Allgemeines Priestertum: Zur Metaphorisierung des Priestertitels im Frühjudentum und Neuen Testament 3161532341, 9783161532344

Die Lehre vom Allgemeinen Priestertum ist seit der Reformationszeit fester Bestandteil protestantischer Ekklesiologie un

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Allgemeines Priestertum: Zur Metaphorisierung des Priestertitels im Frühjudentum und Neuen Testament
 3161532341, 9783161532344

Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Zum Begriff „Allgemeines Priestertum“
2 Gemeinde ohne Priester
3 Eckpunkte der Forschungsgeschichte
4 Zum Aufbau der Untersuchung
5 Zur Metaphorisierung kultischer Begriffe
5.1 Zur Forschungsgeschichte
5.2 Zu den neueren Metapherntheorien
5.3 Zur Kultmetaphorik im Neuen Testament
Kapitel I: Priester und Priesterschaften in der griechisch-römischen Antike
1 Definition
2 Der priesterliche Status
3 Priesterliche Funktionen
3.1 Mittler- und Stellvertreterfunktion
3.2 Experten für den Bereich des Heiligen
3.3 Die politische Rolle des Priestertums
4 Voraussetzungen, Ausbildung und Aufnahme
5 Sozialformen
6 Kollektive und individuelle Kultausübung
7 Ergebnis
Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit
Exkurs 1: Das historisch-kritische Bild der Geschichte des israelitischen Priestertums
1 Die Struktur des Priestertums in der Zeit des zweiten Tempels
1.1 Größe und Organisation
1.2 Hierarchie
1.3 Sozialprestige
1.4 Berufstätigkeit
2 Der religiöse Status des Priesters
2.1 Die Voraussetzungen zum Priesteramt
2.1.1 Priesterliche Abstammung
2.1.2 Korrekte Eheverhältnisse
2.1.3 Körperliche Unversehrtheit
2.1.4 Ergebnis
2.2 Der Priester im heiligen Raum
2.2.1 Etymologische Fragen
2.2.2 Die Struktur der kultischen Wirklichkeit
2.2.3 Deutungsversuche
2.2.4 Die „Herstellung“ von Heiligkeit
2.2.5 Der priesterliche Ornat
2.2.6 Die räumliche Dimension kultischer Distinktionen
2.2.7 Ergebnis
2.3 Die Funktionen des priesterlichen Dienstes
2.3.1 Der Priester als Mittler
2.3.2 Der Priester als Hüter und Ausleger des Gotteswillens
2.3.3 Der Priester als Rechtspfleger
2.4 Ergebnis
3 Die Kritik der priesterlichen Kultpraxis
3.1 Die prophetische Kritik am Priestertum in vorexilischer Zeit
3.2 Die prophetische Kritik am Priestertum in nachexilischer Zeit
4 Das Priestertum im Licht eschatologischer Hoffnungen
4.1 Metaphorisierung der Tempeltheologie
4.2 Ex 19,5f.
4.3 Jes 61,5f.
4.4 Jes 66,21
4.5 Jer 33,21f.
4.6 Ez 40–48
4.7 Sach 3,1–10
4.8 Mal 3,3
4.9 Ergebnis
5 Ergebnis
5.1 Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit
5.2 Das israelisch-jüdische Priestertum im Vergleich zur hellenistisch-römischen Umwelt
Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel in frühjüdischer Zeit
1 Die Geschichte und Kritik des jüdischen Priestertums in der Epoche des zweiten Tempels
1.1 Die Geschichte des nachexilischen Priestertums bis 70 n.Chr.
1.2 Die Kritik am Jerusalemer Priestertum in frühjüdischen Schriften
1.2.1 Das Testament Levis
1.2.2 Die Qumranschriften
1.2.3 Die Psalmen Salomos
1.2.4 Die Assumptio Moses
1.2.5 Ergebnis
2 Tempeltheologien und Tempelkritik in der Epoche des zweiten Tempels
2.1 Der Tempel in der Vielfalt frühjüdischer Perspektiven
2.1.1 Aspekte alttestamentlicher Tempeltheologie
2.1.2 Der Tempel als „universales Bethaus“
2.1.3 Der Tempel als Ausdruck jüdisch-monotheistischer Exklusivität
2.1.4 Der Tempel als Abbild des Kosmos
2.1.5 Der Tempel als Abbild des Gartens Eden
2.1.6 Bedeutung und Bedrohung des Tempels vor 70 n.Chr.
2.2 Die jüdischen Alternativtempel zum zweiten Tempel
2.2.1 Der samaritanische Tempel auf dem Garizim
2.2.2 Der oniadische Tempel in Leontopolis
2.2.3 Ergebnis
2.3 Tempelkritik und die Hoffnung auf einen eschatologischen Tempel
2.3.1 Das Buch Tobit
2.3.2 Das Jubiläenbuch
2.3.3 Die Zehnwochenapokalypse
2.3.4 Die Tiersymbolapokalypse
2.3.5 Die Qumranschriften
2.3.6 Die Sibyllinen
2.3.7 Targum Sach 6,12f. und Jes 53,5
2.3.8 Ergebnis
2.4 Die Kritiklosigkeit gegenüber dem Herodianischen Tempel
3 Ergebnis
Kapitel IV: Der priesterliche Kult in den Strömungen des Frühjudentums
1 Die Sadduzäer und das Priestertum
2 Das Priestertum in den Qumranschriften
2.1 Der priesterliche Einfluss auf den yaḥad
2.2 Der yaḥad als metaphorischer Tempel
2.3 Priesterliche Titel in den Qumranschriften
2.4 Die Funktion der Priester in den Qumranschriften
2.5 Der priesterliche Messias
2.6 Allgemeines Priestertum in Qumran?
2.7 Ergebnis
Exkurs 2: Priester in Qumran und die frühchristliche Gemeinde
3 Das Priesterbild der Levi-Tradition
3.1 Die priesterliche Levi-Tradition
3.2 Levi und das ideale Priestertum
3.2.1 Das aramäische Levi-Dokument
3.2.2 Jub 30,1–32,9
3.2.3 Das Testament Levis
3.2.4 Die Träger der priesterlichen Levi-Tradition
3.3 Ergebnis
4 Die Haltung des Pharisäismus zum Priestertum
4.1 Der Pharisäismus vor 70 n.Chr.
4.2 Der Pharisäismus und das Priestertum
4.3 Ergebnis
5 Prophetische Gestalten und Erneuerungsbewegungen vor dem Jüdischen Krieg
5.1 Johannes der Täufer
5.2 Prophetische Erneuerungsbewegungen
5.2.1 Der samaritanische Prophet
5.2.2 Theudas
5.2.3 Der Prophet aus Ägypten
5.2.4 Weitere Zeichenpropheten
5.2.5 Ergebnis
5.3 Jesus bar Ananias
5.4 Ergebnis
6 Das Priestertum im Werk von Flavius Josephus
6.1 Josephus: Priester, Aristokrat, Hasmonäer
6.2 Das Wesen des Priestertums
6.3 Geschichtsdeutung aus priesterlicher Perspektive
6.4 Das Priestertum als ideale Herrschaftsform
6.5 Ergebnis
7 Das Diasporajudentum und das Priestertum
7.1 Die Synagoge und das Priestertum
7.2 Das Priestertum im Werk Philos
7.2.1 Moralisierung
7.2.2 Spiritualisierung
7.2.3 Universalisierung
7.2.4 Sozialisierung
7.2.5 Spiritualisierung und Universalisierung des Tempels
7.2.6 Ergebnis
8 Ergebnis
Kapitel V: Jesus, der Tempel und das Jerusalemer Priestertum in den synoptischen Evangelien
1 Jesustraditionen zum Thema „Priester“ und „Tempel“
1.1 Die Heilung des Aussätzigen (Mk 1,44parr)
1.2 Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung (Mk 2,1–12)
1.3 Versöhnung vor Opfer (Mt 5,23f.)
1.4 Jesus und die Tempelsteuer (Mt 17,24–27)
1.5 Jesu Lehrtätigkeit im Tempel
1.6 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,29–37)
1.7 Jesus und die prophetische Kultkritik
1.8 Jesus und die Hohepriester
1.9 Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mt 21,33–46parr)
1.10 Ergebnis
2 Tempelwort und Tempelaktion Jesu
2.1 Das Tempelwort (Mk 14,58par)
2.1.1 Überlieferungsgeschichtliche Beobachtungen
2.1.2 Die ursprüngliche Form des Tempelwortes
2.1.3 Die Bedeutung des Tempelwortes
2.2 Die Tempelaktion Jesu (Mk 11,15–17parr)
2.3 Ergebnis
Exkurs 3: Der Tempel im lukanischen Geschichtswerk
3 Die synoptische Tradition vom gespaltenen Vorhang
3.1 Die Bedeutung des Vorhangs
3.2 Die Bedeutung der Spaltung des Vorhangs
3.3 Ergebnis
Kapitel VI: Kultmetaphorik bei Paulus
1 Das kultische Weltbild in der paulinischen Theologie
1.1 Die Bedeutung von Heiligkeit und (Un)Reinheit
1.2 Kultisches Denken als räumliches Denken
1.3 Kultisches Denken als antikes, interkulturelles Gemeingut
2 Kultische Metaphern bei Paulus
2.1 1Thess 3,13–5,23
2.2 1Kor 1,2; 1,30; 6,11
2.3 1Kor 9,13
2.4 Röm 3,25f.
2.5 Röm 5,1f
2.6 Röm 12,1
2.7 Phil 4,18
2.8 Röm 15,16
2.8.1 Zur kultischen Begrifflichkeit in Röm 15,16
2.8.2 Zur Vermeidung des Priesterbegriffs in Röm 15,16
2.8.3 Zur heilsgeschichtlichen Dimension des Apostolats in Röm 15,16
2.8.4 Zur ekklesiologischen Dimension der Heiligung in Röm 15,16
2.8.5 Zur interkulturellen Dimension von Röm 15,16
2.9 Der Kultus und die paulinischen Ämterbezeichnungen
2.10 Ergebnis
3 Die Tempelmetaphorik bei Paulus
3.1 1Kor 3,16f.
3.2 1Kor 6,19
3.3 2Kor 6,16
3.4 Paulus und der Jerusalemer Tempel
3.5 Ergebnis
4 Ergebnis
Kapitel VII: Die Gemeinde als königliche Priesterschaft nach 1Petr 2,4–10
1 Die Situation der Adressaten des 1. Petrusbriefes
Exkurs 4: Zur Verfasserfrage des 1. Petrusbriefes
2 Struktur und Gliederung von 1Petr 2,4–10
2.1 Kontextanalyse
2.2 Textstruktur
2.2.1 Beobachtungen
2.2.2 Alternativen
2.2.3 Ergebnis
2.3 Textimmanente Bezüge
2.4 Syntaktische und semiotische Beobachtungen
3 Der lebendige Stein und die lebendigen Steine (1Petr 2,4–5)
3.1 „Zu ihm herzutretend“
3.2 Der lebendige Stein
Exkurs 5: Zur Traditionsgeschichte der Stein- und Felsmetapher
3.3 Die lebendigen Steine
3.4 Die Auferbauung als geistliches Haus
3.5 Die heilige Priesterschaft
3.5.1 Zur Begriffsgeschichte von ἱεράτευμα
3.5.2 Zur Referenzgröße von ἱεράτευμα in 1Petr 2,5.9
3.5.3 Zur Bedeutung der „Heiligkeit“ der Priesterschaft
3.6 Die Darbringung geistlicher Opfer
4 Das Λίθος-Florilegium (V. 6–8)
4.1 Traditionsgeschichtliche Überlegungen
4.2 Jesus Christus, der erwählte Grundstein
4.3 Jesus Christus, der verworfene Grundstein
4.4 Jesus Christus, der Stein des Anstoßes
4.5 Jesus Christus, der Stein der Scheidung
5 Das Gottesvolk-Florilegium (V. 9–10)
5.1 Traditionsgeschichtliche Überlegungen
5.2 Das auserwählte Volk
5.3 Die königliche Priesterschaft
5.3.1 Zur Bedeutung von βασίλειον
5.3.2 Zur Bedeutung von ἱεράτευμα
5.4 Das heilige Volk
5.5 Das Volk des Eigentums
5.6 Die Bestimmung der Gemeinde
5.7 Die Berufung der Gemeinde
5.8 Das Volk Gottes
Exkurs 6: Die Bedeutung Israels im Licht von 1Petr 2,5.9f.
6 Ergebnis
7 1Petr 2,4–10 im Rahmen der frühchristlichen Identitätsformation
8 Allgemeines Priestertum in 1Petr 2,4–10?
Kapitel VIII: Die herrschenden Priester in der Johannesapokalypse
1 Die vorausgesetzte Situation der Adressaten der Johannesapokalypse
2 Apk 1,5–6
2.1 Kontext, Form, Textkritik, Genese, Struktur
2.1.1 Das Präskript
2.1.2 Form
2.1.3 Die Struktur
2.1.4 Textursprung und -genese
2.2 Die Doxologie (Apk 1,5b-6)
2.3 Die Einsetzung zum Königtum und zu Priestern
3 Apk 5,9–10
3.1 Das neue Lied (Apk 5,9–10)
3.2 Königtum und Priester (Apk 5,10)
3.3 Zwischenergebnis
3.4 Priester mit Herrschaftsfunktion
3.4.1 Herrschende Priester im Alten Testament?
3.4.2 Herrschende Priester in der paganen Antike und im Frühjudentum?
3.4.3 Die Herrschaft der Heiligen
4 Apk 20,4–6
4.1 Das Millennium
4.1.1 Die Ereignisfolge von Ez 37–48 und Apk 20f.
4.1.2 Zwischenreiche in der jüdischen Apokalyptik
4.1.3 Die 1000 Jahre im Licht jüdischer Weltzeitspekulationen
4.1.4 Symbolisches oder literal-realistisches Verständnis?
4.1.5 Die theologische Bedeutung eines messianischen Zwischenreiches
4.1.6 Ergebnis
4.2 Die Teilhaber an der tausendjährigen Herrschaft Christi
4.2.1 Zur Satzkonstruktion von Apk 20,4
4.2.2 Leben und Herrschen mit Christus
4.2.3 Weitere Teilhaber des Millenniums?
4.3 Die Priester und ihre Herrschaft
4.3.1 Herrschaft als Ausdruck der Freiheit
4.3.2 Herrschaft als Ausdruck restituierten Menschseins
4.4 Ergebnis
5 Apk 21,1–22,5
5.1 Apk 21,3f.
5.2 Apk 21,22
5.3 Apk 22,3–5
5.3.1 Die ewige Herrschaft der Knechte
5.3.2 Die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch
6 Ergebnis
Kapitel IX: Rückblick und Ausblick
1 Rückblick
1.1 Priesterschaft, Tempel und Kult in frühjüdischer und neutestamentlicher Zeit
1.2 Die Metaphorisierung des Priestertitels im Frühjudentum und Neuen Testament
1.3 Allgemeines Priestertum?
2 Ausblick
2.1 Die „Israelisierung“ der Alten Kirche
2.2 Die Reformation und das Allgemeine Priestertum
2.3 Die theologiegeschichtliche Entwicklung im Licht des Neuen Testaments
Literaturverzeichnis
1 Quellen
1.1 Bibelausgaben
1.2 Literatur des antiken Judentums
1.2.1 Apokryphen, Pseudepigraphen und Verwandtes
1.2.2 Schriften vom Toten Meer
1.2.3 Philo und Josephus
1.2.4 Rabbinisches Judentum
1.3 Literatur des frühen Christentums
1.3.1 Neutestamentliche Apokryphen
1.3.2 Apostolische Väter
1.3.3 Apologeten
1.3.4 Kirchenväter und christliche Schriftsteller
1.3.5 Weitere christliche Schriften
1.4 Gnostische Literatur
1.5 Pagane Literatur
1.5.1 Sammelwerke von Quellenschriften
1.5.2 Einzelschriften
1.6 Inschriften
1.7 Papyri
2 Hilfsmittel
2.1 Philologische Hilfsmittel
2.2 Lexikalische Hilfsmittel
2.3 Computergestützte Hilfsmittel
3 Kommentare
3.1 Kommentare zum Alten Testament
3.2 Kommentare zur Apokryphen und Pseudepigraphen
3.3 Kommentare zu den Evangelien
3.4 Kommentare zu den Paulusbriefen
3.5 Kommentare zum 1. Petrusbrief
3.6 Kommentare zur Johannesapokalypse
3.7 Kommentare zu sonstigen ntl. Büchern
4 Monographien, Aufsätze, Artikel
Stellenregister
1. Altes Testament
Genesis
Exodus
Leviticus
Numeri
Deuteronomium
Josua
Richter
1. Samuel
2. Samuel
1. Könige
2. Könige
Jesaja
Jeremia
Jeremia LXX
Ezechiel
Hosea
Joel
Amos
Obadja
Jona
Micha
Habakuk
Zephania
Haggai
Sacharja
Sacharja LXX
Maleachi
Psalmen
LXX-Psalter (nach Zählung der LXX)
Hiob
Proverbien
Threni (Klagelieder)
Esther
Daniel
Esra
Nehemia
1. Chronik
2. Chronik
2. Literatur des antiken Judentums
2.1 Apokryphen
1. Esdr(as)
1. Makkabäerbuch
2. Makkabäerbuch
3. Makkabäerbuch
Add(enda) Est(her)
Baruch
Judith
Sapientia Salomos
Sirach
Tobit
2.2 Pseudepigraphen
Apokalypse Abrahams
Apokalypse Sedrachs
Ar(amäisches) Lev(i-Dokument)
Aristeasbrief
Ascensio Jesajae
Ass(umptio) Mos(is)
(2. Baruch) Syr(ische)Bar(uchapokalypse)
(3. Baruch) gr(iechischeBar(uchapokalypse)
4. Esr(abuch)
(1.) äth(iopisches) Hen(ochbuch)
(2.) sl(awisches) Hen(ochbuch)
Jos(eph und) As(eneth)
Jub(iläenbuch)
Kopt(ische) Apok(alypse) El(ias)
Lib(er) Ant(iquitatum Biblicarum) (Pseudo-Philo)
4. Makkabäerbuch
Ps(almen) Sal(omos)
(Oracula) Sib(yllina)
Or(atio) Man(asse)
Test(ament) Hiob(s)
Testamente der Zwölf Patriarchen
Theodoret
Vit(a) Ad(ae et Evae)
Vit(ae) Proph(etarum)
2.3 Schriften vom Toten Meer
Damaskusschrift (CD)
Gemeinderegel (1QS)
Gemeinschaftsregel (1QSa)
Regel der Segenssprüche (1QSb)
Kriegsregel (1QM)
Hodajot (1QH)
Pesher Habakuk (1QpHab)
Micha-Kommentar (1Q14)
Jesaja-Rolle (1QIsA)
Texte aus Höhle 2
Florilegium (4Q174)
Halachischer Brief (4QMMT) (= 4Q394–399)
Weitere Texte aus Höhle 4
Tempelrolle (11QT)
Weitere Texte aus Höhle 11
2.4 Jüdisch-hellenistische Autoren
Philo von Alexandrien
Flavius Josephus
2.5 Rabbinische Literatur
Mischna
Talmud Bavli
Talmud Yerushalmi
Midraschim & Targumim
3. Neues Testament
Matthäusevangelium
Markusevangelium
Lukasevangelium
Johannesevangelium
Apostelgeschichte
Römerbrief
1. Korintherbrief
2. Korintherbrief
Galaterbrief
Epheserbrief
Philipperbrief
Kolosserbrief
1. Thessalonicherbrief
2. Thessalonicherbrief
1. Timotheusbrief
2. Timotheusbrief
Titusbrief
Hebräerbrief
1. Petrusbrief
2. Petrusbrief
Jakobusbrief
Judasbrief
1. Johannesbrief
2. Johannesbrief
3. Johannesbrief
Johannesapokalypse
4. Frühchristliche und altkirchliche Schriften und Autoren
Act(a) Thom(ae)
Ambr(osius)
Aphraates
Aristides
Ath(anasius)
Aug(ustinus)
Barn(abasbrief)
1(.)Clem(ensbrief)
2(.)Clem(ensbrief)
Clem(ens) Al(exandrinus)
Const(itutiones) Ap(ostolorum)
Cyprian
Did(ache)
(Syrische) Didasc(alia Apostolorum)
Diogn(et)
Ebionäerevangelium
Epiphan(ius von Salamis)
Eus(ebius von Caeasarea)
Ev(angelium) Barth(olomaei)
Ev(angelium) Petr(i)
Ev(angelium) Thom(ae)
Gregor von Nyssa
(Hirt des) Herm(as)
Hier(onymus)
Hipp(olytus)
Ign(atius von Antiochien)
Iren(aeus)
Joh(annes) Chrys(ostomos)
Just(inus) Mart(yr)
Lac(tantius)
Mart(yrium) Pol(ycarpi)
Min(ucius) Fel(ix)
Od(ae) Sal(omonis)
Orig(enes)
Polykarp
Ps(eudo)-Clem(entinische) Hom(ilien)
Ps(eudo)-Clem(entinische) Recogn(itionen)
Tert(ullianus)
Traditio Apostolica
5. Pagane Schriften und Autoren
Aetius Amidenus
Aischyl(os aus Eleusis)
Aristoph(anes aus Athen)
Aristot(eles)
Augustus
Cass(ius) Dio
Cic(ero)
Demosth(enes)
C(orpus) H(ermeticum)
Diod(orus Siculus)
Dion Chrys(sostomos)
Dion(ysios) Hal(icarnasseus)
Epict(et)
Eurip(ides)
H(ero)d(o)t(os)
Hom(eros)
Iambl(ichos)
Isok(rates)
Liv(ius)
Ov(idius)
Paulus Aeginta
Paus(anias)
Plat(on)
Plin(ius) mai(or)
Plin(ius minor)
Plut(arch)
Pol(ybios)
Porph(yrios)
Sen(eca) mai(or)
Sen(eca minor)
Soph(okles)
Strabo
Suet(onius)
Tac(itus)
Theophr(astos)
Vergil
Xenophanes
Xenophon
6. Inschriften
C(orpus) I(nscriptionum) G(raecarum)
I(nscriptiones) Chios
I(nscriptiones) Kalch(edon)
(I)nsciptiones) Kos
Lindische Tempelchronik
L(ois) S(acrées de L’)A(sie) M(ineure)
L(ois) S(acre de) C(ités) G(recques)
S(upplementum) E(pigraphicum) G(raecum)
7. Papyri
C(orpus) P(apyrorum) J(udaicorum)
Oxyrhynchus-Papy(POxy)
8. Schriften Martin Luthers
Autorenregister
Sach- und Personenregister

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) Tobias Nicklas (Regensburg)

331

Volker Gäckle

Allgemeines Priestertum Zur Metaphorisierung des Priestertitels im Frühjudentum und Neuen Testament

Mohr Siebeck

Volker Gäckle, geboren 1964; Studium der Theologie in Tübingen und Marburg; 2005 Promotion; seit 2006 Direktor des Theologischen Seminars der Liebenzeller Mission; seit 2011 Professor an der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL) und deren Rektor.

e-ISBN PDF 978-3-16-153235-1 ISBN 978-3-16-153234-4 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio­ nal­bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb. de abrufbar. © 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys­temen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­­ papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Jörg Frey dem Lehrer, Förderer und Freund

Vorwort Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner im Dezember 2013 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Zürich angenommenen Habilitationsschrift. Die Realisierung dieses Projektes wäre ohne die hervorragende Begleitung und Betreuung von Prof. Dr. Jörg Frey nicht möglich gewesen. Es ist die Verbindung von seinem überaus fachkundigen exegetischen und theologischen Rat, seinem Verständnis für persönliche Lebenssituationen und seine Großzügigkeit im Blick auf die eigenen theologischen Wege und Entscheidungen, welche die Arbeit mit ihm so angenehm und gewinnbringend macht. Er hat auch das Erstgutachten erstellt und das Werk in die WUNT-Reihe aufgenommen. In großer Dankbarkeit für die mittlerweile 14 Jahre der exegetischen, theologischen und wissenschaftlichen Begleitung möchte ich dieses Buch ihm widmen. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Samuel Vollenweider, der das Zweitgutachten verfasst hat. Seine große Expertise vor allem im Blick auf die griechisch-römische Mitwelt der von mir behandelten Texte hat mir wichtige Anstöße für die Überarbeitung geliefert. Zu danken habe ich weiter den Freunden und Kollegen Kirchenrat Dr. Fritz Röcker, Prof. Dr. Andreas Käser und Dr. Thomas Eisinger, die das Manuskript gelesen und mir wertvolle Hinweise sowohl in philologischer, exegetischer, theologischer als auch formaler Hinsicht gegeben haben und mir eine große Hilfe bei der Korrektur und Erstellung der Druckfassung waren. Dank schulde ich auch meinen Studierenden und wissenschaftlichen Hilfskräften Hannah Rentschler, Lena Beinker, Priscilla Knoll und Stefanie Uhlig für Ihre Hilfe bei der Korrektur und Erstellung der Register, sowie der Assistentin der IHL-Hochschulleitung Frau Marion Roos, die sich von der Literaturrecherche und -besorgung bis zu Korrekturprozessen in vielfältiger Weise verdient gemacht hat. Ein herzlicher Dank gilt auch Herrn Dr. Henning Ziebritzki und Frau Jana Trispel vom Verlag Mohr Siebeck für die so angenehme und unkomplizierte Zusammenarbeit. Auch die Kolleginnen und Kollegen in der Missionleitung der Liebenzeller Mission und an der Internationalen Hochschule Liebenzell, die meine Forschungen

VIII

Vorwort

mit Interesse begleitet und mit Freiräumen gefördert haben, sollen hier nicht unerwähnt bleiben. Der größte Dank gebührt natürlich meiner Frau Bettina und unseren Kindern Christian, Daniel und Ann-Kristin, die sich nicht nur bei Korrekturvorgängen und der Erstellung der Register engagiert haben, sondern das Entstehen dieses Buches über all die Jahre mit viel Geduld, Verständnis und Ermutigung begleitet und auch nicht selten ertragen haben. Für ihre Liebe und Entbehrungsbereitschaft sind Worte nicht genug. Ein Dank der besonderen Art gilt an dieser Stelle auch meinen beiden Eltern Oskar und Pauline Gäckle, die die Fertigstellung dieser Arbeit nicht mehr erlebt haben. Ohne ihre Liebe und Förderung wäre ich nicht, was ich bin. Schließlich möchte ich am Ende die Wohltaten des Gottes nicht unbezeugt lassen, der auch mich berufen hat in diese „königliche Priesterschaft“ und damit „von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht“ (1Petr 2,9). Dass dieses Werk ohne größere gesundheitliche Beeinträchtigungen und neben den Verpflichtungen in Hochschule und Familie gelingen konnte, wäre ohne die gnädige Gabe von Körper- und Geisteskraft nicht möglich gewesen. Es ist mein Wunsch, dass dieses Buch seinen Ruhm vermehrt. Calw, im Juni 2014

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Volker Gäckle

Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................. VII Einleitung ..................................................................................................1 1 Zum Begriff „Allgemeines Priestertum“ .................................................1 2 Gemeinde ohne Priester ..........................................................................2 3 Eckpunkte der Forschungsgeschichte ......................................................3 4 Zum Aufbau der Untersuchung ...............................................................7 5 Zur Metaphorisierung kultischer Begriffe ...............................................9 5.1 Zur Forschungsgeschichte.................................................................9 5.2 Zu den neueren Metapherntheorien ................................................. 13 5.3 Zur Kultmetaphorik im Neuen Testament ....................................... 15 Kapitel I: Priester und Priesterschaften in der griechisch-römischen Antike ................................................................ 19 1 Definition ............................................................................................. 20 2 Der priesterliche Status ......................................................................... 21 3 Priesterliche Funktionen ....................................................................... 23 3.1 Mittler- und Stellvertreterfunktion .................................................. 23 3.2 Experten für den Bereich des Heiligen ............................................ 26 3.3 Die politische Rolle des Priestertums .............................................. 29 4 Voraussetzungen, Ausbildung und Aufnahme ....................................... 32 5 Sozialformen ........................................................................................ 36 6 Kollektive und individuelle Kultausübung ............................................ 39 7 Ergebnis ............................................................................................... 40

X

Inhaltsverzeichnis

Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit ...................... 43 Exkurs 1: Das historisch-kritische Bild der Geschichte des israelitischen Priestertums .............................................................. 45 1 Die Struktur des Priestertums in der Zeit des zweiten Tempels ............ 54 1.1 Größe und Organisation .................................................................. 54 1.2 Hierarchie ....................................................................................... 55 1.3 Sozialprestige ................................................................................. 57 1.4 Berufstätigkeit ................................................................................ 57 2 Der religiöse Status des Priesters .......................................................... 58 2.1 Die Voraussetzungen zum Priesteramt ............................................ 59 2.1.1 Priesterliche Abstammung ..................................................... 59 2.1.2 Korrekte Eheverhältnisse ....................................................... 60 2.1.3 Körperliche Unversehrtheit .................................................... 62 2.1.4 Ergebnis ................................................................................ 63 2.2 Der Priester im heiligen Raum ........................................................ 64 2.2.1 Etymologische Fragen ........................................................... 65 2.2.2 Die Struktur der kultischen Wirklichkeit ................................ 66 2.2.3 Deutungsversuche.................................................................. 70 2.2.4 Die „Herstellung“ von Heiligkeit ........................................... 73 2.2.5 Der priesterliche Ornat .......................................................... 74 2.2.6 Die räumliche Dimension kultischer Distinktionen ................ 75 2.2.7 Ergebnis ................................................................................ 77 2.3 Die Funktionen des priesterlichen Dienstes ..................................... 78 2.3.1 Der Priester als Mittler .......................................................... 79 2.3.2 Der Priester als Hüter und Ausleger des Gotteswillens........... 81 2.3.3 Der Priester als Rechtspfleger ................................................ 84 2.4 Ergebnis ......................................................................................... 84 3 Die Kritik der priesterlichen Kultpraxis ................................................ 86 3.1 Die prophetische Kritik am Priestertum in vorexilischer Zeit .......... 87 3.2 Die prophetische Kritik am Priestertum in nachexilischer Zeit ........ 91 4 Das Priestertum im Licht eschatologischer Hoffnungen ........................ 95 4.1 Metaphorisierung der Tempeltheologie ........................................... 95

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XI

4.2 Ex 19,5f. ......................................................................................... 97 4.3 Jes 61,5f. ...................................................................................... 105 4.4 Jes 66,21 ....................................................................................... 107 4.5 Jer 33,21f...................................................................................... 109 4.6 Ez 40–48 ...................................................................................... 110 4.7 Sach 3,1–10 .................................................................................. 112 4.8 Mal 3,3 ......................................................................................... 114 4.9 Ergebnis ....................................................................................... 115 5 Ergebnis ............................................................................................. 116 5.1 Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit ............................ 116 5.2 Das israelisch-jüdische Priestertum im Vergleich zur hellenistisch-römischen Umwelt ................................................... 118 Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel in frühjüdischer Zeit 121 1 Die Geschichte und Kritik des jüdischen Priestertums in der Epoche des zweiten Tempels .................................................... 122 1.1 Die Geschichte des nachexilischen Priestertums bis 70 n.Chr. ...... 122 1.2 Die Kritik am Jerusalemer Priestertum in frühjüdischen Schriften ................................................................ 132 1.2.1 Das Testament Levis ........................................................... 133 1.2.2 Die Qumranschriften ........................................................... 135 1.2.3 Die Psalmen Salomos .......................................................... 139 1.2.4 Die Assumptio Moses .......................................................... 140 1.2.5 Ergebnis .............................................................................. 141 2 Tempeltheologien und Tempelkritik in der Epoche des zweiten Tempels .......................................................................... 142 2.1 Der Tempel in der Vielfalt frühjüdischer Perspektiven.................. 143 2.1.1 Aspekte alttestamentlicher Tempeltheologie ........................ 143 2.1.2 Der Tempel als „universales Bethaus“ ................................. 145 2.1.3 Der Tempel als Ausdruck jüdisch-monotheistischer Exklusivität ......................................................................... 146 2.1.4 Der Tempel als Abbild des Kosmos ..................................... 148 2.1.5 Der Tempel als Abbild des Gartens Eden ............................. 149

XII

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2.1.6 Bedeutung und Bedrohung des Tempels vor 70 n.Chr. ......... 151 2.2 Die jüdischen Alternativtempel zum zweiten Tempel ................... 154 2.2.1 Der samaritanische Tempel auf dem Garizim ....................... 155 2.2.2 Der oniadische Tempel in Leontopolis ................................. 157 2.2.3 Ergebnis .............................................................................. 160 2.3 Tempelkritik und die Hoffnung auf einen eschatologischen Tempel .............................................................. 161 2.3.1 Das Buch Tobit .................................................................... 161 2.3.2 Das Jubiläenbuch ................................................................. 162 2.3.3 Die Zehnwochenapokalypse ................................................ 164 2.3.4 Die Tiersymbolapokalypse .................................................. 165 2.3.5 Die Qumranschriften ........................................................... 167 2.3.6 Die Sibyllinen...................................................................... 169 2.3.7 Targum Sach 6,12f. und Jes 53,5 ......................................... 170 2.3.8 Ergebnis .............................................................................. 172 2.4 Die Kritiklosigkeit gegenüber dem Herodianischen Tempel .......... 172 3 Ergebnis ............................................................................................. 175 Kapitel IV: Der priesterliche Kult in den Strömungen des Frühjudentums ............................................................................. 179 1 Die Sadduzäer und das Priestertum ..................................................... 180 2 Das Priestertum in den Qumranschriften ............................................. 185 2.1 Der priesterliche Einfluss auf den yaḥad ....................................... 190 2.2 Der yaḥad als metaphorischer Tempel .......................................... 194 2.3 Priesterliche Titel in den Qumranschriften .................................... 197 2.4 Die Funktion der Priester in den Qumranschriften ........................ 200 2.5 Der priesterliche Messias .............................................................. 201 2.6 Allgemeines Priestertum in Qumran? ............................................ 203 2.7 Ergebnis ....................................................................................... 205 Exkurs 2: Priester in Qumran und die frühchristliche Gemeinde ......... 206 3 Das Priesterbild der Levi-Tradition ..................................................... 207 3.1 Die priesterliche Levi-Tradition .................................................... 208

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XIII

3.2 Levi und das ideale Priestertum .................................................... 210 3.2.1 Das aramäische Levi-Dokument .......................................... 210 3.2.2 Jub 30,1–32,9 ...................................................................... 212 3.2.3 Das Testament Levis ........................................................... 214 3.2.4 Die Träger der priesterlichen Levi-Tradition ........................ 216 3.3 Ergebnis ....................................................................................... 216 4 Die Haltung des Pharisäismus zum Priestertum .................................. 217 4.1 Der Pharisäismus vor 70 n.Chr. .................................................... 218 4.2 Der Pharisäismus und das Priestertum .......................................... 221 4.3 Ergebnis ....................................................................................... 227 5 Prophetische Gestalten und Erneuerungsbewegungen vor dem Jüdischen Krieg .................................................................... 228 5.1 Johannes der Täufer ...................................................................... 229 5.2 Prophetische Erneuerungsbewegungen ......................................... 235 5.2.1 Der samaritanische Prophet ................................................. 236 5.2.2 Theudas ............................................................................... 237 5.2.3 Der Prophet aus Ägypten ..................................................... 237 5.2.4 Weitere Zeichenpropheten ................................................... 238 5.2.5 Ergebnis .............................................................................. 239 5.3 Jesus bar Ananias ......................................................................... 241 5.4 Ergebnis ....................................................................................... 242 6 Das Priestertum im Werk von Flavius Josephus .................................. 242 6.1 Josephus: Priester, Aristokrat, Hasmonäer .................................... 243 6.2 Das Wesen des Priestertums ......................................................... 245 6.3 Geschichtsdeutung aus priesterlicher Perspektive ......................... 247 6.4 Das Priestertum als ideale Herrschaftsform ................................... 249 6.5 Ergebnis ....................................................................................... 250 7 Das Diasporajudentum und das Priestertum ........................................ 250 7.1 Die Synagoge und das Priestertum ................................................ 253 7.2 Das Priestertum im Werk Philos ................................................... 259 7.2.1 Moralisierung ...................................................................... 261 7.2.2 Spiritualisierung .................................................................. 262

XIV

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7.2.3 Universalisierung................................................................. 264 7.2.4 Sozialisierung ...................................................................... 264 7.2.5 Spiritualisierung und Universalisierung des Tempels ........... 266 7.2.6 Ergebnis .............................................................................. 267 8 Ergebnis ............................................................................................. 269 Kapitel V: Jesus, der Tempel und das Jerusalemer Priestertum in den synoptischen Evangelien .................................................................... 277 1 Jesustraditionen zum Thema „Priester“ und „Tempel“ ........................ 280 1.1 Die Heilung des Aussätzigen (Mk 1,44parr) ................................. 280 1.2 Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung (Mk 2,1–12) ...................... 281 1.3 Versöhnung vor Opfer (Mt 5,23f.) ................................................ 283 1.4 Jesus und die Tempelsteuer (Mt 17,24–27) ................................... 284 1.5 Jesu Lehrtätigkeit im Tempel ........................................................ 285 1.6 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,29–37) .......... 285 1.7 Jesus und die prophetische Kultkritik............................................ 286 1.8 Jesus und die Hohepriester............................................................ 286 1.9 Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mt 21,33–46parr) ........................................................................ 287 1.10 Ergebnis ..................................................................................... 289 2 Tempelwort und Tempelaktion Jesu.................................................... 290 2.1 Das Tempelwort (Mk 14,58par) .................................................... 290 2.1.1 Überlieferungsgeschichtliche Beobachtungen ...................... 290 2.1.2 Die ursprüngliche Form des Tempelwortes .......................... 292 2.1.3 Die Bedeutung des Tempelwortes ........................................ 296 2.2 Die Tempelaktion Jesu (Mk 11,15–17parr) ................................... 299 2.3 Ergebnis ....................................................................................... 307 Exkurs 3: Der Tempel im lukanischen Geschichtswerk ....................... 310 3 Die synoptische Tradition vom gespaltenen Vorhang .......................... 313 3.1 Die Bedeutung des Vorhangs ........................................................ 315 3.2 Die Bedeutung der Spaltung des Vorhangs ................................... 316 3.3 Ergebnis ....................................................................................... 319

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XV

Kapitel VI: Kultmetaphorik bei Paulus .................................................. 321 1 Das kultische Weltbild in der paulinischen Theologie ......................... 322 1.1 Die Bedeutung von Heiligkeit und (Un)Reinheit ........................... 323 1.2 Kultisches Denken als räumliches Denken .................................... 324 1.3 Kultisches Denken als antikes, interkulturelles Gemeingut ........... 324 2 Kultische Metaphern bei Paulus .......................................................... 325 2.1 1Thess 3,13–5,23 .......................................................................... 325 2.2 1Kor 1,2; 1,30; 6,11 ...................................................................... 328 2.3 1Kor 9,13 ..................................................................................... 330 2.4 Röm 3,25f. .................................................................................... 331 2.5 Röm 5,1f....................................................................................... 336 2.6 Röm 12,1 ...................................................................................... 340 2.7 Phil 4,18 ....................................................................................... 345 2.8 Röm 15,16 .................................................................................... 347 2.8.1 Zur kultischen Begrifflichkeit in Röm 15,16 ........................ 347 2.8.2 Zur Vermeidung des Priesterbegriffs in Röm 15,16 ............. 351 2.8.3 Zur heilsgeschichtlichen Dimension des Apostolats in Röm 15,16 ........................................................................... 353 2.8.4 Zur ekklesiologischen Dimension der Heiligung in Röm 15,16 ........................................................................... 356 2.8.5 Zur interkulturellen Dimension von Röm 15,16 ................... 356 2.9 Der Kultus und die paulinischen Ämterbezeichnungen ................. 357 2.10 Ergebnis ..................................................................................... 358 3 Die Tempelmetaphorik bei Paulus ...................................................... 361 3.1 1Kor 3,16f. ................................................................................... 361 3.2 1Kor 6,19 ..................................................................................... 364 3.3 2Kor 6,16 ..................................................................................... 367 3.4 Paulus und der Jerusalemer Tempel .............................................. 370 3.5 Ergebnis ....................................................................................... 373 4 Ergebnis ............................................................................................. 376

XVI

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Kapitel VII: Die Gemeinde als königliche Priesterschaft nach 1Petr 2,4–10 .............................................................................. 385 1 Die Situation der Adressaten des 1. Petrusbriefes ............................... 386 Exkurs 4: Zur Verfasserfrage des 1. Petrusbriefes ............................... 392 2 Struktur und Gliederung von 1Petr 2,4–10 .......................................... 397 2.1 Kontextanalyse ............................................................................. 397 2.2 Textstruktur .................................................................................. 399 2.2.1 Beobachtungen .................................................................... 399 2.2.2 Alternativen ......................................................................... 400 2.2.3 Ergebnis .............................................................................. 402 2.3 Textimmanente Bezüge ................................................................ 403 2.4 Syntaktische und semiotische Beobachtungen ............................... 403 3 Der lebendige Stein und die lebendigen Steine (1Petr 2,4–5) ............. 405 3.1 „Zu ihm herzutretend“ .................................................................. 406 3.2 Der lebendige Stein ...................................................................... 407 Exkurs 5: Zur Traditionsgeschichte der Stein- und Felsmetapher ........ 408 3.3 Die lebendigen Steine ................................................................... 414 3.4 Die Auferbauung als geistliches Haus ........................................... 416 3.5 Die heilige Priesterschaft .............................................................. 420 3.5.1 Zur Begriffsgeschichte von i`era,teuma .................................. 421 3.5.2 Zur Referenzgröße von i`era,teuma in 1Petr 2,5.9 .................. 422 3.5.3 Zur Bedeutung der „Heiligkeit“ der Priesterschaft ............... 424 3.6 Die Darbringung geistlicher Opfer ................................................ 425 4 Das Li,qoj-Florilegium (V. 6–8).......................................................... 429 4.1 Traditionsgeschichtliche Überlegungen ........................................ 430 4.2 Jesus Christus, der erwählte Grundstein ........................................ 432 4.3 Jesus Christus, der verworfene Grundstein .................................... 433 4.4 Jesus Christus, der Stein des Anstoßes .......................................... 434 4.5 Jesus Christus, der Stein der Scheidung ........................................ 435 5 Das Gottesvolk-Florilegium (V. 9–10) ................................................ 437 5.1 Traditionsgeschichtliche Überlegungen ........................................ 437 5.2 Das auserwählte Volk ................................................................... 440

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XVII

5.3 Die königliche Priesterschaft ........................................................ 441 5.3.1 Zur Bedeutung von basi,leion .............................................. 441 5.3.2 Zur Bedeutung von i``era,teuma .............................................. 444 5.4 Das heilige Volk ........................................................................... 446 5.5 Das Volk des Eigentums ............................................................... 448 5.6 Die Bestimmung der Gemeinde .................................................... 448 5.7 Die Berufung der Gemeinde ......................................................... 452 5.8 Das Volk Gottes ........................................................................... 453 Exkurs 6: Die Bedeutung Israels im Licht von 1Petr 2,5.9f. ................ 455 6 Ergebnis ............................................................................................. 459 7 1Petr 2,4–10 im Rahmen der frühchristlichen Identitätsformation ....... 463 8 Allgemeines Priestertum in 1Petr 2,4–10? .......................................... 466 Kapitel VIII: Die herrschenden Priester in der Johannesapokalypse ....... 471 1 Die vorausgesetzte Situation der Adressaten der Johannesapokalypse . 473 2 Apk 1,5–6 ........................................................................................... 477 2.1 Kontext, Form, Textkritik, Genese, Struktur ................................. 477 2.1.1 Das Präskript ....................................................................... 477 2.1.2 Form .................................................................................... 478 2.1.3 Die Struktur ......................................................................... 480 2.1.4 Textursprung und -genese .................................................... 481 2.2 Die Doxologie (Apk 1,5b-6) ......................................................... 486 2.3 Die Einsetzung zum Königtum und zu Priestern ........................... 490 3 Apk 5,9–10 ......................................................................................... 495 3.1 Das neue Lied (Apk 5,9–10) ......................................................... 496 3.2 Königtum und Priester (Apk 5,10) ................................................ 501 3.3 Zwischenergebnis ......................................................................... 502 3.4 Priester mit Herrschaftsfunktion ................................................... 506 3.4.1 Herrschende Priester im Alten Testament?........................... 507 3.4.2 Herrschende Priester in der paganen Antike und im Frühjudentum? .................................................................... 508 3.4.3 Die Herrschaft der Heiligen ................................................. 511

XVIII

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4 Apk 20,4–6 ......................................................................................... 514 4.1 Das Millennium ............................................................................ 516 4.1.1 Die Ereignisfolge von Ez 37–48 und Apk 20f. ..................... 520 4.1.2 Zwischenreiche in der jüdischen Apokalyptik ...................... 522 4.1.3 Die 1000 Jahre im Licht jüdischer Weltzeitspekulationen ......................................................... 528 4.1.4 Symbolisches oder literal-realistisches Verständnis? ........... 531 4.1.5 Die theologische Bedeutung eines messianischen Zwischenreiches .................................................................. 536 4.1.6 Ergebnis .............................................................................. 538 4.2 Die Teilhaber an der tausendjährigen Herrschaft Christi ............... 539 4.2.1 Zur Satzkonstruktion von Apk 20,4 ..................................... 539 4.2.2 Leben und Herrschen mit Christus ....................................... 545 4.2.3 Weitere Teilhaber des Millenniums? .................................... 546 4.3 Die Priester und ihre Herrschaft .................................................... 547 4.3.1 Herrschaft als Ausdruck der Freiheit .................................... 549 4.3.2 Herrschaft als Ausdruck restituierten Menschseins .............. 552 4.4 Ergebnis ....................................................................................... 553 5 Apk 21,1–22,5 .................................................................................... 554 5.1 Apk 21,3f. .................................................................................... 556 5.2 Apk 21,22 ..................................................................................... 560 5.3 Apk 22,3–5 ................................................................................... 563 5.3.1 Die ewige Herrschaft der Knechte ....................................... 564 5.3.2 Die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch ..................... 565 6 Ergebnis ............................................................................................. 567 Kapitel IX: Rückblick und Ausblick ...................................................... 573 1 Rückblick ........................................................................................... 573 1.1 Priesterschaft, Tempel und Kult in frühjüdischer und neutestamentlicher Zeit ................................................................ 573 1.2 Die Metaphorisierung des Priestertitels im Frühjudentum und Neuen Testament ................................................................... 582 1.3 Allgemeines Priestertum? ............................................................. 593

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XIX

2 Ausblick ............................................................................................. 596 2.1 Die „Israelisierung“ der Alten Kirche ........................................... 596 2.2 Die Reformation und das Allgemeine Priestertum......................... 604 2.3 Die theologiegeschichtliche Entwicklung im Licht des Neuen Testaments ........................................................................ 612 Literaturverzeichnis ............................................................................... 615 1 Quellen ............................................................................................... 615 1.1 Bibelausgaben .............................................................................. 615 1.2 Literatur des antiken Judentums .................................................... 615 1.2.1 Apokryphen, Pseudepigraphen und Verwandtes................... 615 1.2.2 Schriften vom Toten Meer ................................................... 618 1.2.3 Philo und Josephus .............................................................. 618 1.2.4 Rabbinisches Judentum........................................................ 619 1.3 Literatur des frühen Christentums ................................................. 621 1.3.1 Neutestamentliche Apokryphen ........................................... 621 1.3.2 Apostolische Väter .............................................................. 622 1.3.3 Apologeten .......................................................................... 623 1.3.4 Kirchenväter und christliche Schriftsteller ........................... 623 1.3.5 Weitere christliche Schriften................................................ 626 1.4 Gnostische Literatur ..................................................................... 626 1.5 Pagane Literatur ........................................................................... 627 1.5.1 Sammelwerke von Quellenschriften ..................................... 627 1.5.2 Einzelschriften ..................................................................... 627 1.6 Inschriften .................................................................................... 632 1.7 Papyri ........................................................................................... 632 2 Hilfsmittel .......................................................................................... 632 2.1 Philologische Hilfsmittel .............................................................. 632 2.2 Lexikalische Hilfsmittel ................................................................ 633 2.3 Computergestützte Hilfsmittel ...................................................... 634 3 Kommentare ....................................................................................... 634 3.1 Kommentare zum Alten Testament ............................................... 634

XX

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3.2 Kommentare zur Apokryphen und Pseudepigraphen ..................... 635 3.3 Kommentare zu den Evangelien .................................................... 635 3.4 Kommentare zu den Paulusbriefen ................................................ 635 3.5 Kommentare zum 1. Petrusbrief .................................................... 637 3.6 Kommentare zur Johannesapokalypse ........................................... 637 3.7 Kommentare zu sonstigen ntl. Büchern ......................................... 638 4 Monographien, Aufsätze, Artikel ........................................................ 638 Stellenregister ....................................................................................... 679 Autorenregister ...................................................................................... 737 Sach- und Personenregister .................................................................... 747

Einleitung 1 Zum Begriff „Allgemeines Priestertum“ Die Lehre vom Allgemeinen Priestertum ist seit der Reformationszeit fester Bestandteil protestantischer Ekklesiologie. Bis in die Gegenwart bildet diese Lehre einen wesentlichen Ausgangspunkt für Fragen nach dem Verständnis sowohl von der Würde des Glaubenden als auch von Dienst, Amt und Ordination im protestantischen Verständnis. Erst 2006 hat dazu die VELKD eine Empfehlung ihrer Bischofskonferenz unter dem Titel „Ordnungsgemäß berufen“ veröffentlicht,1 in der verschiedene Fragen im Horizont der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung durch haupt-, neben- oder ehrenamtliche Christen und Gemeindeglieder thematisiert werden. Grundlage für die in der Empfehlung entfalteten Leitlinien sind Luthers Aussagen zum Allgemeinen Priestertum, die im Gegenüber zum Grundsatz der ordnungsgemäßen Berufung nach CA XIV entfaltet werden. Fragt man weiter nach dem Entstehungskontext dieser Lehraussagen, so stößt man auf die reformatorischen Auseinandersetzungen, die sowohl dem Begriff „Allgemeines Priestertum“, der so freilich weder im Alten noch im Neuen Testament belegt ist, als auch der damit bezeichneten Sache eine theologiegeschichtliche und kontroverstheologische Bedeutung ersten Ranges verliehen haben.2 Diese Auseinandersetzungen sind bis in die Gegenwart hinein – man lese nur den VELKD-Text – geprägt von der Frage, wer mit welcher Würde und unter 1

„Ordnungsgemäß berufen“. Eine Empfehlung der Bischofskonferenz der VELKD zur Berufung zu Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung nach evangelischem Verständnis, VELKD-Texte 136/2006. Konkret geht es um Fragen, wie der kirchliche Auftrag vor dem Horizont finanzieller Sparzwänge weiterhin flächendeckend wahrgenommen werden kann, die Fähigkeiten und Begabungen nicht-ordinierter Christen stärker genutzt werden können, sowie um Recht und Reichweite des Dienstes von Prädikantinnen und Prädikanten, Gemeindepädagoginnen und -pädagogen, Theologinnen und Theologen nach der Ersten Theologischen Dienstprüfungen (Vikariat) und nach der Zweiten Theologischen Dienstprüfung, wenn diese nicht in den haupt- und nebenamtlichen Dienst übernommen werden. 2 Eine etwas ausführlichere Darstellung der theologieschichtlichen Entwicklung findet sich am Ende dieser Monographie in einem theologie- und wirkungsgeschichtlichen „Ausblick“ →IX.2.

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Einleitung

welchen Voraussetzungen legitimiert war bzw. ist, bestimmte Funktionen innerhalb der Gemeinde bzw. Kirche auszuüben. Die biblische Begründung dieses Allgemeinen Priestertums geht seit Luther bis in den besagten VELKD-Text hinein zurück auf die einschlägigen Basistexte in 1Petr 2,5.9 und Apk 1,5f.; 5,9f. und 20,6.3 Es ist diese Funktion, als dicta probantia für das Allgemeine Priestertum zu dienen, der diese Texte seit der Reformation ihre theologische Prominenz verdanken. Damit wurden sie jedoch über Jahrhunderte hinweg als Grundlage für Antworten auf eine theologische Fragestellung verwendet, die nicht die Fragestellung ihrer Entstehungssituation war und die diese Texte deshalb auch weder beantworten konnten noch wollten. Der zeit-, geistes- und theologiegeschichtliche Horizont, in dem diese Texte entstanden sind, war ein völlig anderer als jener der Reformationszeit. Entsprechend schwer haben es diese Texte bis heute, das zu sagen, was sie in ihrer Zeit sagen wollten und auch bis in unsere Tage hinein jenseits der theologiegeschichtlichen Auseinandersetzungen sagen können.

2 Gemeinde ohne Priester Die besagten Verse führen uns zunächst einmal in die faszinierende Welt des antiken Priestertums als einem grenzen- und kulturübergreifenden Phänomen der antiken Welt. In dieser Institution spiegelt sich bis heute ein anthropologisches Bedürfnis nach Vermittlung in der Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit des Göttlichen. Dieses Bedürfnis scheint auf dem Eindruck oder der Vorstellung zu basieren, dass eine unmittelbare Begegnung mit Gott bzw. der Gottheit ohne die Vermittlung durch einen Experten bzw. einen um die Geheimnisse der Gottheit(en) Wissenden nicht gelingen kann. Ein Charakteristikum der frühchristlichen Gemeinden liegt nun darin, dass sich in einer in religiöser Hinsicht fast ausschließlich priesterlich organisierten Welt eine Bewegung ohne Kult „heraus-gebildet“ hat, die offensichtlich ganz bewusst und begründet auf die Institution eines Priestertums bzw. einer „Expertenkaste“ mit priesterlichen Funktionen verzichtete und damit de facto auch auf eine Vermittlung des Gottesverhältnisses des Einzelnen wie der sozialen Gruppe (Gemeinde). Aus der Retrospektive von zwei Jahrtausenden christlicher und nachchristlicher Theologie- und Religionsgeschichte ist die Bedeutung dieses Schrittes nicht mehr auf den ersten Blick zu erfassen. Aber in einer kultisch formatierten Welt war der Verzicht einer Gemeinschaft auf Kult, Opfer und Priester durchaus begründungs- und reflexionsbedürftig. 3

„Ordnungsgemäß berufen“, VELKD-Texte 136 (2006), 7.

3 Eckpunkte der Forschungsgeschichte

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Überraschend aus religionsphänomenologischer Sicht ist auch die Konsequenz mit der sich diese „Re-Formation“ vollzog. Es sind in den verfügbaren Quellen noch nicht einmal Ansätze zur Installation eines Priesteramtes erkennbar, im Gegenteil. Sämtliche bekannten Amtsbezeichnungen der ersten Christenheit hatten unkultischen und rein funktionalen Charakter.4 Dies ist umso erstaunlicher, als selbst das Judentum, das nach der Katastrophe des Jüdischen Krieges und der Tempelzerstörung gezwungenermaßen auf den Kult verzichten musste, sein hereditär konstituiertes Priestertums nicht einfach auflöste. Diese Studie soll nun die Entwicklungen nachzeichnen, denen der Begriff des Priesters bzw. der Priesterschaft in der Epoche des zweiten Tempels bis zu seiner Metaphorisierung im Neuen Testament unterworfen war. So sehr die bis heute virulenten kontroverstheologischen Fragen der Reformationszeit im Blick bleiben, so wenig können sie den Fokus dieser Untersuchung bilden. Im Mittelpunkt steht die Frage, was es bedeutete, wenn in der zweiten Hälfte des 1. Jh. n.Chr. Christen in Kleinasien ohne jegliche formale priesterliche Qualifikation als „Priester“ bzw. „Priesterschaft“ identifiziert wurden und wie es im Licht der jüdischen (Religions-) Geschichte seit dem Exil dazu kommen konnte. Während es in der Forschung der letzten Jahrzehnte eine ganze Reihe von Beiträgen gab, die sich auf einzelne Texte und Aspekte dieser Geschichte beziehen, steht eine Gesamtdarstellung – sieht man einmal von den zahlreichen Lexikonartikeln zum Stichwort „Priester/Priesterschaft/ Priestertum“ einmal ab – noch aus. Diesem Desiderat will die vorliegende Untersuchung begegnen.

3 Eckpunkte der Forschungsgeschichte 3 Eckpunkte der Forschungsgeschichte

In einer Haltung der Dankbarkeit sollen an dieser Stelle die wichtigsten Arbeiten zu diesem Thema genannt werden, wohlwissend dass die Abgrenzung durch den Superlativ stets ein riskantes Unterfangen ist. Eine inhaltliche Auseinandersetzung und Diskussion mit den jeweiligen Entwürfen findet in den Fußnoten an Ort und Stelle statt. Von grundlegender Bedeutung ist die Arbeit von H. Wenschkewitz über „Die Spiritualisierung der Kultusbegriffe“ aus dem Jahre 1932.5 Wenn auch die problematische Kategorie der „Spiritualisierung“ in den folgenden Jahrzehnten viel berechtigte Kritik erfahren hat (→E.5.1), so stellt

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Vgl. SÄNGER, Amt, 623.634–636.639–642.649.655. Die Spiritualisierung der Kultusbegriffe Tempel, Priester und Opfer im Neuen Testament (Angelos, Beiheft 4), 1932. 5

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seine Untersuchung doch eine erste Grundlage für die weitere Forschung dar. In einer Konzentration von Wenschkewitz‘ Thema der Spiritualisierung der Kultbegriffe auf das (Allgemeine) Priestertum hat L. Cerfaux 1939 über 34 Seiten die Entwicklung des Theologumenon nachgezeichnet.6 Ausgehend von Ex 19,6 verfolgt Cerfaux das Thema über das Judentum (Septuaginta, Philo, Josephus, palästinisches Judentum), den 1. Petrusbrief,7 die Johannesapokalypse, den Hebräerbrief, die Evangelien bis zu den Zeugen der Alten Kirche (Justin, Tertullian, Cyprian, Didaskalia und die Apostolischen Konstitutionen). Besonders zu erwähnen sind an dieser Stelle auch die beiden monumentalen Werke von P. Dabin über „Le sacerdoce royal des fidèles dans le Livres Saints“ (1941) und „Le sacerdoce royal des fidèles dans la tradition ancienne et moderne“ (1950), der im ersten Band die biblischen Belege und im zweiten Band das Verständnis des Priestertums der Glaubenden von der Alten Kirche bis in seine Gegenwart nachzeichnet. Dabins über 70 Jahre alter erster Band ist m.W. das einzige Werk, das der vorliegenden Untersuchung im weitesten Sinne als Vorbild dienen könnte. Viele der in der folgenden Studie untersuchten Belege kommen auch bei Dabin mehr oder weniger ausführlich zur Sprache, allerdings weniger mit einem exegetisch-historischen als vielmehr mit einem dogmatischen Interesse. Dabin unternimmt auf 483 Seiten den Versuch, das römischkatholische Verständnis des allgemeinen und des besonderen Priestertums im Blick auf die entsprechende Amts- und Sakramentstheologie biblisch zu untermauern. So beginnt er z.B. im ersten Kapitel mit einer Entfaltung der atl. Ursprünge des dreifachen Amtes Christi und beschließt dasselbe mit einer Reflexion über die „participation laïque“ an diesem Amt. Es folgt in den Kapiteln II–VIII eine breite Darlegung über das atl. Priestertum, wobei neben dem von Ex 19,6 bekannten „Königreich von Priestern“ v.a. das levitische Priestertum behandelt wird, das als Vorbild des besonderen Priestertums des Amtes dient.8 Entsprechend ist die Untersuchung nicht historisch-chronologisch angelegt, sondern orientiert sich mehr an dogmatischen Fragestellungen. Der zweite Hauptteil behandelt das ntl. Zeugnis und widmet sich zunächst den einschlägigen Belegen des 1. Petrusbriefes, der paulinischen Konzeption „du nouveau peuple théocratique“ und der Johannesapokalypse (in dieser Reihenfolge!). Es folgt in Kapitel IV ein interessanter aber exegetisch eigenartiger Vergleich des „sacerdoce royal“ und des „royaume de Dieu“ anhand 6

L. CERFAUX, Regale Sacerdotum, in: Revue des Sciences Philosophiques et Théologiques 28 (1939), 5–39. Zugänglich auch in: Recueil L. CERFAUX. Études d’Éxégèse et d’Histoire Religieuse de Monseigneur Cerfaux, Bd. II, Gembloux 1954, 283–315. Drei Jahre zuvor erschien die Dissertation von E. NIEBECKER, Das allgemeine Priestertum der Gläubigen, Paderborn 1936, die sich allerdings nach einem äußerst knappen biblischen Einführungsteil auf die theologiegeschichtliche Entwicklung der Lehre im Kontext der katholischen Dogmatik beschränkt. 7 Zur Erhellung von 1Petr 2,4–10 zieht CERFAUX auch einige paulinische Belege wie Eph 2,18–22; Phil 3,3 und Röm 12,1 heran. 8 Vgl. z.B. Kapitel V: „Actes cultuels des laïques“, oder Kapitel VII: „Le sacerdoce fonctionnel, dans sa relation avec le sacerdoce universel“.

3 Eckpunkte der Forschungsgeschichte

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der synoptischen Evangelien. Wie dogmatisch bestimmt die gesamte Arbeit ist, wird dann in den Kapiteln V–VII evident, wo es um „L’Alliance de la Cène“ als „rite d’institution du nouveau sacerdoce royal“ (Kap. V), sowie um „L’initiation individuelle du sacerdoce royal“ und „La consécration en hosties personelles“ im Blick auf die christlichen Laienbrüder (oblats chrétiens) geht. Dabins Werk ist schwer einzuordnen. So sehr auf der einen Seite der kreative Zugang und der weite Horizont Dabins beeindrucken, die es ihm ermöglichen, biblische Belege miteinander ins Gespräch zu bringen, die nach strengen exegetischen Regeln nur wenig miteinander zu tun haben, so irritiert gleichzeitig der kaum stattfindende Dialog mit der exegetischen Fachliteratur und die unbekümmerte Orientierung an Fragestellungen der römisch-katholischen Glaubenslehre, für deren Beantwortung die biblischen Texte eine reine Belegfunktion zu haben scheinen.

Nachdem in den 50er Jahren kleinere Beiträge von E. Kindler und J. Blinzler entstanden,9 erschienen in den 60er bzw. 70er Jahren zwei große Monographien zu den ntl. Texten aus 1Petr 2,4–10 und den Priesterbelegen der Johannesapokalypse (1,6; 5,10; 20,6), die bis heute als Ausgangspunkt für alle weiteren Forschungen gelten müssen. Es ist zum einen die Münsteraner Dissertation von J.H. Elliott über „The Elect and the Holy“10 aus dem Jahr 1966, der sich in seiner Detailexegese den Versen aus 1Petr 2,4–10 angenommen und trotz aller Anfragen im Detail eine Vielzahl bis heute gültiger Ergebnisse vorgelegt hat. Vieles davon findet sich auch in seinem monumentalen Kommentar zum 1. Petrusbrief in der Anchor-Kommentarreihe aus dem Jahr 2000 wieder.11 Nicht weniger gründlich und noch wesentlich umfänglicher war die Würzburger Dissertation von E. SchüsslerFiorenza über „Priestertum und Herrschaft nach der Johannesapokalyse“12 (erschienen unter dem Titel „Priester für Gott“) über die Priesterbelege der Johannesapokalypse. Auch viele Beobachtungen aus ihrer minutiösen Arbeit haben bis heute Gültigkeit oder müssen zumindest ernsthaft diskutiert und in Erwägung gezogen werden. Für die Texte aus der Johannesapokalypse liegt mit der Arbeit von H. Roose über das Motiv der „Eschatologischen Mitherrschaft“13 eine weitere Untersuchung vor, die sich zwar einem anderen Motiv der ntl. Eschatologie widmet, sich aber notwendigerweise auch mit den Priesterbelegen der Johannesapokalypse beschäftigt. In jüngerer Zeit gab es verschiedene Arbeiten aus dem angelsächsichen Raum, die jedoch bislang nur wenig Beachtung gefunden haben. J.B. Wells 9 E. KINDER, „Allgemeines Priestertum“ im Neuen Testament, in: SThKAB 5, Berlin 1953, 5–23; J. B LINZLER, IERATEUMA, in: Episcopus. Studien über das Bischofsamt, Regensburg 1949, 49–65. 10 The Elect and the Holy. An exegetical examination of 1Peter 2,4–10 and phrase „basileion hieroteuma“ (NT Suppl. 12), Leiden 1966. 11 1Peter (AncBC 37B), New York 2000. 12 Priestertum und Herrschaft nach der Apokalypse (NA N.F. 7), Münster 1970. 13 Eschatologische Mitherrschaft. Entwicklungslinien einer urchristlichen Erwartung (NTOA), Göttingen 2004.

