache schnelle Verbreitung fand, während witejviti ursprünglich gar nicht die peinliche, wohl aber die öffentliche (obrigkeitliche oder genossenschaftliche) Strafe - und zwar gewöhnlich die Geldstrafe - bezeichnet zu haben scheint 67 . Überhaupt fehlt (was freilich wenig besagen will) im Germanischen eine allgemeine Bezeichnung der Todesstrafe. Z. B. verwendet man im Anord. gelegentlich den gar nicht recht passenden Ausdruck dráp („Totschlag") selbst dort, wo man die Strafe des Erhängens meint (Sturi, s. I, 91). Schließlich sei noch erwähnt, daß die Rache nicht als sakrale Pflicht galt 68 . * 64

Ernst Mayer, Die Entstehung der germanischen Todesstrafe, Der Gerichtssaal 89, 1924, S. 353-396. « Ström 277. 58 G. Roethe, SB der Preuß. Akad. 1906, S. 122; H. Brunner, Dt. Rechtsgesch. I, 220 ff. 57 Vgl. aber auch G. de Smet, P B B 75, 1953, S. 278ff., der aus der Tatsache, daß vAzsi in der Kirchensprache zur Bezeichnung der passio Christi verwendet wird, den Schluß zieht, das Wort sei eine alte Bezeichnung des Galgentodes. 68 Vgl. G. F. Jones, Was Germanie Blutrache a Sacred Duty ? Studia Neophilologica 32, 1960, S. 218-227. Er wirft mehreren, vor allem deutschen Forschern (Hans Kuhn u.a.) vor, sie hätten die Blutrache als „heilige" oder „heiligste Pflicht" der Germanen bezeichnet, merkt dann aber auf S. 221,

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Eigentlich entscheidend für den Bestand der Sakraltheorie ist die Frage, ob denn die Germanen überhaupt Rechtsgötter, „rechtswesenhafte" Götter gekannt haben. In der früheren Forschung hat man sich die Beantwortung der Frage ziemlich leicht gemacht. Spätestens seit Vogts, Rehfeldts und Stroms Arbeiten überwiegt aber wohl doch die Meinung, daß der Göttermythos der Germanen keine Beziehung zur Rechtssetzung und Rechtspflege kenne. Die Frage ist freilich noch keineswegs entschieden. Der nordische Beitrag hierzu ist gering. Das wichtigste und noch immer umkämpfte Zeugnis stammt von der britischen Insel : die Inschrift Deo Marti Thingso et duabus Alaesiagis Bede et Fimmilene, die etwa 150 n.Chr. von friesischen Söldnern im römischen Heer auf einen Weihestein am Hadrianswall gesetzt wurde59-. Es ist wahrscheinlich, daß sich hinter dem römischen „Mars" der germanische Gott *Tiwaz > Tiu, ein alter Himmelsgott, verbirgt. „Thingsus" ist offenbar ein Beiname des Gottes. Man vermutet dahinter ein germ. *¡bingsaz mit der Bedeutimg „einer, der mit der Dingversammlung zu tun hat" (zur Bildung ist langobard. thinx zu vergleichen). Also wird der Himmelsgott hier in der Rolle eines Ding-Gottes gesehen. Aber was heißt „Ding-Gott" ? Am weitesten spannen sich Otto Höflers Schlußfolgerungen: Aus der Identität des Dinggottes mit dem Gott der geheiligten Gesamtweltordnung ginge hervor, daß die Dingversammlung als Teil dieser Gesamtweltordnung gilt und daß damit auch die „überkommenen Normen und Gewohnheitsrechte nicht als menschliche Erfindung und Willkürsatzung gelten, sondern als ein Teil der Gesamtweltordnung"60. Dagegen betont W.H.Vogt, daß der Dinggott wohl der Hüter des Dingfriedens sei, daß ihm aber die eigentliche „Rechtswesenheit" fehle: „Was in dem geheiligten Rahmen geschieht, ist Sache der Menschen, das inhaltliche Recht." 61 Vogts daß die kritisierten Verfasser das Wort „heilig" „perhaps . . . in a purely secular sense" gebraucht hätten. Damit wird sein eigener Aufsatz eigentlich überflüssig. Immerhin kann es nichts schaden, wenn nochmals darauf hingewiesen wird, daß die Rache vorwiegend „a matter of social prestige" war. Vgl. schon W. Gehl, Ruhm und Ehre der Nordgermanen, 1937, S. 41 f. " Bin Jahr nach der Entdeckung der Inschriften - 1884 - schrieb darüber W.Scherer, Mars Thingsus, in: Kl. Schriften I, 1893, S. 532-542. Die letzte Zusammenfassung gab Siegfr. Gutenbrunner, Die germ. Götternamen der antiken Inschriften, 1936, S. 24-52. 60 O.Höfler, in: Das Königtum, Lindau und Konstanz 1956, S. 99, ders., AfdA 71, 1959, S. 120. 41 W.H.Vogt, ZRG 57, 1937, S. 51. Vgl. auch seine Besprechung von Gutenbrunner, Götternamen, in DLZ 1936, Sp. 2174ff.

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Vermutung hat den Vorzug, mit den anderen Andeutungen übereinzustimmen, die wir hier und da - vom taciteischen sacerdos bis zu den anord. vebönd - über Religion und Recht der Germanen besitzen: das Ding steht unter göttlichem Schutz, aber das Recht selbst ist Menschenwerk. Doch auch in der Vogtschen Deutung ist der Göttername *pingsaz ungewöhnlich und ohne Parallele. Man könnte ihn vielleicht aus den besonderen religiösen Verhältnissen in den römisch-germanischen Söldnerheeren erklären, aber es scheint, daß er auch sonst belegt ist und zwar in dem Wochentagsnamen nd. Dingsdag, hd. Dienstag, der ein Seitenstück zu ags tlwesdag, fries. tlsdei, alem. ziStig „Dienstag" sein könnte 62 . Der Wochentagsname bezeugt damit abermals die enge Beziehung von *Tiwaz und *pingsaz, zugleich aber auch die Existenz des selbständigen Namens *pingsaz. Als selbständiger Name ist *pingsaz in der Bedeutung „Dinggott" aber noch auffälliger denn als Beiname, und es scheint mir daher, daß man - ausgehend von der Identität des *pingsaz mit dem Himmelsgott *Tiwaz - eine andere Deutung des Namens bevorzugen sollte, auf deren Fährte sich bereits Theodor Siebs bewegte, die dann Rudolf Much vertrat und der auch Muchs Schüler Siegfried Gutenbrunner folgte, ohne aber die Konsequenzen daraus zu ziehen63. Es ist bekannt, daß die Bezeichnung ping „Dingversammlung" in einer ganz unmittelbaren Beziehung zum Bedeutungsbereich der Himmelserscheinungen steht : got. peihs ( < *pinh-) „Zeit", und (?) got. peihvo „Donner" 64 . Kann nicht auch der Gottesname *pingsaz unmittelbar in diesen Bedeutungsbereich 62 Vgl. Gutenbrunner, Götternamen 26 f. Die Ansicht ist allerdings stark bestritten, vgl. etwa E.H.Meyer, Germ. Myth. 220ff., J. de Vries, Altgerm. Religionsgesch. II, 8. 11. Über Dinslaken = locus Mortis vgl. zuletzt W.Kaspers, ZfdA 83, 1951, S. 87 f. 93 Th. Siebs, Things und die Alaisiagen, ZfdPh 24, 1892, S. 433-456, bes. 453ff., R.Much, Der germ. Himmelsgott, Halle 1898, S. 6f. - Gutenbrunner, Götternamen, stimmt S. 30 seinem Lehrer vorsichtig zu, obwohl er S. 26 - im Widerspruch hierzu — * ping saz als typische Rechtswortbildung ansieht. " V g l . Th. Siebs, ZfdPh 24, S. 454, Anm. 2, S. Gutenbrunner, Götternamen 28, Anm. 1. — J. de Vries, Altgerm. Religionsgesch. II, S. 12, bezeichnet die gotischen Wortformen als „gänzlich abweichend" von ping und deshalb die Erklärung des Thingsus von diesen Formen aus als „ziemlich abenteuerlich". Tatsächlich ist das Nebeneinander von *ßeng- und *ßenh- (> ¡ñh-, got. peih-) doch nichts weiter als eine gewöhnliche Erscheinung des grammatischen Wechsels mit der typisch gotischen Bevorzugung der harten Spirans. Der Hinweis de Vries', daß den got. Wörtern „in den südgerm. ( = westgerm.) Sprachen keine entsprechenden Wörter gegenüberstehen", ist in Wahrheit ja ein Argument nicht g e g e n , sondern f ü r die oben vertretene

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gehören, d.h. ohne den Umweg über ping „Dingversammlung" ? (Das zugrundeliegende pings- ist ebenso es/os-Stamm wie peihsl) Man gelangt dann zu einer ursprünglichen Bedeutung „Wettergott, Himmelsgott", und eben damit läßt sich die Identität mit dem Gott *Tiwaz aufs beste erklären, denn auch das Wort *Tlwaz ist mit Wörtern etymologisch verwandt, die „Tag, Himmel" oder „Himmelsgott" bedeuten: gr. όιοπετής „vom Himmel gefallen", ενδιος „mitten am Tag", lat. dies „Tag", lat. Jupiter, air. die, dia „Tag", dann auch ht. diëvas „Himmelsgott", finn, taivas „Himmel"®5. Gutenbrunner erkennt die etymologischen Beziehungen wohl an, will sie jedoch nur für die „Vorgeschichte" des Wortes gelten lassen und meint, der Gottesbegriff habe sich mit der Bedeutung des Appellativums gewandelt und in frühgeschichtlicher Zeit ergebe sich als „deutlicher faßbar und gesichert" die Bedeutung „Gott der Dingversammlung". Soll sich *pingsaz also allein durch denWortanklang an ping „Dingversammlung" vom Himmelsgott zum Rechtsgott gewandelt haben ? Beide Wörter konnten wohl selbständig nebeneinander bestehen. Gutenbrunners Vermutung scheint denn auch allein auf dem Umstand zu beruhen, daß die erwähnte Inschrift neben „Mars Thingsus" noch zwei (sonst imbekannte) weibliche Gottheiten nennt: „Bede" und „Fimmilene". Ihre Namen haben eine auffallende Ähnlichkeit mit den Namen zweier friesischer Rechtsinstitute: dem Bodthing (dem „gebotenen" Ding) und dem Fimelthing (dem „beweglichen" Ding?). Also scheint es sich um Gerichtsgöttinnen zu handeln. Aber darf man die mittelalterlichen Gerichtstermini der Friesen ohne weiteres für die Römerzeit voraussetzen? Ph.Heck, Th.Siebs, J. de Vries u.a. bezweifeln es ee . S.Gutenbrunner hält es für unbedenklich67, und allein darauf beruht Ansicht, denn gerade dieser Hinweis kann ja plausibel machen, daß im Westgerm, auch die Bedeutung „Zeit" durch eine ping-Yorca. ausgedrückt wird, während dafür im Got. ^ΐηΛ-Pormen erscheinen (vgl. aengl. ping-

gemearc „Zeitberechnimg", ferner thiu thinku im ahd. Abrogans). Ein ähnlicher Bedeutungszusammenhang wie bei got. ßeihs und peihvo zeigt sich übrigens nicht nur bei dem oft erwähnten lat. Wortpaar tempus und tempestas, sondern auch bei anord. hriò „Sturm, Unwetter; Zeit, zeitlicher Zwischenraum". " Vgl. die Belege bei Wolfgang Krause, Ziu, Nachr. von der Ges. d. Wiss. zu Göttingen, Phil.-hist. Kl. 1940, S. 155-172, besonders S. 164ff. " Ph. Heck bei Th. Siebs, ZfdPh. 24, 439 („produkt nachfränkischer rechtsentwicklung"); J. de Vries, Altgerm. Religionsgesch. II, S. 12 und 317; W.Krogmann, Dt. Phil, im Aufriß, Bd. 1, 2. Aufl., 1957, Sp. 1911. " Gutenbrunner, Götternamen 34ff., besonders 44f.

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wie gesagt - seine Deutung des Mars Thingsus als Rechtsgott. Ich glaube, daß man sich den Zweiflern anschließen muß. Man wird überhaupt daran zweifeln können, ob im römischen Söldnerheer die germanische Dingverfassung so lebendig war, daß man einem „Dinggott" einen Weihestein setzte und dazu Gottheiten erfand, deren Namen - wenn sie wirklich Rechtstermini darstellen - schon ein spezialisiertes Rechtsleben voraussetzen. Aber selbst wenn man den „Thingsus" des Weihesteins wirklich als „Dinggott" auffassen möchte, wird man diese Entwicklung nicht verallgemeinern dürfen : Ursprünglich ist der *pingsaz ein „Himmelsgott,Wettergott" ( =*Tiwaz), und das wird er auch - soweit er sonst überhaupt existiert hat - im allgemeinen geblieben sein. Im Norden ist der *pingsaz überhaupt nicht bezeugt, und auch der *Tiwaz > Tyr tritt wenig hervor, als Rechtsgott hier ebensowenig wie im Süden. Die Tatsache, daß ein einziger unter den in Dänemark mehrfach bezeugten Orten namens Tislund ein Dingplatz ist, kann nur als Zufall betrachtet werden und gibt keine Veranlassung, den nordischen Tyr als Dingund Rechtsgott zu bezeichnen, wie J. de Vries es tut 68 . Erst recht ist nicht einzusehen, inwiefern der Mythos von der Einhändigkeit Tyrs eine Veranlassung geben sollte, Tyr als Rechtsgott zu betrachten 69 . *• J . de Vries, Anord. Religionsgesch. II, S. 20: „Gehörte Tyr im skandinavischen Norden zu den hehren, aber k a u m verehrten Göttern (s. § 569) ? Seine Funktion als Wahrer des Rechts ist immerhin wichtig genug, ihn zu den höchsten göttlichen Mächten zu rechnen." Zum Ortsnamen Tislund vgl. a . a . O . S. 13 u n d 19, auch M.Olsen, Norr0ne studier 1938, S. 81 f. ·* Vgl. Snorra E d d a , Gylfaginn. K . 25 u n d 34 : Die Götter überwältigen den Fenriswolf, indem sie vorgeben, ihm nur zum Spaß Fesseln anlegen zu wollen. Zum P f a n d dafür, daß die Fesseln wieder gelöst werden, legt Tyr seine Hand in den Rachen des Wolfes. Als der Betrug offenbar wird, beißt der Wolf die Hand ab. G.Dumézil, Loki, D a r m s t a d t 1959, S. 65, bezeichnet Tyrs T a t als „juridisches K u n s t s t ü c k " , einen „juridischen B e t r u g " u n d postuliert eine unmittelbare Beziehung zwischen diesem „ B e t r u g " u n d dem juristischen Charakter des Gottes. J . de Vries, Altgerm. Religionsgesch. II, S. 24, bezeichnet es dagegen m i t gutem Grund als „merkwürdig", daß der P f a n d b e t r u g gerade von einem Gott ausgeführt wird, der selbst „Wahrer des Rechts" ist, läßt sich d a n n aber doch von Dumézils Hinweis auf Mucius Scaevola überzeugen. M . E . k a n n der Mythos f ü r den Rechtscharakter des Gottes überhaupt nichts beweisen. Man könnte sonst ja auch Odin als Rechtsgott bezeichnen, weil er sein Auge „verpfändete" (ved Valfödrs, Voluspá Str. 27). Auch Dumézils Hinweis auf die römische Erzählung von Mucius Scaevola wirft nichts ab. Beiden Geschichten ist das heroische Opfer gemeinsam, aber nichts Juridisches. Überhaupt ist Dumézils Parallelisierung eine

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Es gibt allerdings im Norden vereinzelte Zeugnisse von Rechtsgöttern und -göttinnen. Aber diese Zeugnisse sind jung, vom Süden her oder auch christlich beeinflußt oder etymologische Spekulationen hochmittelalterlicher Gelehrsamkeit. Da ist zunächst der Gott Forseti. In den eddischen Grímnismál Str. 15, 6 heißt es: Forseti ... svœfer aliar salcir („F. schlichtet alle Streitsachen"). Forseti ist kein einheimischer Gott. Im Friesischen gibt es nämlich einen Gott Fosite, und von dorther scheint der nordische Gott entlehnt 70 . Daß es sich nicht nur um eine literarische Entlehnung handelt, zeigt der südnorw. Ortsname Forsetlund, der einen Kult des Gottes voraussetzt n . Die Frage ist : Seit wann ist dieser Gott ein Rechtsgott ? Gewöhnlich vermutet man, daß Fosite erst im Norden dank der volksetymologischen Umdeutung zu forseti „Vorsitzer" zum Rechtsgott geworden sei. Bedenklich ist freilich, daß die Vorsilbe for- im Nordischen an sich einen abwertenden Sinn hat (z.B. fordœda „Hexerei") und daß Bildungen wie formadr erst spät und unter niederdeutschem Einfluß und zunächst wohl nur in christenrechtlichen Partien auftreten 72 . Auch -seti im Sinne von „Gerichtssitzer" ist jung und selten (vgl. bedseti, Hertzberg 94). Das möchte dafür sprechen, daß die Funktion des Gottes nicht aus der Namensdeutung gewonnen wurde, sondern daß schon der friesische Gott ein Rechtsgott war 73 . Aber alles weitere ist umstritten. Sicher ist wohl nur, daß Forseti kein eigentümlich nordischer Gott ist. Die Göttinnen Vçr und Syn sind - wie Snotra „die Kluge", Vor „die Vorsichtige" usw. - Figuren der dichterischen Mythologie, vor allem der skaldischen Kunstsprache, und überdies scheinen sie allein durch Snorris Namensdeutung zu Rechtsgöttinnen geworden zu sein. Vçr muß ursprünglich so etwas wie „Gehebte" bedeutet und vielleicht eine Göttin des geschlechtlichen Verkehrs dargestellt haziemlich luftige Konstruktion. Die Mucius-Scaevola-Geschichte scheint mir von A.Erler, Paideuma 2 1941, 8. 55f., richtiger erklärt zu werden. Vgl. auchW. Betz, Dt. Phil, im Aufriß, Bd. 3, 1957, Sp. 2498. Daß der Tyr-Mythos alt ist, soll natürlich damit nicht bezweifelt werden (vgl. S. Gutenbrunner, Zeitschr. f. Celt. Phil. 20, 1936, S. 278ff.). Vgl. W.H.Vogt, ZRG 57, 39f.; J. de Vries, Anord. Religionsgesch. II, S. 281 fif. 71 Über die „im südöstlichen Norwegen hervortretende Neigung", „heilige Plätze für alle Götter des Asenkreises anzulegen", vgl. kurz A.Olrik, Ragnarök, 1922, S. 95, Anm. 1. " Vogt, ZRG 57, 40, Anm. 2. " Vgl. dazu J. de Vries' Hypothese, a.a.O., II, S. 284.

121 9 von See, Rechtswortachatz

ben74. Bei Snorri erscheint sie als Göttin der Treugelöbnisse zwischen Mann und Frau (Gylf. K. 35). Stärker tritt die Rechtsfunktion bei Syn hervor. Jacob Grimm meinte: „sie war den Heiden göttin der Gerechtigkeit und Wahrheit, sie schützte den angeklagten"76. Aber zunächst bezeichnete ihr Name wohl nur eine allgemeine Eigenschaft - „die Verweigernde" wie Snotra „die Kluge" oder Vor „die Vorsichtige" - , und erst Snorri machte sie zur Göttin der gerichtlichen Einrede (syn). Überhaupt sind Personifikationen von Rechtsbegriffen erst dem christlichen Denken geläufig ; man denke etwa an die Legende von den vier Töchtern Gottes: „Wahrheit", „Friedfertigkeit", „Gerechtigkeit", „Barmherzigkeit", die im Norden zuerst der Königsspiegel (K. 45) in der 2. Hälfte des 13. Jhs., also bald nach Snorris Zeit, aufnimmt. Alle anderen Belege, die eine gelegentliche richterliche Tätigkeit irgendwelcher nordischer Götter zu bezeugen scheinen, hat W. H. Vogt untersucht7β. Er kommt zu dem Ergebnis, daß dœma in solchen Fällen „keine gerichtliche Tätigkeit" meint (z.B. Grimn. Str. 29f., Hávm. Str. 111, Vsp. Str. 60). Erwähnt sei nur noch, daß auch der Gedanke des eschatologischen Richters der nordischen Mythologie fremd ist. Die berühmte Vçluspâ-Str. 65, die diesen Gedanken zuerst ausspricht, ist wohl nicht einmal ein spätheidnisches oder synkretistisches, sondern ein rein christliches Produkt77. *

Nicht so sehr im Mittelpunkt des Streits, aber darum nicht weniger umstritten ist die Rolle, die das G o t t e s u r t e i l und der E i d in den Beziehungen von Recht und Religion spielen. Die Darstellung kann sich von jetzt ab auf das altnord. Material beschränken. Gerade die Rolle des Gottesurteils zeigt, was auch schon die vorstehenden Abschnitte andeuteten : daß es falsch ist, grundsätzlich von der Voraussetzung einer gemeingerm. Rechtsvorstellung auszugehen. Die ältere Forschung projizierte auch hier die im christlichen - vornehmlich deutschen - Mittelalter bezeugten Rechtsbräuche und -Vorstellungen unbedenklich in die altgermanische Zeit zurück. Jacob Grimm schrieb, der Glaube an Gott gehe „sichtbar durch unser " W.H.Vogt, ZRG 57, 52; J. de Vries, a.a.O., II, S. 327. ™ Grimm, Myth. I, 257. '· W. Π.Vogt, ZRG 57, 36-38. " Vgl. meine Begründung in GGA 213, 1959, S. 94 f.