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beschäftigte sich in ihrer im Jahr 2000 erschienen Dissertation über „God’s Holy People“14 ausgehend von Ex 19,5–6 mit der Heiligkeit des Gottesvolkes und fokussiert ihre Untersuchung dabei auf den Heiligkeitsbegriff und das Priestertum. Obwohl die Arbeit ihren eindeutigen Forschungsschwerpunkt im Alten Testament hat (Ex 19,5–6, Heiligkeit im Pentateuch, Priestertum, Jesaja, Ezechiel, Gen 12,1–4), zieht die Autorin ihre Linien bis ins Neue Testament und entfaltet sie exemplarisch – und in der notwendigen Kürze – anhand von 1Petr 2,4–10. Die Arbeit von C. Bulley mit dem Titel „The Priesthood of Some Believers“ aus dem Jahr 2000 hat einen stark theologiegeschichtlichen und kontroverstheologischen Ansatz und ist von der Frage geprägt, ob die Anwendung priesterlicher Ideen und Sprache auf den Stand der Ordinierten sich in irgendeiner Weise von ihrer Anwendung auf die Kirche als Ganze unterscheidet und ob bereits im Neuen Testament Gemeindeleiter als Priester verstanden wurden.15 Nach einem sehr knappen, 50 Seiten starken und notwendigerweise oberflächlichen Durchgang durch nahezu alle in irgendeiner Weise relevanten ntl. Belege, besteht der Hauptteil der Untersuchung aus einer Analyse der Apostolischen Väter und der altkirchlichen Autoren bis ca. 300 n.Chr. im Blick auf die Fragen nach dem allgemeinen und besonderen Priestertum. Zu der auch von Wenschkewitz bearbeiteten Thematik über die Verwendung der atl. Kultbegriffe zur Beschreibung der ntl. Heilswirklichkeit bei Paulus ist mittlerweile eine Fülle von Arbeiten erschienen, deren Besprechung eine eigene Monographie füllen würde. In der vorliegenden Arbeit wurden v.a. die Untersuchungen von A. Hogeterp16, W. Strack17 und M. Vahrenhorst18 berücksichtigt. Schließlich ist noch M. Himmelfarbs „A Kingdom of Priests“ von besonderer Bedeutung.19 Sie vertritt in ihrer Studie die These, dass das Judentum in der Epoche des zweiten Tempels von der Grundspannung zwischen der Priesterschaft einerseits und religiösen Gruppierungen andererseits geprägt war. Während der Status der Priester auf deren Abstammung (ancestry) beruhte und damit sowohl hereditär als auch offenbarungstheologisch legitimiert war, bemühten sich verschiedene Religionsparteien die 14 J.B. W ELLS, God’s Holy People. A Theme in Biblical Theology (JSOTSup 305), Sheffield 2000. 15 C. B ULLEY, The Priesthood of Some Believers. Developments from the General to the Special Priesthood in the Christian Literature in the first three Centuries, Carlisle, 2000, 18f. 16 Paul and God's Temple. A Historical Interopretation of Cultic Imagery in the Corithian Correspondence, Leuven 2006. 17 Kultische Terminologie in ekklesiologischen Kontexten in den Briefe des Paulus (BBB 92), Weinheim 1994. 18 Kultische Sprache in den Paulusbriefen (WUNT 230), Tübingen 2008. 19 M. HIMMELFARB, A Kingdom of Priests. Ancestry and Merit in Ancient Judaism, Philadelphia 2006.

4 Zum Aufbau der Untersuchung

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je länger je mehr als defizitär empfundene Kultpraxis der ersteren durch ein gehobenes Ethos, kultische Reinheit und verschiedene Formen religiöser Leistungen (merit) zu kompensieren. Auch wenn Himmelfarbs Antithese „ancestry – merit“ gelegentlich zu schematisch wirkt, bildet ihre Grundthese, dass die vielfältigen Reaktionen und Gruppenbildungen in frühjüdischer Zeit Kompensationsbemühungen für die defizitär empfundene Kultpraxis des Jerusalemer Priestertums sind, eine wesentliche Grundlage dieser Arbeit. Aus diesem knappen Überblick wird rasch deutlich, dass es seit P. Dabins konfessionell orientierter Arbeit aus dem Jahr 1941 keine umfassende Untersuchung zur Thematik des Allgemeinen Priestertums im biblischen Horizont mehr gab. Überhaupt wurde m.W. abgesehen von kleineren Beiträgen und Aufsätzen noch nie eine streng exegetische Gesamtdarstellung unternommen. Hinzu kommt ein weiteres Desiderat: Fast alle Arbeiten, die sich mit dieser Thematik beschäftigen, verstehen den Priesterbegriff im Horizont der priesterlichen Funktionen, weniger des priesterlichen Status. Dies mag damit zusammenhängen, dass uns sowohl in den paganen als auch in den atl. und frühjüdischen Texten in der Regel nur Reflexionen über die priesterlichen Ämter und Aufgaben überliefert sind und es so gut wie nie zu Ausführungen über den Status des Priesters vor Gott kommt, der jedoch allen Ämtern und Funktionen zugrunde liegt. In der Folge wird in aller Regel auch bei den einschlägigen Priesterbelegen im 1. Petrusbrief und der Johannesapokalypse sofort und unreflektiert nach den Funktionen gefragt, welche die Glaubenden als Priester nun übernehmen. Dieser Kurzschluss soll im Folgenden durch die in Kapitel II erörterte Frage nach dem religiösen Status des Priesters vermieden werden. Die vorliegende Studie nimmt in diesem Zusammenhang auch die Fragen der bereits im Alten Testament beginnenden und im Frühjudentum sich entwickelnden Metaphorisierung von Kultbegriffen in den Blick, die für das ntl. Theologumenon vom Allgemeinen Priestertum so grundlegend ist.

4 Zum Aufbau der Untersuchung 4 Zum Aufbau der Untersuchung

Der Aufbau der Untersuchung folgt im Groben der historisch wahrscheinlichen Chronologie: Nach einer allgemeinen phänomenologischen Orientierung über Priester und Priestertümer in der antiken mediterranen Welt (Kapitel I), die auch den paganen Kontext der ntl. Briefliteratur erhellen soll, nimmt diese Studien ihren chronologischen Ausgangspunkt beim jüdischen Priestertum, wie es seinen Zeitgenossen in der Epoche des zweiten Tempels vor Augen stand und welches den „bildspendenden Kontext“ der

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Metaphorisierung des Priesterbegriffs in den letzten zwei Jahrhunderten vor dem Jüdischen Krieg bildet. Kapitel II beleuchtet nach einem Überblick über die Struktur, die Organisation und den religiösen Status des jüdischen Priestertums auch die atl. Kritik am Priestertum sowie die eschatologischen Hoffnungen auf ein erneuertes, reformiertes und gereinigtes Priestertum. In Kapitel III wird dann die vielfältige und vielstimmige frühjüdische Kritik an Kult, Priestertum und Tempel dargestellt, die uns in den Schriften jener Epoche überliefert worden sind. Anschließend werden in Kapitel IV die verschiedenen Haltungen der frühjüdischen Religionsparteien, Gruppierungen und Strömungen bzw. deren Reaktionen auf die als defizitär und insuffizient empfundene Kultpraxis der Jerusalemer Priester nachgezeichnet. Für die Frage nach der Haltung Jesu zu Priestern und Priestertum seiner Tage (Kapitel V) erweist sich sein Verhältnis zum Tempel als entscheidend, weil es so gut wie keine eindeutigen Quellen zu Jesu Sicht des zeitgenössischen Priestertums gibt. Diese muss vielmehr aus seiner Haltung zum Tempel rekonstruiert werden. Die Metaphorisierung der atl. Kultbegriffe beginnt bereits im Alten Testament und entfaltete sich im Frühjudentum im Schrifttum der Qumrangemeinschaft, v.a. aber bei Philo von Alexandrien. Sie lässt sich ansatzweise auch bei Jesus belegen, findet aber im Kontext der frühen Christenheit in umfänglicher Weise erstmals bei Paulus statt. Diesem Thema widmet sich das Kapitel VI. Möglicherweise wird der Leser im Rahmen oder Anschluss dieses Kapitels Ausführungen zur Kultmetaphorik des Hebräerbriefes bzw. zum dort im Mittelpunkt stehenden Hohepriestertum Christi vermissen, zumal dieses ebenfalls eine Metaphorisierung des Priestertitels darstellt. Die Konzentration der Untersuchung auf das „Allgemeine“ Priestertum ist jedoch ein Ausschlusskriterium für dieses Thema, das eine eigene Untersuchung erfordern würde.20 Gleiches gilt für den Gebrauch von Kultmetaphern in anderen ntl. Traditionen. Die Verwendung kultmetaphorischer Sprachformen in ntl. Schriften ist in dieser Untersuchung nur insofern von Interesse, als sie zur Erhellung der Metaphorisierung und Verallgemeinerung des Priesterbegriffs im 1. Petrusbrief und der Johannesapokalypse dient. Schließlich kommen die Kapitel VII und VIII auf eben diese Texte zu sprechen, auf die das Theologumenon vom Allgemeinen Priestertum gegründet wird, nämlich 1Petr 2,4–10 und Apk 1,5f.; 5,9f. und 20,6 sowie weitere Apk-Belege im Umfeld dieses Themas. Ein abschließender Ausblick und die Zusammenfassung versuchen, die Ergebnisse in eine Beziehung zu den theologiegeschichtlichen Fragen zu stellen, ohne diese freilich in extenso behandeln zu können. 20

An dieser Stelle sei auf die ausführliche Monographie von G. GÄBEL, Kulttheologie, verwiesen.

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5 Zur Metaphorisierung kultischer Begriffe 5 Zur Metaphorisierung kultischer Begriffe

Der ntl. Wissenschaft bereitet es bis heute erhebliche Schwierigkeiten, eine adäquate Beschreibung und Bezeichnung des Vorgangs zu finden, der sich im Frühjudentum und im Neuen Testament mit der kultischen Terminologie des Tempels, der Opfer und des Priesters ereignet hat und bei dem diese Kultbegriffe und Sprachformen auf neue Sinnbereiche übertragen wurden. Die Ursprünge dieses sprachlichen Vorgangs liegen nach heutigem Stand der Forschung in späten atl. Texten und im Frühjudentum, als man nach der Katastrophe des babylonischen Exils und später nach dem Untergang Jerusalems und des Tempels nach neuen Interpretamenten des Glaubens unter radikal veränderten Bedingungen suchte. Bereits in den atl. Propheten und Psalmen, später in den Apokryphen und Pseudepigraphen finden sich erste zaghafte Ansätze eines metaphorischen Gebrauchs. In der jüdisch-hellenistisch Literatur Philos und des Diasporajudentums ist dann eine zunehmende Tendenz wahrnehmbar, Kultusbegriffe zu moralisieren, zu allegorisieren, zu spiritualisieren und sie nur noch als uneigentliches Gleichnis für eine geistige Wirklichkeit zu verstehen. 5.1 Zur Forschungsgeschichte In der Forschungsgeschichte wurde dieses Sprachphänomen bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhundert hinein häufig als „Spiritualisierung“ beschrieben. Der wichtigste Beitrag ist die bereits erwähnte Untersuchung von H. Wenschkewitz über „Die Spiritualisierung der Kultusbegriffe“ aus dem Jahr 1932. Die „Spiritualisierung der Kultusbegriffe“ versteht Wenschkewitz als einen „Vergeistigungsvorgang“, 21 der zwar bereits im Alten Testament beginnt, dessen wesentliche Entwicklungsstufen jedoch erst im damals noch so genannten „Spätjudentum“ (heute würde man eher von „Frühjudentum“ bzw. dem „Judentum in der Zeit des zweiten Tempels“ sprechen), im rabbinischen Judentum, in der stoischen Philosophie und bei Philo von Alexandrien liegen, deren Spuren er dann in der Verkündigung Jesu, in den paulinischen Briefen, im Hebräerbrief, in der Johannesapokalypse, dem johanneischen Schrifttum und im 1. Petrusbrief nachverfolgt.22 So nimmt es auch nicht Wunder, dass Wenschkewitz den Spiritualisierungsprozess des frühen Christentums von der Stoa beeinflusst sieht: „Mit dem Augenblick, wo das Christentum griechischen Boden betritt, sehen wir auch, wie es sich der stoischen 21

WENSCHKEWITZ, Spiritualisierung, 6. W ENSCHKEWITZ, Spiritualisierung, 9, unterscheidet dabei zwischen einer „naiven“ Art der Spiritualisierung, die er in den atl. Propheten und Psalmen, sowie in der apokryphen und pseudepigraphischen Literatur und auch innerhalb der christlichen Gemeinde wiederfindet, und einer „reflektierten“ Form, die er bei Philo von Alexandrien und in der Stoa entdeckt: „Bei Philo treffen wir eine planmäßige Umdeutung des äußeren Kultus in einen inneren, wobei alles Äußere zum Symbol für Zuständlichkeiten der frommen Seele wird. […] In der Stoa steht die Umdeutung im Dienste einer rationalistischen Ethik.“ 22

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Ansätze bemächtigt. Man fühlte in diesen Formen etwas Verwandtes, aber man gestaltete sie zugleich dem eigenen Geist entsprechend um.“23 Wenschkewitz‘ Urteile sind noch ganz von den Kategorien und Maßstäben des deutschen Idealismus geprägt, wie z.B. einer Hochschätzung geistiger Frömmigkeitsformen, der ethischen Leistung, einer „relativen Freiheit vom Kultus“ bzw. sogar einer „gebrochenen Stellung zu ihm“ und einer die Spiritualisierung fördernden „rationalistisch gestimmten Umgebung“. 24 Die klassischen Unterscheidungen von Körper und Geist, Materiellem und Ideellem werden unter Heranziehung des Evolutionsgedankens zu Grundkategorien für die Entwicklung entsprechender Werturteile. Wenschkewitz‘ Deutung des Phänomens auf dem Hintergrund einer Hellenisierung der jungen Christenheit ist mittlerweile durch die Qumranfunde widerlegt, denn dort finden sich ganz analoge sprachliche Prozesse, die mit dem „griechischen Geist“ ganz unzweideutig nichts zu tun haben. Wenschkewitz‘ Verhaftung in idealistischen Wertmaßstäben darf freilich nicht den Blick dafür verstellen, dass er eine Reihe wesentlicher Beobachtungen gemacht hat, die auch noch 80 Jahre später in vielfacher Hinsicht Gültigkeit beanspruchen können.

Trotz der verbreiteten Rezeption des Begriffs der „Spiritualisierung“25 machte sich schon früh ein gewisses Unbehagen mit dieser Bezeichnung bemerkbar. Ein Hauptproblem liegt in der philosophischen Prägung des Begriffs, mit dem häufig die Bedeutung „immateriell“, „innerlich“, „geistig“, „himmlisch“, oder gar „symbolisch“, „unwirklich“ und „uneigentlich“ verbunden wurde und wird. Bereits 1951 reklamierte Ph. Seidensticker,26 dass es sich bei der ntl. Verwendung der Kultbegriffe nicht um eine Spiritualisierung im griechisch-hellenistischen Sinn handelt, denn „mit der Umdeutung der Kultbegriffe auf die Person Jesu Christi ist ihr wesentlich23

WENSCHKEWITZ, Spiritualisierung, 165. W ENSCHKEWITZ, Spiritualisierung, 8f. Umgekehrt kann er dann, ebd., auch pejorativ von „den im Kultus Befangenen“ sprechen. In ähnlicher Weise kommt die Geringschätzung des Kultes bereits vorher bei R. KITTEL, Psalmen, XXXVIIIf. zum Ausdruck: „In ihm [sc. dem geistlichen Lied als Höhepunkt der Psalmenpoesie] spricht sich die Seele unabhängig von aller gottesdienstlichen Zeremonie und ohne jede priesterliche Vermittlung ganz unmittelbar ihrem Gott gegenüber aus.“ Der Kultus ist, wo er in einzelnen dieser Lieder anklingt, „innerlich überwunden und nur noch Symbol höherer rein geistiger Güter oder rein äußerlicher Hilfsmittel, sie zu erlangen.“ Noch früher finden sich auch bei H. GUNKEL, Einleitung, 278, analoge, vom Evolutionsgedanken geprägte Werturteile: „… in der Schule der Propheten haben sie [sc. die Psalmisten von Ps 40; 50; 51; 69 mit ihrer Ablehnung der Opfer] es gelernt, von dem Opferdienst, in dem ihre Dichtung bisher aufgewachsen war, sich loszusagen: die Seele tritt, von den Banden des Kultus befreit, vor ihren Gott.“ Oder ebd. 29f.: Die Psalmisten haben „von ihren erhabenen Vorbildern [sc. den Propheten] gelernt ..., den äußeren Gottesdienst gering zu schätzen.“ Für derartige Urteile stehen freilich weniger die Texte des Alten Testaments Pate als der von Hegel inspirierte Geist des 19. Jh. 25 Vgl. u.a. CERFAUX, Regale Sacerdotum, 303; WEISS, Paulus, 360 („geistige Wirklichkeiten“); GÄRTNER, Temple, 18.84; MCKELVEY, New Temple, 42–57.122.131.180; COPPENS, Spiritual Temple, 54; HAACKER, Röm, 253.304f.; J OBES, 1Peter, 151. 26 Lebendiges Opfer (Röm 12,1). Ein Beitrag zur Theologie des Apostels Paulus, Dissertation Münster 1951, erschienen ebenfalls in Münster 1954. 24

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kultischer Inhalt nicht abgetan und ausgelöscht, sondern nur des materiellen Gewandes entkleidet und neu aufgefüllt worden. Dies geschah durch die Hineinnahme der allgemein anerkannten Kultbegriffe in die neue Heilswirklichkeit des Gottmenschen Christus, welche die absolute Geltung des Kreuzesopfers begründet“.27 Nachdem Seidensticker zunächst den Begriff der „Entmaterialisierung“ verwendet, plädiert er dann aber für die Bezeichnung „Christologisierung“.28 Während jedoch der erste Begriff nach wie vor im hellenistischen Geist-Materie-Dualismus verhaftet ist und kaum das Anliegen der ntl. Autoren trifft, ist der letzte Begriff zu unscharf, da er nur allgemein konstatiert, dass im Zusammenhang der Christusoffenbarung eine Bedeutungsveränderung der besagten Begriffe eintritt. Kritisch zum Begriff der „Spiritualisierung“ im Blick auf die Verwendung der Kultbegriffe bei Paulus äußerte sich auch 1954 K. Weiß. Seines Erachtens ist der Begriff nur dort geeignet, „wo der Spiritualisierende die Kultakte als solche ausübt, an den Kulteinrichtungen Dienst tut oder am Kultdienst teilnimmt“, denn es handelt sich bei dem Begriff „nicht um eine äußere, sondern um eine innere Loslösung von den kultischen Vorgängen und Objekten“.29 Im paulinischen Gebrauch der Kultbegriffe sieht er dagegen eine „heils- oder endgeschichtliche Verwirklichung des Kultus“.30 Auch H.-J. Hermisson überschrieb seine 1961 eingereichte Berliner Dissertation zunächst mit dem Titel „Die Spiritualisierung der Kultusbegriffe im Alten Testament“ und lehnte sich damit eng an den Titel von H. Wenschkewitz an. In der Veröffentlichung seiner Dissertation erscheint der Begriff der Spiritualisierung dann jedoch nur noch im Untertitel und in Anführungszeichen gesetzt.31 In seiner Arbeit verwendet Hermisson in

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SEIDENSTICKER, Lebendiges Opfer, 203. SEIDENSTICKER, ebd., 203f.: „Wir ziehen es daher vor, statt von einer Spiritualisierung der Kultusbegriffe von ihrer Christologisierung zu sprechen, um dieser absoluten Einmaligkeit innerhalb der Kultusgeschichte gerecht zu werden.“ 29 K. WEISS, Paulus – Priester der christlichen Kultgemeinde, in: ThLZ 6 (1954), 361. 30 W EISS, a.a.O., 362; vgl. auch a.a.O., 361: „Es ist ein für Paulus unvollziehbarer Gedanke, daß das von ihm verkündete Evangelium in irgendeinem Stücke ärmer sein könnte als die väterliche Religion; sondern in ihr haben alle von Gott in seinem und für sein Volk angelegten Heilsgaben ihre Verwirklichung. […] In der Sicht des Paulus ist die jüdische Gemeinde und ihr Kult nicht eines und der Apostolat, die christliche Gemeinde und ihre Lebensäußerungen ein zweites, … sondern [es handelt sich] um eine einmal von Gott gewirkte unaufhebbare Wirklichkeit. Fragt man: welches ist das im Kultgesetz konstituierte Priesteramt? so lautet die Antwort: der christliche Apostolat. Fragt man: welches sind die dort von Gott gewollten Opfer? so lautet die Antwort: die Glaubenswerke, die Liebesmühen und die Bewährung der Christenheit in der Hoffnung.“ 31 H.-J. HERMISSON, Sprache und Ritus im altisraelitischen Kult. Zur „Spiritualisierung“ der Kultbegriffe im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 1965. 28

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Abgrenzung zu „Spiritualisierung“ den Begriff der „Entdinglichung“,32 der Seidenstickers Begriff der „Entmaterialisierung“ nahe kommt und das Phänomen ebenfalls von der Kategorie der Substanz her lösen will. Alle diese Begriffe stehen latent im Verdacht, der alten religionsgeschichtlichen Verzerrung des Judentums als einer Religion der Materie und des Christentums als einer Religion des Geistes verhaftet zu sein. In den späten 60er und frühen 70er Jahren erreichte der Begriff der „Substitution“ eine gewisse Verbreitung.33 In der Tat eignet sich der Begriff sowohl zur Interpretation der Trennung des in den Qumranschriften erwähnten yaḥad vom Jerusalmer Tempel und Kult34 als auch für das rabbinische Schrifttum, da die Tora und ihr Studium in vielerlei Hinsicht an die Stelle des zerstörten Heiligtums und seines Opferkultes trat. Gleichzeitig zeigen diese Beispiele auch die Problematik, wenn ein Begriff, der sowohl die Motivation einer jüdischen Religionspartei im 2. Jh. v.Chr. und die Verhältnisse nach 70 n.Chr. mehr oder weniger adäquat beschreibt, auf die frühe Christenheit in der Zeit zwischen 30 und 70 n.Chr. mit ihren völlig anderen Voraussetzungen übertragen wird. Es lässt sich nirgendwo belegen, dass sich die frühen Gemeinden als Substitution des Jerusalemer Tempels und seiner Priester verstanden hätten. Die Geschichte, Motive und Verhältnisse waren zu verschieden. Neben den genannten Begriffen wurden in den letzten Jahrzehnten noch zahlreiche weitere Termini für die Beschreibung des Phänomens vorgeschlagen, wie z.B. „Sublimation“35, „Entsakralisierung“36, „Umdeutung“37, „Transfer“38, „Kulttypologie“39, „Somatisierung“ bzw. „Ethisierung“ sowie 32 HERMISSON, Sprache, 60ff.; vgl. 63: „Durch diese ‚Entdinglichung‘ wird das theologische Gewicht auf das nun für sich bedeutsame Wortelement gelegt, das freilich schon immer – unreflektiert und ungeschieden – für das Opfer konstitutiv war.“ 33 Der Begriff der „Substitution“ ist in der Regel mit dem der „Spiritualisierung“ eng verbunden, vgl. MCKELVEY, New Temple, 42–57, taucht aber auch bei KLINZING, Umdeutung, 221, auf, der den Begriff „Spiritualisierung“ ablehnt. 34 SCHIFFMAN, Community, 272–274, beschreibt mit diesem Begriff das Anliegen des yaḥad, das hinter der Einrichtung eines Alternativkultes steht. BROOKE, Miqdash Adam, 297, betrachtet für dieses Unternehmen sowohl die Begriffe „spiritualisation“ als auch „substitution“ als geeignet. 35 MOULE, Sanctuary, 36. 36 H. SCHÜRMANN, Marginalien, 307f., schlug in Zurückweisung des Begriffs der „Spiritualisierung“ neben dem Begriff der „Entsakralisierung“ auch noch die Begriffe der „Eschatologisierung“, „Pneumatisierung“ und den schon bei SEIDENSTICKER belegten Begriff der „Christologisierung“ für diesen Prozess vor. 37 KLINZING, Umdeutung, 146. 38 SCHÜSSLER-FIORENZA, Cultic Language, 161, spricht von „transference“. 39 Vgl. STRACK, Terminologie, 69–71, der sich der terminologischen Problematik sehr bewusst ist, a.a.O., 8f., den Begriff der Spiritualisierung zurecht in einem längeren Exkurs kritisiert, a.a.O., 375–380, aber letztlich den Vorgang überhaupt nicht begrifflich fasst.

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„Verbalisierung bzw. Kerygmatisierung“40 und „Eschatologisierung“41, ohne dass eine befriedigende Lösung erreicht werden konnte und sich einer dieser Begriffe hätte durchsetzen können. An den vorgeschlagenen Termini wird die Aporie deutlich, in der sich die Forschung befindet. Entweder tragen die Bezeichnungen eine von zwar ähnlichen, aber doch anderen Sprachphänomenen her gewonnene Terminologie für den Gebrauch kultischer Begriffe an das Neue Testament heran und verfehlen dabei gerade das Proprium des ntl. Begriffsgebrauchs – dies dürfte für die Begriffe der „Spiritualisierung“, „Sublimierung“, „Entmaterialiserung“, „Entdinglichung“ und „Substitution“ gelten –, oder sie sind in einem Maße neutral und unprofiliert, dass das Phänomen letztlich unqualifiziert bleibt. Dies trifft für die Begriffe der „Christologisierung“, der „Umdeutung“, des „Transfers“ oder der „Übertragung“ zu. Es scheint, dass eine Lösung nur als eine Annäherung an ein begrifflich schwer bestimmbares Sprachphänomen möglich ist. Ich habe mich im Rahmen dieser Untersuchung dafür entschieden, den fraglichen Vorgang mit dem Begriff der „Metaphorisierung“ zu beschreiben,42 weil mir diese Bezeichnung im Horizont der neueren Metapherntheorien43 der geeignetste Begriff für dieses Phänomen zu sein scheint. 5.2 Zu den neueren Metapherntheorien In der aristotelischen Tradition wurde die Verwendung von Metaphern als ein Übertragungsphänomen bestimmt: „Die Metapher ist die Übertragung eines Wortes, das (eigentlich) der Name für etwas anderes ist, entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von einer Art auf eine (andere) Art oder gemäß einer Analogie“ (Arist Poet 1457b),44 wobei das „eigentliche Wort“ (verbum proprium) durch ein „uneigentliches“ ersetzt wird. Eine Metapher kann demnach nur präexistent vorhandene „Ähnlichkeiten“ zwischen dem bildspendenden und bildemp40

RADL, Kult, 64–68. Er bemüht sich den einzelnen paulinischen Belegen individuell gerecht zu werden und schlägt daher für das in Röm 12,1; 1Kor 6,19f.; Phil 2,18 und 4,18 sichtbare Phänomen die Begriffe „Somatisierung“ bzw. „Ethisierung“ vor und für Röm 15,16; 1Kor 3,10–17 und 9,13 die Begriffe „Verbalisierung“ bzw. „Kerygmatisierung“. Die vorgeschlagenen Begriffe vermögen zwar jeweils einzelne Aspekten des sprachlichen Transformationsvorgangs zu beleuchten, taugen jedoch nicht, um das gesamte Phänomen zu kategorisieren. 41 MOO, Rom III, 890: „Paul assumes an eschatological transformation of the OT cultic ministry …“ 42 Vgl. hierzu die Beiträge von DE LACEY, Function, 391–409; B ÖTTRICH, Tempel, 411–425; SIEGERT, Tempel, 135f., und HOGETERP, God’s Temple, 19. 43 Vgl. zum Folgenden v.a. die Sammelbände von HAVERKAMP (Hg.), Theorie der Metapher, und DERS. (Hg.), Die paradoxe Metapher, sowie die Beiträge von R. ZIMMERMANN, Metapherntheorie, 108–133; DERS., Paradigmen, 1–18. 44 Übersetzung nach SCHMITT.

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fangenden Bereich beschreiben, diese aber nicht herstellen. Auch nach Cicero und Quintilian, den beiden wichtigsten römischen Metapherntheoretikern, bringt die Metapher „keinerlei semantische Neuerung“ und ist nicht in der Lage, „Neues über die Wirklichkeit auszusagen“.45 Im Rahmen dieser Substitutions- bzw. Vergleichstheorie ist die Metapher vor allem ein „Ornament der Rede“46. Sie dient dazu „to embellish what we know – not to add to what we know“.47 Gegenüber dieser Engführung und Marginalisierung des Metaphernbegriffs wuchs im 20. Jh. im Rahmen des lingual turns ein zunehmendes Unbehagen, denn häufig lässt sich ein metaphorisch beschriebenes Objekt gar nicht vollständig in unmetaphorische Begriffe überführen. Vielmehr kommt es nach der Interaktionstheorie von I.A. Richards48 und M. Black49 zu einer Wechselwirkung bzw. „prädikativen Interaktion“ zwischen dem metaphernfähigen Sprachzeichen (focus) und dem Kontext (frame), so dass durch eine Metapher nicht nur eine präexistent bestehende Realität ausgesagt wird, sondern auch eine neue Realität kreiert wird.50 Die sprachkreative Funktion einer Metapher liegt gerade in ihrem „kalkulierten Kategorienfehler“51 und ihrer „kalkulierten Absurdität“52. Die Suche nach einer neuen Kohärenz durch den der Metapher inhärenten Sinnüberschuss lässt neue Sprach- und Erkenntnisformen entstehen, die sich ohne Metapher so nicht ergeben würden. Metaphern helfen uns, Erfahrungen zu kategorisieren, zu verstehen und zu erinnern.53 Sie ermöglichen es, „eine Art von Erfahrung in Begriffen einer anderen Art von Erfahrung“ zu konzeptualisieren.54 Auf diesem Wege drücken Metaphern etwas aus, was vorher noch nicht ausgedrückt werden konnte und auf anderem Wege auch nicht ausgesagt werden könnte. „Durch ihre sprachkreative und innovatorische Funktion können sie neue Dimensionen der Wirklichkeit erschließen, für die es bislang kei-

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R ICŒUR, Biblische Hermeneutik, 285; MÜLLER, Pflanzung, 11. R ICŒUR, Biblische Hermeneutik, 285; DERS., Lebendige Metapher, 25f.; vgl. STIVER, Philosophy, 113f. 47 STIVER, Philosophy, 113. 48 R ICHARDS, Philosophy, 87–138. 49 B LACK, Metapher, 55–79; ders., More about Metapher, 19–43. 50 ZIMMERMANN, Paradigmen, 6; STIVER, Philosophy, 115; LAKOFF/J OHNSON, Leben, 167. 51 P. RICŒUR, Lebendige Metapher, 188. 52 Vgl. STRUB, Absurditäten. 53 R ICŒUR, Lebendige Metapher, 28, spricht in diesem Zusammenhang von einer „heuristischen Funktion“, „weil die Metapher die Wirklichkeit neu beschreibt“. 54 LAKOFF/J OHNSON, Leben, 136, ähnlich 177; vgl. auch ebd., 135: „Da so viele der für uns wichtigen Konzepte entweder abstrakt oder in unserer Erfahrung nicht klar umrissen sind (Emotionen, Ideen, Zeit usw.) brauchen wir zu diesen Konzepten einen Zugang über andere Konzepte, die wir in eindeutigeren Begriffen verstehen …“ 46

5 Zur Metaphorisierung kultischer Begriffe

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ne Reflexionsformen gegeben hat.“55 Sie enthüllen Aspekte der Wirklichkeit, die vorher nicht sichtbar waren und ermöglichen uns die sprachliche Benennung dieser neu entdeckten Wirklichkeit.56 Ricœur spricht in diesem Zusammenhang von einer „ontologischen Verhemenz“.57 Von daher kann im Blick auf Metaphern nicht mehr von einer „uneigentlichen Rede“, einer „vorläufigen Annäherung“ oder einer „rhetorischen Illustration“ gesprochen werden, sondern die Metapher erweist sich vielmehr als „ursprüngliche und unersetzbare Sprachform“.58 Dabei enthalten Metaphern immer einen Rückbezug auf bereits Bekanntes, verbunden mit dem Potential, die erinnerte Wirklichkeit in eine neue Wirklichkeit zu transformieren: „Metaphern erinnern, um Neues zu sagen und sie erneuern, um Altes zu bewahren.“59 5.3 Zur Kultmetaphorik im Neuen Testament Wenn wir daher im Folgenden z.B. im Frühjudentum und im Neuen Testament über „Opfer“ in Form ethischen Handelns, bei Paulus über die Gemeinde als „Tempel Gottes“ bzw. den einzelnen Christen als „Tempel des Heiligen Geistes“ und später dann im 1. Petrusbrief über die Gemeinde als „heilige bzw. königliche Priesterschaft“ oder in der Johannesapokalypse über einzelne Christen als „Priester“ reflektieren, erweist sich die überkommene Kategorie der Spiritualisierung als ungeeignet. Dagegen entfaltet der metaphorische Gebrauch der Kultbegriffe im Neuen Testament in der Wechselwirkung mit dem Kontext der christlichen Existenz, auf den sie angewendet werden, eben jenes sprachkreative Potential, um eine bis dato noch nicht aussagbare Erfahrung, wie z.B. die Erfahrung der Gegenwart Gottes im Kontext des urchristlichen Gemeindegottesdienstes oder die im Glauben an Christus geschenkte Gottesunmittelbarkeit und -zugehörigkeit in eine neue Sprachform zu kleiden.60 Während dem Begriff der Spirituali55 ZIMMERMANN, Paradigmen, 13. Vgl. hierzu auch H. B LUMENBERG, Paradigmen, 23: Metaphern sind bei den „prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz einfach darin liegt, dass sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellt vorfinden“, unausweichlich. 56 J.M. SOSKICE, Metaphor, 57f. spricht daher von einer wirklichkeitserschließenden Funktion: „A good metaphor may not simply be an oblique reference to a predetermined subject but a new vision, the birth of a new understanding, a new referential access. A strong metaphor compels new possibilities of vision.“ 57 R ICŒUR, Lebendige Metapher, 241. 58 ZIMMERMANN, Paradigmen, 5.8; vgl. auch ebd., 14: Metaphorik ist nicht mehr nur rhetorisches Beiwerk der eigentlichen Sache, sondern ist selbst „eine besondere Weise eigentlicher Rede und eine in besonderer Weise präzisierende Sprache.“ 59 B UNTFUSS, Tradition, 227. 60 Dieses Phänomen hat jenseits der neueren Metapherntheorien bereits PH. SEIDENSTICKER , Lebendiges Opfer, 326f. gesehen: „Angesichts der einmaligen Lage des Neuen Bundes ist es sinnlos, nach einem ‚Opfer- oder Priesterbegriff‘ im NT zu fragen. Die

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Einleitung

sierung bzw. Vergeistigung immer das aristotelische Metaphernverständnis im Sinne von etwas Uneigentlichem61 und letztlich auch Pejorativem im Vergleich mit der univoken Aussage anhaftet, wird der ntl. Gebrauch kultischer Metaphern zu einem sprachschöpferischen Akt, um eine im Christusgeschehen neu erfahrene Wirklichkeit, die eben noch nicht präexistent vorhanden und damit auch beschreibbar gewesen wäre, aussagen zu können. Die metaphorischen Prädikationen dienen somit der Identitätsfindung der jungen christlichen Gemeinden.62 Ohne diesen Prozess der Metaphernbildung wäre die frühchristliche Gemeinde nur begrenzt in der Lage gewesen, die ihr widerfahrene Offenbarung sowie ihre Identität und ihr Selbstverständnis zu beschreiben und ihrer nicht-christlichen Mitwelt sowohl in missionarischer wie in ethisch abgrenzender Weise entgegenzutreten. Dabei findet gerade mit den kultischen Begriffen eine bewusste Erinnerung und Anknüpfung an die Bildspender statt, mit der wichtige Begriffsinhalte, wie z.B. die Wirksamkeit des Opfers oder die Präsenz Gottes im Tempel, auf den neuen Erfahrungskontext, den sog. bildempfangenden Bereich,63 übertragen werden. Wenn Paulus und die anderen ntl. Autoren Kultmetaphern verwenden, geht es deshalb nicht um eine Substitution des mit dem bildspendenden Ursprungsbegriff bezeichneten Gegenstandes, sondern um die mimetische Abbildung eines als neu erlebten, bildempfangenden Erfahrungskontextes, bei dem ein zentraler Inhalt des Bildspenders erweitert und transformiert, jedoch nicht negiert wird.64 Die in dieser Untersuchung vertretene These ist nun, dass es sich bei der Gemeinde im ganz eigentlichen Sinn um einen „Tempel Gottes“ handelt, auch wenn die ursprüngliche Bedeutung des Bildspenders diese neue Wirklichkeit noch nicht abbilden konnte und der bildspendende Begriff verwendeten Kultwörter fangen immer nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit ein, die ausgesagt werden soll. […] Die alten Begriffe und Vorstellungen versagen, in ihrer Verwendung für die ntl Gegebenheiten müßten sie samt und sonders in Anführungszeichen gesetzt werden.“ 61 Vgl. als Beispiel für viele STRECKER, Literaturgeschichte, 182: „Da das Bild spannungsvoll im Dienst der Sache steht, kann die Metapher als uneigentliche Rede verstanden werden.“ In neuerer Zeit erfährt die „uneigentliche Rede“ allerdings wieder eine neue Fürsprache bei W. ABRAHAM, Linguistik, 227–267. 62 MÜLLER, Pflanzung, 117: „Mittels der Metaphorik gelingt es Paulus, das unanschauliche Selbstverständnis einer frühchristlichen Gemeinde ins Bild zu heben und damit der Orientierung dieser Gruppe zu dienen.“ 63 Die Bezeichnungen stammen von W EINRICH, Sprache, 297. Alternative Nomenklaturen wären „Wort und Kontext“ (ebenfalls W EINRICH), „Bildsphäre und Sprachsphäre“ (STÄHLIN), „Thema und Rhema“ (KALLMEYER), „tenor and vehicle“ (RICHARDS), „focus and frame“ bzw. „principal subject and subsidiary subject“ (B LACK), vgl. ZIMMERMANN, Metapherntheorie, 119. 64 Die ntl. Akteure und Autoren stellen die Zentralität, Gültigkeit und Wirksamkeit des Jerusalemer Kultes ja nicht in Frage, →V.2.3→VI.3.4→VI.4→IX.1.

5 Zur Metaphorisierung kultischer Begriffe

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diesen Sinngehalt noch nicht hatte. Es soll gezeigt werden, dass vor diesem Hintergrund auch der 1. Petrusbrief die Gemeinde im ganz eigentlichen Sinn als „geistliches Haus“ und als „heilige Priesterschaft“ ansprechen und die Johannesapokalypse von allen Christen als „Priestern für Gott“ reden kann, weil sich in der Metaphorisierung des Begriffs ein sprachschöpferischer und wirklichkeitserhellender Akt ereignet.

Kapitel I

Priester und Priesterschaften in der griechisch-römischen Antike Die Aufgabe dieses Kapitels ist es, den zeit- und religionsgeschichtlichen Rahmen darzustellen, in dem sich die einleitend beschriebene Entwicklung vom atl.-jüdischen Priestertum der nachexilischen Epoche des zweiten Tempels hin zum priesterlichen Verständnis der christlichen Gemeinde bzw. des einzelnen Christen im Sinne eines Allgemeinen Priestertums vollzog.1 Dieses priesterliche Selbstverständnis entwickelte sich im Kontext der hellenistisch-römischen Kultur und es wird rasch deutlich werden, dass die ntl. Reflexion über kultische und priesterliche Sachverhalte in keiner Weise eine jüdische bzw. judenchristliche Binnenkommunikation darstellte, sondern bei allen Unterschieden im Detail kulturübergreifend verstanden werden konnte. Man musste sich in der mediterranen Welt nicht erst über das Judentum und seine priesterliche Gesetzgebung kundig machen, um die Welt und die Sprache des Kultus, des Tempels und der Opfer nachvollziehen zu können. Denn Priester und Priesterschaften sind ein Phänomen, das in fast allen uns bekannten Kulturen der alten Welt und unabhängig von ihrer politisch-sozialen Konstitution zu finden ist,2 wobei die kulturellen und ethnischen Ausprägungen im Einzelnen sehr unterschiedlich sein können.

1 Grundlage der Darstellung sind neben den einschlägigen Einleitungswerken von B URKERT, Religion, und ZAIDMAN/SCHMITT-P ANTEL, Religion, für die griechische Religion, sowie RÜPKE, Religion, und BEARD/NORTH/PRICE, Religions of Rome, Bd. I, für die römische Religion, und MUTH, Einführung, für beide Kontexte, auch die einschlägigen Lexikonartikel sowie weitere Monographien und Artikel zu Einzelfragen. 2 Eine Ausnahme bilden u.a. die früharabischen Stämme sowie die nomadischen Stammesreligionen. Im Nomadentum konnte sich ein institutionelles Priestertum aufgrund der Mobilität kaum ausbilden. Das bedeutet freilich nicht, dass es hier keine rituellen Opfer und einen formalisierten Kult gegeben hätte, aber es ist kein Priesterwesen belegt, vgl. HARAN, Art. Priests, 1069.

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Kapitel I: Priester in der griechisch-römischen Antike

1 Definition Die Vielgestaltigkeit des Phänomens verbunden mit der Tatsache, dass kein antiker Autor uns eine Reflexion über Sinn und Wesen des Priestertums als solchem hinterlassen hat bzw. wir in den verfügbaren Quellen eine solche nicht finden,3 macht eine allgemeine religionsgeschichtliche Bestimmung nicht einfach. Potenziert wird diese Problematik durch die häufig zu beobachtende Übertragung von Deutungskategorien, die am Priesterbegriff des römischen Katholizismus gewonnen wurden, auf andere Religionen und Kulturen.4 Entsprechend vielfältig sind in der einschlägigen Lexikonliteratur die Definitionen, die sich religionsphänomenologisch am Vergleich ähnlicher Ausdrucksformen und Funktionen des Priestertums in unterschiedlichen Kulturen und Kontexten orientieren.5 Einen gewissen Mainstream formuliert W. Klein. Er definiert Priester als „Religionsführer, die sich vornehmlich durch besondere Kraft [...] und ihre Mittleraufgabe zwischen Gottheit und Menschheit als Kultvorsteher von der Masse der 3 Diese Fehlanzeige im Blick auf eine deutende Reflexion religiöser Kulte und ihrer Bestandteile ist geradezu typisch für die gesamte antike Literatur. Thematisiert wurde in der Regel nur das Besondere, das Außerordentliche und das in Frage Gestellte, nicht jedoch das selbstverständlich und kritiklos Bestehende. Entsprechend erwähnen die Quellen oftmals lediglich die Anwesenheit eines bestimmten Priesters bei einem Fest oder Anlass, jedoch nichts über seine Funktion und nur selten etwas über seine rituellen Handlungen und erst recht nichts über deren Sinn und Bedeutung. 4 Vgl. FRIEDLI, Art. Priestertum, 1645: „Die Inhalte, welche heute üblicherweise im Religionsvergleich mit dem Priestertum [...] verbunden werden, sind oft von der Christentumsgesch., insbes. dem röm. Katholizismus, auf andere Rel. und Kulturen global übertragen worden. Es ist jedoch wenig sinnvoll, die vielgestaltigen Erscheinungsformen und deren ideologisch-‚theol.’ Selbstverständnisse transrel. und essentialistisch zu definieren.“ Jedoch auch abgesehen vom modernen bzw. römisch-katholischen Verständnis des Priestertums besteht die Gefahr, dass bei der Analyse verschiedener antiker Kulturen Vorstellungen auf ein bestimmtes Priestertum und dessen religiöse Funktion übertragen werden, die diesem in der betreffenden Kulturform gar nicht anhaften, und umgekehrt andere Vorstellung dabei übersehen werden, vgl. B EARD/NORTH, Priests, 3. OXTOBY, Art. Priesthood, 7394f., will deshalb grundlegend zwischen westlichen Priestertümern, zu denen er auch die jüdisch-christlichen zählt, und den nicht-westlichen Priestertümern unterscheiden. 5 Vgl. FRIEDLI, Art. Priestertum (RGG4), 1644; HONIGSHEIM, Art. Priestertum (RGG³), 570; KLEIN, Art. Priester (TRE), 379; P AUS, Art. Priester (LThK³), 557; OXTOBY, Art. Priesthood (EncRel), 7394f. Die Phänome und Funktionen sind vielfältig. Neben dem fast überall zentralen Opferritual treten von Fall zu Fall die Rezitation heiliger Texte, die Weihe oder Konsekration bestimmter Gegenstände oder Speisen, die Erteilung von Orakeln, Ordalen und des Segens, die Bewahrung und Vermittlung der Lehre, die ethische Unterweisung, das Bewahren, Kopieren und Kommentieren heiliger Schriften und nicht zuletzt der Schutz des Kultheiligtums und seiner Inhalte. Für den antiken Nahen Osten bietet der Sammelband von K. W ATANABE (Hg.), Priests and Officials, wertvolle Einzelstudien.

2 Der priesterliche Status

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Anhänger einer Religion unterscheiden. Generell gilt für Priester, daß sie den Laienanhängern einer Religion in einer Sonderstellung gegenüberstehen. Priestertum konstituierendes Merkmal ist, daß Priester Religionsführer aufgrund einer besonderen Kraft (mana) oder Gnade sind ...“6 In dieser Definition spielen ebenso wie in jeder anderen zwei Kategorien eine wesentliche Rolle, die uns im weiteren Verlauf immer wieder begegnen werden. Es ist zum einen die Frage nach der Funktion von Priestern und zum anderen die Frage nach ihrem Status gegenüber Gott/der Gottheit bzw. den nichtpriesterlichen Anhängern des jeweiligen Kultes oder der Religion.

2 Der priesterliche Status 2 Der priesterliche Status

Der besondere Status der Priester ergibt sich aus ihrer qualitativ anders definierten Stellung zur Gottheit bzw. den Gottheiten. Ihre Mittlerfunktion weist ihnen eine Position zwischen der Gottheit und dem gewöhnlichen Laien bzw. dem ganzen Stamm, dem Volk oder dem Staat zu. Stets repräsentiert der Priester die Kultgemeinde vor der Gottheit, doch gelegentlich ist auch die umgekehrte Repräsentationsvorstellung belegt, wonach der Priester auch die Gottheit vor dem Volk vertritt. Am prägnantesten kommt diese Repräsentationsvorstellung in der Gestalt des römischen flamen Dialis zum Ausdruck, des höchsten Priesters des Jupiter und neben dem pontifex maximus und dem rex sacrorum einer der bedeutendsten römischen Priester überhaupt.7 Nach römischer Vorstellung konnte sich das göttliche numen8 in bestimmten Persönlich6 KLEIN, Art. Priester, 379. Auch die Autoren des von M. B EARD und J. NORTH 1990 herausgegebenen Sammelbandes „Pagan Priests“ eint die Überzeugung, dass die „Vermittlung zwischen den Göttern und Menschen“ die entscheidende Funktion des Priestertums ist; vgl. a.a.O., 8. Allerdings ist bereits hier anzumerken, dass die priesterliche Mittlerfunktion keine exklusive war. In zahlreichen Kulturen konnten auch Privatpersonen und Familienhäupter im privaten Rahmen priesterliche Aufgaben wie z.B. das Opfer und die Rezitation von Gebeten und rituellen Formeln übernehmen, ohne dass dies die Rolle der Priester in Frage gestellt hätte. 7 Vgl. hierzu BEARD/NORTH/PRICE, Religions, 130–132. Die Repräsentationsvorstellung steht möglicherweise auch beim ranghöchsten römischen Priester, dem rex sacrorum, ebenso im Hintergrund wie beim pontifex maximus, MUTH, Religion, 208; DERS., Wesen, 326f. 8 Eine wesentliche Grundlage der römischen Religion war der Glaube, dass sich die Götter durch sinnlich wahrnehmbare Willensäußerungen und erkennbare Zeichen der Menschenwelt kund tun. Dieser Glaube kulminiert im Begriff des numen, MUTH, Religion, 204. Es bedeutet im Ursprung eigentlich ein Nicken (nuere) der Gottheit, meint im weiteren Sinn aber die Vorstellung einer wirksamen Willensäußerung der Gottheit im menschlichen Bereich. Wesentlich für den Glauben an das numen ist weiter die Überzeugung, dass sich göttliches Wirken analog zu menschlichem Wirken vollzieht. Damit ist kein der alten griechischen Göttervorstellung analoges anthropomorphes Götterbild vorausgesetzt, wohl aber ein anthropomorph vorgestelltes Handeln und Wirken der Götter.

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Kapitel I: Priester in der griechisch-römischen Antike

keiten vergegenwärtigen, weshalb sich die Römer auch bestimmte Priester während der Ausübung des Kultes als Repräsentanten der Gottheit, also als eine Art „Gottpriester“, vorstellen konnten. Als persönliche Vergegenwärtigung des Gottes Jupiter war er dem profanen Leben enthoben und von zahllosen archaischen Taburegeln bestimmt, die schon damals offensichtlich kaum mehr verstanden wurden, aber eben als göttlich galten. So hatte er als Repräsentant des Jupiter ein göttliches, „joviales“ Leben zu führen, in das selbst seine Ehe und seine Kinder mit einbezogen waren.9 Ähnliches lässt sich auch für die römischen Vestalinnen sagen, deren Existenz im Hinblick auf Askese und Keuschheit göttliches Leben widerspiegeln sollte. „Sie waren gleich dem flamen Dialis Repräsentantinnen der Gottheit unter den Menschen.“10

Der priesterliche Status eines Repräsentanten ist häufig mit der Vorstellung einer besonderen Heiligkeit und eines besonderen Kraftbesitzes verbunden, die dem Priester aufgrund seines Amtes, nicht aufgrund seiner Lebensführung anhaften. Die dem Priester in bestimmten Lebensbereichen häufig auferlegte Askese ist deshalb als Folge seines besonderen Status zu bewerten, nicht als seine Voraussetzung. Aufgrund der Heiligkeit seines Amtes hatte der Amtsinhaber nicht nur in Israel, sondern z.B. auch in Griechenland den Kontakt mit Blut und Tod tunlichst zu vermeiden, was den Kontakt mit Wöchnerinnen oder einem Trauerhaus einschließt. Auch das Einhalten von Speisegeboten, das Fasten bzw. der Gebrauch bestimmter Speisen ist belegt.11 Insbesondere die Keuschheit spielte in vielen Kulten eine wichtige Rolle, weshalb in bestimmten Kulten insbesondere Jungfrauen als Priesterinnen fungieren konnten. Eine besonders strenge Form der Keuschheit war in Rom den sechs vom pontifex maximus ernannten und beaufsichtigten Vestalinnen auferlegt, die in erster Linie am runden Vestatempel auf dem Forum Romanum ihren 30 Jahre dauernden priesterlichen Dienst versahen. In der römischen Öffentlichkeit waren sie hoch angesehen, solange sie ihrem strengen Keuschheitsgelübde treu blieben. Die Strafe für den Treuebruch war dagegen drakonisch: Die unkeusche Vestalin wurde im Priestergewand lebendig in ein unterirdisches Gemach beim Collinischen Tor eingemauert oder vom Tarpejischen Felsen gestürzt. 12 Bemerkenswerter Weise findet sich auch das Verbot von Bädern während bestimmter Zeiten. Burkert schließt daraus, dass der „Kontrast zur Alltäglichkeit“ wichtiger war als die Sauberkeit im hygienischen Sinn.13 MUTH, Religion, 205: „Numen verrät eine stärker phänomenalistische Erlebnisweise des Göttlichen als deus und als die meisten Götternamen und weist auf ein schließendes Denken hin. Im Sinne dieser Vorstellung bringt auch die Wortbildung einiger der ältesten römischen Gottesbezeichnungen zum Ausdruck, daß die Römer das Numen der Götter in deren Handeln und Mithelfen bei menschlicher Tätigkeit erkennen zu können vermeinten.“ 9 Vgl. MUTH, Religion, 208; DERS., Wesen, 327. 10 MUTH, Wesen, 327. Nach Hom Il 16,605, wurde der Zeus-Priester namens Laogonos „wie ein Gott … geehrt im Volk“, Übersetzung nach SCHADEWALDT. 11 B URKERT, Griechische Religion, 133. 12 Zur Diskussion um die religionsgeschichtliche Interpretation des Einmauerns bzw. lebendig Begrabens siehe MUTH, Religion, 209, Anm. 559 und 306f., Anm. 805. 13 B URKERT, Griechische Religion, 133.

3 Priesterliche Funktionen

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In diesen Regelungen und Vorstellungen wird ein Verständnis spürbar, das im Priester einen idealen, gottgemäßen Menschen sieht. Dieser übernahm stellvertretend für das Volk die Rolle des gottähnlichen Menschen, die der gewöhnliche Mensch im alltäglichen Leben nicht verwirklichen konnte. Weil der gesamte Alltag, ja das gesamte Leben der Priester stellvertretend für die Gesellschaft einen sakralen Charakter annahm, waren der Einzelne und die Gesellschaft als Ganze wiederum von dieser Rolle für das profane Alltagsleben entlastet.14 Somit erfüllte das Priestertum in entwickelten Gesellschaften durch sein stellvertretendes Sein und Amtieren vor der/den Gottheit/en eine gewisse Desakralisierungsfunktion für die Gesellschaft. Wenn wir am Ende dieser Untersuchung im 1. Petrusbrief und der Johannesapokalypse die Prädikation von Christen als „heilige Priesterschaft“ (1Petr 2,5) bzw. „Priester für Gott“ (Apk 1,6) analysieren, dann wird uns dieser Hintergrund noch beschäftigen.

3 Priesterliche Funktionen 3 Priesterliche Funktionen

Aus dem besonderen Status des idealen Menschen, der in seinem Sein den Göttern entspricht, ergeben sich auch die priesterlichen Funktionen. Denn wer könnte besser mediatorisch, interzessorisch, interpretierend oder ratgebend tätig werden, als der aus der Masse des Volkes hervorgehobene und in seinem Sein in den Nahbereich der Götter und des Heiligen gerückte priesterliche Mensch? Für den priesterlichen Dienst lassen sich die folgenden Hauptfunktionen unterscheiden, wobei es im Einzelfall zahlreiche Erweiterungen oder Differenzierungen geben kann. 3.1 Mittler- und Stellvertreterfunktion Ihren prägnantesten Ausdruck findet die Mittlerfunktion in der Kultausübung im Kontext eines Heiligtums15 und hier wiederum im Opferakt, der in allen bekannten antiken Kulturen als zentraler Bereich des Priesterdienstes heraussticht.16 Dabei war es in den seltensten Fällen der Priester selbst, der die Tötung des Tieres vorzunehmen hatte. Für den Tötungsakt gab es in der Regel eigene, nicht-priesterliche Spezialisten. So fiel z.B. in Rom 14

SABOURIN, Priesthood, 224. In der Örtlichkeit des Heiligtums bzw. Tempels scheint der entscheidende Unterschied von priesterlicher zu privater Kultausübung zu liegen. Denn Opfer und andere rituelle Übungen waren in aller Regel jedermann freigestellt. Lediglich im Rahmen fest umrissener Heiligtümer oder Tempel war der Kult und das Opfer dem Priester vorbehalten; vgl. SABOURIN, Priesthood, 1.4; HARAN, Art. Priests, 1071f. 16 BEARD/NORTH, Pagan Priests, 13; HARAN, Art. Priests, 1069. 15

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Kapitel I: Priester in der griechisch-römischen Antike

das gesamte Opfer in den Aufgabenbereich der Magistrate. Der Priester hatte jedoch auch dort die korrekte Durchführung der Opfer zu gewährleisten und mit entsprechenden Riten und Gebeten zu begleiten.17 Dies erforderte in nahezu allen Kulturen eine besondere Ausbildung, da die religiösen Rituale in der Regel hoch spezialisiert und je nach Kasus ausdifferenziert waren und sich beispielsweise in Griechenland von Polis zu Polis unterscheiden konnten.18 Die exakte Beachtung der Regeln der tradierten Rituale war ein wesentliches Element griechischer Religiosität und Frömmigkeit, die in Ermangelung einer positiven Ethik sich vor allem auf das Vermeiden von Fehlern konzentrierte.19 Weil sich der gemeinsame Glaube vor allem anderen in gemeinsamen tradierten Ritualen20 und überkommenen Glaubensvorstellungen ausdrückte,21 wurde Unglaube umgekehrt als die Missachtung dieser Rituale und Glaubensvorstellungen definiert. Deshalb musste bei der Kultausübung „zum Wohle aller auf das peinlichste vermieden werden, daß auch nur der geringste Fehler unterläuft, der den ganzen Vorgang ungültig machen, ja ihn zum Unheil verkehren könnte.“22 Auch die römische religio besteht weder im Götterbild oder Göttermythos23 noch in bestimmten Einstellungen oder Überzeugungen, sondern im exakten Vollzug des Ritus, der zeremoniellen Handlung:24 „Für den Römer ist religio zu allererst Kultvollzug, ist cultus deorum, ... und das ist wiederum ... nichts anderes als eine sorgfältige Erfüllung 17 Vgl. z.B. Plat Polit 290C: „Ebenso [ist] dann auch das Geschlecht der Priester erst kundig, wie die bestehende Meinung sagt, von unserer Seite Geschenke an Opfern für die Götter nach ihrem Sinne zu schenken und von ihrer Seite uns durch Gebete den Besitz des Guten zu erflehen.“ Übersetzung nach F. SCHLEIERMACHER in: Platon, Werke in acht Bänden. 18 Entsprechend bestimmt P AUS, Art. Priester, 557, die Priester als „Fachleute bzw. Fachkräfte für den prakt. Umgang mit räumlich u. zeitlich fixierten rel. Riten“. 19 DÖRRIE, Überlegungen, 3: „[T]rotz nachhaltiger Abwehr von Verstößen ist es kaum je zu einer Reflexion darüber gekommen, wie denn die wünschbare, die im Positiven gültige Haltung des ‚Frommen’ beschaffen sein müßte.“ 20 Zur exakten Einhaltung der Riten finden sich ab dem 8. Jh. v.Chr. in Stein gemeißelte Aufzeichnungen von Ritualgesetzen. Hier wurde öffentlich gemacht, was beispielsweise in den orientalischen Religionen das z.T. esoterische Wissen der Priesterkasten war, vgl. ZAIDMAN/SCHMITT-P ANTEL, Religion, 30. 21 DÖRRIE, Überlegungen, 3: „[W]er alles, was im Gesetz vorgeschrieben ist, redlich und pünktlich ausführt, verdient es, nicht nur als ein Gerechter, sondern als ein Frommer gelobt zu werden.“ 22 DÖRRIE, Überlegungen, 4. 23 Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass viele römische Götter niemals bildlich dargestellt wurden. Die Abbildung einer Gottheit und damit verbunden auch ihre bildliche Vorstellung waren in Rom weit weniger bedeutsam als in Griechenland. Gleiches lässt sich auch vom Göttermythos sagen. Anders als bei den griechischen Göttern interessierten sich die Römer nicht für die „Biographie“ ihrer Götter. Entsprechend konnten – abgesehen von einigen Rudimenten – auch keine Göttermythen entstehen, wie sie für die griechische Religion so charakteristisch sind, MUTH, Religion, 214– 216, sowie B EARD/NORTH/PRICE, Religions, 10f. 24 Vgl. Cic Nat deor 1,116; siehe auch 1,3.14.

3 Priesterliche Funktionen

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des Kultgesetzes.“25 Römische Religiosität ist somit im Kern ein Arrangement mit den Göttern, das auf menschlicher Seite den exakten Kultvollzug verlangt, den die Götter mit entsprechenden Wohltaten belohnen. Das Verhältnis Gott - Mensch war ein durch und durch juristisch normiertes und fand im römischen Pontifikalrecht seinen adäquaten Ausdruck. Eine persönliche Frömmigkeit war nicht ausgeschlossen, aber entscheidend war der möglichst exakte Nachvollzug der von den pontifices formulierten Rituale, Gebete und Kulthandlungen und die regelkonforme Vergegenwärtigung der Gottheiten im Kult mit dem Ziel, ihr Wohlwollen, die pax deorum, zu erhalten und sie nicht zum Zorn zu reizen. Die innere Anteilnahme des Einzelnen, eine leidenschaftliche Hingabe oder gar eine Liebe zur verehrten Gottheit kamen dabei als Kriterien überhaupt nicht in den Blick. Noch nicht einmal bei den Priestern wurde derartiges erwartet.26

In dieser Rolle des Experten für den heilvollen Kontakt mit der Gottheit vertritt der Priester die Laien vor der Gottheit. Auch umgekehrt sind die Priester häufig für die Kommunikation göttlicher Botschaften und Weisungen zuständig: „Sie übermitteln gegebenenfalls den göttlichen Willen (z.B. durch Orakel und Mantik), heiliges Wissen oder sind Verwalter göttlicher Gnadengaben (z.B. im Sakrament, Segenserteilung). Insofern ist der Priester Stellvertreter Gottes.“27 Eine zentrale Mittlerfunktion ist auch die Spendung des göttlichen Segens im Rahmen einer Gemeinschaftsveranstaltung oder auch die Verfluchung der Feinde einer Gemeinschaft, Polis oder eines Staates.28 Zum priesterlichen Mittlerdienst gehören im weiteren bzw. abgeleiteten Sinne auch rituelle Waschungen, die Verlesung heiliger Texte, Tanz, Weihehandlungen, Wahrsagerei, Beschwörungen, das Hüten, die Instandhaltung und die Pflege des Kultobjektes (z.B. der Kultstatue[n]) oder des Kultortes, sowie die administrative und finanzielle Organisation des Kultes.29 Gelegentlich sind auch heilende, richtende, verwaltende und katechetische Funktionen belegt.30 Anders als bei den Amtsträgern der christlichen Kirchen hatten die Priester der Antike in der Regel keine seelsorgerlichen Aufgaben. Es gab weder formale Beziehungen zwischen Priestern und Kultteilnehmern, noch eine Verantwortung für das „religiöse Wohl“ einer Kultgemeinde, oder eine priesterliche Präsenz bei lebenszyklischen rites de passage wie Ge-

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W LOSOK, Religions- und Gottesbegriff, 39; vgl. Cic Nat deor 1,117; 2,8. MUTH, Religion, 218; vgl. auch 352: „So peinlich genau sich die Römer über die Erfüllung kultischer Verpflichtungen kümmerten, so sehr erschien ihnen eine innere Anteilnahme, religiöse Inbrunst, Gottesliebe, echte Hingabe an das göttliche numen unwesentlich, ja es befremdeten sie solche Gefühls- und Willenskategorien.“ 27 KLEIN, Art. Priester, 380. 28 Vgl. z.B. auch Bileam in Num 22–24. 29 ZAIDMAN/SCHMITT-P ANTEL, Religion, 51. 30 KLEIN, Art. Priester, 380. 26

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Kapitel I: Priester in der griechisch-römischen Antike

burt, Hochzeit oder Tod.31 Ihre mediatorische Funktion richtete sich in der Regel auf das Allgemeinwesen einer Polis oder eines Staates. Für die römischen Kulte ist die mediatorische Funktion der Priester umstritten. 32 So sah bereits Wissowa in den römischen Priestern keine Mediatoren zwischen Gott und Mensch bzw. Volk, weil der Opferkult im engeren Sinne in den Verantwortungsbereich der Magistrate fiel und die Erfragung des Götterwillens zum Zuständigkeitsbereich des Senats gehörte.33 In der Tat kam dem Senat offiziell die Hauptrolle in der Mediation zu, insofern er über die Einführung neuer Staatskulte, die Bewertung der Prodigien und die staatlichmenschliche Reaktion auf dieselben entschied und entsprechende Maßnahmen veranlasste.34 Diese Rolle wurde auch nie angezweifelt. Die Frage ist jedoch, ob nicht auch die administrative und fachmännische Kontrolle über die Form menschlichen Gottesdienstes und umgekehrt die Deutung des göttlichen numen eine Form der Mediation ist. Entsprechend sieht Beard anders als Wissowa in der Mediation die wesentliche Funktion der römischen Priestertümer.35 Zwar hatten die pontifices keine direkte Kommunikation mit den Göttern zu leisten, aber ihre Aufgabe bestand doch darin, zwischen der öffentlichen Sphäre des Senats als Zentrum der Mediation und der privaten Welt der Bürger mit ihren religiösen Lebensfragen eine „Brücke zu bauen“.36 Gegenüber dem Senat erfüllten sie somit eine Aufsichtspflicht und religiöse Beratungsfunktion in umstrittenen Fragen und Angelegenheiten.37

3.2 Experten für den Bereich des Heiligen In der antiken Welt ist die Unterscheidung der Zustände des Heiligen und Profanen sowie des Reinen und Unreinen allgegenwärtig.38 Sie strukturiert gewissermaßen die vorfindliche Welt, verleiht einer chaotisch erscheinenden Wirklichkeit Ordnung und Regeln. Dabei kann die Dimension des Heiligen sowohl Menschen als auch Orte, Dinge oder Zeiten umfassen, die aus

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Nach SABOURIN, Priesthood, 24.225, bildet die Priesterschaft im neueren Hinduismus hier eine Ausnahme hinsichtlich der Begleitung lebenszyklischer Anlässe. 32 In der neueren Religionswissenschaft wird die Kategorie der „Mittlerschaft“ zwischen Göttern und Menschen als Beschreibung für nichtjüdische und nichtchristliche antike Priesterschaften momentan als unbrauchbar in Frage gestellt, vgl. J. RÜPKE, Fasti sacerdotum, Bd. 3, 1408f.; TÜBINGEN W ORK GROUP, Priesthoods, 82.90.92. Allerdings widerraten sowohl die Argumente von B EARD, Priesthood, 29f., als auch die eben gemachten Ausführungen einer zu raschen Preisgabe dieser Deutungskategorie. 33 W ISSOWA, Religion, 479f. 34 BEARD, Priesthood, 31f. 35 BEARD, Priesthood, 29f. 36 B EARD, Priesthood, 36ff; GORDON, Republic, 181. Dabei ging es u.a. um Bestattungszeremonien, Gräberpflege, Totenkult, Feiertagsobservanzen. Etymologisch steht der Begriff pontifex allerdings nicht mit dem Brückenbau zwischen Mensch und Gott in Verbindung, sondern leitet sich wohl von der Opferpraxis auf der Sublicianischen Brücke ab, wo jährlich in den Iden des Mai menschliche Figuren (argei) von den Priestern in den Tiber geworfen wurden, SABOURIN, Priesthood, 42. 37 Vgl. NORTH, Diviners, 51f. 38 Vgl. neuerdings LIU, Purity, 12–32.