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ganzes altes recht, man kann sagen, dasz es beinahe ganz auf gottesurtheil gebaut ist" 78 , und Konrad Maurer erklärte ausdrücklich: „Man stellt Eid und Gottesurtheil unter die Obhut des neuen Glaubens, wie beide vordem unter der Obhut des alten gestanden waren" 79 . Maurer erkannte aber schon sehr früh die Eigenständigkeit des altnordischen Rechts gegenüber dem sonstigen germanischen: Die regelmäßige anord. Bezeichnung des Gottesurteils - skirsl oder skirsla (zu skira „reinigen") - ist nämlich offensichtlich nur eine Übersetzung des kirchlichen Ausdrucks purgatio, und es fehlt „jede nationale Bezeichnung..., welche sich allenfalls noch auf die vorchristliche Zeit zurückbeziehen ließe" 80 . Die Formen des Gottesurteils zur Zeit der Rechtsbücher sind lediglich die auch sonst im Abendland üblichen: Der járnburdr, das Tragen des glühenden Eisens, bei Männern angewendet, und das ketiltak, der Kesselfang, bei Frauen angewendet. Ob es den Zweikampf als prozessuales Beweismittel jemals im Norden gegeben hat, ist fraglich. Der einzige rechtstextliche Beleg für einen Zweikampf, das aschwed. sog. „Heidengesetz" (Hednalagen, SGL III, 275) hat - wie schon angedeutet - eine ziemlich unsichere Überlieferungsgeschichte und geht kaum auf die heidnische Zeit zurück81. Außerdem dient dieser Zweikampf gar nicht dazu, eine Entscheidung in einer Rechtssache zu gewinnen, sondern dazu, einem in seiner Ehre gekränkten Mann die Möglichkeit zu geben, sich zu rächen82. Unzuverlässig sind auch die gelegentlichen Erwähnungen von Holmgang-Gesetzen in den Sagas (Kormáks s. Κ. 10, Egils s. Κ. 56. 64), ebenso die Mitteilungen, der Zweikampf sei kurz nach 1000 - also vielleicht durch kirchlichen Einfluß - in Skandinavien abgeschafft worden (Gunnlaugs s. K. 11, Grettis s. K. 19, Saxo ed. Olrik / Rseder S. 282). Selbst wenn sie glaubwürdig wären, würden sie nicht besagen, daß der Zweikampf als heidnisches Gottesurteil gegolten habe 83 . In den Gesetzen der 78

J.Grimm, Poesie im Recht 54 f. " K.Maurer, Bekehrung II, 1856, S. 431. 80 K.Maurer, Das Gottesurtheil im altnordischen Rechte, Germania 19, 1874, S. 139-148, bes. S. 140. 81 S. Kapitel 2 (S. 88 f. und Anm. 61). 82 A. Nelson, Envig och ära. Saga och sed 1944, Uppsala 1945, S. 57-94, bes. 87. 94. Vgl. auch E. Estlander, Hednalagen och dess stadgande om tvekamp, Tidskr. utg. af Juridiska Föreningen i Finland 1912, S. 571-594. 88 Gegen die Ansicht, der Zweikampf sei ein Gottesurteil, spricht sich Heusler, Strafrecht 35f., aus. Ihm pflichtet A.Nelson S. 87 bei. Vgl. auch M.Pappenheim, ZRG 48, 1928, S. 150f., Stig Juul, Kulturhist. Leks. V, 548,

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nordischen Königreiche ist der Anwendungsbereich der Gottesurteile ähnlich wie im deutschen Recht, nur in Island verhält es sich anders. Dort ist das Gottesurteil in der Grágás außerordentlich selten und beschränkt sich auf Vaterschafts- und Beischlafssachen. In den Isländersagas kommt es nur ein einziges Mal in eindeutig christlichem Gebrauch vor (Ljósvetn. s. Κ. 23) und die Sturlunga saga belegt es ein paarmal für das 12. und 13. Jh. Maurer meinte dann allerdings doch, eine Ordalsform als bodenständig nordisch nachweisen zu können: den Ritus des „Gehens unter den Rasenstreifen" (ganga undir jardarmen), der einmal in der Laxdcela saga Κ. 18, 16 ff. beschrieben und dort eindeutig als Gottesurteil (skirsla) bezeichnet wird84. Immerhin zeigte der Aufsatz Maurers schon damals die merkwürdige Tatsache, daß das nordische Recht in einem doch scheinbar fundamentalen Rechtsinstitut vom übrigen germanischen Recht abwich. Karl von Amira nahm dieser Feststellung dann freilich einen guten Teil ihrer Auffälligkeit, indem er erklärte, das Gottesurteil habe den vorchristlichen Germanen überhaupt gefehlt, weil die religiöse Grundlage dazu gefehlt habe : weder Allwissenheit noch Wahrhaftigkeit wären den germanischen Göttern eigen gewesen85. Aber Amiras Hinweis verlor seine Beweiskraft, als man die „Primitivelemente" im Gottesurteil erkannte, - ob man sie nun mit Max Pappenheim durchweg als magische Handlung deutet 86 oder mit Adalbert Erler auf verschiedene Grundlagen, Magie und Mantik, zurückführt87. Es besteht keine Veranlassung, den vorchristlichen Germanen ein Gottesurteil dieser Art von vornherein abzusprechen. Freilich ist das alles sehr unsicher, und auf jeden Fall sind Konstruktionen wie diejenige Ernst Mayers abzulehnen, der auf dem methodisch verfehlten Weg der Stammbaumtheorie mit Hilfe eines isländischen und eines gotisch-spanischen Zeugnisses ein ,,Erd-Ordal" Olav B0 ebdt. III, 534. Den Zweikampf als Gottesurteil betrachtet J. Grimm, Rechtsalterthiimer 4. Aufl. II, S. 588, neuerdings wieder H. af Trolle, Om ordalierna hos de germanska folken, Stockh. 1915, S. 31, und H.C.Braun, Om Tvekampens Stilling i oldgermansk Bettergang, Kbhn. 1930. 84 Maurer, Germania 19, 145 ff. " Amira, Grundriß, 3. Aufl., S. 197. " Max Pappenheim, Über die Anfange des germanischen Gottesurteils, ZRG 48, 1928, S. 136-175, bes. 8. 144f. 87 Adalbert Erler, Der Ursprang der Gottesurteile, Paideuma 2, 1941, S. 44-65, bes. 8. 48. Vgl. auch 8. 55: „Das Wesen des Abwehrordals ist also ursprünglich Machtausweis mit dem vorrechtlichen Unterton, daß der Mächtige immun ist und die Rechts- und Schuldfrage daher vor ihm zerschmilzt." 124

schon für die vorgeschichtliche Zeit des Germanentums erschließt88. Ein Gottesurteil magischer und mantischer Art mag es bei den vorchristlichen Germanen immerhin gegeben haben. Dabei treten nun aber die Gegensätze zwischen nord- und westgermanischem Recht wieder klar hervor, noch klarer als seinerzeit bei Maurer. Die Erzählung der Laxdcela saga vom „Rasengang", die Maurer hervorzog und auf die sich auch Mayer stützt 89 , kann nach den allgemeinen Erkenntnissen neuerer Sagaforschung nicht mehr als zuverlässige Geschichtsquelle gelten, und auch das eddische Zeugnis der Guörunarkviöa III, das Fr. Brandt als einziges anord. Zeugnis für den vorchristlichen Kesselfang bucht, ist so jung, daß es nichts beweisen kann90. Im Westgermanischen aber nimmt der Kesselfang schon in der Lex Salica eine „nach Art und Umfang bedeutsame Rolle" ein, und in der Lex Frisionum XIV, 1 und 2 ist ein - möglicherweise tatsächlich heidnisches - Losorakel bezeugt91. Außerdem weist die Verschiedenheit der Gottesurteile in den westgermanischen Volksrechten auf Anknüpfung an ältere, ungleich gestaltete Volksbräuche. Im Norden dagegen deutet die äußere Einheitlichkeit der Gottesurteile, ferner die Terminologie und das schwache Auftreten in isländischen Quellen auf junge kirchliche Verbreitung hin92. Klarer liegen die Dinge beim Eid, da uns verschiedene Eidformeln im Wortlaut überliefert sind. Es scheint darnach, daß die Götter als Schützer des Eides eine besondere Rolle spielten. Einerseits besteht die Möglichkeit, daß sich einzelne Prägungen in mehr oder weniger modifizierter Form in die christliche Zeit hinübergerettet haben, anderseits freilich auch die Möglichkeit, daß in pseudo88 Ernst Mayer, Der Ursprung der germanischen Gottesurteile, Hist. Vierteljahrsschr. 20, 1920/21, S. 289ff. 88 Vgl. auch M. Pappenheim, Zum ganga undir jaröarmen, ZfdPh. 24,1892, 8. 157-161. 80 Fr. Brandt, Forelsesninger over d. norske Retshist. II, 272, ferner L.M. Hollander, JEGP 26, 1927, 8. 99. - In Str. 6 des Liedes heißt es, daß man nach Saxi, dem „Fürsten der Südmannen", d.h. der Deutschen (sunnmanna gramr) ausschicken solle, da er allein es verstehe, den Kessel zu weihen. Waren sich die Skandinavier also vielleicht selbst bewußt, daß das Gottesurteil nicht bodenständig nordisch war, sondern südliches Importgut ? Pappenheim, ZRG 48, 165, möchte die Frage bejahen. Über die starken südlichen Einflüsse in den jüngeren eddischen Fremdstoffliedern vgl. auch W.Mohr in ZfdA 75 und 76, zum Ausdruck hver vellanda („wallender Kessel") in Gör. III 6, 4 besonders ZfdA 76, 1939, S. 186. 81 Vgl. Pappenheim, ZRG 48, 152 ff. 82 Pappenheim, ZRG 48, 167.

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geschichtlichen Darstellungen - vor allem in den isländischen Sagas - heidnische Formeln nach dem Muster christlicher Eidformulare rekonstruiert, d.h. erfunden wurden. SeitW.H.Vogts Untersuchung über „Fluch, Eid, Götter - altnordisches Recht" liegt der „lange Weg des altnord. Eides ... vor unseren Augen" 93 : „Machtvolle (oder mit Macht ausgestattete) Dinge werden gezwungen, daß sie unter bestimmter Bedingung so oder so handeln." Das änderte sich auch nicht, als man personlose „heilige" Dinge in den Dienst des Eides stellte 94 . Die Götter stehen wohl hinter ihren heiligen Dingen, aber weder sie noch die Dinge treten in ein „Wesensverhältnis ... zum Rechtsinhalt des Eides". Erst als die Götter selbst im Eid erscheinen, sind sie nach Vogts Ansicht „rechtswesenhaft". Erst jetzt werden sie zu Helfern und Schützern von Recht und Wahrheit und zu Strafern von Unrecht und Unwahrheit. Drei Zeugnisse von solchen heidnischen Gerichtseiden sind uns überliefert: 1. ein isländischer Eid, der nach Angabe der Landnámabók zum Úlfljótsgesetz gehörte : hjálpi mir svá Freyr ok Njordr ok hinn almáttki Ass („so helfe mir Freyr und Njördr und der allmächtige Ase", Landn., ed. F. Jonsson, S. 140), 2. ein isländischer Eid in der Víga-Glúms saga Κ. 24: ...ok segi ek pat cesi („... und ich sage es dem Asen", Reykj. Ausg. S. 74), 3. der westgötische-seeländische Eid, der mehrfach im VGR I und im EsR auftritt: bipia sœr sva gud hott („sich so die Götter hold bitten", z.B. VGR I, Kirkiu b. 12, § 2). Die erste und die zweite Eidformel sind christlichen Einflusses verdächtig, denn sie stimmen im Wortlaut mit den christlichen Eidformeln der Grágás überein : hiálpi svá mir gud / ok segi ek pat gudi 95. In der ersten Formel ist das Verb hiâlpa verdächtig, denn es ist westgermanisches Lehngut und dem Norden wahrscheinlich erst 98

ZRG 57, 1937, S. 1-57, Zitat S. 35. Eine ähnliche Entwicklungsgeschichte des Eides, freilich in den germanischen Verhältnissen ziemlich hypothetisch, gibt schon R.M.Meyer, „Schwurgötter", A B W 15, 1912, S. 435-450. 94 Vgl. dazu die zusammenfassende, gegenüber den Sagatexten etwas kritiklose Darstellung von Francis P. Magoun jr., „On the Old-Germanic Altaror Oath-Ring (Stallahringr)", APhS 20, 1949, S. 277-293, ferner K.Müllenhoff, „Eidring", ZfdA 17, 1873, S. 428-429. 96 H. de Boor, Dt. Islandforschung 1930, I, S. 137f., Anm. 90, anders in Germ. Altertumskunde, hg. von H.Schneider, 1938 [1951], S. 322. - Übrigens wird die Formel auch noch auf andere Glaubensvorstellungen übertragen, vgl. Karlamagnús saga, udg. af. C.R. Unger, 1860, S. 434: ok sár vid Maumet ok bad hann svá hjálpa sér.

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durch die Kirchensprache vermittelt (vgl. dazu Lex. poet. 255); verdächtig ist darüber hinaus noch das Adj. almáttugr, denn von einem heidnischen Gott pflegt man nicht zu sagen, daß er „allmächtig" sei. Überhaupt ist die verstärkende Vorsilbe al- erst in der christlichen Dichtung des 12. Jhs. massenweise belegt: aldyggr, aldyrr, álgódr, alhreinn usw. Daß die Götterdreiheit „Freyr-Njördr - Áss" durch Egüs Strophe 19 ( S k j . B I , 47) „kräftig gestützt" werde96, ist kaum ein Argument für die Echtheit, denn die EgilStrophe stellt keinen Eid dar, sondern einen Fluch. Die dortige Zusammenfügung ist wohl nicht formelhaft, sondern zufällig ; möglich ist aber, daß nach dem Vorbild der gewiß geläufigen Egil-Strophe der pseudoheidnische Eid rekonstruiert wurde. Ein -besonderes Problem ist das westgötisch-seeländische Eidformular. Auffällig ist zunächst einmal, daß es nicht in einer historischen oder halbhistorischen Erzählpartie vorkommt, sondern in hochmittelalterlichen, kirchlich beeinflußten Gesetzen, deren älteste Hss. aus der 2. Hälfte des 13. Jhs. stammen. Stünde statt des holl der Akk. Sg. Mask. hollan, wie es in späteren Formularen der Fall ist, dann wäre nichts auffällig. Die Form holl aber weist auf den Akk. Plur. Neutr., und also können nur die heidnischen Götter gemeint sein. Hans Kuhn sieht in den neutralen Pluralformen einen Beweis dafür, daß Spuren des Heidentums in Schweden noch bis ins 13. Jh. hinein fortleben97. Walter Baetke meint dagegen, das alte Wort god sei mit dem Übergang von Heidentum zum Christentum nicht sogleich vom Neutrum zum Maskulinum geworden, sondern auch in der Anwendung auf den Christengott zunächst noch Neutrum geblieben. So habe man alte Formeln erst einmal unverändert weiterverwendet, „ohne sich eines Widerspruchs" zum „neuen Gottesglauben bewußt zu sein" 98 . C.E.Thors stimmt der Baetkeschen Lösung zu 99 , obwohl doch die Anstößigkeit der Pluralform noch bleibt. Eine dritte Lösung scheint es allerdings nicht zu geben. Baetke erklärt ausdrücklich: „Die Adjektivform hull... kann in der alten Sprache, ost- wie westnordisch, nur Neutr. PL sein." 100 Aber das stimmt nicht : Im Westdänischen ist der endungslose Akk. Sg. ·« W.H.Vogt, Urfehdebann, S. 144, Anm. 1. »' H. Kuhn, ZfdA. 79, 1942, S. 166. ββ W.Baetke, „Gud in den altnordischen Eidesformeln", P B B 70, 1948, S. 351-371, Zitat S. 370. 99 C. E. Thors, Den kristna terminologien i fornsvenskan, S. 408. 100 Baetke, P B B 70, 353.

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Mask, ganz gewöhnlich. Dort könnte holl also einen Akk. Sg. Mask, darstellen und damit die Formel zu einer rein christlichen machen. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele : JR II, 23 : At klostœr ma œi takœ frithloos man, EsR II, 52 Haupths. limœ han saclesœn a hœrœthz thing, aber andere Hss. saghhs, sakeles. Es ergibt sich also immerhin noch die Möglichkeit, daß das Eidformular aus dem westdänischen Bereich entlehnt ist. Die unveränderte Übernahme eines zeitgenössischen, einwandfrei christlichen Formulars ist wohl nicht unwahrscheinlicher als das unveränderte Festhalten eines heidnischen Formulars durch zwei Jahrhunderte hindurch. Eine sichere Entscheidung, ob echt oder unecht, läßt sich aber in allen drei Fällen vom Text her nicht gewinnen, obwohl es sicher kein Zufall ist, daß alle drei Zeugnisse verdächtig sind. Gegen die Echtheit spricht vor allem die allgemein feststellbare Tatsache, daß den heidnischen Germanen die Vorstellung fremd ist, die Gottheit werde als Schützerin von Recht und Wahrheit den falschen Eid bestrafen101. Selbst Egils schon genannte Fluchstrophe (Skj. Β I, 46f.) beweist nicht die Rechtswesenheit der germanischen Götter, obwohl sie eine erstaunliche Sonderstellung einnimmt : Svá skyldi god gjalda - gram reki bçnd af hçndum, reiÔ sé rçgn ok Ódinn r$n mlns féar hçnum ! Fólkmygi làt flœja, Freyr ok Njçrdr, af jçrdum ! kidisk lof da stridi, landrfss, panne vé gratular! „So sollen die Götter vergelten - den Fürsten [Eirik[ mögen die Götter verjagen, zornig seien die Götter und Odin ihm den Raub meines Gutes ! Den Volksunterdrücker laß fliehen Freyr und Njörd, aus dem Lande ! Es hasse den Feind der Männer der Landase, ihn der die Tempel zerstört!" 101 K . v . Amira, Grundriß, 3. Aufl. S. 270; H. de Boor, Dt. Islandforschung I, 138, Anm. 90. Vgl. auch B.M.Meyers interessante, aber schwer begründbare Ansicht, an der Heiligkeit des Eides habe „sich die Ethisierung der Götter vielleicht besonders früh entzündet", der Eid scheine also „mehr für die Götter geleistet zu haben als die Götter für den Eid" (ARW15,1912, S. 438f.).

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Jan de Vries erläutert die Strophe mit den Worten: „Als Wahrer der gesetzlichen Ordnung zürnen die Götter jedem, der gegen sie verstößt." 1 0 2 Man kann diese Vorstellung wohl aus Egils Worten herauslesen, und man kann sie sogar noch genauer begründen, als J. de Vries es tut, wenn man die in Z. 8 zitierten vé als die vébçnd, die heiligen Hegebänder des Gerichts, auffaßt 103 , und das rán míns féar in Ζ. 4 mit dem granda vé in Z. 8 parallelisiert : man kann dann argumentieren, König Eirik habe, indem er Egil auf dem Gulading widerrechtlich behandelte, die heiligen Bänder der Götter verletzt, d. h. mit dem Rechtsmißbrauch gegenüber Egil zugleich die Götter gekränkt. Aber ich glaube nicht, daß so etwas gemeint ist (vgl. Einarr skálaglamm 1, Skj. Β I, S. 116, wo granda véum sich wohl auf Tempel bezieht). Egil zwingt mit der Strophe den Zorn der Götter (die godagremi) auf seinen Feind herab, wie der Heerführer vor der Schlacht das gegnerische Heer den Göttern preisgibt (vgl. z.B. Hunnenschlachtlied Str. 24). Interessant ist, daß Egil diesen kriegerischen Brauch auf rechtliche Verhältnisse anwendet. Er betrachtet aber deshalb die Götter nicht als Hüter der Gerechtigkeit, wie J. de Vries meint, sondern er stellt sie gleichsam in den Dienst seiner Sache, macht sie zu seinen Parteigängern, indem er auf die Zerstörung der heidnischen Tempel - das ist m . E . mit granda vé gemeint - hinweist: „Mein Feind ist auch euer Feind, also vertreibt ihn, dann dient ihr auch eurer eigenen Sache!" Der vorstehende Abschnitt erwähnte die vébçnd, die „Weihebänder", mit denen der Dingplatz gehegt wird. Hier endlich ist ein Zusammenhang zwischen Rechtspflege und Kult nicht zu bestreiten, wenn auch - wie ich glaube - nur im Vogtschen Sinne : Der Dingplatz steht unter sakralem Schutz, aber „was in dem geheiligten Rahmen geschieht, ist Sache der Menschen" 104 . Die „Weihebänder" kennen wir nur aus dem anorw. Recht. Spuren dieser Einrichtung soll es aber auch außerhalb des Nordens geben : Gabriele Schieb bespricht das Reimpaar gevestete ende gevriet, gevedemet ende geviet im Servatius Heinrichs von Veldeke. Für vedemen und wien verweist sie ausdrücklich auf die anorw. vébçnd und sieht in dem genannten Passus 102

J. de Vries, Altgerm. Religionsgesch. II, S. 355. So W.H.Vogt, ZRG 57, 54. 104 W.H.Vogt, ZRG 57, 51. Vgl. allerdings auch die ausführliche Behandlung beiW.Baetke, Das Heilige im Germanischen, Tübingen 1942, S. 102ff., der S. 104 den Schluß zieht: „Zugrunde lag der alte Glaube, daß die Gottheit das Urteil sprach." 10S

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„die Stäbe einer alten Rechtsformel" 105 . Eine alte priesterliche Rechtspflege können die vébond wohl nicht bezeugen, denn die Dinghegung ist nach der Christianisierung nicht - wie zu erwarten gewesen wäre - auf den christlichen Geistlichen übergegangen, sondern wird vom ármadr, einem weltlichen Verwaltungsbeamten ausgeübt, der vielleicht ein alter Beauftragter der bäuerlichen Rechtsgemeinschaft ist (Frost. I, 2) 106 . Über die Beziehung der Götter zu den vébond wissen wir nichts. Otto Höf1er meint, Granbech habe „wahrscheinlich gemacht, daß in den Bändern, die das Thing umschlossen, Götter anwesend geglaubt wurden"107. Gronbechs These ist aber nichts weiter als eine ganz leichtfertige Kombination: Die Götterbezeichnung bond hat nämlich nichts mit den vebond zu tun, sondern steht im Zusammenhang mit ähnlichen unpersönlichen Götterbezeichnungen, vor allem mit hopt (eig. „Fessel"). Diese Bezeichnungen sind auf dem Hintergrund einer religiösen Auffassung zu verstehen, die in den Göttern bindende, Welt und Menschheit zusammenfassende Mächte sieht 108 . Vé ist in anord. Quellen der heidnische Tempel. Die vébond scheinen also den Dingplatz zu einem geheiligten Bezirk gleich dem Tempel zu machen. In den Rechtsquellen kommt der Ausdruck vé sonst nicht vor. Bugge, Hertzberg u. a. sehen zwar in dem Wort forvé (Borg. I, 1 und III, 1 ; Landsl. IX, 2, 1) eine Bildung aus pejorativem Präfix for- und vé „Heiligtum" und geben ihm die Bedeutung „entweihte Stätte, Rieht- und Begräbnisplatz der Verbrecher". Ture Johannisson wendet aber ein, daß das pejorative forma in Verbalnomina zu erscheinen pflege. Er bevorzugt deshalb die Lesart tilforvœds in den Landsl. und meint, forvœd bezeichne den bei Ebbe trockenliegenden Teil des Ufers, wo nach Gul. 23 die Verbrecher begraben werden 109 . 105 G. Schieb, P B B 77, Halle 1955, S. 172, unter Mithilfe von J.O.Plaßmann. 10 « Johan Schreiner, Scandia IX, 1936, S. 169 ff. 107 O.Höfler, in: Das Königtum, Lindau und Konstanz, 1956, S. 99. Dazu V. Grenbech, Kultur und Religion, II, 255. 108 Vgl. dazu H. de Boor, Dt. Islandforschung I, 1930, S. 89. - Erwähnt sei noch, daß hapt in den anorw. Rechtstexten in seiner eigentlichen Bedeutung „Band, Fessel" vorkommt, sich aber nie auf das heilige Dingband bezieht, sondern durchweg auf profane Verhältnisse. 109 T. Johannisson, Verbal och postverbal partikelkomposition i de germanska Spraken, Lund 1939, S. 188 if. 356 f. J. de Vries, An. etym. Wb., verzeichnet das Wort nicht.

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Die Spuren religiösen Wortschatzes in der Rechtssprache sind also sehr gering. Man bedenke dabei, wie unempfindlich gerade der Norden gegenüber dem Weiterleben alter heidnischer Ausdrücke war : Christi Himmelfahrtstag wird noch in den Rechtsquellen des 13. Jhs. als hœlgi Porsdagr / hœlghi porsdagher bezeichnet (z.B. Frost. II, 26 oder VGR I, JorJ). 9, § 1). Man fühlt sich also nicht veranlaßt, wenigstens diesem besonderen Donnerstag einen eigenen, christlich einwandfreien Namen zu geben. Solche Beispiele deuten an, daß der Anteil heidnisch-religiösen Wortschatzes in der Rechtssprache nicht etwa deshalb so gering ist, weil er ausgemerzt wurde. Die Verbindung von Recht und Religion scheint im Heidentum von vornherein gering gewesen zu sein. Unsichere und zweifelhafte Spuren wie das ebengenannte forve gibt es freilich auch sonst noch, so etwa aschwed. hammarskipt („Hammerteilung"), das die Teilung von Allmendeland bezeichnet und angeblich eine Erinnerung an Thors Hammer enthält, wahrscheinlich aber mit aschwed. hammar „(felsiges) Allmendeland" zusammenhängt 110 , oder sáttr „versöhnt", das gewöhnlich mit lat. sanctus „heilig, geweiht" verknüpft wird, vielleicht aber zu got. sakan zu stellen ist mit der Bedeutung „wer sich ausgestritten hat", zumal das anord. Material keine Veranlassung gibt, eine religiöse Zeremonie beim Versöhnungsvertrag anzunehmen 111 . Das weitaus wichtigste Wort unter diesen scheinbaren Spuren einer alten religiös ausgerichteten Rechtsterminologie ist heilagr, ein Wort, das die bisherigen Ergebnisse geradezu über den Haufen zu werfen droht, denn es ist ein Grundbegriff der anord. Rechtssprache und scheint dabei doch so stark religiös bestimmt zu sein wie irgend möglich. Das Wort „heilig" pflegt man aus einer Grundbedeutung „heil, unversehrt, unverletzlich" abzuleiten 112 . Der anord. Rechtsterminus heilagr ist mit „unverletzlich, befriedet, unter Rechtsschutz stehend" zu übersetzen, úheilagr mit „unbefriedet, bußlos verletzbar", entsprechend auch die Substantive manhelgi und uhelgi und das Verb helga. Nach älterer Ansicht ist „heilig" erst in christlicher Zeit ähnlich wie „fromm", „Buße" u.a. - in den religiösen Bereich über110 Gerhard Hafström, Hamarskipt, Skrifter utg. av Institutet för Rättshistorisk Forskning II, 1, Lund 1951; B.Rehfeldt, ZRGr 71, 1954, S. 21 mit A n m . 51. 111 Marco Mineoff, AfdA 53, 1934, S. 231f. 112 Vgl. R. Meissner, ZfdA. 66,1929, S. 55 ; Arntz-Zeiss, Die einheim. Runendenkmäler, 1939, S. 269; W. Braune, P B B 43, 1918, S. 398 ff.

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getreten113, nach jüngerer Ansicht hat es sich schon im vorchristlichen Sprachgebrauch zum religiösen Terminus entwickelt. Auf jeden Fall beginnt wohl mit dem Christentum eine neue Phase in der Bedeutungsgeschichte des Wortes, denn die heidnische Verwendungsweise kann auch dort, wo sie im religiösen Bereich steht, mit Hilfe der obengenannten Grundbedeutung erklärt werden {heilagt tafn, heilagr skutill, vé heilagt, helga grof usw.)114. Eine neue Erklärung brachte Walter Baetke. Er geht von der religions wissenschaftlichen Theorie aus, daß es eine Seite des Numinosen gegeben habe, die zum Menschen in Distanz stand, das Tremendum, und eine andere Seite des Numinosen, die dem Menschen und der Welt zugekehrt war, das Fascinosum, und er versucht, die beiden germanischen Ausdrücke *wihaz und *hailagaz diesen beiden Seiten des Numinosen zuzuteilen: *wlhaz dem Tremendum, *hailagaz dem Fascinosum116. Danach bedeutet *hailagaz ursprünglich „heilvoll, heilsam, heilbringend"116. Auf selbständigen Wegen gingen vorher nur die Erklärungen von E.Ochs und W.H.Vogt. E.Ochs versuchte, dem Rechtsterminus úheilagr einen ursprünglich sittlichen Inhalt beizulegen, hinter dem freilich ein zauberischer stecke: ,,jd., der seine gute Kraft verloren hat, vom Glück verlassen, ungut, falsch". Das Wort stehe somit, wie Ochs sagt, zwischen dem Rechtsbegriff sehr und dem Ehrbegriff nidingr117. Eine religiöse Grundbedeutung von úheilagr vermutete zuerst W.H.Vogt. Er geht von dem obengenannten anorw. Ausdruck forve aus, den er als Bezeichnung einer „weihelosen Stätte" ansieht, an der Mißgeburten und Schwerverletzte beseitigt werden. Der úhelgi ist daher für ihn ein mißgeborener Mensch118. W. Baetke bewies, daß diese Erklärung falsch sein muß, denn das Quellenmaterial zeigt, daß der úhelgi niemals mit einem Makel solcher Art behaftet gewesen ist119. Außerdem scheint Vogt, wie schon gesagt, 118 Moriz Heyne, Grimms Wb. Auch Hans Kuhn, AfdA 62, 1943, S. 2f., und G. Must, English holy, German heilig, JEGP 59, 1960, S. 184-189, halten „heilig" nicht für einen ursprünglich religiösen Terminus. 114 Zu heilagr skutill vgl. V.Kiil, A N E 74, 1959, S. 21. (War das *skutl oder *ekutli etwa deshalb heilagr, weil es das Eigentum f>jazis war? Vgl. Kiil S. 11.) 115 W.Baetke, Das Heilige im Germanischen, Tübingen 1942, S. 213ff. Vgl. dazu Rudolf Otto, Das Heilige, Breslau, 5. Aufl., 1920. " · Baetke, Das Heilige 215. 117 118 E.Ochs, P B B 45, 1921, S. U l f . Vogt, ZRG 57, 46f. 119 Baetke, P B B 66, 3f.

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von einer falschen Bedeutung von forve auszugehen. Baetke selbst geht - das ergibt sich aus seiner Erklärung von *hailagaz - nicht vom einzelnen Menschen aus, sondern vom Kultverband, der seinen Gliedern das von der Gottheit gespendete Heil vermittelt: „Die ,Heiligkeit' des Mannes fließt aus dem heiligen, von der Gottheit gesetzten und gehüteten Frieden, an dem jeder freie Mann auf Grund seiner Zugehörigkeit zum Kultverbande Anteil hat." 1 2 0 Die Quellenuntersuchung, die zu diesem Ergebnis führt, ist gewiß sehr wertvoll und gründlich, aber sie macht doch den Eindruck, als würde hier eine Theorie dem Belegmaterial aufgenötigt. Einen methodischen Fehler sehe ich zunächst darin, daß Baetke die Behandlung des anord. Rechtsterminus heilagr¡úheilagr von der Behandlung des übrigen Wortgebrauchs abtrennt 121 , die Herkunftsfrage allein mit dem nichtjuristischen Material zu lösen sucht und das Ergebnis dann für das rechtssprachliche Material ohne weiteres voraussetzt 122 . Der Fehler ist um so schwerwiegender, als *hailagaz samt seinen Ableitungen vor allem gerade in der anord. Rechtssprache und sonst nur noch in einigen festländischen Runeninschriften in heidnischer Verwendung vorkommt 123 . Einen weiteren methodischen Fehler sehe ich darin, daß Baetke in seiner Untersuchung des Rechtsterminus heilagr¡úheilagr (PBB 66) ausschließlich die auf den Rechtsgenossen bezogene Terminologie von „Mannheiligkeit"/,,Unheihg120

W. Baetke, Der Begriff der ,Unheiligkeit' im altnord. Recht, P B B 66, 1942, S. 1-54, Zitat S. 44. 121 Baetke, Das Heilige 122, Arm. 2. Zu welchen irreführenden Feststellungen dies verleiten kann, zeigt sich in einer Bemerkung a.a.O., S. 59: Baetke meint, der bisher vermutete Bedeutungsübergang „unversehrt > heilig" sei unmöglich, und man habe, „weil man das wohl empfand", den Begriff .unverletzlich' „als Brücke eingefügt, wobei man so tut, als verstehe sich ein Übergang von ,unverletzt' zu (Unverletzlich' von selbst". In Wirklichkeit ist die Bedeutung,unverletzlich' aber gar nicht, wie Baetkes Äußerimg vermuten läßt, eine bloße angenommene Größe. Sie ist vielmehr im rechtssprachlichen Gebrauch unzählige Male überliefert, und sie zeigt sich einwandfrei auch in dem Kompositum gunnheilagr „im Kampf gefeit" (HamSismál Str. 28, 7). Kann eine ähnliche Vorstellung auch dem Personennamen Helgi zugrunde liegen ? 122 Vgl. z.B. Baetke, P B B 66, 1. 37, ferner Das Heilige 142: „daß er (der juristische Ausdruck mannhelgi) ursprünglich einen religiösen Sinngehalt hatte, ist schon durch den Terminus gegeben". Unter derselben vorgefaßten Meinung leidet die Untersuchimg des Theologen und Wolfgang-Krause-Schülers Hans Hartmann, Heil und heilig im nord. Altertum. Eine wortkundl. Untersuchung (Germ. Bibl. II, 44), Heidelberg 1943. 123 Baetke, Das Heilige 207.

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keit" und die „Thingheiligkeit" behandelt, nicht dagegen den sonstigen rechtsterminologischen Gebrauch. Wie irreführend Quellenzitate sein können, die aus dem Gesamtzusammenhang gerissen sind, zeigt eine Bemerkung 0.Höflers: „Das Thing war eine sakrale Institution, ... im Norden begegnet der Ausdruck at helga ping ,das Thing heiligen' als feststehende Formel (so im isländischen Gesetzbuch Grágás)" 124 . In Wirklichkeit besagt der Hinweis auf die Formel helga ping gar nichts, denn in der Grágás können auch Wald, Wiese, Heu, Hunde, zahme Bären und Schweine unter diesen oder jenen Bedingungen „heilig" oder „unheilig" sein. Das Quellenmaterial läßt eine ziemlich prägnante Bedeutung von heilagr und verwandten Wörtern erkennen: Die „Heiligkeit" bezeichnet den Anspruch auf Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit, den der freie Mann von Natur aus besitzt und mit ihm die lebenden und toten Dinge seines Interessenbereichs, der aber auch sonst einem Tier, einer Sache, einem Ort, einem Zeitraum oder einer Institution beigelegt werden kann. Keineswegs beschränkt sich diese „Heiligkeit" also - wie man nach Baetkes Theorie vermuten könnte - auf die einzelnen Rechts- und (Kult-)genossen einerseits und die gemeinsamen Institutionen des Rechts- und (Kult-)Verbandes anderseits. Die „Mannheiligkeit" (anorw. manhelgi, aschwed. manhœlghi, adän. manhœlœth) und die „Thingheiligkeit" (aisl. pinghelgi) stellen vielmehr nur einen Bruchteil des Bereichs dar, in dem der Rechtsterminus heilagr und seine Sippe Verwendung finden. So wird z.B. die Schonung, die ein Wald zur Zeit der Schweinemast genießen soll, hcelgp genannt (MELR Bygn. 10: Nu vilia bender aldin skogh sin i hcelgp lysa ok suin a han skipa), so wird nicht nur der Dingplatz „geheiligt", sondern auch das Heu, wenn man es mit einem Zaun umgibt (Grág. II, 467 : Manne er oc scylt at göra loggarpa of hey sin... ef hann vili hey sin helga), so gibt es - z.B. nach der Aufzählung in EsR II, 49 - ein iulœ hœlgh, paskœ hœlgh usw. („Weihnachtsfrieden", „Osterfrieden"), ferner ein host hœlgh („Erntefrieden") und ein lethings hœlgh („Ledingsfrieden", d.h. Anspruch auf Unantastbar124 O.Höfler, in: Das Königtum, Lindau und Konstanz 1956, S. 97f. Die Formulierung S. 98, Anm. 83, zeigt, daß Höfler - ähnlich wie Baetke — das Wort heilagr durchweg als sakrale Bezeichnung ansieht und es nicht einmal „gelegentlich . . . auf eine bloß juridische Bedeutung einschränken" möchte. Zu helga ping vgl. auch J.B.Almquist, Om formerna för tingfridens lysning i Sverige under äldre tid. Historiska studier tillägnade Sven Tunberg, 1942, S. 59-81, ferner unten S. 162 f.

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keit innerhalb der Kriegsmannschaft). Die „Heiligkeit" kann unter gewissen Voraussetzungen verlorengehen. Der dann eintretende Zustand der „Unheiligkeit" bedeutet, daß die betreffende Person oder Sache dem Zugriff eines andern ausgesetzt ist, ohne dagegen den natürlichen Rechtsschutz zu genießen, d.h. ohne daß der Angreifer irgendwelche Rechtsfolgen, Schadensersatz oder Strafe, zu tragen hat. Entscheidend ist dabei, daß die „Unheiligkeit" nicht das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit - sei es einer Rechts- oder sei es einer Kultgemeinschaft - betrifft, sondern nur das Verhältnis des Einzelnen zum Einzelnen. Die Unheiligkeit unterscheidet sich insofern grundsätzlich von der Friedlosigkeit: fridlauss ist ein Mann gegenüber allen Rechtsgenossen, das Wort úheilagr aber setzt stets ein fyrir N.N. („gegenüber N.N.") voraus, wodurch diejenige Person angegeben wird, der in diesem Fall das Zugriffsrecht zusteht125. Das gilt auch dort, wo es nicht eigens ausgesprochen wird, und auch dort, wo von Tieren oder Sachen die Rede ist, z.B. GR 49, 25: pa en mander syniar aprum· ranzsakan. pa iru ohailig dur hans oc far enga botfirir („Wenn ein Mann anderen die Haussuchung verweigert, da ist seine Tür unheilig und man empfängt [wenn sie aufgebrochen wird] keine Buße dafür"). Hier gilt die „Unheiligkeit" der Tür natürlich nur für diejenigen, die die Haussuchimg beanspruchen. Dasselbe gilt z. B. auch von den „unheiligen Schweinen" der Grágás : sie sind nicht herrenloses Gut, sondern nur dem Zugriff der Interessenten, der Miteigentümer der Grasweide, ausgesetzt: Eigi seal svin hafa i afrett. okeilag ero pau par („Nicht soll man Schweine haben in der gemeinsamen Grasweide. Unheilig sind sie dort". Grág. II, 487). Das alles spricht gegen Baetkes Vermutung, daß die „Mannheiligkeit" der Ausdruck der Teilhabe an der Heiligkeit einer sakralen Gemeinschaft sei, denn wäre sie dies, so würde die „Unheiligkeit" eines Mannes dessen Ausschluß aus der sakralen Gemeinschaft bedeuten. In Wirklichkeit aber wird man nur „unheilig" gegenüber einer einzelnen Person (bzw. einer einzelnen Gruppe von Personen), aber man bleibt „heilig" gegenüber allen anderen Rechtsgenossen. Die „Immunität" der eigenen Person und ihres Besitzes scheint man, wie angedeutet, als einen natürlichen Anspruch empfunden zu haben, der zwar - zur Zeit der Rechtsbücher - faktisch vom Frieden des Rechtsverbandes geschützt wird, der aber nicht 1 2 5 Den Unterschied zwischen Unheiligkeit und Friedlosigkeit hat am gründlichsten A.Heusler, Strafrecht, S. 113ÉF., 118ff., nachgewiesen.

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von dort her seine Legitimation empfängt, wie B a e t k e meint. E s scheint überdies auch - wie noch an anderer Stelle zu zeigen sein wird - , daß Baetkes Ansicht von der germanischen Friedensvorstellung falsch i s t : die vielzitierte Kultformel (blóta) til árs ok

fridar,

die im Mittelpunkt seiner Argumentation steht 1 2 6 , h a t es jedenfalls, wie W . L a n g e neuerdings gezeigt hat, im Heidentum überhaupt gar nicht gegeben 1 2 7 . D a ß die „Heiligkeit" bzw. „Unheiligkeit" ein Element ist, das eigentlich außerhalb der Regelung des Rechtsverbandes steht, erkennt m a n auch daran, daß die „Unheiligkeit" eines Mannes - im Gegensatz zur Friedlosigkeit - nicht durch Gerichtslirteil, sondern ipso facto eintritt, d . h . : v o m Augenblick der T a t a n wird der T ä t e r gegenüber dem Geschädigten „unheilig", steht in der Gefahr, eine Gegenhandlung des Geschädigten ohne Anspruch auf Entschädigung und B u ß e dulden zu müssen 1 2 8 . Die „Unheiligkeit" ist zunächst gar kein Rechtsfaktum, sondern eine aus dem subjekBaetke, P B B 66, 38ff. Lange, Studien zur christlichen Dichtung 119. 128 Die ipso-facto-Theorie stammt von Baetke, P B B 66, 22ff. Dagegen hatte Heusler, Strafrecht 67. 122f. 236f., gemeint, daß sowohl Friedlosigkeit als auch Unheiligkeit nicht ipso facto, sondern erst durch Urteil einträte. P.E.Wallén, Die Klage gegen den Toten im nordgerm. Recht, Lund 1958, S. 269 ff. 293, hat sich neuerdings wieder der Heuslerschen Ansicht angeschlossen. Bs scheint mir aber, daß Baetke im Recht ist. Als Beweis hat Baetke solche Grágás-Formeln wie verka sér til óhelgi, hleypa sér til óhelgi angeführt. Wallén S. 284 f. wendet ein, daß damit lediglich ein Kausalzusammenhang zwischen Tat und Unheiligkeit angedeutet werden solle. Aber Wallén hätte darauf achten müssen, ob es solche Ausdrücke denn auch in bezug auf Friedlosigkeit und Geldbußen gibt. Da sie zu fehlen scheinen, sind die genannten Ausdrücke also durchaus für Baetkes Theorie verwertbar. Ferner beruft sich Wallén S. 287 f. auf Gui. K. 160 : Nu ef menn synia hanom pinggongu, ßa helga ßeir hann oc eyri Juins, all ßai er er, ßa er sa utlagr er fallen er („Nun wenn die Männer ihm [dem Totschläger] den Zugang zum Thing verweigern, da heiligen sie ihn und sein Vermögen, alles, was er besitzt ; da ist der unheilig, der getötet ist"). Wallén meint, der Umstand, daß der Totschläger grid (freies Geleit) erbitten müsse, um das Thing betreten zu können, sei ein Zeichen dafür, daß der Totschläger jederzeit zum Gegenstand einer Totschlagsklage werden könne, daß der Erschlagene also nicht ipso facto unheilig sei. Gemeint ist m.E., daß der Totschläger selbst gegenüber den Verwandten des Erschlagenen unheilig ist und daß er diesen Zustand dadurch beenden kann, daß er die Unheiligkeit des Erschlagenen erweist. Verweigert man ihm diese Möglichkeit der gerichtlichen Klärung, wird er — nach dem Willen des Gesetzes — ohne gerichtliche Klärung „geheiligt" und die „Unheiligkeit" des Erschlagenen gilt ohne weiteres als bestätigt. Entscheidend für diese Interpretation ist der Passus ßa helga ßeir hann: er zeigt, daß der Totschläger vorher, also doch ipso facto, unheilig gewesen sein muß. 12e

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tiven Empfinden des Geschädigten erhobene Behauptung. Wird sie nicht anerkannt, bedarf es natürlich einer nachträglichen gerichtlichen Klärung, - genausogut wie eine gerichtliche Klärung darüber erforderlich sein kann, ob das Heu, das jemand fortnahm oder das von fremdem Vieh gefressen wurde, ob die Tür, die jemand einschlug usw., für den Täter wirklich unheilig war oder nicht. Sobald man den Rechtsterminus heilagr und die verwandten Bildungen in ihrer g e s a m t e n Verwendungsweise prüft und nicht nur - wie es gewöhnlich geschieht - einzelne Verwendungsweisen willkürlich heraushebt, dann zeigt sich : eine ursprüngliche Beziehung zum religiösen Bereich ist nicht zu erkennen. Selbst die aisl. Formel helga sér landit („sich das Land zuheiligen"), die die Inbesitznahme von Land bezeichnet, ist in Verbindimg mit den gerade im Aisl. geläufigen Formeln wie helga heyet oder helga enget ohne weiteres verständlich: wie man Heu oder Wiese durch Umzäunung als persönlichen Besitz deklariert, so schließt man das neuerworbene Land durch bestimmte Riten in seinen Immunitätsbereich ein. Daß diese Riten z.T. kultischer Art sind129, bedeutet nicht, daß auch die Formel kultsprachlichen Charakter haben muß. Die Ansicht Baetkes, Höflers u.a., daß der Rechtsterminus heilagr eine Abspaltung vom religiösen Terminus heilagr und ein Zeugnis für die religiöse Grundlage des Rechts sei, ist m.E. also nicht zu halten. Der Rechtsterminus ist wohl eine selbständige und sogar ältere Entwicklung aus der Grundbedeutung „ganz, unversehrt, unverletzbar"130. Wie leicht das Wort dann aus dem rechtlichen in den religiösen Bereich hinüberrücken konnte, veranschaulicht eine Strophe Sigvats aus dem Ani2« Vgl. dazu Dag Strömbäck, Att helga landet, Festskr. till A. Hägerström, Uppsala-Stockholm 1928, S. 198ff., ferner W.Lange, Studien zur christl. Dichtung 161 f. 130 G.Must, JEGP 59, 1960, S. 185, meint, es sei das charakteristische Schicksal des Suffix -ga-, daß es von Adjektiven neue Adjektive ableitet, deren Bedeutung der des primären Adjektivs gleicht, z.B. ahd. rihiig = reht, loirdïg = werd, girnïg = gern; deswegen habe *hailag.az sehr wahrscheinlich die gleiche Bedeutung wie *hailaz „gesund, unverletzt, ganz". - A.M.Sturtevant, Scand. Studies 23, 1951, S. 62, glaubt übrigens, die auffällige Suffixform -ag aus dem rechtsterminologischen Gebrauch von heilagr erklären zu können: das Suffix -ag, das allein in diesem Wort die normale Schwächung des Vokals a > e (i) nicht mitgemacht hat, sei durch lag-log „Gesetz" beeinflußt. Sturtevant vergleicht 6 — hei-lagr „unheilig" und út-lagr „geächtet" miteinander. Noch besser wären (frid-)heilagr und útlagr miteinander zu vergleichen, da beide im Anorw. tatsächlich häufig gemeinsam in einer Formel erscheinen.