3 Priesterliche Funktionen

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dem Profanen, Allgemeinen, Alltäglichen herausgehoben und „ausgesondert“ werden.39 In der so verstandenen Wirklichkeit wächst dem Priester eine soziale und sinnstiftende Funktion zu: Einer häufig chaotisch und anomisch erscheinenden Wirklichkeit verleiht der Priester und die von ihm vertretene Religion durch den liturgischen Vollzug der Riten und Kulte eine gewisse Ordnung und Sinnhaftigkeit. Er gilt als Experte für den Umgang mit überlegenen und gleichzeitig unkontrollierbaren Mächten und Kräften, die fördernd oder bedrohend den Lauf der Natur und des Lebens beeinflussen können. In Griechenland und Rom berührte sich hier die priesterliche Funktion mit jener der „Exegeten“ und „Seher“,40 von denen sie sich in der Regel jedoch funktional abgrenzten. Dass diese Grenzen unscharf und fließend waren, wird an den mit dem Orakelwesen in Verbindung stehenden Priestern, z.B. jenen in Delphi41 oder Epidauros, deutlich. Die Priester hatten hier entweder selbst den Götterwillen durch das Losorakel, den Beschau von Tiereingeweiden, die Beobachtung des Verhaltens von Opfertieren, des Vogelflugs oder des Opferfeuers zu ermitteln oder die in enthusiastischer Erregung geäußerten Orakelsprüche der delphischen Phyten zu „interpretieren“, wobei der eigentliche Orakelspruch gegenüber seiner „Interpretation“ in den Hintergrund treten konnte. In Rom wurde dieses „hermeneutische“ Amt zunächst von den drei, später den 15 (unter Caesar sogar 16) Auguren übernommen. 42 Ihre Aufgabe war es, den Willen der Götter durch die Interpretation bestimmter Zeichencodes aus der Natur zu deuten.43 Inso39

Die Heiligkeit irdischer Personen, Gebäude, Orte oder Gegenstände bildet dabei die Heiligkeit der jeweiligen Gottheiten ab. Gewissermaßen dehnt sich die Heiligkeit der Götter auf ihren Besitz aus: Entsprechend können geweihte Feste, Hom Od 21,259, Weihrauch, Xenophan Fr. 1,7, Haine, Hom h. in Mercurium 187, der Altar, Aischyl Suppl 223, die heilige Flamme, Eurip El 812, und natürlich der heilige Bezirk und das (Tempel-)Heiligtum selbst heilig sein; vgl. VAHRENHORST, Sprache, 82. 40 Während die „Exegeten“ sich nach GARLAND, Priests, 81f., als religiöse Experten des modus operandi verstanden, die in Zweifelsfällen Expertisen für die Ausführung bestimmter tradierter Rituale gaben, spezialisierten sich die „Seher“ auf die Interpretation irritierender Phänomene, die als göttliche Vorzeichen verstanden wurden und die sie aufgrund ihres umfassenden Arkanwissens zu deuten beanspruchten. 41 Vgl. auch J AMES, Priestertum, 43–49. 42 Vgl. hierzu B EARD/NORTH/PRICE, Religions, 21–24. 43 Vgl. Cic Leg 2,8,20. Ein analoges Phänomen stellen die sog. haruspices dar, etruskische Seher aristokratischer Herkunft, die in bedrohlichen Situationen v.a. durch die Eingeweideschau geopferter Tiere, die sog. haruspicina, die Zukunft deuteten. Grundsätzlich überprüften bei allen Tieropfern die haruspices die Eingeweide, hauptsächlich die Leber, um daraus zu ersehen, ob die Gottheit das Opfer angenommen hatte. Am Ende der Republik wurden die haruspices in ein Kollegium von 60 Priestern (ordo haruspicium LX) zusammengefasst mit einem sumus haruspex an der Spitze. Trotz erheblichem Misstrauen seitens der Öffentlichkeit wurden sie vom Senat und leitenden Beamten immer wieder zur Deutung irritierender Phänomene, die als Ausdruck des Götterzornes galten, herangezogen, vgl. JAMES, Priestertum, 65–67; B EARD/NORTH/PRICE, Religions, 19f.

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Kapitel I: Priester in der griechisch-römischen Antike

fern waren sie als einzige Gruppe unter den römischen Priesterkollegien direkte Mediatoren zwischen den Göttern und dem Volk.44 Im Rahmen weitgehend geheim gehaltener mantischer Praktiken („Auguraldisziplin“) beobachteten sie Himmelszeichen (v.a. Blitz und Donner), den Vogelflug (auspicium im engeren Sinn), das Schreien bestimmter Vögel oder den (bisweilen manipulierten) Appetit heiliger Hühner, um die Stimmung der Gottheit bezüglich aktueller Fragestellungen und Angelegenheiten zu erforschen.45 Im Hintergrund stand die Überzeugung, dass sich der Wille der Götter in der Natur vorabbildet. Wie die pontifices waren auch die augures eine Art Unterausschuss des Senats. Sie hatten diesen in religiösen Fragen zu beraten, wobei sich jedoch der Senat die Letztentscheidung vorbehielt.

Es war eine wichtige Aufgabe des priesterlichen Dienstes, diese sakral strukturierte Wirklichkeit und ihre Regeln den Kultteilnehmern zu kommunizieren und auf ihre Einhaltung so weit wie möglich zu achten bzw. den Bereich des te,menoj, des heiligen Bezirkes, vor Unreinheit und Entweihung zu schützen.46 Die Grundbedingung für den Eintritt in ein Heiligtum war wie auch im atl.-jüdischen Kult (→II.2.2) ein Zustand kultischer Reinheit und Heiligkeit.47 Der Tempelbesucher musste der Qualität des Ortes, ja in gewissem Sinn auch der Qualität des jeweiligen Gottes entsprechen und seinerseits a``gno,j48 sein. „Heiligkeit“ war in der gesamten antiken Welt ein Status, der die Voraussetzung für die Begegnungs- und Berührungsfähigkeit mit der Realität des „Heiligen“ bildete. Die einzelnen Standards konnten in Griechenland von Heiligtum zu Heiligtum variieren, aber analog zur mosaischen Kulttora kreisten sie um Geburt, Sexualität, Speisen, Krankheit und Tod.49 Lediglich die Menstruation wird ausschließlich in der Tora als verunreinigender Faktor betrachtet (vgl. Lev 15). Als verunreinigend galten auch ethische Verfehlungen, wobei sowohl im gesamtantiken Kontext wie in der mosaischen Kulttora die Verhältnis-

44 Nur sie hatten die Autorität, einen Tempel auf Erden zu gründen und zu diesem Zweck ein bestimmtes Stück Land zu „inaugurieren“, d.h. es in ein bestimmtes Verhältnis zu den Göttern zu setzen. Von diesem inaugurierten Ort aus konnten sie dann Ausschau nach bestimmten Götterzeichen halten, so BEARD, Priesthood, 39f. 45 Vgl. auch J AMES, Priestertum, 61–65. 46 In Griechenland hatte der Priester jedoch aufgrund seiner in der Regel kurzen, meist nur einjährigen Amtszeit faktisch kaum die Autorität, die Gültigkeit der sakralen Gesetze in Konfliktfällen allein durchzusetzen und entsprechende Sanktionen zu verhängen. Dies musste letztlich in der boulh,, dem höchsten Gremium einer Polis, geschehen; ZAIDMAN/SCHMITT-P ANTEL, Religion, 54. 47 VAHRENHORST, Sprache, 80–86; LIU, Purity, 25–32. 48 VAHRENHORST, Sprache, 81ff., macht darauf aufmerksam, dass man in den leges sacrae den in der LXX dominierenden Begriff a[gioj nicht findet. Stattdessen ist die Bezeichnung a``gno,j die Regel, die sich aber semantisch von ihrem LXX-Äquivalent kaum unterscheidet. 49 VAHRENHORST, Sprache, 97–104.

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bestimmung zwischen physisch bedingter und ethisch qualifizierter Unreinheit höchst schwierig ist.50 Die Herstellung von Reinheit bzw. Heiligkeit wurde in der Regel in den leges sacrae, die in Inschriften am Eingang eines Heiligtums angebracht waren, beschrieben.51 In der Regel wurde kultische Reinheit wie in Israel so auch in der gesamten antiken Welt über die Elemente Wasser52, Zeit53 und Opfer hergestellt. Durch Waschungen, die Einhaltung bestimmter Fristen und gelegentlich durch kleinere Opfer konnte ein Zustand der Reinheit erzeugt werden, der den Kultteilnehmer in einen Status der Heiligkeit und damit in eine Entsprechung zur jeweiligen Gottheit versetzte. Hinzu kamen häufig auch die Forderung nach ethischer und geistiger Reinheit, d.h. die Erwartung einer frommen Gesinnung des Pilgers,54 denn nur unter diesen Voraussetzungen konnte die Begegnung mit der Gottheit gelingen. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, dass in der Regel auch von den Priestern ein besonderes Maß an Kultfähigkeit verlangt wurde, die aber nur selten ethisch definiert war. So wurde erwartet, dass sie gesund und unversehrt sowie kultisch völlig rein sind.55 Auch in diesen Erwartungen spiegelt sich die bereits oben angedeutete Vorstellung vom Priester als idealem, gottähnlichem Menschen wider. 3.3 Die politische Rolle des Priestertums Da in der antiken Welt keine Trennung von religiösem und politischem Leben existierte und auch nicht gedacht werden konnte, war das priesterliche Amt auf das Engste mit dem politischen Leben verflochten und in dasselbe eingebettet. Oxtoby unterscheidet vier Grundformen des priesterlichen Verhältnisses zur politischen Macht:56 (1) Der Priester als Hofpriester: Hier steht der Priester ganz im Dienste der politischen Institutionen und hat ihr Wirken und Entscheiden durch seine Fähigkeiten und sein Fachwissen zu unterstützen.

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Nirgendwo in der antiken Literatur ist eine Definition von Reinheit oder Unreinheit zu finden. Rein ist ein Mensch in der Regel dann, wenn er sich nicht verunreinigt hat. Ethisch rein und kultfähig ist ein Besucher z.B. dann, wenn er kein unschuldiges Blut vergossen hat oder als Beamter sich bei seiner Amtsführung nichts zu Schulden kommen ließ. 51 Vgl. z.B. LSCG 145 A 9; dort werden die Dinge benannt, „die in den heiligen Gesetzen aufgeschrieben sind, über das Opfer, die heilige Reinheit und die Reinigung.“ Zu den leges sacrae vgl. VAHRENHORST, Sprache, 73–113. 52 LSAM 12,6; 14,3; 18,12; 51,9; LSCG Suppl 54,3; 91,17; LSCG 55,4; 97 A 30. 53 Z.B. LSAM 12; LSCG 139; LSCG Suppl 54; SEG 28,421. 54 Vgl. z.B. Plat Leg 716E-717A; Iambl VP 16,68.70. 55 Vgl. LSCG 166,8ff. und 163,12ff. 56 OXTOBY, Art. Priesthood, 7397f.

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Kapitel I: Priester in der griechisch-römischen Antike

Es ist evident, dass den Priestern durch ihre hermeneutischen und interpretatorischen Fähigkeiten vereinzelt ein immenses Machtvolumen zugewachsen ist. Dies wurde bereits exemplarisch an den römischen Auguren deutlich (→I.3.2). Es ist deshalb ein vielsagender Zug des politischen Systems in Rom, dass religiöses Wissen, kultisch-religiöse Aufgaben und Funktionen sowie die religiöse wie politische Macht institutionell zwischen den einzelnen Priesterkollegien, den Magistraten und dem Senat aufgeteilt waren. In die religiösen Prozeduren waren sowohl Priester wie Nicht-Priester involviert. Der cultus deorum und überhaupt der offizielle Umgang mit der Welt der Götter war somit keine Domäne einer autonomen Priesterkaste, sondern ein Raum öffentlich aufgeteilter Macht, in dem die Priesterkollegien häufig die Rolle politischer Berater bzw. eines „Unterausschusses“ des Senats einnahmen. 57 So ging die Initiative für religiöse Aktivitäten immer von den Magistraten aus. Sie holten die Auspizien vor Versammlungen oder Kriegen ein, sie führten öffentliche Gelöbnisse, Spiele oder Opfer zur Erfüllung der Gelöbnisse durch, während die Priester die exakte und korrekte Durchführung dieser Zeremonien überprüften, sowie die Gebete und Formeln sprachen. Auch das religiöse Wissen selbst war in republikanischer Zeit zwischen den einzelnen Priesterschaften so diversifiziert, dass damit eine Fragmentierung religiöser Macht und Autorität vorgegeben war.58 Hinzu kamen bestimmte Verbote der Ämterhäufung. So war es z.B. dem rex sacrorum verboten, weitere Ämter, oder den flamines minores, Magistratsaufgaben zu übernehmen.59 Allerdings blieb auch diese Gewaltenteilung nicht unberührt von den politischen Umwälzungen und „… as time went on the priestly offices … might have become tempting prizes for the aristocratic leaders of the day – who gradually brought priesthoods within the sphere of a political career.“60

(2) Der König als Priester: Hier übernimmt der König selbst die kultische Mittlerrolle zwischen Gottheit und Religionsgemeinschaft. Dieses Modell ist bereits für die äyptischen, mesopotamischen, sumerischen und assyrischen Priesterschaften belegt.61 Dort wurden viele Priesterpfründe im Sin-

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B EARD/NORTH/PRICE, Religions, 27.29f. Eine ausführliche Behandlung des Verhältnisses der römischen Priester(schaften) zum römischen Staat findet sich neuerdings in dem Sammelband Priests and State in the Roman World, hg. von J.H. RICHARDSON und F. SANTANGELO. 58 BEARD, Priesthood, 42f.; sowie B EARD/NORTH/P RICE, Religions, 99–108. NORTH, Diviners, 67.70, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in der römischen Geschichte anders als beispielsweise in Griechenland, vgl. z.B. den mantis Agias bei Paus 3,11,5–8, große Propheten oder heilige Männer unbekannt sind. Die Aufsplitterung der Zukunftsdeutung in unterschiedliche Gruppen und Kollegien verhinderte nicht nur eine Akkumulation der Macht, sondern auch den Aufstieg von charismatischen Einzelpersonen. 59 B EARD/NORTH/PRICE, Religions, 106. Dem flamen Dialis war es verboten, mehr als zwei aufeinanderfolgende Nächte abwesend vom eigenen Bett zu sein, was eo ipso die Übernahme eines militärischen Amtes ausschloss. 60 BEARD/NORTH/PRICE, Religions, 28. 61 Vgl. SABOURIN, Priesthood, 46–64.78–95, sowie ebd., 225: „Kingship was a sacred institution in Mesopotamia: even though generally speaking the kings were not deified, they were the vice-regents of the deity, sacred intermediaries uniting humanity and the gods. In Sumer the city state dynast very likely functioned as supreme priest, while the

3 Priesterliche Funktionen

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ne einer Auszeichnung an die königliche Familie und andere Mitglieder der Oberschicht vergeben. Der ägyptische Pharao galt in der Theorie als der einzige legitime Priester, dem der Umgang mit den Göttern oblag. Diese Aufgabe delegierte er freilich an seine Priesterschaft.62 Atl. könnte man als Beispiele Melchisedek (nach Gen 14,18–20 König und Priester), David bei der Einholung der Bundeslade (2Sam 6,1–23) oder Salomo bei der Tempelweihe (1Kön 8,22.54f.62f.; vgl. Ps 110,4) anführen. Auch für die Caesaren im kaiserzeitlichen Rom wurde seit der Ernennung von Augustus zum pontifex maximus die Doppelfunktion als Priester und Regent zur Regel. (3) Der Priester als König: In seltenen Fällen erlangten Priester politische Herrschaftspositionen, wie z.B. im Frühjudentum die hasmonäische Dynastie, die aus einem einfachen Landpriestertum stammte (vgl. 1Makk 10,20; 14,25–49). Von dem Hasmonäer Jonathan wird berichtet, dass er ab 152 v.Chr. neben der königlichen auch die hohepriesterliche Würde beanspruchte. Dieses „Modell“ scheint jedoch nirgends institutionell verankert gewesen zu sein, sondern auf akzidentiellen Entwicklungen zu beruhen. Von daher ist die Begriff „Modell“ für dieses Phänomen eher unangemessen. (4) Der Priester als Kritiker: Oxtoby sieht hier das Priestertum in der Rolle eines kritischen Gegenübers zu den politischen Funktionsträgern. Doch auch für diese Kategorie kann er lediglich Ausnahmefälle wie den Zadokiden Onias IV., der in Leontopolis einen jüdischen Alternativtempel gründete, oder den für die Essener so wichtigen „Lehrer der Gerechtigkeit“ anführen.63 Eine institutionalisierte Kontroll- und Aufsichtsfunktion gegenüber den herrschenden Institutionen im Sinne der modernen Gewaltenteilung ist nirgends eindeutig belegt.64 In der Regel erfüllte das Priestertum im Sinne des ersten Modells eine politische Stabilisierungsfunktion, insofern es den politischen und wirtschaftlichen status quo rituell „legitimierte“. Entsprechend dieser Rollenbestimmung wurde eine Beteiligung politischer Amtsinhaber an priesterli-

Assyrian king was unquestionably the first priest of the realm …“; vgl. auch H. FRANKKingship, und DAVIES, Priesthood, 152. 62 BERGMAN, Art. kohen, 64f.; SABOURIN, Priesthood, 79.226. Analoge Verhältnisse lassen sich wohl auch in Mesopotamien belegen, RINGGREN, Art. kohen, 66. 63 Vgl. hierzu CD A 1,11; 6,11; B 20,1.14.28; und 1QpHab 1,13; 2,2; 5,10; 7,4; 8,3; 9,9f.; 11,4f. u.ö., sowie L.T. STUCKENBRUCK, Teacher of Righteousness, 75–94. 64 Eine solche Rolle wurde häufig für das babylonische Priestertum angenommen, vgl. SABOURIN, Priesthood, 50. A. KUHRT, Nabonidus, 154f., bezeichnet dieses Bild des babylonischen Priestertums jedoch als die „creation of a european perspective“. FORT,

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Kapitel I: Priester in der griechisch-römischen Antike

chen Funktionen abgesehen vom atl.-frühjüdischen Schrifttum auch nirgends problematisiert.65

4 Voraussetzungen, Ausbildung und Aufnahme 4 Voraussetzungen, Ausbildung und Aufnahme

Für das Verständnis des Priestertums sind in der Regel die Zugangsmöglichkeiten zu diesem Amt von großer Bedeutung. Dabei fällt zunächst auf, dass eine außerordentliche spirituelle Begabung (z.B. Geistersehen, Traumaktivität, Ekstasefähigkeit)66 des Priesters in den meisten Kontexten erwünscht, aber in aller Regel keine unabdingbare Voraussetzung für das Amt war. Platon nennt als Voraussetzungen für das Priesteramt die körperliche Unversehrtheit (o``lo,klhroj), die Unbeflecktheit von Schuld (fo,nou a``gno,j) und die Abstammung von einem Bürger der jeweiligen Polis (gnh,sioj).67 In der allgemeinen Grundfunktion einer Mittlertätigkeit zwischen Gott und Mensch „kann ursprünglich jedermann priesterlich handeln“.68 Entsprechend konnte z.B. in Griechenland ein Amtsinhaber bei Abwesenheit auch von einer Person ohne Amt vertreten werden.69 65

Vgl. BEARD/NORTH, PRIESTS, 12: „We can see this development partly in the context of the fusion between religion and politics, so typical of the ancient world: as the emperor appropriated to himself the major political functions in the state, so necessarily he took over the major priestly function.“ 66 SABOURIN, Priesthood, 9: „If the candidate can ‚see’ the spirits, if they speak to him in dreams, he is reckoned to have been chosen by the gods, since priests are generally believed to be assisted by their own tutelary deities, spirits, or demons. It is also a common conviction among the primitives that gods communicate with their chosen ones in dreams, imparting them the formulas and the power to cure, and occasionally revealing to them the secrets of the future.“ 67 Plat Leg 759c. KRAUTER, Bürgerrecht, 95, führt zwei Inschriften aus Kleinasien an, IKalch 10 und 12 aus Kalchedon, die das passive Wahlrecht zur Voraussetzung für das Amt machen. Zur Diskussion, inwiefern das Bürgerrecht als Voraussetzung zu gelten hat, vgl. KRAUTER, Bürgerrecht, 94ff. 68 P AUS, Art. Priester, 558f.: „Das persönl. Überzeugt- u. Ergriffensein v. der Anwesenheit u. Wirksamkeit der numinosen Realität bei der Ausübung der mittler. Ritualtätigkeit u. in ihr selber tritt hinter der wissenden, gekonnten, fachl. Durchführung der rit. Funktion im zwangfreien Dienst an der Gottheit u. den Menschen zurück, welche die od. der mit dem ‚Priestertum’ Betraute im eigenen Namen, im Namen eines anderen od. einer Gruppe v. Menschen vollzieht. Die Ausführung der speziellen kult. Ritualhandlungen hängt v. der dem P[riester] durch die betreffende soz. Gruppe verliehenen Kompetenz ab.“ 69 KRAUTER, Bürgerrecht, 85, verweist auf eine Inschrift über einen gentilizischen Herakleskult auf Chios, ICh 5, Z. 9–12, vom Ende des 4. Jh. v.Chr., wo es heißt: „… der Opfernde soll sich beim Priester melden; wenn aber der Priester nicht da ist, soll einer der Gentilangehörigen stellvertretend als Priester fungieren.“ In einer anderen Inschrift aus Chios, ICh 4, Z. 7–13, wird im Falle der Abwesenheit des Priesters der Opfernde selbst zur Opferhandlung legitimiert.

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Ähnlich stellt sich die Situation in Rom dar. Neben der körperlichen Unversehrtheit und einer freien Geburt – bis etwa 300 v.Chr. war sogar eine patrizische Abstammung unerlässlich – konnte auch die Bedingung treten, dass Vater und Mutter noch am Leben waren, sowie eine Fülle komplizierter Regelungen bei ganz besonderen Priesterämtern wie dem flamen Dialis und den Vestalinnen.70

Die Legitimationsgrundlage des priesterlichen Dienstes war in der Regel ein bestimmter Initiationsritus oder Weiheakt (z.B. Salbung), durch den der Initiant in einen neuen Status, ein neues Amt und damit auch in eine neue soziale Gruppe eingeführt und von seinem bisherigen sozialen Umfeld unterschieden wurde. Die Rekrutierung des Priesternachwuchses erfolgte in den einzelnen Kulturen höchst unterschiedlich. Es lassen sich die vier Kategorien der Vererbung, der Wahl, der Verlosung und in einigen wenigen Fällen in Kleinasien und auf den ägäischen Inseln in hellenistischer Zeit auch des Erwerbs bzw. der Versteigerung eines Priesteramtes unterscheiden.71 Im Hinduismus (Brahmanenkaste), in Ägypten72, in Babylonien73 und im Judentum (Zadokiden und Leviten) finden sich bestimmte Priestergeschlechter und in Griechenland sind alte Familien belegt, denen das Privileg der Priesterbestellung obliegt. In der griechischen po,lij war der lokale no,moj entscheidend, d.h. das jeweilige Brauchtum einer Stadt. Prinzipiell konnte in Griechenland jeder Priester werden,74 sofern er im Besitz des Bürgerrechts war und keine Behinderung oder äußere Versehrtheit aufwies.75 Priesterliche Funktionen konnten auch von Laien, Familienvätern und Königen ausgeübt werden, ohne dass diese Personen damit gleich als Priester gegolten hätten.76 Das Priesteramt war hier keine profilierte Lebensform, sondern in der Regel lediglich ein Neben- und Ehrenamt. Dementsprechend wurde das Priesteramt von einigen Aus-

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Zu den Belegen vgl. KRAUTER, Bürgerrecht, 134, Anm. 425–428. B URKERT, Griechische Religion, 160; MUTH, Religion, 247; SABOURIN, Priesthood, 38f.; MILGROM, Lev 1–16, 52f. Zu den Belegen vgl. KRAUTER, Bürgerrecht, 94, Anm. 220–223. 72 In Ägypten findet sich mindestens seit der 19. Dynastie eine hereditäre Priesterschaft, vgl. dazu DAVID, Ancient Egyptians, 135–137. 73 Vgl. RENGER, Untersuchungen 58, 110–188, und 59, 104–239. 74 Isokr Or 2,6; Demosth Prooem 55. 75 MUTH, Religion, 247; B URKERT, Griechische Religion, 163. Vgl. auch DERS, a.a.O., 157: „Der Gott läßt prinzipiell jeden zu, der nur den Nomos respektiert, – d.h. der lokalen Gemeinschaft sich einzuordnen willens ist ...“ Schon Herodot, 1,132,3, wunderte sich, dass die Perser bei jedem Opfer einen Magier hinzuziehen mussten. In Griechenland konnte grundsätzlich jeder ein Opfer darbringen, sofern er die Mittel dazu hatte. Entsprechend konnten im privaten Bereich auch Familienoberhäupter priesterliche Funktionen wahrnehmen. 76 KLEIN, Art. Priester, 381. 71

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Kapitel I: Priester in der griechisch-römischen Antike

nahmen abgesehen auch nicht lebenslänglich verliehen, sondern zeitlich befristet.77 Das Amt war auch stets an den Dienst für eine bestimmte Gottheit gebunden, so dass es streng genommen keinen Priester an sich gab, sondern immer nur „Priester des Apollon Pythios“ oder „Priesterin der Athena Polias“ usw.78 So unreglementiert der Zugang zum Priesteramt im Grundsatz auch war,79 so sehr entwickelte sich im Alltag einer größeren politischen Gemeinschaft doch ein gewisses „Kandidatenprofil“. Bei größeren Kultveranstaltungen benötigte man eine entsprechende Autoritätsperson mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit zur Leitung des Opfers. In späterer Zeit „ist wohl ziemlich jeder ansehnliche Vollbürger das eine oder das andere Mal zur aktiven Teilnahme an dem staatlichen Gottesdienste herangezogen worden“.80 In den größeren griechischen Städten wurde das Amt faktisch unter den angesehenen Familien verteilt,81 im Königtum von Sparta oblag der Opfervollzug dem König. Aufgrund der deutlich weiter entwickelten Struktur des römischen Priestertums waren auch die „Zugangsvoraussetzungen“ zum Priesteramt in Rom fester umrissen: Ein entsprechendes Amt erhielten nur „freigeborene, nicht vorbestrafte oder mit körperlichen Gebrechen behaftete römische Bürger“.82 In zahlreichen sakralrechtlichen Bestimmungen wurde hier exakt geregelt, wem das ius sacrificandi zustand.83 In der Regel stammten die Amtsinhaber aus dem Kreis der führenden Senatoren bzw. der römischen nobilitas. 84 Damit lagen die Priesterämter in den Händen derselben Männer, welche auch im Raum von Politik, Recht, Militärwesen und Kriegsführung den Ton angaben. Nach Cicero beruhte die Stärke Roms in dem Grundsatz, „denselben Männern sowohl den Kult der unsterblichen Götter als auch alle wichtigen Entscheidungen in die Hand zu geben“.85 Anders als in den griechischen Poleis hatten diese das Amt auf Lebenszeit inne. Von einer besonderen Ausbildung zum Amt wird nichts erwähnt. Insofern waren römische Priester 77

B URKERT, Griechische Religion, 160f.; DIGNAS, Art. Priestertum, 1650. Die meisten Priesterämter wurden für die Dauer eines Jahres vergeben, ZAIDMAN/SCHMITTP ANTEL, Religion, 50. 78 B URKERT, Griechische Religion, 158. 79 In Athen galt nach 450 v.Chr. bzw. der Demokratisierung aller neuen Kulte lediglich die physische Unversehrtheit und gute Gesundheit als Zugangsvoraussetzung für das Priesteramt. 80 W ILAMOWITZ-MOELLENDORF, Glaube I, 35. 81 MUTH, Religion, 147; SABOURIN, Priesthood, 39. In diesen Fällen wurden die Priesterämter nach bestimmten Regeln unter den Mitgliedern der entsprechenden Familien verteilt, manchmal auch auf Lebenszeit. In Athen waren z.B. die ältesten und angesehensten Kulte „gentil“, d.h. die Priesterschaft war reserviert für eine besondere aristokratische Adelsgruppe. So war z.B. der Familie der Eteoboutaden das Priesteramt für die Athena Polias vorbehalten, ZAIDMAN/SCHMITT-P ANTEL, Religion, 50; GARLAND, Priests, 77. 82 MUTH, Religion, 291. Die Vestalinnen wurden dagegen für eine Amtsperiode von 30 Jahren ernannt, konnten jedoch freiwillig vorzeitig zurücktreten. 83 Vgl. Liv 10,23,9f., sowie KRAUTER, Bürgerrecht, 132. 84 BEARD/NORTH/PRICE, Religions, 103.192–196. 85 Cic Dom 1, Übersetzung nach FUHRMANN. Allerdings ist hinzuzufügen, dass in der Regel streng darauf geachtet wurde, dass einzelne Familien keine Monopolstellung gewannen. Als allgemeine Regel galt, dass keine Familie (gens) mehr als ein Amt in einem Priesterkollegium zur gleichen Zeit besetzte und kein Individuum mehr als ein Priesteramt übernahm, B EARD/NORTH/PRICE, Religions, 103.

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„von Haus aus“ keine religiösen Experten, was aber nicht ausschloss, dass sie zu solchen werden konnten.86

Bemerkenswert ist die durchgängige Anforderung der physischen Unversehrtheit. Diese steht mit der Vorstellung vom Priester als dem idealen, gottähnlichen Menschen in Verbindung und ist im antiken Analogieprinzip begründet. Wer sich im heiligen Bezirk bzw. im Tempel den Göttern nahen will, der muss dem Ideal der göttlichen Vollkommenheit und Makellosigkeit wenigstens nahe kommen. Auch die Ausbildung weist eine erhebliche Bandbreite auf: Während sich in manchen Fällen die Ausbildung auf die Befähigung zur korrekten Kultausübung beschränkt,87 werden Priester andernorts im umfassenden Sinn zu Trägern der Weisheit, Philosophie und des Wissens ausgebildet, um entsprechende Führungsaufgaben in einem Gemeinwesen übernehmen zu können.88 Zur Ausbildung gehört neben der Wissensvermittlung vielerorts auch die spirituelle und physische Vorbereitung durch Reinigungsriten, Waschungen, sexuelle Enthaltsamkeit, Meditation usw. Das in einer Priesterschaft tradierte Wissen verlieh dieser eine herausgehobene Position im Gesamtgefüge einer antiken, häufig illiteraten Zivilisation. Nicht selten nahm das tradierte Wissen die Form einer Arkandisziplin an, verbunden mit besonderen Formeln oder gar einer eigenen, nur Priestern verständlichen Sprache.89

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BEARD/NORTH/PRICE, Religions, 27. Dazu können freilich von Fall zu Fall erhebliche Kenntnisse nötig werden: Neben dem rite vollzogenen Opfer mussten auch Gebete und Akklamationen angemessen rezitiert und eine von Symbolik gefüllte Liturgie rhetorisch und gestisch in rechter Weise inszeniert werden. Es bedurfte kalendarischer Kenntnisse über den Umgang mit Zeiten, Festen und Fristen. Gelegentlich waren auch astronomische, astrologische, veterinäre und mantische Kenntnisse notwendig. 88 J AMES, Priestertum, 36: „Der Medizinmann muss in seinem Beruf erfolgreich sein, während der Priester ein Fachwissen in der heiligen Gelehrsamkeit haben muss, und zwar in allem, was zum Priesteramt, seinem Ritual, seiner Mythologie, seinem Recht, seiner Lehre und seiner Organisation gehört. Der Schamane und der Zauberer mögen Individualisten sein, der Priester aber übt seine Funktionen, da er für die Aufrechterhaltung der rechten Verwandtschaft zwischen der Gemeinschaft und ihren Göttern verantwortlich ist, in seiner körperschaftlichen Befähigung aus.“ 89 SABOURIN, Priesthood, 6f. Gelegentlich wechselten Priester in einigen Kulturen sogar ihre Namen, um den mit dem Statuswechsel sich vollziehenden Identitätswandel zu dokumentieren. 87

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Kapitel I: Priester in der griechisch-römischen Antike

5 Sozialformen 5 Sozialformen

So verschieden die Priestertümer waren, so unterschiedlich waren auch die Sozialformen, in denen sich diese ausprägten. Hier werden auch die Unterschiede zwischen griechischen und römischen Priestertümern am markantesten greifbar. In Griechenland entwickelte sich, verglichen mit anderen antiken Hochkulturen, eine besondere Form des Priestertums. Überspitzt formuliert lässt sich die griechische Religion als eine „Religion ohne Priester“ beschreiben, weil sie kein Priestertum im Sinne einer „geschlossenen Gruppe mit fester Tradition, Ausbildung, Weihe und Hierarchie“ kennt.90 Das Priesteramt ist kein bestimmter, dauerhaft verliehener Status eines Einzelnen. Vielmehr ist der Priester das Organ eines Gemeinwesens,91 ohne dass er auch nur annähernd die politische Bedeutung der Reichspriester im orientalischen, babylonischen und altägyptischen Raum erlangte. Ausführliche Hinweise gibt hierzu der berühmte Abschnitt in Platons Gesetzen: „Wir wollen demnach sagen, daß für die heiligen Örtlichkeiten Tempelhüter, Priester und Priesterinnen aufgestellt werden müssen […] Wo für Personen beiderlei Geschlechts das Priestertum ein Familienerbstück ist, soll man hieran nichts ändern. Im andern Falle … wenn niemand oder nur etliche wenige vorhanden sind, bei denen die Sache noch nicht feststeht, hat man neue Priester und Priesterinnen aufzustellen, um die Tempel der Götter zu beaufsichtigen. […] Was also nun den Priester betrifft, so überläßt man es dem Gotte selbst, dafür zu sorgen, daß das geschieht, was ihm wohlgefällig ist. Somit läßt man das Los walten und gibt die Sache dem göttlichen Zufall anheim. Doch unterwirft man im einzelnen Falle den durch das Los Bestimmten einer Prüfung, ob er fürs erste ohne körperliche Gebrechen und ehelich geboren ist; sodann muß er möglichst aus einer unbescholtenen Familie stammen, muß selber von jeglicher Blutschuld und allen ähnlichen Sünden gegen die Religion frei sein, wie denn auch Vater und Mutter ein ähnliches Leben geführt haben müssen. […] Jedes priesterliche Amt hat nur eine unerstreckliche Dauer von einem Jahre. Auch darf für uns eine Person nicht unter sechzig Jahren zählen, die nach den heiligen Gesetzen ihr Amt in religiösen Dingen würdig und rein verwalten will. Und dies sollen die gesetzlichen Bestimmungen über die Priesterstellen sein“ (Plat Leg 759A-D).92

Eine geschlossene, landesweite und hierarchisch gegliederte Priesterschaft ist in Griechenland unbekannt. Das Priestertum existierte in Griechenland nur begrenzt als ein von der konkreten Ausprägung abstrahierbares Berufsbild, sondern das Amt und der Status der Priester waren stets an bestimmte Heiligtümer und Kulte gebunden.93 Die Bedeutung des einzelnen

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B URKERT, Griechische Religion, 157; ähnlich SABOURIN , Priesthood, 35f. W ILAMOWITZ-MOELLENDORF, Glaube I, 35. 92 Übersetzung nach EYTH. 93 ZAIDMAN/SCHMITT-P ANTEl, Religion, 50; SABOURIN, Priesthood, 36.225. 91

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Priesters blieb daher auch eine lokale und politisch begrenzte, was jedoch ein hohes Sozialprestige nicht ausschloss.94 In Rom entwickelte sich, anders als in der von einer Pluralität von Kulten und Priestertümern geprägten Kultur Griechenlands, eine klar geordnete Priesterstruktur, von der die einzelnen Kultformen in Zusammenarbeit mit den staatlichen Organen selbst festgelegt wurden.95 Für das römische Priestertum sind die beiden Prinzipien der Aufgabendifferenzierung96 und der Kollegialität charakteristisch. Ein römischer sacerdos war in aller Regel Mitglied eines Priesterkollegiums und die priesterlichen Aufgaben wurden auf das Exakteste zwischen diesen Kollegien aufgeteilt.97 Lediglich die nicht im Kollektiv agierenden flamines waren nicht nur für einen einzigen Tempel zuständig, sondern übten neben bestimmten Kultvollzügen eine allgemeine Beratungs- und Überwachungsfunktion aus. Vorrang in der hierarchisch strukturierten Priesterschaft hatten die vier sog. „großen“ Priesterkollegien, die quattour amplissima collegia sacerdotum, nämlich die pontifices,98 die augures, die XVviri sacris faciundis (auch sacerdotes Sibyllini genannt) und die duoviri, später decemviri sacris faciundis genannt.99 Im frühen 2. Jh. v.Chr. entstand noch ein weiteres, völlig neues dreiköpfiges Priesterkollegium, nämlich das der triumviri epulones, das später auf sieben Mitglieder erweitert wurde und für die religiösen Rituale bei den öffentlichen Spielen zuständig war, einer Aufgabe, die ursprünglich zum Kompetenzbereich der pontifices gehörte. Diesen hohen Priesterkollegien kam neben dem Kult94 Entsprechend sind in den Quellen auch eine Reihe bestimmter Privilegien, wie Ehrensitze im Theater, besondere Rollen an Festtagen, eine exquisite Amtstracht etc. erwähnt, vgl. DIGNAS, Art. Priestertum, 1650. 95 Vgl. dazu die ausführlichen Beiträge von J. SCHEID, PRÊTRES, und SCHUMACHER, Priesterkollegien. 96 Aufgrund der exakten Aufgabenverteilung stellen B EARD/NORTH/P RICE, Religions, 20f., den in der Literatur üblichen Begriff einer römischen „Priesterhierarchie“ in Frage. Zwar kam dem pontifex maximus eine begrenzte Disziplinarfunktion zu, aber es gab keine wirkliche Oberautorität über die verschiedenen Priesterkollegien. Vielmehr waren die priesterlichen Aufgaben so differenziert auf die einzelnen Kollegien und auch politischen Institutionen verteilt, dass ein System mit einer austarierten Macht- und Funktionsbalance zwischen Priesterkollegien, Magistraten und dem Senat entstand. 97 Als ein epochales Werk zu den römischen Priestern müssen J. RÜPKES dreibändige Fasti sacerdotum, betrachtet werden. Der Autor führt darin alle bekannten Priester und Priesterschaften in prosopographischen Einzelstudien auf. Ein Auszug aus diesem opus magnum wurde publiziert unter DERS., Römische Priester. 98 Die Struktur dieses Kollegiums war komplexer als die aller anderen, da dem Kollegium der pontifices neben dem rex sacerdotum auch die drei flamines maiores und die zunächst zwölf später zahlreicheren flamines minores, sowie die sechs virgines Vestales angehörten, vgl. BEARD/NORTH/PRICE, Religions, 18f.24–26. 99 Aug Res gest 7. Ein Problem stellt bei diesem Priesterkollegium die wechselnde Zahl der Priester und damit auch der wechselnde Titel des Kollegiums in den Quellen dar. Während es sich anfänglich um „zwei Männer für heilige Handlungen“ handelte, erhöht sich die Zahl später auf drei, sieben, zehn und schließlich 15. Sie waren die Hüter der Sibyllinischen Bücher.

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vollzug auch eine umfassende rechtliche Beratungs- und Aufsichtsfunktion in nahezu allen religiösen Angelegenheiten zu.100 Von nachrangiger Bedeutung war dagegen das Kollegium der zwanzig fetiales, die v.a. für die Rituale bei der Entscheidung über und dem Beginn eines Krieges zuständig waren.101 Darüber hinaus gab es unter Aufsicht des sacerdotes Sibyllini stehende Einzel- und Sonderpriester für fremde, in Rom neu eingeführte Kulte.102 Ranghöchster Priester aller Kollegien war de facto der an der Spitze der pontifices stehende pontifex maximus, der für den geregelten Ablauf des Kultwesens verantwortlich war. Der rex sacrorum, bisweilen auch rex sacrificulus genannt, war nach dem pontifex maximus der zweithöchste römische Priester. Er wurde vom pontifex maximus auf Lebenszeit ernannt und war ihm auch hinsichtlich der „Geschäftsführung“ unterstellt. Er hatte aber vor ihm und in der gesamten Priesterhierarchie den Ehrenprimat, was v.a. im Vorsitz bei der vom pontifex maximus einberufenen Volksversammlung einen sichtbaren Ausdruck fand. Anders als die meisten seiner Kollegen übte er als Priester kein Ehrenamt aus und durfte auch kein öffentliches Amt annehmen, sondern musste sein Leben mitsamt dem seiner Gattin, der regina sacrorum, der sakralen Berufung unterordnen.103 Die pontifices hatten die Funktion der Bewahrer und der „Archivare“ sowohl des göttlichen wie des menschlichen Rechts. Sie hatten auf die exakten Wortlaute für alle religiösen und rechtlichen Akte zu achten. Daher kam ihnen auch eine Art beratende Assistenzfunktion für die Magistrate zu. Sie assistierten den Beamten und Behörden sowohl bei kultischen wie juristischen Aufgaben, indem sie z.B. festgelegte Gebets-, Gelübde- und Weiheformeln rezitierten, bei Sühneriten zur Besänftigung zürnender Gottheiten oder auch an vorbeugenden Maßnahmen gegen den Zorn der Götter mitwirkten.104 Darüber hinaus waren die pontifices auch für den römischen Kalender, die Überwachung von Adoptionen und andere Angelegenheiten des Familienrechts und für die Führung der römischen Jahrbücher zuständig, in denen alle als relevant betrachteten Ereignisse verzeichnet wurden.105

Obwohl oder vielleicht auch gerade weil in Rom das Priesteramt üblicherweise ein Ehrenamt (honos) war, das seine Träger nur als „Freizeitpreister“ ausübten, haftete ihm ein hohes Sozialprestige an.106 So war bis etwa 300 v.Chr. das Priesteramt Patriziern vorbehalten, erst danach konnten auch Plebejer Zutritt zu diesem Amt erlangen.107 Frauen und v.a. Jungfrauen in priesterlichen Funktionen oder gar Ämtern sind in der mediterranen Antike in zahlreichen Kulturen und Kulten, u.a. auch in Griechenland und Rom belegt, wie z.B. die römischen Vestalinnen. Jedoch war das Priesteramt in aller Regel eine männliche Domäne, 100

Vgl. Dion Hal Ant 2,73,2f. Vgl. MUTH, Religion, 299; Beard/North/Price, Religions, 26f. 102 Vgl. zum Ganzen MUTH, Religion, 291f. 103 MUTH, Religion, 295. 104 MUTH, Religion, 293; Beard/North/Price, Religions, 24f. 105 B EARD/NORTH/PRICE, Religions, 26: „The pontifices, in short, linked the past with the future by law, remembrance and recording.“ 106 ELM, Art. Priestertum, 1651. 107 BEARD, Priesthood, 19. Lediglich die Würde des rex sacrorum, der drei flamines maiores und der Salii blieb den Patriziern vorbehalten, MUTH, Religion, 291. 101

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weibliche Priesterinnen waren die Ausnahme. Wichtiger ist aber, dass keine gemischtgeschlechtlichen Kulte belegt sind. Das bedeutet, dass das Geschlecht des Kultpersonals nicht belanglos, sondern jeweils im Wesen des Kultes begründet war, ohne dass wir darüber eine Reflexion in den Quellen finden.

6 Kollektive und individuelle Kultausübung 6 Kollektive und individuelle Kultausübung

Trotz der Mittlerfunktion des Priesters ist in der mediterranen Welt der Antike eine „private“ Frömmigkeitsausübung nicht aus- sondern vielmehr eingeschlossen. Die Gottesbeziehung des Einzelnen kann dabei völlig unterschiedlichen Charakter haben. Sowohl in der hellenistischen wie in der römischen Welt ist es dem Einzelnen freigestellt, selbst und an jedem beliebigen Ort individuelle Opfer für sich und seine Familie darzubringen.108 Ein Hausaltar war in der Regel genuiner Bestandteil eines antiken Haushaltes, kleine Trank- und Speiseopfer ein üblicher Ritus bei den Mahlzeiten. Die Frage nach der Verhältnisbestimmung dieser „privaten“ Opfer und Kultvollzüge zu den kollektiven bzw. offiziellen der hellenistischen Polis oder des römischen Staates ist offen. Zwar kannte man in Griechenland die Unterscheidung zwischen öffentlichen bzw. allgemeinen (damosi,a | bzw. koinh/|) Kulthandlungen auf der einen und privaten Kulthandlungen (ivdi,a |) eines Einzelnen (ivdiw,thj) oder eines Vereins auf der anderen Seite. Allerdings weist S. Krauter darauf hin, dass die Begriffe „öffentlich“ und „privat“ in der Antike völlig anders gefüllt sind als in der Moderne und im Einzelfall die Unterscheidung bzw. Einteilung nicht leicht fällt.109 Auch in Rom werden in ganz ähnlicher Weise wie in Griechenland die beiden Kategorien der sacra publica und der sacra privata unterschieden. In der groben Unterscheidung werden die ersteren aus öffentlichen Mitteln finanziert und für das Volk bzw. die Stadt durchgeführt, während die letzteren für einzelne Menschen, Familien oder Geschlechter vollzogen werden. Allerdings wurden sacra publica in der Regel völlig ohne Beteiligung der Öffentlichkeit oder lediglich im elitären Kreise einer kleinen Oberschicht durchgeführt und umgekehrt standen auch private Kultfeiern unter der Aufsicht und Überwachung der Priester, die beratend oder korrigierend eingreifen konnten.110

Deutlich ist lediglich, dass man im hellenistisch-römischen Raum eine Restriktion des privaten Opfervollzugs oder eine Kultzentralisation auf einen Opferort wie im Alten Testament nicht kannte. Diese „Liberalität“ 108 Dies scheint freilich auch in der Frühzeit Israels der Fall gewesen zu sein, vgl. Gen 22,9; 31,54; 46,1; Ex 17,15; 18,12; 24,4f.; Ri 6,20–28; 13,15–23; 1Sam 6,14f.; 1Kön 1,9; 18,30–38. 109 KRAUTER, Bürgerrecht, 54f. 110 Vgl. KRAUTER, Bürgerrecht, 115f.

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war die Grundlage für die Entstehung und v.a. die Verbreitung der zahlreichen Mysterienkulte und der mit ihnen verbundenen religiösen Individualisierung. Die privaten und kommunalen/staatlichen Kultformen stehen vielmehr unverbunden nebeneinander, was aber außerhalb Israels offensichtlich nirgendwo als Problem empfunden wurde. Die Kategorie eines „Allgemeinen Priestertums“ ist auf dieses Phänomen nicht anwendbar. So sehr es um eine priesterlich-kultische Handlung ging, die z.B. ein pater familias bei einem Opfer für seine Familie vornahm, so wenig wurde damit der Anspruch auf einen priesterlichen Status erhoben oder die Konkurrenz zu bestimmten Priestern zum Ausdruck gebracht.

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(1) Das Wesen Gottes bzw. der Götter bestimmte auch das Wesen des Kultes und seiner bzw. ihrer kultischen Verehrung. Folglich ist auch das Profil des jeweiligen Priestertums ein Spiegel der Götterbilder und Glaubensvorstellungen. Aus den Wesenszügen der jeweiligen Gottheit erklären sich die besonderen Akzentsetzungen des priesterlichen Kultes und aus der starken oder geringen Betonung bestimmter Elemente lassen sich umgekehrt auch wieder Rückschlüsse auf das Profil der Gottheit(en) ziehen. (2) Das Priesteramt in der antiken Welt muss vom priesterlichen Status her verstanden werden. Es ist der Status, der die Funktionen bestimmt, nicht umgekehrt. Bei seiner Investitur wurde dem Priester der Status eines idealen, gottähnlichen Menschen verliehen, der ihn aus der Menge des Volkes heraushob, in den Nahbereich der Götter und des Heiligen rückte, ihn zur Interaktion mit der Gottheit und zur Mediation zwischen Göttern und Menschen qualifizierte. Diese mediative Rolle war maßgeblich durch die Repräsentationsfunktion der Kultgemeinde vor Gott bzw. den Göttern und evtl. auch umgekehrt der Gottheit vor der Kultgemeinde bestimmt. In der Rolle des idealen, gottgemäßen und gottnahen Menschen übernahm der Priester für die Gesellschaft als Ganze wie für den Einzelnen eine Entlastungs- und Desakralisierungsfunktion: Weil der Priester stellvertretend für alle anderen einen idealen Status hatte und ein sakrales Leben führte, konnte die Gemeinschaft sich den Notwendigkeiten des alltäglichen Lebens zuwenden. Der besagte Status konnte sowohl zeitlich befristet wie unbefristet sein und war in aller Regel mit einem hohen Sozialprestige verbunden. Seine Verleihung war in der Regel nicht an besondere, z.B. genealogische Voraussetzungen seitens des Amtsinhabers geknüpft, konnte aber gewisse Verpflichtungen nach sich ziehen. Faktisch wurde das Priesteramt jedoch fast immer unter der lokalen Nobilität vergeben. Der besondere Status des

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Priesters konnte mit dem Attribut der „Heiligkeit“ umschrieben werden, wobei die persönliche Frömmigkeit im Sinne eines innigen Gottesverhältnisses oder die ethisch-moralische Glaubwürdigkeit kaum eine Rolle spielte. Ganz allgemein war die Heiligkeit des Priesters durch einen Kontrast zum Alltäglichen und Profanen normiert, die mehr in überkommenen Ritualen als in einer persönlichen Haltung zum Ausdruck kam. (3) Vor allem in Rom, aber auch in Delphi, ist der Priesterdienst mit einer Deutungsfunktion verbunden, die nahezu prophetischen Charakter hat. Dem Priestertum bzw. dem priesterlichen Amt wuchs in einer Kultur ohne heilige Schrift bzw. ohne einen schriftlich fixierten Normenkodex durch seine stark interpretierende Funktion eine immense Bedeutung und Machtfülle zu, die immer wieder reglementiert werden musste. (4) Im Vergleich mit dem atl.-jüdischen Priestertum sticht in Griechenland die verhältnismäßig geringe Normierung des Priesteramtes ebenso ins Auge, wie die fast beliebige Vielfalt der Priestertümer analog zur Vielfalt der Kultstätten und Tempel. Nur sehr selten lässt sich in Griechenland ein erbliches Priestertum belegen. Das Priestertum war weder ein Beruf, noch eine eigene Kaste. Hier war die priesterliche Würde ein „Ehrenamt“ im eigentlichen Sinn des Wortes, das in der Regel der urbanen Elite vorbehalten war. Während es im Judentum immer wieder Konflikte um die Vergütung des Priesterdienstes und die Versorgung der Priesterschaft gab, wurde im hellenistisch-römischen Raum eher umgekehrt auch das finanzielle Engagement des aus reichen Familien stammenden Priesters erwartet, der sich auf diese Weise die prestigeträchtige Priesterwürde „erwerben“ musste.111 Das Amt war auch nicht von vornherein für bestimmte Personen tabu, auch wenn sich faktisch eine gewisse Sozialauslese durchsetzte. Es konnten jedoch auch, anders als in Israel, militärische und politische Funktionsträger die Priesterwürde erlangen, ja diese war in Rom z.T. sogar mit bestimmten politischen Funktionen verknüpft. (5) Im Licht der These, dass die jeweiligen Priestertümer eine Funktion der verschiedenen „Theo-Logien“ sind, überrascht beim Vergleich des Priestertums in der hellenistisch-römischen Welt mit dem atl.-jüdischen Priestertum – wie sich im nächsten Kapitel noch zeigen wird – zunächst die Fülle der Gemeinsamkeiten. So unterschiedlich der jeweilige Glaube sich auch darstellt, so sehr erstaunt die große Homogenität, die alle antiken Priestertümer auszeichnet. Überall finden sich Tempel, um die herum häufig heilige Bezirke angelegt waren, es finden sich heilige Gesetze (leges sacrae), die kultische (Un)Reinheit definierten und mit entsprechenden Sanktionen für die Verletzung dieses heiligen Rechts drohten. Auch diese leges sacrae weisen über die mediterranen Kulturen hinweg überraschend viele Ähnlichkeiten auf, angefangen von den allgemeinen Bestimmungen 111

SANDERS, Judaism, 49.

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Kapitel I: Priester in der griechisch-römischen Antike

von „rein“ und „unrein“ über die verschiedenen Fristen und Reinigungsriten bis hin zu den Sanktionen bei Zuwiderhandeln. (6) An zentraler Stelle finden sich überall im mediterranen Raum blutige Tieropfer, die unter exakt festgelegten Riten und begleitet von Gebeten und bestimmten Formeln dargebracht wurden. Und wir finden nicht zuletzt überall einen Stand religiöser Experten für den Raum des Kultes bzw. des Heiligen. Überhaupt ist das kultische Raumdenken, das besonders heilige Sphären von profanen Bereichen unterscheidet, ein allgemeines Phänomen der alten Welt. Insofern bedurfte die Erwähnung kultischer Handlungen bzw. des priesterlichen Dienstes in den Schriften des Neuen Testaments kaum einer besonderen Erläuterung für Leser anderer Kulturkreise. So unterschiedlich die Detailregelungen auch sein mochten und so unterschiedlich die „TheoLogien“ und Frömmigkeitsformen auch waren, so interkulturell waren die Grundzüge antiker Kulte und des priesterlichen Dienstes. Es ging immer um die heilvolle und nun buchstäblich „räumliche“ Begegnung mit der göttlichen Welt und Wirklichkeit, ja um ein stellvertretendes In-BerührungKommen des Priesters mit Gott oder den Göttern. (7) Im Vergleich mit dem jüdischen Priestertum in der Zeit des zweiten Tempels fällt die geringe Zahl kritischer Stimmen zu Priestern und Priestertümern ins Auge. Abgesehen von der Brandmarkung und Bestrafung einzelner Regelverstöße und dem lustvollen Spott im Rahmen satirischer Werke scheinen pagane Priester(tümer) weit weniger im Fokus öffentlicher Kritik gestanden zu haben als dies in frühjüdischer Zeit beim Jerusalemer Priestertum der Fall war. Die Gründe dafür dürften in der nahezu grenzenlosen Pluralität von Gottheiten und Kulten liegen. Bei Spannungen oder unterschiedlichen Auffassungen über den korrekten Kultvollzug konnte problemlos ein alternativer Kult mit Tempel und Priesterschaft gegründet werden. Überhaupt wurde Verschiedenheit nicht als Problem aufgefasst, solange sie einen bestimmten Rahmen nicht überschritt. Hier waren die Verhältnisse in Israel mit einem exklusiven, zentralisierten Kult und einem schriftlichen, jedermann zugänglichen Regelkodex deutlich anders und spannungsträchtiger. (8) Von einem Allgemeinen Priestertum in der griechisch-römischen Antike kann nicht gesprochen werden. Man könnte höchstens von einer „allgemeinen Priesterfähigkeit“ in dem Sinne reden, dass in den griechischen Städten in aller Regel jeder erwachsene, gesunde und unversehrte Bürger prinzipiell als zum Priesterdienst befähigt galt und potentiell Priester werden konnte. Eine Aufhebung des Gegenübers von Priester und Volk war damit jedoch nicht verbunden. Das reihum vergebene Priesteramt an einzelne Bürger war noch lange kein „Priestertum aller“.

Kapitel II

Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit M. Himmelfarb hat in einem jüngeren Beitrag auf den schlichten und in seiner Bedeutung nicht immer angemessen gewürdigten Umstand aufmerksam gemacht, dass die zahlreichen und konfliktträchtigen Diskussionen um das jüdische1 Priestertum und den Jerusalemer Tempel, die in den drei folgenden Kapiteln Gegenstand der Untersuchung sind, auf der Grundlage einer nunmehr vorliegenden Tora erfolgten,2 wobei nach wie vor umstritten ist, welchen Umfang und welche Gestalt diese hatte und wann genau sie ihre kanonische Form fand. Die allgemeine Kenntnis dieser Tora wurde 1 In den vergangenen Jahren wurde v.a. in der angelsächsischen Judentumsforschung darüber diskutiert, ob „Judentum/jüdisch“ eine adäquate Bezeichnung für die Epoche des zweiten Tempels in Israel/Palästina ist. Im Hintergrund steht die Frage, wie sich sprachlich die Differenz zwischen Religionszugehörigkeit (jüdisch?) und der geographischen Bestimmung von Einwohnerschaft (judäisch?) ausdrücken lässt. Während im Deutschen im Begriff „jüdisch“ wenigstens noch „Juda“ anklingt, ist im englischen „jewish“ noch nicht einmal das der Fall. Es war v.a. S. MASON, der sich im Rahmen der großen Kommentarreihe zu den Schriften von Flavius Josephus vehement für die Übersetzung „Judean War“ bzw. „Judean Antiquities“ als Alternative zu „Jewish War“ bzw. „Jewish Antiquities“ eingesetzt hat, vgl. S. MASON, Flavius Josephus. Zur Debatte vgl. die Beiträge von D.R. SCHWARTZ, ‚Judean‘ or ‚Jew‘?; P.F. ESLER, Ioudaioi; DERS., Identity; DERS., Hebrews. Da die Debatte noch lange nicht abgeschlossen, geschweige denn ein Konsens in Sicht ist, wird in dieser Studie die herkömmliche Bezeichnung „(Früh)Judentum/ (früh)jüdisch“ verwendet. 2 H IMMELFARB, Kingdom, 23ff., verweist dabei u.a. auf Neh 13,4–9, wo Nehemia den Ammoniter Tobija, einen Verwandten des Hohepriesters Eljaschib, aus der ihm eingeräumten Tempelkammer wirft. Dies konnte der Nicht-Priester Nehemia nur auf der Grundlage des vorliegenden „Buches des Mose“ tun, vgl. Neh 13,1–3, das ihm offensichtlich die Autorität gegenüber dem Hohepriester verlieh. Der autoritative Text der öffentlich gelesenen und auf diese Weise proklamierten Tora, vgl. Neh 8,1ff. verlieh diesem frommen Gouverneur die Vollmacht, als „Laie“ zum Kritiker des Hohepriesters zu werden, vgl. HIMMELFARB, Priests, 25: „Nehemia, a lay man with no claim to priestly authority, was able to appeal to the text to justify what in an earlier day would have been understood by one and all as a usurpation of the high priest’s prerogative.“ Dasselbe Phänomen lässt sich auch bei Texten beobachten, die selbst wohl aus priesterlichem Hintergrund stammten, wie 4QMMT, das Wächterbuch (äthHen 1–36) und das aramäische Levi-Dokument. Auch sie äußern ihre Kritik am priesterlichen Handeln nicht auf der Basis priesterlicher Standestraditionen, sondern auf der Grundlage der Tora, a.a.O., 28.

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Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit

somit für die Epoche des zweiten Tempels zu einem zentralen Kennzeichen jüdisch-nationaler Identität.3 Nunmehr konnte sich jeder Jude ein eigenes Urteil über die Torakonformität des priesterlichen Dienstes bilden und bei begründeten Zweifeln selbstbewusst auf dieses Grundlagendokument des Judentums verweisen.4 Bedenkt man, dass in frühjüdischer Zeit zahlreiche Gruppierungen die priesterliche Integrität und den korrekten Kultvollzug als Grundlage für das Wohl und Wehe des gesamten Volkes betrachteten, wird die Brisanz dieser verbreiteten Urteilsfähigkeit deutlich. Aus diesem Grund würde es hier wenig Sinn machen, die Geschichte des Priestertums im Alten Testament nachzuzeichnen, in deren Erforschung die atl. Wissenschaft in den vergangenen 150 Jahren so viel Arbeit und Mühe investiert hat. Denn das in der Forschung entworfene Bild von der Entstehung des atl. Priestertums ist ein völlig anderes als jenes, das Nehemia und seinen Zeitgenossen bei der Verlesung der mittlerweile normativen Tora zur Zeit des zweiten Tempels vor Augen stand. Um die wachsende Kritik am Priestertum in jener Zeit und die schon in verschiedenen atl. Texten erhoffte, ja ersehnte (eschatologische) Reformation, Erneuerung oder gar Transformation, sowie die einsetzende Metaphorisierung des Priestertums zu verstehen, gilt es den hinter dem Phänomen des jüdischen Priesters stehenden religiösen Status zu erfassen. Während sich die atl. Wissenschaft auf das Intensivste mit der Rekonstruktion der Geschichte des Priestertums, dem Verhältnis, Konflikt und der Konkurrenz zwischen Aaroniden, Zakodiken und Leviten sowie der Beschreibung priesterlicher Funktionen und Regelungen beschäftigt hat, wurde der Frage nach dem Verständnis des priesterlichen Status verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit zu Teil.5 Dies mag auch daran liegen, dass wir über den religiösen Status eines Priesters in keinem atl. Text informiert werden. Es verhält sich auch bei dieser Frage so, wie bei vielen offenen Fragen der Altertumsforschung: In den Quellen werden gewöhnlich nur ein Soll-Zustand beschrieben, die äußeren Vollzüge geregelt, Normabweichungen erwähnt, diskutiert und stigmatisiert, sowie Konflikte überliefert. Die sinnstiftende Begründung von Tempeln, Priestern und Opfern galt dem antiken Menschen als „selbst-verständlich“ und wird auch in den paganen Quellen so gut wie nie thematisiert (→I.1, Anm 3). Eine wesentliche These dieser Studie ist, dass die massive Kritik, mit der sich das Jerusalemer Priestertum v.a. in der Epoche des zweiten Tempels konfrontiert sah, auf einer Bedrohung des priesterlichen Status und in der Folge auf einem Zweifel an der Wirksamkeit der priesterlichen Han3 H IMMELFARB, Kingdom, 27, mit Verweis auf D.M. GOODBLATT, Elements of Ancient Jewish Nationalism, Cambridge 2006, 43–48. 4 Vgl. auch HIMMELFARB, Kingdom, 162. 5 Im Folgenden beziehe ich mich hierzu u.a. auf die kurzen Beiträge von CHEUNG, Priest, 265–269, und DAVIES, Priesthood, 149–169.