137 10 von See, Rechtswortschatz

fang des 11. Jhs. (Skj. Β I, 221): Sigvatr sucht auf seiner Ostreise Unterkunft und kommt an ein Haus, in dem gerade ein heidnisches Opfer veranstaltet wird; man weist ihn ab, denn das Haus sei heilagt, d.h. unbetretbar, „tabu" für einen Christen. Auch in der Runeninschrift des Goldrings von Pietroassa deutet sich wohl dieser Übergang an: Gutanïô(pal), wï(p) hailag „Der Goten Eigentum, heiliges Weihtum". Freilich tritt gerade hier auch, wie mir scheint, die eigentliche Bedeutung zutage, denn hailag ist der Ring eben deshalb, weil er ausdrücklich als Gutanï öpal deklariert wird : als „Eigentum der Goten" ist er unantastbar, jedem fremden Zugriff entzogen 131. Die Untersuchung des Wortes heilagr erhärtet also das, was schon oben S. 131 gesagt wurde: Religiöse Elemente spielen in der altnordischen Rechtssprache keine Rolle. 1,1

W . Krause, Rimeninschriften i m älteren F u t h a r k , 1937, 8.594, setzt f ü r hailag allerdings ohne weiteres die Bedeutung „unter göttlichem Schutz stehend" ein. Wesentlich f ü r die Rekonstruktion der Inschrift ist sein Hinweis auf die gleichlautende altnordische Verbindung in den Hyndluljöö Str. 1 : vé heilagt (s. auch oben S. 132), die freilich in der Entwicklungsgeschichte des Wortes heilagr insofern keine große Rolle spielt, als die Hyndluljöö ein ziemlich junges Gedicht sind. T . E . K a r s t e n in: Beiträge zur R u n e n k u n d e u. nord. Sprachwiss., G. Neckel zum 60. Geburtstag, 1938, S. 81, b e r u f t sich, um, die Übersetzimg .sanctus, sacer' (statt unverletzlich') zu rechtfertigen, auf Landnámabók 2, 12 : hét hann βνί at helga por allt landnám sitt. Die Zusammenstellung des Verbs helga mit dem N a m e n Thors beweist aber nichts, denn es handelt sich hier u m nichts weiter als eine spezielle Anwendung der schon besprochenen Formel at helga sêr landit.

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4. RECHT U N D F R I E D E Noch heute gilt die Lehre als herrschend, obwohl sie seit mehr als einem Menschenalter immer wieder angegriffen worden ist: die Lehre, daß die germanischen Völker Friedensverbände gewesen seien, daß - in Waither Merks Worten - ,,das ältere germanische Recht ... eine heilige Ordnung des Friedens" gewesen sei1. Ihr eigentlicher Begründer ist W.E.Wilda. Er formulierte den folgenschweren Satz: ,,Durch die Verletzung des Rechts des Einzelnen war zugleich an ihm der Friede Aller gebrochen worden."2 Das Studium der Grágás schien ihm bestätigen zu können, daß im ältesten germanischen Recht die gebräuchlichste Strafe die „Friedlosigkeit" war, der Ausschluß aus dem Friedensverband. Die großen Rechtshistoriker der beiden folgenden Generationen, Maurer, Lehmann, Amira, Binding u.a., sind dieser Lehre ausnahmslos gefolgt. Den Artikel über Verbrechen findet man in Hoops' RL (1911-18) deshalb unter dem Stichwort „Friedensbruch". Sein Verfasser, Cl. Frh. v. Schwerin, hielt starr an der dort vertretenen Lehre fest, als sich schon allenthalben die Opponenten zu Wort meldeten. Franz Beyerle, der selbst die Friedlosigkeits-Theorie für die südgermanischen Rechte ablehnt, meint, Anhänger dieser Theorie seien „naturgemäß solche Forscher, die ihre Anschauung vornehmlich aus den nordischen Quellen schöpfen"3. Aber die erste Gegenstimme findet sich gerade in einem Werk über skandinavisches Strafrecht, in An1 W.Merk, Festschr. A.Schultze, 1934, S. 466. Vgl. auch J.Gernhuber, Die Landfriedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235, Bonn 1952, S. 4: „Wenn wir die im germanischen Recht erscheinende Wertewelt wie in einem Hohlspiegel zusammenfassen, erweist sich der Friedensgedanke als der das Recht beherrschende schlechthin." H.Planitz, Dt. Rechtsgesch., Graz 1950, S. 27, spricht vom „Volksfrieden" und der „religiösen Pflicht aller Volksgenossen", den Friedlosen zu vernichten, betrachtet den Volksfrieden also als Bestandteil einer Sakralrechtsordnung. R.v.Kienle, Germ. Gemeinschaftsformen, 1939, S. 314, bezeichnet den Frieden als „sakrales Element". 2 W.E.Wilda, Das Strafrecht der Germanen, Halle 1842, S. 226. 3 Fr. Beyerle, Das Entwicklungsproblem im germanischen Rechtsgang I (Deutschrechtl. Beiträge X, 2), 1915, S. 21, Anm. 1.

139 10*

dreas Heuslers „Strafrecht der Isländersagas" (1911): „Das Bewußtsein, daß von Rechts wegen ein Zustand des ,Friedens' herrsche über das ganze Volk hin; daß ein Totschlag, ein Fausthieb, ein Schmähwort diesen allgemeinen ,Frieden' zerreiße...: dieses Bewußtsein war nicht entwickelt", - daher auch „Friede" und „Friedensbruch" in den isl. Quellen als „gewichtige, technische Namen" fehlen4. Das Grágás-Recht entpuppt sich in seiner starken Betonung der Acht-Strafe wohl, wie H. Mitteis meint, als eine „typisch koloniale Rechtsbildung"5, also als eine Ausnahmeerscheinung. Es ist kein Zufall, daß die skandinavischen Rechtshistoriker - P. J. Jorgensen, Poul Gœdeken, Torsten Wennström, Stig Juul, P.E.Wallén - fast ausnahmslos Gegner der Wildaschen „Friedens"-Theorie sind. Die umfassendste Kritik stammt von dem Dänen Poul Gœdeken8 und dem Amerikaner Julius Goebel jr. Beide lehnen die Vorstellung vom allgemeinen „Volksfrieden", vom Rechtsbruch als „Friedensbruch" und vom urzeitlichen Alter der „Friedlosigkeit" ab. Goebel meint, daß das Friedlosigkeitsverfahren im englischen Recht erst zur Normannenzeit ausgebildet wurde, und ähnlich zeigt Gsedeken was vorher schon an einigen Beispielen P. J. Jorgensen gezeigt hatte 8 - , daß die Friedlosigkeit gerade im hochmittelalterlichen skandinavischen Recht an Boden gewinnt und dabei von der Kirche nicht etwa bekämpft, sondern gefördert wird, da ja die geistliche Strafe der Exkommunikation auf dem gleichen Prinzip beruht. Eine Untersuchung der anord. Acht-Terminologie, die im Rahmen der vorhegenden Studien geplant ist und schon auf den folgenden Seiten angedeutet wird, vermag die Lösung dieses Problems hoffentlich etwas zu fördern. Daß die Erkenntnisse der skandinavischen Rechtshistoriker in der deutschen Forschung keinen Anklang fanden, ist nicht zuletzt die Schuld Cl. v. Schwerins, der alle Arbeiten dieser Richtung einer ablehnenden Kritik unterzog und vor allem die Gsedekensche Arbeit um die Anerkennung brachte, die sie verdient®. 4

Heusler, Strafrecht 235. H. Mitteis, ZRG 58, 1938, S. 860 f. • P. Gsedeken, Retsbrudet og Reaktionen derimod i gammeldansk og germansk Ret, Kbhn. 1934. ^ 7 J. Goebel jr., Felony and Misdemeanor. A Study in the History of English Criminal Procedure, Vol. I, New York 1937. $ 8 P. J. Jcrrgensen, Manddrabsforbrydelsen i den skaanske Ret, Kbhn. 1922, S. 34 ff., ders., Festskr. til Kr. Erslev, 1927, S. 45ff. • Cl. v. Schwerin über Heusler ZRG 33, 1912, S. 491-520, über Gsedeken ZRG 57, 1937, S. 493-503, über Wennström ebendt. S. 503-519 (über Wenn6

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W.Baetke hat die Wildasche „Friedens"-Theorie sogar noch weiterentwickelt, indem er zu zeigen sucht, daß fridr in den nordischen Quellen in erster Linie den „gesetzlichen Zustand", die „Rechtsordnung" meine, erst in zweiter Linie - „zuweilen auch" - den Rechtsschutz und die Sicherheit des einzelnen Mannes, daß das persönliche „Haben" des Friedens nur ein „Teilhaben" am allgemeinen Frieden ausdrücke und daß dieser Friede eine heilige Ordnung sei, die „mittels des Kultes immer wieder auf die Volksgemeinschaft herabgezogen werden muß" 10 . Daß sich das altgerm. Rechtsdenken in erster Linie auf die Gesamtordnung und erst mittelbar auf den Einzelnen richtet, hat man erst neuerdings wieder stark betont: „Das Schwergewicht liegt in dieser [germ, und frühma.] Zeit ausschließlich auf der Ordnungsstörung, auf der alle angehenden Gefahr, die in jedem Angriff auf die kosmische Harmonie, in die jeder eingebunden ist, begründet ist... Das Recht dient ausschließlich der reformatio des ordo... Nicht das Interesse des Geschädigten steht im Vordergrund, sondern die Wiederherstellung einer Ordnung in höherem Sinne" 11 . Schon die Wortwahl des Verfassers deutet an, daß hier der germ. Rechtszustand - vorausgesetzt, daß es überhaupt eine gemeingerm. Rechtsvorstellung gegeben hat - mit dem mittelalterlichen deutschen, vom kirchlichen ordo-Gedanken beeinflußten Rechtszustand in eins gesetzt wird. Baetke freilich beruft sich auf die Kultformel (blóta) til árs ok fridar, aber es wurde schon an anderer Stelle gezeigt, daß diese Formel erst in der christlichen Skaldendichtung erscheint (Glsel. 9, Leiö. 11). Schwerer wiegt Baetkes Hinweis auf die Tradition vom sagenhaften dänischen Frodi-Frieden. Aber auch sie kann den institutionellen Charakter des Friedens nicht beweisen. Und der Nerthus-Friede, von dem Tacitus (Germ. c. 40) berichtet, ist doch wohl nur ein örtlich und zeitlich befristeter Festfriede. Daß die Auffassung der Rechtsordnung als Friedensström vgl. auch H.M.Heinrichs, IP 57, 1940, 8. 294). Freilich ist auch das Goebelsche Buch trotz der verständnisvollen Besprechung von H. Mitteis, ZRG 58,1938, S. 856-878, nicht recht populär geworden. Gegen die Annahme eines „umfassenden Stammes- oder Volksfriedens" wandte sich neuerdings vor allem W.Schlesinger, Hist. Zs. 170, 1953, S. 239 = Herrschaft und Staat im Mittelalter, 1956, S. 151 f. 10 W.Baetke, P B B 66, 1942, S. 35ff. B. beruft sich S. 37 ausdrücklich auf Wilda. 11 V. Achter, ZRG 77, 1960, S. 391f. Ähnlich H.Nottarp, Gottesurteilstudien, 1956, S. 17. 141

Ordnung im Norden schwächer entwickelt ist, als man gemeinhin glaubt, zeigt sich unausgesprochen wohl schon in Amiras Worten : „Da das Recht den Frieden gewährleisten will, wird auch .Friede' zu einem Namen des Rechts (altengl.frid = Friede, Friedenszustand, Rechtsordnung; fries, fretho = Friede, Friedensbereich, Gerichtssprengel)"12. Sicherlich hätte gerade Amira auch den anord. fridrBegriff zitiert, wenn seine Verwendung i.S. von „Rechtsordnung" wirklich geläufig gewesen wäre13. In der Rechtsterminologie der gegenwärtigen germ. Sprachen spielt der „Friede" nur noch eine unwesentliche Rolle. Um so reizvoller ist es angesichts der unklaren und widersprüchlichen Forschungslage, den anord. fridr-üegriS, vor allem seine rechtsterminologische Rolle, noch einmal zu untersuchen. *

Das Wort fridr „Friede" gehört zur idg. Wurzel *pri-, mit der im Aind. Wörter der Bedeutungen „heben, sich befreunden; lieb, erwünscht; Gattin, Tochter", in anderen idg. Sprachen Wörter der Bedeutungen „günstig sein; Freund; Liebe;Wille,Wunsch" gebildet werden. Ein to-Abstraktum und überhaupt die Bedeutung „Friede" hat die Wurzel allein im Germanischen hervorgebracht; hier aber ist *fri-pu- in allen Dialekten in ziemlich gleicher Bedeutung überliefert. Aus der Zahl der etymologischen Verwandten innerhalb des Germanischen heben sich hervor: 1. „frei" (*frija-: z.B. got. frets, mid das Kompositum *fri-hals: an. fr jáis), 2. „freien" (z.B. got. 12

Amira-Eckhardt I, 8. 5. Nur nebenbei sei bemerkt, daß der Friedensbegriff häufig durch entstellende Übersetzvingen in die Rechtstexte und dann auch in die wissenschaftliche Literatur gerät. Bin Beispiel: in Gul. 312 heißt es von einem Geächteten, der eine wahre Nachricht über einen bevorstehenden Kriegs18

einfall bringt: ßa er Jiann ilendr. po at Kann vœre adr utlagr. R.Meißner (Germanenr. β, S. 181) übersetzt: „da ist er im Landesfrieden, wenn er auch vorher friedlos war". Zweifellos trifft die Übersetzung den allgemeinen Sinn, aber es erscheint zweimal der Friedensbegriff, von dem der Originaltext nichts weiß. Ähnlich ist es dem Begriff „Sippe" ergangen, der sich in der neueren Forschung immer mehr als Phantom herausgestellt hat. Karl Kroeschell (ZRG 77, I960, S. Iff.) zeigt, daß „Sippe" häufig ganz willkürlich in die Übersetzungen eingefügt worden ist. Als nordisches Beispiel kann ich frcendstœfnœ „Verwandtentreffen" in EsR III, 26 hinzufügen, das Cl. v. Schwerin (Germanenr. 8, S. 118) mit „Sippending" übersetzt und damit nicht nur die „Sippe" fälschlich einführt, sondern sie obendrein noch zu einem förmlichen Rechtsverband macht, indem er ihr Dingversammlungen zuspricht. 142

frijón, an. frjá „lieben") und dazu 3. das substant. Part. „Freund" (got. frijonds usw., eig. „der Liebende", an. frœndi „Verwandter"), schließlich 4. die langvokalischen Bildungen wie got. freidjan „schonen", ahd. vriten „hegen", an. frida „schmücken", wozu auch nhd. „Friedhof", eig. „eingehegtes Grundstück" (as./ñáAo/ „Vorhof" vor dem Herrenhaus), zu stellen ist. Zum Bereich der Rechtssprache gehört nur die erste der vier genannten Gruppen, und da ist es nun auffällig, daß kymr. rhydd, die lautgesetzliche Entsprechung zu germ, „frei", ebenfalls die rechtsterminologische Bedeutung „frei" angenommen hat. Das kymr. rhydd ist außerhalb des Germanischen also der einzige Beitrag, den die Wurzel *pri- zur Rechtssprache geliefert hat. Man schließt daraus eine Entlehnung des germ. Wortes aus dem Keltischen, wie ja auch sonst germ. Rechtsausdrücke aus 'dem Keltischen entlehnt wurden 14 , oder eine gemeinsame germ.kelt. Neuerung 16 . Auf Grund dieser Sammlung hat man die Herkunft des Rechtsbegriffs „Friede" auf zwei verschiedenen Wegen zu finden gesucht: 1. indem man von dem kleinen Kreis der „ V e r w a n d t e n " ausgeht, innerhalb dessen der Einzelne „Schonung, Schutz, Sicherheit" genießt, 2. indem man von der „gegenseitigen Geneigtheit und dem Vertrauen der S t a m m e s g e n o s s e n " ausgeht, den „Frieden" also von vornherein als „Stammes- oder Volksfrieden" interpretiert. Ich bespreche zunächst die zweite Erklärungsmöglichkeit16. Man möchte sie für die unwahrscheinlichere halten, denn nirgend sonst berührt die Wurzel *pri- den Bedeutungsbereich von Volk, Stamm und Rechtsverband. Die Erklärungen sind daher auch häufig etwas verschwommen. Den einzigen philologischen Anhaltspunkt bietet wohl das Wort „frei", wenn man - wie es gewöhnlich geschieht „frei" als Bezeichnung der Volks- und Stammeszugehörigkeit auffaßt: der „Freie" hat Anteil am „Frieden" des Volkes und Rechtsverbandes 17 , er ist „geschützt, gesichert" durch das Volksrecht, da er „rechtsfähig" ist im Gegensatz zum „rechtlosen" Sklaven 18 . Nach " Feist 168. Vgl. auch Hans Kuhn, ZRG 73, I960, S. 81. 16 Porzig, Gliederung 119. " Ihre Vertreter sind W. Schulze, Kl. Schriften, S. 172, Anm. 2, vor allem R. v. Kienle, Germ. Gemeinschaftsformen, 1939, S. 28f., dem Gottfr. Schramm, Namenschatz und Dichtersprache, 1957, S. 64, zustimmt. 17 Nach J. de Vries 143 bedeutet fr jáis : „am Frieden teilhabend". 18 Nach K.v. Amira, Grundr. des germ. Rechts, 3. Aufl., S. 126, bedeutet „frei": „unter Rechtsschutz stehend".

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G.Neckeis Ansicht ist ein solcher Begriff zu abstrakt19. Tatsächlich liegt es nahe, die Grundbedeutung „geschont, geschützt" an konkrete, sichtbare wirtschaftliche Verhältnisse anzuschließen. Neckel verweist auf die sächsischen frilingi („landlose Minderfreie"), mhd. vrîman, vrîwîp („Dienstboten"), eigenvrî „Dienstmann" u.a. und schließt daraus, „daß das Wort ursprünglich auf abhängige Leute geht" und „ein Begriff der häuslichen Sphäre war". Überhaupt hat man neuerdings herausgefunden, daß es „die fabelhaften Gemeinfreien der Lehrbücher" und eine „allgemeine Wehrpflicht aller Freien" gar nicht gegeben habe: die fränkischen liberi sind nach H. Dannenbauers Untersuchung Kolonisten auf Königsland, „dem König zu Zins und Dienstleistungen aller Art verpflichtet..., vor allem zum Heeresdienst"20. K.Bosl hat die Königs- und Herzogsfreiheit, die Rodungsfreiheit und Stadtfreiheit im größeren Rahmen untersucht und eigens darauf hingewiesen, daß „germanische Freiheit' ... der Beherrschung und Unterstellung unter eine Schutzherrschaft" nahesteht 21 . Aber es gibt daneben noch eine andere Gruppe von liberi, die „Voll- und Altfreien", wie man sie in der Forschung nennt 22 . Das Wort „frei" wird also schon sehr früh auch die Bedeutung „geschützt vor etwas, unabhängig" entwickelt haben 23 . Im Altnordischen sind frjáls „frei" und freisi „Freiheit" mehrdeutige, schillernde Wörter. Die Bedeutung „frei" im ständerechtlichen Sinne ist überall gut belegt, und ausdrücklich erscheint dabei mehrfach der Gegensatzbegriff prœll „Knecht". Allerdings erscheint frjálsjfrelsi immer nur in bezug auf spezielle Verhältnisse. Als Be" G. Neckel, Adel und Gefolgschaft, P B B 41, 1916, wiederabgedruckt in: Vom Germanentum, Leipzig 1944, S. 139-186, über „frei" 8. 155-160. 20 H. Dannenbauer, Die Freien im karolingischen Heer, in : Aus Verfassungs- u. Landesgesch., Festschr. Th. Mayer, 1954, Bd. I, S. 49-64, bes. 55. Der Ausdruck „Gemeinfreier" ist von Heinrich Brunner aufgebracht worden (V.Schwerin, Hist. Zs. 154, 1936, 8. 610). 21 K.Bosl, Freiheit und Unfreiheit. Zur Entwicklung der Unterschichten in Deutschland und Frankreich während des Mittelalters, Vierteljahrsschrift f. Soz.- u. Wirtschaftsgesch. 44, 1957, 8. 193-219, bes. 199. Vgl. auch A.Waas, Die alte deutsche Freiheit, 1939; K.Bosl, Die alte deutsche Freiheit, Unser Geschichtsbild 2, 1955, S. 5-20. 22 K.Bosl, Vierteljahrsschr. f. Soz.- u. Wirtschaftsgesch. 44, 1957, S. 205f. 28 Sicher ist auf jeden Fall, daß „autonom, unabhängig" nicht der ursprüngliche Sinn sein kann. An dem Irrtum, daß „Freiheit im natürlichen, überkommenen Sinne (der auch der sprachliche und logische Sinn ist)" gleichbedeutend mit „Autonomie" sei, leiden die Einwände, die der Berner Rechtshistoriker Peter Liver, ZRG 76, 1959, 8. 369-378, gegen die „neue", von Theodor Mayer begründete „Freiheitslehre" vorbringt.

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Zeichnung des Stammes- oder Rechtsgenossen überhaupt wird frjáls nicht verwendet. In dieser Hinsicht spielt das Wort in der rechtshistorischen Forschung eine größere Rolle als in den Quellen. Eine Bezeichnung wie „Ding der Freien" oder „die Freien" i.S. von „Gesamtheit der Rechtsgenossen" o.a. fehlt 24 . Statt dessen heißt es aldra göta ping (VGR I Rsetl. 1) o.ä. Werden die Rechtsgenossen nicht unter ihrem Stammesnamen zusammengefaßt, heißen sie meist bœndr oder lögunautar usw. Daher kommt es wohl auch, daß frjáls, freisi, freisa in der Skaldendichtung so auffällig selten sind und fast nur in jüngeren, meist christlichen Gedichten vorkommen. Auch solche Bezeichnungen wie aengl. folcfry („volksfrei, Staatsbürgerrecht genießend", Liebermann 72), freoriht („volles Staatsbürgerrecht", Liebermann 81. 407) fehlen im Norden. Der Ausdruck mannfrelsi, der eine gewisse Ähnlichkeit mit mannhelgi hat, kommt nur im Anorw. und auch dort nur ganz selten vor (Gul. 129, Frost. III, 19, Jons Christenrecht 59)2S. Gelegentlich bedeutet frjáls auch „frei von etwas" (von Steuern, Dienstleistungen usw.), z.B. frialsir af leidangri („frei von der Ledingssteuer", NGL II, 472) oder : skal huerr prestr ... peer aliar frialsar hafa. ok nyt af at taka („jeder Priester soll... sie [die Kühe, die zu einer Kirche gehören] alle frei [d. h. ohne Mietabgabe] haben und die Milchleistung davon ziehen", Statut von 1320, NGL III, 262). In ähnlicher Bedeutung erscheint gelegentlich das Substantiv freisi, z.B. im Brief des Erzbischofs von Nidaros vom 9. März 1291 (ND Nr. 28) : takande af henni sua hennar frœlsi („ihr [der Kirche] ihre Privilegien entziehend"), oder im Krönungseid König Eiriks von 1280 (ND Nr. 19) : malasque leges et consuetudines peruersas precipue contra ecclesiasticam libertatem facientes / rong log ok illar sidueniur einkonlega peer, serri mote, ero hœilagrar kirkiu frœlsi, oder in einem Brief König Hakons vom 22. Juni 1300 (ND Nr. 74): Gefom ver pœim petta frœlsi i fyrsagdum tuftum, at pœir skulu vera lidugir af lœidangre oc oïlorn toïlom... („Wir geben ihnen das Privileg für die vorgenannten Hausplätze, daß sie frei sein sollen vom Leding und allen Zöllen..."). Diese Verwendungsweise „frei von etwas", „Privi24 Als Ausnahme mag Frost. IV, 5 gelten: Svd er oc mœllt at friálser menti sculu aller friôhelgar at heimile sino. In Landsl. IV, 18, 2 lautet die Entsprechung schlichtweg: Aller menn skolufridhœllgir vera i Jieimili sinu. 25 Κ. v. Amira, Grundr. S. 126, vergleicht freisi mit mannhelgi (ohne allerdings die obigen Belege zu nennen). M.B. fruchtet der Vergleich nichts.

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leg" ist im Norden naturgemäß meist jung und gar nicht einmal häufig, obwohl man sie - jedenfalls soweit es den deutschen Sprachbereich betrifft - für typisch mittelalterlich hält 26 . Mehrfach ist sogar frjáls/frœls i. S. von wirtschaftlicher Unabhängigkeit, freier Verfügungsgewalt schlechthin gemeint, z.B. in SR 76: fia pykkiœs han ey wœrœ frœls yuir sinu eghnœ („da scheint er nicht freie Verfügungsgewalt über sein Eigentum zu haben"), oder in JR I, 32, wo es vom Fletfahrer, dem Altenteiler heißt : tha mughœ the dœlœ hanum til hans eghœnfrœlsœ. œth til thœm siœlf („da mögen sie [seine Erben] ihm gerichtlich seine Unabhängigkeit zurückverschaffen oder ihn in ihre Obhut einweisen lassen"). Ziemlich selten nur taucht die Bedeutung „geschont, geschützt, gesichert" auf, die mit der schon genannten Bedeutung „frei von etwas" eng zusammenhängt, der Grundbedeutung (d.h. den sonstigen Wörtern der jjn-Sippe) aber noch etwas näher steht. Sie kommt klar zum Ausdruck in VsR 143: Einem armen, unvermögenden Mann, dessen Frau beim Ehebruch ertappt wurde, wird der Weg der gerichtlichen Klage gegen den Ehebrecher geöffnet, obwohl in einem solchen Fall die Blutrache der gewöhnliche Weg der Genugtuung ist. Das Gesetz begründet die Verfügung mit den Worten : for thœt sighœ wi swa at horkarlœn warœ œllœr of frœls with thœn man. œr cey haucerfult mœyœn at hœfnœ sek („denn dies sagen wir deshalb, weil der Ehebrecher sonst zu geschützt wäre gegenüber dem Manne, der nicht die Macht hat, sich zu rächen"). Im Anorw. ist freisi in dieser Bedeutung typisch für den Formelbestand einer ganz jungen Quellengruppe, nämlich einiger Rechtsbesserungen um 1300. In der Rechtsbess. von 1293 (NGL III, 20) heißt es: su sœct ... er skipad godom mannum ok lutvandum till frialsis. en vondom ok hceimskum tili vidcersionar („die Strafe... ist eingeführt den guten und wackeren Männern zum Schutz, aber den bösen und schlechten zur Warnung"), in der Rechtsbess. von 1297 (NGL III, 30) : Nu af pui ver hafum pessar rettarbœtr gefit ollum monnurn godurn til frelsis ok hugannar... („Nun da wir diese Rechtsbesserung allen guten Männern zu Schutz und Tröstung gegeben haben..."), in der Rechtsbess. von 1303 26 Hans Fehr, Zur Lehre vom mittelalterlichen Freiheitsbegriff, MÖIG 47, 1933, S. 290ff., bes. S. 291: „.Frei sein' heißt im Mittelalter: Frei sein von etwas, frei sein von irgendeiner Verpflichtung, von irgendeiner Belastung. Freiheit im Sinne einer vollkommenen Freiheit ist weit seltener als Freiheit nach irgendeiner Richtung."

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(NGL III, 62) : pesse var bodskapr ... sem var havom skipat godom monnum tilfrialses ok vlydnum till refstar („diese unsere Botschaft, ... die wir den guten Männern zum Schutz und den ungehorsamen zur Strafe erlassen haben"). Man könnte meinen - und so deutet auch Hertzberg 207 - , es sei hier die Freiheit schlechthin, die Unabhängigkeit, Bewegungs- und Verfügungsfreiheit gemeint. Aber die Parallel- bzw. Oppositionsbegriffe „Tröstung, Stärkung" bzw. „Warnung, Strafe" deuten doch darauf hin, daß „der Rechtsschutz, die durch die Staatsordnung gewährleistete Sicherheit" gemeint ist (also eine Bedeutung, die der von K. v. Amira angenommenen Grundbedeutung von „frei" ziemlich genau entspricht) 27 . In diesem Zusammenhang tritt nun auch das Wort fridr in Verbindung mit freisi, so im Statut des Erzbischofs Jon 1280, NGL III, 229 : at lœrdir menti... eigu i fullkomnum fridi ok freisi gudi at piona („daß Geistliche ... in vollkommenem Frieden und Rechtsschutz ihre Gottesdienstpflichten auszuüben haben"), im Schutzbrief König Eiriks und Herzog Hakons für Domkirche und Domkapitel zu Nidaros von 1283 (ND Nr. 20) : Mœdr put at oss hœyrir at styrkia alla menn j landeno. til fridar oc frialsis. ok sinna rettynda („insofern, als es uns zukommt, allen Menschen im Lande zu Frieden und Freiheit und ihren Gerechtsamen zu verhelfen") 28 , ferner in der Rechtsbess. für Bergen um 1344 (NGL III, 164), wo den ausländischen Kaufleuten und Handwerkern angeraten wird, die Stadt zu verlassen vnnder theira fridt och frelssa ( ! ) („auf die Gefahr hin, ihren Frieden und ihre Freiheit einzubüßen"). In beiden Belegen meint freisi m. E. die Bewegungsfreiheit unter dem Schutz der Rechtsordnung (im zweiten Beleg vielleicht allerdings auch die Freiheit im Gegensatz zur Gefängnishaft). Etwas früher, aber nur als Einzelfall begegnet die Verknüpfung von „Friede" und „Freiheit" in Frost. IV, 43 : efmadr gellder mannfriálsan oc fridheilagan („wenn jd. einen freien und friedheiligen Mann entmannt"). In der Parallel27 Hierher gehört vielleicht auch der Wortgebrauch der Lilja, eines christlichen Gedichts aus dem 13. Jh., in dessen Str. 12 es von Adam heißt: alls í heími átti rád med freisi ok nádum („über alles in der Welt hatte er Gewalt mit .Freiheit' und Gnade", Skj. Β II, 393). 28 Man beachte, daß die Formel styrkia til fridar oc frialsis ok sinna rettynda gewöhnlich in der kürzeren Form styrkia til laga ok rettynda erscheint (ND Nr. 31. 34): lög „Gesetz" ist also die Entsprechung von fridr ok frialsi. Damit wird, wie mir scheint, bestätigt, daß frialsi so viel wie „Rechtsschutz" bedeutet.

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stelle Landsl. IV, 3, 4 fehlen beide Adjektive. Sonst begegnet die Verknüpfung nur noch im Aschwed., und zwar in den Ausdrücken fripœtta und fripviter, in denen das Kompositionsglied frip- (zu friper) faktisch nicht - wie gewöhnlich - „Friede", sondern „Freiheit" bedeutet: fripœtta, adj. indecl. „von freiem Geschlecht", fripviter adj.,' „frei" (eig. „als frei bekannt"). Die Verbindung lautet durchweg frœls ok fripœtta, frœlsir ok fripvitir u.ä. Auch die Verbverbindung fripa okfrœlsa ist nur schwedisch (SMR, MELR). Diese Belege gehören einer späten Entwicklungsstufe an und sind aus einer spezifisch schwedischen Verwendung des Wortes friper hervorgegangen. Ich komme in den folgenden Seiten noch darauf zurück. Auch die anorw. Belege mit der Koppelung von fridr und freisi sind, wie gezeigt, spät und ganz vereinzelt. In den Landschaftsrechten (Frost., Gul.) bedeutet freisi ausschließlich die Freiheit im Gegensatz zur Knechtschaft. Die Vorstellung, daß das Wesen des „Freien" darin besteht, daß er am Volksfrieden teilhat und unter dem Schutz der Rechtsordnung steht, taucht im Anord. expresáis verbis also erst verhältnismäßig spät auf. Sie scheint auch - darin möchte ich G.Neckel Recht geben - als Grundbedeutung des Wortes „frei" eine etwas zu abstrakte Vorstellung zu sein. Vielleicht stammt „frei" also doch aus kleineren Verhältnissen, aus der „häuslichen Sphäre". Ein entscheidendes Indiz hierfür sehe ich in der merkwürdigen (Bahuvrihi-) Bildung *fri-hals, die ja u.a. dem got. Wort freihals und den anord. Wörtern fr jáis und freisi zugrundeliegt : neben dem Sklaven, an dem der Dienstherr ohne weiteres die Leibesstrafe, vor allem das Köpfen (anord. halshçggva), vollziehen durfte, ist der freie Hausmann der „Schonhals", der sich den Schutz vor Leibesstrafen im Dienstvertrag ausbedungen haben mag 29 . Hier, im engen wirtschaftlichen Bereich der Hausgemeinschaft, war die Unterscheidung von „frei" und „knechtisch" auch ein wirkliches Erfordernis, während es doch 29 Neckel, Vom Germanentum 158. Eine merkwürdige Theorie entwickelt Fritz Mezger, Zur Frühgeschichte von Freiheit und Frieden, in : Fragen und Forschungen, Festgabe für Th. Frings, 1956, S. 12-24. Er lehnt - m. E . zu Recht - eine Beziehung von „frei" zum Stammesverband ab. Problematisch ist aber wohl sein Versuch, „frei" mit der Verwandtschaft zu verknüpfen: „eigen" (8. 13), dann „zur eigenen Sippe oder Familie gehörig" (S. 19). *Frihals deutet er als „den eigenen Hals habend" und weist das Wort absonderlicherweise „in den Bereich der Rachehandlung" (S. 16). Mit dem Fehdewesen verbindet er auch das Wort ahd. frituam „arbitrium", das er mit „Eigenurteil" übersetzt und mit an. sjàlfdœmi „Selbsturteil im Vergleichs-

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recht merkwürdig erscheint, daß die Dinggenossen eines Stammesverbandes sich sollten „frei" genannt haben, um sich von ihren Knechten zu unterscheiden. Die Richtigkeit dieser Deutung wird bestätigt durch die mhd. Ausdrücke vrîman, vrîwîp u. ä., die ja nicht den „freien Mann" bzw. die „freie Frau" schlechthin bezeichnen, sondern den nicht leibeigenen, aber abhängigen Knecht (bzw. die Magd). Übrigens liefert die lateinische Sprache hierzu eine merkwürdige Parallele: Das Wort liberi, eigentlich „die Freien", nimmt die Sonderbedeutung „Kinder" an, da die Kinder des Hausherrn innerhalb der Hausgenossenschaft gegenüber den servi die Freigeborenen sind. Zwar ist die Bedeutungsentwicklung von liber, wie man sieht, gänzlich anders als die von freihals ¡frei, aber sie zeigt doch, daß der Gegensatz von frei und unfrei gerade im engen Bereich der Hausgenossenschaft besonders deutlich zum Vorschein kam. Erst allmählich wird im Germanischen „frei/Freiheit" zu einem förmlichen ständerechtlichen Begriff und meint dann „frei, unabhängig" schlechthin, ohne auf einen Verwandtschaftsverband oder eine Stammesgemeinschaft bezogen zu sein. Erst spät und dann nur gelegentlich scheint es - mitunter verbunden mit dem Begriff der rechtlichen Friedensordnung - so etwas wie „Staatsbürgerrecht" bedeuten zu wollen30. Die einzige Brücke, die eine Verbindung zwischen dem „Friedens"Begrifif und der Vorstellung von Volk, Stamm und Rechtsverband hätte herstellen können, erweist sich also als ziemlich schwach. Auf einer zuverlässigeren Grundlage ruht die erste Erklärung von verfahren" zusammenstellt (S. 17). Frïiuam heißt aber wohl nichts weiter als „Urteil nach freiem Gutdünken" und hat mit frïhals unmittelbar nichts zu tun. 30 Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, daß der Gegensatzbegriff „Unfreier" - wie Heusler sagt (Germanenrechte 9, S. XXVIII) - ein modernes „Studierstubenwort" ist und in den anord. Quellen ganz ungeläufig: der einzige anorw. Beleg in Eids. I, 48 ist umstritten und úfrélsa in NGL III, 231 bedeutet „Abgaben auferlegen", gehört also in einen andern Zusammenhang. Die alten Ausdrücke für „Knecht, Sklave" wie anord. prœll, -¡>èr (got. lnue), skalkr beziehen sich auf die Arbeitstätigkeit („der läuft, zieht oder schleppt"); auch anord. ànauôigr, adj. „in Knechtschaft befindlich" meint änaud „Not, Drangsal" nicht i. S. von „Zwang, Unfreiheit", sondern i. S. von harter Arbeit (idg.Wz. *näu- „bis zur Erschöpfung abquälen"). Das Moment der rechtlichen Schutzlosigkeit wird in diesen Ausdrücken also nicht angesprochen. Vgl. auch allgemein K.Brugmann, Zu den Benennungen der Personen des dienenden Standes in den idg. Sprachen, IP 19, 1906, S. 377 bis 391.

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„Friede", die von dem Bedeutungsbereich der „Verwandtschaft" ausgeht : Alle Bedeutungen, die die idg. *pn-Sippe hervorgebracht hat, scheinen ja von vornherein darauf hinzuweisen, daß auch der „Friede" ursprünglich das Verhältnis innerhalb eines nicht allzu großen Personenkreises bezeichnete. V.Gronbech, der dem „Frieden" ein langes Kapitel seines Buches „Kultur und Religion der Germanen" widmet, beruft sich auf die etymologische Beziehung von fridr und frœndi und identifiziert den „Frieden" mit dem „Verwandtschaftsgefühl" 31 . An einen noch engeren Bereich denkt Fritz Mezger, der an aind. priyá- „Geliebter, Gatte", aisl. Frigg „Gattin Odins", mnd. vrien „freien, zur Ehe nehmen" usw. erinnert und das Wort *fripuz zunächst auf „das Zusammenleben der Ehegatten mit seinem Schutz für die Frau", dann weiter auf „den Frieden innerhalb der Familie" bezieht 32 . Beide - am ausdrücklichsten Fr. Mezger - denken dabei an einen „Verwandtschaftsfrieden" im rechtlichen Sinne. Und beide berufen sich auf *sibjö, an. sif „Sippe", das - wie sie meinen - eine parallele Entwicklung aus dem Bedeutungsbereich der „Verwandtschaft" zur Bedeutung „Friede" durchgemacht habe. R. v. Kienle aber zieht gerade aus dem Nebeneinander von *fridu- und *sibjö den Schluß, daß *fridu- n i c h t den Verwandtschaftsfrieden bezeichnet habe, sondern daß diese Bedeutung eben dem Wort *sibjö vorbehalten gewesen sei : *fridu- sei ursprünglich der Stammesfriede, *sibjö der Verwandtschaftsfriede33. Die Theorie des Sprachhistorikers R. v. Kienle berührt sich insofern mit der Theorie des Rechtshistorikers J.Gernhuber, der von einem „altgermanischen dualistischen Friedensaufbau" spricht: Volksfriede und Sippenfriede „ergänzen sich und machen in ihrer Verbindung die Realisierung der gesamten Rechtsordnung aus" 3 4 . Nun hat aber *sibjö ursprünglich wahrscheinlich gar nicht „Verwandtschaft" bedeutet. Auch die außergerm. Entsprechungen des Wortes verraten keine Beziehung zum Bedeutungsbereich der Verwandtschaft : russ. sjabrï „Nachbar", sebrü „freier Bauer", lit. sëbras, lett. sebrs „Freund, Kamerad" ( J . deVries473). Eine große Rolle spielt in *sibjö zunächst die Bedeutung „Versöhnungs-, Einigungs-, Ver81 Bd. I, S. 33-73, bes. S. 68. S.Ü.Palme, Kulturhist. Leks. IV, 1959, Sp. 621, verweist außerdem noch auf die Formel dr ok fridr und die Stellung der Sippenältesten als Träger eines sippegebundenen Kultes. 32 Fr. Mezger, Festgabe für Th. Frings, 1956, S. 21. 38 R . v . Kienle, Gemeinschaftsformen 28 ff. 84 J.Gernhuber, Landfriedensbewegung, 1952, S. 20 und 6.

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tragsverhältnis" ; sie bezieht sich allerdings meist auf Nachbars- und Schwagerschaftsverhältnisse, so in got. suniwe sibja „Annahme an Sohnesstatt, Adoptionsvertrag" oder in an. búsifiar „Nachbarschaftsverhältnis"35. Got. unsibjis „ungesetzlich, übeltäterisch (geächtet)" verrät aber möglicherweise sogar eine Beziehung zum völkischen Rechtsverband, und in die gleiche Richtung weist der Völkername Semnones (germ. *Sebnanez, zu *sebno, einer Nebenform von *sibjö, „Angehörige eines Vertrags-, Friedensverbandes" ?). Erst allmählich hat sich sibb/sif usw. auf „Verschwägerung" und dann auf „Verwandtschaft" überhaupt verengt. Einen „Verwandtschaftsfrieden" mit der Bezeichnung *sibjö hat es ursprünglich also nicht gegeben. Es gibt auch keine Quellenbelege dafür, daß der Ausdruck fridr jemals auf Familie und Verwandtschaft bezogen worden ist. Die beiden Wortstämme frœndi und fridr haben ganz selbständige Entwicklungen durchgemacht und zumal im Anord. ist die alte etymologische Beziehung zwischen ihnen nicht mehr empfunden worden36. Ohnehin hat die rechtshistorische Forschung herausgefunden, daß es die Sippe als „rechtlich gestalteten, scharf umgrenzten Verband" überhaupt nicht gegeben hat 37 . Sehr verlockend ist es, statt dessen von einem Frieden der Hausgemeinschaft auszugehen. Die rechtsgeschichtliche Bedeutung der s5 Vgl. dazu H a n s K u h n , Philologisches zur Adoption bei den Germanen» ZRG 65, 1947, S. 1-14, bes. 7ff.; F r . Mezger, Word 4, 1948, S. 98ff.; ders., Festgabe f ü r Th. Frings, S. 20. Zur Etymologie vgl. auch H j . Frisk, Griech. etym. Wb. I, 448, s. εϋνος, das vielleicht ebenso wie got. sibja usw. auf das Reflexivum *s(u)e zurückgeführt werden k a n n u n d ebenfalls keine Beziehung zur Verwandtschaft h a t . •· Dagegen gibt es im Aengl. die stabreimende Formel freo do ondfrêond-

scipe, z.B. Gen. 1760. " F . Genzmer, Die germ. Sippe als Rechtsgebilde, ZRG 67, 1950, S. 34-49, dazu K . H a f f , ZRG 70, 1953, 8. 320-325, vor allem K.Kroeschell, Die Sippe im germ. Recht, ZRG 77, 1960, S. 1-25, bes. 15 ff. Auf der älteren Ansicht verharrt K . S . B a d e r , i n : Herrschaft u n d S t a a t im Mittelalter, D a r m s t a d t 1956, S. 246. 250 („sippenmäßig gebundene Gerichtsverbände"). F r . Mezger bekennt sich zwar zur Genzmerschen Theorie, schreibt aber, „friedlos" sei „der, der nicht mehr dem Schutze dieser [Verwandtschafts-]Gruppe angehört" (Festgabe f ü r Th.Frings, S. 21 mit Anm. 4, und S. 12), setzt also doch einen rechtlich gestaltetenVerwandtschaftsverband voraus. Auch H.Mitteis, ZRG 58, 1938, S. 864, deutet die „Friedlosigkeit" in ihrer älteren F o r m als „Verlust des Sippefriedens", als „Zwangsentsippung". Wie wenig eine solche Ansicht mit den Verhältnissen des praktischen Lebens übereinstimmt, zeigt schon A.Heusler, Zum isl. Fehdewesen in der Sturlungenzeit, Abh. der Kgl. Preuß. Akad. 1912, Berlin 1912, S. 25.