Exkurs 1: Das historisch-kritische Bild

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delns beruhte. Im Gegensatz dazu ist die Metaphorisierung des Priestertitels im Neuen Testament in der Neu-Stiftung priesterlichen Seins durch das in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi offenbarte Heilsgeschehen begründet. In diesem Kapitel soll auf der Basis eines hier sachgemäßen „kanonischen Zugangs“ nach einem einleitenden Überblick über die Struktur und das Profil des jüdischen Priestertums in einem zentralen zweiten Teil nach diesem priesterlichen Status vor Gott gefragt werden, der bereits in der Darstellung der paganen Priestertümer eine wesentliche Rolle spielte (→I.2).6 Der Zugang zu diesem Statusverständnis wird über die priesterliche Heiligkeitstheologie, sowie über die Voraussetzungen und Funktionen des priesterlichen Dienstes gewonnen. Die hier erarbeiteten Ergebnisse bilden dann die Grundlage für die Darstellung der vor- und frühnachexilische Kritik am Priestertum im dritten Teil und der eschatologischen Hoffnungen des Alten Testaments im Blick auf das Priestertum in einem abschließenden vierten Teil. Vor dem Hintergrund dieser Konzeption kann im Blick auf das historisch-kritische Bild ein knapper Exkurs genügen. Exkurs 1: Das historisch-kritische Bild der Geschichte des israelitischen Priestertums Exkurs 1: Das historisch-kritische Bild „Eine Geschichte des alttestamentlichen Priestertums zu entwerfen ist wegen der Unsicherheit von Alter, Herkunft, Entstehung und Komposition der Quellen und der vielfach unklaren und widersprüchlichen Nachrichten über das Auftreten und Wirken von Priestern schwierig.“7 Diese einleitende Bemerkung von Henning Graf Reventlow zu seinem TRE-Artikel über das atl. Priestertum bringt das Problem der historischen Annäherung auf den Punkt: Angesichts der kaum entwirrbaren Quellenlage ist es der atl. Forschung bisher nicht gelungen, ein überzeugendes und konsensfähiges Bild von der Geschichte des atl. Priestertums zu gewinnen. Von daher ist die Entstehungsgeschichte des atl. Priestertums bis heute unlösbar mit der Forschungsgeschichte zu dieser Geschichte verwoben. Als Ausgangspunkt dieser Forschungsgeschichte muss nach wie vor der epochale Entwurf Julius Wellhausens gelten, den er 1878 in seinen „Prolegomena zur Geschichte Israels“ vorstellte. Wellhausens Rekonstruktion der Geschichte Israels nahm seinen Ausgang bei der Diskrepanz zwischen dem „gewaltigen Apparat des Kultus“8 während Isra6 Grundlage der Darstellung sind neben den einschlägigen Lexikonartikeln auch die Einführungen bei SCHÜRER/VERMES, History II, 237–308; SANDERS, Judaism; M ILGROM, Lev 1–16, 52–57; GUSSMANN, Priesterverständnis, 31–197; STERN, Aspects, 561–579, und v.a. J. SCHAPER, Priester und Leviten; vgl. aber auch W ELLHAUSEN, Prolegomena; B AUDISSIN, Geschichte; KAUFMANN, Religion of Israel; DE VAUX, Ancient Israel; GUNNEWEG, Leviten; CODY, History; HARAN, Temple; NELSON, Faithful Priest; MILLER, Origins. 7 REVENTLOW, Art. Priester, 383. Ähnlich skeptisch äußert sich auch H.-J. FABRY in einem jüngeren Beitrag, Jesus Sirach und das Priestertum, 268: „Das Alte Testament ist offensichtlich nicht mehr in der Lage, die Herkunft der Ahnherren der Priesterschaft exakt zu markieren.“ 8 WELLHAUSEN, Prolegomena. 124.

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Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit

els Wüstenzeit und den dezentralisierten, relativ ungeregelten und schlichten Verhältnissen während der Richterzeit, wo von ortsfesten Kulthöhen unter freiem Himmel,9 verschiedenen Privatheiligtümern10 und einer freien Berufung von Nicht-Leviten zum Priesteramt11 die Rede ist.12 Als Beispiel für den Gegensatz zwischen dem hochentwickelten Kult der Wüstenzeit und der ungleich schlichteren Praxis nach der Landnahme diente der Ephraimiter Samuel, der jede Nacht neben der Lade schlief (1Sam 3,3), während nach der mosaischen Gesetzgebung sich doch nur der Hohepriester13 einmal jährlich am YomKippur in ihre Nähe wagen durfte.14 Auf dem Hintergrund seines evolutiven Geschichtsbildes kam Wellhausen zu dem Ergebnis, eben jene Richterzeit als die Geburtstunde des israelitischen Gottesdienstes zu betrachten.15 Am Anfang des israelitischen Priestertums im Land Kanaan stand demnach das noch unpriesterliche Opfer von Sippenoberhäuptern, die in dem Maße an Bedeutung gewannen, in dem einzelne Familien an bestimmten Heiligtümern ihren Einfluss vergrößerten, so z.B. das Haus Elis in Silo (1Sam 1,3), dessen Nachkommen später in Nob wieder in priesterlicher Funktion zu finden sind (1Sam 21,2; 22,9.11).16 Ein weiteres Indiz sah Wellhausen in Ezechiels verweigerter Zulassung von Leviten für priesterliche Aufgaben im Jerusalemer Tempel (Ez 44,6–16). Wellhausen zog daraus zum einen die Schlussfolgerung, dass die Trennung des Heiligen vom Profanen nicht im Wesen des Tempeldienstes selbst gelegen habe, wie die Zulassung von heidnischen Tempeldienern (Ez 44,6–9) beweise.17 Zum anderen habe Ezechiel die Leviten auf den Status von Tempelsklaven herabgestuft, obwohl sie vorher Priesterfunktionen wahrgenommen hatten. Ezechiel habe durch die Konstruktion „moralischer“ Gründe zugunsten des exklusiven Priestertums der Zadokiden die Leviten stigmatisiert, obwohl der Unterschied beider Gruppen in Wahrheit nicht moralischer, sondern zufälliger Natur gewesen sei, insofern die Zadokiden am Jerusalemer Heiligtum dienten und die Leviten an den ländlichen Höhenheiligtümern (2Kön 23,9). Im Grunde hätten Ezechiel und seine Schule die Unterscheidung von Priestern und Leviten erst eingeführt, die später bei P als „seit ewigen Zeiten“ bestehend vorausgesetzt wird.18

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1Sam 9,14.19; 1Kön 3,4; vgl. 1Kön 12,31. Erwähnt werden das Heiligtum des Ephraimiters Micha in Ri 17,5, das Heiligtum in Dan, Ri 18,30; vgl. 1Kön 12,29, und das Heiligtum der Familie Elis in Silo, 1Sam 1,3; 2,12–17. In der frühen Königszeit werden Lokalheiligtümer in Rama, 1Sam 7,17, Gibeon, 1Kön 3,4f.; 1Chr 16,39f., und Bethel, 2Kön 17,28f.; 23,19, erwähnt. 11 Vgl. 1Sam 2,18; 3,1 mit 1,1; 1Sam 21f.; 2Sam 8,17f.; vgl. auch 1Kön 12,31. 12 WELLHAUSEN, Prolegomena, 125ff. 13 Der deutsche Begriff „Hohepriester“ wird im Rahmen dieser Studie nach den Regeln der neuen Rechtschreibung in seinem ersten Wortteil nicht mehr gebeugt. 14 WELLHAUSEN, Prolegomena, 128. 15 WELLHAUSEN, Prolegomena, vgl. auch a.a.O., 137: „Mit den erkennbaren Stufen der historischen Entwicklung die Schichten des Pentateuchs in Parallele zu stellen, gelingt hier im ganzen leicht.“ 16 Auch DOMMERSHAUSEN, Art. kohen, 72, geht von einer Ausprägung kultischer Funktionen des Priesters erst in der Königszeit aus und verweist dabei auf 2Chr 26,18, wo der König Ussia (748–740 v.Chr.) wegen seines Eingriffs in priesterliche Aufgaben getadelt wird. 17 WELLHAUSEN, Prolegomena, 120. 18 WELLHAUSEN, Prolegomena, 122.136. 10

Exkurs 1: Das historisch-kritische Bild

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Aufgrund dieser Beobachtungen charakterisierte Wellhausen die differenzierten Regelungen des mosaischen Priestergesetzes mitsamt dem aaronidischen Priestertum als eine spätere, nachexilische Fiktion.19 Damit war die sog. Priesterschrift und mit ihr ein neues Bild der Geschichte Israels geboren. Mit der Bestimmung des fiktionalen Charakters des aaronidischen Erbpriestertums und seiner chronistischen Genealogie in 1Chr 5,27–41; 6,35–38; Esr 7,1–5 (vgl. 1Chr 9,11; Neh 11,11) trat in Wellhausens Rekonstruktion der Jerusalemer Oberpriester Zadok und die von ihm begründete Dynastie an den Beginn des israelitischen Erbpriestertums (1Kön 2,35; vgl. 2Sam 8,17; 15,24–29; 17,15; 19,12).20 Nach Wellhausen hat dann die nachexilische Priesterschrift die Stellung des Priestertums allgemein gestärkt und den Vorrang des zadokidischen Priestertums mit einer fiktiven genealogischen Ableitung von Aaron („Aarons Söhne“) gegenüber den Leviten zementiert.21 Die Priesterschrift habe auch die Figur des Hohepriesters eingeführt, der hier eine ungleich größere Rolle spiele als der Oberpriester in den vorexilischen Schriften.22 Diese gegenüber der Königszeit erheblich ausgeweitete Machtposition sei nur in einer Zeit denkbar, in der Israel kein selbstständiges Staatsgefüge war, wofür nach Wellhausen in erster Linie die Zeit nach dem Exil in Frage kommt. Wellhausens Neukonzeption der Geschichte des atl. Priestertums und letztlich der Geschichte Israels im Ganzen hat sich in der Forschung zum Alten Testament durchgesetzt und bildet in ihrem Grundgerüst bis heute die Grundlage atl. Forschung, auch wenn es immer wieder kritische Stimmen gab und gibt.23

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WELLHAUSEN, Prolegomena, 122f. WELLHAUSEN, Prolegomena, 123f. 21 WELLHAUSEN, Prolegomena, 142. 22 WELLHAUSEN, Prolegomena, 145f. 23 Widerspruch erfuhr WELLHAUSEN in der 1889 erschienen großen Untersuchung von W.W. GRAF V. B AUDISSIN über „Die Geschichte des alttestamentlichen Priesterthums“. Er konnte und wollte weder W ELLHAUSENS nachexilischer Datierung der Priesterschrift, a.a.O., 274.278f., noch der These von der Fiktivität des aaronidischen Priestertums, a.a.O., 275, und der zadokidischen Rekonstruktion der aaronidischen Genealogie folgen, sondern hielt sowohl die Person Aarons wie die Abstammung Zadoks von demselben für historisch, a.a.O., 22–25.223f. Durchsetzen konnte er sich damit freilich nicht. In jüngerer Zeit kritisierte M. HARAN, Art. Priests, 1071f., der zur Schule Y. KAUFMANNS gehört, an WELLHAUSENS Entwurf die fehlende Unterscheidung von „Altar“ und „Tempel“ und die mangelnde Identifikation der priesterlich handelnden Familien. Gegenüber WELLHAUSEN betont er zum einen, dass in Tempelheiligtümern in der Tat nur Priester zum Kultdienst zugelassen gewesen seien, nicht jedoch an den zahlreichen Altären, die über das Land verteilt standen und zu denen auch die Höhenheiligtümer zu rechnen seien. Hier sei der Opferdienst nicht reglementiert gewesen; vgl. ebd., 1072: „Thus, the historical reality was that at individual altars every man of Israel was entitled to perform cultic activities, whereas in the temples the right to officiate as priests was reserved for specific families which generally traced their lineage to the tribe of Levi.“ Zum anderen macht HARAN darauf aufmerksam, dass die Familien bzw. Priester, die im Kontext der altisraelischen Heiligtümer erwähnt werden, durchgängig mit dem Stamm Levi verbunden waren. Dies gilt für die Familie Elis, 1Sam 2,,27f.; 14,3; 21,2; 22,9.19, ebenso wie für das Heiligtum in Dan, Ri 17,7.12f.; 18,3.18–20.30f., und auch für Zadok, dessen levitische Abkunft in 2Sam 15,24 angedeutet wird und dessen Nachfahren noch Ezechiel als „Söhne Levis“ anspricht, Ez 40,46; 43,19; 44,15. Vom Stamm Levi aber waren wie20

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Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit

Zustimmung erfährt Wellhausens Rekonstruktion zumindest in ihren Grundzügen auch noch über 100 Jahre später von J. Schaper, der in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 2000 den ausführlichsten Überblick über die Geschichte des Priestertums in jüngerer Zeit vorgelegt hat. Demnach ist die Dichotomie von Priestern und Leviten keine Entwicklung der Frühzeit Israels, sondern ein Ergebnis vorexilischer Prozesse im Zusammenhang der josianischen Kultreform. Durch Josias Abschaffung der zahlreichen Lokalheiligtümer und die Kultzentralisation im Jerusalemer Tempel wurden die jahwistischen Höhenpriester (2Kön 23,9), die schon Wellhausen mit den Leviten (Dtn 18,6–8) identifizierte,24 ihrer eigentlichen Funktion – und damit auch ihrer Existenzgrundlage – beraubt.25 Gleichzeitig wurde ihnen von der zadokidischen Priesterschaft Jerusalems die „monotheistische Integrität“ abgesprochen.26 Folglich wurden sie nicht als gleichwertig anerkannt und zu einer subalternen Funktion als „Priester zweiter Klasse“ degradiert.27 Das dtn. Priestergesetz (Dtn 18,1–8; vgl. 17,9; 33,8–11), das keine Unter-

derum ca. ein Viertel Aaroniden; vgl. Jos 21,4–8: die aaronidischen Sippen bekommen 13 von insgesamt 48 levitischen Städten. Schließlich datiert J. MILGROM, ebenfalls im Anschluss an Y. KAUFMANN, in seinem voluminösen Leviticus-Kommentar, Lev 1–16, 3–13, P nicht nur vorexilisch, sondern spätestens ins 8. Jh. v.Chr. Er weist 22 klassische P-Begriffe nach, die im Vergleich mit Ezechiel vorexilisch sein müssen und sieht das Deuteronomium von P abhängig, nicht umgekehrt, vgl. a.a.O., 9: „There is not one demonstrable case in which P shows the influence of D … The reverse situation, however – that D is dependent on P (and H) – is manifest in many instances.“ Treffen M ILGROMS Analysen zu, dann muss auch die an W ELLHAUSENs Forschungen orientierte „Geschichte des atl. Priestertums“ neu geschrieben werden. 24 SCHAPER, Priester und Leviten, 80ff. 89. Diese Identifikation wurde jedoch von GUNNEWEG, Leviten, 81.118–126.188–203, und HARAN, Art. Priests, 1084, bestritten. Nach GUNNEWEG habe der Unterschied zwischen Priestern und Leviten bereits vor der josianischen Reform bestanden. Das Dtn war nach GUNNEWEG ein levitisches Restaurationsprogramm, das eine „theoretische Levitisierung der Priester“ verfolgte. Dagegen basieren HARANs Einwände auf seiner Unterscheidung von „Altar“ und „Tempel“. Weil der Opferkult an den Altären prinzipiell jedermann offen gestanden habe, während der Dienst an Tempelheiligtümern prinzipiell Familien levitischer Abstammung oblag, kann es sich bei den Priestern der Höhenheiligtümer nicht um Leviten gehandelt haben. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass ihnen der Zugang zum Opferdienst am Jerusalemer Zentralheiligtum verweigert wurde. 25 SCHAPER, Priester und Leviten, 79f.82; REVENTLOW, Art. Priester, 384. 26 FABRY, Zadokiden und Aaroniden, 203: „Diese Hermeneutik des Verdachts sollte sie für den Priesterdienst irregulär machen“. 27 Freilich ist auch die Frage nach dem historischen Auftreten der Zadokiden umstritten. Während SCHAPER, Priester und Leviten, 80; OTTO, Art. Zadok/Zadokiden, 1775, und REVENTLOW, Art. Priester, 384, sie erst in josianischer Zeit als die maßgebliche Priestergruppe am Jerusalemer Tempel identifizieren und Zadok für eine fiktive, nachträglich stilisierte Gestalt halten, gehen sie nach FABRY, Zadokiden und Aaroniden, 202; DERS., Zadok, 440, bereits auf die historische Figur des (ehemals jebusitischen?) Zadok zurück, 2Sam 8,17; 1Chr 16,39, wobei auch er mit Rückprojektionen rechnet. Zadok erscheint in der Thronnachfolgeerzählung Davids als homo novus und wird neben Abjathar Hofpriester unter König David, 2Sam 8,17; 15,24–29.35; 17,15; 19,12; 20,25. Nachdem Abjathar in Ungnade fiel, wurde Zadok alleiniger Oberpriester am Tempel

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scheidung von Priestern und Leviten kennt und in dem die Begriffe austauschbar sind,28 ist auf diesem Hintergrund eine Reaktion auf die Degradierung der Leviten.29 Es stellt nach Schaper eine kultisch-rechtliche Verordnung dar, die auf der Fiktion basiert, dass am Jerusalemer Tempel levitische Priester amtierten, was vor der josianischen Kultreform nie der Fall gewesen sei. Die Verfasser hätten durch die „theoretische Levitisierung des Priestertums“ einen „ideologischen, rechtlichen und praktischen Ausgleich“ für die ihrer Existenzgrundlage beraubten Leviten intendiert.30 Der Plan sei jedoch an der zadokidischen Priesterschaft gescheitert, was in 2Kön 23,9 reflektiert werde. R. Albertz sieht in den Zadokiden die vorexilischen Träger des Jerusalemer Tempel- und Staatskultes und, als königliche Beamte der davidischen Dynastie, die Hauptvertreter der Tempelund Königstheologie.31 Sie konnten den drohenden Verlust ihrer Privilegien und ihres Einflusses durch eine Allianz mit den Davididen um Josia nicht nur abwehren, sondern aufgrund der Abschaffung der Höhenheiligtümer sogar beträchtlich steigern.32 Nach

Salomos, 1Kön 2,26f.35; 1Chr 16,39. REVENTLOW, Priester, 383f.; FABRY, Art. Zadok, 440f.; ders., Zadokiden und Aaroniden, 202, u.a. sehen in ihm den Oberpriester des jebusitischen Stadtheiligtums Jerusalems, der seinen Einfluss nach der Eroberung der Stadt durch David erfolgreich verteidigen konnte und nun im neuen Kult die alte Funktion ausübte. Dagegen sieht ihn HARAN, Art. Priests, 1072, vgl. DERS., Temple, 80–82, in der levitischen Abstammungslinie, da er keinen Grund erkennen kann, die Notiz „und alle Leviten, die bei ihm waren“ in 2Sam 15,24 als eine nachträgliche Levitisierung Zadoks zu verstehen; vgl. zum Problem auch F.M. CROSS, Canaanite Myth, 207–215. 28 Vgl. Dtn 17,9; 18,1; 27,9.14; 31,9.25; der gewöhnliche Terminus im Deuteronomium lautet hier ~YIwIl.h; ~ynih]Koh;. Nach J.G. MCCONVILLE, Law, 139, sei sich der Vf. des Deuteronomiums der Unterschiede zwischen Priestern und Leviten durchaus bewusst gewesen, er habe sie lediglich nicht deutlich markiert. Für GUNNEWEG, Leviten und Priester, 128, hat das Deuteronomium die Leviten zu Schlüsselfiguren stilisiert, welche ein Ideal des Volkes Gottes darstellen sollen. Vgl. auch W ELLS, People, 122: „The relation of the Levite to Israel in Deuteronomy is such as to be an ideal representation of how the whole people should stand both to Yhwh and to the land.“ 29 Dem widerspricht MAIER, Priester, 82–85, entschieden. Generell sieht er den in der Forschung stark hervorgehobenen Gegensatz zwischen Priestern und Leviten als eine Verzeichnung der historischen Verhältnisse. 30 SCHAPER, Priester und Leviten, 90; ähnlich W ILLI, Leviten, 91: „Wer in Jerusalem Priesterdienst versah, oder wer überhaupt einer Priesterfamilie angehörte, ob in der Heimat oder in der Diaspora, der berief sich nun auf ‚Levi‘. [...] Diese Sprachregelung erscheint ambivalent. Einerseits mag sie als weitere Usurpation levitischen Erbes durch die ohnehin schon bevorrechteten Priester wirken. Andererseits verlieh sie den nichtpriesterlichen Trägern levitischer Traditionen einen gewissen geistigen und moralischen Rückhalt.“ 31 ALBERTZ, Religionsgeschichte II, 447f. 32 SCHAPER, Priester und Leviten, 91–94. Er vermutet hinter diesen Konfliktparteien dieselben Kreise, die bereits in der Thronnachfolgegeschichte Davids in Form der „Jerusalemer Partei“ um Salomo und den homo novus Zadok, 1Kön 1,43–48, mit der „HebronPartei“ um Adonija und dem Eliden Abjathar, 1Sam 22,20, um die Vormachtstellung konkurrierten. Ähnlich F ABRY, Zadokiden und Aaroniden, 202, der für die davidische Zeit einen kulturpolitischen Konflikt zwischen einer „jerusalemer-kanaanäischen Königsideologie“, für die der Name Zadok stand, und einer „konservativ tribal orientierten altisraelitischen Königskonzeption“, für die der Name Abjathar stand, vgl. 2Sam 8,17 u.ö., in

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Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit

Schapers Rekonstruktion wurden die Zadokiden nach der Reform durch eine genealogische Fiktion als „levitische Priester“ bezeichnet und damit im Rahmen des althergebrachten Priestertums legitimiert (Ez 43,19; 44,15). Faktisch erhielten sie damit das Monopol auf alle priesterlichen Funktionen in Juda und Jerusalem.33 Dies änderte sich in dramatischer Weise durch die Ereignisse, die zur Exilierung der jüdischen Führungsschicht führte. Während neben der zadokidischen Priesterschaft auch die Jerusalemer Leviten ins Exil mussten, blieben nach Schapers Analyse die jahwistischen Landleviten und die Abjathariden von der Deportation verschont.34 Sie waren die Profiteure der babylonischen Umverteilung des Landbesitzes und möglicherweise waren sie es auch, die im zerstörten Jerusalemer Tempel einen Kult aufrecht erhielten.35 Nach der Exilszeit36 musste es zwischen eben diesen nichtzadokidischen Priestern und den heimkehrenden Zadokiden zu Spannungen kommen, weil diese den Anspruch auf ihre alten Privilegien geltend machten. Einen Ausdruck dieser Geltungsansprüche stellt der von H. Gese als „Zadokidenschicht“ bezeichnete Teil des Ezechielbuches dar (im Kern v.a. Ez 44,6–31).37 Ihre scharfe Kritik richtete sich v.a. gegen die im exilszeitlichen

Erwägung zieht. Aus diesem Urkonflikt und dem siegreichen Ende für Zakok sei dann die Spannung zwischen der zadokidischen Jerusalemer Priesterschaft und den nachgeordneten Aaroniden entstanden, vgl. FABRY, ebd.: „Die Nachordnung Abjathars zielt über seine Herleitung von den Eliden letztlich auf eine Nachordnung Aarons und der Aaroniden. Dieser kritische Code wird weiter implementiert in der Zeichnung Aarons als Gegenspieler Moses (Ex 32; Num 12) und der Verfluchung der aaronidischen Eliden (1Sam 2,27–36).“ 33 SCHAPER, Priester und Leviten, 118; ebenso FABRY, Zadokiden und Aaroniden, 203. 34 SCHAPER, Priester und Leviten, 162f. 35 SCHAPER, Priester und Leviten, 163–168, mit Hinweis auf Jer 41,5; Bar 1,1–14; Thr 1,4; Ps 74,8. Damit schließt sich SCHAPER an die 1956 von J UDGE, Aaron, 70–74, vorgestellte These an, wonach die Priester, die den Jerusalemer Kult während der Exilszeit aufrecht erhielten, Abjathariden waren. 36 FABRY, Zadokiden und Aaroniden, 202, sieht bereits in der Exilszeit Zeichen für ein verändertes Bild. Das Schweigen der priesterlich geprägten Literatur über Zadok und die Zadokiden – mit Ausnahme der Zadokiden-Schicht Ezechiels! –, sowie die massive Aufwertung der Figur Aarons und damit der aaronidischen Priester, Ex 28f.; Lev 8–10; Num 16–18, sind für ihn ein deutliches Zeichen neuer Machtverhältnisse. Den damit postulierten Dissens zwischen Ezechiel und der priesterlichen Literatur kann jedoch auch FABRY nicht erklären, ebd., 202. 37 GESE, Verfassungsentwurf, 67; vgl. auch ALBERTZ, Religionsgeschichte II, 446– 459. Nach ALBERTZ, ebd., 452f. haben „die Zadokiden alle nicht-zadokidischen Priester, die dem Jerusalemer Tempel durch die josianische Kultzentralisation zugewachsen waren, mit dem Begriff ‚Leviten’ bezeichnet. Sie billigten damit der um ihre Rechte kämpfenden Konkurrenzgruppe ihre Zugehörigkeit zum Kultpersonal zu, degradierten sie zugleich aber zum clerus minor.“ Während die heiligen Kulthandlungen im innersten Bereich des Tempels den Priestern vorbehalten waren, Ez 40,46b; 43,19; 44,15f.; 48,11, wurde den Leviten der sog. „Hausdienst“ in den äußeren Vorhöfen zugewiesen, der u.a. Türhüterdienste und das Schlachten der privaten Laienopfer, Ez 44,11, umfasste. Eine andere Sicht vertritt dagegen MAIER, Priester, 90f., der in Ez 44 lediglich den Versuch der Zadokiden sieht, als Eleazar-Pinchas-Nachkommen ihre angestammten Privilegien und Positionen zu wahren.

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Juda am Tempel tätigen Leviten. Das Ergebnis dieses Konflikts war eine Neuverteilung der priesterlichen Aufgaben: Nach Ez 44,6–16 durften die Leviten am Tempel nur noch untergeordnete Aufgaben ausüben. Vom Altardienst waren sie ausgeschlossen. Schaper vermutet in der Konkurrenz der Landleviten, Abjathariden und Aaroniden auf der einen und der Zadokiden auf der anderen Seite den Schlüssel für das Verständnis der Auseinandersetzungen um Tempel, Priestertum und Hohepriesteramt38 in der nachexilischen und achämenidischen Epoche.39 Die nun offen zu Tage tretende Kluft zwischen Priestern und Leviten40 hat vorexilische Ursprünge, wurde wohl bereits am Tag der Tempelweihe (515 v.Chr.) bestätigt (Esr 6,18) und lässt sich auch aus den Heimkehrerlisten bei Esr/Neh gut erkennen (Esr 2,36–39.40).41 In der Ära Nehemias und Esras identifiziert Schaper in den Leviten die eigentlichen Verbündeten Nehemias und Esras in der Tempelhierarchie. So legt Esra größten Wert darauf, dass auch Leviten mit aus dem Exil nach Israel ziehen (Esr 8,15–20), und später achtet er auf eine paritätische Ämter- und Aufgabenverteilung zwischen Priestern und Leviten (Esr 8,33f.; Neh 13,13). Auffallend ist weiter die offensichtliche Nichtbeteili38

Über die Erbfolge des Hohepriesteramts in achämenidischer Zeit nach Josua gibt eine Notiz in Neh 12,10f.; vgl. 12,22f. sowie Jos Ant 11f., Auskunft; vgl. hierzu VANDERKAM, Joshua, 43–111. DERS., a.a.O., 85–99, diskutiert auch die Frage der Vollständigkeit der nehemianischen Erbfolgeliste. Das Problem ergibt sich aus dem Umstand, dass für einen Zeitraum von über 200 Jahren lediglich sechs Hohepriester angeführt werden. Nach ausführlicher Abwägung der Möglichkeiten einer Haplographie kommt VANDERKAM aber zu dem Schluss, dass die Liste vertrauenswürdig ist, die Amtszeiten zwar sehr lange aber nicht unwahrscheinlich sind. 39 SCHAPER, Priester und Leviten, 188. Als entscheidendes religionspolitisches Instrument der Spätzeit der achämenidischen Herrschaft vermutet er die Umschreibung priesterlicher und levitischer Genealogien im Chronikbuch und in Teilen der Priesterschrift. Die Traditionsgeschichte dieser Genealogien ist ein Reflex auf die Geschichte der Kultushierarchie: Der „Umbau“ von Genealogien war „eine höchst wichtige Methode zur Erstellung von kohärenten und scheinbar widerspruchsfreien Darstellungen priesterlicher und levitischer Abstammungsverhältnisse [...] und [diente] damit zugleich der Legitimierung der zur Zeit der Abfassung vorherrschenden Kulthierarchie und ihrer Pläne ...“, a.a.O., 269. Als Beispiele führt SCHAPER die aaronidische Abstammung Esras, Esr 7,5; vgl. Neh 10,39; 12,47, die Projektion des Hohepriestertums in vorexilische Zeit, 1Chr 5,27–41, und die Integration der Zadokiden in die aaronidische Genealogie, 1Chr 5,34; vgl. 24,1–3; sowie 18,16; 27,17, an. Allerdings hat jüngst MAIER, Priester, 79, vor einer allzu starken Betonung der Differenzen zwischen Priestern und Leviten bzw. zwischen „levitischen Priestern“, Aaroniden und Zadokiden gewarnt. Aus seiner Sicht sollte die einende Kraft gemeinsamer Interessen, die beide Gruppen als Kultpersonal hatten, nicht unterbewertet werden. 40 Vgl. auch KUGLER, Art. Priests (EDEJ), 1096. Die Trennung lässt sich über die Statthalterschaft Nehemias, Neh 11,36, bis in die spätpersische Zeit hinein verfolgen, vgl. Num 1,53; 3,25; 8,26; 18,3–5 u.ö. 41 STERN, Aspects, 596, führt die geringe Zahl der zurückkehrenden Leviten auf zwei Umstände zurück: Einmal konnten die Priester viel hoffnungsvoller auf die Restauration der Verhältnisse in Judäa blicken als die Leviten, da ihnen dabei eine Führungsrolle zukommen würde. Zum anderen dürften von vornherein viel weniger Leviten nach Babylon deportiert worden sein, weil sie auch in der vorexilischen Gesellschaft keine führende Rolle inne hatten.

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Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit

gung der Priester bei der Verlesung des Gesetzes (Neh 8) und die bedeutende Rolle der Leviten bei diesem Akt. Ihnen kam die Aufgabe der Übersetzung und Auslegung zu (Esr 8,7.11). Mit dieser Funktionsübertragung entwickelten sich die Leviten mehr und mehr von einem clerus minor zu Interpreten des Religions- und Staatsgesetzes, d.h. zu einer theologischen und juristischen Expertengilde.42 Sie etablierten sich als „Herausgeber“ der Tora und könnten überspitzt formuliert als die ersten Masoreten bezeichnet werden. Dieser Wandel im Aufgabenfeld und Selbstverständnis der Leviten stellt eine der bedeutendsten intellektuellen und religiösen Revolutionen im perserzeitlichen Juda dar.43 In späterer Zeit verschwinden die Leviten dagegen nahezu völlig aus den Augen der Geschichtsschreibung. In den Hauptquellen für die hellenistische und hasmonäische Epoche tauchen sie kaum mehr auf. Bei Ben Sira und im 1. Makkabäerbuch werden sie nicht mehr erwähnt, selbst nicht in Kontexten, wo man ihre Beteiligung erwarten würde. Es findet sich keine herausragende Persönlichkeit mehr, die levitischer Abkunft gewesen wäre.44 Auch in der großen Jerusalemer Versammlung in der Herrschaftszeit des Hasmonäers Simeon bleiben die Leviten unerwähnt. „This silence reflects the relative decline of the Levites as a social class in the Hellenistic period in contrast to the priests.“45 Möglicherweise gingen die Leviten in der neuen Bewegung des Pharisäismus auf, 46 mit der sie eine große Schnittmenge an Interessen und Kompetenzen verband, v.a. das Interesse an der Schriftgelehrsamkeit und die hermeneutische Kompetenz der Schrift- bzw. Toradeutung.47 Ein weiterer wichtiger Baustein der nachexilischen Geschichte des Priestertums war das Amt des Hohepriesters, das in der Wertschätzung des Propheten Sacharja auf einer Stufe mit dem Gouverneur der persischen Provinz Juda zu stehen scheint.48 Schaper 42 W ILLI, Leviten, 91f.: „Für sie kam in der Tat alles darauf an, daß der Kult am Jerusalemer Tempel nicht irgendwie, sondern ‘gemäß der Tora Moses‘ – des Leviten der Leviten! – oder eben ‚wie geschrieben steht‘, geschah. Denn ihre Legitimation beruhte nicht mehr wie einst auf einem Priesterdienst im Vollsinn, sondern auf der Pflege der Überlieferung, auf der Anwendung des Wortes und auf der Auslegung der Schrift“ (kursiv bei W.). 43 SCHAPER, Priester und Leviten, 261f.265.305; vgl. auch H IMMELFARB, Kingdom, 7f. Nach 2Chr 34,13 stellten die Leviten Soferim und Beamte, die sich offensichtlich zu einer eigenen Berufsgruppe formierten. Das Chronikbuch lässt sich von daher nach SCHAPER als eine Art Manifest verstehen, mit dem die Leviten ihren Anspruch, Schriftausleger der Tora zu sein, untermauerten. 44 Die wenigen namentlich bekannten Leviten in den Jahrzehnten vor dem Jüdischen Krieg beschreibt STERN, Aspects, 598f. Unter ihnen findet sich auch Joseph Barnabas, Act 4,36. 45 STERN, Aspects, 597. STERN, ebd., erklärt diesen Niedergang mit der zunehmenden Kontrolle der Priester über die Verteilung des Zehnten, die ursprünglich ein Privileg der Leviten war. Zur „levitischen Krise“ vgl. auch LABAHN, Licht, 152–155. 46 Für diese Option sprechen sich u.a. SCHAPER, Priester, 300–308, und LABAHN, Licht, 155–159, aus. Angedeutet wird diese Möglichkeit bereits bei HENGEL, Judentum, 144f. 47 Vgl. Jos Bell 1,110; 2,162; Ant 17,41; Vit 191.197f. 48 Vgl. Sach 3,1–10; 4; 6,8–15. Zur erstmaligen Erwähnung eines Hohepriesters namens Josua vgl. auch Hag 1,1.12.14; 2,2.4 und 2Kön 25,18–21, wo von einem „Oberpriester“ die Rede ist; ferner Esr 2,2; 3,2; 5,2; 10,18; sowie VANDERKAM, Joshua, 18–42, und POLA, Priestertum, 62–264.

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schließt sich dem erreichten Forschungskonsens an, dass dieses Amt seine eigentliche Prägung erst in exilischer bzw. nachexilischer Zeit bekam, 49 wiewohl es nicht ohne vorexilische Vorgänger war, denn schon vorexilisch wurde die Jerusalemer Priesterschaft von einem primus inter pares geleitet.50 Aus diesem knappen Überblick lässt sich unschwer die einleitend zitierte Bemerkung Graf Reventlows zur Problematik einer Geschichte des atl. Priestertums nachvollziehen. Die Zahl der hypothetischen Prämissen und Rekonstruktionen, verbunden mit den ungewissen Quellenverhältnissen lässt eine gewisse Zurückhaltung hinsichtlich allzu weitreichender Schlussfolgerungen angeraten sein. Zu viele Fragen bleiben ungelöst, wie z.B. die überraschende Spannung der von Gese postulierten ezechielischen Zadokidenschicht zu der ihr eigentlich nahestehenden Priesterschrift mit ihrer Aaronisierungstendenz. Hypothetisch bleiben auch die Schlichtungsund/oder Domestizierungsversuche durch genealogische Konstruktionen. Überhaupt ist das Verhältnis von Zakodiken, Aaroniden und Leviten so komplex, facettenreich und vielschichtig, dass sich mit jedem Lösungsversuch neue Fragen auftun.51

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Die Verwendung des Titels für vorexilische Priester in 2Chr 34,9 und Num 35,25.28.32 erklärt DOMMERSHAUSEN, Art. kohen, 75, durch eine Rückprojektion oder Redaktion. Dagegen sehen HARAN, Art. Priests, 1074f., und MILGROM, Lev 17–22, 1813, im hohepriesterlichen Amt bereits eine vorexilische Institution, deren Wurzeln bis in die Richterzeit zurückreichen. Demnach war bereits Eli am Tempel in Shiloh eine Art Hoherpriester. Dass Ezechiel den Hohepriester nicht erwähnt, führt HARAN auf den Umstand zurück, dass zu seiner Zeit das Amt in den Wirren der babylonischen Eroberung schon nicht mehr existierte. 50 Während der Königszeit waren die Priester königliche Beamte, die durch einen Oberpriester, vaOrh' !heKo; vgl. 2Kön 25,18; 2Chr 19,11; 26,20; 31,10, oder einfach !heKoh; in 1Kön 4,2; 2Kön 11,9; 12,8; 2Kön 16,10f.; 2Kön 22,10.12.14, repräsentiert wurden, vgl. DOMMERSHAUSEN, Art. kohen, 74. In der Aufwertung des vorexilischen Oberpriesters zum frühnachexilischen Hohepriester sieht P OLA, Priestertum, 280, einen traditionsgeschichtlich vorbereiteten Prozess, der lange vor dem Exil begann. 51 Vgl. nur die einleitenden Bemerkungen von FABRY, Zadokiden und Aaroniden, 201: „Glaubt man sich einer Lösung nahe, dann tauchen plötzlich Ergebnisse auf, die den Resultaten zuwiderlaufen. Glatt geht der Befund nirgends auf, wenn man den Versuch macht, Zadokiden und Aaroniden voneinander zu trennen und ihnen je ein eigenes Profil zuzuweisen. Als eine große Unbekannte mit ganz amorphen Konturen geraten dabei immer die Leviten ins Blickfeld, die sich jeder Differenzierung entziehen.“

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Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit

1 Die Struktur des Priestertums in der Zeit des zweiten Tempels 1 Struktur in der Zeit des zweiten Tempels

1.1 Größe und Organisation Die Größe der Jerusalemer Priesterschaft52 wird zu Beginn der Epoche des zweiten Tempels in 1Chr 9,13 mit 1.760 Priestern angegeben. In einem von Josephus (Ap 1,188) überlieferten Zitat von Ps.-Hekataios aus dem 2. Jh. v.Chr. wird die Zahl der Priester, die den Zehnten erhielten, noch mit 1.500 beziffert. Der in der zweiten Hälfte des 2. Jh. v.Chr. entstandene Aristeasbrief gibt die Zahl der gleichzeitig am Tempel dienenden Priester mit 700 an (Arist 95), was wahrscheinlich auf die Wochenabteilungen zu beziehen ist.53 Bei einer Zahl von 24 Priesterabteilungen käme man dabei allerdings auf 16.800 Priester. Dies würde ein gewaltiges Anwachsen des Priestertums im 2. Jh. voraussetzen. Entsprechend schätzt Sanders die Gesamtzahl der Priester im 1. Jh. n.Chr. auf 18–20.000.54 Wenn man mit Hengel/Deines von 200.000 erwachsenen männlichen Einwohnern im Israel des 1. Jh. n.Chr. ausgeht, dann wäre aber zu jener Zeit jeder zehnte Mann Priester gewesen.55 Eine letzte Klarheit über die Priesterzahlen ist nicht mehr zu erreichen, zumal diese sich auch während der Jahrhunderte zwischen den beiden Tempelzerstörungen erheblich erhöht zu haben scheinen. Aber eine Zahl von mehreren tausend Priestern in den beiden Jahrhunderten um die Zeitenwende ist nicht unmöglich. Wahrscheinlich wurde aufgrund dieser Menge das System der Kultdienstwoche mit einer Rotation von 24 Priesterabteilungen eingeführt,56 die zweimal jährlich je eine Woche57 zuzüglich besonderer Feiertage Dienst am Tempel verrichteten.58 Dieses System erfüllte auch eine wichtige soziale Funktion, weil es allen Priestern eine gleichberechtigte Partizipation am Kultdienst und damit auch an den Opfergaben ermöglichte.59 52

Zum Folgenden vgl. GUSSMANN, Priesterverständnis, 93f. Die Zahl erscheint nicht unrealistisch auf dem Hintergrund einer Notiz bei Josephus, wonach Herodes kurz vor Beginn des Tempelbaus noch 1000 neue Priestergewänder anfertigen ließ, Jos Ant 15,390. 54 SANDERS, Judaism, 78f.170, im Rückschluss aus Jos Ap 2,108. 55 HENGEL/DEINES, Common Judaism, 429, Anm. 100, bewerten diese Zahl dementsprechend skeptisch, ebd., 468f. 56 Siehe GLESSMER, Kultordnung. 57 Der lunar-solare Kalender, der für den Tempel galt, hatte 48 Wochen. 58 1Chr 24,1–19; vgl. Jos Ant 7,365–367 und mSuk 5,6; zur Terminologie, den Priesterdienstlisten, Dienstrichtlinien und zur kalendarischen und sozialen Funktion des Priesterdienstzyklus vgl. GUSSMANN, Priesterverständnis, 94–97. 59 Den diensthabenden Priestern (und ihren Familien) standen gewisse Teile des Opfertieres zu, vgl. Phil SpecLeg 1,145. Neben bestimmten Fleischteilen war dies v.a. auch das Fell des Brandopfertieres, vgl. Lev 7,8; Jos Ant 3,227; Phil SpecLeg 1,151, sowie die 53

1 Struktur in der Zeit des zweiten Tempels

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Die zahlreichen nachexilischen Diskussionen um Priestergenealogien und -hierarchien sind auch auf diesem Hintergrund zu lesen. 1.2 Hierarchie Hierarchisch lassen sich spätestens in nachexilischer Zeit drei grobe Kategorien unterscheiden:60 An der Spitze stand der Hohepriester bzw. seit Herodes dem Großen die hohepriesterlichen Familien, aus deren Mitte der Amtsinhaber von den jeweiligen Machthabern bestimmt wurde. Das hohepriesterliche Amt wurde durch Erbfolge in der Familie der Zadokiden weitergegeben und hatte eine Vertretungsfunktion für das gesamte Volk.61 In den letzten beiden Jahrhunderten des zweiten Tempels stand der Hohepriester an der Spitze einer mehrere tausend Mitglieder umfassenden Priesterschaft. Ihm stand auch die Leitung der Gerusia bzw. des Synhedriums zu. Das heiligste Ritual des Kultes waren ihm allein vorbehalten:62 Nur ihm war es gestattet, am großen Versöhnungstag das Allerheiligste zu betreten und die Zeremonie zu vollziehen, um durch einen Blutritus Sühne für Tempel und Volk zu erwirken (Lev 16). Nicht eindeutig ist seine Rolle im Zusammenhang mit der Verbrennung der „Roten Kuh“. In einigen Texten ist ihm der Ritus exklusiv vorbehalten,63 in anderen Texten kann diesen Ritus dagegen auch ein gewöhnlicher Priester vollziehen.64 Grundsätzlich konnte sich der Hohepriester auf Wunsch an allen Kulthandlungen beteiligen, was er in der Regel jedoch nur an hohen Feiertagen tat.65 Abgesehen vom großen Versöhnungstag durfte er bei seinen gottesdienstlichen Aufgaben den hohepriesterlichen Ornat tragen, der aus dem Ephod (Schulterkleid), dem Brustschild mit zwölf Edelsteinen und dem Kopfbund mit dem goldenen Stirnblatt (Ex 28; 39; Sir 45,6–13) besteht.

Neben dem Hohepriester amtierte diesem nachgeordnet der Tempelhauptmann, der strathgo.j tou/ i``erou/, der für die Ordnung im Rahmen des Tempelbezirks zu sorgen hatte, Befehlshaber der „Tempelpolizei“ war und der ab der herodianischen Zeit gewöhnlich auch aus hohepriesterlichen Familien stammte. Gleiches gilt für das dritthöchste Amt, dem des Tempelschatzmeisters. Dieser war für die Verwaltung der Finanzen, die ordent-

tabellarische Aufstellung der Priestereinkünfte nach Phil SpecLeg 1,132–141 und Jos Ant 4,69–75 bei GUSSMANN, Priesterverständnis, 123. Das Gros der Priestereinkünfte stammte jedoch aus dem Zehnten, der in Form von Korn, Wein, Öl und Primitialabgaben von Rindern, Schafen und anderen landwirtschaftlichen Produkten bezahlt wurde. 60 Vgl. hierzu auch GUSSMANN, Priesterverständnis, 86–88. 61 Zum hohepriesterlichen Amt: HOSSFELD/SCHÖLLGEN, Art. Hoherpriester, 4–58; J EREMIAS, Jerusalem, 167–181; SANDERS, Judaism, 319–327; SCHÜRER /VERMES, History II, 227–236.275f.; SCHWARTZ, Art. Hohepriester, 1836; SIEVERS, Art. Hoherpriester, 221–223; STERN, Aspects, 600–612. 62 Vgl. zu den (weiteren) hohepriesterlichen Aufgaben GUSSMANN, Priesterverständnis, 99; DOMMERSHAUSEN, Art. kohen, 75. 63 Jos Ant 4,79–81; Phil SpecLeg 1,268. 64 Num 19; mPar 3f. 65 Jos Bell 5,230.

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Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit

liche Handhabung der heiligen Geräte und die kostbaren Priestergewänder zuständig. An zweiter Stelle der Hierarchie folgten die 24 Abteilungen der Priesterdienstgruppen, wobei sich auch innerhalb der Priesterstämme, -sippen und -familien interne Hierarchien ausbildeten.66 Eine weitere Differenzierung ergab sich wahrscheinlich auch aus dem Wohnort der Priester. In Jerusalem wohnhafte Priester konnten ihr Amt ungleich homogener mit ihrem alltäglichen Beruf verbinden als auf dem judäischen Lande oder in Galiläa wohnhafte Priester.67 An dritter Stelle rangierten die Leviten, die ebenfalls in 24 Levitenstämme eingeteilt waren (mTaan 4,2) und deren spannungsvolles Verhältnis zu den Priestern im obigen Exkurs zur Geschichte des atl. Priestertums ausführlich thematisiert wurde.68 Hinzu kommt eine soziale Fragmentierung: In der Spätphase des zweiten Tempels standen einigen wenigen sehr reichen und aristokratischen Priesterfamilien wesentlich ärmere Priesterschichten gegenüber, die bis zur Armutsgrenze hinab reichten.69 Die sozialen Spannungen innerhalb der Priesterschaft dürften dabei ein Abbild der gesamten Gesellschaft gewesen sein. Alle drei Hierarchien standen wiederum den Laien gegenüber.70 Theologisch untermauert war diese Hierarchie durch eine Ordnung abgestufter Heiligkeit und Reinheit, die auch in der architektonischen Struktur des Tempels ihren Ausdruck fand (→II.2.2.6). Begründet wurde diese Hierarchie rein genealogisch: Die jeweilige Abstammung entschied über den 66

So betont beispielsweise Josephus, dass er aus der ersten Priesterordnung „Joarib“ stammt, zu der auch die Hasmonäer zählten, Jos Vit 1f. 67 Nach Neh 11,10–18 wohnten in frühnachexilischer Zeit 1192 Priester und 284 Leviten in Jerusalem. 68 Zu den levitischen Aufgaben zählte v.a. die Unterstützung und Assistenz der Priester bei deren kultischen Pflichten, Ez 44,13, Sicherheits- und Ordnungsaufgaben, 2Chr 19,11; 34,13; Ez 44,10–14; vgl. 1Chr 23,4; Esr 2,40; 7,7; 10,23; Neh 10,29, Musik und Gesang, niedere Tempeldienste, 1Chr 9,14–34; 2Chr 29,25–36; 23,4f.; Esr 2,36–63; Neh 7,39–60.72; mMid 1,1; 2,5; Jos Ant 20,216–218, Administrations- und Bildungsaufgaben, Esr 8,18; Neh 8,7f.; 2Chr 17,7–9; 35,3; Dtn 24,8. V.a. durch den Kompetenzbereich der Bildung erwarben sich die Leviten, denen der einflussreiche, prestigeträchtige und lukrative Opfer- und Kultdienst verwehrt war, sozusagen „unter der Hand“ einen großen Einfluss, der sich wirkungsgeschichtlich in ntl. Zeit im Pharisäismus und Schriftgelehrtentum bemerkbar machte. 69 Die Verarmung niederer Priester hatte ihre Ursache in ihrer deutlich geringeren Partizipation an der Tempelsteuer und den Opfergaben. Jos Ant 15,390 berichtet, wie Herodes I. 1000 Priester mit priesterlichen Leinengewändern ausstattete, damit sie am Tempelbau mithelfen konnten. Offensichtlich waren sie vorher nicht im Besitz solcher eigentlich obligatorischen Kleider, weil sie sich diese wahrscheinlich nicht leisten konnten. 70 Zu den Standesunterschieden vgl. auch Jos Ant 20,205–207.216–218; Bell 2,321; Vit 197. Zur Unterscheidung der Priester von den Laien vgl. Jos Ant 3,181; 4,248; 14,300; Bell 4,182; 5,18; 6,271; sowie STEGEMANN/STEGEMANN, Sozialgeschichte, 58f.

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(Heiligkeits)Status und damit auch über das Sozialprestige (Lev 21,8; vgl. Sir 7,29–31). 1.3 Sozialprestige Das Sozialprestige des Priestertums war wie in allen antiken Kulturen auch in Israel stets sehr hoch und scheint nach dem Exil kontinuierlich gewachsen zu sein. Schon in der atl. Überlieferung erscheinen Priester häufig auf einer Ebene mit Königen, Prinzen, Ältesten und Aristokraten.71 Die alte Erzählung von Micha, der einen jungen Leviten als eine Art Hauspriester anstellt (Ri 17,7–13) und ihn, obwohl er deutlich jünger gewesen sein dürfte, „Vater“ nennt, zeigt den dadurch erzielten Prestigegewinn. Auch die Episode um den Aufstand der Korachiten (Num 16) reflektiert die soziale Attraktivität dieses Amtes. Im Briefwechsel des hasmonäischen Hohepriesters und Königs Simon mit Sparta wird das Priestertum als besondere Bevölkerungsgruppe dem jüdischen Volk voran- und damit gewissermaßen auch gegenübergestellt (1Makk 12,6; 14,20; vgl. auch 14,28) und auch Josephus bezeichnet seine priesterliche Abkunft 200 Jahre später als ein „Zeichen des angesehensten Geschlechts (ge,noj lampro,thtoj)“ (Vit 1). Auf diesem Hintergrund kommt auch M. Stern zum Fazit, dass „towards the close of the Second Temple period, the priesthood constituted the prestigious and elite class in Jewish society“.72 1.4 Berufstätigkeit Eine insbesondere für die ntl. Zeit wichtige Frage betrifft die Rolle der Priester außerhalb ihres Tempeldienstes. Denn der in der Spätzeit des zweiten Tempels gewöhnlich auf zwei Wochen jährlich zuzüglich der großen Pilgerfeste begrenzte Dienst am Tempel konnte natürlich nicht das Auskommen der gewöhnlichen Priester und ihrer Familien sichern. Womit beschäftigten sich Priester in den jeweils 23 Wochen nach bzw. vor ihrer „Dienstwoche“? Die nicht in Jerusalem ansässigen Priester übten in der Regel „profane“ Berufe in Handel, Handwerk und Landwirtschaft aus. Eine weitere Form priesterlicher Existenzsicherung war der Landbesitz.73 Die in Jerusalem ansässigen Priester waren außerhalb ihrer Kultdienstzeiten mit strukturellen (Tempelordnung und -reinheit, Gerichtswesen), ökonomischen (Tempelaufsicht, Bankwesen, Schatzkammern) oder handwerklichen (Bau und Instandhaltung) Aufgaben am Tempel beschäftigt.74 71

Vgl. Jer 1,18; 2,26; 4,9; 8,1; 13,13; 18,18; 32,32; 34,19; Mi 3,11; Thr 1,19; 2,6; 4,15; Neh 2,16. 72 STERN, Aspects, 582. 73 Vgl. Hekataios in Diod Sic 40,3,7; Jos Vit 422; sowie STERN, Aspects, 587. 74 Vgl. Dtn 17,8–13; 21,5f.; Jos Ant 15,390; sowie HENGEL/DEINES, Common Judaism, 55f.

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Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit

Nach einer Vermutung von E.P. Sanders waren die meisten Priester und Leviten in der Epoche um die Zeitenwende als Schreiber tätig.75 Als lese-, schreib- und torakundige Schrift- und Rechtsexperten wären sie in ihren Heimat- und Wohnorten geradezu prädestiniert gewesen für alle Aufgaben, die eine solche Qualifikation erforderten. Demnach hätten sie ihr traditionelles Aufgabenprofil als Lehrer und Richter76 beibehalten, wenn auch nicht unangefochten durch Pharisäer und Essener.77 In den zwei Jahrhunderten vor dem Jüdischen Krieg hätten die Priester und die aus dem Neuen Testament bekannten Schreiber als örtliche Magistrate die geistige und geistliche Führungsrolle in den jüdischen Städten und Dörfern behauptet.78 Das Problem dieser These ist ihre Verifizierbarkeit. Sanders weist selbst auf die äußerst dürftige Evidenz hinsichtlich der Identität der ntl. Schreiber hin.79 Die dünne Quellenlage führt er freilich auch gegen die Vertreter eines „Priestertums im Niedergang“ ins Feld. Sein Hauptargument bleiben die (von Sanders auch für die ntl. Zeit postulierten) priesterlichen Bildungsvoraussetzungen, die sie für das Amt des Schreibers qualifizierten.

2 Der religiöse Status des Priesters 2 Der religiöse Status des Priesters

Bereits in der Darstellung des römischen Priestertums wurde deutlich, dass den Priestern in unterschiedlicher Weise eine gottähnliche Identität und der Status eines idealen, gottgemäßen Menschen zugesprochen wurde, die sie dazu legitimierte und befähigte, sich im heiligen Raum den Göttern zu nahen. In diesem Abschnitt soll die These entwickelt und begründet werden, dass auch in den biblischen Quellen der religiöse Status des Priesters von der stellvertretende Restitution des integren, idealen, gottnahen und gottähnlichen Menschen getragen ist. Dieses Verständnis kommt bereits bei den Voraussetzungen des priesterlichen Amtes zum Ausdruck, noch mehr aber in den Ordnungen und Reglementierung des priesterlichen Dienstes80 im heiligen Raum. Der Priester bekommt demnach während seines zeitlich befristeten Dienstes im Raum des Heiligen ein neues, heiliges Sein verlie75

SANDERS, Judaism, 170–182; vgl. auch KUGLER, Art. Priests (EDEJ), 1098. REVENTLOW, Art. Priester, 387, zieht in Erwägung, dass Esra der erste Repräsentant der aus hellenistischer Zeit als besondere Berufsgruppe am Tempel bekannten „Schreiber“ sein könnte. 76 Vgl. Dtn 17,18; 31,9; Esr 7,6; Neh 8,9–12; 13,13; 2Chr 19,5–11; Sir 45,17. 77 SANDERS, Judaism, 173f. 78 Die Schreiber in ntl. Zeit waren nicht nur für religiöse und halachische Rechtsfragen zuständig, sondern auch für die sorgfältige Dokumentierung von Rechts-, Handelsund Verwaltungsangelegenheiten. 79 SANDERS, Judaism, 174f.177. 80 Der „Dienst“ vor Gott ist geradezu ein Grundbegriff für das Wesen des Priestertums. Priester sind „Diener Gottes“, Jes 61,6; Jer 33,21f.; Joel 1,9.13; 2,17 u.a., ihr Wirken im Heiligtum wird als „heiliger Dienst“ beschrieben, Ex 28,43; 29,30 u.a., sie stehen vor Gott, um ihm zu „dienen“, Dtn 10,8; 17,12; 18,5.7; Ez 40,46; 43,19; 44,15.

2 Der religiöse Status des Priesters

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hen, das ihn in die Lage versetzt, Gott nahen, ihm in seiner Gegenwart dienen und mit ihm Gemeinschaft pflegen zu können. Diese zeitlich befristete Identität der Integrität, Gottesnähe und Gottesähnlichkeit bestimmt wiederum die Funktionen des Priesters, nicht umgekehrt: Der Priester ist erst aufgrund der beschriebenen Identität in der Lage, mediatorisch, interzessorisch, interpretierend und richtend tätig zu werden. 2.1 Die Voraussetzungen zum Priesteramt 2.1.1 Priesterliche Abstammung Im Unterschied zur weit überwiegenden Mehrzahl der hellenistischen Kulte und zum römischen Kult ist das atl.-jüdische Priesteramt nicht durch Wahl, Auslese, Kompetenz oder Ernennung, sondern durch Erwählung und in der Konsequenz durch Abstammung begründet.81 Weil das atl.-jüdische Priesteramt ebenso wie das Königtum auf dem Erwählungshandeln Gottes beruht,82 ist die Zugehörigkeit zum erwählten Stamm bzw. Geschlecht von höchster Bedeutung. Über Zugang oder Ablehnung entscheidet der rechtsgültige Nachweis eines patrilinearen priesterlichen Stammbaumes, der zumindest dem Anspruch nach auf Aaron zurückgehen muss.83 Schon im chronistischen Geschichtswerk werden solche Stammbaumverzeichnisse für die Priesterdienstordnungen erwähnt (2Chr 31,16–18).84 Konnte ein Priester seinen Stammbaum nicht einwandfrei nachweisen, musste er beim Altardienst abgewiesen und aus der Priesterschaft ausgeschlossen werden, was in der Regel mit einer sozialen Degradierung einherging und der Stammbaumwissenschaft eine erhebliche Brisanz verlieh.85 Ein auf Kompetenz, Ethos oder Frömmigkeit gegründeter Eintritt in das Priesteramt oder der Aufstieg vom Leviten zum Priester oder vom Priester zum Hohepriester war daher von vornherein ausgeschlossen.86 Entspre81

Vgl. Jos Ap 1,31; 2,186.193; vgl. Ant 20,226. Vgl. z.B. Num 16,5.7; 17,20; 18,7; 1Sam 2,28; Ps 105,26; Jub 30,18; TestLev 5,2, sowie in negativer Hinsicht 1Kön 12,31; 13,33. 83 Die patrilineare bzw. „agnatische“ Deszendenz ist auch in Verbindung mit der Weitergabe von Tradition, Weisheit und v.a. kultischem Wissen zu sehen: Der Vater wies seinen Sohn in den Dienst ein. 84 Zu Stammbaumverzeichnissen vgl. auch Mt 1,1–16, sowie Lk 2,36; Lk 3,23–38; Röm 11,1; Phil 3,5; mYev 4,13; mTaan 4,5; yTaan 68a.52–57 u.ö. 85 Esr 2,62 und Neh 7,64 reflektieren solche Ausschlüsse vom Priesteramt. Jos Ant 11,71 erwähnt für die Zeit Esras eine Zahl von 525 Zurückgewiesenen. Der Grund war die Ehe mit Frauen, deren Herkunft nicht in den Genealogien der Priester und Leviten nachgewiesen werden konnte. 86 Exakt dies war der wesentliche Unterschied zwischen dem Priestertum und den nach 70 n.Chr. dominierenden Rabbinen, bei denen Begabung, Eignung und Frömmigkeit, jedoch nicht die Abstammung zu den elitebildenden Faktoren gehörten, vgl. dazu H IMMELFARB, Kingdom, 164–170. 82

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chende „Karriereansprüche“ spiegeln sich im Alten Testement lediglich in der Erzählung von der Korach-Rebellion (Num 16,1–17,15) und werden dort als verwerflich qualifiziert. Das hereditär konstituierte und mit hohem Sozialprestige ausgestattete Priesterum scheint abgesehen von der Korach-Rebellion bis in die frühjüdische Zeit hinein völlig unangefochten gewesen zu sein. Dies spricht dafür, dass die hereditäre Verfassung des israelitisch-jüdischen Priestertums zur priesterlichen Identität gehörte. Diese Identität wurde somit nicht durch Kompetenz, Leistungsfähigkeit, Verdienste, Ethos oder Frömmigkeit begründet, sondern durch göttliche Erwählung und Verfügung. Aus diesem Grund bedurfte es auch keines Rekrutierungs-, Berufungs- oder Auswahlverfahrens, weil die Abstammung aus einer priesterlichen Familie und die damit verbundene Heiligkeit und Reinheit als göttliche Qualifikation galt. Selbst als die Institution des Priestertums im 2. Jh. v.Chr. in ihre schwerste Krise kam und schließlich im Jahr 70 n.Chr. mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels ihren zentralen Wirkungs- und Funktionsraum verlor, wurde ihre hereditäre Verfassung nie in Frage gestellt. Vielleicht abgesehen von einigen radikalen zelotischen Hasardeuren wurde das Prinzip der Abstammung von allen Strömungen des Frühjudentums fraglos akzeptiert.87 M. Himmelfarb sieht in der Spannung zwischen „ancestry and merit“, also zwischen einem auf Abstammung gegründeten Erbpriestertum und einer auf „Leistung“ bzw. „Verdienst“ gegründeten Frömmigkeit den Grundkonflikt des Judentums in der Zeit des zweiten Tempels.88 Das Grundproblem sieht sie im beschriebenen Prinzip des auf Abstammung gegründeten Priestertums, weil dieses Kriterium „does little to promote holiness“.89 Während Forderungen, Verheißungen, aber auch Strafen an den Gehorsam des ganzen Volkes und damit an das Prinzip „merit“ gebunden waren, basierten die Privilegien des Priestertums auf dem Prinzip „ancestry“. Zwar ist die Grundspannung zwischen „ancestry and merit“, die Himmelfarb als Movens nahezu aller Konflikte in der Epoche des zweiten Tempels postuliert, in dieser Absolutheit zu schematisch und reduktionistisch, aber sie hat damit zweifellos ein soziologisches Moment von großer Bedeutung wahrgenommen, das aber gerade die verbreitete Akzeptanz des hereditären Prinzips trotz der offensichtlichen Defizite unterstreicht.

2.1.2 Korrekte Eheverhältnisse Als wesentlich für die priesterliche Identität wurden offenbar auch korrekte Eheverhältnisse betrachtet. De iure musste ein einfacher Priester eine Jungfrau aus dem Gottesvolk oder die Witwe eines Priesters heiraten (Ez 87

Dies gilt auch für den yaḥad, der sich zwar zur Etablierung eines alternativen Kultes genötigt sah, am hereditären Prinzip des priesterlichen Amtes jedoch festhielt. 88 HIMMELFARB, Kingdom, 1.3.8, und passim. 89 H IMMELFARB, Kingdom, 3. Allerdings schätzt MILGROM, Lev 1–16, 53, das System des Erbpriestertums nicht als schwächer ein im Vergleich mit einem „Laienpriestertum“, das nicht minder korruptionsanfällig ist.

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44,22; Philo SpecLeg 1,108; Jos Ant 3,277). Selbst Proselytinnen wurden in der Regel abgelehnt. Verboten war es vice versa eine deflorierte, vergewaltige oder geschiedene Frau oder eine Prostituierte zu heiraten (Lev 21,7.14).90 Die Braut eines Hohepriesters musste eine jüdische Jungfrau sein (Lev 21,13–15; Philo SpecLeg 1,110; Somn 2,185; Jos Ant 3,276f.), nach der Septuaginta und nach Philo darüber hinaus auch noch Priestertochter.91 Es entspricht diesen Vorgaben, dass nach Josephus (Vit 1; Ap 1,29–36) die Stammbäume der Priester und ihrer Frauen schriftlich festgehalten und im Tempelarchiv verwahrt wurden.92 Somit musste mindestens in der Spätzeit jener Epoche ein Priester vom Jerusalemer Tempelarchiv einen genealogischen (genealogei/n = „die Herkunft erzählen“) Nachweis seiner 90

STERN, Aspects, 582: „As a result, a rigorous system of genealogical purity had to be enforced, one that made it possible to investigate the lineage of priests, and ensure that all marriages had been with suitable classes.“ Entsprechend wichtig war es auch für die priesterlichen Eliten, ihr genealogisch begründetes Privileg immer wieder gegen anderweitige, sich auf Bildung, Ethos oder Frömmigkeit berufende Ansprüche zu verteidigen, insbesondere nach der Tempelzerstörung. Ein sowohl hinsichtlich Inhalt wie Bedeutung wachsendes Instrument zur Verteidigung dieser Privilegien waren restriktive, d.h. endogame Heiratsregelungen, v.a. unter den hohepriesterlichen Familien, vgl. dazu STERN, Aspects, 582f. Dies förderte die Solidarität innerhalb der Priesterfamilie. Nach der Tempelzerstörung wurden diese Regelungen noch verschärft, um das durch den Verlust des Heiligtums entstandene Identitätsproblem über die Abstammung wenigstens teilweise zu kompensieren, vgl. mBik 1,5; mYev 6,2; 9,1–6; mKet 4,8f.; mSot 4,1; 8,3; mQid 4,1–7; vgl. auch GUSSMANN, Priesterverständnis, 153–155. 91 Nach 70 n.Chr. wurde sogar diskutiert, ob sie die Geschlechtsreife schon erreicht haben durfte oder nicht, mYev 6,4. 92 Nach Josephus, Ap 1,30–36; vgl. Ant 11,71, musste die Abstammung der Braut mittels archivarischer Belege nachgewiesen werden, um – laut Josephus – das priesterliche Geschlecht „unvermischt und rein“ zu erhalten: „Denn sie [sc. die Vorväter] setzten nicht nur von Beginn an dafür die Tüchtigsten und die mit dem Dienst für Gott Beschäftigten ein, sondern sie sorgten auch dafür, dass die Herkunft der Priester unvermischt und rein blieb. Denn einer, der das Priesteramt innehat, muss mit einer demselben Stamm angehörenden Frau Kinder zeugen und darf [bei ihr] weder auf Geld noch auf sonstige Werte sehen, sondern er muss ihre Abstammung prüfen, indem er sich aus den Archiven die Ahnenreihe geben lässt und viele Zeugen aufbietet. Und so halten wir es nicht allein in Judäa, sondern wo immer eine Gruppe unseres Volkes ist, wird gleichfalls die genaue Regel bezüglich der Eheschließung von Priestern bewahrt [...] Wenn aber ein Krieg ausbrach, [...] so stellen die Priester, die noch übrig geblieben sind, wieder neue [Ahnenreihen] aus den Archivbeständen her und prüfen die noch verbliebenen Frauen. Denn sie lassen die in Gefangenschaft geratenen nicht mehr (zur Ehe) zu, da sie den Verdacht haben, es sei, wie es häufig geschehen ist, zum Geschlechtsverkehr mit einem Fremdstämmigen gekommen. [...] Die Hohepriester bei uns sind seit 2000 Jahren namentlich als Söhne ihres jeweiligen Vaters in den Dokumenten verzeichnet. Wer irgendeine der besagten [Vorschriften] übertreten hat, der darf weder den Altardienst versehen noch an einer anderen Zeremonie teilnehmen.“ Vgl. zur Kultunfähigkeit durch zweifelhafte Heirat auch Jos Ant 13,292.372.