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Hausgemeinschaft wird ja neuerdings stark betont38. W.Schulze wies einmal darauf hin, daß slaw. gojb „Friede" gleich aind. gaya „Haus, Hof, Hauswesen" sei, und zog daraus den Schluß : ,,,Friede' galt ursprünglich nirgendwo als im engsten Kreise"39. Es gibt aber keine sicheren Anhaltspunkte dafür, daß germ. *fripu- einmal mit der Hausgemeinschaft verbunden gewesen ist. Allenfalls könnte man auf die obige Erörterung des Wortes „frei" hinweisen. Angesichts dieses unsicheren etymologischen Materials ist es also nicht möglich und m. E. auch keineswegs notwendig, *fripu- auf den Zustand irgendeines Verbandes - sei es der Hausgemeinschaft, sei es einer Verwandtschaftsgruppe, sei es einer völkischen Gemeinschaft - zu beziehen. Wahrscheinlich hat *fripu- zunächst ganz allgemein das Verhältnis der Liebe und Freundschaft, der Schonung, des Schutzes und der Sicherheit bezeichnet, in dem sich der Einzelne zum Andern oder zu Anderen befindet. Nichts steht der Vermutung im Wege - obwohl es gelegentlich ausdrücklich bestritten wird, z.B. von Wilhelm Schulze40 - , daß *fripu- von Anfang an auch „auf die zwischenstaatlichen Beziehungen gehen" kann (etwa auf das Verhältnis zweier Könige zueinander) und sich wenigstens in dieser Hinsicht nicht von lat. pax und gr. ειρήνη unterscheidet41. Ich nenne hier gleich ein Beispiel, Aris ísl. Κ. 7, 14 (Anf. des 12. Jhs.): ... conungar yr Norvege oc tfr Danmorco hofpo haft of rip oc orrostor ά mipie sin langa tip, til pess unz lanzmenn gorPo frip á miple peira, pótt peir villde eige („... die Könige von Norwegen und von Dänemark haben lange Zeit Unfrieden und Kämpfe miteinander gehabt, bis Männer aus beiden Ländern [lanzmenn .Leute des Landes'] Frieden zwischen ihnen machten, obwohl sie nicht wollten"). Ebenso wie fridr die Abwesenheit des Krieges zwischen zwei Völkern meinen kann, ist 88

Vgl. K.Bosl, Die alte deutsche Freiheit, Unser Geschichtsbild 2, 1955, S. 5-20, bes. 8 („Hausherrschaft ist die Wiege staatlicher Entwicklung"), W.Schlesinger in: Herrschaft u. Staat im MA., 1956, S. 140ff., 151f. (großbäuerliches Gesinde als Wurzel des Gefolgschaftswesens), Hans Kuhn, ZRG 73, 1956, S. 2 (in der Fehde konnte auf Island die Hausgemeinschaft mehr bedeuten als die Verwandtschaft), K.Kroeschell, ZRG 77, 1960, S. 25. Die Arbeit von E. Osenbrtiggen, Der Hausfrieden, Erlangen 1857, war mir bisher nicht zugänglich. 89 W.Schulze, Kl. Schriften, S. 201, Anm. 1. 40 W.Schulze, Kl. Schriften, S. 172, Anm. 2. 41 Vgl. Fr. Klingner, Rom. Geisteswelt, 4. Aufl. 1961, S. 600, und dort Verweis auf Harald Fuchs, Augustin und der antike Friedensgedanke, 1926, S. 182ff.

152

úfridr im Anord. der geläufige Ausdruck für „Krieg". Erst allmählich begann die Rolle zu wachsen, die *fripu- im Rechtswortschatz einnimmt, bis das Wort schließlich das bezeichnete, was man gewöhnlich an den Anfang der Entwicklung zu setzen pflegt: den Zustand der inneren Friedensordnung, den rechtlichen Volks- und Landesfrieden. Im Gotischen wird die Bedeutung „Friede" (ειρήνη) durch gawairpi wiedergegeben, das K.Brugmann mit aind. samvart- „sich zusammentun" vergleicht42. Ob das Wort einen rechtlichen Friedenszustand bezeichnen konnte, wissen wir nicht; jedenfalls gehört die ahd. Entsprechung giwurt „Wohlgefallen" nicht in diesen Bereich. Erst recht unbrauchbar als Bezeichnung von ειρήνη scheint damals noch im Got. das Wort *fripus gewesen zu sein, das Ulfila nie verwendet, obwohl es, wie der Name Fripareikeis andeutet, wahrscheinlich bekannt war. Mit alledem ist natürlich nichts über die allgemeine Einstellung der Germanen zu Krieg und Frieden gesagt. Das Ari-Zitat ist zwar ein interessantes Zeugnis dafür, daß sich im Frühmittelalter - in einer Zeit, in der sich die Aufgaben des Königtums zu wandeln begannen - der kriegerische Eifer der Könige geradezu in einen Gegensatz zum Friedensbedürfnis des Volkes, des „Landes" setzen konnte. Diese Abneigung gegen allzu langwierige kriegerische Auseinandersetzungen ist aber nicht identisch mit der juristischen, verfassungspolitischen Vorstellung des Landesfriedens, mit der Vorstellung, daß ein Rechtsbruch am Einzelnen zugleich ein Friedensbruch an Allen sei und daß derjenige, der den Frieden nicht achtet, aus der Friedensgemeinschaft ausgeschlossen werde. *

Die älteste, ganz und gar außerjuristische Stufe der Bedeutungsentwicklung ist im Anord. noch gut belegt. In Hávamál Str. 90, 1 meint fridr kvenna die „Liebe der Frauen" und ist hier wohl gleichbedeutend mit ást in Str. 92, 3 und munr in Str. 94, 6 u. a. In Hávm. Str. 51, die von der Zuneigung unter Freunden handelt, wird fridr mit vinskapr identifiziert. In seinem Bedeutungswert mehr versachlicht, aber immer noch außerhalb des juristischen Bereichs steht fridr dort, wo es „Schonung, persönliche Ruhe und Sicherheit" meint, in der skaldischen Terminologie häufig als Gegensatz von 42

K.Brugmann, Ειρήνη, Verh. der Sachs. Ges. d. Wiss. 68, 3, 1916, 8. 13. Vgl. aber auch Fr. Kauffinann, I F 31, 1912/13, 8. 321 f.

153 11 von See, Bechtswortschatz

Kampfesmühen, Verwundung und Tod, z.B. Skj. Β I, 265: sár fehle ek ... ok frid litinn („Wunden empfing ich ... und wenig Ruhe"), oder Skj. Β I, 91 : . . . at geefim gridbitum frid litinn (,,... daß wir den Vertragsbrechern wenig Schonung zuteil werden ließen"). Den Beginn eines Kampfgetiimmels beschreibt Sigvatr (Skj. Β I, 214) mit den Worten : friSr gekk sundr i Sudrvík. Einem strengen terminologischen Gebrauch näher steht die stabende Wendung gefafiándom frid („den Feinden freien Abzug gewähren"), z.B. Hávm. Str. 127, 7 oder H H v Str. 34, 7/8, auch fridar bidja „um Schonung, u m Beendigung des Kampfes, u m Waffenstillstand bitten", z.B. Haustlçng Str. 8, 8 (Skj. Β I, 16): Loki gerät gegenüber dem Riesen Jajazi in solche Bedrängnis, daß er „um Schonung bitten m u ß " (varò ... fridar bidja). I n Grettis ^ v i k v i ö a Str. 7/8 (Skj. Β I, 288) heißt es von jDorbjorg: es mik gœddi frid („die mir das Leben schenkte") 4 3 . Ähnliches ist in der Strophe des Jaórarinn svarti (Skj. I, 108) gemeint : Grdtande

rann geeter

geirastigs

fra

vige,

par vasat grimo góp van fri par

geyme honom

(„Weinend lief der Krieger fort vom Kampf, nicht hatte er gute Hoffnung darauf, daß er mit dem Leben davonkommen würde"). I n der Bedeutung „Schonung, Schutz vor Zugriff" kann fridr auch in bezug auf Tiere, Pflanzen und tote Gegenstände verwendet werden. Hierher gehört die Fürstenkenning Skj. Β I, 274: randa fridskerdir („der den Schilden die Rühe vermindert"). I n Sigvats Bersçglisvisur Str. 5 (Skj. Β I, 235) heißt es: ... af pvit eignum lofda / Áláfar frid gófu („denn die Olafe gaben dem Grundeigentum der Männer .Frieden'"). W.Baetke 4 4 zitiert den Beleg als Beispiel f ü r die Bedeutimg „gesetzlicher Zustand, Rechtsordnung". Er weist darauf hin, daß in der zweiten Halbstrophe die Wendung lei haldask ...Içg („ließ[en] das Gesetz gehalten werden") erscheint. Aber lata ist m . E . periphrastisch aufzufassen: „sie hielten das Gesetz". Die erste Halbstrophe meint offensichtlich : sie selbst, die Könige, tasteten das Grundeigentum der Bauern nicht an (vgl. Str. 14, Skj. Β I , 43

Vgl. Grettis saga Κ. 52, 17 ff. Daß die Strophe wahrscheinlich, unecht ist, spielt hier keine Bolle. " Baetke, P B B 66, 35.

154

238), sie ließen es ungeschoren, enteigneten die Bauern nicht und bedrängten sie nicht mit Abgabeforderungen. Auch in den Rechtsbüchern ist dieser Wortgebrauch geläufig, so in Landsl. VII, 60, 2 : Elgir allir skolu frid hafa firir peim monnum, er a skidum renna („Die Elche sollen Schonung haben von allen Männern, die auf Schneeschuhen laufen"), oder in ÖGR Bygd. 30 pr. : hasl a frip haua („Haselnuß soll geschont werden", während sonst im Wald alle Bäume geschlagen werden dürfen). Der aschwed. Ausdruck fripgœrpi „Umzäunung, umzäuntes Feld, Koppel" (nur in VGR und ÖGR) ist wohl ebenfalls hierher zu stellen 45 . Auf die aschwed. Gerichtsterminologie beschränkt sich auch das Verb fripa, eig. „befrieden", dann auch „vom klägerischen Zugriff befreien", z.B. U R Manh. 23, § 2: hwar sum swa fyllir fripi han ok hans goz („Wer so mit Eid beweist, macht sich und sein Gut klagfrei"). Die bedeutende Stellung, die fridr in der anord. Rechtssprache einnimmt, beruht vor allem darauf, daß er zu einem Grundbegriff der Acht-Terminologie wird. Hier gilt es als ausgemacht, daß der streng terminologische Gebrauch von fridr als Volks- und Landesfriede der Ausgangspunkt aller hierher gehörigen Bildungen ist. Es scheint mir dagegen, daß der terminologische Gebrauch sich erst allmählich aus dem eben zitierten nichtjuristischen Wortgebrauch entwickelte, daß der fridr des einzelnen Mannes als das natürliche Recht auf „Schonung, Unverletzlichkeit", als persönliches „Haben" galt und nicht - wie Baetke konstruiert - als „Teilhaben" an einem allgemeinen Volksfrieden. Dieser Volksfriede taucht ja sonst nirgend auf und ist auch aus der sonstigen Terminologie nicht zu erschließen. Die Verbrechensbezeichnung fripbrwt ist außerordentlich selten und bezieht sich zudem meist auf Bruch von Sonderfrieden (z.B. ÖGR VaJ) 13 pr. Bruch des Ackerfriedens, SR 91 Bruch des Königsfriedens, VGR I Kirk. 12, § 2 Bruch des Kirchhoffriedens). Schon deshalb ist es eigentlich unverständlich, wie Cl. v. Schwerin auf den Gedanken kommen konnte, den „Friedensbruch" zum Oberbegriff der germanischen Verbrechensterminologie zu machen. Solche Formulierungen wie die des Zwickauer Stadtrechts aus dem Ende des 45 Bs ist möglich, aber nicht wahrscheinlich, daß es sich um eine Entlehnung aus deutschem Sprachgebrauch (vgl. „Einfriedigung, Friedhof"), also eigentlich um eine langvokalische Bildung handelt, die im Anord. in dieser Bedeutung sonst ungeläufig war und deshalb vielleicht unter dem Einfluß von fri Per gekürzt wurde.

155 11*

14. Jhs. : und schrien dristund di cleger zether über iren morder und des landes morder (ZRG 38, 1917, S. 357), oder Wendungen wie mein und dieses landes dieb, die den Rechtsbruch als Bruch des Landesfriedens charakterisieren, fehlen im anord. Recht vollständig. Schließlich ist - wie an anderer Stelle zu zeigen ist - fridr mit seinen Zusammensetzungen (fridlauss, fridkaup) keineswegs die einzige und erst recht nicht die älteste Bezeichnung der anord. Acht-Terminologie. Daß der fridr auf eine ebenso unkomplizierte Weise als persönlicher Besitz galt wie Grundeigentum und Fahrnisvermögen, zeigen z.B. die Wendungen anorw. fyrirgera landi oc lausum eyri oc fridi sinum („Land und Fahrnis und seinen Frieden verwirken", Frost. I» 5), fyrirgera fé oc fridi („Vermögen und Frieden verwirken", Frost. V, 45; Gul. 32). Nach EsR II, 50 soll am Landesding verhandelt werden alt thet uppœ manz frith gar („alles, was an des Mannes Frieden geht"). Daß dieser terminologische Gebrauch die Verbindung mit dem allgemeinen Gebrauch nicht verlor, zeigt eine Wendung aus JR II, 6 : for thy at morthœr oc thiwf oc rans mœn sculœ aldrik frith hauce. mœthœn the frithœ œngi man („denn Mörder und Diebe und Räuber sollen niemals Frieden haben, weil sie selbst niemanden befrieden", d.h. schonen). Man könnte an allen genannten Stellen fridr mit „(Recht auf) Schonung" übersetzen. Wann sich die Vorstellung vom „Friedensverband" durchsetzte, ist den genannten Wendungen kaum abzulesen. Man muß dabei beachten, daß die Institution der Ächtung selbst sich wandelte. Zunächst ist sie bloße Preisgabe des Verurteilten an die bußfreie Selbstjustiz des Verfolgers (in Island sogar mit dem ausdrücklichen Verbot an die Rechtsgenossen, die Verurteilten außer Landes zu schaffen und damit der Verfolgung zu entziehen), später ausdrückliche Landesverweisung. Der Landesverweisung liegt zweifellos der „Friedensverbands"-Gedanke zugrunde, und das beweist auch die Terminologie: flya frip (z.B. VGR I, Mandr. 4, ÖGR EJ>zs. 1, § 6) ist dasselbe wie flyce land (JR II, 22) oder rymmœ land (JR I I I , 66) : „das Friedensgebiet fliehen, das Land der Rechts- und Friedensgemeinschaft verlassen" {land bedeutet hier nicht „Grundeigentum"!). Der „Friedensverbands"-Gedanke ist, soweit ich weiß, zuerst in einer dänischen Urkunde vom 21. Mai 1085 (Dipl. AM I, 1) belegt: der König verleiht das Immunitätsrecht, behält sich aber vor, daß der extra pacem positus emat pacem a rege. Die Formulierung folgt allerdings auswärtigem lateinischen Muster, denn eine anord. 156

Wendling, die dem lat. extra pacem ponete entspräche, also *ór friöi setia, ist weder in Dänemark noch sonst irgendwo bezeugt. Daß der „Friedensverbands"-Gedanke z.Zt. der Rechtsbücher noch nicht sehr alt war und erst damals im Begriffe sich durchzusetzen, zeigen Gebrauch und Verbreitung der beiden Ausdrücke friölauss und friökaup. Das Wort friölauss scheint im Adän. und Aschwed. durchweg geläufig zu sein, aber im Anorw. und Aisl. fehlt es gänzlich. Das Westnordische hat eine andere Ächtungs-Terminologie : útlagr, útlegd, sehr, sekd, skóggangr. Die Verwendung von friölauss in Gul. 24 und in Arnes Christenrecht 43 erklärt sich wohl aus kirchenrechtlichem Einfluß, das Auftauchen in einer Rechtsbess. von 1348 (NGL III, 173) aus schwedischem Einfluß. In der Dichtung kommt friölauss nur ein einziges Mal vor und zwar bei Sturla Jaoröarson, einem Skalden des 13. Jhs. (Skj. Β II, 128). In den Sagas sind Bildungen mit dem Stamm von friör (friöbrot,friölauss usw.) nur untechnische Gelegenheitsbildungen oder ohne Bezug auf das Achtwesen4®. In der Grágás fehlen sie überhaupt und selbst friör kommt nur an einer Stelle in Friedensformularen (II, 404f.) vor, die - wie Finsen 612 erklärt - das Gepräge fremden Ursprungs oder Einflusses tragen. Die Acht-Terminologie der Grágás beruht auf einem ganz andersartigen Wortmaterial - fjorbaugsgarör, skóggangr, heraössekt - und beweist damit ihre schon erwähnte Ausnahmestellung. Erst bei näherem Zusehen zeigt sich, daß auch im Ostnordischen der Gebrauch nicht gleichmäßig dicht ist : im ÖGR ist friölauss selten, im GR kommt es nur einmal vor, im UR fehlt es völlig47. Eine ältere Terminologie ist hier vielleicht verdrängt worden, als Birger Jarl in der Mitte des 13. Jhs. die Eidschwurgesetzgebung und mit ihr die Institution der Reichsacht einzuführen begann. Man scheint dazu aus dem Anorw. den Ausdruck utlcegher übernommen zu haben, aber der häufigere gleichbedeutende Ausdruck biltogher ist wohl ein altes einheimisches Wort. Vielleicht wurde die Reichsacht in Schweden gerade deshalb so gefördert, weil die Landschaftsacht hier schwächer entwickelt war als in den anderen skandinavischen Reichen. Die Friedlosigkeits-Terminologie ist also in denjenigen schwedischen Rechtsgebieten am stärksten vertreten, die den dänischen am näch" Heusler, Strafrecht 129. 47 Zur aschwed. Friedlosigkeits-Terminologie vgl. R.Hemmer, Studier rörande straffutmätningen, 1928, S. 24 f. 157

sten liegen. Es scheint, daß Dänemark der Kern des skandinavischen /náíatm-Gebrauchs ist. Woher der Ausdruck überhaupt stammt, ist schwer auszumachen. Im Aengl. ist fridleas, freodoleas ziemlich selten und meinte hier zunächst wohl „ohne Gnade, ohne Schonung" (Elene 127, Andreas 29). Nur einmal - in II Cnut 15 a, also wohl unter dänischem Einfluß - hat er die Bedeutung „exlex" (Liebermann 413)48. Der fries. Ausdruck fretholas, der in den „XXIV Landrechten" (11. Jh., Richthofen, Fries. Rechtsquellen, 1840, S. 41ff.) vorkommt, steht dem freieren aengl. Gebrauch nahe und nimmt erst im 12./13. Jh. die strengere terminologische Bedeutung „exlex" an 49 . Vielleicht stammt das Wort aus dem Aengl., - man denke an die verwandte Bildung freondleas „freundlos". Die ältesten deutschen Belege liegen - wie nicht anders zu erwarten - im 13. Jh. (Dt. Rechtswb. III, 935-937). Der offenbare Zusammenhang, der zwischen der häufig vorkommenden afries. Stabreimformel fai end ferdlos (Richthofen, Afries. Wb. 724) und der ganz vereinzelt dastehenden adän. Stabreimformel fegh oc frithlos in der jüngeren Redaktion von VsR K. 87 (DGL VIII, S. 355) besteht, läßt nicht auf hohes Alter schließen, wie R.His meint 60 , sondern m.E. nur darauf, daß die Formel aus dem Afries. ins Adän. übernommen wurde. Sonst gehört feigr („dem Tode verfallen") nicht zur anord. Acht-Terminologie. Der Ausdruck fridkaup hat Vorläufer in den kontinentalgerm. Rechten: fränk. (Lex Sal.) fredus, afries. fretho, ferd, frethopänning, dt. friedepfennigB1. Man definiert sie als „Wiedereinkauf in den Volksfrieden", aber es ist gar nicht sicher, ob dies von Anfang an und in jedem Fall gemeint ist. J.Goebel hat daraufhingewiesen, daß fränk. fredus auch die Vermittlergebühr f ü r die Wiederherstellung des Friedens zwischen zwei streitenden Familien bedeuten könne 62 . Die Tatsache, daß Friedenskaufgeld durchweg dem König zusteht, deutet m.E. an, daß „Friede" sich hier - jedenfalls zunächst - auf 48

Vgl. auch F. Liebermann, Die Friedlosigkeit bei den Angelsachsen, Festschr. H. Brunner zum 60. Geburtstag, 1910, S. 17-39, bes. 18, ferner H.Siuts, Bann und Acht, 1959, S. 43. « H.Siuts, Bann und Acht, S. 31 f. 50 R.His, Das Strafrecht der Friesen im MA., 1901, S. 175. 61 Vgl. E. Gamillscheg, Romania Germanica I, 166f. ; Weisweiler, Buße 139 ; E. Frh. v. Künßberg, Acht. Eine Studie zur älteren deutschen Rechtssprache, Weimar 1910, S. 31. 62 H. Mitteis, ZRG 58, 1938, S. 860, stimmt zu und verweist noch auf H. Brunner, Dt. Rechtsgesch. I, 230.

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das Verhältnis zwischen König und Geächtetem bezieht. Dieselbe Vorstellung steckt hinter den - freilich sehr seltenen - anorw. Bezeichnungen fridmenn konungs und úfridarmenn konungs („Leute, die im Frieden mit dem König sind", bzw. „die in Unfrieden mit ihm sind", entweder als Geächtete oder als Kriegsgegner, Frost. VII, 25. 27) 63 . T>a& fridkaup sich auf das persönliche Verhältnis zwischen zwei Parteien bezieht, zeigen einige anord. Belege ganz deutlich, und zwar gerade die ältesten. Fridkaup kommt bereits in der Skaldendichtung zweimal vor und dazu einmal die Wendung kaupa frid in der Edda. Es ist wohl kein Zufall, daß eine Strophe des Skalden Sigvatr (Lv. 15, Skj. Β I, 249) an erster Stelle steht. Der Anlaß war, daß der Dänenkönig Knut d. Gr. an den Norwegerkönig Olaf das Ansinnen gestellt hatte, er solle sich als Lehnsmann unterwerfen, wie es vor ihm schon andere Könige getan hätten (vgl. Heimskr. 01. helg. K. 131): Hafa aïlframir jçfrar út sin hçfuô Knúti jœrà ór Fifi, nordan - fridkaup vas pat - midju. („Es haben sehr tüchtige Könige vom Norden her mitten aus Fif [in Schottland] dem Knut ihren Kopf gebracht ; das war ein Friedenskauf"). Gemeint ist: die Schottenkönige unterwarfen sich und erlangten dafür Schonung, Sicherheit vor kriegerischem Einfall. Der Ausdruck fridkaup war zu dieser Zeit in Norwegen sicherlich noch ungeläufig, aber es ist möglich, daß Sigvatr ihn in Dänemark kennengelernt hat : man denke an die Formel emere pacem a rege in der Urkunde von 1085. Sigvatr hat ja auch sonst allerlei Wortgut aus Dänemark in den Norden importiert, und gerade in dieser Strophe ist zudem von dänischen Verhältnissen die Rede. Auch hier deutet sich wieder an, daß Dänemark der Ausgangspunkt der nordischen „Friedlosigkeits"-Terminologie gewesen ist. Der zweite skaldische Beleg, der freilich erst aus dem 13. Jh. stammt (Skj. Β II, 57), meint ebenfalls das „Erkaufen von Schonung": baud at falla einn tïlfridJcaups fródum Itfdum („er bot sich an, allein sein Leben zu lassen, um damit für die kundigen Männer Schonung zu erkaufen"). In ganz untechnischer Verwendung scheint schließlich kaupa frid in den Skírnismál Str. 19 zu stehen: Skirnir, der Brautwerber des Gottes 58 Hertzberg 208 bezeichnet friömadr - wohl nicht ganz zu Recht - als „einen der frühesten völkerrechtlichen Begriffe".

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Freyr, will der Riesentochter Gerör elf goldene Äpfel geben, frid at kaupa. Gering (Komm. 1. H., S. 225) faßt fridr hier als „Zuneigung, Liebe" auf, Genzmer dagegen übersetzt: „Frieden zu kaufen". Es scheint mir sicher, daß der Dichter hier an die rechtssprachliche Ausdruckweise denkt (vgl. Str. 23, 6: nema pú mir sœtt segir), aber sie steht eben der von Gering angesetzten Bedeutung viel näher, als man gewöhnlich annimmt. Alle drei Verwendungen handeln von P a r t e i - A b m a c h u n g e n und setzen keinen allgemeinenVolksfrieden voraus. In den Rechtsbüchern ist fridkaup auffällig selten. Selbst in Dänemark kommt frith kop nur dreimal vor : EsR III, 46 ; Arv. III, 1 ; JR II, 22. Im SR fehlt das Wort und ebenso in den aschwed. Rechten. Das Alter des adän. Ausdrucks ist nicht zu erschließen. Beachtenswert ist aber, daß er nicht in das aengl. Recht gelangt ist, zur Danelag-Zeit also wohl noch nicht geprägt war. (Im Aengl. wird statt dessen der Ausdruck lahcop verwendet, der wiederum im Adän. fehlt.) In Norwegen gibt sich fridkaup eindeutig als der jüngere Ausdruck gegenüber skógarkaup („Kauf aus dem Walde") und landkaup („Einkauf ins Land") zu erkennen. Er kommt zuerst in Landsl. IV, 6 vor und ist wohl aus Dänemark übernommen. Problematisch ist allein das Wort fridheilagr, adj. „friedheilig" (nebst fridhelga, swv., „friedheiligen"). Auffälligerweise ist es ganz auf Norwegen beschränkt. Nur auf Island taucht es nach der Eingliederung der Insel ins norweg. Königreich auf (so Njáls s. Κ. 66, 6), während aschwed. friphelagher im jüngeren VGR eine vom Anorw. abweichende Bedeutung („jd., dem ein besonderer Friede gelobt ist") hat und wohl als Gelegenheitsbildung anzusehen ist. Die Gul. verwenden fridheilagr in einem ganz bestimmten Zusammenhang, nämlich dann, wenn bei einer blutigen Auseinandersetzung die eine Partei als bußberechtigt erklärt werden soll, die andere dagegen als bußlos erschlagbar. Das Gegensatzpaar ist fridheilagr - úgildr (Gul. 32) oder fridheilagr - útlagr (Gul. 121) oder fridheilagr - útlagr oc ûheilagr (Gul. 35). Die Frost, verwenden fridheilagr darüber hinaus noch in einem allgemeinen Zusammenhang, so in IV, 1 : pat er fyrst i mannhélgi várre at várr landi seal hverr fridheilagr innanlandz oc utanlandz („Das ist das erste in unseren Mannheiligkeits-Bestimmungen, daß jeder unserer Landsleute friedheilig sein soll innerhalb und außerhalb des Landes"). An zwei anderen Stellen wird fridheilagr geradezu als gleichbedeutend mit frjáls gebraucht, so in 160

IV, 5 ·. friálser menn sculo aller fridhelger at heimile sino („alle freien Männer sollen friedheilig in ihrem Wohnsitz sein"), und - schon zur Formel abgeschliffen - in IV, 43 : ef madr gellder mann friálsan oc friôheilagan („wenn jd. einen freien und friedheiligen Mann entmannt"). Der Vergleich von Gul. und Frost, zeigt, daß die Verwendungsweise der Frost, eine jüngere Weiterentwicklung zu einem freieren Gebrauch darstellt. Aber dieser Gebrauch bleibt eine Einzelerscheinung, vor allem die Verbindung friáis oc fridheilagr: in Landsl. IV, 3, 4, der Parallelstelle von Frost. IV, 43, fehlt sie. Auffällig ist, daß in den obengenannten Gegensatzpaaren, die ja nicht nur in Gul., sondern auch in Frost., Landsl. usw. auftauchen, fridheilagr niemals fridlauss als Oppositionsbegriff an sich zieht ! Also steht fridheilagr in keinem Zusammenhang mit der „Friedlosigkeits"-Terminologie. Es scheint mir überhaupt, daß das Wort die Vorstellung vom Friedensverband gar nicht voraussetzt, sondern in der Bedeutung dem Ausdruck mannhelgi („persönliche Unverletzlichkeit") entspricht. Es fehlt nämlich zum Substantiv mannhelgi ein Adj. *mannheilagr, ebenso wie zum Adj. fridheilagr ein Substantiv *fridhelgi fehlt. Das deutet darauf hin, daß fridheilagr als eine Adjektiv-Entsprechung zu mannhelgi gelten soll. Häufig steht auch das Simplex heilagr statt fridheilagr (so in Gul. 269 : pa falla peir útlager. en hinir helgir er til sœkia). Das ist vielleicht überhaupt der ältere Sprachgebrauch, soweit es um das Adjektiv geht: frid- ist ein jüngerer, sachlich bedeutungsloser Zusatz. So könnte in Frost. IV, 5 der f-Stabreim (friálser menn sculo aller fridhelger at heimile sino) an die Stelle eines alten h-Stabreims (helger at heimile) getreten sein. In Landsl. IV, 18, 2, der Entsprechung von Frost. IV, 5, fehlt übrigens auch das Wort friálser und es heißt statt dessen einfach aller menn. Neue Verwirrung könnte nun der Ausdruck lögheilagr stiften, der noch seltener als fridheilagr ist und in den Landschaftsrechten und den Landsl. überhaupt fehlt. Immerhin könnte man, wenn man beide Ausdrücke nebeneinander stellt, den Schluß ziehen, log („Gesetz") und fridr seien hier als identisch aufgefaßt. Aber lögheilagr gehört in einen anderen Zusammenhang, nämlich zu den zahllosen Bildungen mit log-, in denen log- kaum mehr als ein verstärkendes Präfix oder gar - wie Ákermalm sagt - bloße Dekoration ist64, und das bestätigt zugleich die eben gegebene Erklärung von fridheilagr. Das Neben84

Â. Akermalm, Fornnord. verb med subsfc. förled, 1955, S. 170.

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einander von fridhelga und lögheilagr in Bjark. 42 läßt überdies erkennen, daß man beide Wörter wohl nicht als bedeutungsmäßig ganz gleich auffaßte. Mögen wir auch auf Vermutungen angewiesen sein, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß anorw. fridheilagr eine ganz sporadische Erscheinung ist, nur in den Frost, vereinzelt auch auf allgemeine Verhältnisse angewendet wird (frjáls oc fridheilagr), von dort z.T. in die Landsl. gelangt, gleichzeitig in seiner Verwendung aber wieder beschränkt wird. Ein Zusammenhang mit der ,,Friedlosigkeits"-Terminologie fehlt ganz offensichtlich. Es zeigt sich also, daß fridr kein altgerm., jedenfalls kein „urnordischer" Rechtsausdruck ist, sondern - wie ja auch andere nordische Rechtsausdrücke - erst allmählich in den Rechtsbereich hineinwächst. Anorw. fridlauss bezeichnet zwar von vornherein das Verhältnis des Einzelnen gegenüber allen anderen Rechtsgenossen und unterscheidet sich darin von úheilagr, das immer das Verhältnis des Einzelnen zum Einzelnen bezeichnet. Fridlauss setzt also bereits die Vorstellung eines Gesamtfriedens voraus. Aber es zeigt sich, daß die /n^ia«es-Terminologie zunächst nur in Dänemark und sehr früh wohl auch in den benachbarten gotischen (südschwed.) Rechten geläufig ist. Zur Zeit der Rechtsbücher hatte sie noch nicht in allen Teilen des nordischen Sprachbereichs Fuß gefaßt. Dagegen erweist sich der Ausdruck fridkaup als älter: er kommt schon seit dem 11. Jh. in der Dichtung vor. Aber hier zeigt sich, daß fridkaup zunächst noch gar nicht die innere Friedensordnung voraussetzt, sondern nur das Verhältnis des Wohlwollens, der Schonung und Sicherheit zwischen zwei Parteien meint, sei es nun irgendein „zwischenstaatliches" Verhältnis (z.B. zwischen zwei Königen) oder sei es das Verhältnis zwischen König und Geächtetem. Die Vorstellung von „Friedensordnung" und „Friedensbereich" ist erst im 13. Jh. hier und da nachweisbar. Eine Vorstufe des „Landfriedens" sind wahrscheinlich die zahlreichen, in der rechtshistorischen Forschung sog. „Sonderfrieden". Ein „Sonderfriede" konnte dadurch entstehen, daß der „Friede", den ein einzelner Mensch oder auch irgendein lebendes oder totes Ding genießt, auf bestimmte Grenzen ausgedehnt und durch Androhung erhöhter Strafen besonders geschützt wird. Der Sonderfriede ist insofern ein „vergrößerter Friede" (vgl. MELR Kunungxb. 5, § 7: Aider friper okis ... œfter py sum kununger œr til „Aller Friede vergrößert sich ... soweit der König anwesend ist"). Der „Friede", der einem Ding162

oder Tempelbezirk zukommt, mag schon sehr alt sein 65 . Neben örtlich begrenzten gab es auch zeitlich begrenzte Sonderfrieden, so in der bäuerlichen Wirtschaftsordnung vor allem den Saat- und Erntefrieden (z.B. aschwed. uarfripœr - anfripœr), dazu die kirchlichen Festfrieden wie Weihnachtsfriede (aschwed. iula fripcer) usw. Der aschwed. Königseid (MELR Kunungxb. 5, § 7) unterscheidet kirlcio frip, pingx frip ok quinno frip oh heemfrip („Kirchenfrieden, Dingfrieden und Frauenfrieden und Hausfrieden"). Eine besondere Rolle spielt der „Königsfriede", der darin bestand, daß einem Verbrechen in Gegenwart des Königs oder im Umkreis seines Aufenthaltsortes eine erhöhte Strafe angedroht wurde. Der Königsfriede heißt im Aschwed. kunungx friper. In den anderen Sprachen hat er merkwürdigerweise keinen eigenen Terminus erhalten, obwohl Ausdrücke wie kirkjufridr, kvennafridr durchaus geläufig sind. Der Königsfriede ist wohl kaum „auf die priesterliche Tätigkeit des germanischen Königs zurückzuführen", wie R.His meint 56 , sondern er gehört zu den hochmittelalterlichen Bestrebungen des Königtums um eine staatliche Friedensordnung. Ausgangspunkt der Entwicklung scheint auch hier Dänemark gewesen zu sein, das unter den skandinavischen Ländern die ersten Einflüsse der europäischen Landfriedensbewegung empfing. In den dän. Rechten (SR 91, JR III, 22) gilt er für das ganze Land bzw. Herad, in dem sich der König aufhält, in Schweden seit 1285 ebenfalls für die ganze Landschaft (DS I, nr. 813, S. 668), in Norwegen dagegen noch in den Landsl. IY, 4, 3 nur für verschiedene Plätze beschränkten Umfangs wie Stadt, Königshof, Schiff oder Hafen. Solche Sonderfrieden mögen den Gedanken gefördert haben, daß das Wesen des ganzen Rechtsverbandes darin liege, eine „Friedensordnung" zu sein. Aber erst am Schluß des 13. Jhs. werden in Dänemark die speziellen Friedensbestimmungen von der allgemeinen Verschärfung des Strafrechts aufgesogen 57 . Die Skalden verwenden, wie gezeigt wurde, fridr häufig und eindeutig als „Schonung, persönliche Sicherheit". Die Belege, in denen eine „Friedensordnung" gemeint ist, sind demgegenüber gering an 65 J. Gernhuber, Landfriedensbewegung, 1952, S. 8, meint dagegen, daß diese Sonderfrieden „nur näher bestimmte Teilstücke des Volksfriedens" seien, einen allgemeinen Volksfrieden also voraussetzen. Erinnert sei an die aisl. Formel at helga ping. " R.His, Gesch. des dt. Strafrechts, 1928, S. 40. " Vgl. Poul Meyer, Kulturhist. Leks. IV, Sp. 625.

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Zahl und keineswegs immer so klar wie die der anderen Gruppe, ζ. B. Hallvarös Knútsdrápa Str. 6 (Anf. des 11. Jhs., Skj. Β I, 294): Englandi raeör Yngvi einn - hefsk friör at beinni ...ok Danmçrku („Der Yngvi [Knut d. Gr.] herrscht allein in England und Dänemark ; der Friede wird dadurch gebessert"). Hier ist der innere Friede des Landes gemeint, der - diese Anschauung zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze mittelalterliche Geschichte Skandinaviens immer dann am besten gewährleistet ist, wenn nur einer im Lande herrscht. Eindeutig scheint der Ausdruck fridland zu sein, der zweimal bei den Skalden und gelegentlich in der Prosa erscheint. Aber er meint nicht ein „Land, in dem eine Friedensordnung herrscht", sondern ein Land, in das man mit friedlicher Gesinnung kommt und in dem man deshalb Schutz und Schonung genießt. Daher ist fridland i.S. von „ruhiger Aufenthalt" Gegensatzbegriff zu hernadr „Plünderung, Raubzug", z.B. Egils saga Κ . 48, 1 : en er hann spurdi, at víkingar váru par komnir vid land, pá sendi hann menn sína á fund peira, pess orendis, at vita, hvárt peir vildi par fridland hafa eòa hernad, oder Sturi, s. I, 6: ...ok œtludu peir brœdr at hafa par fridland („... und die Brüder beabsichtigten, dort in Ruhe zu leben"). Von dieser Bedeutung geht auch der Skalde ó t t a r svarti (Anf. des 11. Jhs., Skj. Β1,269) aus : fridland ist hier das Reich, in das Edelred als angestammter Herrscher zurückkehrt, es ist nicht Objekt eines Raub- und Eroberungszuges, sondern sein „Schutzland" (wikingisch gesprochen vielleicht das „Standquartier, von dem aus man seine Züge unternimmt"). Dasselbe meint wohl Markus Skeggjason (Anf. des 12. Jhs., Skj. Β I, 416), wenn er Italien als fridland Feneyar „Friedensland Venedigs" bezeichnet: Italien ist sozusagen das „Schutzland", das „Standquartier" des venezianischen Seehandels. Vielleicht spielt hier aber schon die christliche Vorstellung hinein, die Italien, das Land des Papstes, als das eigentliche „Land des Friedens" sieht. Ursprünglich ist jedenfalls fridland ein Wort aus der Wikingersprache und als solches vielleicht mit aengl. freodoburh, freodowong u. ä. verbunden. I n den Rechtsbüchern des 13. Jlis. ist die Bedeutung „Friedensordnung" natürlich mehrfach nachweisbar. Aber daß der „Landfriedens"-Gedanke jung ist, erkennt man daran, daß er über keine 164

ausgebildete Terminologie verfügt. Gänzlich fehlt das Kompositum *landsfridr, das neben landskonungr, landshöfdingi, landslög, landsréttr usw. ja immerhin möglich gewesen wäre. Auch die Verbindung landsens fridr ist wohl sehr selten. Bezeichnenderweise erscheint sie in einem der modernsten Rechtsbücher, dem J R von 1241, einmal in der Wendung for kunungs both oc landœns frith (III, 18). Einmal kommt in GR 13, 25 der Ausdruck aldra manna fripr vor, meint aber gar nicht einen allgemeinen Volksfrieden, sondern den Sonderfrieden an kirchlichen Feiertagen (s.u. S. 173), steht also auf einer Stufe mit anderen Sonderfrieden wie warfripr, pingfripr und haimfripr. Auch die Kombination oder gar Ineinssetzung von log („Gesetz, Gesetzesverband") und fridr ist selten. Sie findet sich allerdings schon mit erstaunlicher Klarheit in dem Bericht Aris (Isl. K. 7, 15) über die Rede des Gesetzessprechers J>órgeirr auf dem isl. Allding v. J . 1000: pat mon verpa satt es vèr slítom í sundr logen, at vèr monom slita oc fripenn („Das wird sich herausstellen, wenn wir das Gesetz auseinanderreißen : daß wir dann auch den Frieden auseinanderreißen werden"). In einer schwedischen Quelle des 14. Jlis., MELR Kunungxb. 4 pr., wird friper neben lagh schließlich zu einem Grundbegriff der hochmittelalterlichen staatlichen Rechtspflege : pe agha han til Icrono ok kunungx doma, landum rapa ok rike styra, lagh styrkia ok frip halda („Sie haben ihm Krone und Königtum zuzusprechen, damit er die Länder [die Gesetzesverbände] beherrsche und das Reich führe, das Gesetz stärke und den Frieden halte"). Die Wendung honda frip ok lagh in demselben Gesetz, Kunungxb. 23, § 9, bedeutet geradezu „Friedens- und Rechtsgemeinschaft der Bauern". Am Schluß seines Rechtsvortrages sagt der södermanländische Gesetzessprecher (SMR J>g. 11, § 2): pem hawer iak allum fripdom fort, lagh sagù pœsse hawa hört („Denen allen habe ich den Frieden zugeführt, die diesen Gesetzesvortrag haben gehört"). Der Endreim zeigt, daß die Sentenz ganz jung ist. In diesen Zusammenhang gehören auch die bereits erwähnten aschwed. Ausdrücke fripœtta und fripviter. Beide Ausdrücke werden nur in Verbindung mit frœls „frei" gebraucht (der erste nur einmal in ÖGR .¿ErfJ). 24, wo jd. mit Eid beweisen soll, at han œr frœls ok fripœtta „daß er freigeboren ist", der zweite mehrfach in UR, SMR, VMR in der Formel frœlsir meen ok fripvitir). Sie bedeuten so viel wie „zur Friedensund Rechtsgemeinschaft der Bauern gehörig" und insofern „frei". Die Bedeutung frith = „Friedensbereich" hat sich aber offenbar 165

nur in einigen jütischen Stadtrechten durchgesetzt, obwohl gerade die anorw. Bedeutung von log (Gesetz = Gesetzesbereich) eine solche Entwicklung auch in Norwegen nahegelegt hätte, wenn die „Landfriedens"-Vorstellung tatsächlich in einem solchen Maße geläufig gewesen wäre, wie man gemeinhin glaubt. Nur in den jütischen Stadtrechten heißt es gelegentlich: staths fryth oder by frith i. S. von „Gebiet, das dem Stadtrecht untersteht", so in Flensb. Stadtr. § 127 (DGK I, 134): Enfer han thiuf vtœn by frith... („und schafft er den Dieb aus dem Rechtsgebiet der Stadt hinaus"), oder Riber Stadtr. § 1 (DGK II, 20) : infra nostre ciuitatis marchiani - ynnen wor staths fryth. *

Es ist jetzt an der Zeit, zum Vergleich ein weiteres Wort in die Untersuchung hineinzuziehen, dessen Partnerschaft mit fridr als ein wesentliches Charakteristikum der anord. Rechtsterminologie gilt: das Wort grid, η. Grid gehört zu den gar nicht wenigen anord. Rechtswörtern, die ausschließlich im Anord. (und wenn in anderen Sprachen, dann nur als Entlehnungen aus dem Anord.) überliefert sind. Die Wörterbücher geben zwei Bedeutungen an: für den Sing. „Aufenthaltsrecht in einer Hausgemeinschaft", für den Plur. „Friede, Sicherheit, Waffenstillstand". Das Nebeneinander und eine mehr oder minder scharfe Bedeutungstrennung von Singular- und Pluralgebrauch sind eine für die nordischen Sprachen typische Erscheinung: bôtjbœtr, gjaldlgjçld, lag/log. Gewöhnlich stellt der Plural eine terminologische Verfestigung dar, so daß man - in Anlehnung an eine Formulierung F.Dyrlunds über grid - geradezu sagen könnte, der Singular gäbe den betreffenden Wörtern ein außer- oder privatrechtliches, der Plural ein öffentlichrechtliches Gepräge68. 58

F. Dyrlund, ANI 1 27, 340. Dem Pluralgebrauch hat Ivar Lundahl eine eigene Untersuchung gewidmet : Studier över bruket av pluralis hos substantiv i fornvästnordiskan och fornsvenskan, A N F 55, 1940, S. 43-120. Er sucht - wie schon andere vor ihm (so H. Osthoff, IF 20, 1906/07, S. 198ff.) - den Gebrauch von Fall zu Fall zu erklären, z.B. hefndir „Rache" aus Wendungen wie hyggia at hefndom „auf Rachetaten sinnen", oder trygdar¡trygdir „Sicherheitsgelöbnis" aus der Tatsache, daß ein Vertragsverhältnis mindestens zwei Personen umfassen mußte (S. 60f.). Ich glaube nicht, daß solche Motivationsversuche für jeden Binzelfall nötig sind. Man hat es hier offenbar mit einem allgemeinen Sprachgebrauch zu tun. Vgl. auch unten S. 210.