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Braut erstellen lassen,93 um nicht die Legitimität seines eigenen Amtes in Frage zu stellen.94 Ziel war nach Josephus der Erhalt der „unvermischten“ Homogenität der Priesterschaft.95 Auf einer tieferen Ebende dürfte auch hinter diesen Anforderungen der Gedanke der Integrität, Unversehrtheit und Vollkommenheit stehen. Die Priester sollten entsprechend ihrer hierarchischen Stellung auch in den Eheverhältnissen einem Modell entsprechen, das sich nicht nur an kultischen oder ethnischen, sondern letztlich auch an geschöpflichen Idealen orientierte. Waren alle Voraussetzungen erfüllt, wurden junge Priester im Alter von etwa 20 Jahren im Rahmen einer siebentägigen Zeremonie mit Reinigungsbad, Investitur mit den heiligen Gewändern, einer Reihe von Opfern und der Besprengung mit Blut und Öl in den Tempeldienst eingeweiht und in ihr Amt eingeführt.96 2.1.3 Körperliche Unversehrtheit Kongruent zu diesen Angaben ist, dass nach der priesterlichen Überlieferung neben einer legitimierenden Genealogie gewissermaßen als sekundäre Kriterien noch die Zeugungsfähigkeit und körperliche Unversehrtheit (Lev 21,1–10.16–23) als Voraussetzungen für das Priesteramt erwartet wurden. Die Zeugungsfähigkeit ist bei jedem genealogischen System essentiell, weil sie sicherstellt, dass der ererbte Status auch der nächsten Generation weitergegeben werden kann und die streng abgegrenzte „Priesterkaste“ nicht ausstirbt. Dagegen sind die für moderne Ohren rational nicht verständlichen Anforderung der körperlichen Unversehrtheit irritierend: „Rede zu Aaron: Jemand von deinen Nachkommen bei ihren Generationen, an dem ein Makel ist, darf nicht herannahen, um das Brot seines Gottes darzubringen; denn jedermann, an dem ein Makel ist, darf nicht herannahen, sei es ein blinder Mann oder ein lahmer oder einer mit gespaltener Nase oder der ein Glied zu lang hat, oder ein Mann, der einen Bruch am Fuß oder einen Bruch an der Hand hat, oder ein Buckliger oder ein Zwerg oder der einen weißen Flecken in seinem Auge hat oder der die Krätze oder Flechte oder der zerdrückte Hoden hat“ (Lev 21,17–20).97

93 Vgl. hierzu auch mQid 4,4. Demnach muss ein Priester die matrilineare Ahnenfolge der Braut und ihrer Eltern vier Generationen zurückverfolgen, wenn die Braut eine Priestertochter ist, und fünf Generationen, wenn die Braut Tochter eines Leviten oder Israeliten ist. 94 Vgl. zum Ganzen GUSSMANN, Priesterverständnis, 153–158.269–287. 95 Ant 11,140f. 96 Esr 3,8; 1Chr 23,24.27; 2Chr 31,17; vgl. dagegen Num 4,3.23.30.43; Jos Ant 15,51; TestLev 12,5. Der Dienst endete spätestens mit 50 Jahren, Num 4,3.23.30.43. 97 Revidierte Elberfelder Übersetzung.

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Dieser für den neuzeitlichen Leser diskriminierend wirkende „Makelkatalog“, der in einer Parallelität zu den ganz ähnlichen Anforderungen an die Opfertiere steht (vgl. Lev 22,22–24),98 muss von dem im folgenden Abschnitt (→II.2.2.3) noch näher zu beschreibenden und in vielen antiken Priesterkonzeptionen belegten Grundsatz der kultischen Analogie her verstanden werden.99 So wie die Reinheits- bzw. Unreinheitsregelungen im Rahmen der Analogie zum Wesen Gottes verstanden werden müssen, der weder geboren wird, noch stirbt und der auch nicht isst oder sexuell aktiv ist, so wird auch die Forderung nach körperlicher Unversehrtheit erst im Horizont der Analogie zur Integrität und Vollkommenheit Gottes verstehbar.100 Weil Jahwe vollkommen und unversehrt ist, muss auch der ihm dienende Priester einem Ideal der Vollkommenheit und Integrität entsprechen bzw. diesem wenigstens nahe kommen.101 Im Hintergrund steht offensichtlich die Konzeption des Priesters als Modell des idealen und integren Menschen,102 der als gottnaher, gottähnlicher, gottzugehöriger und deshalb heiliger Mensch auch in seiner körperlichen Konstitution gleichnishaftes Abbild des göttlichen Wesens sein soll.103 2.1.4 Ergebnis In den Voraussetzungen des priesterlichen Dienstes spiegelt sich der Grundgedanke des integren Menschen wieder. Entsprechend wird der priesterliche Status durch einen Erwählungsakt Gottes konstituiert, der einen Stamm bzw. eine Familie zum Dienst erwählt und berufen hat. Diese 98

Vgl. hierzu auch MILGROM, Lev 17–22, 1838f., der den Grund für die Forderung nach körperlicher Unversehrtheit sowohl des Priesters wie des Opfers in Senecas Begründung vermutet, wonach der Makel eines Opfers als Zeichen für ein böses Omen steht und davon auch die entsprechenden Anforderungen an den Priester ableitet. Schließlich zieht Seneca der Ältere das Fazit: „Apparet non esse propitios deos sacerdoti quem ne servati quidem servant“, Sen mai Contr 4,2. 99 Zu analogen Regelungen und Gesetzen in den Nachbarkulturen des alten Israel vgl. den Exkurs bei MILGROM, Lev 17–22, 1841–1844. 100 Eine interessante Parallele findet sich in 1QSa 2,4–9 und 4Q270 Frg. 9 15,15–17, wo die körperliche Unversehrtheit der leitenden Männer in der Versammlung mit der Anwesenheit von Engeln begründet wird. Auch hier scheint ein Analogieschluss vorzuliegen, wonach die amtierenden Funktionsträger dem makellosen Wesen der Engel weitestgehend entsprechen sollten. 101 DOUGLAS, Reinheit, 70–74/Purity, 63–67, weist in diesem Zusammenhang auch auf die Verbindung zwischen Heiligkeit und Ganzheit, Vollständigkeit und Makellosigkeit hin. Dabei wird die körperliche Unversehrtheit in einer Entsprechung zur Heiligkeit Gottes und des Heiligtums gesehen, weshalb auch die dargebrachten Opfer dem Kriterium der Makellosigkeit unterlagen, vgl. z.B. Lev 22,22–24. 102 In Dan 1,4 und 2Sam 14,25 ist körperliche Makellosigkeit auch bei Nicht-Priestern ein Ideal, das sie für gehobene Aufgaben qualifiziert, und in Mal 2,5 wird das priesterliche Amt mit „Leben und Shalom“ in Verbindung gebracht. 103 DAVIES, Priesthood, 156f.

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hereditäre, auf eine Verfügung Gottes zurückgehende Verfassung des israelitisch-jüdischen Priestertums schließt den Eintritt in das Priesteramt auf den Grundlagen von Kompetenz, Leistungsfähigkeit, Verdienste, Ethos oder Frömmigkeit von Vornherein aus. Der priesterliche Status ist prinzipiell ein verliehener und kein erworbener. Gleichwohl muss der Priester diesem Status sowohl im Blick auf sein Eheverhältnis als auch im Blick auf seine körperliche Unversehrtheit entsprechen. Hinter diesen Kriterien steht der priesterliche Status des idealen, vollkommenen und gottähnlichen Menschen, der aufgrund seiner graduell hohen Integrität berechtigt ist, Gott zu nahen. 2.2 Der Priester im heiligen Raum Neben dem Opfer gehörte ganz generell der Dienst am heiligen Ort der Offenbarung und Präsenz Jahwes zum Auftrag des Priesters. Die Priester werden in Ex 19,22 als Menschen charakterisiert, „die sich Jahwe nähern“ (hw'hy.-la, ~yviG'Nih;; vgl. auch Ez 42,13; 43,19; Lev 10,3) und im unmittelbaren Präsenzbereich Gottes ihren Dienst tun. Weil solchen Orten nicht nur in Israel, sondern in der ganzen antiken Welt eine bestimmte Dignität bzw. Heiligkeit eignet (vgl. Gen 28,17a; Ex 3,5; Jos 5,15), wird auch vom Menschen, der sich diesem Ort nähert bzw. an ihm dient, ein bestimmter Status der Heiligkeit und ein dementsprechendes Verhalten erwartet, damit die Begegnung mit Jahwe und der Vollzug der priesterlichen Handlungen im Heiligtum gelingen kann.104 Diesem Status der Heiligkeit und Reinheit muss der Priester bis hinein in seine persönliche Lebensführung in umfassender Weise Rechnung tragen. In den atl. Texten lassen sich verschiedene Nuancierungen im Blick auf den Heiligkeitsbegriff feststellen. Während in den priesterlichen Texten, v.a. im Heiligkeitsgesetz in Lev 17–26, Heiligkeit ein Zustand ist, der durch beständige kultische Reinigungs- und Heiligungsriten geschützt bzw. immer wieder neu hergestellt werden muss, ist Heiligkeit im Deuteronomium eine im Zuge der Erwählung Israels durch Jahwe verliehene, nicht konditionierte Qualität, der Israel in seinem ethischen Verhalten zu entsprechen hatte. Da diese Nuancen in der frühjüdischen und ntl. Wirkungsgeschichte dieser Texte nie als Gegensatz empfunden wurden, die Dimension der Heiligkeit an sich jedoch sowohl für die Geschichte des Priestertums im Frühjudentum wie für die Metaphorisierung des Priestertitels im 1. Petrusbrief und in der Johannesapokalypse von besonderer Bedeutung ist, soll sie im Folgenden kanonisch behandelt werden.

104 Vgl. Ex 30,17–21; 40,30–32; Lev 21,1–6.16–21; Ez 44,21.25. Zu Beispielen für ein illegitimes und deshalb misslungenes, ja tödliches Sich-Nähern vgl. Lev 10,1ff.; Num 16; 2Sam 6,7.

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2.2.1 Etymologische Fragen Die Etymologie der gemeinsemitischen Wurzel von vdq wird nach wie vor diskutiert,105 wobei die Wiedergabe mit „scheiden/trennen“ bzw. „abgesondert/abgetrennt sein (vom Profanen)“106 wohl nur eine phänomenologische Beschreibung aufgrund der kultisch bedingten Konsequenzen ist.107 In den letzten Jahrzehnten hat sich mehr und mehr die Einsicht durchgesetzt, dass die etymologischen Ursprünge nicht maßgebend für die Begriffsbedeutung im Alten Testament sind.108 J.B. Wells plädiert dafür, „Heiligkeit“ als einen Relationsbegriff zu verstehen, der eine Zugehörigkeit ausdrückt: „On the basis that vdq refers in the first place to Yhwh, it is a simple step to use the term to refer to those things which belong to Yhwh uniquely, even though this is not necessarily a permanent state … The use of vdq and its derivatives is extended to all places, things and persons, in so far as they belong, or have come to belong, to Yhwh. Thus their holiness is relational and directional.“109 In ganz ähnlicher Weise schlägt H. Seebass die Erklärung „In-Berührung-Kommen“ (mit Gott) als Grundbedeutung vor.110 Damit trägt auch er der Beobachtung Rechnung, dass „Heiligkeit“ weniger eine bestimmte Eigenschaft beschreibt als vielmehr eine Zugehörigkeit oder Beziehung.111 Heiligkeit ist damit ein Ausdruck für die Berührungs-, Begegnungs- und Kontaktfähigkeit von Menschen, Orten, Dingen und Zeiten mit Gott.112

105

Vgl. hierzu MÜLLER, Art. vdq, 589–609; LEVINE, Language, 241–256; DERS., Leviticus, 256f.; R INGGREN/KORNFELD, Art. vdq, 1179–1204; J ENSON, Graded Holiness, 40– 55; W RIGHT, Art. Holiness, 237–249; J OOSTEN, People, 123f.; SCHWARTZ, Holiness, 47– 49. 106 So VAN DER LEEW, Phänomenologie, 32f.; KORNFELD, Art. vdq, 1181; SCORALICK/R ADL, Art. Heilig, 87. 107 W ILLI-P LEIN, Opfer, 49: „Der mit der Wurzel vdq ausgedrückte Begriff der Heiligkeit scheint also, ganz allgemein gesprochen, Numinoses oder Göttliches zu bezeichnen, also ähnlich wie das lateinische ‚sacrum‘ etwas, was nicht zur Gesellschaft der Menschen gehört.“ 108 Vgl. z.B. W ELLS, People, 17f. 109 WELLS, People, 97 (kursiv bei W.). 110 SEEBASS, ThBLNT 2 I, 887: „Nicht das Trennende, das Aussondernde ist das Primäre, sondern positiv das In-Berührung-Kommen, das ganz selbstverständlich bestimmte Verhaltensweisen erzwingt. […] Das Heilige ist demnach einerseits ein vorethischer Terminus, andererseits aber ein Ethos-setzender Begriff.“ 111 Vgl. auch W ILLI-P LEIN, Opfer, 51: „Heiliges ist, was in den Bereich des Heiligen oder Göttlichen gehört.“ 112 SCHWARTZ, Holiness, 47ff., weist darauf hin, dass es noch eine zweite Etymologie des Begriffs gibt, die von der ersten völlig unabhängig zu sehen ist. Danach bedeutet vdq schlicht „rein“ bzw. „gereinigt“, vgl. etwa Ex 19,10.22; Num 11,18; Jos 3,5; 7,13; Dtn 23,15; 1Sam 16,5; 2Sam 11,4; Jes 66,17; Hi 1,5.

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2.2.2 Die Struktur der kultischen Wirklichkeit Wie in allen antiken Kulturen galt auch das atl. und frühjüdische Priestertum als „heilig“, wobei die Bestimmung dieses Status durch die spezifisch atl. Distinktionen von „heilig“ und „profan“ sowie „rein“ und „unrein“ geprägt war (vgl. Lev 10,10; Ez 44,23).113 Diese Unterscheidungen sind konstitutiv für die kultische Wirklichkeit, die im Rahmen eines Heiligtums, konkret der Stiftshütte bzw. des Tempels, auch eine lokale Verortung finden konnten.114 Die Kategorien von Unreinheit und Heiligkeit im Sinne kultisch-ritueller Begriffe entwickelten sich sukzessive und in gewisser Hinsicht auch zu moralischen Kategorien.115 Die physische Unreinheit unterschied sich von der ethisch qualifizierten dadurch, dass sie nicht mit Verboten reglementiert wurde, was bei allgemeinen Lebensvollzügen wie Geburt, Menstruation, Samenerguss, legitimer Sexualität oder Tod sinnlos gewesen wäre. Es ist allerdings nicht immer ganz eindeutig, in welchem Verhältnis rituelle und moralische Unreinheit zueinander stehen und wie sich beides auf die Entweihung des Heiligtums auswirkt.116 Im Groben lassen sich folgende Unterschiede ausmachen:117 Die Quelle der rituellen Unreinheit ist natürlich und mehr oder weniger unvermeidbar

113 Die zentralen Texte sind hier einerseits die Reinheitstora (Lev 11–15) und das sog. „Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26), vgl. hier im Blick auf die Priesterschaft v.a. Lev 21. Vgl. zu den folgenden Ausführungen M ILGROM, Art. Heilig und profan, 1530–1532; DERS., Dynamics, 29–31; VAHRENHORST, Sprache, 2–5.17–35; sowie LIU, Purity, 12–25. 114 Vgl. M ILGROM, Dynamics, 29; nahezu identisch DERS., Concept, 72: „Persons and objects are defined by four possible states: holy, common, pure and impure. Two of them can exist simultaneously: pure things may be either holy or common; common things may be pure or impure. […] They [sc. the holy and and impure] seek to extend their influence and control over the other two categories, the common and the pure. In contrast to the holy and impure, the common and pure are static. They cannot transfer their state; they are not contagious.“ 115 Mit dieser Behauptung ist allerdings vorsichtig umzugehen. Wir dürfen nicht das moderne, westlich geprägte Verständnis von „Heiligkeit“, das von der Kumulation intensivster Frömmigkeit mit höchsten ethischen Standards geprägt ist, auf den kultischen Heiligkeitsbegriff übertragen. B.J. SCHWARTZ, Holiness, 49, macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass „used in the Hebrew Bible […] the root qdš does not convey any value judgment at all.“ 116 Vgl. SANDERS, Judaism, 71: „The purity laws [...] were not primarily moral laws: impurity might be acquired when one transgressed a law, but most forms of impurity essentially had to do not with transgression but with changes of status. Purity laws affected daily life relatively little; their principal function was to regulate access to the temple ...“ Vgl. hierzu auch KLAWANS, Impurity, 21–42, und P OLA, Heiligkeit, 32–37, der mit Hinweis auf Ps 24,3–5; Lev 19,2f. und andere Belege für die ethische Relevanz der Heiligkeitserfahrung plädiert. 117 Vgl. hierzu KLAWANS, Purity, 53–56, und FRYMER-KENSKY, Pollution, 399–406.

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(Geburt, Sexualverkehr, Körperausflüsse wie Menstruationsblut118 oder Samen, Krankheit, Tod).119 Rituelle Unreinheit gilt konsequenterweise auch nicht als Sünde. So sollen Priester zwar darauf achten, nicht durch den Kontakt mit Leichen und Tod verunreinigt zu werden (Lev 21,1–4), sie dürfen jedoch durchaus mit anderen Unreinheiten in Kontakt kommen und haben sich dann eben den üblichen Reinigungsriten zu unterziehen. Die eigentliche Herausforderung des Priesters ist daher nicht die Vermeidung ritueller Unreinheit, sondern vielmehr das peinlich genaue Achten auf den aktuell bestehenden (Un)Reinheitsstatus und die daraus sich ableitenden rituellen und kultischen Befugnisse bzw. Restriktionen (vgl. Lev 10,10; Ez 44,23).120 Dem Priester kommt damit eine volkspädagogische Funktion zu, die im Rahmen des kultischen Denkens von höchster Bedeutung ist. Denn es gehört zu seiner Pflicht, auch andere vor einer unheilvollen Begegnung mit der Gegenwart des Göttlichen zu bewahren. Folglich hatten die Priester den jeweiligen Reinheitsstatus und damit die Kultfähigkeit des einzelnen Gottesdienstteilnehmers zu begutachten, zu kontrollieren und ihn im Zweifelsfall zu seinem eigenen Wohl und zum Wohl der ganzen Gemeinde vor dem Besuch des Tempelheiligtums abzuhalten (vgl. Lev 13,3ff.), ohne dass dies mit einer moralischen Stigmatisierung verwechselt werden darf. Desweiteren kann rituelle Unreinheit eine zeitlich befristete Ansteckung für Menschen mit sich bringen, die sich rituell unreinen Personen oder Gegenständen nähern bzw. diese berühren, was aber ebenfalls nicht als Problem empfunden wurde. Es gab für alle Formen ritueller Unreinheit konkrete Reinigungsrituale, von der Einhaltung bestimmter Fristen, über verschiedene Waschungen bzw. Bäder bis hin zu bestimmten Opfern. 118

FRYMER-KENSKY, Pollution, 401, macht darauf aufmerksam, dass zwar Menstruationsblut höchst verunreinigend ist und das Vergießen unschuldigen Blutes, z.B. Mord, zu einer Verunreinigung des Landes führt, aber die Berührung mit gewöhnlichem Blut keinerlei Auswirkungen auf den Status der Reinheit hat. Offensichtlich spielen nur Blutausflüsse eine Rolle, die im Zusammenhang mit menschlicher Sexualität und Fruchtbarkeit stehen, was auch durch die Parallelität zum verunreinigenden Samenausfluss, sei es im Kontext des Geschlechtsaktes oder eines Samenergusses, unterstrichen wird. 119 FRYMER-KENSKY, Pollution, 403. In gewisser Weise ist rituelle Unreinheit sogar obligatorisch gefordert, wenn von Israeliten und auch von Priestern der geschlechtliche Verkehr zur Vermehrung, Gen 1,28; 9,7, oder die Bestattung der verstorbenen Angehörigen, Lev 21,1–4, erwartet wird; nur der Hohepriester soll sich ausnahmslos vor Leichenunreinheit schützen, vgl. 21,11–15. Der einzige Fall, in dem eine Form von Unreinheit eine moralische Konnotation bekommt, ist der Aussatz, der in verschiedenen Erzähltexten als eine göttliche Strafe verstanden wird, vgl. Num 12,10–15; 2Kön 5,27; 2Chr 26,19–21, sowie FRYMER-KENSKY, ebd. 403f. 120 KLAWANS, Purity, 54. So kann ein Mann zwar mit einer menstruierenden Frau sexuell verkehren, wodurch er kultisch unrein wird. Er kann dies auch als Priester tun, darf dann aber nicht im Tempel amtieren. An diesem Punkt entzündete sich im Frühjudentum ein heftiger Streit; →III.1.2.

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Im Unterschied zur rituellen Unreinheit ist die moralische Unreinheit, die vor allem im Zusammenhang von Mord, sexueller Verfehlungen und Götzendienst eintritt, prinzipiell verboten. Sie gilt deshalb auch als Sünde und hat eine direkte verderbliche Auswirkung auf das gesamte Volk und das Land Israel.121 Interessanterweise ist die moralische Unreinheit aber nicht ansteckend. Sie verunreinigt in kultischer Hinsicht weder den Sünder selbst, noch denjenigen, der in Kontakt mit einem Mörder, Götzendiener oder Ehebrecher kommt (vgl. Lev 18,24; 19,31; vgl. Gen 34,5; Dtn 24,1– 4). Anders jedoch als die rituelle Unreinheit, wird die moralische als lang anhaltend, wenn nicht sogar dauerhaft verstanden, ohne dass es Reinigungsriten für diese Form der Verunreinigung gäbe. Sie kann ausschließlich durch Strafe bzw. Sühne getilgt werden, die meistens den Tod des Sünders impliziert.122 Schließlich ist noch auf einen sehr bemerkenswerten Unterschied hinzuweisen: Während die rituelle Unreinheit vom Besuch des Tempels ausschließt, scheint dies bei der moralischen Unreinheit nicht der Fall zu sein.123 Zwar betrifft auch die moralische Unreinheit den Tempel (Lev 20,3) und der moralische Sünder soll prinzipiell auch nicht an „heiliger Stätte stehen“ (vgl. Ps 24,3–5), aber sie verunreinigt nicht den heiligen Bereich, wenn der Sünder ihn trotz der Toreingangsliturgie von Ps 24 dennoch betritt. Selbst die Priester können de iure in einem moralisch unreinen Status ihren Dienst verrichten. Die rituelle Unterscheidung zwischen den allein kultisch relevanten Seinsformen von „rein“ und „unrein“ hat ihren Sinn und Zweck darin, das Heilige vor dem Kontakt mit dem Unreinen zu schützen.124 Dabei sind Unreinheit und Heiligkeit beides dynamische Größen: „They seek to extend their influence and control over the other two categories, the common and the pure. In contrast to the holy and impure, the common and pure are static. They cannot transfer their state; they are not contagious. They take their identity from their antonyms. Purity is the absence of impurity; commonness is the absence of holiness. Hence, the boundaries between the holy and the common and between the pure and impure are permeable … Israel (including its priests) by their behavior can move the boundaries either way. But they are enjoined to move in one direction only: to advance the holy into the realm of the common and to diminish the impure,

121

Vgl. zur Verunreinigung des Landes FRYMER-KENSKY, Pollution, 406–409. FRYMER-KENSKY, Pollution, 404. 123 Num 5,11–31; Ex 21,14; vgl. 1Kön 1,50–53 und 2,28–30. 124 FRYMER-KENSKY, Pollution, 404: „The protection of the realm of the sacred is of prime importance in Israelite thought in view of the belief that God dwells among the children of Israel“; vgl. 2Chr 23,19. 122

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thereby enlarging the realm of the pure.“125 Nach Ex 29,43f. ist es die Präsenz Gottes, die zu dieser dynamischen Veränderung der profanen Dinge führt, die in den Nahbereich des Heiligen kommen.126 In der direkten Begegnung der beiden dynamischen Elemente entsteht aber auch eine bedrohliche Spannung: Während durch Kontakt mit dem Unreinen das Reine nur unrein wird, wird das Heilige entweder entheiligt oder entweiht.127 Aber während es im „Raum“ der Profanität unerheblich ist, ob er von einem reinen oder unreinen Menschen betreten wird, entsteht im „Raum“ des Heiligen dagegen höchste Gefahr für den Unreinen (vgl. 1Sam 6,20; Jes 6,5). Eine heilvolle Begegnung zwischen Gott und Mensch ist nur im Bereich des Heiligen möglich, dem Ort der Präsenz Gottes, welcher nach atl. Tradition in der Stiftshütte bzw. im Tempel lokalisiert war. Gleichzeitig setzt diese Begegnung auf Seiten des Menschen den Status der Heiligkeit voraus, damit sie nicht zerstörerisch wirkt.128 Dementsprechend war der Zugang zum Bereich des Heiligen streng reglementiert und sowohl hierarchisch wie räumlich geordnet: Nur in bestimmter Weise „geheiligte“ Personen, eben die Priester, durften in bestimmte Heiligkeitsbereiche vordringen. Weil die Quelle und Quintessenz der heilvollen Heiligkeit Gott selbst war, musste Israel die Bedrohung durch Unreinheit ständig kontrollieren, damit diese sich nicht unheilvoll auf den Bereich Gottes auswirkt.129 125

MILGROM, Dynamics, 29 (kursiv bei M.). So geht z.B. die Unreinheit eines Toten auf alle Personen und Gegenstände über, die den Raum betreten, in dem die Leiche liegt, Num 19,14. Nicht nur das Betreten eines Hauses, in dem ein Verstorbener liegt, verunreinigt, sondern auch die Berührung eines Menschen, der aus einem solchen Hause kommt bzw. das Berühren von Gegenständen des Sterbezimmers, Num 19,22. Vgl. hierzu auch MILGROM, Sancta Contagion, 297–299, der die Entwicklung dieser „Ansteckungsvorstellung“ nachzeichnet. Die fortschreitende Reduktion dieser „Ansteckungsgefahr“ bewegt sich zwischen Ez 44,19; vgl. 42,14, wo die Priester angewiesen werden, nach vollzogenem Dienst im Tempel ihre priesterlichen Kleider auszuziehen, um zu vermeiden, dass ihre Heiligkeit nicht auf das außen wartende Volk übertragen wird und sich unheilvoll auswirkt, und Hag 2,12, wo die Ansteckungsgefahr auf die Speisen beschränkt wird, a.a.O., 298, vgl. auch Ex 30,26–29. 126 SCHWARTZ, Holiness, 53. 127 MILGROM, Dynamics, 30. 128 Exemplarisch wird dies in Ex 19,21f. deutlich, wo Jahwe durch Mose das Volk warnt, die gesetzte Grenze zu durchbrechen, vgl. V. 23, und zu ihm auf den Berg zu kommen. Auch die Priester müssen erst den Status der Heiligkeit herstellen, um Jahwe nahen zu können. 129 MILGROM, Dynamics, 32. FRYMER-KENSKY, Pollution, 404ff., macht in diesem Zusammenhang auf die Sanktionen aufmerksam, die durch das Verb trk im Niphal bezeichnet werden. Die schuldhafte Nichtbeachtung der Grenzen zwischen rein und unrein im Blick auf das Heiligtum konnte zur „Ausrottung“ des Betroffenen führen, vgl. Lev 7,20f.; 22,3–9; Num 19,13.20. Der nicht autorisierte Kontakt mit dem Heiligen konnte sogar direkt zum Tode führen, vgl. Lev 10; Num 4,18–20; 16,1ff.; 1Sam 6,19; 2Sam

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Vor diesem Hintergrund werden auch die Bemühungen der verschiedenen frühjüdischen Religionsparteien verständlich, die sich ab dem 2. Jh. v. Chr. auf je eigene Weise bemühten, durch unterschiedliche Reinheitsforderungen den Bereich des Heiligen vor dem Unreinen zu schützen bzw. das Heilige auszudehnen und das Unreine einzudämmen. Ziel war immer die heilvolle Begegnung und Existenz Israels mit und vor Jahwe, aber der Weg dorthin führte immer über die Priester. Sie hatten bei diesen Bemühungen die Schlüsselfunktion inne und zwar nicht nur mit ihrem Handeln, sondern vielmehr mit ihrem Sein. Sie waren nicht nur die Wächter des heiligen Bereichs und Experten der heilvollen Begegnung mit Jahwe, sondern sie bekamen für die Zeit ihres Dienstes ein heiliges Sein, das ihnen einen Status der Integrität und Gottesnähe verlieh, der sie erst zu ihrem mediatorischen Dienst befähigte. 2.2.3 Deutungsversuche Die Frage nach dem tieferen Sinn der Unterscheidungen von rein/unrein und heilig/profan bzw. nach einer plausiblen Systematik wird nirgendwo beantwortet, jedoch verschiedentlich gestellt.130 Bei Plutarch (Mor 286 D) findet sich ein Antwortversuch auf die Frage, warum Hülsenfrüchte wie Bohnen und Erbsen kultisch verunreinigen. Seine spekulativen Überlegungen gleichen einem Tasten im Nebel und machen deutlich, dass auch Plutarch keine Erklärung für die kultischen Gesetze kannte. Eine analoge Geschichte zitiert M. Vahrenhorst aus der Welt der Rabbinen.131 Rabbi Jochanan ben Zaqai wird von einem Heiden nach dem Sinn der kultischen Rituale gefragt, worauf er diesem eine launige und ironische Antwort gibt. Als der Heide gegangen ist, wird er von seinen Schülern, die seine Antwort nicht befriedigen konnte, noch einmal gefragt, und er gibt diesen dann folgende Antwort: „Bei eurem Leben! Nicht der Todte verunreinigt und das Wasser reinigt nicht, sondern es ist der Beschluss des Königs aller Könige. Gott hat gesagt: ‚Eine Satzung habe ich gegeben, einen Beschluss habe ich gefasst, kein Mensch soll meinen Beschluss übertreten‘, wie es heißt: ‚Dies ist die Satzung der Thora.‘ [Num 19,2].“132

6,6f., sowie FRYMER-KENSKY, ebd., 406: „Fundamental to the function of the karetbelief is the idea that the sacred can be defiled and that there is a need to protect it from such contamination. The temple in particular, as the site of God’s presence, needs such protection.“ Umgekehrt wird in diesem Licht auch die Notwendigkeit der regelmäßigen und rituellen Reinigung des Tempels verständlich, die nach Lev 16 am Yom-Kippur vollzogen wird. 130 Vgl. hierzu VAHRENHORST, Sprache, 104–111. 131 VAHRENHORST, Sprache, 110. 132 PesK 4 (Midrasch Debarim Rabba [Pesikta des Rab Kahana], hg. und übersetzt v. A. W ÜNSCHE, Leipzig 1882, 47).

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Diese bemerkenswert „aufgeklärte“ Antwort macht deutlich, dass schon in rabbinischer Zeit der Sinn der Reinheits- und Heiligkeitsregularien unbekannt war. In der Jochanan ben Zaqai zugeschriebenen Antwort wird sogar die gesamte Kultsystematik im Blick auf ihre tatsächliche Wirksamkeit in Frage gestellt. „In seinem Denkhorizont und dem seiner Schüler ist es das göttliche Gebot, das das (unverstandene) Ritual legitimiert.“133 In der Forschung wurden verschiedene sozialanthropologische und religionssoziologische Erkärungen gegeben. Gegenüber dem stark antiritualistischen und evolutionistischen Impetus der älteren Forschung plädierte M. Douglas für eine Neubewertung kultisch-ritueller Vollzüge: In der Unterscheidung von „rein“ und „unrein“ spiegelt sich für den antiken Menschen eine kosmische Ordnung wieder, die ihm hilft, die Komplexität der Welt zu ordnen und zu strukturieren. „Rein“ ist folglich das, was im Rahmen bestimmter gesellschaftlich akzeptierter Grenzen bleibt, während das Unreine die Ordnung der Welt bedroht.134 Ferner regulieren diese Regeln auch das soziale Verhältnis und Verhalten von „in-group“ und „outgroup“ (z.B. Juden und Heiden).135 „Concerns about things entering and exiting the body reflect concerns about boundaries of society.“136 J. Milgrom erklärt in seinem religionssoziologischen Ansatz die Unterscheidung auf dem Hintergrund der beiden Sphären des Lebens und des Todes.137 Alles was mit der Sphäre des Todes in Verbindung steht, gilt demnach als unrein und muss von der Welt Gottes bzw. der Götter ferngehalten werden.138 Dies würde erklären, warum neben den Bereichen des Todes auch die Bereiche der Geburt aufgrund der hohen Todesgefahr und der Körperausflüsse als unrein qualifiziert werden. Die Ausscheidung von Blut im Kontext der Menstruation und Sperma beim Samenerguss oder Sexualverkehr kann in dieser Systematik als Verlust von Lebenskraft be-

133

VAHRENHORST, a.a.O., 110. DOUGLAS, Reinheit, 17.59. Im Zusammenhang der antiken und biblischen Unterscheidung zwischen rein und unrein stellen sich heute ganz grundlegende hermeneutische Fragen. Diese Unterscheidung ist in der westlichen Zivilisation unbekannt und findet keinen Erfahrungshorizont mehr, allenfalls einen hygienischen. Die Frage ist jedoch, ob sie völlig verschwunden ist, oder nicht vielmehr in transformierter Gestalt auch einen sehr modernen und postmodernen Widerhall findet, der freilich wesentlich komplexer und individualisierter ist. 135 DOUGLAS, Sacred Contagion, 105. 136 WRIGHT, Art. Unclean, 739. 137 MILGROM, Lev 1–16, 763–766.1000–1004, ähnlich WENHAM, Intercourse, 432– 434. 138 MILGROM, Dynamics, 32: „Among all of the diachronic changes that occur in the development of Israel’s impurity system, this clearly is the most significant: the total severance of impurity from the demonic and its reinterpretation as a symbolic system reminding Israel of its imperative to cleave to life and reject death.“ 134

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wertet werden.139 Die Differenzierung in reine bzw. unreine Tiere würde dann entlang der Linie Aasfresser und Vegetarier verlaufen, wobei die Aasfresser der Sphäre des Todes und die Vegetarier der Sphäre des Lebens zuzuordnen wären. Die Reinheitsgesetze hätten dann vor allem den Sinn, einen Keil zwischen die unreinen Kräfte des Todes und die reinen und heiligen Kräfte des Lebens zu treiben.140 Unklar bleibt bei Milgroms These allerdings, warum die Sphäre des Todes mit dem ritualisierten Töten von Opfertieren einen zentralen Ort im Heiligtum zugewiesen bekommt.141 Möglicherweise überwiegt die lebenseröffnende Wirkung des getöteten Opfers die mit dem Tod verbundene Unreinheit.142 Die These von Milgrom wurde jüngst von Forschern wie T. FrymerKensky, D.P. Wright und J. Klawans für die atl.-jüdische Welt dahingehend weiterentwickelt, dass sie für die Unterscheidung zwischen „rein“ und „unrein“ die Nähe zu den Eigenschaften Gottes heranziehen.143 Rein ist, was Gottes Wesen entspricht, unrein, was ihm fernsteht. Folglich erscheinen Geburt, Sexualität und Tod auf der Seite des Unreinen, weil Gott weder gezeugt noch geboren wurde, unsterblich und weder krank noch sexuell aktiv ist. Aus dieser Perspektive ist die Qualifikation sexueller Aktivität als „unrein“ weniger im Blick auf einen Verlust an Lebenskraft zu verstehen, sondern im Horizont der fehlenden Entsprechung zum Wesen Gottes: Wer sich dem Raum Gottes nahen will, muss Gott analog werden und sich deshalb aus dem Bereich des Sexuellen zumindest befristet zurückziehen. Die Grunddefinition von Reinheit ist hier die Analogie zum Wesen Gottes, oder – um es mit Klawans zu formulieren – die „imitatio Dei“.144 Unreinheit besteht umgekehrt in der Andersartigkeit zu dieser göttlichen Identität. Die Voraussetzung zum Zutritt zum Heiligtum ist damit ein Status der temporären Entsprechung bzw. der befristeten Analogie zu Gott selbst. Dieses Analogieprinzip wird explizit in Lev 19,2 zum Ausdruck gebracht: „Ihr sollt heilig sein, denn ich, Jahwe, euer Gott, bin heilig!“ (vgl. Lev 11,44f. und 1Petr 1,15f.). 139

MILGROM, Dynamics, 31; ders. , Lev 1–16, 767.1002f. MILGROM, Lev 1–16, 732f. 141 Vgl. EILBERG-SCHWARTZ, Savage, 186. 142 Insgesamt bleiben freilich alle Erklärungsmodelle mit dem „Makel“ behaftet, dass sie die groben Züge der Reinheitssystematik plausibel deuten können, aber an zahlreichen Details, die sich nicht in die Grunddefinition fügen, an Grenzen kommen. 143 KLAWANS, Purity, 56–58; vgl. auch FRYMER-KENSKY, Wake, 189: „Sexual activity brings people into a realm of experience which is unlike God; conversely, in order to approach God one has to leave the sexual realm. […] the realm of the ‘holy’ was kept separate from matters that were considered not part of divinity, like death and sexuality.“ 144 K LAWANS, Purity, 58, mit Verweis auf Lev 11,44f.; 19,2; 20,7.26; vgl. auch M ILGROM, Lev 1–16, 696, der hier ebenfalls den Begriff verwendet. 140

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Folgt man dieser Deutung, dann hat die vom Priester erwartete Reinigung und Heiligung im Rahmen dieser Systematik das Ziel, ihn aus dem Status der Profanität und Unreinheit in einen Status der kultisch definierten Integrität und Gottähnlichkeit bzw. der imitatio Dei zu versetzen. Dieser Status gilt als Voraussetzungen eines gelingenden priesterlichen Dienstes. 2.2.4 Die „Herstellung“ von Heiligkeit Den vorübergehenden, weil zeitlich befristeten und höchst labilen Status der Heiligkeit konnten Priester, Opfergaben, Kultgegenstände und auch das gesamte Volk Israel durch einen Vorgang der „Heiligung“ bzw. des „Sich-Heiligens“ annehmen.145 Die Herstellung dieses Zustands entzieht sich allerdings empirischer, hygienischer oder moralischer Logik. Der Status ist nicht an einer Veränderung äußerer, hygienischer Reinlichkeit und auch nur begrenzt durch einen veränderten Lebensstil feststellbar.146 Vielmehr sind Heiligkeit und Reinheit im kultischen Kontext Kategorien jenseits der empirischen Wirklichkeit. Sie haben das Ziel, einen Status der Integrität bzw. ein Ideal menschlichen Seins im Blick auf die Kontakt- und Begegnungsfähigkeit des Menschen mit Gott herzustellen.147 Dies geschieht durch den Vollzug bestimmter (symbolischer) Riten, Waschungen und Opfer oder durch die Einhaltung bestimmter Fristen und Regeln. Dazu gehörte u.a. die Alkoholabstinenz während des Dienstes (Lev 10,9; Ez 44,21), eingeschränkter Kontakt mit Toten in Trauerfällen (Lev 21,1–4; Ez 44,25) und das Verbot bestimmter Trauerriten (Lev 21,5; vgl. 19,27f.; Dtn 14,1f.). Die Einhaltung solch hoher Reinheitsstandards war die Voraussetzung für eine weitere wesentliche Aufgabe des priesterlichen Dienstes, nämlich den Schutz des Heiligtums vor Verunreinigung,148 u.a. durch die Kontrolle kultischer Reinheit bei den Tempelbesuchern. Die Priester hatten soweit wie möglich dafür zu sorgen, dass das Heiligtum Jahwes vor der Entweihung durch sich ausbreitende Unreinheit bewahrt wurde und somit der 145 Während das Verb vdq im Qal den Zustand der Heiligkeit bzw. des Geweihtseins und der Kontaktfähigkeit mit dem Bereich des Göttlichen beschreibt, bezeichnen die Piel- und Hiphil-Formen die kultisch normierte Herstellung dieses Zustands, wobei die Piel-Form stärker die Faktizität akzentuiert und die Hiphil-Form stärker den Vorgang. 146 Natürlich mussten auch allgemeingültige moralische Normen, Werte und Vollkommenheitsideale, Lev 18f.; vgl. Jos Ant 3,279, erfüllt werden, aber sie standen zunächst nicht im Vordergrund. Vgl. hierzu MALINA, Welt, 161: „Die Unreinen und Befleckten können Ganzheit und Vollkommenheit schlicht nicht symbolisch darstellen und somit nicht dem Ideal entsprechen: das vollkommene Individuum in einer vollkommenen Gesellschaft unter einem vollkommenen Gott.“ 147 W ELLS, People, 123: „The priest personifies God’s holiness in human form. He demonstrates what it means to be holy, to belong to God.“ 148 Vgl. Num 1,53; 3,32; 18,5; 2Kön 12,11; Ez 40,45; 44,15; sowie LIU, Purity, 12– 25.

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Raum geschützt wurde, in dem allein die heilsvolle Begegnung zwischen Menschen und dem an diesem Ort gegenwärtigen Gott möglich wurde. Entsprechend entwickelte sich die Priesterschaft zu einer „Expertenkaste“, die über die Kultfähigkeit eines Menschen zu entscheiden hatte. 2.2.5 Der priesterliche Ornat Ein weiteres Element der Statusveränderung, die sich mit dem Dienstantritt des Priesters vollzieht, ist das Ablegen der Alltagskleider und das Anlegen der priesterlichen Gewänder.149 Von Interesse ist an dieser Stelle weniger der königliche Charakter dieser Gewänder (vgl. Ex 28–29.39; Lev 8),150 als vielmehr ihre statusverändernde Funktion.151 Diese kommt in Ex 28,35.43 zum Ausdruck, wo das Tragen der Kleidung auf den priesterlichen Dienst begrenzt wird bzw. auf die Phase zwischen Eintritt in und Austritt aus dem Heiligtum.152 Den Kleidern wird eine Schutzfunktion zugesprochen, insofern sie den Zweck erfüllen, „dass Aaron nicht stirbt“. Diese Schutzfunktion ist jedoch nur eine „Unterfunktion“ des vollzogenen Statuswechsels, der auch mit dem Anlegen des Stirnblatts angezeigt wird, auf dem die Worte hw'hyl: vd,qo anzeigten (Ex 28,26; 39,30), dass der Hohepriester sich nun im Status der Kontakt- und Begegnungfähigkeit mit Jahwe befindet. Indem auf den Schulterstücken des priesterlichen Ephods zwei Onyxsteine mit den eingravierten Namen der Stämme Israels angebracht werden (Ex 28,12.21; 39,6), wird die Repräsentationsfunktion für das Volk angedeutet, die der (Hohe)Priester ebenfalls nur während seines Dienstes im Heiligtum wahrnimmt, weil er nur dann seinen Ornat trägt. Durch das Anlegen des Ornats tritt der Priester ferner in eine Entsprechung und Ähnlichkeit zu Jahwe selbst, insofern die Gewänder in Ex 28,2.40 mit den Begriffen dwObK' und tr,a,p.Ti charakterisiert werden, mit denen in der Regel auch die Theophanie Jahwes beschrieben wird.153 Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch der Stoff des hohepriesterlichen Ornats, der am Yom-Kippur nach Lev 16,4 aus weißem Leinen 149

Vgl. Ex 28,2.4; 31,10; 35,19.21; 39,1.41; Lev 16,4.32. DAVIES, Priesthood, 157f., Sir 45,7f.; Phil Fug 111. 151 DAVIES, Priesthood, 159: „The donning of special clothing is a widely recognized ritual act of transformation, or of gaining rights of access where one might otherwise be denied them“; vgl. AscJes 8,14–15; 9,9. Die göttliche Zuwendung von Heil, Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit und Recht wird häufig mit einer Kleider- bzw. Bekleidungsmetaphorik beschrieben, vgl. Ps 132,9.16; 149,4; 2Chr 6,41; Hi 29,14; Jes 61,10, und auch im Neuen Testament wird ein Status- oder Verhaltenswechsel häufig mit dieser Semantik zum Ausdruck gebracht, vgl. Mt 22,11; 27,31; Lk 15,22; Act 7,57; 12,21; 16,22; Eph 4,22–24; 6,11ff.; Kol 3,12; Apk 3,4f.18 u.ö. 152 Die nach dem Dienst wieder abgelegten Gewänder wurden im Heiligtum aufbewahrt, um nicht außerhalb des Tempels verunreinigt zu werden und umgekehrt nicht das Volk mit dem Heiligen in Berührung zu bringen, vgl. Lev 16,23f.; Ez 44,19. 153 dwObK': Ex 24,16f.; Jes 4,5; Ps 57,6; tr,a,p.Ti: Jes 63,15; Ps 71,8; 96,6; 1Chr 29,11. 150

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bestand (vgl. mYom 3,6) und als Ausdruck der Reinheit, Unbeflecktheit und Integrität verstanden werden muss.154 Exakt dieses Leinengewand ist die charakteristische Bekleidung der Engel, die im himmlischen Heiligtum vor dem himmlischen Thron Gottes dienen.155 Der Hohepriester wird somit in eine Analogie zu den himmlischen Engelwesen eingekleidet, die ihn aus der profanen Wirklichkeit emporhebt in einen heiligen Raum und eine himmlische Sphäre.156 2.2.6 Die räumliche Dimension kultischer Distinktionen Kultisches Denken ist räumliches Denken. Es kreist um die Frage, wie der Mensch, der immer wieder mit unterschiedlichen Formen der Unreinheit behaftet ist, mit dem Raum bzw. Bereich des Heiligen in Berührung kommen kann und damit letztlich Gott selbst begegnen kann. Es geht im kultischen Denken nach W. Strack um ein Zu-Gott-Kommen des Menschen,157 oder wie M. Vahrenhorst es wiederholt formuliert hat, darum, dass der Mensch auf die „Seite Gottes“ bzw. in die „Sphäre des Heiligen“158 gelangt. Folglich ist in der kultischen Sprache immer wieder vom „Nahen“ oder „Herzutreten“ die Rede.159 Entsprechend der Nähe oder Distanz zum Bereich Gottes kennt die atl. Konzeption von Heiligkeit und Reinheit graduelle Unterschiede und Stufen, die ihren Ausdruck erstens hierarchisch an der Distinktion von Hohepriester, Priester, Leviten im qualitativen Gegenüber zu den Laien, zweitens architektonisch in der „konzentrischen“ Anordnung der verschiedenen Vorhöfe und Zugangsbereiche um den Jerusalemer Tempel, drittens kultisch in der Unterscheidung von Opfertieren im Blick auf Eignung, Reinheit und Unversehrtheit (Lev 22,20–25) und viertens temporal in der Unterscheidung profaner und heiliger Zeiten fand. Die Raumvorstellung des kultischen Denkens und die Konzeption quantitativ und qualitativ unterschiedlicher Heiligkeitsgrade und -stufen werden insbesondere an der architektonischen Struktur der gesamten Tempelanla154 Mt 28,3/Mk 16,5/Lk 24,4/Joh 20,12; Mk 9,3/Lk 9,29; Lk 23,11; Act 1,10; 10,30; Apk 3,4f.18; 4,4; 6,11; 7,9.14; 16,15; 19,14. 155 Ez 9,2–3.11; 10,2; Dan 10,5; 12,6f.; äthHen 87,2; 90,22; slHen 22,8–10; Apk 15,6. 156 HARAN, Priestly Image, 215f.: „These garments serve to indicate a kind of dialectical elevation into that sphere which is beyond even the material, contagious holiness characterizing the tabernacle and its accessories.“ 157 STRACK, Terminologie, 319, vgl. auch 402: „Paulus greift mit den kultischen Kategorien das kultische Anliegen selbst auf und kann deutlich machen, daß Gott im Heilsgeschehen in Christus den Immediatverkehr zwischen Gott und Mensch ermöglicht.“ 158 VAHRENHORST, Sprache, 138. 159 Im Hebräischen stehen dafür die Verben brq (nahen, herzutreten), vgn (hinzutreten, sich nähern) und gelegentlich auch awb ([hin]eintreten). Diese und andere Verben werden in der LXX v.a. mit den drei griechischen Verben prose,rcesqai, evggi,zein und eivse,rcesqai wiedergegeben, vgl. →VI.2.5→VII.3.1.

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ge deutlich. Diese bestand aus konzentrisch angeordneten Heiligkeitsbereichen,160 die sich schachtelförmig in rechteckigen bzw. trapezförmigen Vorhöfen um den Tempel herum gruppierten und deren Heiligkeit ausgehend vom Allerheiligsten161 nach außen hin abnahm, bis sie sich im Vorhof der Heiden nahezu verlor und außerhalb des Landes Israel völlig abwesend war.162 Die Ambivalenz dieser Konzeption ist evident: Je weiter ein Mensch in das Innere des Tempels vordringt, desto mehr nähert er sich der 160

Bereits in Ex 19,12 ist im Kontext der Sinaiperikope von einem umgrenzten, heiligen Raum die Rede, den das Volk bei Todesgefahr zu beachten hat und nicht betreten darf. In der Beschreibung des Wüstenheiligtums in Num 1,52–2,31 wird diese konzentrische Ordnung verschiedener Heiligkeitsgrade ebenfalls sichtbar. Auch in der Tempelkonzeption Ezechiels wird in Ez 42,20 eine Tempelmauer beschrieben, welche die Funktion hat, das Heilige vom Profanen zu unterscheiden; vgl. auch Num 18,22f. In mKel 1,6–9 werden später zehn Grade des Heiligen unterschieden, angefangen von der niedrigsten Heiligkeitsstufe des (1) Landes Israel, das heiliger ist als alle übrigen Länder, über (2) die ummauerten Städte, (3) die Stadt Jerusalem, (4) den Tempelberg, (5) den Rundgang um den Tempel, (6) den Vorhof der Frauen, (7) den Vorhof der Israeliten, (8) den Vorhof der Priester, (9) dem Tempelvorplatz zwischen Vorhalle und Altar, (10) dem Tempelhaus bis zu dem Allerheiligsten. Die in Qumran gefundene Tempelrolle kennt sogar elf verschiedene Heiligkeitsstufen, vgl. MAIER, The Temple Scroll, 5f. Vgl. zum Ganzen P.P. J ENSON, Graded Holiness. 161 W ILLI-P LEIN, Opfer, 51: „Der Kultort ist einerseits der Ort, an dem sich Heiliges realisieren und erleben läßt, andererseits auch eine Konzentration des Heiligen, der Sphäre der Heiligkeit, die sich dann im ‚Heiligen des Heiligen‘, d.h. dem Allerheiligsten, zum äußersten verdichtet.“ 162 Vgl. hierzu ausführlich GUSSMANN, Priesterverständnis, 134–149, mitsamt einem tabellarischen Vergleich der Heiligkeitsbereiche und Zutrittsgrenzen in der Tempelrolle, bei Josephus und den Tannaiten; eine kurze Beschreibung der geschichtlichen Entwicklung dieser theologisch-architektonischen Konzeption findet sich a.a.O., 139ff. Die vier Tempelhöfe der Heiden, der Frauen, der Männer und der Priester und das allein dem Hohepriester einmal jährlich zugängliche Allerheiligste des Tempels symbolisieren abgestufte Heiligkeitsbezirke, deren Heiligkeitsgrad (und mit ihm die Zugangsvoraussetzungen und das topographische Höhenniveau) nach innen hin in dem Maße zunimmt, wie die Öffentlichkeit abnimmt. Die theologische Konzeption abgestufter Heiligkeit bestimmt auch die ezechielische Tempelvision in Ez 40,1–43,12, vgl. ALBERTZ, Religionsgeschichte II, 449: „Sie [sc. die gewaltigen Toranlagen in der Tempelbaukonzeption Ezechiels] sind nur aus dem theologischen Programm der Priestergruppe erklärbar, den Zugang zum heiligen Tempelbezirk im allgemeinen und den Zugang zum inneren Bezirk, wo die heiligen Handlungen vollzogen werden, unter allen Umständen – möglicherweise auch ohne staatliche Hilfe – für die Priesterschaft absolut kontrollierbar zu machen. Niemals mehr sollte ein Unberechtigter bis zum Ort der heiligen Handlungen vordringen und in den priesterlichen Aufgabenbereich eingreifen können.“ Begrifflich wird die graduelle Differenzierung verschiedener Heiligkeitsstufen und -bereiche durch den Ausdruck des „Hochheiligen“ (~yvid'Q\h; vd,qo) markiert, mit dem z.B. das Allerheiligste des Tempels, 1Kön 6,16; 7,50; 8,6; Ez 41,4; 2Chr 3,8.10; 4,22; 5,7; Ex 26,33f., aber auch der gesamte Tempelbereich, Num 18,10; Ez 43,12; 45,3; 48,12; Dan 9,24, der Brandopferaltar, Ex 29,37; 40,10 oder der Räucheraltar, Ex 30,10, bezeichnet werden können.

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Gegenwart Gottes, umso größer wird aber auch die Gefahr einer illegitimen und zerstörerisch wirkenden Begegnung mit dem Heiligen und damit letztlich mit Gott selbst und umso höher muss deshalb der Grad seiner kultisch hergestellten Integrität und Gottähnlichkeit sein. Diese architektonische Konzeption bildet in der Folge die theologisch-hierarchische Untergliederung der jüdischen Gesellschaft in Priester, Leviten, Israeliten (im Sinne der übrigen Stämme Israels) und Nicht-Juden nicht nur ab, sondern konstituiert sie auch immer wieder. Denn die Nähe, in die ein Mensch im nachexilischen Judentum zum Allerheiligsten vordringen durfte, bestimmte auch wesentlich sein Sozialprestige.163 Eine Durchlässigkeit zwischen den Gruppen war nicht gegeben, vielmehr war die jeweilige Gruppenzugehörigkeit genealogisch vorgegeben.

2.2.7 Ergebnis In einer kultisch strukturierten Welt ist dem Menschen die heilvolle und gefahrlose Begegnung mit Jahwe und seiner Heiligkeit ebenfalls nur im Status der Heiligkeit möglich. „Heilig“ ist in diesem Zusammenhang als „Kontakt- und Begegnungsfähigkeit mit und Zugehörigkeit zum (Raum des) Heiligen“ zu deuten. Die israelitischen und jüdischen Priester waren für diesen Kontakt mit Jahwe im Raum des Heiligen zum einen durch ihre Abstammung, körperliche Unversehrtheit und durch ein korrektes Eheverhältnis qualifiziert, zum anderen aber auch durch ihren kultisch hergestellten Status der Integrität vor und Analogie zu Gott. Zur Herstellung dieses Status mussten sie sich regelmäßig einem kultisch bestimmten Vorgang der Heiligung bzw. des „Sich-heiligens“ unterziehen, indem sie sich durch klar vorgeschriebene Rituale, Waschungen und/oder Opfer sowie durch das Anlegen des statusverändernden Ornats in einen zeitlich befristeten Status der Heiligkeit versetzten. Durch diesen Vorgang der Heiligung bzw. des Sich-Heiligens erlangten die Priester einen Zustand der zeitlich befristeten Integrität vor und Ähnlichkeit mit Gott bzw. der „Gottgemäßheit“, der sie legitimierte „sich Jahwe zu nahen“ und ihm im heiligen Bereich seiner Präsenz kultisch zu dienen. Im Status der Heiligkeit waren die Priester ein Repräsentationsmodell dessen, was ganz Israel im Blick auf seine Heiligkeit vor Gott sein sollte (Lev 11,44f.; 19,2). Ihr Dienst im Raum des Heiligen, kam dem Eintritt in die himmlische Welt gleich: „The priest belongs in two worlds. While his everyday life he is among his fellow Is-

163 Das rabbinische Judentum unterschied bis zu 14 verschiedene Reinheits- und Heiligkeitsstufen, vgl. mQid 4,1; mHor 3,8; tRH 4,1 und tMeg 2,7, sowie J EREMIAS, Jerusalem, 166–251.304–308. Diese reichen von 1. den Priestern, über 2. die Leviten, 3. die Israeliten („Laien“), über 5. Proselyten und 10./11. Eunuchen bis zu 14. Heiden im Sinne von Nichtjuden am Ende der Heiligkeitsskala.

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raelites, when he dons his vestments and crosses the threshold he becomes participant in the heavenly or ideal world.“164 2.3 Die Funktionen des priesterlichen Dienstes Nach dem bisher Ausgeführten wird deutlich, warum die Darstellung der priesterlichen Funktionen am Ende und nicht – wie üblich – am Anfang dieses Abschnitts ihren Ort bekommt, denn eine lediglich phänomenologische Beschreibung würde der Bedeutung der einzelnen Funktionen kaum gerecht. Vielmehr werden alle priesterlichen Funktionen erst vom Charakter des priesterlichen Seins und vom Status der (zeitlich befristeten) Integrität und Gottesähnlichkeit her begreifbar. Sowohl das mediatorische, das Heiligtum bewahrende, den Gotteswillen interpretierende und richtende Handeln eines Priesters geschieht im Horizont dieser Integrität und Gottähnlichkeit. Der Priester ist aus der Gemeinschaft des Volkes herausgehoben und erlangt durch den Vorgang der Heiligung, der Anlegung des priesterlichen Ornats und dem Eintritt in den heiligen Raum ein integres und gottähnliches Sein, das den im Folgenden beschriebenen Handlungen erst ihr Legitimität und Gültigkeit verleiht. Der Alltag des priesterlichen Dienstes in jener Epoche lässt sich schnell und schlicht beschreiben und unterlag während der knapp sechs Jahrhunderte zwischen dem Bau des zweiten Tempels und dem Jahr 70 n.Chr. kaum großen Veränderungen:165 Nach dem morgendlichen kultischen Reinigungsbad wurden die verschiedenen Arbeiten und Dienste, die im Tempel zu erledigen waren, ausgelost. Dazu gehört die Reinigung des Brandopferaltars von der Asche, das Schlachten von Opfertieren, die Zubereitung von Getreide- und Weinopfern, die Holzbeschaffung für das Altarfeuer, das Auflegen der Opferstücke auf den Altar, das Räucheropfer, die Acht auf den siebenarmigen Leuchter im Tem-

164 DAVIES, Priesthood, 164; vgl. auch a.a.O., 168: „The priesthood and tabernacle constitute a constant reminder of the goal and prospect of holiness and acceptability to God.“ DAVIES, a.a.O., 165, geht in seiner Deutung noch einen Schritt weiter uns vermutet im priesterlichen Dienst im Raum des Heiligtums die Restitution der paradiesischen Welt und einer erneuerten Menschheit: „Here is the prospect of Eden restored, and a restored humanity to dwell in it in security and in harmony with God and with the world around them“, ähnlich a.a.O., 239f., und CHEUNG, Priest, 268: „A logical extension of this idea is to see the priest as the restorer of creation as well as the restored creation.“ So stimmig und naheliegend diese Schlussfolgerung auch erscheint, so sehr mahnen die Texte selbst zur Zurückhaltung. Wir haben keinen expliziten Hinweis in den Texten selbst, dass das kultische System als eine Restitution des Paradieses verstanden wurde; vgl. dazu auch die Diskussion in →III.2.1.5. Dass es sich um eine mögliche Deutung handelt, kann freilich kaum bestritten werden. Den Texten noch fremde Kategorien trägt dagegen CHEUNG, Priest, 265f., ein, wenn er den/die Priester „as the redeemed (ideal) man“ bzw. als „the eschatological and ideal Israel that finds its supreme expression in Jesus Christ“ bezeichnet. Hier wird der Priester zu sehr aus ntl. Perspektive interpretiert. 165 Eine ausführliche Beschreibung des priesterlichen Dienstes im Tempel in den letzten zwei Jahrhunderten vor dem Jüdischen Krieg gibt SANDERS, Judaism, 77–92.

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pel usw.166 Von herausragender Bedeutung war das tägliche Tamidopfer am Morgen und am Abend, das in frühjüdischer Zeit das zentrale und bedeutendste kultische Sühneopfer war.