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Die Bedeutungsähnlichkeit von fridr und grid ist so auffällig, daß sogar versucht worden ist, sie auch lautgeschichtlich miteinander zu verbinden: F.Dyrlund meint, grid sei Nachkomme von urnord. *gafrida (vgl. got. gafripons „Versöhnung"), aber der Hinweis auf gahrid > grid „Heftigkeit" genügt nicht, u m die lautliche Entwicklung wahrscheinlich zu machen 59 . Es bleiben vier erwägungswerte Erklärungen: 1. die Verbindung mit gr. χάρις „Gunst, Wohlwollen, D a n k " (Falk-Torp, de Vries), 2. mit got. grips „Schritt" (A.Noreen), 3. mit ai. grha- „Haus, Wohnort" (Charpentier), 4. mit an. greida „klar machen, ordnen", greidi „Bewirtung, Unterhalt" usw. (E.Wadstein). Ich stelle dies etymologische Problem zunächst zurück und gebe erst einmal die Belege f ü r den anord. Wortgebrauch. Die Singular-Bedeutung bezieht sich immer auf freigeborene Personen, also nicht auf unfreie Knechte, die auf Grund ihrer sozialen Stellung ohnehin in Abhängigkeit leben, aber auch nicht auf den Kreis der Verwandten, die ein natürliches Wohnrecht im Hause haben. Das grid umfaßt also nicht die ganze Hausgemeinschaft und hat sich schon deshalb nicht zur Bezeichnung von Haus, Hausstätte und Hauswesen entwickelt. Ebensowenig gehört grid in die Terminologie des kriegerischen „Gefolgschafts"-Verhältnisses: Das russische, wohl aus dem Aschwed. übernommene Wort grid', griditi „Leibwache eines Fürsten" 8 0 , beruht offenbar auf einer außernord. Weiterentwicklung der Bedeutung. Der húskarl, der Kriegsmann, hat mit dem gridmadr nichts zu tun. I m Anord. bezieht sich grid, sing., gewöhnlich auf ein vertragliches Arbeitsverhältnis, z.B. Grág. II, 265 : Madr seal sva coma til grids sem hann var a sáttr vid honda, annat tueggia at fardögum eda at midio sumre („Der Mann soll sein Arbeitsverhältnis antreten, wie er mit dem Hausherrn übereingekommen ist, entweder an den Ziehtagen oder zu Mittsommer"), oder Frost. I X , 5 : en ef hann [der Hausgast] andaz i gridi med manni eda á seipi . . . („und wenn er im häuslichen Arbeitsverhältnis bei dem Manne oder auf dem Schiff stirbt..."). Von dieser Verwendungsweise kann grid im Aisl. auch die Bedeutung „gesetzliche Heimstätte" annehmen, z.B. Grág. II, 267 über Handwerker: peir scolo po hafa »· F.Dyrlund, Friö-: griö, gruö, ANF 27, 1911, S. 335-351. 60 S.Bugge, ANF 2, S. 171. W.Thomsen, Der Ursprung des russischen Staates, 1879, S. 135. F.Tamm, Upps. Univ. Ársskr. 1882, S. 8. - K.Wührer, ZRG 76, 1959, S. 21, führt die russischen Ausdrücke - m.E. zu Unrecht - auf anord. grid „Wohnort" zurück.

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tekit ser lavg grip, a grip fanga dögom pott peir hirdi pat eigi („sie sollen sich eine gültige Heimstätte genommen haben in den Ziehtagen, auch wenn sie nicht immer dort sind"), dann Grág. II, 269 über Priester : Prestar scolo ser hafa grip at viii. vikom sumara („Priester sollen sich gültiges Heim genommen haben acht Wochen vor Sommers Ende"). Hier erscheint auch der Ausdruck lavg heimili, der in diesem Zusammenhang offenbar als identisch gilt. Ich glaube nicht, daß die Beziehung auf Haus und Hauswesen zum Bedeutungskern des Wortes gehört. Auch hier macht sich m. E. - wie in der Pluralbedeutung - das Vertragselement stark geltend. Aber der Gebrauch stammt vielleicht noch aus einer Zeit, in der die Aufnahme in eine Hausgemeinschaft eines vertraglichen Friedensgelöbnisses zwischen dem Hausherrn und dem Fremden bedurfte (vgl. die anorw. Formeln hafa i gridi med sir, vera í gridi med búanda). Zur Zeit der Rechtsbücher war der Wortgebrauch im Ostnordischen bereits ausgestorben und auch im Anorw. nicht mehr sehr häufig. Nur im Aisl. entwickelte er sich kräftig weiter. Ganz isoliert im ostnord. Bereich steht der Beleg in GR 3, 16f. : eine Frau, der ein Kind geboren wird, solle zwei Zeugenfrauen haben, gripcunu ok grancunu. Auffällig ist die Ähnlichkeit mit Borg. I, 3 : auch hier ist von gridkonor oc grankonor die Rede. Offenbar ist hier auf kirchliche Initiative hin die Formel aus dem ostnorweg. Recht ins gutnische übernommen, denn sie steht im Zusammenhang mit dem kirchenrechtlichen Verbot der Kindesaussetzung. Gemeint sind eine (freie) Frau, die zur Hausgemeinschaft der gebärenden Frau gehört, und eine Frau aus der Nachbarschaft. Im Ostnord, wurde gripcuna offenbar als „Hebamme" (iordemoder, hehemuter) mißverstanden®1. Im Aisl. ist gridkona die freie Dienstmagd. Die Spezialisierung von grid auf das Hauswesen scheint schon zu einer frühen Zeit erfolgt zu sein, als diese Verwendung noch am vordringlichsten und daher am häufigsten war, und von dort verbreitete sich das Wort in der Terminologie der bäuerlichen Wirtschaft, vor allem auf Island. Der strenge Rechtsterminus wurde davon dann geschieden, indem man ihn im Plural gebrauchte. Der Zusammenhang beider Bedeutungen läßt sich an einem Beleg in VGR I, Gipt. b. 9, § 1, noch besonders gut erkennen : Wenn der Bauer seine Tochter nicht ihrem Bräutigam ausliefern wollte, dann sollte dieser zu" Vgl. Axel Kock, Studier tillegn. Esaias Tegnér, 1918 ; Holmbäck-Wessén IV, 245.

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nächst zwei Männer zum Hof senden, grincer at bepees („um ein Sicherheitsgelöbnis zu verlangen"), pa slcal hvar perrce aprum grid sœliœ, i gard ok or („Da soll jeder dem andern Sicherheit geben, zum Hof und heraus"). Verwandt ist die Formulierung in ÖGR Gipt. b. 8, § 2. Hier wird außerdem noch die Waffenniederlegung erwähnt. Ähnlich geht es in den Hákonarmál Str. 16 (Skj. Β I, 59) beim Einzug des toten Königs in Walhall zu: Einher ja grid / skalt pé allra hafa („Das Sicherheitsgelöbnis aller Einherjar sollst du haben"), sagt Bragi zu dem Ankömmling, und in Str. 17 wird auf das Verlangen der Waffenabgabe angespielt. Eine eigentümliche Rolle spielt das Sicherheitsgelöbnis in Schweden bei der Eriksgata, dem Umritt des neugewählten Königs: die Bewohner jeder Landschaft sollten möta konungi mœp grupum ok gislum („dem König mit Sicherheitsgelöbnis und mit Geiseln entgegenkommen", UR Kun. 2; SDMR Kun. 2) 62 . Besonders häufig werden die grid bei Vergleichsverhandlungen zweier streitender Parteien verwendet: die grid sind die Sicherheit, zu der sich die Parteien bis zur Klärung des Streitfalls im Gericht oder im Vergleich verpflichten, vor allem die Sicherung des freien Zugangs zum Verhandlungsort und der freien Rückkehr (vgl. Njáls s. Κ. 79, 11: ... var MorÔr ά velli úti ok bad sir grida ok baud alsœtti „... Mord war auf dem Platz draußen und bat um Sicherheit und bot vollen Vergleich an"). Gelingt der Vergleich, so folgen die trygdar, die Zusicherung, den gefällten Entscheid anzuerkennen und für alle Zukunft in dieser Sache Frieden zu halten (vgl. Frost. V, 9 : at selia mönnum grid til sœttar eda trygdar veita ά mòti baugum „den Männern Sicherheit zu geben für die Vergleichsverhandlungen oder einen Urfehdevertrag zu schließen gegen Auszahlung der Ringbuße") 63 . Auch wird einem Manne, der auf dem Ding friedlos geurteilt wurde, eine Sicherheit von fünf Tagen, die sog.fimtargrid, gewährt, z.B. fimtargridfrá jarni („Fünftagefrist von «2 F.Dovring, ,Gilzla och grutha' i Smâlandslagen, A N F 62, 1947, S. 258 bis 260, meint, daß die Formel in Smâlandslagen sich nicht auf den Königsumritt, sondern auf den Dingfrieden beziehe. Ähnlich Gr. Hasselberg, Om Smälandlagens inledningsord, Saga och Sed 1948, Uppsala 1949, S. 45-52. Die Grenzangaben deuten aber an, daß sie sich auf den Umritt bezieht. Übrigens spricht die Häufung des Stabreims in diesem Abschnitt nicht - wie Fr. Dovring meint - für hohes, sondern für geringes Alter. ,3 Der Text solcher Schwurformeln in Eddica minora, Dortmund 1903, S. 149 ff., dazu W.H.Vogt, Altnorwegens Urfehdebann und der Geleitschwur. Tryggöamal und Griöamal. Form- und Stoffgeschichte. Die Wortlaute. Übersetzungen, Weimar 1936.

169 12 von See, Bechtswortschatz

der [mißlungenen] Eisenprobe ab", Borg. I, 5. 16). Eine fünftägige Fluchtfrist für den, der sich nicht taufen lassen will, ist in Gul. 22 mit fimtargrid af pingi gemeint. Diese Verwendung von „Fluchtfrist" kann dann natürlich zur Bedeutung „Lebensschonung" führen. So heißt es in Eyrb. saga Κ. 26, 9 vom Goden Snorri und seinen Leuten : peir kómu at peim Vigfúsi óvorom, ok drápu Vigfús, en gáfu grid húskorlum hans („Sie überfielen Vigfus und seine Leute überraschend und töteten Vigfus, aber seine Knechte ließen sie laufen"), in Njáls saga Κ. 84, 15: gáfu peir pá grid ollum, en tóku fé allt („sie ließen ihnen allen ihr Leben, aber das ganze Hab und Gut nahmen sie an sich"). Man unterscheidet deshalb gelegentlich zwischen fjçrgrid („Sicherheit fürs Leben") und fégrid („Sicherheit fürs Vermögen"). Fjorgrid kommt schon in einem Skaldenvers aus der Mitte des 11. Jhs. vor: selja fjçrgrid „(den fliehenden Gegnern) das Leben schenken" (Skj. Β I, 335). Gewöhnlich beruhen die grid auf Verträgen zwischen einzelnen Personen (Frost. II, 10: einkagrid). Sie können aber auch für gewisse Zusammenkünfte (Ding- und Kirchenbesuch) von vornherein gesetzlich vorgeschrieben sein und gelten dann ohne besondere vertragliche Absprache für alle, die diese Zusammenkunft besuchen. Das sind die grid allra manna i millim, wie sie in Frost. II, 10 und in Sverres Christenrecht 19 genannt werden. Über die Dingfahrt heißt es in Frost. I, 5 : (hverr) peirra seal % gridum vid annan medan peir ero i pingför peirri, und in Landsl. I, 5, 1 : Aller menn, peir seni i Gula pings for eru nefndir, skolu i gridum vera, huer uidr annan par til, er peir koma aptr til heimilis sins („Alle Männer, die zur Guladingfahrt ernannt sind, sollen in Sicherheit sein, jeder gegenüber dem andern, bis sie zu ihrer Wohnstätte zurückkehren"). Der Überblick läßt erkennen, daß die Beziehungen zwischen fridr und grid gelegentlich sehr eng sein können. Tatsächlich tauchen beide Ausdrücke häufig nebeneinander auf, und offenbar handelt es sich dann um tautologische Formeln, z.B. Grág. II, 404: Set ec grid ocfullanfrid.fe grid oc fior grid i ollum stavdum nefndom („Ich setze Sicherheit und vollen Frieden, Vermögenssicherheit und Lebenssicherheit an allen genannten Stätten"), oder im Geleitschwur-Formular (Text bei W.H.Vogt, Urfehdebann 178 f.): Handsolum grid ok fullan frid kvámumanni... („Wir geben durch Handschlag Sicherheit und vollen Frieden dem Ankömmling..."). Auch scheint es, daß in Zusammensetzungen die Elemente -fridr und grid austauschbar 170

sind: Der kirkjufriôr heißt auch kirlcjugrid, der páskafridr auch páskagrid u. ä. Aber die Unterschiede sind doch nicht zu verkennen. Vor allem sind die grid zeitlich und örtlich beschränkt. Es bedarf deshalb einer vertraglichen (oder gesetzlich generellen) Festsetzung ihres Geltungsbereichs und ihrer Geltungsdauer. Die Formulierung huerr vid annan („jeder gegenüber dem andern") zeigt, daß die grid eigentlich nicht den Friedenszustand der Gesamtheit meinen, sondern das Sicherheitsverhältnis, das sich einzelne Personen untereinander gewähren. Verletzung der grid gilt als schweres Verbrechen (vgl. Gul. 178; Frost. IV, 2. 3). Der Täter wird deshalb gelegentlich gridnidingr genannt (z.B. Eids. I, 50), häufiger aber tryggrofi, also „Vertragsbrecher" (Gul. 32: jba gengr sa a grid sin. oc er hann trygrove). Gemeint ist zunächst wohl der freie Zugang zu einem Verhandlungsort und die freie Rückkehr, also das sog. „freie Geleit". Gelegentlich ist die Waffenniederlegung damit verbunden, so in den aschwed. Bestimmungen über die Einholung der Braut und in den Hákonarmál Str. 17 beim Einzug Hakons in Walhall. Aus solchen Verhältnissen hat sich dann wohl die Bedeutung „Aufnahme in die Hausgemeinschaft, Aufenthalt, Arbeitsverhältnis im Haus" entwickelt. Der eigentliche Rechtsbegriff „Sicherheit(sgelöbnis)" distanzierte sich durch die Pluralbildung, anders ausgedrückt: die Bedeutung „Hausaufenthalt" machte die Neigung zum Pluralgebrauch, die zahlreichen Rechtsbegriffen eigen ist (hefndir, manngjöld, tryggdar, sekper, pyrmslir usw.), nicht mit. Die Bedeutung „Hausaufenthalt" ist wohl ziemlich alt, aber nie recht gebräuchlich gewesen. Im Anorw. ist sie nur noch in Resten nachweisbar und allein auf Island scheint sie entwicklungskräftig gewesen zu sein. Diese spezielle Bedeutungsentwicklung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Ausdruck grid ohne emotionale Elemente ist. Er bedeutet nichts weiter als die vertraglich zugesicherte Abwesenheit von Bedrohung. Mit Liebe, Wohlwollen, Freundschaft hat grid - im Gegensatz zu fridr - nichts zu tun. Auch dort, wo „Lebensschonung" gemeint ist, bezeichnet grid eigentlich nichts als die Fluchtfrist, die dem Gegner gegönnt wird. Die etymologischen Erklärungen, die grid mit gr. χάρις „Gunst, Wohlwollen", mit ai. grha „Haus" oder mit an. greidi „Bewirtung" verbinden, werden also durch den anord. Wortgebrauch nicht gerechtfertigt. Richtig ist wahrscheinlich die Erklärung Adolf Noreens, der grid mit got. grips 171 12·

(Akk. Sg. grid in 1. Tim. 3, 13) „Schritt, Stufe" verband und eine Entwicklung zur Bedeutung „unbehinderter Gang" vermutete64. J. de Vries (S. 188) bezeichnet gerade diese Erklärung als „weniger ansprechend". Der Grund liegt wohl darin, daß er von einer nicht ganz richtigen Bedeutungsbestimmung - „Friede, Waffenstillstand, Versöhnung" - ausgeht und gerade die ursprüngliche und eigentliche Bedeutung - „freier Zugang, freies Geleit" - nicht erwähnt. Zum Bedeutungsübergang „Gang > Versprechen des unbehinderten Ganges, Einwilligung zum freien Zugang" ist, wie mir scheint, die aisl. Bedeutung von faming, f., gut zu vergleichen : farning bedeutet eigentlich „Beförderung, Einschiffung", dann auch „Einwilligung, die einem Landesverwiesenen zur freien Einschiffung gegeben wird ; Zusicherung des freien Abzugs" (vgl. Hensna-Jaóres saga Κ. 15, S. 23, IO). Zur Zeit der Rechtsbücher ist nicht nur die Singularbedeutung, sondern auch die Pluralbedeutung auf dem Rückzug begriffen, - aus einleuchtendem Grund: in einer Zeit, in der die staatliche Rechtspflege immer mehr an Boden gewann und die außergerichtlichen Vergleiche immer mehr zurückschraubte, war die Zusicherung „freien Geleits" immer weniger vonnöten. Eine wesentliche Rolle spielte sie im weltlichen Rechtswesen eigentlich nur noch zur Bezeichnung der Fluchtfristen für Friedlose. Außerdem wirkte die Konkurrenz eines anderen Wortes, das von einer ganz neuen Bewegung weitergetragen wurde : die Konkurrenz des Wortes fridr. Die yWdr-Bewegung nahm - wie gezeigt - vom Süden ihren Ausgang. Im Ostnord., vor allem im Adän., ist deshalb an vielen Stellen grid durch fridr ersetzt worden. In den seeländischen Rechten ist gruth nur noch selten (so in Arv. III, 2; EsR II, 10. 12), im modernsten der adän. Rechte, im JR, fehlt das Wort gänzlich, z.B. JR II, 90: at hauce frith til things oc fra, wo man durchaus hätte *grith¡gruth erwarten können. Insofern entspricht das JR dem mnd. Sprachgebrauch, der für die anord. Bedeutungen von fridr und grid nur den einen Ausdruck vre.de, hat (z.B. Sachsensp. II, 4 § 1 : Swe sek ut der vestinge ten wel, deme seal de richtere vrede werken vor to komene). Daß gruth aber auch einmal in Jutland lebendig gewesen ist - dazu in der älteren Form grid - zeigt der südjütische Ortsname „Gredsted", der noch 1291 in Ribe Oldemoder (ed. O.Nielsen S. 64. 67) " A. Noreen, Fsv. grif, gruj), ANF 6, 1890, S. 382-383. 172

Grithœstath geschrieben wird 65 . Er bedeutet eigentlich „Friedensstätte" und entspricht genau dem westnord. Begriff gridastadr, der z.B. in der Prosa vor der Lokasenna vorkommt und dort auf das Gastmahl der Asen bezogen wird. Von Dänemark aus ist das Wort grid wahrscheinlich im 10. Jh. nach England gedrungenββ. Dem natürlichen Absterben von grid und dem Vordringen von fridr, das durch die hochmittelalterlichen staatsreformerischen Bemühungen getragen wurde, wirkte nun eine andere Bewegung entgegen : ein kirchenrechtlicher Einfluß, der von England seinen Ausgang nahm. In England hatte der Ausdruck grid sich - abweichend vom anord. Sprachgebrauch - vor allem zur Bezeichnung des „Sonderschutzes" entwickelt, sowohl des königlichen als auch besonders des kirchlichen (Liebermann 106). Besonders häufig ist das Kompositum ciricgrid „kirchlicher Sonderfriede" (vgl. auch hadgrid „Sonderschutz für den Kleriker" und hœlnesgrid „Sonderfrieden für ein Heiligtum"). Diese kirchenrechtliche grnd-Terminologie griff nun auch nach Norwegen über und gewann dem Wort neuen Boden. In Frost. II, 10 erscheint kirkjugrid67. Neben jölafridr steht jólagrid, das vielleicht jünger ist (in Bj. 135 noch jölafridr). Der ältere Ausdruck ist auf jeden Fall jólahelgr (Gui. 18; Frost. II, 34; Eids. I, 14 u.a.). Auch die gripcuna ok grancuna in GR 3, 16f. beruhen ja, wie gesagt, auf kirchenrechtlichem Einfluß. Aber das Simplex grip dringt im Ostnord, nicht durch : der allgemeine Sonderfriede an kirchlichen Feiertagen wird in GR 13, 25f. als aldra manna fripr bezeichnet. Die Wendung steht in irgendeinem Zusammenhang mit den grid allra manna i millim, die in Frost. II, 10 auch in kirchenrechtlichem Zusammenhang stehen; aber im GR ist, wie man sieht, grip durch fripr ersetzt. 65

Über grithlgruth vgl. F.Dyrlund, A N F 27, 342. " Vgl. Steenstrup, Danelag 247 ff. " A. Taranger, Den angelsaksiske Kirkes indflydelse paa den norske, Kristiania 1890, S. 258 f., vermutet unmittelbaren angelsäcbs. Einfluß auf Frost. II, 10, geht aber auf die ¡7r¿