2.3.1 Der Priester als Mittler Der zentrale priesterliche Aufgabenschwerpunkt war – spätestens in der nachexilischen Zeit – das Opfer.167 Dies ist freilich ein Urteil, das sich nicht auf eine Belegstelle in einer bestimmte Quelle berufen kann, sondern sich vielmehr aus der Vielzahl der Bestimmungen und Zeugnisse zu den Opfern nahe legt. Wie in der gesamten paganen Literatur der archaischen und antiken Welt, so findet sich auch weder im Alten Testament noch in der frühjüdischen Literatur eine explizite Reflexion über den Sinn und die Notwendigkeit von Opfern.168 Ausgangspunkt aller Deutungen bleibt die Tatsache, dass die Menschen der antiken Welt über kulturelle und ethnische Grenzen hinweg das Wissen 166

Vgl. HENGEL, Jesus, 158f. Die zentrale Bedeutung der Mittlerfunktion für das atl. Priestertum ist allgemein anerkannt und wird auch in der Forschung nicht in Frage gestellt, vgl. HERMISSON, Sprache, 102: „Man wird den Sinn des Priesteramtes Israels ganz allgemein in der Mittlerstellung zu sehen haben, die es zwischen Gott und den Völkern einnimmt“, und auch DOMMERSHAUSEN, Art. kohen, 73: „Die verschiedenen priesterlichen Aufgaben haben als gemeinsamen Grund die Mittlerfunktion: Der Priester vertritt durch Orakel und Unterweisung Gott vor den Menschen, durch das Opfer und die Fürbitte die Menschen vor Gott.“ Zur Bedeutung und Funktion der Opfer siehe KLAUCK, Umwelt I., 27–37.45–49; MARX, Art. Opfer, 572–576; GERLITZ/SEEBASS/STEMBERGER, Art. Opfer I–III, 253–270, v.a. 264; HAHN, Art. Opfer, 877–887; P AUS/SEDLMAIER, Art. Opfer I–II, 1061–1065; SEIWERT, Art. Opfer, 268–284; HENNINGER/CARRASCO, Art. Sacrifice, 7997–8010; SANDERS, Judaism, 103–118.251–257; SCHÜRER /VERMES, History II, 292–308. 168 Die grundlegende atl. Kategorie ist die Sühnewirkung des Opfers, wie sie am ausführlichsten im Ritual des großen Versöhnungstages, Lev 16, beschrieben, aber leider kaum gedeutet wird, vgl. dazu GESE, Sühne, und SCHMID, Möglichkeit. In der religionsgeschichtlichen Forschung lassen sich in der Gegenwart mehr als ein halbes Dutzend Opfertheorien unterscheiden: (1) Die Gabentheorie (HUBERT, MAUSS, T YLOR) versteht das Opfer als Geschenkgabe (dw/ron) an die Gottheit, um ihren Zorn zu beschwichtigen, um ihr zu danken (W. SCHMIDT) oder um ihre Macht zugunsten des Opfernden einzusetzen (VAN DER LEEUW). (2) Die Kommunionsopfertheorie (SMITH) sieht im Opfer die Stiftung einer Tischgemeinschaft zwischen den Opfernden und der Gottheit, die beim Verspeisen des geopferten Tieres realisiert wird. (3) Die von der Psychoanalyse inspirierte Aggressionstheorie (S. FREUD, R. GIRARD) versteht das Opfer als „Sündenbock“, dem in einem Ritual die Aggression einer Gesellschaft stellvertretend übertragen wird, damit sie sich nicht zwischenmenschlich äußert. (4) Die stammesgeschichtliche Theorie (K. MEULI, W. B URKERT) erblickt hinter dem Opfer einen archaischen Schlachtritus, durch den die menschlichen Schuldgefühle beim Tod eines zum Verzehr benötigten Tieres gemildert werden sollen. (5) Die Passagetheorien (VAN GENNEPP, MARX) sehen im Opfer einen Trennungsritus. (6) Die Heiligungstheorie (MALINA) begreift das Opfer als einen Prozess, in dem etwas für einen anderen heilig gemacht wird. 167

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um die Notwendigkeit einer mittlerischen Stellvertretung vor Gott bzw. den Gottheiten vereinte. Leben vor und mit Gott bzw. den Göttern war nur möglich durch die regelmäßige Darbringung einer Opfergabe.169 Um die korrekte Opferdarbringung und damit letztlich auch die göttliche Annahme des Opfers zu gewährleisten, brauchte man in allen Kulturen früher oder später einen Stand kultischer Experten.170 Im Horizont des bisher Ausgeführten wird deutlich, warum diese mittlerische Aufgabe in Israel nur von einem Menschen übernommen werden konnte, der in einem besonderen Status vor Gott steht. Nur wenn das Opfer von einem mittlerischen „Wesen“ dargebracht wird, das sich selbst – wenigstens befristet – im Status der Integrität und Gottähnlichkeit befindet und damit auch ontologisch in der Mitte zwischen Gott und dem Volk steht, kann mit dem „Wohlgefallen“ Gottes gerechnet werden. Dabei wird das eigentliche Opfer – abgesehen vom Vogelopfer – nicht vom Priester selbst getötet und geschlachtet wird.171 Die priesterliche Aufgabe beginnt genau genommen erst mit der Manipulation des Blutes, das um den Brandopferaltar gesprengt172 bzw. an den Hörnern des Brandopferaltars aufgetragen und am Fuße desselben ausgegossen wird.173 Weiter hat der Priester die zum Verbrennen auf dem Altar bestimmten Opferteile zum Altar zu bringen und dafür zu sorgen, dass das Feuer auf dem Altar nicht erlischt.174 Es sind letztlich sehr spezielle Kenntnisse im Umgang mit den einzelnen Opfern und ihrem Blut am Altar, die zum innersten Kern des mittlerischen Dienstes gehörten. Schließlich muss auch noch das Segnen des Volkes im Namen Jahwes zu den mediatorischen Funktionen des priesterlichen Amtes gezählt werden.175 Der Segen wurde stets nach dem täglichen Opfer und an den Festtagen vom Priester bzw. Hohepriester dem Volk zugesprochen. Dabei erhob der Priester auf einem speziellen Podium stehend die Hände über das 169 Dieser Bereich priesterlicher Zuständigkeit ist ständig gewachsen. Das Schlachten der Opfertiere blieb auch weiterhin den Opfernden selbst vorbehalten. Die Priester sprengten lediglich das Blut um den Brandopferaltar oder gossen es an seinen Fuß (Lev 1–3). 170 Dies kommt auch im Alten Testament u.a. in einem so alten Text wie der Bestellung eines jungen Leviten zum Privatpriester Michas des Ephraimiters zum Ausdruck, Ri 17. Die Anstellung des jungen Priesters verbindet der „Anstellungsträger“ mit der Hoffnung, „dass mir der HERR wohl tun wird, weil ich einen Leviten zum Priester habe“, Ri 17,13. 171 Vgl. Lev 1,5–9.11–13; 3,2–5.8–11.13–16. 172 Lev 1,5.11; 3,2.8.13; 7,2. 173 Lev 4,25.30.34; 8,15; 9,9. 174 Es gibt eine Fülle weiterer Sonderbestimmungen für den Umgang mit den einzelnen Opferarten und für priesterliche Aufgaben im Heiligtum, die hier nicht aufgezählt werden können, vgl. dazu DOMMERSHAUSEN, Art. kohen, 72f. 175 Dtn 10,8; 21,5; 1Chr 23,13 u.v.a. Num 6,22–27.

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Volk und evozierte den Segen auf die versammelte Gemeinde.176 Die Vollmacht zu dieser Handlung gründet wieder in seinem Status: Als der integre, ideale und gottähnliche Mensch besitzt einzig er die Legitimation zu dieser Segensvermittlung. 2.3.2 Der Priester als Hüter und Ausleger des Gotteswillens W. Zimmerli beschreibt den Priesterdienst in seiner Grundfunktion als einen „Dienst in der Hut der Grenzen am Orte der göttlichen Präsenz“.177 Dieser Dienst umfasst nicht nur den korrekten Vollzug des Opfers, sondern auch die Belehrung des Volkes über den Umgang mit dem Heiligen. Gemäß dem Levisegen in Dtn 33,8–11 haben die Leviten den Auftrag Israel/Jakob die Rechtsordnungen Jahwes zu lehren (vgl. Dtn 31,9–13).178 Die darin enthaltene kultische Toraerteilung bezieht sich vorrangig auf die Unterscheidung zwischen Reinem und Unreinem, Heiligem und Profanem (Lev 10,10; vgl. auch Ez 44,23 mit 22,26; Hag 2,11ff.).179 Dies gilt im Besonderen für den Bereich der Speise, wo es Erlaubtes und Reines bzw. Unerlaubtes und Unreines gibt. „Der Priester ist der Wissende und Hüter dieser Grenzen, der den Menschen etwa über die ‚Satzungen des Lebens’ (Ez 33,15), die von dem, der das Heilige betritt, beachtet sein wollen, belehrt.“180 Es versteht sich von selbst, dass diese Sachkompetenz im Blick auf die Anforderungen an bestimmte Opferarten, sowie die Beachtung und Wiederherstellung181 kultischer Reinheit, eine gründliche Ausbildung, Schulung und Traditionspflege erforderte, jedoch auch gleichzeitig eine erhebliche Macht verlieh.182 In ntl. Zeit waren v.a. die Jerusalemer Priester

176 Vgl. Lev 9,22–24; Sir 50,19–22; mTaan 4,1; mTam 5,1; 7,2; 1QS 2,2–18. Zum Priestersegen vgl. auch SCHÜRER/VERMES, History II, 306f.453f.; HECKEL, Segen, 79– 87, mit entsprechender Literatur. 177 ZIMMERLI, Theologie, 84. 178 Vgl. auch Jes 2,3 [= Mi 4,2]; Mal 2,6–9; 2Chr 5,3; 17,8f. Entsprechend halten in der sog. Einzugsliturgie die Priester den Pilgern die Gebote vor, Ps 15; 24,3–5, und erfüllen so im Stile einer katechetischen Volksbefragung ihre volkspädagogische Pflicht. 179 REVENTLOW, Art. Priester, 387: „Priester [...] erlassen Bescheide über die Rechtmäßigkeit bestimmter Opferarten, über Reinheit und Unversehrtheit der dabei verwandten Tiere, über Rituale, über Bedeutung und Anlässe der Opfer usw.“; vgl. auch OTTO, Art. Priestertum, 1648. 180 ZIMMERLI, Theologie, 82; vgl. hierzu Num 1,53; 3,28.32, sowie Am 7,10–17; Jer 20,1f.; 29,26. 181 Vgl. Lev 15,28; Num 6,9. 182 Die Bedeutung dieser Kompetenz spiegelt auch 2Kön 17,27 wider. Demnach sandte der assyrische König (Salmanasser V.?) einen Priester ins Nordreich zurück, um die dort neu angesiedelte Bevölkerung die dem „regionalen Landesgott“ gemäße Gottesverehrung zu lehren.

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mit Lehraufgaben betraut, da sie aufgrund der Vollversorgung durch Priesteranteile und Tempelabgaben Zeit zum Studium hatten.183 So hatten die Priester unterstützt durch die Leviten die Aufgabe, den heiligen Bereich der Präsenz Gottes vor Verunreinigung und der dadurch drohenden Entheiligung zu bewahren und zu schützen.184 Legitimiert und prädestiniert war er dazu wiederum durch den besagten Statuswechsel. Durch die Heiligung, das Anlegen des Ornats und den Eintritt in das Heiligtum wurde der Priester ein Teil dieses Heiligtums und unterschied sich nunmehr vom Rest des Volkes. Nur auf diesem Hintergrund konnte er diese Aufgabe wahrnehmen ohne dabei selbst Schaden zu erleiden. Die volkspädagogische Lehraufgabe der Priester kann aus dieser Perspektive als eine Art Unterfunktion seines Schutz- und Bewahrungsauftrags für das Heiligtum betrachtet werden. Denn die kultische und ethische Unterweisung der Pilger und Tempelbesucher185 war für den Schutz des Heiligtums vor Verunreinigung und umgekehrt den Schutz der Pilger vor der Gefährdung durch einen kultisch illegitimen Zutritt zum Raum des Heiligen von großer Bedeutung. Darüber hinaus war der Priester auch für die Deutung des Gotteswillens für den Einzelnen, eine Gruppe oder das ganze Volk zuständig.186 Als idealer und integrer Mensch, der regelmäßig im Nahbereich der Präsenz Gottes dient, war er am ehesten dafür geeignet, den Willen Gottes kund zu tun bzw. diesen für die unterschiedlichsten Lebenssituationen zu interpretieren. Eine der ältesten Formen dieser Willensdeutung war das binäre priesterliche Losorakel.187 In vorexilischer Zeit wurde vor militärischen Aktivitäten auf eine Alternativfrage hin mit Hilfe einer sakralen Technik das Los geworfen und das Ergebnis als Gottesentscheid verstanden (vgl. Dtn 33,8; Ri 18,5; 1Sam 23,2; 30,7f. etc.).188 Durch ein Losorakel konnte auch ein unbekannter Schuldiger ermittelt werden (vgl. Jos 7,10–26; 1Sam 14,36– 183

Prominentes Beispiel eines „studierten“ Priesters ist Josephus, Bell 3,352; 5,375– 394, der seine Schriftgelehrtheit mit seinem Priestersein begründet, Bell 3,352; Ap 1,54. 184 Num 1,53; 3,32; 18,5. 185 Jer 2,8; Hos 4,4–6; 8,12; Mi 3,11; Jer 18,18; vgl. Ez 7,26. 186 2Chr 15,3; Neh 8,2f.13.18; Dtn 31,9–13.24–26; 33,10; Sach 7,3; Mal 2,6–8; TestLev 13,1–5. Die Toraerteilung ging in nachexilisch-frühjüdischer Zeit mehr und mehr in den Kompetenzbereich der Leviten über: Neh 8,7f.; 2Chr 17,7–9; 35,3. Dagegen übergeht Josephus, Ant 8,395, die Leviten bewusst und gesteht den Unterweisungsauftrag allein den Priestern zu; vgl. Ant 4,304. In ntl. Zeit haben sich dagegen v.a. die Pharisäer um die Toraunterweisung v.a. der Landbevölkerung gekümmert. 187 Vgl. REVENTLOW, Art. Priester, 386; OTTO, Art. Priestertum, 1647; DOMMERSHAUSEN, Art. kohen, 69f. 188 Dass auch der priesterliche Ephod und die Teraphim als (illegitime?) Orakelinstrumente benutzt wurden, vgl. Ri 17,5; Hos 3,4, wie DOMMERSHAUSEN, Art. kohen, 70, behauptet, lässt sich nur in 1Sam 23,9–12 deutlich belegen.

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42; Ex 22,6–14).189 Jedoch scheinen die Lose Urim und Tummim spätestens in nachexilischer Zeit außer Gebrauch gekommen zu sein (Esr 2,63/Neh 7,65).190 An ihre Stelle trat nun die Schriftauslegung. Schon sehr früh gehörte gemäß der prophetischen Überlieferung die Toraerteilung zu den priesterlichen Funktionen. Es ging dabei v.a. um die kultische aber auch ethische Unterweisung Israels im offenbarten Gotteswillen.191 Hosea wirft in Hos 4,4ff. den zeitgenössischen Priestern – der Singular ist generisch zu verstehen – vor, dass sie ihre ethische Lehr- und Volksbildungsaufgaben vernachlässigen, und in Hos 8,12 klagt er sie der Missachtung der geschriebenen trowOT an. In ähnlicher Weise hält der Südreichprophet Micha der Jerusalemer Priesterschaft vor, dass sie sich für die Toraerteilung entlohnen lässt, obwohl sie doch gerade für diesen Auftrag angestellt ist (Mi 3,11). Auch Jeremia behaftet die Priester bei ihrer Bildungsaufgabe und klagt sie der bewussten Missachtung ihres „Hirten“auftrages an (Jer 2,8). Die Dramatik dieser Klagen wird freilich erst wahrnehmbar, wenn die Alternativlosigkeit der priesterlichen Unterweisung begriffen wird. Weil eben nur die Priester jenen Status der Integrität, Gottesnähe und -ähnlichkeit erlangen konnten, der die Grundlage für eine gültige Toraerteilung war, konnte ihr Dienst prinzipiell nicht substituiert oder delegiert werden. Da im Alten Testament wie in der gesamten antiken Welt kultischrituelle Reinheit/Unreinheit und physische Gesundheit/Krankheit als miteinander verwobene Phänomene der einen Wirklichkeit angesehen wurden, war es konsequent, dass Priester sowohl als Experten für Fragen ritueller (Un)Reinheit als auch für Fragen von Gesundheit und Krankheit angesehen wurden. Weil sie befugt waren, Urteile über unrein machende körperliche Zustände und Krankheiten abzugeben, übten sie wahrscheinlich auch ärzt189

Verwandt mit solchen Gottesentscheiden sind die Ordnungen für Ordale, mit deren Hilfe die Schuld oder Unschuld einer des Ehebruchs angeklagten Frau ermittelt wurde, vgl. Num 5,11–31. 190 Vgl. ZIMMERLI, Theologie, 82: „Esr 2,63 scheint darauf zu deuten, dass die nachexilische Zeit nicht mehr die Vollmacht zu haben glaubte, diese Form der Gottesbefragung zu üben.“ DOMMERSHAUSEN, Art. kohen, 70, nimmt das Verschwinden des Losorakels bereits für die Epoche vor dem ersten Tempel an. Er weist darauf hin, dass die Könige Ahab und Josaphat in ähnlichen Situationen kein Losorakel vollzogen, sondern den Bescheid eines „Sehers“ oder Propheten einholten, 1Kön 20,13f.; 22,6; 2Kön 3,11. Dagegen verweist GUSSMANN, Priesterverständnis, 43f.301, auf Jos Ant 3,217f.; 11,111– 113, wonach die Lose erst unter dem Hasmonäer Alexander Jannai abgeschafft worden seien. In Qumran, vgl. 4Q418 81,5, konnte das Los im Anschluss an Jes 34,17 und Ps 16,5 eine metaphorische Bedeutung für Gottes determinierendes Handeln bekommen, vgl. dazu A. LANGE, Determination. 191 Wenn im Rahmen des Motivs von der Völkerwallfahrt zum Zion, Jes 2,2–5; Mi 4,1–5, vom „Lehren der Wege“ und vom „Ausgang der Tora“, Jes 2,3; Mi 4,2, die Rede ist, dann handelt es sich auch hier um die priesterliche Unterweisung.

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liche Funktionen aus.192 Auch diese Funktion muss im Zusammenhang mit dem Status der Integrität und Idealität verstanden werden. Wer anders als der Priester als Modell des integren und idealen Menschen kann anderen den Weg zur Wiederherstellung der körperlichen Integrität, Ganzheit, Vollkommenheit und somit Gesundheit weisen? 2.3.3 Der Priester als Rechtspfleger Von der Auslegung des aktuellen Gotteswillens über die Toraerteilung bezüglich „heilig/profan“ und „rein/unrein“ und der Schriftauslegung in späterer Zeit ist es nicht mehr weit zur Mitwirkung an der Rechtspflege.193 Die genauen Kompetenzen, die Priestern und Leviten in diesem Kontext übertragen wurden, lassen sich nicht mehr im Detail klären. Deutlich ist jedoch, dass z.B. bei den am Heiligtum als Appellationsinstanz durchgeführten Gerichtsverfahren bezüglich Delikten wie Blutvergießen, Streitangelegenheiten und Körperverletzung die „levitischen Priester“ und der Richter zusammenwirkten (Dtn 17,8–13; 21,5). Zum priesterlichrichterlichen Kompetenzbereich gehörten auch die Erstellung von Reinheitsgutachten hinsichtlich der Kultfähigkeit eines Priesters (mMid 5,4) und im weiteren Sinne auch die insbesondere für den Tempelkult wichtigen Entscheidungen in Kalenderfragen und die Terminfestsetzungen für die Wallfahrtsfeste. Nach 2Chr 19,8 zog Josaphat Priester, Leviten und Familienoberhäupter als Richter in Rechts- und Streitangelegenheiten heran und Philo hält Priester aufgrund ihres „scharfsinnigen Geistes“ für das Richteramt für besonders geeignet.194 Auch Josephus sieht in der Rechtsprechung aufgrund der hierfür nötigen Toraautorität eine genuin priesterliche Aufgabe (Ap 2,184–187.194). Im Hintergrund steht auch hier nicht nur die Erwartung, dass die Priester über die größten Kenntnisse in den Rechtstraditionen verfügen, sondern das Wissen, dass nur der mit dem Status der Integrität, Idealität und Gottesähnlichkeit versehene Mensch am ehesten in der Lage ist, über Recht und Gerechtigkeit zu richten. 2.4 Ergebnis Das priesterliche Amt wurde getragen von einem religiösen Status, wonach dem Priester durch ein Verfahren der Heiligung bzw. des Sich-Heiligens 192 REVENTLOW, Art. Priester, 387; vgl. Lev 13,49f.; 14,2–32; Dtn 24,8; CD 13,5–7; Mk 1,44par; Lk 17,14; Philo Imm 131f. 193 Dtn 17,8–13; 19,17; 21,5; Ez 44,23f.; 1Chr 23,4; 2Chr 19,5–11; Sir 45,17; TestRub 6,7–12. Die kultische Rechtspflege scheint nach 1Sam 12,25 an den zahlreichen Orts(Höhen-)Heiligtümern zu Hause gewesen zu sein und hat sich möglicherweise aus dem Orakelwesen heraus entwickelt. 194 SpecLeg 4,190f.; vgl. Det 132; Imm 134; Mos 2,214–216.

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für die befristete Dauer seines Dienstes der Status eines idealen, integren und gottähnlichen Menschen verliehen wird, der aufgrund seiner als Kontakt-, Begegnungs- und Gemeinschaftsfähigkeit mit Gott verstandenen Heiligkeit legitimiert ist, sich der Gegenwart Gottes zu nahen, ihm zu dienen und mit ihm in räumlischer Gemeinschaft zu sein. Somit bewegte sich der Priester letztlich in zwei Welten: Während seines alltäglichen Lebens ist er ein Israelit unter anderen, während seiner Dienstzeit und eingekleidet in seinen priesterlichen Ornat wird er ein Mitglied der himmlischen, idealen Welt. Dieser „himmlische“ Status versetzt ihn erst in die Lage, für die irdische Welt mediatorisch, interzessorich, interpretierend und richtend tätig zu werden. So wird der Priester im Zuge der kultischen Heiligung und Einkleidung zum idealen Menschen am idealen Ort195 und hat in Stellvertretung für das Volk ein im Höchstmaß gottgemäßes Leben zu führen. Dieses hatte nicht nur eine ethische, sondern v.a. eine kultische Dimension: Sein gesamtes Sein, Wissen und Handeln sollte während des Dienstes auf den toragemäßen Kultvollzug und die korrekte Unterscheidung von Reinem und Unreinem, Heiligen und Profanen ausgerichtet sein. Auch die Prüfung der genealogischen Abstammungsverhältnisse sowohl beim Priester selbst als auch bei der Wahl seiner Ehefrau, die Qualifikation der körperlichen Unversehrtheit und auch das Wissen und die daraus erwachsende Weisheit des Priesters müssen als Teil jenes Vollkommenheitsideals verstanden werden, mit dem sich junge Priesterkandidaten konfrontiert sahen und die ihre Gottähnlichkeit gewährleisten sollte. Von diesem Status her erschließen sich auch die Funktionen des priesterlichen Amtes. Wie in der paganen Umwelt waren auch die isralitischjüdischen Priester aufgrund der ihnen verliehenen bzw. immer wieder hergestellten Identität zunächst und vor allem Repräsentanten des Volkes vor Gott und gleichzeitig die Repräsentanten Gottes vor dem Volk. Wenn der Priester in die Präsenz Jahwes tritt, tut er dies in Repräsentation Israels: „When the priest enters the divine presence in the sanctuary, the community enters through him. He exists and functions within the cult, then, to hold up the ideal and affirm the prospect to Israel of a royal and priestly dignity which is in principle the possession of the whole community.“196 Dieser repräsentative und mediatorische Dienst am Opferalter war von höchster Bedeutung für das Wohl und Wehe des Volkes. Am rechten Nahen zu und Stehen vor Jahwe und der ordnungs- bzw. toragemäßen Darbringung der Opfer und der Korrektheit der priesterlichen Ordale und Weisungen entschied sich, ob Gott ein Opfer wohlgefällig war und seine sühnende und 195

Vgl. DAVIES, Priesthood, 164. DAVIES, Priesthood, 166; vgl. auch a.a.O., 167: „Aaron and his sons are representational models of what Israel's holiness in relation to God should be.“ 196

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heilstiftende Wirkung entfalten konnte oder nicht. Insofern war es faktisch weniger das politische oder militärische Geschick des Königs als vielmehr und zuerst das korrekte Sein, Wissen und Handeln der amtierenden Priester, von denen Israels Sein und Zukunft abhing. Nur vor diesem Hintergrund wird die wachsende Kritik am priesterlichen Dienst verständlich, die bereits in vorexilischer Zeit hörbar wird und sich dann in nachexilischer und frühjüdischer Zeit zu einem breiten und vielstimmigen Chor erhob.

3 Die Kritik der priesterlichen Kultpraxis 3 Die Kritik der priesterlichen Kultpraxis

In der kanonischen Darstellung des Pentateuch kommt es bereits zu einem frühen Zeitpunkt zu einem Konflikt über den besonderen Status des aaronidischen Priestertums. In der Erzählung über die Rebellion Korachs (Num 16,1–17,15) wird aus der Mitte der Leviten Kritik an den mit der besonderen Heiligkeit Aarons und seiner Söhne verbundenen Privilegien laut. Bemerkenswert daran ist vor allem Korachs Begründung: „Genug mit euch! Denn die ganze Gemeinde, sie alle sind heilig, und Jahwe ist in ihrer Mitte. Warum erhebt ihr euch über die Gemeinde Jahwes?“ (Num 16,3)197

Der Verweis auf die egalitäre Heiligkeit aller Israeliten kann sich im kanonischen Kontext nur auf die Exodusformel in Ex 19,5f. beziehen. Hier wird zum ersten und in der Geschichte des Judentums, soweit wir wissen, auch zum einzigen Mal aus der Exodusformel eine kultische Gleichstellung aller Israeliten abgeleitet. Zwar wird nicht das Priestertum an sich abgelehnt, sehr wohl aber die starke Abstufung und Hierarchisierung der aaronidischen Familie gegenüber den Leviten und dem Rest des Volkes.198 Während der Aufstand in Num 16f. in der Bestätigung des aaronidischen Priestertums und der gewaltsamen Niederschlagung der levitischen Ansprüche ein brutales Ende findet, bleibt die Kritik am Priestertum ein konstanter Begleiter dieser Institution über die Jahrhunderte. In vorexilischer Zeit wird diese Kritik v.a. vom Prophetismus getragen. Sowohl bei Nordreich- als auch bei Südreichpropheten, sowohl in vor- wie nachexilischer Zeit finden wir eine scharfe, ja teils beißende Kritik an der priesterlichen Kultpraxis. Diese Anklage, die sich im Frühjudentum fortsetzen wird, bildet dann in den Jahrhunderten vor und nach der Zeitenwende den Ausgangspunkt für alternative Konzeptionen des „Seins vor Gott“ jenseits der priesterlichen Repräsentation und Mediation.

197 198

Angelehnt an Revidierte Elberfelder Übersetzung. Vgl. DAVIES, Priesthood, 189–198.

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3.1 Die prophetische Kritik am Priestertum in vorexilischer Zeit Die Kritik am priesterlichen Opferkult, wie sie sich bei nahezu allen vorexilischen Propheten des Alten Testaments findet, ist ein Phänomen, das in der Religionsgeschichte seinesgleichen sucht.199 Nirgendwo finden wir in antiken Texten eine ähnlich massive Kritik an einem Kult und den dort stattfindenden Vorgängen, wie in der prophetischen Literatur des Alten Testaments. Die ältere Forschungsgeschichte zum Verhältnis von Propheten und Priestern zeichnete beide Gruppen seit der Aufklärung in einem polaren Gegensatz. Die von den aufgeklärten Philosophen wertgeschätzte Vernunft und Logik sowie die Betonung von Moral und Sittlichkeit führten zwangsläufig zu einer Parteinahme für die Propheten und einer Kritik des traditionsgebundenen und als irrational empfundenen Kultus.200 In dem epochalen Entwurf Julius Wellhausens201 wurden Priester und Propheten in einem scharfen und nicht immer fairen Kontrast gezeichnet. Auf der einen Seite kam der Priester als Vertreter eines starren, gesetzlich durch den Buchstaben normierten Ritus und Kultus zu stehen, auf der anderen Seite der Prophet als Vertreter des freien Geistes, der authentischen Religion und des sittlichen Ethos.202 Die Stereotypen des Propheten als eines mutigen religiösen Individualisten, der die religiösen Autoritäten seiner Zeit herausfordert, und des Priesters als dessen reaktionärem Kontrahenten, der ein überkommenes religiöses und veräußerlichtes System verteidigt, waren geboren und setzten sich tief im protestantischen Bewusstsein fest. Es ist unschwer zu erkennen, wie konfessionelle, ja reformationshistorische Einflüsse dieses Bild mitzeichneten, und die Erinnerung an den „prophetischen“ Auftritt Luthers auf dem Wormser Reichstag 1521 gegenüber den „priesterlichen“ Vertretern eines veräußerlichten katholischen Kultus drängt sich vor das innere Auge. Doch auch der deutsche Idealismus, der christliche Sozialismus und die amerikanische Social-Gospel-Bewegung nahmen dankbar diese Stereotypen auf und verstanden es geschickt, den priester- und kultkritischen Bach auf ihre weltanschaulichen Mühlen zu leiten.203 199 Kritik an Opfern: Am 4,4f.; 5,21ff.; Hos 6,6; 8,11–14; Jes 1,10–17; Mi 6,6–8; Jer 6,19f.; 7,21–23; 11,15–17; 14,12. Kritik an Kultstätten, Tempeln und Altären: Am 5,4f.; 4,4(?); Hos 4,15; 10,1f.; Jer 7,1ff.; Kritik an Priestern: Hos 4,1ff.; Mi 3,11; Jes 28,7ff.; Jer 2,8. 200 ZEVIT, Prophet, 209. 201 WELLHAUSEN, Prolegomena, 403–409.428–431. 202 Vgl. hierzu die vielsagende autobiographische Reminiszenz bei WELLHAUSEN, Prolegomena, 3: „Im Anfange meiner Studien wurde ich angezogen von den Erzählungen über Saul und David, über Elias und Ahab, und ergriffen von den Reden eines Amos und Jesaias; ich las mich in die prophetischen und geschichtlichen Bücher des Alten Testaments hinein. […] Endlich fasste ich mir Mut und arbeitete mich hindurch durch Exodus, Leviticus und Numeri … Aber vergebens wartete ich auf das Licht, welches von hieraus auf die geschichtlichen und prophetischen Bücher sich ergiessen sollte. Vielmehr verdarb mir das Gesetz den Genuss jener Schriften; es brachte sie mir nicht näher, sondern drängte sich nur störend ein, wie ein Gespenst, das zwar rumort, aber nicht sichtbar, nicht wirksam wird.“ 203 Vgl. zur Geschichte des „Prophet-Priester-Antagonismus“ ZEVIT, Prophet, 193– 199.209–213.

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Trotz dieser mittlerweile überwundenen Karikaturen gibt es auch in jüngster Zeit nach wie vor Vertreter einer strengen Dichotomie von Priestern und Propheten: „Where the priests see a correspondence and mutuality between ritual and ethics, the classical prophets contrast the ethical with the ritual.“204 Entgegen der älteren Forschung, die im Zuge einer neuprotestantischen Geringschätzung des israelitischen Kultes in der prophetischen Kultkritik eine Infragestellung des Ritus, des Kultus und des Opfers als solchen sah, wurde in den vergangenen Jahrzehnten wieder vermehrt darauf hingewiesen, dass die prophetische Kritik immer nur den Missbrauch, aber nicht den Kultus und seine „Vollzugsbeamten“ an sich im Visier hatte.205

Die prophetische Kultkritik zieht sich wie eine Konstante durch nahezu alle Epochen, Regionen und soziologischen Kontexte des vom Alten Testament beschriebenen Israel. Von den frühen Tagen der Monarchie (vgl. 1Sam 15,22f.) bis in die exilische Prophetie eines Ezechiel,206 von den frühen Nordreichpropheten Hosea und Amos (vgl. Hos 6,6; Am 5,21–24) bis zu den großen Südreichpropheten Jesaja und Jeremia (Jer 6,19f.; 7,21–23), von dem städtischen und etablierten Priester Jesaja (Jes 1,10–17) bis zum ländlichen, armen Micha (Mi 6,6–8) mit vermutlich geringem Sozialstatus zieht sie sich wie ein breiter Strom durch die prophetische Literatur des Alten Testaments. So unterschiedlich die jeweiligen historischen Zusammenhänge auch sein mochten, so gleichlautend ist der kultkritische Tenor. Was freilich die neuprotestantischen Protagonisten der Priester-ProphetDichotomie hätte stutzig machen müssen, sind einige wichtige Beobachtungen, die ein differenzierteres Bild nahelegen: (1) Eine ganze Reihe von Propheten dürften selbst Priester gewesen sein, ohne dass sie ihren „Stand“ in grundsätzlicher Weise in Frage gestellt hätten. Dies gilt bereits für den frühen Samuel (1Sam 3), erst recht aber für die großen Südreichpropheten Jeremia (1,1) und Ezechiel (Ez 1,1–3) und möglicherweise auch für Jesaja (vgl. Jes 6,1ff.). Auch die nachexilischen Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi waren – trotz aller Unschärfen im Blick auf ihr persönliches Profil – höchst interessiert an der Restauration des Tempelkultes.207 (2) Bei dem auf den ersten Blick so kultkritischen Jeremia finden wir gleichzeitig eine eschatologische Perspektive, die Opfer ausdrücklich einschließt (vgl. Jer 17,26; 33,17f.). (3) Es gibt nicht ein einziges kritisches Prophetenwort gegen die grundlegende kultische Unterscheidung von „rein“ und „unrein“. 204

HENDEL, Prophets, 190f.; vgl. auch MCKANE, Prophet, 251–266. Vgl. z.B. KOCH, Art. Propheten/Prophetie II, 488f. 206 Ezechiels Tempelkritik ist eine äußerst subtile. Indem er seine große Vision eines erneuerten (und strengeren) Kultes und eines neuen Tempels entfaltet, macht er nicht nur deutlich, was einmal eschatologisch werden soll, sondern eben auch, was in der Vergangenheit hätte sein sollen, KLAWANS, Purity, 96. 207 Vgl. Hag 2,11–19; Sach 3,7; 6,9–15; 7,1–6; Mal 1,6–14; 2,7, und ZEVIT, Prophet, 207f., sowie T IEMEYER, Rites, 2. 205

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(4) Auch die Kritik an Kultstätten und Tempeln muss differenziert bewertet werden. Die Polemik von Amos und Hosea richtet sich ausschließlich gegen die Kultstätten des Nordreiches. Bei Hosea bezieht sie sich in erster Linie auf die synkretistischen Riten an den Höhenheiligtümern. Bei Jesaja hat der Tempel eine durchweg positive Konnotation, die nicht zuletzt in der Vision von der Völkerwallfahrt zum Zion einen wichtigen Ausdruck findet (Jes 2,2–5; vgl. Mi 4,1–5). (5) Im chronistischen Geschichtswerk, das sowohl den kultischen und priesterlichen Belangen einen breiten Raum einräumt, als auch von einer Wertschätzung der prophetischen Geschichtsdeutung geprägt ist, wird der so häufig postulierte Antagonismus nicht bestätigt.208 (6) J. Klawans hat in einem neueren Beitrag auf die Bedeutung „gestohlener Opfer“ in der prophetischen Kritik hingewiesen.209 In mehreren Belegen könnte der Hintergrund für die prophetische Opferkritik die Opferung von im direkten oder im übertragenen Sinn gestohlenen Opfern sein bzw. von Opfern, die nicht im Besitz des Opferherrn waren. Dies ist möglicherweise bei Saul in 1Sam 15,2f.8f.15 ein wesentlicher Grund der prophetischen Zurechtweisung (15,22f.).210 Bei der Klage über geraubte Opfer sind ethische und rituelle Gesichtspunkte aufeinander bezogen. Von einer Dichotomie kann jedenfalls keine Rede sein.211 (7) Schließlich bezieht sich auch die Kritik am Priestertum nicht grundlegend auf die Institution an sich, sondern auf den Amtsmissbrauch und die Pflichtverletzung einzelner Priester oder auch der gesamten Priesterschaft. Die häufig postulierte Alternative zwischen „Gerechtigkeit und Opfer“ lässt sich atl. nirgends begründen, ja wäre für das alte Israel sogar unverständlich gewesen.212 Vielmehr geht es um ein Entsprechungsverhältnis: Gerechtigkeit ist eine Grundlage für die Kultteilnahme, den Kultvollzug und damit auch für den priesterlichen Dienst, worüber beim Eintritt in den heiligen Bereich Rechenschaft abzulegen ist.213 An die Stelle der rituellen Makellosigkeit und Reinheit des Opfers tritt bei den Propheten die ethischmoralische Kultfähigkeit der Priester und Kultteilnehmer in den Fokus der Aufmerksamkeit. Wo der Kult zur Rechtfertigung ungerechten Handelns 208

ZEVIT, Prophet, 208f. KLAWANS, Purity, 84–89. 210 Zur Bedeutung der rechtmäßigen Eigentumsverhältnisse vgl. 2Sam 24,18–24/1Chr 21,18–24: David lehnt das Angebot des Jebusiters Arauna, der ihm Opfertiere schenken will, mit dem Hinweis ab, kein geschenktes Opfer darbringen zu wollen. Von geraubten Opfern ist auch in Mal 1,13 die Rede, das den Wert des Opfers nicht nur negiert, sondern sogar den Fluch über das Land bringt. 211 KLAWANS, Purity, 87. 212 HERMISSON, Sprache, 118. 213 Vgl. hierzu die Toreingangsliturgien in Ps 15 und 24. 209

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missbraucht und das Gottesverhältnis unabhängig von alltäglichen, zwischenmenschlichen Lebensvollzügen definiert wird, reklamieren die Propheten die Aushöhlung, Sinnentleerung und Pervertierung des Kultes.214 Ähnliches gilt, wo der Kult im Zeichen einer garantierten Heilssicherheit vollzogen wird, wie sie in Jeremias Tempelrede angeprangert wird (Jer 7,1–15). Das Ziel der prophetischen Kultkritik ist die Wiederherstellung der Gerechtigkeit im Sinne eines rechts- und gemeinschaftsgemäßen Verhaltens im Rahmen des bestehenden Kultes, nicht an seiner Stelle.215 So wird z.B. in 1Sam 15,22 nicht das beabsichtigte Opfer Sauls kritisiert, sondern sein Bruch des göttlichen Gebotes.216 Für den Autor ist es eine Frage der Prioritäten: „Wenn Opfer und Gebotsobservanz miteinander in Konflikt geraten, ist Gehorsam besser als Opfer.“217 Dieser „Primat der ethischen Disposition gegenüber der Kultfrömmigkeit des frevlerischen Israel“218 wird auch von Amos (vgl. 4,4f.; 5,21–25) und Jesaja (1,10–17) betont. Das Diktum von H.J. Boecker kann daher nach wie vor Gültigkeit beanspruchen: „Die Propheten sind dabei von der Überzeugung durchdrungen, daß durch kultisches Handeln die gestörte Gottesbeziehung nicht mehr repariert werden kann. Ein Kult, der das nicht leistet, ist aber sinnlos, kann nur der schärfsten Ablehnung verfallen ... In dieser Situation kann eine Reflexion über Wert oder Unwert kultischer Betätigung an sich nicht mehr im Blickfeld der Propheten liegen und hat es auch nicht getan.“219 Zusammenfassend kann deshalb nicht von einer prophetischen Abwendung vom Kult und Priestertum an sich gesprochen werden. Beides wird an keiner Stelle in seinem Bestand in Frage gestellt, geschweige denn werden andere Optionen etwa im Sinne eines alternativen oder allgemeinen Priestertums ins Spiel gebracht. Was sich dagegen deutlich wahrnehmen lässt, ist die Sehnsucht nach einer Reformation des Kultes und der Priesterschaft: Der priesterliche Kultvollzug muss ein anderer werden, weil das aktuelle ethische Verhalten der Priester das priesterliche Sein und damit in der Konsequenz auch die Wirksamkeit des gesamten Kultes in Frage stellt. Ein besonderer Schwerpunkt der vorexilischen Kultkritik liegt dabei auf der Inkongruenz von Kultpraxis und Gerechtigkeitsforderung. Die propheti-

214

HERMISSON, Sprache, 139. Hos 6,6; Am 5,24; Mi 6,8; Jes 1,17. 216 T ILLY, Johannes, 212. 217 LANGE, Gebotsobservanz, 23; ähnlich T ILLY, Johannes, 222: „Insgesamt kann von einer relativen Abwertung des Kultes gegenüber Gebotsgehorsam gesprochen werden. Von seiner generellen Ablehnung scheint hingegen nicht die Rede zu sein.“ Dies zeigt T ILLY, ebd., auch für die Prophetenlegenden in frühjüdischer Zeit. 218 LANGE, Gebotsobservanz, 22. 219 B OECKER, Überlegungen, 175; ähnlich ZEVIT, Prophet, 208. 215

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sche Losung lautete deshalb nicht „Gerechtigkeit statt Kult“, sondern „Gerechtigkeit und gerechte Kultpraxis“. 3.2 Die prophetische Kritik am Priestertum in nachexilischer Zeit Weit weniger Beachtung als die Kritik der vorexilischen Propheten fand bislang die nachexilische Kritik der Propheten am Priestertum. In einer jüngeren Arbeit hat sich L.-S. Tiemeyer dieser Thematik angenommen und die priesterkritischen Stimmen in Jes 56–66, sowie bei Haggai, Sacharja und Maleachi einer Untersuchung unterzogen. Entgegen früheren Untersuchungen sieht Tiemeyer eine weitgehende Konvergenz der unterschiedlichen prophetischen Stimmen in ihrer Kritik am zeitgenössischen Priestertum der nachexilischen Zeit.220 Darüber hinaus sieht sie in diesen Stimmen die genuine Fortsetzung der vorexilischen prophetischen Kritik am Priestertum.221 Tiemeyer vertritt dabei die gewagte These, dass die „idea of a culpable priesthood“ ein Grundmotiv in der Gegenwartsdeutung der nachexilischen Propheten war222 und die Priester häufig die einzigen Adressaten prophetischer Kritik waren.223 Dieses Urteil beruht auf einer nicht immer restlos überzeugenden Deutung vieler Droh- und Scheltworte in Jes 56–66 als hauptsächlich oder gar ausschließlich gegen die Priesterschaft gerichtet.224 In den von Tiemeyer als Kritik an der Jerusalemer Priesterschaft gewerteten Belegen Jes 56,9–12; 57,6–8.12f.; 58,2–4; 65,3–7 und 66,1–6 taucht nicht ein einziges Mal der Begriff „Priester“ auf und das angeprangerte Fehlverhalten ist durchaus als Sünde des ganzen Volkes denkbar.225 Zweifellos vermag sie eine Reihe von Argumenten für eine priesterliche Identität der kritisierten Adressaten der Droh- und Scheltworte zu geben, aber insgesamt bleibt ihre Interpretation der Texte in Jes 56–66 ebenso fragwürdig und spekulativ wie ihre relativ präzisen Datierungs- und Entwicklungsschemata für diesen letzten Teil des Jesajabuches.226 220 Z.B. gegen HANSON, Dawn, 245–253, der Jes 56–66 in einem Gegensatz zur Position Haggais und Sacharjas sah. 221 T IEMEYER, Rites, 1.287f. Demnach finden zahlreiche Aspekte vorexilischer Kritik am Priestertum, wie z.B. Versagen in der Toraunterweisung, soziale Ungerechtigkeit, falscher Gottesdienst bzw. Götzendienst und kultische Unreinheit ihre Fortsetzung bei den nachexilischen Propheten. 222 T IEMEYER, Rites, 2. 223 T IEMEYER, Rites, 86. 224 Dies gilt z.B. für ihre Bewertung von Jes 58,1–12, a.a.O., 89–94.139–142. 225 Während in Jes 56,9–12 zweifellos von den Führern des Volkes die Rede ist, WESTERMANN, Jes, 253f., können die Adressaten von 57,6–8; 58,2–4; 65,3–7 und 66,1–6 trotz der kultischen Bezüge nicht auf die Priester eingegrenzt werden. Lediglich für 65,5 besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Priester gemeint sind, vgl. HANSON, Dawn, 148f.; W ATTS, Jes 34–66, 343. 226 T IEMEYER, Rites, 74–85.288, sieht eine sehr früh-nachexilische (kurz nach 539 v.Chr.), vom restlichen Kontext zu unterscheidende Prophetenstimme in Jes 60–62, wo der Prophet ein gegenüber der vorexilischen Situation völlig alternatives Priestertum erwartet, dem alle Juden angehören sollten. Um 520 v. Chr. datiert sie dann die aus der-

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Dabei will Tiemeyer zu Recht nicht die alte These einer Dichotomie zwischen Priestern und Propheten erneuern. Vielmehr sieht sie in der prophetischen Kritik eine Unzufriedenheit mit den nachexilischen Verhältnissen im Jerusalemer Kult und ein Anliegen der Erneuerung und Reform.227

Eine deutliche Priesterkritik findet sich v.a. in Mal 1,6–3,5 und Sach 7,4– 7. Hier wird nicht das Fasten an sich kritisiert, sondern eine Fastenpraxis, die nicht von einem Handeln in sozialer Gerechtigkeit begleitet wird. Dabei offenbaren die Texte eine tiefe Kluft zwischen der prophetischen Kritik und dem priesterlichen Selbstverständnis, das sich in den prophetischen Anklagen spiegelt.228 Während die Priester sich selbst als gerecht und heilig betrachteten, stellten die Propheten diese Selbstbewertung massiv in Frage. 229 Zwar knüpfen die Themen der nachexilischen Priesterkritik in zahlreichen Punkten an die vorexilische Kritik an, es finden sich aber auch eine Reihe neuer Kritikpunkte, die eine spezifisch nachexilische Prägung haben: (1) Wie bereits in der vorexilischen Priesterkritik (vgl. Hos 4,6; Mi 3,11; Jer 2,8; 5,31) wiederholt sich auch bei den nachexilischen Propheten die Anklage wegen mangelnder Erkenntnis oder falscher Lehre. In Jes 56,9–12 ist es nicht eindeutig, ob es sich um Priester handelt, die hier wegen ihrer Unwissenheit, ihres Unverständnisses und ihrer Erkenntnislosigkeit kritisiert werden.230 Dagegen ist in Mal 2,8f. klar, dass die Priester mit der Gestalt Levis als einer Idealgestalt des Priesters verglichen (Mal 2,4–7) und daraufhin angeklagt werden, die Lehre nicht bewahrt und eine Tora erteilt zu haben, die viele zu Fall gebracht hat.231 selben Tradition, jedoch von einem anderen Propheten stammenden Texte aus Jes 56,9– 59,21 und 65,1–66,17, a.a.O., 35–72, welche die Hauptlast der prophetischen Kritik in Jes 56–66 tragen. In jene Phase gehören ihrer Ansicht nach auch die priesterkritischen Texte bei Haggai und Sacharja (520–518 v.Chr.). Auf wieder einen anderen „jesajanischen“ Autor aus derselben Traditionslinie gehe Jes 56,6f. zurück und auch Jes 66,20f. könnte nach T IEMEYER von einem weiteren, nunmehr vierten Verfasser bzw. Redaktor stammen. Die letzte Phase prophetischer Priesterkritik, die sich im atl. Kanon findet, wird dann nach T IEMEYER von Maleachi etwa in der Zeit Esras und Nehemias im 5. Jh. v.Chr. dokumentiert (zwischen 520 und 450 v.Chr.). 227 T IEMEYER, Rites, 287. 228 Vgl. T IEMEYER, Rites, 86–112. 229 Vgl. Sach 7,4–7; Mal 1,6–12; 2,13f.17; wahrscheinlich Jes 65,5, eher fraglich Jes 57,12; 58,2–3. 230 T IEMEYER, Rites, 122–126, und KUGLER, Art. Priests (EDEJ), 1097, halten eine priesterliche Identität der Angesprochenen für sehr wahrscheinlich. 231 T IEMEYER, Rites, 127–136; MEINHOLD, Mal, 145. Letzterer hebt im Blick auf Mal 2,5 hervor, dass „[e]in derart positives Zeugnis gegenüber Priestern in der Rede JHWHs […] im Alten Testament […] seinesgleichen“ sucht (152). Allerdings gelten diese Aussagen „für die ins Auge gefaßte Gegenwart freilich nur als kritischer Kontrast“ (160).

3 Die Kritik der priesterlichen Kultpraxis

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(2) Zahlreiche vorexilische Vorbilder hat auch die Kritik am unsozialen Umgang der Priester mit den Armen. Wie bei Amos wird auch in Mal 3,5; Neh 5,1–13 (vgl. V.12!) und möglicherweise auch in Jes 58,3f. die Bedrückung und Misshandlung der Armen durch die Priester angeprangert, während sie gleichzeitig bei frommen Aktivitäten wie dem Fasten höchstes Engagement zeigen (Jes 58,3f.). (3) Auch die schon bei Hosea (4,10–14) zentrale Frage nach dem Götzendienst steht nach dem Exil wieder auf der Tagesordnung. Ob dies allerdings ein spezifisch priesterliches Versagen darstellt, hängt von der Interpretation zahlreicher Belege in Jes 56–66 ab, die in dieser Weise keinen nachexilischen Widerhall bei anderen Propheten finden. In Jes 57,6–8 werden Opferpraktiken für fremde Gottheiten angeprangert, die möglicherweise nicht nur außerhalb Jerusalems dargebracht wurden, sondern nach Tiemeyers Interpretation des „hohen und erhabenen Berges“ (57,7) als dem Tempelberg neben den legitimen Opfern des Jahwekultes auch innerhalb des Tempelbereiches. Daher kommt sie zu dem Schluss, dass es sich bei den Akteuren (auch) um Priester gehandelt haben muss.232 In Jes 65,3f. ist weiter von heidnischen Kult- und Opferpraktiken in Gärten, Gräbern und Höhlen und dem Essen von Schweinefleisch die Rede. In Jes 66,3 werden neben diversen Brutalitäten auch eigentlich legitime kultische Handlungen erwähnt, die in den Aufgabenbereich der Priester gehörten, hier aber eindeutig als Götzendienst qualifiziert werden. Es muss letztlich offen bleiben, ob es sich hier um eine dezidierte Priesterkritik handelt oder um eine allgemein an das Volk gerichtete Götzendienstpolemik. (4) Ein Thema, das erst im Kontext der nachexilischen und frühjüdischen Priesterkritik häufig auftaucht, ist die Polemik gegen die von Priestern im babylonischen Exil eingegangenen Mischehen (Esr 9–10; Neh 10,31 und Mal 2,10–16).233 In der Tat scheint dies in frühnachexilischer Zeit ein quantitativ durchaus signifikantes Phänomen gewesen zu sein.234 Bei diesem Thema spielen sowohl Gesichtspunkte der kultischen Reinheit als auch Befürchtungen vor einer latenten Verführung zum Götzendienst eine Rolle (vgl. Mal 2,11). Tiemeyer betrachtet vor allem den letzteren Punkt als den entscheidenden, und zwar sowohl bei Esra-Nehemia als auch 232

T IEMEYER, Rites, 150–159. Die Heirat von Israeliten mit Angehörigen heidnischer Völker erfährt im Alten Testament unterschiedliche Bewertungen. Während die Heirat von „fremd-stämmigen“ Frauen durch Joseph, Gen 41,45, Mose, Num 12,1, und Boas, vgl. Ruth, nicht negativ bewertet wird und in Dtn 21,10–14 israelitischen Männer ausdrücklich das Recht zugestanden wird, kriegsgefangene Frauen fremder Völker zu ehelichen, gibt es auch zahlreiche Warnungen bzw. Verbote von sog. Mischehen, vgl. Gen 24,3; 27,46ff.; Ex 34,15f.; Dtn 7,1–6; 20,10–18; Ri 14,1–3; 1Kön 11,1–8; 16,31; Esr 9–10; Neh 10,31; vgl. auch Jub 20,4; 22,20; 25,1–10; 30,17; TestLev 9,10. 234 T IEMEYER, Rites, 183. 233

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bei Maleachi.235 Sie hält die Problematik sich widersprechender Loyalitäten einerseits zum eigenen Volk und seinem Gott und andererseits zum Herkunftsvolk der Ehefrau und deren Göttern als Einfallstor für den Götzendienst. Spätestens ab dem 2. Jh. v.Chr. ist dagegen eindeutig der Aspekt der kultischen (Un)Reinheit in den Vordergrund getreten (→III.1.2). (5) Neu ist in nachexilischer Zeit auch die deutlich stärkere Beachtung von Reinheits- und Heiligkeitsbelangen nicht zuletzt bei den Priestern selbst.236 Dabei verbinden Haggai und Sacharja die Unreinheit der Priester mit dem Vorwurf mangelnder Orthodoxie, während Maleachi die Betonung auf die mangelnde Sorgfalt und zunehmende Nachlässigkeit beim kultischen Amt legt. So werden in Mal 1,8.13f. Priester wegen Nachlässigkeit bei der Opferprüfung angeklagt, was zur Darbringung minderwertiger oder geraubter Opfer führt. Offensichtlich wuchs in nachexilischer Zeit die Einsicht, dass eine unreine Priesterschaft nicht in der Lage ist, sühnende Opfer zu bringen, was zu einem dauerhaften Status der Unreinheit des gesamten Volkes führt. In Hag 2,10–14 findet sich ein polemisches Wort gegen die Jerusalemer Priester im Blick auf ihre kultische Unreinheit. Mittels zweier rhetorischer Fragen (V. 12f.) stellt der Prophet die Priesterschaft darin bloß, dass sie trotz einem entsprechenden Wissen und „Lehrauftrag“ die Regeln kultischer Reinheit missachten.237 Werden aber die Regeln kultischer Reinheit ignoriert und befindet sich die Priesterschaft selbst in einem Status der Unreinheit und damit mangelnder Integrität und Gottähnlichkeit, dann sind auch die Wirksamkeit des priesterlichen Opferkultes und der für eine heilvolle Existenz grundlegende Reinheitsstatus des gesamten Volkes gefährdet.238 Aus dem defizitären Sein resultiert somit eine defizitäre Wirksamkeit des kultischen Handelns. Eine Reihe dieser Kritikpunkte wird uns wieder im frühjüdischen Schrifttum begegnen, dessen Priesterkritik in Kapitel III im Zentrum stehen wird. Dabei wird sich zeigen, dass die Bedeutung von kultischen Reinheits- und Heiligkeitsfragen zunimmt, sich damit aber auch die Kritik am priesterlichen Umgang mit denselben weiter verschärft. Diese ist von der Sorge geprägt, dass die ontischen, ethischen und kultpraktischen Defi-

235

T IEMEYER, Rites, 178–198. In vorexilischer Zeit taucht das Thema lediglich in Zeph 3,4 auf. Die Stelle interpretiert T IEMEYER, Rites, 220, wie folgt: „I suggest that Zeph 3:4 ist best understood as an emphatic statement accusing the priests of failing to maintain an appropriate cultic distinction between what is holy and what is impure.“ 237 T IEMEYER, Rites, 220–239. 238 Vgl. T IEMEYER, Rites, 239: „[N]o priest would be able to fulfil his most important duty of offering up sacrifices on behalf of the people and, as a result, the society in which he functions would have lost its ability to become clean.“ 236

4 Das Priestertum im Licht eschatologischer Hoffnungen

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zite des amtierenden Priestertums die Gültigkeit der Opfer und damit der kultischen Sühne tangieren.

4 Das Priestertum im Licht eschatologischer Hoffnungen 4 Das Priestertum im Licht eschatologischer Hoffnungen

Neben der Kritik an Kult und Priestern finden sich im Alten Testament erste Ansätze einer Metaphorisierung von Kultbegriffen. Vor allem der Opferbegriff, aber auch der Priesterbegriff bekommen in einigen Belegen eine erweiterte Bedeutung. Ferner wird das Jerusalemer Priestertum zum Gegenstand eschatologischer Hoffnungen, die den Rahmen des levitischen Priestertums sprengen. Dabei spielt v.a. Ex 19,5f. für die Metaphorisierung des Priesterbegriffs in 1Petr 2,5.9 und Apk 1,6; 5,10 und 20,6 eine zentrale Rolle und soll deshalb entsprechend ausführlich behandelt werden. Doch auch die anderen Belege zeigen, dass schon im Alten Testament mit einer eschatologischen Transformation des priesterlichen Amtes gerechnet wurde. 4.1 Metaphorisierung der Tempeltheologie Im Alten Testament selbst kann allenfalls von den Anfängen eines metaphorischen Begriffsgebrauchs gesprochen werden, im Zuge dessen das Opfer die Form des Wortes annehmen und durch dieses substituiert werden konnte.239 Dieser Vorgang lässt sich am Bedeutungswandel des Begriffs „Lobopfer“ (hd;wOT) verdeutlichen, der an zahlreichen Stellen die Bedeutung von „Loblied“ bekommt.240 Die Entwicklung lässt sich überall dort nachzeichnen, wo ein Wortgeschehen an die Stelle eines Opfergeschehens tritt. So findet in Ps 50 eine Belehrung über den rechten Gottesdienst statt, wobei nicht die realen Opfervollzüge kritisiert werden, im Gegenteil (vgl. 50,8f.), sondern vielmehr die irrige Vorstellung, dass die Opfer Jahwe als Nahrung dienen könnten (50,13). Daraufhin erfolgt in V. 14 (vgl. auch V. 23) die Aufforderung, Gott Dank zu opfern und die Gelübde zu erfüllen. Eine ähnliche Formulierung findet sich auch im Psalm Jonas in Jon 2,10: „Ich aber will dir Opfer bringen mit der Stimme des Lobes“. Es handelt sich hier um eine noch sehr zurückhaltende Übertragung des Tieropfers auf ein Wortgeschehen. Dabei muss jeweils offen bleiben, ob nicht gleichzeitig auch ein reales Opfer stattfand. H.-J. Hermisson interpre239

HERMISSON, Sprache, 60ff.; vgl. dazu Ps 51,18f.; 119,108; 141,2, sowie auch a.a.O., 153: „Die Spiritualisierung begegnet dem Kultus ausschließlich auf der Ebene der Sprache, und sie hat es möglich gemacht, daß man, unter dem Zwang äußerer Ereignisse, auf den ausgeübten Kultus auch verzichten konnte.“ 240 Jos 7,19; Neh 12,27; Ps 26,7; 69,31f.; 147,7; Jes 51,3; Jer 30,19; 33,11; vgl. HERMISSON, Sprache, 29. DERS.,

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tiert diese Belege jedenfalls als einen Versuch, „neben den blutigen Opfern oder ohne diese Opfer einen Weg zu Gott zu eröffnen, der doch im Rahmen des Kultus, ja sogar im Rahmen eines neu verstandenen Opfervollzuges bleibt. Mit diesem neuen Opferverständnis wird aber noch keine Deutung der materiellen Opfer selbst erreicht, diese treten vielmehr zurück. Eine ‚spirituelle‘ Deutung der Opfer selbst ist den alttestamentlichen Frommen offenbar nicht gelungen.“241 Gleiches gilt auch für den im nächsten Abschnitt im Mittelpunkt stehenden Begriff des „Priesters“. Eine spiritualisierende, allegorisierende oder moralisierende Redeweise in Analogie zum Opferbegriff bzw. zum Gebrauch bei Philo von Alexandrien (→IV.7.2) lässt sich im Alten Testament noch nicht belegen.242 Eine solche Interpretation würde Kategorien eines griechisch-hellenistischen Weltbildes oder gar philosophische Denkbewegungen der Moderne in die vorexilische Zeit zurückprojezieren, die dem atl. Frommen noch völlig fremd waren.243 Aus diesem Grund sprechen z.B. F.-L. Hossfeld und E. Zenger zu Recht von einer „Metaphorisierung der Tempeltheologie“,244 bei der es nicht um eine Ablösung der Begriffe vom Kult geht, sondern um eine „mediale ‚Erzeugung‘ von Gottesnähe, die jenseits des Tempels möglich, aber in ihren konkreten Bezügen an den Tempel(kult) zurückgebunden erscheint“.245 In entsprechender Weise finden wir auch eine metaphorische Dehnung des Priesterbegriffs im Horizont eschatologischer Hoffnungen, wie im folgenden Abschnitt deutlich werden wird.

241

HERMISSON, Sprache 60 [kursiv von VG]. DERS., a.a.O., 149, betont weiter, dass man es bei der Substitution des Opfers durch ein Wortgeschehen „nicht von vornherein mit etwas Geistigem, Spirituellem zu tun hat“ und dass „auch dem Wort … eine sehr massive Dinglichkeit zukommen“ kann. 242 HERMISSON, Sprache, 62.105, der allenfalls von Ansätzen spricht, wo Altar, Opfer und Tempel eine zeichenhafte Bedeutung bekommen, vgl. Jos 22,9–34; Jes 19,19f. oder der Priesterbegriff eine Weite bekommt, die den eigentlichen Wortsinn zwar nicht einschränkt, aber „vertieft“, vgl. Ex 19,5f.; Jes 61,6. Zur Entgrenzung des Literalsinns von Kultbegriffen vgl. auch Arist 170; Sir 35,1–5; Tob 4,7–12; Arist 234; bBer 26b; 32b; bYev 105a; bMen 110a. 243 Vgl. HARTENSTEIN, Spiritualisierung, 54. 244 HOSSFELD, Metaphorisierung, 19–33; ZENGER, Psalter als Buch, 1–57. 245 HARTENSTEIN, Spiritualisierung, 56. Dagegen plädiert jüngst RADEBACH-HUONKER , Opferterminologie, 179–215.228–237, in betontem Rückgriff auf V. RAD und HERMISSON und in Abgrenzung gegenüber HOSSFELD und ZENGER, vgl. die vorige Anmerkung, für den Begriff der „Spiritualisierung“ als adäquatem Begriff für das zur Debatte stehende Phänomen, weil es um „eine Gewichtsverlagerung vom konkreten, materiellen Opfer hin zur inneren Haltung der Beter“ gehe; vgl. dazu jedoch die Kritik von HARTENSTEIN, Spiritualisierung, 57.

4 Das Priestertum im Licht eschatologischer Hoffnungen

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4.2 Ex 19,5f. Im Kontext des Bundesschlusses am Sinai wird Israel in einer Gottesrede246 auf dreifache Weise definiert: Israel soll (1) das Eigentumsvolk Gottes vor allen Völkern (~yMi[;h'-lK'mi hL'gUs. yli ~t,yyIh.wi),247 (2) vor Gott ein Königtum von Priestern (~ynIh]Ko tk,l,m.m; yli-Wyh.Ti ~T,a;w.) und schließlich (3) ein heiliges Volk (vAdq' yAgw>)248 sein. Für unsere Fragestellung steht natürlich das Syntagma ~ynIh]Ko tk,l,m.m; im Mittelpunkt des Interesses, welches die Grundlage für die ntl. Belege in 1Petr 2,5.9 und Apk 1,6; 5,10 und wohl auch 20,6 bildet. Schon die historische Einordnung ist eine crux interpretum für die klassische Quellenscheidung. Bereits vor 40 Jahren schrieb E. Zenger: „Die Sinai-Perikope des Buches Exodus gilt in der exegetischen Forschung als traditionelle crux. Es gibt wohl zu kaum einem alttestamentlichen Textkomplex eine buntere Palette der vorgelegten Analysen.“249 Bislang konnte kein Konsens über eine Zugehörigkeit zu einer der einschlägigen Pentateuchquellen erzielt werden. J.A. Davies hat jüngst die bewegte Literar-, Redaktions- und Traditionskritik sowie die Forschungsgeschichte zu diesen Versen in einem eigenen Abschnitt seiner Arbeit zusammengefasst und kommt zu dem Fazit: „All semblance of agreement ends at that point, however, for the attribution of 19.4–6a to one or other of the commonly identified Pentateuchal sources (continous parallel narrative strands) or redactional (editorial) additions to the Pentateuch in the form in which we have it has proved one of the most elusive of all source-critical quests. Even scholars normally confident in their attribution of passages to sources are sometimes hesitant, and sometimes confusing when it comes to this portion of the Pentateuch.“250

246

Zu Aufbau und Struktur der Exodusformel vgl. W ELLS, People, 35–45; DAVIES, Priesthood, 32–36.61–63, und RIECKER, Priestervolk, 230–236. 247 Der Begriff hL'gUs. bezeichnet die Form eines persönlichen Eigentumsverhältnisses. In der Mischna hat der Begriff eine kommerziell-juristische Konnotation, wenn es um das Eigentumsverhältnis zwischen einer über- und einer untergeordneten Person geht, z.B. zwischen Sklavenbesitzer und Sklave oder auch zwischen Mann und Frau. Im Alten Testament geht es um eine metaphorische Bezeichnung für das Verhältnis von Jahwe und Israel, das hier in seiner Exklusivität gegenüber allen anderen Völkern hervorgehoben wird; vgl. Dtn 7,6; 14,2; 26,18; Mal 3,17; Ps 135,4, aber auch 1Kön 8,53; vgl. zum Ganzen DAVIES, Priesthood, 51–53. 248 W ELLS, People, 27, hat darauf aufmerksam gemacht, dass im Rahmen eines kanonischen Zugangs zu den Texten Ex 19,6 der erste biblische Beleg für die Bezeichnung des Volkes Israel als „heilig“ und nach Ex 3,5 der zweite Beleg von vwdq im Exodusbuch überhaupt ist. Entsprechend entfaltet WELLS, People, 28–31, den Begriff auf dem Hintergrund ihres an B.S. CHILDS angelehnten canonical approach vom kanonischen Kontext im Exodusbuch her, und kommt zu der These, a.a.O., 33, dass Ex 19,1–8 insofern eine Imitation der Dornbusch-Erzählung in Ex 3 ist, als auch Ex 19,1–8 die Einführung und Erläuterung für die gesamte Sinaiperikope darstellt. In der Tat wird die Antwort des Volkes auf die Exodusformel in Ex 19,8 am Ende der Sinaiperikope in Ex 24,3.7 wiederholt und bildet somit die Inclusio für den gesamten Abschnitt. 249 ZENGER, Sinaitheophanie, 12. 250 DAVIES, Priesthood, 17–24, Zitat a.a.O., 18.

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Die lange Zeit von einer Mehrheit favorisierte elohistische Zuschreibung wird aufgrund des wachsenden Zweifels an der Existenz einer elohistischen Quellenschrift nicht mehr diskutiert und auch alle anderen Vorschläge, den Text einer der übrigen klassischen Quellen zuzuschreiben, führten nicht zu einem Konsens. Aus diesem Grund wird mehr und mehr überhaupt am Sinn einer quellenkritischen Einordnung dieser Verse gezweifelt und verstärkt für eine Wahrnehmung der Endgestalt des Textes plädiert251 und auf eine historische Einordnung verzichtet.252 Doch nicht nur die historischen Fragen erweisen sich als komplex. Auch die grammatischen und syntaktischen Fragen der Begriffsverbindung ~ynIh]Ko tk,l,m.m; sind zahlreich und die antiken Zitate dieser Formulierung spiegeln dies auch wieder (→VII.5.3.1).253 Sicher ist nur, dass das Syntagma aus zwei Substantiven besteht, von denen das eine aus der Wurzel $lm und das andere aus der Wurzel !hk gebildet wurde. Sind die Begriffe in einer Apposition nebeneinander zu stellen oder sind sie mit dem MT als zusammengehörige Konstruktion zu lesen?254 Wenn es sich um eine Konstruktion handelt, in welcher Weise qualifizieren sich dann die Begriffe wechselseitig? Sind die Substantive ursprünglich singularisch oder pluralisch zu lesen? Haben sie eine konkrete oder abstrakte Bedeutung? Mit großer Wahrscheinlichkeit ist die Einfügung der Kopula w bzw. kai, in der Peshitta, den Targumen, in 2Makk 2,17 und Apk 5,10 bereits eine Interpretation der kantigen MT-Formulierung. In dieser Formulierung legt sich aber nach wie vor ein abstraktes, singularisches Verständnis von tk,l,m.m; und ein konkretes, pluralisches Verständnis von ~ynIh]Ko nahe.255 Wenn man aber von einer Status-constructus-Verbindung von ~ynIh]Ko tk,l,m.m; ausgeht, sind die grammatischen Verständnismöglichkeiten immer noch vielfältig:256 (1) Eher ungewöhnlich, wenn auch nicht ausgeschlossen, ist eine Interpretation, wonach das nomen regens als Attribut verstanden und genitivisch oder adjektivisch als genitivus qualitatis zur näheren Beschreibung des nomen rectum herangezogen wird: „königliche Priester“ bzw. „Königspriester“ (vgl. LXX: basi,leion i``era,teuma).

251

DAVIES, Priesthood, 22f., verweist an dieser Stelle auf die Zweifel an der quellenkritischen Fragestellung und auf die Arbeiten von SCHMITT, Redaktion, 170–189; KNIERIM, Composition; W HYBRAY, Making of the Pentateuch; RENDTORFF, Problem; DERS., Paradigm, 34–53, und B LUM , Studien, die eine verstärkte Zuwendung zur Endgestalt des Textes favorisieren. 252 Vgl. noch einmal DAVIES, Priesthood, 23: „Whatever advantages historical criticism as traditionally practised may have for other portions of the Pentateuch, it has been singularly disappointing as a means of elucidating the origins (and hence perhaps the significance) of the Sinai complex.“ 253 Vgl. zum Folgenden DAVIES, Priesthood, 67. 254 Die Wiedergabe der Formulierung im Symmachus, bei Theodotion, der Peshitta, der Syro-Hexapla, den jüdischen Targumen, sowie in Apk 5,10 (und möglicherweise auch in Apk 1,6) legt ein Verständnis des hebräischen Textes nahe, das die beiden Begriffe als unabhängig voneinander interpretiert. Dagegen scheinen auf der anderen Seite Aquila und die Vulgata von einer zusammengehörigen Konstruktion auszugehen. Die LXX-Lesart basi,leion i``era,teuma bleibt aufgrund des undeutlichen basi,leion, das sowohl substantivisch wie adjektivisch gelesen werden kann, →VII.5.3.1, ambivalent. 255 DAVIES, Priesthood, 67f. 256 Vgl. hierzu SCHÜSSLER-FIORENZA, Priestertum, 78f.117, und STEINS, Priesterherrschaft, 23f.

4 Das Priestertum im Licht eschatologischer Hoffnungen

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Hält man sich dagegen an den wahrscheinlichsten Fall der attributiven Bestimmung des nomen regens durch das nomen rectum, bleiben freilich immer noch verschiedene Optionen, denn das Attribut kann im Hebräischen eine sehr vielfältige Verwendung finden: (2) Die erste Option ist das attributive Verständnis des nomen rectum im Sinne eines genitivus auctoris. Die Priester sind dann die Akteure der im nomen regens genannten Handlung, d.h. das „Königtum“ wird als eine Priesterherrschaft bestimmt: „ein Königreich mit Priestern als Regenten“. (3) Wird das nomen rectum als adverbialer genitivus obiectivus begriffen, dann werden die Priester zum Objekt der im nomen regens ausgedrückten Handlung: „die (göttliche) Herrschaft über ein Volk von Priestern“ oder „Königsherrschaft über Priester bzw. zum Priesterdienst“. (4) Denkbar ist auch die Deutung der Priester als genitivus partitivus bzw. genus, bei dem das nomen rectum ausdrückt, wodurch das nomen regens bestimmt wird: „ein Königreich, dessen Glieder/Angehörige Priester sind“. (5) Bei einem genitivus epexegeticus wird das nomen regens durch das nomen rectum näher definitert: „ein Königreich, d.h. Priester“. (6) Versteht man die Konstruktion als einen adjektivischen Genitiv, dann wird das nomen regens durch das nomen rectum charakterisiert: „ein priesterliches Königtum/Königreich“. Eine Entscheidung wird sich erst nach der Klärung der semantischen und exegetischen Fragen treffen lassen.

Neben den grammatischen und syntaktischen Fragen steht auch das Problem des semantischen Verständnisses von hk'l'm.m;. Ist der Begriff aktivisch als Königsherrschaft257 oder mehr passivisch als Königreich zu verstehen?258 Das passivische Verständnis würde sich auf einen Herrschaftsraum beziehen, der ein Territorium und/oder eine Menschengruppe umfassen kann. Das Syntagma würde dann einen territorialen oder personalen Bereich beschreiben, dessen Bürger, Bewohner oder Angehörige Priester im literalen oder metaphorischen Sinn wären und somit in einer gewissen Parallelität zum anschließend erwähnten Begriff des „heiligen Volkes“ stehen. Eine andere Variante des passiven Verständnisses setzt den Akzent auf die Beherrschung einer Gruppe von Menschen durch einen König und der Begriff würde dann die von einem bestimmten König regierte Entität von Priestern bezeichnen, wobei als König in Ex 19,6 natürlich zuerst an Jahwe zu denken ist (vgl. auch 2Sam 3,28). Das aktiv-elitäre Verständnis von hk'l'm.m; bezeichnet eine Königsherrschaft oder ein Königtum im Sinne von einer oder mehreren herrscherlich handelnden Person(en). Das Syntagma wäre dann als eine elitäre Aristokratie aus Priestern, also als eine Hierokratie zu deuten, die herrscherliche

257 258

So RIECKER, Priestervolk, 251–254.261. Vgl. zum Folgenden die ausführliche Analyse von DAVIES, Priesthood, 70–86.

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Aufgaben gegenüber einer zu regierenden Gruppe wahrnimmt.259 Dieses Verständnis fügt sich allerdings weder in den Kontext der Exodusformel, wo nirgendwo der Gegensatz von Herrschern und Beherrschten thematisiert wird, noch in die Syntax des Satzes, in dem eindeutig das Volk als Ganzes adressiert wird („Ihr sollt mir sein …“)260 und die ~ynIh]Ko tk,l,m.m; in einer syntaktischen Parallelität zum vAdq' yAg stehen. Ein gewisser Kompromiss aus beiden Alternativen stellt die von Davies sogenannte aktiv-korporative Variante dar, wonach das Ganze des Volkes als eine dem König Jahwe zugehörige Gemeinschaft von Priestern ihm zu Diensten steht.261 Die syntaktische Parallelität zu vAdq' yAg legt nahe, das Syntagma auf das Ganze des Volkes Israel zu beziehen und nicht nur auf eine Teilgruppe desselben.262 So wie die Begriffe hk'l'm.m; und yAg263 ein sachliches Wortpaar darstellen, so stehen die Begriffe ~ynIh]Ko und vAdq' in einer semantischen

259 Vgl. SCHENKER, Königreich, 483ff., der hier eine Priesterregierung sieht, a.a.O., 487: „Nach dem hebräischen Text von Ex 19,6 verspricht der Herr dem Volk Israel, daß es heilig sein werde, weil es Priester haben wird, deren königliche Aufgabe darin besteht, es zu heiligen durch die Unterweisung im göttlichen Gesetz und durch die Feier der Liturgie der Weihe, Reinigung und Vergebung der Sünden. Die Heiligkeit des Volkes ist auf dieser Tat der Priester begründet.“ Auch S TRÜBIND, Königreich, 170–174, spricht sich im Anschluss an SCHENKER für die Deutung des Verses auf eine Priesterregierung aus. Er versteht den Vers ebenso wie ROOSE, Teilhabe, 19, als nachexilischen Einschub, der nach dem Untergang des Königtums die nachexilische Hierokratie des Tempelstaats legitimieren soll, vgl. a.a.O., 173: „Die theologische Bedeutung von Ex 19,6 besteht vor allem darin, die politische Definition Israels in die kultisch-religiöse Sprache eines von Priestern geleiteten Tempelstaats zu kommunizieren“. Vgl. dazu die berechtigte Kritik von STEINS, Priesterherrschaft, 24– 28. 260 Vgl. DAVIES, Priesthood, 81: „The emphasis is on the mode of Israel’s belonging to Yhwh, not on its mode of government.“ 261 DAVIES, Priesthood, 76. 262 SCHÜSSLER-FIORENZA, Priestertum, 118–120; WELLS, People, 52. 263 Der Begriff yAg überrascht hier auf den ersten Blick, da Israel gewöhnlich als ~[; bezeichnet wird. Während ~[; eine konkrete Gruppe von Personen und Individuen bezeichnet und stärker den faktitiven status quo eines bestehenden Volkes in seinem Eigentumsverhältnis zu Jahwe (y~i[;, „mein Volk“) beschreibt, betont der Ausdruck yAg mehr den korporativen Charakter eines Volksganzen, das gegründet, geschaffen oder auch berufen werden kann. Die Zusammensetzung dieses Volkes aus einzelnen Gliedern bzw. Menschen bleibt hier unbetont; vgl. hierzu den Gebrauch beider Begriffe in Ex 33,13 und Dtn 4,6b, sowie W ELLS, People, 53f.: „The use of yAg suggests, that Israel is not necessarily a group made up of kinship ties in the sense of close family connections and consanguineous ties. It is something different that brings these people together as a nation … it is a body which is formed, founded, established; the term ‘nation’ assumes a maker and sustainer“ (kursiv bei W.).

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Verwandtschaft, was für eine wechselseitige Interpretation der beiden Begriffskonjunktionen spricht.264 Es ist nun durchaus möglich, Israel als heiliges Volk sowohl passivisch als Herrschaftsraum bzw. -bereich, der von Jahwe regiert wird, als auch aktiv-korporativ als Herrschaftsträger im Sinne eines Königtums, dem Jahwe vorsteht und dem er herrschaftliche Befugnisse verliehen hat, zu verstehen.265 Jahwe wird somit als König vorgestellt, dem nicht nur die ganze Erde gehört (V. 5bb), sondern der auch mit seinem Volk einen Königsbund schließt und dieses nun seinerseits als Bundespartner mit königlicher Würde adelt.266 Ausgehend von diesem Verständnis von hk'l'm.m; muss auch von Anfang an für den Begriff „Priester“ eine metaphorische Bedeutung vorausgesetzt werden,267 da das Profil aller antiken Priestertümer einschließlich des israelitischen ja gerade im Herausgehobensein aus dem Volksganzen besteht.268 Hier aber wird der Begriff auf das gesamte Volk bezogen. Was aber ist das tertium comparationis bei dieser Metapher? Häufig wird eine funktionale Bestimmung im mediatorischen, missionarischen oder doxologischen Sinn angenommen.269 Aber eine mittlerische Funktion, z.B. für andere Völker, ist hier noch nicht im Blick.270 Eine solche spielt erst bei der LXX-Übersetzung der Exodusformel in hellenistischer Zeit (basi,leion i``era,teuma) eine Rolle. Auch die doxologische Rolle des Gotteslobes war zwar priesterliche Aufgabe, aber eben nicht ausschließlich. Vielmehr war immer ganz Israel zum Lobpreis seines Gottes angehalten. Eine funktionale Bestimmung des Priesterbegriffs für die Nationen ist weder in Ex 19,6

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WELLS, People, 54f. DAVIES, Priesthood, 84f.; vgl. ders., a.a.O., 86: „… a collective royal company consisting of ‘priests’.“ 266 SCHÜSSLER-FIORENZA, Priesterum, 142; RIECKER, Priestervolk, 257. 267 Richtig gesehen von DAVIES, Priesthood, 87f., und HIMMELFARB, Democratization, 90. 268 Dies spricht gegen eine Deutung im Sinne einer Priesteraristokratie bzw. Hierokratie, d.h. der Herrschaft einer Gruppe von Priestern über Israel. Weitere Einwände gegen eine solche Interpretation ergeben sich aus dem unmittelbaren Kontext durch die syntaktischen Parallelen des „Eigentumsvolkes“ bzw. der „heiligen Nation“ und aus der Antwort des ganzen Volkes in V. 8, die unverständlich bliebe, wenn es nur um eine Zusage einer herausgehobenen Gruppe ginge; vgl. zu entsprechenden Deutungsversuchen R IECKER, Priestervolk, 254–256. 269 Vgl. hierzu DAVIES, Priesthood, 95, der die in der Forschung vertretenen Funktionen im Blick auf die Völker zusammengetragen hat. 270 Z.B. gegen SCHNEIDER, Ex, 42; WELLS, People, 57.129; R IECKER, Priestervolk, 259–261, ähnlich HERMISSON, Sprache, 103. 265

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selbst, noch vom Kontext der Sinaiperikope her angezeigt, in der die Verantwortung Israels gegenüber den Heidenvölkern keine Rolle spielt.271 Im Licht der gesamten Exodusformel und vor allem der Parallelformulierung vAdq' yAg und hier insbesondere des semantischen Referenzbegriffs „heilig“ muss der Terminus vielmehr als ein Verhältnisbegriff bestimmt werden. Nicht priesterliche Funktionen stehen hier im Mittelpunkt, sondern das priesterliche Sein in der Gegenwart Jahwes. Sowohl der Hintergrund des Königsbundes als auch die Bezeichnung Israels als „Eigentumsvolk aus allen Völker“ (~yMi[;h'-lK'mi hL'gUs.), das „für“ Jahwe (yli) da sein bzw. ihm gehören soll,272 und die Bestimmung als „heiliges Volk“ (vAdq' yAg), das kontakt-, begegnungs- und gemeinschaftsfähig mit Jahwe ist, legen nahe, dass es sich auch bei der Verwendung des Priestertitels um einen Verhältnisbegriff handelt.273 Von Israel wird hier weniger die Heiligkeit gefordert, sie wird ihm vielmehr zugesprochen. Entsprechend ist die Zusage der Exodusformel keine konditionierte Belohnung für Israels Gehorsam, sondern der konsequente und logische Ausdruck des Bundes, den Jahwe mit Israel schließt.274 Die relationsontologische Dimension wird auch durch das dreimalige yli in der Exodusformel unterstrichen, welches ein herausgehobenes, eben heiliges Beziehungs- und Gemeinschaftsverhältnis anzeigt,275 271 DAVIES, Priesthood, 97: „The problem with those perspectives which see Israel’s relation to the nations as portrayed through the image of priesthood is that they assume, in most cases without feeling the need of any exegetical justification, that one must define priesthood in terms of what it is that priests do, particularly what it is they do in relation to other people“ (kursiv bei D.). 272 R IECKER, Priestervolk, 259. DAVIES, Priesthood, 62, sieht in yl einen emphatischen Akzent, wonach Israel in Anbetracht vieler Alternativen eine Beziehung zu Jahwe haben und ihm zugehören soll. Es ist somit Ausdruck des gewünschten exklusiven Beziehungsund Bundesverhältnisses. 273 SCHÜSSLER-F IORENZA, Priestertum, 140: „Der Grundtenor der Bundeszusage von Ex 19,4–6 ist also die ausschließliche Relation Israels zu dem Weltherrscher und heiligen Gott Jahwe, die eine Beziehung ganz besonderer, hervorragender und enger Art ist.“ Ebenso W ELLS, People, 55: „The use of vwdq … indicates not only a sense of belonging to Yhwh but also a quality of relationship with him that denotes a religious dimension, in the manner of priests …“ 274 W ELLS, People, 46: „Thus the ‚if‘ is not a conditional suggesting cause and effect, but almost the reverse. It describes a logical relation between responsibilities and privileges, in which Israel is invited to participate.“ 275 Auch DOHMEN, Ex 19–40, 63, fokussiert das Besondere der priesterlichen Identität Israels auf die „besondere Gottesnähe bzw. einzigartige Gottesbegegnung“ und trifft damit wohl am ehesten die Textintention. Vgl. auch HERMISSON, Sprache, 102: „Der Sinn der Worte für Israel wird in erster Linie sein, daß Israel ein unmittelbares Verhältnis zu Gott haben soll.“ Ebenso W ILDBERGER, Jahwes Eigentumsvolk, 82, und DAVIES, Priesthood, 93–100:97: „The grant is preeminently one of relationship with him. The other nations are not in view as objects of Israel’s attention“; MOSIS, Aufbau, 25: „…

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das völlig einseitig von Jahwe her zugesprochen wird. Dass dieses „heilige“ Beziehungsverhältnis auch einen ethischen Ausdruck finden soll und muss, soll hier nicht bestritten werden,276 aber in der Exodusformel steht der relationsontologische Horizont durch die ausschließliche Dominanz von Verhältnisbegriffen eindeutig im Vordergrund. Die konkrete Form des Bundesverhältnisses Israels zu Jahwe ist Gegenstand einer langen Debatte. Im 20. Jahrhundert dominierte die Deutung des Sinaibundes als eines Vasalitätsverhältnisses auf dem Hintergrund hethitischer und assyrischer Vasalitätsverträge aus den ersten beiden Jahrtausenden v.Chr., mittels derer eine Hegemonialmacht ihren Klientelvölkern oder ein königlicher Ober- bzw. Lehensherr abhängigen Klientelkönigen bestimmte Obligationen auferlegt, aber auch Privilegien zugespricht.277 So zahlreich die Parallelen auch sind, so sehr fallen doch auch die Unterschiede ins Auge. Denn weder hat Jahwe Israel unterworfen, was die Voraussetzung jedes Vasalitätsvertrages war, noch ist der Sinaibund einseitig zugunsten des Oberherrn konzipiert, ganz im Gegenteil. Während sich die Vertragsgeber in den entsprechenden Verträgen erheblich finanzielle Vorteile festschreiben ließen, bestand der „Vorteil“ antiker Vasallen v.a. darin, nicht ausgelöscht zu werden. Demgegenüber ist beim Sinaibund der „Vorteil“ Jahwes nicht recht erkennbar, während Israel überraschenderweise weitreichende Privilegien eingeräumt werden. Aus diesem Grund wird in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr ein Stiftungs- oder Patronatsverhältnis als Modell für den Sinaibund vorgeschlagen.278 Solche Stiftungs- und Patronatsverhältnisse basieren auf dem Wohlwollen des Stifters bzw. Machthabers und der Akzent liegt hier nicht auf den Verpflichtungen des Vasallen, sondern auf der Selbstverpflichtung des Stifters, der natürlich auch die Loyalität des Begünstigten zu entsprechen hat. Gegenstand solcher Stiftungs- und Patronatsverhältnisse können materielle Zuwendung ebenso sein wie privilegierte Positionen oder eben auch Priesterämter.279 Exakt an dieser Stelle kommen nun die atl. Bundesverhältnisse des Abraham- und Danicht eine Funktion, die Israel gegenüber den Heiden oder gegenüber Jahwe auszuüben hätte, sondern den Adel, der dem Volk von Jahwe her und in seinen Augen zu eigen ist“; STEINS, Priesterherrschaft, 35f.: „Das ‚Priesterliche‘ besteht in der Realisierung der Nähe Gottes … Israel ist ein ‚Königreich von Priestern‘ im Hören auf die Stimme Gottes“ (kursiv bei S.). Vgl. dagegen R IECKER, Priestervolk, 259–261, der für eine Funktion gegenüber den Heidenvölkern plädiert. 276 Vgl. DOHMEN, Ex 19–40, 63: „Die Wesensbeschreibung Israels nach Ex 19,5–6, die vor allem im Begriff des ‚priesterlichen Königreichs‘ ausgedrückt wird, ist keine Beschreibung eines Ist-Zustandes, sondern dessen, was Israel sein soll. In der Konzeption eines ‚Werde, was du bist!‘ wird Israels Identität festgehalten und den kommenden Generationen zur ‚Vergegenwärtigung‘ anheim gestellt.“ 277 Vgl. z.B. KOROŠEC, Staatsverträge; MENDENHALL, Covenant Forms; B EYERLIN , Herkunft; FRANKENA, Vassal-Treaties; KITCHEN, Fall and Rise. Für ROOSE, Teilhabe, 161, ist diese Herleitung attraktiv, weil sie dem als Priestervolk bezeichneten Israel seinerseits die Rolle eines Vasallen- bzw. Klientelkönigs und damit eine Herrschaftsrolle gegenüber fremden Völkern zuweist. Allerdings muss auch sie, ebd., eingestehen, dass der königliche Aspekt in Ex 19,5f. stark in den Hintergrund tritt und die Stelle keine „königliche Rolle Israels im Blick hat“. 278 Vgl. W EINFELD, Covenant of Grant; P OSTGATE, Grants and Decrees; HAHN, Kinship; DAVIES, Priesthood, 170–188. 279 Vgl. DAVIES, Priesthood, 183–187.

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vidbundes (vgl. Gen 17,6.16; 35,11; 2Sam 7,8–11) und v.a. auch der Sinaibund im Licht von Ex 19,6 in Betracht (vgl. auch die Verhältnisbestimmung im Levi-Segen in Dtn 33,8–11). Für die Erwählung Israels und die Berufung zu einem „Königtum von Priestern“ hat sich das Modell eines Stiftungs- und Patronatsverhältnisses als geeigneter erwiesen als das Vasalitätsmodell.280

Versteht man das Bundesverhältnis Israels zu Jahwe als ein Stiftungs- oder Patronatsverhältnis, dann wird auch der Hintergrund des Priesterbegriffs in Ex 19,6 verständlich. In der polytheistischen Welt des Altertums hatte jede Patronatsgottheit ihr eigenes Volk bzw. ihre eigene Nation oder ihr eigenes Reich und jedes Volk beauftragte eine besondere „Kaste“ mit der „Beziehungspflege“ zur jeweiligen Patronatsgottheit. Diese Kaste galt als „heilig“, weil sie den Umgang mit den heiligen Göttern zu pflegen hatten. Mit dem monotheistischen Bekenntnis zu Jahwe als dem einen Gott und Schöpfer wird die gesamte Welt zu seinem Königreich. Entsprechend erscheint der Status Israels in einer Analogie zum Status der Priestertümer gegenüber den jeweiligen Gottheiten in den verschiedenen antiken Kulturen.281 In diesem Licht soll die zentrale Bezeichnung Israels als ein „Königtum von Priestern“ somit sein herausgehobenes Verhältnis zu Jahwe unterstreichen, das erstens durch die Erwählung, zweitens durch die relational bestimmte Heiligkeit und drittens durch die Gottesunmittelbarkeit charakterisiert ist. So wie Priester überall in der antiken Welt und eben auch in Israel das Recht hatten, Gott (bzw. der jeweiligen Gottheit) aufgrund ihres besonderen Status der Heiligkeit im Rahmen des Kultes und des Heiligtums „nahen“ (vgl. Ex 19,22) und in seine Gegenwart treten zu dürfen (Ex 28,35), so hat Israel das Recht, einen durch besondere Nähe und Unmittelbarkeit charakterisierten Umgang mit Jahwe zu pflegen.282 Ganz Israel wird mit dieser Formel somit eine Sonderexistenz unter den Völkern zugesprochen.283 Mit dem Vorgang der Erwählung und Heiligung verbindet 280

DAVIES, Priesthood, 187f. SCHWARTZ, Holiness, 51: „Thus Israel’s status vis-à-vis the one God is analogous to that of the priests vis-à-vis the gods of each people.“ 282 Vgl. z.B. NOTH, Ex, 126, und SCHÜSSLER-FIORENZA, Priestertum, 150: „Diese Unmittelbarkeit und Nähe Israels zu Jahwe, die das Ziel der Heilstaten Gottes in der Geschichte war, bedarf keiner Mittlerinstitution mehr, weder der königlichen noch der priesterlichen. Vielmehr ist dem ganzen Volk das priesterliche Königtum, das später die Könige analog zur orientalischen Umwelt für sich beanspruchten, zugesagt. Ganz Israel ist die wahre, von Gott gewollte Königsinstitution und als heiliges Volk Priester für seinen Gott, der in seiner Mitte ist.“ 283 Dass auch die Völker „zu“ Jahwe gehören, wird schon durch V. 5c zum Ausdruck gebracht. Israel ist nicht das einzige Volk, das in einer Beziehung zu Jahwe steht. Ihm gehören vielmehr alle Völker. Sein Beziehungsverhältnis ist jedoch ein einzigartiges und herausgehobenes, was durch v.a. durch die Begriffe hL;gus. und vAdq' yAg zum Ausdruck gebracht wird. 281

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sich nun allerdings auch die Forderung der Separation und Isolation, die nur eine sehr eingeschränkte Kontaktaufnahme mit anderen Völkern erlaubte. Weil die adäquateste deutsche Übersetzung „Königtum von Priestern“284 dem Bedeutungsspektrum des Syntagmas notwendigerweise kaum gerecht wird, legt sich eine Paraphrasierung nahe: Israel als ganzes Volk ist ein Königreich im Sinne eines passiven Herrschaftsraumes, über das Jahwe als König regiert, und gleichzeitig ein aktives Königtum, das an Jahwes Herrschaft partizipiert. Dieses Königreich hat als Gemeinschaft die korporative Identität von Priestern, deren ontisches Prärogativ darin besteht, in einer herausgehobenen Stellung vor und in einer unmittelbaren Nähe zu Jahwe zu stehen. Die Exodusformel steht mit dieser Identitätsbestimmung Israels wie ein erratischer Block nicht nur in der Sinaiperikope, sondern überhaupt in der atl. Überlieferung. Auch in Jes 61,5f. wird die Botschaft der Exodusformel nicht eingeholt. Aber in dieser metaphorischen Zuschreibung einer priesterlichen Identität für das ganze Volk Israel besteht die Grundlage für alle späteren Metaphorisierungen. Hier liegt der literarische Ausgangspunkt für die metaphorische Applikation des Priesterbegriffs auf neue Sinnzusammenhänge. Gleichzeitig kann hier nur mit äußerster Zurückhaltung und Vorsicht von einem Allgemeinen Priestertum gesprochen werden, weil dieser dogmatisch geprägte Begriff in seiner anachronistischen Verwendung mehr Missverständnisse aufwirft, als er zur Erhellung der Sache beiträgt. 4.3 Jes 61,5f. In der eschatologischen Heilszusage von Jes 61,5f. steht der Zion als kultischer Mittelpunkt im Zentrum der Völkerwelt. In Aufnahme des Motivs der Völkerwallfahrt bringen die Völker unter der Führung ihrer Könige ihre Opfergaben und ihren Reichtum zum Zion und dienen dem als Priesterschaft charakterisierten Volk Israel. Sie übernehmen somit die Rolle der Leviten, die zum Hilfsdienst für das Priestervolk Israel bestimmt sind, während Israel die Rolle des Priestervolkes für die Völkerwelt zukommt.285 284 W ELLS, People, 51: „Thus, for the most literal translation, we have ‘kingdom of priests’.“ Vgl. aber auch DAVIES, Priesthood, 94, der die Übersetzungen „priesterliche Könige“, „königliche Priester“ oder „Könige und Priester“ als gleichwertig betrachtet, sowie R IECKER, Priestervolk, 262, dem es vor allem auf die Verbindung sowohl der herrschaftlichen als auch der priesterlichen Funktionen ankommt. 285 Nach WESTERMANN, Jes 40–66, 294, und VOLZ, Jes II, 253f., ragen die V. 5 und 6 sowohl sachlich wie stilistisch aus dem Gesamtkontext heraus und müssten daher als sekundär betrachtet werden. Während in den V. 4 und 7–11 in großen Linien eine Wandlung der Situation Judas angekündigt werde, gingen die V. 5 und 6 stark ins Detail. Allerdings macht T IEMEYER, Rites, 69, darauf aufmerksam, dass sich auch in den benach-

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Ähnlich wie in Ex 19,6, jedoch unabhängig von der Exodusformel,286 werden also auch in Jes 61,6 alle Israeliten als Priester des Herrn angesprochen und damit die Trennung zwischen Priestern und Nicht-Priestern aufgehoben.287 Die Referenzgröße ist hier eindeutig das levitische Paradigma mit seiner Zweiteilung in Priester und Leviten. Anders als in Ex 19,6 dient der Priesterbegriff hier nicht zur Verhältnisbestimmung zwischen Israel und Jahwe. Im Mittelpunkt steht hier nicht die Erwählung, Heiligkeit und Gottesunmittelbarkeit, sondern die Erwartung, dass das nachexilische Israel in seiner materiellen Not von den Völkern versorgt wird (vgl. auch 60,7.10). Die Vision weist dem in der Gegenwart notleidenden Volk eine priesterliche Rolle unter den Völkern zu, die kommen werden und die landwirtschaftliche Arbeit für Israel übernehmen und ihm auf diese Weise mit ihrem Reichtum dienen werden, damit Israel analog zum Stamm Levi und den Priestern frei ist zum kultischen Gottesdienst für Jahwe. Eine priesterliche Funktion Israels für die Völker, etwa im Sinne einer Heilsmediation wird in Jes 61,5f. nicht beschrieben.288 Es wird lediglich die dienende Funktion der Völker für die Priesternation Israel thematisiert.289 Im Hintergrund steht möglicherweise Dtn 18,1–8, wo im Priesterbarten Versen dieselben stilistischen und sachlichen Unebenheiten finden wie in V. 5f. und die Einwände damit weitgehend hinfällig sind. Sie betrachtet den gesamten Komplex Jes 60–62 als literarische Einheit und Jes 61,5f. als integralen Bestandteil desselben, a.a.O., 70. 286 ROOSE, Teilhabe, 157f., und DAVIES, Priesthood, 212–217, möchten in den Versen dagegen verschiedene Anspielungen auf Ex 19,4–6 sehen. Eine Abhängigkeit beider Stellen ist jedoch weder in der einen noch in der anderen Richtung gegeben. Der Priesterbegriff wird jeweils völlig unterschiedlich gebraucht, und es gibt auch weder textlich noch inhaltlich Indizien einer Abhängigkeit; vgl. SCHÜSSLER-FIORENZA, Priestertum, 155.158–160. 287 HANSON, Dawn, 67f., spricht von einer „astonishing democratization of the formerly exclusive sacerdotal office“. T IEMEYER, Rites, 284, weist ferner darauf hin, dass die nachexilische Kluft zwischen im Land verbliebenen Juden und zurückkehrenden Exulaten überwunden scheint. 288 Richtig gesehen von D AVIES, Priesthood, 216: „Far from being engaged in a mission, or a service role in relation to the nations, Israel is rather to be held in honour and to have the riches of the nations placed at his disposal.“ Vgl. dagegen OSWALT, Is 40–66, 571f., der hier Israels Auftrag darin sieht „to be priest to the nations“. 289 W ESTERMANN, Jes 40–66, 294, macht auf die hierarchische Rollenverteilung aufmerksam. Zwar stehen die Verse auf dem Hintergrund des Motivs der Völkerwallfahrt zum Zion, aber die Rollenverteilung ist alles andere als egalitär, im Gegenteil: Die Heidenvölker haben die niederen Arbeiten zu verrichten, während die Israeliten die geistig führende Priesterklasse bilden. Auch T IEMEYER, Rites, 276, betont die scharfe Unterscheidung sowohl zwischen Juden und Heiden, als auch zwischen den von ihnen ausgeübten Tätigkeiten. Sie weist aber auch auf Jes 56,1–8 hin, a.a.O., 276–281, wo Proselyten und Eunuchen ein gleichwertiger Rang im Volk und eine gleichberechtigte Teilnahme am Kult zugesprochen wird. T IEMEYER, a.a.O., 279.281, vermutet, dass es sich in Jes 56,1–8 um eine spätere Korrektur von Jes 61,5f. aus der Feder eines anderen Autors handelt, der

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gesetz die Versorgung und der Unterhalt der levitischen Priesterschaft dahingehend geregelt wird, dass die anderen elf Stämme mit ihren Erstlingsgaben die Leviten versorgen sollen, damit diese frei zum stellvertretenden Gottesdienst sind.290 M. Himmelfarb versteht Jes 61,6 bereits im Licht der nachexilischen Kompensationsbemühungen in Anbetracht des priesterlichen Versagens: „[T]he emphasis on Israel’s special status in relation to other nations can also undercut the status of Israelite priests; the more Israel is differentiated from other nations, the less place there is for hierarchical distinctions within the holy people.“291 In der Tat steht der Beleg im letzten Teil des Jesajabuches in einer Reihe von Texten wie Jes 56,1–8 und 66,21, die alle in unterschiedlicher Weise eine deutliche Ausweitung des Priestertums propagieren. Für unseren Zusammenhang ist zunächst von Bedeutung, dass sowohl in Jes 61,6 als auch in Ex 19,6 der Priesterbegriff über seinen eigentlichen Sinngehalt hinaustritt und nunmehr das ganze Volk Israel als eine Gemeinschaft beschreibt, die in einem herausragenden Verhältnis zu Gott steht.292 Von einer Spiritualisierung des Priesterbegriffs kann mit Sicherheit keine Rede sein.293 Allerdings muss hier von einem weiteren Schritt hin zu einer Metaphorisierung gesprochen werden, bei der mit Hilfe des Priestertitels die Identität Israels im Verhältnis zu Gott und der Völkerwelt bestimmt wird. Jedoch wäre auch hier die Zuschreibung eines „Allgemeines Priestertums“ auf Israel nicht hilfreich, da der Begriff mehr verstellen als erklären würde. 4.4 Jes 66,21 In einer äußersten Zuspitzung findet sich fast am Ende des Jesajabuches in Jes 66,18–21 die alles Bisherige weit übertreffende endzeitliche Erwartung, dass Jahwe sich selbst aus den zum Zion kommenden Heidenvölkern „Priester und Leviten“ beruft.294 Hier stehen wir nun tatsächlich an einer Grenze, die den Rahmen des israelitisch-jüdischen Priestertums bei Wei-

Jes 61,5f. dahingehend differenziert, dass die Proselyten zu den Juden und nicht zu den Heiden und deshalb nach Jes 61,6 auch zu den Priestern gerechnet werden müssen. 290 SCHÜSSLER-FIORENZA, Priestertum, 155–166. 291 HIMMELFARB, Kingdom, 2. 292 Vgl. DAVIES, Priesthood, 217, der sich zu Recht gegen eine Reduktion der Stelle auf das Priestertum im literalen Sinn ausspricht. 293 HERMISSON, Sprache, 103. 294 Nach H IMMELFARB, Democratization, 101, kann die Platzierung dieses Wortes kein Zufall sein, sondern soll die Bedeutung dieses Anspruchs unterstreichen.

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tem sprengt und vorausblickt auf einen anderen, neuen Bund.295 Die noch in Jes 56,1–8 und erst recht in 61,5f. aufrecht erhaltenen Mauern zwischen Juden und Heiden sind hier im Blick auf das Eschaton niedergerissen.296 Denn wenn ein Heide Priester und damit unbegrenzt kultfähig werden kann, gewinnt er Zutritt zum innersten Zirkel des atl. Bundesvolkes.297 Für Oswalt, der auf die Analogie zu Jes 56,5–7 verweist, ist „this thought […] so shocking, that it can only have been intentional“.298 Auch Westermann erinnert daran, dass die Ankündigung für orthodoxe Kreise „unerträglich“ geklungen haben muss.299 Möglicherweise waren aber gerade sie die Adressaten jener Kritik, die implizit in dieser Vision enthalten ist. Tiemeyer interpretiert Jes 66,18–24 als einen Reflex des „disillusionment with the unorthodoxy of the existing Judahite priesthood“ und als „search for a viable alternative“.300 Anders als in Ex 19,6 und Jes 61,6 handelt es sich hier allerdings nicht um einen metaphorischen Gebrauch des Priester- und Levitenbegriffs, 295

H IMMELFARB, Democratization, 100, spricht gleichzeitig von einer Untergrabung der priesterlichen Kategorien Israels als auch von einem „move toward universalizing Israel’s national symbols“. 296 T IEMEYER, Rites, 285f., sieht hier aufgrund ihrer literarkritischen Analyse eine theologische Entwicklung: „In view of these differences I propose that Isa 56:1–8 and 66:21 mirror a gradual development rather than two parallel accounts. While 56:1–8, speaking of the immediate future, limits the priesthood to Judahites and proselytes, 66:18–24, speaking of the end-times, includes all Gentiles. In this way, I suggest viewing the later text as representing the final drastic step in the democratization or, rather, globalization of the priesthood, to become true at the time of the final ingathering of the nations.“ 297 Dass diese Interpretation auch den grammatischen Sinn der Aussage trifft, zeigt T IEMEYER, Rites, 281f., indem sie diese Deutung gegen alternative Interpretationen, z.B. im Sinne zurückkehrender jüdischer Exulanten, die Priester werden, oder zurückkehrender Priester, die wieder levitische Priester werden, so z.B. STRÜBIND, Königreich, 175, abwägt und ihr klar den Vorzug gibt. 298 OSWALT, Is 40–66, 690. 299 W ESTERMANN, Jes 40–66, 336. Allerdings betrachtet W ESTERMANN in Jes 66 V. 18.19.21 als eine Einheit im Gegenüber und Widerspruch zu V. 20.22–24, welche dann eine Korrektur der vorangehenden Verse darstellen. Nach W ESTERMANN, ebd., beschreibt die erste Versgruppe eine missionarische Bewegung zu den Völkern in die ganze Welt, während die zweite Versgruppe von einer Bewegung der Völker zum Zion bestimmt ist, die zu einer endzeitlichen Scheidung in ewige Anbetung und ewige Vernichtung führt (V. 23f.). Für WESTERMANN ist dieser Schluss des Tritojesajabuches ein „eindrucksvolles und bewegendes Zeichen“ dafür, dass nach dem Exil keine Einheit mehr herrschte im Blick auf eine Heilsperspektive für die Völker. Allerdings scheinen die sammelnde Komm- und die missionarische Geh-Struktur in diesen Versen bewusst ineinander zu fließen, denn bereits in V. 18 ist von einer Komm-Bewegung die Rede, die nach der Aussendung in V. 19 in V. 20 zu ihrem Ziel kommt. Die Verse sind nicht so widersprüchlich, wie W ESTERMANN sie versteht. 300 T IEMEYER, Rites, 286.

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denn die Begriffe werden streng in ihrer atl. Bedeutung verwendet. Neu und ungewöhnlich ist lediglich, dass Heiden in diesen schon innerjüdisch streng reglementierten Kreis aufgenommen werden sollen. Insofern stehen wir bei Jes 66,21 vor der bei Weitem progressivsten Priesterkonzeption der vorneutestamentlichen Zeit. 4.5 Jer 33,21f. Bei Jeremias Erwartung eines neuen Bundes (Jer 30–33; vgl. v.a. 31,31– 34) spielt die Priesterschaft allenfalls eine Nebenrolle. In Jer 31,14 wird sie als Teilhaber eschatologischer Freude über den neuen Bund vorgestellt und in 33,17f. wird den Priestern und Leviten eine „Kontinuität in der politischen und religiösen Leitung“ verheißen, um durch eine „personale Sicherung“ die Institution in tempelloser Zeit zu bewahren.301 Die David verheißene Führungsrolle wird nun den Priestern und Leviten übertragen. In 33,19–22 ist dann durch eine irreale Formulierung von einem von Gottes Seite her unzerbrechlichen Bund mit David bzw. dem Königtum sowie mit „den Leviten, den Priestern, meinen Dienern“ die Rede.302 Wahrscheinlich greift der Prophet hier die an Pinhas ergangene Verheißung eines „Bundes des ewigen Priestertums“ aus Num 25,12f. auf, die Pinhas dort als Belohnung für seinen Eifer verheißen wurde.303 In V. 22 stellt er diese Zusagen in den Kontext der Abrahamsverheißung, wobei die Bevorzugung der Leviten gegenüber der fast zeitgenössischen Konzeption Ezechiels in Ez 44 auffällt. Das Motiv findet eine Fortsetzung in Mal 2,4.8 und bei Jesus Sirach im „Lob der Väter“ (Sir 44–50), wo der „ewige Bund“ mit Aaron (45,6–22) auch durch die außerordentliche Länge des Lobes für Aaron und Pinhas (45,6–26) unterstrichen und hervorgehoben wird. In diesem Zusammenhang wird Pinhas und seinen Nachkommen im Anschluss an Num 25,12f. das „Hohepriesteramt in Ewigkeit“ verheißen (45,24). Bemerkenswert für unsere Fragestellung ist hier die eschatologische Hoffnung auf einen neuen, unzerbrechlichen Bund, der explizit auch das Priestertum einschließt. Damit wird bereits hier die nachexilisch so oft beklagte Insuffizienz des zeitgenössischen Priestertums zum Ausgangspunkt eschatologischer Hoffnungen.

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FISCHER, Jer 26–52, 234. Vgl. F ISCHER, Jer 26–52, 236: „In gleicher Weise unzerbrechlich wie jene Naturordnungen sind Gottes Beziehungen mit den schon zuvor in V. 17f. genannten Personen.“ 303 FISCHER, Jer 26–52, 236. 302

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Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit

4.6 Ez 40–48 Eine wesentlich zentralere Rolle spielt die Priesterschaft im Entwurf eines eschatologischen Tempels und einer eschatologischen Priesterschaft bei Ezechiel (Ez 40–48). Diese neun Kapitel schließen an die Verheißung eines neuen Heiligtums in Ez 37,26–28 an und schildern, wie bereits Ez 8–11, eine große Entrückungsvision des Propheten. Nach einer Reihe von architektonischen Messungen des gesamten Tempels und des Tempelareals (Ez 40–42) schaut Ezechiel die Rückkehr der Herrlichkeit Jahwes in den Tempel (Ez 43,4f.). Ez 44 enthält Dienst- und Lebensordnungen für Priester und Leviten. In Ez 45f. folgen weitere Ordnungen für die Tempeldiener, die Stadtbewohner und den Fürsten, sowie über Maßsysteme, Abgaben, Opfer, Feste, Kultverhalten und das Erbrecht des Fürsten. In den beiden letzten Kapiteln weitet sich die Perspektive wieder zu einer Schilderung der Tempelquelle und des Flusses, der daraus entsteht (47,1–12), sowie zu einer Beschreibung und Aufteilung des umliegenden Landes und schließlich „der Stadt“ (Jerusalem) mit ihren Ausmaßen, Toren und ihrem Namen (48,30–35).

Das hier projektierte Bild eines vollkommenen Kultortes enthält vice versa eine Kritik an der Unvollkommenheit des vergangenen und gegenwärtigen Kultes,304 der für Ezechiel nicht nur aufgrund der Zerstörung Jerusalems und der Exilssituation Israels noch auf seine Vollendung wartet. Es ist vielmehr das grundlegende anthropologisch-hamartiologische Defizit, das einer Lösung bedarf (vgl. Ez 36,26f. u.ö.). Die Interpretationen dieses Entwurfs reichen von der literalen Deutung auf einen physischen Tempel, der zukünftig in Israel gebaut werden soll, über die figurative Deutung eines idealen irdischen oder himmlischen Tempels,305 bis hin zur Bestimmung eines bereits gegenwärtigen realen himmlischen Tempels, der dann auf Erden in „non-structural form in the latter days“ verwirklicht werden soll.306 304

Ez 40–48 sind im Ezechielbuch deutlich erkennbar als Gegenstück zu Ez 8–11 konzipiert. In beiden Abschnitten wird der Prophet von seinem Exilsort entrückt und ins Innere des Tempels geführt, wobei er in Ez 8–11 den Auszug der Herrlichkeit Jahwes aus dem unreinen, mit Sünde befleckten Tempel schaut und in Ez 43 die Rückkehr dieser Herrlichkeit an ihren ursprünglichen Ort. Damit ist im gesamten Buch mehr oder weniger die Frage nach den Bedingungen der heilvollen Gegenwart Jahwes dominant, vgl. ZIMMERLI, Ez II, 977. 305 Vgl. ZIMMERLI, Ez II, 979: „Nur wenn beide Grundtendenzen: die Verheißung einer visionär erschauten, als göttliches Geschenk angekündigten Zukunft und (auf der Basis dieses Geschenkes) die Verpflichtung auf eine von reformerischen Gedanken getragene, dem Menschen in Israel als Gebot aufgetragene neue Ordnung zur Geltung gekommen sind, wird der Zusammenhang 40–48 richtig verstanden sein.“ 306 Vgl. hierzu B EALE, Temple, 335, der selbst, a.a.O., 338, die letzte Deutungslinie vertritt: „… Ezekiel pictures the ongoing existence of the heavenly temple in the future when it will descend, but we would argue, not through a handmade structure“, ebenso 353. Auf eine figurative bzw. nicht-irdische Bedeutung weist bereits die Einleitung in Ez 40,1–2 hin, wo der Prophet von einem „sehr hohen Berg“ herab „etwas wie den Bau einer

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Im Blick auf das Priestertum und den Kult, der in diesem idealen Heiligtum seinen Ort hat, sind verschiedene Beobachtungen von Bedeutung. Zum einen ist der gesamte Entwurf auf die Sicherung der Heiligkeit des eigentlichen Tempels angelegt. Die großzügige Umfassung und Ummauerung des Tempelsbezirks hat den einen Sinn und Zweck, „dass das Heilige von dem Unheiligen geschieden sei“ (Ez 42,20). Diesem Schutz der Heiligkeit dient auch die absolute Trennung vom Palast des davidischen Herrschers. Der Tempel ist nicht mehr wie noch im salomonischen Konzept eine Art „Hofkapelle“ innerhalb einer Palastanlage, sondern ein eigenständiges und unabhängiges Gebäude, das auch nicht mehr durch die nahe gelegenen Grablegen der jüdischen Könige kultisch kontaminiert wird (Ez 45,1–8; vgl. 43,7–9). Zu diesem Konzept gehören auch die ausladenden Toranlagen (Ez 40,6–37), welche den Zugang zum Tempel besser überwachbar machen sollen, damit kein Unbefugter Zutritt zum Heiligtum findet und seine Heiligkeit stört. Zum Zweiten fällt die Neugliederung des priesterlichen Dienstes auf, der von der klaren Hierarchie von Priestern bzw. Zadokiden und Leviten geprägt ist (Ez 44). Zum Dritten fehlen neben verschiedenen anderen Tempelgegenständen (wie z.B. das bronzene Becken, der goldene Leuchter, der Tisch der Schaubrote, der Räucheraltar) auch der Vorhang vor dem Allerheiligsten, das Salböl, die Bundeslade mit den Cherubinen auf der Deckplatte und die Institution des Hohepriesters. Auch das abendliche Opfer und der große Versöhnungstag werden nicht mehr erwähnt. Nun kann die Nichterwähnung all dieser Gegenstände, Ämter und Opfer auf einem bloßen Zufall beruhen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich hier analog zu Jer 3,16f. um eine eschatologische Neukonzeption des Kultes und Tempels handelt, für welche die fehlenden Gegenstände, Ämter und Opfer zum alten, dann obsolet gewordenen Kult gehören.307 Die ezechielische Konzeption eines vollkommenen Kultortes mit einer folglich ebenso vollkommenen Priesterschaft fügt sich nahtlos an die jeremianische Hoffnung auf einen neuen Bund mit einem erneuerten Priestertum an. Durch die Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch Nebukadnezar konnte die bisherige Tempel- und Kultkonzeption mitsamt ihrer Priesterschaft nicht mehr der Garant für eine heilvolle Zukunft Israels sein (vgl. Jer 7,1–15).

Stadt“ schaut; vgl. Apk 21,10. Weitere Hinweise auf ein figuratives Verständnis ist die vollkommen quadratische Struktur des Tempels in Ez 48,16, welche die topographischen Bedingungen Jerusalems völlig außer Acht lässt. Auch die Beschreibung des Flusses, der aus dem Tempel quillt, 47,1–2, deutet auf ein symbolisches Verständnis hin. 307 BEALE, Temple, 354–361.

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Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit

4.7 Sach 3,1–10 Die gehobene Bedeutung des Hohepriesters in nachexilischer Zeit kommt insbesondere in der Ämterkonzeption Sacharjas zum Ausdruck, der von einer „Doppelspitze“ in der Führung Israels ausgeht: In dem Visionenzyklus der sog. „Nachtgesichte“ Sacharjas wird in der Vision von den beiden „Ölsöhnen“ (Sach 4,1–14) deutlich, dass der priesterliche und der königliche Gesalbte zwar von ihren Aufgaben her zu unterscheiden, aber dennoch funktional aufeinander bezogen sind und eine Doppelspitze bilden, die nicht mehr einseitig aufgelöst werden kann ohne damit die gesamte Herrschaftskonstitution in Frage zu stellen. Grundlage für diese Konstruktion ist das Ideal eines gereinigten Priestertums in der vorangehenden Vision in Sach 3,1–10.308 In Sach 3,4 wird im Rahmen der Vision einer himmlischen Gerichtsszene (3,1–7) ein Reinigungsakt des nachexilischen Hohepriester Josua beschrieben, der von kultischer Unreinheit und Sünde befreit wird. Wahrscheinlich handelt es sich bei der Unreinheit Josuas weniger um eine individuelle, sondern vielmehr um eine korporative und damit repräsentative. Josua wäre dann der Repräsentant der unrein gewordenen Exulanten im Allgemeinen (vgl. Jes 4,3–4) und der im Exil ebenso unrein gewordenen Priester im Besonderen.309 Der Reinigungsakt vollzieht sich konkret durch einen Wechsel der Kleider. Nun ist ein ritueller Kleiderwechsel beim Hohepriester nur bei zwei Gelegenheiten vorgesehen: einmal bei seiner Einsetzung (Ex 29,5f.; Lev 8,7–9) und zum anderen am Yom Kippur (Lev 16,4). Tiemeyer begründet überzeugend, dass in Sach 3 an den großen Versöhnungstag gedacht ist,310 zumal in V. 9 vom „Wegnehmen der Sünde des Landes an einem Tag“ die Rede ist. Mit der Reinigung des Hohepriester Josua ist dieser wieder in der Lage am Yom Kippur das Sühnopfer für das Volk wirkungsvoll zu vollziehen.311 Unter den beiden Voraussetzungen, dass er Gott gehorsam ist und seine hohepriesterlichen Pflichten erfüllt, wird ihm die Verantwortung für den Schutz des Tempels vor illegitimem Zutritt (von Fremden, vgl. Ez 308

Es ist in der Forschung umstritten, ob die Vision in Sach 3,1–10 die vierte Vision eines Acht-Visionen-Zyklus ist und dann im Rahmen einer konzentrischen Anordnung von Visionspaaren ein Paar mit der dann fünften Vision von den beiden „Ölsöhnen“ in 4,1–14 bildet, oder ob es sich bei Sach 3 um einen Einschub bzw. eine Unterbrechung des Visionenzyklus handelt und 4,1–14 somit die zentrale Vision im Rahmen eines Sieben-Visionen-Zyklus wäre, so JEREMIAS, Nachtgesichte, 12f. Vgl. auch DAVIES, Priesthood, 219, Anm. 5–6. 309 DAVIES, Priesthood, 221f. 310 T IEMEYER, Rites, 249f. 311 Vgl. auch DAVIES, Priesthood, 224: „… we have a divine vindication of an existing priestly status. It might seem that the experience of exile had forever cut off Israel (represented in its priest) from access to God, but Zechariah brings a word of consolation from the highest source that this is not the case.“

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44,8) und die Rechtsprechung im Tempel übertragen, sowie der Zugang zum Thronrat Gottes gewährt (3,7).312 Da der bei Josua zunächst konstatierte Status der Unreinheit und Sünde gemäß dem folgenden Orakel (3,8–10) charakteristisch für die gesamte Priesterschaft zu sein scheint,313 ist die göttlich verfügte Umkehrung dieses Status bei Josua auch die Voraussetzung – so muss man aus dem Zusammenhang heraus konjizieren – für die Reinigung der gesamten Priesterschaft, welche wiederum die Voraussetzung für die Gültigkeit und Wirksamkeit des Sühnekultes, insbesondere am Yom Kippur, bildet.314 Sacharja blickt somit auf eine Zukunft, in der das Jerusalemer Priestertum wieder in der Lage ist, Sühne und Reinigung zu vermitteln.315 In dieser Hoffnungsperspektive wird der Hohepriester einschließlich seiner Priesterschaft zu einem Zeichen für die Zukunft, in welcher der Zugang auch zum himmlischen Heiligtum wieder offen ist und das priesterliche Sein und die priesterliche Mediation wieder die heilvolle Begegnung zwischen Gott und Mensch ermöglichen.316 Nicht eindeutig ist dagegen, ob im Folgenden mit der Erwähnung eines (davidischen?) „Knechtes“ (db,[,) und „Sprosses“ (xm;c,) und eines „Steines“ (!b,a,) ein messianischer Horizont eröffnet wird oder nicht. Die analoge Erwähnung eines auf Serubbabel zu beziehenden Sprosses in Sach 6,12f., der den Tempel Jahwes bauen, auf Davids Thron sitzen und herrschen soll, legt dies nahe. Wenn ein Davidide gemeint sein sollte, dann geschähe seine enigmatische Einführung jedoch vor seiner Identifikation als Serubbabel in Sach 4,6.9. Weder sein Name noch seine Rolle werden erläutert. Deshalb möchte Davies die Begriffe „Knecht“ und „Spross“ eher auf das Volk Israel bzw. den übrig gebliebenen Rest Judas beziehen, die durch die Reinigung Josuas und seiner Kollegen wieder in die heilvolle Gegenwart Gottes „gebracht“ werden: „The divine action of removing the guilt of the ‚land‘ is an indication that any barrier to fellows312 Zur grammatischen Struktur und semantischen Bedeutung des Konditionalsatzes vgl. auch DAVIES, Priesthood, 224–228. 313 Vgl. hierzu die ausführliche Begründung von DAVIES, Priesthood, 226–228, der jedoch die Repräsentationsfunktion des Hohepriesters nicht nur auf die Priesterschaft, sondern auf alle heimkehrenden Exulanten ausdehnt, die nun wieder Zugang zum (himmlischen?) Heiligtum erhalten sollen. 314 T IEMEYER, Rites, 241: „My suggestion is that the Jerusalemites needed God’s mercy because of Joshua’s impure state. The reason for this was the way in which atonement was obtained: only a cleansed high priest would bring atonement to the land and its people. So, despite the justice of the prosecutor’s claim, God, in His mercy and because of His election of Jerusalem, cleansed Joshua to enable him to then cleanse the people.“ 315 T IEMEYER, Rites, 251. 316 DAVIES, Priesthood, 230: „The simplest and to my mind most compelling approach is that the priesthood is a living symoblic pointer (tpwm) to the full reality of the access … their presence in the environs of the earthly sanctuary is to be understood as an indicator and reassurance of a reality which lies beyond the visual realm.“

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hip with God on the part of the returned citizens of Jerusalem-Judah is being removed in the same way that the guilt of the high priest was removed in the vision.“317 Es geht in Sach 3 um die bei den Exilspropheten Jeremia und Ezechiel bereits klar artikulierte Notwendigkeit einer fundamentalen Erneuerung des priesterlichen und v.a. auch des hohepriesterlichen Amtes. Eine solche Erneuerung gilt als Voraussetzung für die Wirksamkeit des kultischen Sühnerituals und damit auch als Voraussetzung für den Zugang Israels zum Raum des Heiligen und damit für die heilvolle und zukunftseröffnende Begegnung zwischen Israel und Jahwe überhaupt. So wird in Sach 3 der unter →II.2.4 aufgezeigte Zusammenhang noch einmal evident. Weil der priesterliche Status der Idealität, Integrität und Gottähnlichkeit in den Geschehnissen vor und während des Exils von den Amtsträgern nicht bewahrt wurde, sind auch die Funktionen des priesterlichen Amtes unwirksam geworden, allen voran der Opferdienst. Es bedarf nun einer umfassenden Neukonstituierung des priesterlichen Seins durch einen Reinigungs-, Heiligungs- und Einkleidungsakt, der die verlorene Integrität und die imitatio Dei wieder herstellt. Mit der bereits bei Ezechiel angedeuteten Verknüpfung einer Erneuerung des Priestertums mit der Wirksamkeit des kultischen Sühnerituals ist das Thema gesetzt, das in der Folgezeit die Auseinandersetzungen um Priesterschaft und Kult im Frühjudentum maßgeblich prägen sollte. 4.8 Mal 3,3 Einer Reinigung und anthropologischen Erneuerung der Priester- bzw. Levitenschaft sieht auch einige Jahrzehnte später der Prophet Maleachi entgegen, wenn er in Mal 3,3 eine eschatologische Reinigung der „Söhne Levi“ durch den Boten Gottes erwartet,318 welche einen „Ermöglichungsakt“ darstellt, „durch den der priesterliche Opfervollzug im eschatologischen Horizont in Jerusalem wieder zur Wirkung kommen kann und soll.“319 Wie in Sach 3,2ff. ist auch in Mal 3,2f. das Instrument der Reini-

317 DAVIES, Priesthood, 236; siehe auch 231–234. Den in V. 9 erwähnten Stein versteht Davies in der Konsequenz auch nicht als Fundierungsstein des neu erbauten Tempels, zumal der Tempelneubau gar nicht das Thema dieser Vision ist. Vielmehr sieht er, a.a.O., 234–236, in dem Stein einen – nicht eindeutig bestimmbaren – Teil des hohepriesterlichen Ornats, dem sühnende Kraft zugesprochen wurde, vgl. Ex 28,9–12.36–38.42f. 318 Zur Diskussion um die Frage des Reinigenden in Mal 3,3 vgl. T IEMEYER, Rites, 257f. 319 MEINHOLD, Mal, 272. Auch T IEMEYER, Rites, 130, versteht Mal 3,1–4 als eine Verheißung: „God is described as having further plans for the clergy in order to reinstate them into former positions.“

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gung das Feuer. Das Ziel ist die kultische Erneuerung der Priesterschaft zur Darbringung wirksamer Opfer.320 4.9 Ergebnis In einer Reihe von bis auf eine Ausnahme prophetischen Schriften wird teils schon für die Gegenwart teils erst im Eschaton eine Reformation, Transformation oder auch Ausweitung des levitischen Priestertums erwartet bzw. erhofft. Trotz der vielfältigen historischen und literarkritischen Unsicherheiten ist mit einiger Wahrscheinlichkeit Ex 19,5f. der erste Beleg, in dem eine Metaphorisierung des Priesterbegriffs stattfindet. In der sog. Exodusformel, die wie ein erratischer Block nicht nur in der Sinaiperikope, sondern in der gesamten atl. Tradition steht, wird ganz Israel im Rahmen der Erwählung ein priesterliches Sein verheißen. Diese priesterliche Identität und Würde wird nun aber nicht funktional im Blick auf ein mediatorisches oder missionarisches Wirken für die Völker bestimmt, sondern relationsontologisch im Blick auf das Sein vor und für Gott. Israel wird die Kontakt-, Begegnungs- und Gemeinschaftsfähigkeit mit Jahwe zuerkannt. Die priesterliche Identität Israels drückt auf dem Hintergrund eines Stiftungs- oder Patronatsverhältnisses ein Sonderverhältnis der herausgehobenen Zugehörigkeit und Unmittelbarkeit zu Gott und der Heiligkeit vor Gott aus, das Israel im Unterschied zu allen Völkern gewährt wird. Wahrscheinlich unabhängig von Ex 19,6 wird den Israeliten in Jes 61,6 zwar ebenfalls in toto metaphorisch die Identität von Priestern zugesprochen. Allerdings wird hier das levitische Priestertum als Referenzgröße bemüht: So wie die Leviten den Priestern unterstützend zur Hand gehen, so werden in einem eschatologischen Horizont die Heidenvölker dem Priestervolk Israel dienen und es materiell unterstützen. Im Fokus steht hier nicht das Verhältnis Israels zu Jahwe, sondern das eschatologische Verhältnis zu den Völkern. Nicht im metaphorischen Sinn, aber in einer äußersten Kühnheit kündigt Jes 66,21 die eschatologische Berufung von Heiden zu Priestern und Leviten an. Die Integration von Heiden in die heiligste Gemeinschaft Israels stellt die progressivste Priesterkonzeption des Alten Testaments dar, die nur noch von den einschlägigen Texten des Neuen Testaments überholt wird. Bei den beiden Exilspropheten Jeremia und Ezechiel kommt in je unterschiedlicher Weise der Eindruck der Insuffizienz des zeitgenössischen 320

W ILLI-P LEIN, Hag/Sach/Mal, 269: „Der Kommende selbst versetzt die, die ihn empfangen sollen, in den Stand, dies angemessen zu tun: Er ‚reinigt‘ die ‚Söhne Levis‘, d.h. er bewirkt ihre Kultfähigkeit, in der sie ihn bedienen und ihm ‚in Gerechtigkeit‘ die Huldigungsgabe ‚nahebringen‘ können, die dann auch als solche Gültigkeit hat“.

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Priestertums zum Ausdruck. Während Jeremia eine eschatologische Erneuerung des Priestertums im Rahmen eines neuen Bundesschlusses erhofft (Jer 33,21f.), entwirft Ezechiel die eschatologische Konzeption eines neuen, vollkommenen und kultisch reinen Heiligtums mit einer folglich ebenso vollkommenen Priesterschaft (Ez 40–48). Beide Propheten sind die ersten biblischen Zeugen für das um sich greifende Bewusstsein der Exulanten, dass die überkommene Kultinstitution eine heilvolle Zukunft nicht mehr gewährleisten kann. Dieses Bewusstsein findet in Sach 3,1–10 seinen Ausdruck in der Vision einer himmlischen Gerichtsszene, in welcher der nachexilische Hohepriester Josua stellvertretend für die gesamte Priesterschaft einem kultischen Reinigungsritus unterzogen wird. Ziel dieser auch in Mal 3,3 im eschatologischen Horizont erwarteten Reinigung ist die Erneuerung der priesterlichen Integrität und Kultfähigkeit, um die Wirksamkeit der sühnenden Opfer zu garantieren. So unterschiedlich die in diesem Abschnitt untersuchten Belege auch sind, so machen sie doch alle deutlich, dass bereits innerhalb des Alten Testaments eine metaphorische Weitung des Priesterbegriffs vorgenommen und eine Reformation, Erneuerung oder Transformation des levitischen Priestertums erwartet wurde.

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5.1 Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit (1) Auch das israelitische und jüdische Priestertum war von dem religiösen Status getragen, der den Priester durch die stellvertretende Restitution zu einem idealen und integren Menschen werden ließ, der aufgrund dieses gottähnlichen Seins legitimiert war, sich Gott zu nahen und im Raum der heiligen Präsenz Jahwes Gott zu begegnen und mit ihm Gemeinschaft zu haben. Diesem Status der kultischen Vollkommenheit und Idealität musste der Priester sowohl in seinem Eheverhältnis als auch im Blick auf seine körperliche Unversehrtheit entsprechen, um als Verkörperung des idealen Menschen während seines Dienstes im Raum des Heiligen als Mitglied der himmlischen, idealen Welt in den Kontakt mit Gott treten zu können. So wird der Priester zum idealen Menschen am idealen Ort. (2) Der Dienst der Priester im Heiligtum war in einer kultisch strukturierten Welt nur im Status der Heiligkeit, der in diesem Zusammenhang, die Kontakt- und Begegnungsfähigkeit des Menschen beschreibt, heilvoll und gefahrlos möglich. Um in den in konzentrischer Architektur angeordneten Raum des Heiligen vordringen, „sich Jahwe nahen“ und am Ort der göttlichen Präsenz kultisch dienen zu dürfen, mussten sich die Priester dem

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kultischen Vorgang der Heiligung bzw. des Sich-Heiligens unterziehen. Auch das Anlegen des priesterlichen Ornats muss ganz analog als statusverändernder Vorgang begriffen werden. Ziel dieses Prozesses war die Herstellung eines für die Dauer des Dienstes befristeten Status der kultisch performierten imitatio Dei bzw. der „Gottgemäßheit“. (3) Aus dem priesterlichen Status heraus entfalten sich auch die Funktionen des priesterlichen Amtes. Diese waren in erster Linie von der Repräsentationsrolle her bestimmt. Als Mitglieder zweier Welten, einer irdischen und einer himmlischen, amtierten die Priester im Heiligtum und eingekleidet in ihren Ornat als Repräsentanten des Volkes vor Gott und als Repräsentanten Gottes vor dem Volk. Ihr mediatorischer und Sühne wirkender Opferdienst am Altar war für die heilvolle Existenz Israels von höchster Wichtigkeit. Im Kontext eines kultischen Weltbildes war dabei auch die exakte Befolgung der Tora und ihrer Ordnung von Bedeutung, entschied doch der korrekte Vollzug der Opfer und der priesterlichen Riten über die sühnende und heilstiftende Wirkung der Opfer. (4) Die zweite zentrale Aufgabe des priesterlichen Amtes bestand im Schutz des Heiligtums vor drohender Verunreinigung und Entheiligung. Hierzu gehörte neben der exakten Kenntnis von reinen und unreinen, heiligen und profanen „Seinszuständen“ auch die pädagogische Unterweisung des Volkes in kultischer, ethischer und hygienischer Hinsicht, damit auch deren Zutritt zum in abgestuften Heiligkeitssphären geordneten Tempelbezirk heilvoll gelingen konnte. (5) In der prophetischen Kritik am priesterlichen Dienst kommt sowohl in vor- wie nachexilischer Zeit die Klage über ontische, ethische und kultische Defizite des amtierenden Priestertums zum Ausdruck. Dabei wurde jedoch weder der Kult, noch die Opfer, noch das Priestertum an sich in Frage gestellt, sondern die Inkongruenz zwischen der priesterlichen Bestimmung zu einem idealen und integren Sein vor Jahwe im Kult und ihrem (un)ethischen Handeln im Alltag. In nachexilischer Zeit erweitert sich die Kritik um Klagen über die im Exil geschlossenen Mischehen und die kultische Insuffizienz des priesterlichen Seins und Handelns, das die Wirksamkeit der sühnenden Opfer beeinträchtigt. (6) In einer Reihe von atl. Texten wird teils schon für die Gegenwart, teils erst im Eschaton eine Reformierung, Erneuerung, Transformation oder auch Ausweitung des levitischen Priestertums erwartet bzw. erhofft. Der bedeutendste Text ist dabei auch der wahrscheinlich älteste: In der sog. Exodusformel in Ex 19,5f. wird ganz Israel im Rahmen der Erwählung ein priesterliches Sein verheißen, was an dieser Stelle jedoch nicht funktional, sondern relationsontologisch im Blick auf die Kontakt-, Begegnungs- und Gemeinschaftsfähigkeit mit Gott zu deuten ist. Es geht um ein Sonderverhältnis der herausgehobenen Zugehörigkeit und Unmittelbar-

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keit zu Gott und der Heiligkeit vor Gott, das Israel im Unterschied zu allen Völkern gewährt wird. Durch die Applikation des Priesterbegriffs auf ganz Israel vollzieht sich zum ersten Mal eine Metaphorisierung des Begriffs in einen neuen Sinnbereich hinein. (7) Auch in Jes 61,6 wird wohl unabhängig von Ex 19,6 Israel metaphorisch die Identität von Priestern verliehen. Als Referenzgröße dient hier jedoch im Unterschied zur Exodusformel das levitische Priestertum: So wie die Leviten den Priestern unterstützend zur Hand gehen, so werden in einem eschatologischen Horizont die Heidenvölker dem Priestervolk Israel dienen und es materiell unterstützen. Im Fokus steht somit nicht das Verhältnis Israels zu Jahwe, sondern das eschatologische Verhältnis zu den Völkern. In Jes 66,21 wird die eschatologische Integration von Heiden in die Priesterschaft Israels angekündigt, welche die Grenzen der atl.jüdischen Priesterkonzeption nicht nur weitet, sondern sprengt. (8) In einer Reihe weiterer Texte wird die Insuffizienz des Jerusalemer Kultes und seiner Priesterschaft beklagt und aus Sorge um die Wirksamkeit der sühnenden Opfer entweder gegenwärtig oder zukünftig eine Erneuerung, Reformation oder Transformation des levitischen Priestertums erwartet (Jer 33,21f.; Ez 40–48; Sach 3,1–10; Mal 3,3). 5.2 Das israelisch-jüdische Priestertum im Vergleich zur hellenistisch-römischen Umwelt (1) Vergleicht man das israelitisch-jüdische Priestertum mit den griechisch-römischen Priestertümern, so fallen zunächst weniger die Unterschiede als vielmehr die zahlreichen Analogien ins Auge. In vielen antiken Priestertümern des mediterranen Raumes war der Priester durch den religiösen Status des idealen und gottähnlichen Menschen geprägt, der aufgrund seiner Integrität legitimiert ist Gott bzw. den Göttern zu nahen und im Raum des Heiligen kultisch zu wirken. Der durch bestimmte Rituale und auch Gewänder hergestellte Status der Kontakt- und Begegnungsfähigkeit mit dem Heiligen und Göttlichen war die Voraussetzung für die priesterliche Repräsentation Gottes bzw. der Götter vor der Kultgemeinde und umgekehrt sowie aller weiterer Funktionen. (2) Der Priester war auch in Israel ein Sachverständiger für religiöse und in der Folge oftmals auch juristische Fragen. Ihm wurde eine hohe Deutungskompetenz zugeschrieben, die jedoch anders als im paganen Kontext weniger charismatisch-prophetischen Charakter hatte, sondern vielmehr auf dem Studium der heiligen Schriften und Überlieferungen Israels basierte. Der Priester ist in Israel wesentlich Schriftausleger für ethische, praktische und juristische Fragestellungen. Dies scheint ein Spezifikum der atl.-jüdischen Priesterschaft zu sein. Denn während in den meisten antiken Kulturen das priesterliche Wissen von einer Arkandisziplin geschützt war

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und entsprechend geheim gehalten wurde und die priesterlichen Rituale außerhalb des Sichtfeldes und Interesses der Öffentlichkeit zelebriert wurden,321 waren die priesterlichen Gesetze in Israel in frühjüdischer Zeit öffentlich zugänglich und bekannt. Folglich musste sich der priesterliche Dienst auch öffentlicher Kritik stellen.322 (3) Nimmt man die Unterschiede näher in den Blick, so fällt zunächst auf, dass das atl.-jüdische Priestertum bei allen Analogien eine wesentlich gewichtigere Rolle in der Gesamtbevölkerung einnimmt, als in der hellenistisch-römischen Umwelt. Geht man von mehreren tausend Priestern aus, dann ist dies nicht nur eine quantitativ andere Dimension, sondern auch eine qualitativ andere. Die Präsenz des atl.-jüdischen Tempelkultes im Bewusstsein des Volkes musste eine ungleich größere sein als in der paganen Umwelt. Schon in finanzieller Hinsicht musste die israelitisch-jüdische Gesellschaft für ihre Priesterschaft ungleich höhere Lasten bewältigen als eine griechische Polis oder die Stadt Rom. (4) Dies gilt auch dann, wenn man den zweiten signifikanten Unterschied in Betracht zieht: Während die paganen Kulturen des Mittelmeerraumes analog zur Vielzahl der Gottheiten auch eine beliebige Vielzahl von Kultstätten kannten und akzeptierten, gab es in Israel seit der josianischen Kultreform nur noch einen legitimen Tempel und Opferaltar. Diese Kultzentralisation musste den einen Tempel und mit ihm den einen Kult und die ihn vollziehenden Priester ungleich mehr in den Fokus der Kultgemeinschaft rücken, als dies bei paganen Heiligtümern der Fall war. Das Wohl und Wehe des ganzen Volkes hing in kultischer Hinsicht vom korrekten Sein und Handeln der einen Priesterschaft mit ihren vielen tausend Priestern ab. Noch nicht einmal in Rom war eine solche Konzentration auf ein Heiligtum, einen Kult und eine Priesterschaft denkbar. Damit wuchs der Jerusalemer Priesterschaft auch ein Maß an Macht und Einfluss zu, das in der mediterranen Welt sonst unbekannt war. Allein durch die bloße Größe der jüdischen Priesterschaft und die Fokussierung auf ein einziges „Nationalheiligtum“ hatten die jüdischen Priester und hier natürlich v.a. die Hohepriester eine Bedeutung, die in der antiken Welt ihresgleichen suchte. (5) Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass der atl.-jüdische Kult und Priesterdienst wesentlich reglementierter erscheint als die hellenistisch-römischen Kulte. Zwar gab es auch hier eine Vielzahl hintergründiger Normen, Regeln und Tabus, aber keinen der Priestertora vergleichbaren Codex (später noch mit mündlicher Halacha), der bis in alle Einzelheiten die priesterliche Existenz und den Kultvollzug reglementierte.

321 322

MIGROM, Lev 1–16, 52f. Vgl. HIMMELFARB, Kingdom, 28f.

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Kapitel II: Das jüdische Priestertum in nachexilischer Zeit

Letztlich zeigt sich auch hier, dass das Priestertum eine Funktion der jeweiligen Theologie ist. So wie sich die römische religio, bei der wir wie oben beschrieben nicht im eigentlichen Sinne von einer Theologie reden können, in der Komplexität und funktionalen Unschärfe der einzelnen Priesterschaften widerspiegelt, und so wie die Vielseitigkeit der griechischen Religion durch eine große Pluralität der Priestertümer veranschaulicht wird, so entspricht das atl.-jüdische Priestertum mit seiner hereditär konstituierten Priesterschaft und der Kultzentralisation auf den Jerusalemer Tempel der offenbarten Willenskundgabe des Gottes Israels. Diese Willenskundgabe mit ihrer Vielzahl an Bestimmungen vermittelt den Amtsträgern eine Qualität der Heiligkeit, die in solcher Weise der hellenistischrömischen Religion fremd ist. Der geoffenbarte Gotteswille, der sich in heiligen Überlieferungen, Schriften und letztlich einem heiligen Buch niederschlägt, umfasst nun nicht nur Bestimmungen für die Herstellung eines kultischen Status von Heiligkeit und Reinheit, um im heiligen Bereich des Tempels Gott nahen zu können, sondern auch Bestimmungen für den ethisch-moralischen Lebensvollzug der Priesterschaft und des ganzen Volkes. Auch diese zur genealogischen Regulierung noch hinzutretende ethisch-moralische Normierung des Priesterdienstes ist den paganen Kulten in dieser Gewichtung fremd. Zwar gibt es auch im römischen Kult zum Teil strenge Grenzen für die priesterlichen Amtsträger (z.B. für die Vestalinnen), die jedoch nur bedingt in einem Zusammenhang mit allgemeinen ethisch-moralischen Wertvorstellungen stehen. Die Erwartungen an die ethisch-moralische Integrität des Priesters waren in Israel einzigartig. Sein Sozialprestige erwuchs dementsprechend nicht nur aus einer bereits vor seiner Berufung existierenden elitären Position in der Gesellschaft, wie dies häufig bei paganen Priestern der Fall war, die als „Ehrenmänner“ ein „Ehrenamt“ erwarben bzw. angetragen bekamen, sondern aus der Heiligkeit und Reinheit, welche die jüdischen Priester nicht nur in ihrem gesamten Dienst- sondern auch in ihrem Lebensvollzug zu wahren hatten. (6) Nur auf dem Hintergrund dieser Ansprüche und Erwartungen hinsichtlich der ethisch-moralischen und kultischen Integrität der Priesterschaft ist auch die zum Teil beißende Kritik zu begreifen, die in Israel von prophetischer Seite in vor- und nachexilischer gegen die Priesterschaft laut wurde. Zwar lassen sich auch im hellenistisch-römischen Kontext immer wieder Fälle von priesterlichem Amtsmissbrauch bzw. priesterlichem Fehlverhalten nachweisen, aber in den Quellen ist nirgends eine auch nur annähernd analoge Priestertumskritik wahrnehmbar. Dies ist insofern erklärbar, als hier von vornherein keine äquivalente Erwartungshaltung an die Priesterschaft entstehen konnte.

Kapitel III

Konflikte um Priestertum und Tempel in frühjüdischer Zeit Die kritischen Stimmen, die sich in vor- wie nachexilischer Zeit vor allem aus dem Munde der Propheten gegen das levitische Priestertum und seine in den Augen der Kritiker sowohl kultisch als auch ethisch fragwürdige Praxis richteten, kamen auch in frühjüdischer Zeit nicht zum Schweigen, im Gegenteil. Die Kritik über die Unzulänglichkeit des Jerusalemer Kultpersonals wurde intensiver und – das markiert einen wesentlichen Unterschied zur vorexilischen Zeit – zielte nun auch auf den Jerusalemer Tempel selbst. In einer Reihe von Belegen wird dieser teils aufgrund seiner geringen Größe, teils aufgrund seiner durch den unzulänglichen oder gar illegitimen Dienst seines Kultpersonals verursachten Verunreinigung selbst als insuffizient beurteilt. Hinzu kommen Stimmen, die eine eschatologische Restitution eines gänzlich neuen, reinen Tempels ersehnten. Diese bilden freilich nur die Kehrseite der direkten Tempelkritik, denn wer für das Eschaton einen neuen Tempel erhofft, verbindet mit dem gegenwärtigen keine großen Erwartungen mehr. Diese Mischung aus Klagen und eschatologischen Hoffnungen steht auch mit einer Reihe von Ereignissen in Verbindung, welche die Diskussionen und Auseinandersetzungen um Priestertum und Tempel eskalieren ließ: Es geht um die Vorgänge vor und nach der seleukidischen Religionsund Kulturkrise im zweiten Viertel des 2. Jh. v.Chr, zu deren Folgen neben der hasmonäischen Herrschaft und dem Ende der hohepriesterlichen Dynastie der Zadokiden auch die Kumulation des königlichen mit dem hohepriesterlichen Amt wahrscheinlich unter Jonathan Makkabäus gehört. Die durch diese Krise ausgelöste Zersplitterung der jüdischen Gesellschaft in verschiedene Religionsparteien hat das Gesicht des Judentums und seiner Haltung(en) zu Tempel und Priestertum bis zum Jüdischen Krieg und sogar darüber hinaus geprägt. Ein großes Problem ist, dass sich diese kritischen Stimmen nur selten einer eindeutig bestimmbaren Gruppe zuordnen lassen. Viele Quellen sind nur schwer in den unterschiedlichen Strömungen des Frühjudentums zu verorten und entsprechend schwierig ist es, diesen anonymen Stimmen ein Gesicht zu verleihen. Unbestritten ist aber, dass es eine Vielzahl solcher

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

Stimmen gab und sie ein unüberhörbarer Teil des breiten Stroms des Judentums zur Zeit des zweiten Tempels waren. Im folgenden Abschnitt sollen deshalb nach einem geschichtlichen Überblick über das Priestertum in der Zeit des zweiten Tempels zunächst die kritischen Stimmen zum Priestertum analysiert werden. Anschließend geht es nach einer kurzen Einführung in die unterschiedlichen atl. und frühjüdischen Wahrnehmungen des Jerusalemer Tempels, sowohl um die alternativen Tempel als auch um die verschiedenen Texte, in denen diese Kritik einen literarischen Ausdruck fand.

1 Die Geschichte und Kritik des jüdischen Priestertums in der Epoche des zweiten Tempels 1 Geschichte und Kritik in der Epoche des zweiten Tempels

1.1 Die Geschichte des nachexilischen Priestertums bis 70 n.Chr. Als Quelle für das (Hohe)Priestertum in der spätachämenidischen bzw. spätpersischen Zeit des 4. Jh. v.Chr.1 stehen fast ausschließlich die „Altertümer“ des Josephus zur Verfügung, der sich in seiner Geschichtsschreibung sachgemäß auf die Hohepriesterschaft konzentriert.2 Die Problematik der Quellenlage im Ganzen bringt R.A. Kugler treffend auf den Punkt: „The literature pertaining to it [s.c. gemeint ist das jüdische Priestertum] only occasionally reflects what actually happened and more often presents what its authors wished had happened, or hoped would be the case. Further, the literature often focuses not on the priesthood as a whole but on the high priesthood alone.“3 Ein sinnvoller Ausgangspunkt für einen kurzen historischen Überblick ohne Anspruch auf lückenlose Vollständigkeit ist Josephus‘ ausführlicher Bericht über den letzten Hohepriester der nehemianischen Abstammungsliste in Neh 12,10f. namens Jaddua/Jaddus (Ant 11,302–347).4 Zwei Sachverhalte an seiner Darstellung sind für das Verständnis des hohepriesterlichen Amtes in jener Epoche bemerkenswert. Zum einen ist es der Umstand, dass sich Alexander der Große in einem Brief mit der Bitte 1 Die Geschichte des Hohepriestertums im nachexilischen Judentum bis zur Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 n.Chr. wird durch die Untersuchung von J AMES VANDERKAM „From Joshua to Caiaphas“ erschlossen. Der Autor hat umfassende historische Details zu allen in Quellen greifbaren Hohepriestern zusammengetragen und damit eine Lücke in der Forschung geschlossen. Leider bietet VANDERKAM kaum diachrone Analysen oder über die unmittelbaren historischen Vorgänge hinausgehende, religionsgeschichtliche oder theologische Perspektiven. 2 Jos Ant 11–12; vgl. VANDERKAM, Joshua, 43–111. 3 KUGLER, Art. Priests (EDEJ), 1096. 4 VANDERKAM, Joshua, 63–85.

1 Geschichte und Kritik in der Epoche des zweiten Tempels

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um militärische Hilfe an Jaddua wendet (Ant 11,317).5 Damit erscheint dieser sowohl als Oberbefehlshaber der jüdischen Streitkräfte als auch als höchster politischer Diplomat.6 Ein politisches Pendant zum Hohepriester analog zur Konzeption bei Sacharja (vgl. Sach 4,14) ist nicht mehr erkennbar.7 VanderKam kommt deshalb zu der Schlussfolgerung, dass „[a]t least according to Josephus, the high priest had by this time become the supreme civil and religious head of the Jewish people … [...] He was head of the cultic, political, and even military affairs of the nation and as such handled relations with the imperial government …“8 Zum anderen erscheint Jaddua als ein Hohepriester, zu dem Gott im Traum spricht (Ant 11,327). Dieses eigentlich klassisch prophetische Privileg taucht bereits bei Sacharjas Charakterisierung des ersten nachexilischen Hohepriesters Josua auf (Sach 3,7). Bei aller Vorsicht vor zu weitreichenden Schlussfolgerungen drängt sich doch die Frage auf, ob mit dem auffälligen Zurücktreten des prophetischen Amtes das Charisma des Offenbarungsempfangs nun im hohepriesterlichen Amt gesehen wurde.9 Es hat jedenfalls den Anschein, dass Hohepriester und Priesterschaft in frühjüdischer Zeit das Vakuum zu füllen versuchten, welche das Königtum und das niedergehende Prophetentum hinterlassen hatten.10 Die Vermittlung göttlicher Offenbarung musste sich nun in alternativen Formen vollziehen und hier scheint die (hohe)priesterliche Weisung sowohl im individuellen wie im kommunalen und nationalen Horizont eine substituierende Rolle eingenommen zu haben.11

5 Der Bericht von der Begegnung Alexanders des Großen mit dem Hohepriester Jaddua, Jos Ant 11,317–339, wird häufig als legendär bewertet. VANDERKAM, Joshua, 75–84, führt dagegen eine Reihe von Indizien an, welche auf einige historische Reminiszensen hindeuten; vgl. auch W ARDLE, Jerusalem Temple, 35f. 6 Eine gewisse Analogie besteht zu Ben Siras Lobpreis des Hohepriesters Simon, vgl. Sir 50,1–4, der u.a. für die Reparatur des Tempels, die Fundierung der Mauern und den Bau einer Zisterne gepriesen wird, alles nicht-kultische Aufgaben, die gewöhnlich nicht im Verantwortungsbereich eines Hohepriesters lagen und für die Ben Sira vorher Könige und Gouverneure gelobt hat. 7 Zur Frage, ob es eine Art Gouverneur zur Zeit Jadduas und überhaupt während der achämenidischen Zeit gab, vgl. VANDERKAM, Joshua, 99–111, und W ARDLE, Jerusalem Temple, 33–38. Bekannt ist auch eine sowohl von Josephus wie von Diodorus Siculus überlieferte Bemerkung des Hekataios von Abdera, der um 300 v.Chr. Judäa als ein Land charakterisiert, das von Priestern regiert wird, vgl. Diod Hist 40,3,3–6. 8 VANDERKAM, Joshua, 83f.; vgl. W ARDLE, Jerusalem Temple, 31f. 9 VANDERKAM, Joshua, 83. Von einem prophetischen Charisma des Hohepriesters ist auch in Joh 11,50 die Rede. 10 Zur Frage, wie das literarische Zurücktreten des Prophetismus zu bewerten ist, vgl. SOMMERS, Prophecy; LEVINSON, Spirit; LANGE, Decline of Prophecy, 181–184. 11 Nach Jos Ap 2,164f.; vgl. Ant 11,111, war das Judentum in frühjüdischer Zeit eine Theokratie im Sinne einer Hierokratie.

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

In hellenistischer Zeit war das hohepriesterliche Amt12 und damit überhaupt das jüdische Priestertum zunächst vom politischen Gestaltungswillen der wechselnden Hegemonialmächte der Ptolemäer und Seleukiden abhängig. Nach dem Sieg der Seleukiden über die Ptolemäer in der Schlacht von Paneas (198 v.Chr.) räumte Antiochus III. der Jerusalemer Oberschicht und damit der zadokidischen Hohepriesterfamilie der Oniaden und den politisch einflussreichen Tobiaden13 weitgehende Privilegien ein. Beide standen sich jedoch im immer mehr eskalierenden Kulturkonflikt als Kontrahenten gegenüber, denn die Oniaden hatten wohl seit der spätpersischen Epoche (350/320 v.Chr.) die hohepriesterliche Erbfolge inne.14 In jener Zeit entwickelte sich Jerusalem zu einem Tempel- und Aristokratenstaat unter der Führung des oniadischen Hohepriesters und der Gerusia, deren historische Ursprünge leider im Dunkeln liegen.15 Zur Krise kam es, als die einflussreichen Kreise der Jerusalemer Aristokratie sich einer offenen Hellenisierungspolitik verschrieben. Der damit provozierte, zunächst rein innerjüdische Religions- und Kulturkonflikt eskalierte, als die hellenistisch orientierten und von wirtschaftlichen Interessen geleiteten Tobiaden um den Hohenpriester Jason im Machtkampf mit den dem jüdischen Kultus verpflichteten Oniaden ein Bündnis mit der seleukidischen Hegemonialmacht unter der Herrschaft des Seleukiden Antiochus IV. Epiphanes eingingen (175–163 v.Chr.).16 Bei diesem Schritt handelte es sich um nicht weniger als „um einen einschneidenden Kurswechsel in der Entwicklung des jüdischen Tempelstaates, um den Versuch, 12

Vgl. hierzu VANDERKAM, Joshua, 112–393. Auch für jene Epoche bleibt Josephus die Hauptquelle, vgl. Ant 12,1–237; zeitweise ist der Historiker sogar allein auf ihn angewiesen. Josephus seinerseits scheint v.a. auf den Aristeasbrief und den Tobiadenroman zurückgegriffen zu haben. 13 Der Ahnherr der Tobiaden Tobias soll nach Jos Ant 12,160 mit einer Schwester von Onias II. verheiratet gewesen sein. Die Tobiaden waren aber kein Priestergeschlecht. Ihr Ansehen und Einfluss verdankt sich vielmehr ihrer wirtschaftlichen Macht, die auf einem großen Grundbesitz und der Kontrolle der Steuerpachten in Syrien und Phönizien beruhte, vgl. Jos Ant 12,157–222.224.228–236, sowie HENGEL, Judentum, 486–503; STERN, Aspects, 561ff. 14 Onias I., Sohn von Jaddua/Jadus und Vater von Simon I., Hohepriester um 300 v.Chr., hatte ca. um 335–320 v.Chr. das Hohepriesteramt inne, vgl. Jos Ant 11,347; 12,43, sowie VANDERKAM, Joshua, 124–137 (zu Onias I.), und 137–157 (zu Simon I.). Nach VANDERKAM, ebd., 157, war auch Simon I. sowohl ziviler wie religiöser Führer in Personalunion. 15 Die Gerusia ist erstmals in einem Erlass von Antiochus III. belegt, vgl. 1Makk 12,6; 2Makk 1,10; 4,44; 11,27; Jos Ant 13,166, sowie HENGEL, Judentum, 48–51.105. Es war ein aristokratischer Rat aus Priestern, Priesteradel, Großgrundbesitzern und einflussreichen Sippenhäuptern. Unter Herodes dem Großen wurde das Gremium dann als Synhedrium bezeichnet. 16 Vgl. 1Makk 1,11–15; 2Makk 4,7–17, sowie VANDERKAM, Joshua, 192ff.; STEGEMANN, Essener, 200–204; WARDLE , Jerusalem Temple, 38–40.

1 Geschichte und Kritik in der Epoche des zweiten Tempels

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das Ergebnis von 500 Jahren israelitisch-jüdischer Geschichte aufzuheben“.17 Der Konfliktverlauf ist bekannt, weshalb an dieser Stelle eine knappe Skizze genügt: Nach der Absetzung (175 v.Chr.) und späteren Ermordung (171/170 v.Chr., vgl. 2Makk 4,34f.) von Onias III. (192–174/3 v.Chr.)18 und dem Interregnum seines hellenistisch gesinnten Bruders Jason (175/174 v.Chr.)19 „verkaufte“ Antiochus das hohepriesterliche Amt 173 v.Chr. an den Nicht-Zadokiden Menelaos (173–163/162 v.Chr.). Dieser war damit der erste Hohepriester der nachexilischen Geschichte des Judentums, der nicht der zadokidischen Abstammungslinie des Josua angehörte.20 Das Amt selbst war zu einer käuflichen Ware und zum Spielball politischer Interessen geworden, was sich bis zum Ende des zweiten Tempels im Jahre 70 n.Chr. auch nicht mehr grundlegend ändern sollte.21 Diese Beschädigung des Amtes mit allen kultischen Implikationen war ein wesentlicher Auslöser für die zunehmend kritische Bewertung des Amtes und der Institution des Priestertums insgesamt. Doch trotz dieser umfassenden Korrumpierung des Amtes scheint der jeweilige Hohepriester bis zum Jüdischen Krieg die mit Abstand bedeutendste Rolle des Judentums jener Zeit inne gehabt zu haben.

17

HENGEL, Judentum, 135; vgl. auch a.a.O., 143: „Denn aufs Ganze gesehen bedeuteten die Ereignisse zwischen 175 und 167 v.Chr., die mit der Einführung der gymnasialen Bildung begannen und mit dem ‚Greuel der Verwüstung‘ endeten, doch einen einmaligen, tiefen Einschnitt in der Geschichte des palästinischen Judentums der griechischrömischen Zeit. Nur in jenem kurzen Zeitraum von etwa elf Jahren der Herrschaftszeit des Antiochus IV. war das Judentum in der akuten Gefahr, durch die von einer mächtigen aristokratischen Minorität geförderte Assimilation an die hellenistische Kultur unterzugehen.“ 18 Zu Onias III. vgl. VANDERKAM, Joshua, 188–197.204–206. 19 Vgl. VANDERKAM, Joshua, 197–203. HENGEL, Judentum, 135.138, weist darauf hin, dass Jason eine Reihe begeisterter Anhänger gefunden haben muss, denn er trifft zunächst in Jerusalem auf keinen nennenswerten Widerstand. Vielmehr scheint er die avantgardistisch orientierte Jerusalemer Aristokratie auf seiner Seite gehabt zu haben, was auf eine schleichende Hellenisierung über einen längeren Zeitraum hindeutet. 20 Vgl. VANDERKAM, Joshua, 203. In der Forschung wurde immer wieder diskutiert, wie es möglich war, dass Antiochus IV. Epiphanes einfach einen Kandidaten nichtpriesterlicher Abstammung in dieses Amt brachte. Verschiedentlich wurde in der älteren Forschung die Vermutung geäußert, Menelaos wäre ein Mitglied der einflussreichen Tobiaden gewesen, vgl. MEYER, Ursprung, 133; SCHLATTER, Geschichte Israels, 103; B ÜCHLER, Tobiaden, 88–90. STERN, Aspects, 592–594, vertritt dagegen die These, dass Menelaos Mitglied des priesterlichen Stammes Bilgah, vgl. 1Chr 24,14, und nicht des Stammes Benjamin war und damit durchaus priesterlicher – wenn auch nicht zadokidischer – Abstammung gewesen sei, vgl. auch VANDERKAM, Joshua, 203. 21 STERN, Aspects, 565, zieht das treffende Fazit: „The high priest who had once spoken for the Jewish people to the king, now became the spokesman of the king to the people.“

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

Menelaos leitete eine aggressive hellenisierende Religionspolitik ein mit dem Ziel der Umgestaltung Jerusalems in eine griechische Polis. Zu diesem Zweck stellte er den toragemäßen Opferkult, den Besitz von ToraRollen, die Beschneidung der Knaben und die Einhaltung des Sabbats unter Todesstrafe (1Makk 1,41–53; 2Makk 6,1.5f.). Der unrühmliche Höhepunkt des primär von jüdischen Kräften selbst forcierten Kulturkrieges war zweifellos die Entweihung des Tempels durch die Opferung von Schweinen und das Verbrennen einer Torarolle auf dem Altar vor dem Tempel (vgl. 1Makk 1,46–62). Die Vorgänge führten schließlich zum Makkabäeraufstand, der signifikanterweise wiederum von einem Priester namens Mattathias und dessen fünf Söhnen ausging. In ihrem „eifernden“ Handeln beriefen sich die rebellierenden Makkabäer bzw. Hasmonäer auf die atl. Gestalt des Pinhas als ihrem Urahn (1Makk 2,54; vgl. Num 25,6–15) und stellten sich damit bewusst in die Abstammungslinie Aaron-EleasarPinhas. Es erscheint auf den ersten Blick als ein merkwürdiger Umstand der jüdischen Geschichte, dass der makkabäische Aufstand nicht zu einer Wiederherstellung der alten Verhältnisse unter Onias III. führte. So radikal antihellenistisch und restaurativ der Impetus der Makkabäer um Judas und seine Brüder auch war, so dürftig waren die faktischen Folgen. Dies spricht dafür, dass die jüdische Gesellschaft jener Tage schon sehr viel mehr von hellenistischen Einflüssen durchdrungen war, als es der Makkabäeraufstand suggeriert. Denn schon sehr bald nach dem makkabäischen Sieg gewannen wieder moderat hellenistische Kräfte Einfluss auf den Tempel und Rückhalt in der Bevölkerung.22 Die hohepriesterliche Sukzession der zadokidischen Nachfahren des Josua verschwand unwiderruflich von der Bildfläche, die Oniaden spielten außer im ptolemäischen Ägypten keine erkennbare Rolle mehr und auch die hasmonäischen Nachfolger agierten in den folgenden Jahrzehnten alles andere als restaurativ. Die einzige Erklärung für dieses Phänomen ist, dass der hasmonäische Aufstand eine tiefgreifende Umwälzung der gesellschaftlichen Eliten zur Folge hatte.23 Die alte Priesteraristokratie hatte sich selbst zerfleischt. Dieser selbst22

ALBERTZ, Religionsgeschichte II, 603, macht dafür die ausgeweiteten und überzogenen Kriegsziele der Makkabäer verantwortlich, die zu einem Zerfall der Koalition der Aufständischen und zu einem Verlust des Rückhalts in der Bevölkerung führte. Die Wiedereinführung der jüdischen Opfer- und Tempelrituale und die Aufhebung der PolisOrdnung, 2Makk 11,22–26, genügten offensichtlich, um den seleukidischen, gemäßigt hellenistischen Kompromisskandidaten Alkimos als Hohepriester zu akzeptieren; vgl. zum Problem auch HENGEL, Judentum und Hellenismus, 141. 23 HENGEL/DEINES, Common Judaism, 463, Anm. 195, sehen in der neuen Führungsschicht weniger die Nachkommen um die Hellenisten Jason und Menelaos als vielmehr die Gefolgschaft der Hasmonäer. Im Zuge der erfolgreichen Eroberungskriege der Folgezeit entstand ein Militär- und Feudaladel, der sich u.a. auch aus Priestern rekrutierte.

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zerstörerische Prozess „spülte“ am Ende (Priester)Familien in einflussreiche Positionen, die zuvor nirgendwo eine erkennbare Rolle im öffentlichen Leben Jerusalems spielten. Dies gilt vor allem für die Hasmonäer.24 Die Nachfolge des Nicht-Zadokiden Menealos trat 163 v.Chr. der ebenfalls hellenistisch gesonnene Aaronide und Nicht-Zadokide Alkimos (163/ 162–160/159 v.Chr.) an.25 Als Reaktion auf diesen anti-zadokidischen Affront flohen die zadokidisch-oniadischen Priester mit Onias IV. nach Leontopolis und gründeten dort ca. 163 v.Chr. ein zadokidisches Alternativheiligtum (→III.2.2.2).26 Nach einer rätselhaften Lücke in den Quellen über das Hohepriesteramt in den Jahren 159–152 v.Chr27 beanspruchte der zweite Makkabäerkönig Jonathan28 bei seinem Amtsantritt im Jahr 152 v.Chr. auch die hohepriesterliche Würde und etablierte damit die Ämterhäufung der Hasmonäer.29 Das zadokidische Hohepriestertum verlor durch die hasmonäische Okkupation des Amtes endgültig seine Vorrangstellung in Jerusalem. Für knapp ein Jahrhundert sollten die hasmonäischen Herrscher die Ämter des Königs und Hohepriesters in Personalunion führen, bis die Römer in Person des Pompeius der jüdischen Unabhängigkeit im Jahre 63 n.Chr. ein Ende bereiteten. Gut zwei weitere Jahrzehnte später wurde schließlich auch der

24

STERN, Aspects, 567; HENGEL/DEINES, Common Judaism, 462. Die Hintergründe der hasmonäischen Dynastie sind unklar. STERN, Aspects, 589f., zieht in Erwägung, dass die Hasmonäer als Mitglieder der einflussreichen Priesterfamilie Jojarib, die in 1Chr 24,7 an der Spitze der 24 Abteilungen genannt wird – noch vor der hohepriesterlichen Sippe Jedaja –, alles andere als homines novi gewesen seien. Möglicherweise, dies bleibt freilich spekulativ, kam in der Okkupation des hohepriesterlichen Amtes durch die Hasmonäer eine alte Familien- bzw. Sippenrivalität zum Ausdruck, die das hohepriesterliche Amt für die in 1Chr 24 erstgenannte Abteilung beanspruchte. 25 Vgl. VANDERKAM, Joshua, 226–239. 26 Jos Ant 12,387f.; 13,62–73.383–387; 20,235–237; Bell 1,31–33; 7,420–432; vgl. HAYWARD, Leontopolis, 429–443; FREY, Rival Temple, 186–194. 27 Zur Problematik des Intersacerdotiums vgl. VANDERKAM, Joshua, 244–250; STEGEMANN, Essener, 205f., und →IV.2. 28 Vgl. VANDERKAM, Joshua, 251–270. 29 Vgl. 1Makk 10,20; Jos Ant 13,45. Bemerkenswert ist das Urteil von STERN, Aspects, 581: „Moreover, for the first time in Jewish history, royal authority passed into the hands of the priesthood. […] This involved, however, to a large extent the displacement of the messianic hopes connected with the house of David. The assumption of royal authority by the Hasmoneans enhanced the status of the tribe of Levi as contrasted with the tribe of Judah“; vgl. →IV.3. T H. POLA, Priestertum, 280f., hat gezeigt, dass sich die hasmonäische Ämterhäufung nicht auf die Herrschaftskonzeption von Sach 3 berufen kann, da dort lediglich von einer provisorischen und beschränkten Übernahme königlicher Rechte und Pflichten durch den Hohepriester die Rede ist, die mit dem Kommen des davidisch-königlichen Nachkommens enden würde.

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

hasmonäischen Dynastie selbst von Herodes dem Großen (37–4 v.Chr.) ein Ende gesetzt.30 Die seit der Absetzung Onias’ III. (175 v.Chr.) andauernden Querelen um das hohepriesterliche Amt setzten sich jedoch auch während der Hasmonäerherrschaft fort. Die Konfliktthemen reichten von kultischen und ethischen Heiligkeits- und Reinheitsfragen über Kalenderdiskussionen bis hin zur Infragestellung der grundsätzlichen Legitimität des Tempels und der in ihm amtierenden Priesterschaft. Sie stellen den Hintergrund der im nächsten Abschnitt behandelten Texte dar. Aus den religionspolitischen Verwerfungen des 2. Jh. v.Chr. erwuchs als eine weitere Hypothek für die Zukunft die Diversifizierung des Judentums an sich. Im Kampf um die Kontrolle über den Tempel und die rechte Form des Kultvollzugs zersplitterte die jüdische Kultgemeinschaft in verschiedene Religionsparteien, die den Priestern mit ihrer je eigenen Schriftauslegung einen wesentlichen Kompetenzbereich streitig machten. Vor allem der Pharisäismus mit seinem volkspädagogischen Impetus akzeptierte zwar das priesterliche Monopol des kultischen Dienstes, jedoch nicht mehr das priesterliche Auslegungsmonopol für die Tora, und lief durch seine Schriftgelehrsamkeit und hermeneutische Deutungskompetenz dem stark auf kultische Fragen fokussierten Priestertum im Blick auf öffentlichen Einfluss den Rang ab.31 So entwickelte sich eine Mehrzahl theologischer Schulen und hermeneutischer Konzepte, die eine theologische und damit in Folge auch innenpolitische Verständigung erschwerten. Die dynastische Zäsur, die mit dem Amtsantritt Herodes des Großen markiert ist,32 stellte auch eine Zäsur für das hohepriesterliche Amt dar. Während Goodblatt für die vorherodianische Epoche den Begriff einer

30

VANDERKAM, Joshua, 251–393. Josephus, Ant 14,41, berichtet von einer interessanten Episode, die sich während des Bürgerkrieges zwischen den Rivalen um die königliche bzw. hohepriesterliche Würde Aristobul und Hyrkan abgespielt haben soll. Nachdem beide Parteien Emissäre zu Pompeius geschickt hatten, sei auch noch eine dritte Delegation „von der Nation“ gesandt worden, die Pompeius darum bat, künftig nicht von einem König regiert zu werden, weil es in diesem Land Brauch sei, den Priestern Gottes zu gehorchen. 31 Zum Phärisäismus vgl. DEINES, Art. Pharisäer (TBLNT²); DERS., Art. Pharisees (EDEJ); DERS., Pharisäer; DERS., Pharisees, 443–504; NEUSNER, Rabbinic Traditions; DERS., Verwendung; SCHÄFER , Pharisäimus. 32 „Zäsur“ ist an dieser Stelle freilich ein mehrdeutiger Ausdruck für die brutale Ausrottung der männlichen Nachkommen des hasmonäischen Hauses durch Herodes, vgl. Jos Bell 1,437; Ant 15,51–56. Den letzten Hohepriester der hasmonäischen Linie Jonathan Aristobul III. ließ Herodes 34 v.Chr. ertränken. Die weiblichen Nachkommen der Hasmonäer wurden weitgehend mit der Herodesfamilie verheiratet – angefangen bei Mariamne I., die eine Enkelin Hyrkanos II., Hohepriester von 63–40 v.Chr., – und damit domestiziert.

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„priestly monarchy“33 prägte, bedeutete der Herrschaftsantritt des Idumäers die Restitution der klassischen Monarchie. Herodes konnte wegen seiner idumäischen Abstammung anders als seine hasmonäischen Vorgänger nicht selbst Hohepriester werden. Zur Sicherung seiner Macht beschränkte Herodes das Amt deshalb wieder auf seine kultische Bedeutung und schwächte es zusätzlich durch die Abschaffung sowohl der Erbfolge als auch der Amtsdauer auf Lebenszeit. Die hohepriesterlichen Amtsträger wurden fortan von Herodes nach Belieben ein- und abgesetzt und auf diese Weise zu bloßen „Kultusfunktionären“ degradiert.34 Das bescherte auch dem einfachen Priesteramt einen weiteren Prestige- und Bedeutungsverlust. Herodes bevorzugte bei seiner Personalpolitik Kandidaten aus der alexandrinischen und babylonischen Diaspora, die möglicherweise sogar eine zadokidische Abstammung vorweisen konnten, um damit ein Gegengewicht zur hasmonäischen Dynastie zu setzen. Freilich sorgte er durch seine willkürliche Ein- und Absetzungspolitik dafür, dass der Einfluss des jeweiligen Amtsinhabers nicht zu groß werden konnte. Es entwickelte sich eine hohepriesterliche Aristokratie aus einflussreichen Priesterfamilien, aus denen Herodes und seine politischen Erben einschließlich der römischen Präfekten und Prokuratoren die Amtsinhaber rekrutierten. In den 108 Jahren zwischen dem Herrschaftsantritt des Herodes und dem Ende des jüdischen Tempels wechselten nicht weniger als 28 Hohepriester im Amt, von denen jedoch mindestens 22 aus nur vier priesterlichen Familien stammten.35 In der Regel wechselte das Amt unter Brüdern, während das Familienhaupt als „graue Eminenz“ einflussreich im Hintergrund blieb.36 Diese Priesterfamilien entwickelten die zunehmende Tendenz, sich im Sinne eines „Priesteradels“37 durch Privilegien und Ämterschacher von den einfachen Priestern abzugrenzen.38 33

GOODBLATT, Monarchic Principle, 6–56. So HOPPE, Religionsparteien, 63. Vgl. dazu wiederum VANDERKAM, Joshua, 394– 490; sowie STERN, Aspects, 600–612, und HIMMELFARB, Kingdom, 161. In seiner 33jährigen Amtszeit installierte Herodes nicht weniger als sieben Hohepriester. 35 Unter Herodes war es zunächst die aus Alexandrien stammende Familie des Boethos, die seit 24/22 v.Chr. den Hohepriester stellte und insgesamt acht Vertreter ins Amt brachte. Später war es die Dynastie des Hannas, Hohepriester von 6–15 n.Chr., die ebenfalls acht Vertreter lancieren konnte, darunter den Hannas-Schwiegersohn Kaiphas, der von 18–37 n.Chr. amtierte. Die Familien Phiabi und Kamith stellten je drei Vertreter. Sechs Hohepriester lassen sich nicht sicher zuordnen. Zu den hohepriesterlichen Familien vgl. auch STERN, Aspects, 604–609. 36 Beispielhaft für diese oligarchischen Machtstrukturen ist der Prozess Jesu, wie er von Johannes erzählt wird. Dass sich Hannas als der Schwiegervater des amtierenden Hohepriesters Kaiphas nach Joh 18,13 das Recht auf ein privates Vorverhör Jesu herausnehmen konnte, passt durchaus in das machtpolitische Bild jener Zeit. 37 Ein Ausdruck dieser Verflechtungen ist der Plural des Begriffes „Hohepriester“ z.B. in Mt 2,4; 16,21; 26,14; 27,62; Mk 8,31; 14,53; 15,11; Lk 20,19; 23,10; Joh 7,32; 34

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Auch die römische Besatzungsmacht in Gestalt der diversen Präfekten und Prokuratoren prolongierte die herodianische Politik bis zum Regierungsantritt von Agrippa I. (41 n.Chr.). Erst dann wurde dem jüdischen Herrscher wieder das Recht zur Ernennung des Hohepriesters übertragen. Diese Politik der „kurzen Leine“ gegenüber der politischen und religiösen Führung einer Provinz war ein Ausdruck der römischen Religionspolitik in den Provinzen.39 Die Römer sahen in aller Regel in der lokalen Aristokratie die loyalsten Partner in einer Provinz. Entsprechend setzten die Prokuratoren in der Regel die Hohepriester auch nicht selbst ein bzw. ab, sondern überließen dies den jeweiligen Klientelkönigen.40 Nach der letzten längeren hohepriesterlichen Amtszeit des Ananias ben Nebedaios (47–59 n.Chr.) wechselte das Amt in immer kürzeren Frequenzen. Möglicherweise kann dies als ein Zeichen für zunehmende Spannungen unter den aristokratischen Priesterfamilien gewertet werden, vielleicht aber auch als ein Ausdruck des zerrütteten Verhältnisses zwischen diesen Familien und Agrippa II. Denn eine Delegation, die unter Ismael ben Phiabi in Rom bei Nero vorsprach, hatte Agrippa II. eine diplomatische Niederlage eingebracht (Jos Ant 20,189–196). Durch die Ermordung des Hohepriesters Ananias und seines Bruders Hiskia (Jos Bell 2,441) und die zunehmenden Wirren des eskalierenden Aufstandes wurde auch das Amt mehr und mehr in Mitleidenschaft gezogen. So nahmen die Zeloten nach ihrer Machtergreifung eine Neuordnung des hohepriesterlichen Amtes vor, indem sie einen gewissen Phanni, der aus dem hohepriesterlichen Geschlecht Eniachin stammte, per Losentscheid zum Hohepriester wählten (Bell 4,153–157). Auch wenn Josephus dieses Verfahren und den Gewählten bzw. Gelosten mit Polemik überschüttet, muss die dahinterliegende zelotische Absicht wahrgenommen werden: Nach einer langen Epoche illegitimer, weil nicht-zadokidischer Amtsträger, sollte mit dem Losentscheid ein Gottesurteil herbeigeführt werden (vgl. 1Chr 24,5ff.), um die abgebrochene zadokidische Dynastie 12,10; 19,6; Act 4,6 (ge,noj avrcieratiko,n); 9,21; 19,14. Dieser Plural ist entweder so zu verstehen, dass auch die früheren Amtsinhaber nach ihrer Demission den Titel behielten, oder – was wahrscheinlicher ist – dass der Titel sich im generischen Sinn auf die gesamte Familie des amtierenden Hohepriesters erstreckte, vgl. STERN, Aspects, 602f.; W ARDLE, Jerusalem Temple, 41f. Die Familienmitglieder besetzten dann die wichtigsten Ämter und Funktionen im Tempelbetrieb, der mit Abstand die bedeutendste Wirtschaftsinstitution im damaligen Israel war, vgl. tMen 13,21; bPes 57a. 38 HENGEL/DEINES, Common Judaism, 468.470, vermuten, dass diese elitäre Abgrenzungspolitik eine Hinwendung der Priesterschaft zu den Pharisäern forcierte. 39 Ein Ausdruck der „kurzen Leine“ war seit Herodes auch der Umstand, dass der hohepriesterliche Ornat vom jeweiligen Klientelfürsten oder Prokurator verwahrt wurde und nur zu den großen Festen dem jeweiligen Hohepriester ausgehändigt wurde. Zur politischen Bedeutung des Ornats siehe GUSSMANN, Priesterverständnis, 395–408. 40 GUSSMANN, Priesterverständnis, 64f.

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wiederherzustellen.41 Bemerkenswert bleibt die Tatsache, dass die Aufständischen für die Verteidigung gegen die römischen Truppen alle strategischen Führungspositionen mit Priestern besetzten. Das bedeutet, dass für nationale Führungsaufgaben in jenen bewegten Tagen nach wie vor die Priester die ersten Ansprechpartner waren.42 Es ist in der Forschung eine vieldiskutierte Frage, ob und in welchem Maße das hohepriesterliche Amt in den Jahrzehnten vor dem Jüdischen Krieg an Einfluss und Stabilität verlor. Nach E.P. Sanders Sicht der Dinge verloren die Hohenpriester zwar an Reputation und Ansehen, aber nicht an Einfluss. Vielmehr seien sie bis zum Beginn des jüdischen Aufstandes der maßgebende politische Faktor geblieben.43 Generell wirbt Sanders für ein positiveres, weniger korruptes und depraviertes Hohepriester- und Sadduzäerbild in den Jahrzehnten vor dem Jüdischen Krieg.44 Die Korruptheit, Inkompetenz und moralische Fragwürdigkeit einiger Priester hätte das hohe Prestige des Priestertums nicht als Ganzes in Frage stellen können. Vielmehr zeige der Umstand, dass die Römer höchsten Wert auf die Verwahrung und Kontrolle der hohepriesterlichen Gewänder legten, in denen der Hohepriester als Stimme Gottes fungierte, wie sehr sie nach wie vor seinen Einfluss auf das Volk fürchteten.45 Sanders’ Darstellung ist jedoch vom durchgängigen Anliegen geprägt, das Hohepriestertum als zentrale und stabile Instanz seines common Judaism zu präsentieren. Eine Verfallstheorie vertritt demgegenüber D. Mendels.46 Er verweist auf den politischen Machtverlust des hohepriesterlichen Amtes, der ein Spiegelbild der durch vielfachen Amtsmissbrauch verlorenen geistlich-religiösen und gesellschaftlichen Bedeutung des Tempels und Priestertums sei: „For many Jews, the Temple was in effect destroyed long before its physical destruction in 70 C.E.“47 Eine Mittelposition vertritt M. Goodman,48 der auf die römische Praxis verweist, eine existierende politische Führung in den Provinzen zu erhalten und innenpolitisch zu stabilisieren, um einen Ansprechpartner zu haben. Allerdings sei dies in Judäa aufgrund der Schwächung des Amtes durch Herodes I. ein schwieriges Unterfangen gewesen. Hinzu kam, dass die Römer selbst dem Amtsinhaber das Recht vorenthielten, Volksversammlungen einzuberufen. Diese Ambivalenz römischer Religionspolitik in Judäa habe sich auch auf das öffentliche Ansehen des hohepriesterlichen Amtes niedergeschlagen. Der Diskussion liegen in der Tat zwei irritierende Fakten zugrunde. Auf der einen Seite ist es kaum vorstellbar, dass die innen- und religionspolitischen Wirren seit Hero41

EGO, Art. Priester, 394. GUSSMANN, Priesterverständnis, 238. 43 SANDERS, Judaism, 321.327. Seines Erachtens bleibt die zeitgenössische Kritik am Priestertum, vgl. z.B. PsSal 8; 1QpHab 12,8; CD 4,17–5,11; 6,15f.; AssMos 6,1, und Mk 11,17, ganz in den Bahnen innerjüdischer Polemik gegenüber religiösen Gegnern, die zwar in halachischen Fragen andere Auffassungen vertraten, aber keineswegs theologisch heterodox oder ethisch-moralisch depraviert waren. Insgesamt sei das Priestertum in den Tagen des Josephus kultischen und moralischen Amtsverpflichtungen korrekt nachgekommen, so SANDERS, Judaism, 91f.182–189. 44 SANDERS, Judaism, 338f. 45 SANDERS, Judaism, 326f. 46 MENDELS, Rise and Fall, 277–320. 47 MENDELS, Rise and Fall, 301.304. 48 GOODMAN, Ruling Class of Judaea, 29–50. 42

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des dem Großen und die Schwächung des Amtes durch die jeweiligen politischen Machthaber die Würde des Amtes und der Priesterschaft insgesamt nicht tangiert hätten. Auf der anderen Seite steht jedoch das verblüffende Phänomen, dass sich der jüdische Nationalismus in den Jahren vor dem Jüdischen Krieg exakt auf diese Institutionen fokussierte. Die römische Vorsicht im Umgang mit dem hohepriesterlichen Ornat, die gewaltig anschwellenden Pilgermassen in den Jahren vor dem Krieg und die Tatsache, dass sich die Zeloten nach ihrer Machtübernahme in Jerusalem um eine Restitution der zadokidischen Dynastie bemühten, zeigen, wie hoch das Prestige dieser jüdischen Institutionen ungeachtet der jeweils handelnden Personen nach wie vor war.

Das Ende des Jüdischen Krieges bedeutete auch das Ende der Jerusalemer Priesterschaft. Die Mehrzahl der Priester fand in den Wirren des Endkampfes um den Tempel den Tod, nicht wenige im Bemühen, selbst in aussichtsloser Lage noch den Opferkult aufrecht zu erhalten. Die überlebenden Priester mussten sich nach 70 n.Chr. der Herausforderung stellen, dem Judentum in tempelloser Zeit eine neue Identität zu geben. Während einige sich zu eigenständigen Gruppen zusammenfanden und eine zur rabbinischen Bewegung alternative Halacha vertraten, ließen sich andere in eben diese Bewegung integrieren und halfen auf diesem Weg mit, die Identität des Judentums unter veränderten Bedingungen weiter zu entwickeln.49 1.2 Die Kritik am Jerusalemer Priestertum in frühjüdischen Schriften Der historische Rückblick erklärt, warum es in jener Epoche schon früh und in verstärktem Maße ab dem 2. Jh. v.Chr. zu einer teils massiven Kritik an der Institution des Priestertums und dem Hohepriester als ihrem führenden Repräsentanten kam. Wie bereits im letzten Kapitel deutlich wurde, reichen die Anfänge der Kritik in die vorexilische Zeit bis zu den klassischen Propheten sowohl des Nord- als auch des Südreichs zurück (→II.3.1) und setzen sich mit der Wiedererrichtung des Tempels nach dem Exil fort. Standen in vorexilischer Zeit die Themen des Götzendienstes, der Gerechtigkeit und des veräußerlichten Kultes im Mittelpunkt der Kritik, so treten in nachexilischer Zeit bei Esra, Nehemia und Maleachi Fragen illegitimer Eheverhältnisse von Priestern in den Mittelpunkt, die sich durch die gesamte frühjüdische Literatur ziehen und zu einem Stereotyp antipriesterlicher Polemik werden.50 Hinter dieser auf den ersten Blick und aus moderner Perspektive nebensächlich anmutenden Problematik verbergen sich jedoch letztlich nicht nur Fragen nach der korrekten Kultpraxis, sondern v.a. nach der der kultischen Heiligkeit und Reinheit und damit nach der priesterlichen Integrität. Diese war wiederum essentiell für die Gültigkeit der sühnenden Opfer und der damit verbundenen heilvollen Gegen49 50

Vgl. zum Priestertum nach 70 n.Chr. EGO, Art. Priester, 394–396. Vgl. Esr 9–10; Neh 13,25–30; Jub 30,13–16; AssMos 5,3; TestLev 9,9f.

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wart Gottes. Eine deutliche Verschärfung erfährt die Kritik in den Qumranschriften, den Testamenten Levis und Moses, sowie in den Psalmen Salomos. Der historische Hintergrund ist jeweils der wachsende Konflikt der jüdischen Religionsparteien um Tempel, Priestertum und Kultus in der hasmonäischen Periode. Ein großes Problem für die Einordnung dieser Kritik stellt unser begrenztes Hintergrundwissen über viele frühjüdische Schriften dar. Ein beträchtlicher Teil der Literatur aus der Zeit des zweiten Tempels lässt sich in der Regel nicht eindeutig einer der bekannten Religionsparteien zuordnen. Die Vermutungen der aktuellen Forschung sind nach wie vor mit großen Unsicherheiten belastet. Dennoch geben diese Texte Auskunft über die Inhalte und Gründe der Kritik, die etwa ab dem 2. Jh. v.Chr. zur Suche nach alternativen, von der priesterlichen Integrität und Kultpraxis unabhängigen Formen des „Seins vor Gott“ führte, die im nächsten Kapitel Gegenstand der Untersuchung sein werden. 1.2.1 Das Testament Levis Das Testament Levis ist ein Teil der ursprünglich wohl in Griechisch abgefassten51 Testamente der zwölf Patriarchen,52 die als Abschiedsreden 51

Vgl. dazu B ECKER, Testamente, 25; HOLLANDER/DE J ONGE, Testaments, 27–29. Eine Datierung dieser Schrift ist extrem problematisch, zumal die späteste Bearbeitung dieser Texte eindeutig christlich ist, vgl. z.B. TestSim 6,6f.; TestLev 2,11; 4,4; 9,3; 10; 14,2; 16; TestBen 9,2c-5, sowie SCHÜRER/VERMES, History III/2, 771, Anm. 16. Generell dominiert in der Forschung seit F. SCHNAPP, Die Testamente der zwölf Patriarchen, 1884, die Annahme einer ursprünglich genuin jüdischen Grundschrift, die jedoch außerhalb Israels in hellenistisch-griechischer Sprache verfasst wurde und in die später christliche Interpolationen eingetragen wurden; vgl. BECKER, Testamente, 17.23. Die jüdische Grundschrift wird von SCHÜRER/VERMES, History III/2, 774, zwischen 100 und 63 v.Chr. datiert, von ULRICHSEN, Grundschrift, 337–339, dagegen bereits um 200 v.Chr. B ECKER, ebd., 17.24, vermutet den „Grundstock“ der Test XII in den ersten Jahrzehnten des 2. Jh. v.Chr. (Entwicklungsstufe I), während sich die weitere Entstehung (Stufe II) abgesehen von der christlichen Überarbeitung, die frühestens im 2. Jh. n.Chr. erfolgte (Stufe III), über die gesamten beiden letzten vorchristlichen Jahrhunderte erstreckte. Angesichts der Disparatheit der Datierungsvorschläge kommt U LRICHSEN, Grundschrift, 337, zu dem Fazit: „Über das Alter der T(estamente der zwölf) P(atriarchen) herrscht keine Einigkeit, denn beinahe jeder Forscher, der mit diesem Problem selbständig gearbeitet hat, bestimmt es verschieden.“ Die Existenz einer vorchristlichen jüdischen Grundschrift bestreitet dagegen DE J ONGE, Testaments, der zwar von der Verarbeitung verschiedener jüdischer Quellen in der Schrift ausgeht, die Gesamtkomposition dagegen als grundlegend christlich betrachtet und eine Entstehung zwischen 190 und 225 n.Chr. annimmt; vgl. auch seine ernüchterndere Bilanz in HOLLANDER/DE J ONGE, Testaments, 83: „… the study of the most important related Hebrew and Aramaic material led to the conclusion that much will remain unknown about the ways along which material reached the author of the Testaments, and in what form it was at his disposal.“ Schließlich kommen die Autoren, a.a.O., 85, zu dem radikalen Schluss: „A fortiori, it is practically 52

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(farewell discourses) der Jakob-Söhne konzipiert sind.53 Die Patriarchen ermahnen ihre Söhne darin zur Gottesfurcht und zur Liebe gegenüber ihren Nächsten. Zukunft gibt es nur unter der Bedingung des Gehorsams gegenüber den Geboten und – hier macht sich die christliche Bearbeitung bemerkbar – im Glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes. Das Testament Levis unterscheidet sich in vielfältiger Hinsicht von den anderen Testamenten, da es intensiv das Verhalten und die Zukunft der Levi-Söhne und somit die Sünden und das Gericht über die jüdischen Priester thematisiert.54 Die Schrift ist durch eine streng priesterkritische Attitüde charakterisiert. In relativ allgemeiner Weise werden die Levi-Söhne, d.h. die Priester, in TestLev 9,9 zur Wachsamkeit vor dem „Geist der Unzucht“ ermahnt, der wirksam bleiben und durch „deine Nachkommen das Heiligtum beflecken wird“.55 Sehr viel konkreter wird dann in TestLev 14 die Korruptheit des Jerusalemer Priestertums gegeißelt, konkret die „Gottlosigkeit der Hohepriester“ (14,2), der Diebstahl der Ganzopfer und Gottesanteile am Opfer (14,5), Unzucht und Ehebruch (14,6) und ganz generell der Hochmut gegenüber den Geboten (14,7). Dieses unangemessene Verhalten führt in der Folge zur Verwüstung des Tempels und zur Zerstreuung Israels unter die Heiden (15,1). TestLev 16 erzählt sodann von der Schändung des Priestertums, bevor c. 17 von sieben Jahrwochen bzw. Jubiläen berichtet, in denen jeweils ein Priestertum sein wird, das aber mit jeder Jahrwoche zunehmend degeneriert, bis schließlich das Priestertum in der siebten Jahrwoche in einem Lasterkatalog neben Götzendienern, Streitsüchtigen, Habsüchtigen, Gottlosen, Knabenschändern etc. auftaucht (17,11). TestLev 18,1ff. berichtet, dass Gott das degenerierte Priestertum bestrafen und einen neuen Priester erwecken wird, der messianische Züge trägt.56

impossible to answer the question whether there ever existed Jewish Testaments in some form. If they existed, we shall never be able to reconstruct them with any degree of certainty.“ Zur Forschungsgeschichte vgl. KUGLER, Testaments, 31–38, der selbst Sympathie für DE J ONGES These äußert. Zu den Einleitungsfragen vgl. ferner KEE, Testament of the Twelve Patriarchs (OTP I), 775–780; HOLLANDER/DE J ONGE, Testaments, 1–85; SCHÜRER/VERMES, History III/2, 767–781; COLLINS, Art. Testaments of the Twelve Patriarchs (CRINT II/2), 331–344. Zur Gattung des Patriarchentestaments vgl. FREY, Origins of the Genre. 53 Zum Genre vgl. KUGLER, Testaments, 16. 54 Programmatisch lautet die Überschrift „Über das Priestertum und die Arroganz/den Übermut (i``erwsunh/j kai. u``perhfa,niaj)“, vgl. TestLev 17,11. 55 Vgl. ArLev 5,16; Jub 21,21–23. Das Testament Levi steht in einer Tradition, die das Exil als Strafe für die Sünde der Priester betrachtet, vgl. hierzu auch 2Chr 36,14; 1Esdr 1,47; Ez 22,26LXX; Zeph 3,4. 56 Wahrscheinlich handelt es sich bei dieser priesterlichen Messianologie um eine christliche Bearbeitung.

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Hinsichtlich der Deutlichkeit und Schärfe der Kritik und der Präzision der Anklagen lässt die Schrift keine Wünsche offen. Die Priester werden als sexuell depravierte, rituell unreine, geldgierige, gesetzlose, stolze und arrogante Diebe dargestellt.57 In der Forschung wurde immer wieder auf die Nähe zur Kritik der Qumranschriften am Jerusalemer Priestertum hingewiesen,58 allerdings erscheint der Tempel im Testament Levi trotz der Korruptheit des Priestertums nirgendwo selbst als verunreinigt oder erneuerungsbedürftig.59 Man wird auch die stark priesterkritischen Töne von einer antipriesterlichen Haltung unterscheiden müssen.60 Die Institution eines Priestertums an sich findet in dieser Schrift nach wie vor eine hohe Wertschätzung.61 1.2.2 Die Qumranschriften Die Bedeutung der sich in den Qumranschriften ausdrückenden Gemeinschaft ist auch mehr als 60 Jahre nach der Entdeckung der Schriften umstritten. Während E.P. Sanders hinter den Schriften eine „tiny and fairly marginal sect“ sieht und ihnen in seiner Gesamtdarstellung des Judentums auch keinen allzu großen Raum einräumen möchte,62 wird die Bedeutung der Gemeinschaft von anderen Experten als weit größer eingeschätzt. Eine ausführlichere Diskussion des aktuellen Forschungsstandes erfolgt in →IV.2. Während diese Diskussion noch im vollen Gange ist, sind die Qumranschriften hier v.a. deshalb interessant, weil sie einen Blick auf eine extrem kritische Position gegenüber dem Jerusalemer Kult widerspiegeln und in 57

Möglicherweise hat diese Kritik ihren Ursprung in der Amtsführung des Königs und Hohepriesters Alexander Jannai, 103–76 v.Chr., von dem Josephus, Ant 13,380, berichtet, dass er zahlreiche Konkubinen unterhielt und mit ihnen u.a. auch die ihm als Hohepriester legitim zustehenden Erstlingsfrüchte teilte, vgl. SANDERS, Judaism, 183f.; W ARDLE, Jerusalem Temple, 83. Wenn diese Annahme zutrifft, dann wäre die an Alexander Jannai entzündete Kritik von den Verfassern pauschalisiert, auf die gesamte Priesterschaft übertragen und diese für die Sünden des Hohepriesters in „Sippenhaft“ genommen und verantwortlich gemacht worden. 58 Vgl. aber BECKER, Testamente, 26f., der auf die zahlreichen Unterschiede zu den Qumranschriften verweist und den gesamtisraelitischen Charakter der Schrift verweist, die sie kaum als essenisch erscheinen lässt. 59 Anders W ARDLE, Jerusalem Temple, 84, der in der Vision eines himmlischen Tempels in TestLev 3,4–10 und 5,1 einen Hinweis auf die Kontamination des irdischen Tempels sehen möchte. 60 Darauf hat jüngst v.a. KLAWANS, Purity, 131–134, hingewiesen. 61 Vgl. nur die Hinweise auf einen himmlischen Priesterdienst durch die Engel in TestLev 3,2–8; 8,1–19, und natürlich auch die Erwartung eines erneuerten Priestertums in 18,2–14, v.a. V. 9. 62 SANDERS, Judaism, 341. Seine beiden Kapitel zur Geschichte, Sozialgestalt und Theologie der Essener umfassen dann aber doch fast 40 Seiten, a.a.O., 341–379.

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der Konsequenz eine alternative und zeitgenössische Konzeption des jüdischen Priestertums in den beiden Jahrhunderten um die Zeitenwende eröffnen. Die Qumranschriften sind für die Entwicklung des Priesterbegriffs von besonderer Bedeutung, weil in ihnen ein Schisma zwischen einer devianten Gruppe vom Jerusalemer Priestertum reflektiert wird.63 Darauf weisen die in einigen Handschriften bewahrten Priesterliturgien, Ritualbestimmungen, Heiligtumsentwürfe, Kalender- und Festtraditionen hin, die zum Teil auch im Jerusalemer Tempel beheimatet waren oder sogar von dort stammten.64 An dieser Stelle der Untersuchung muss jedoch ein Blick auf die teils massive Kritik am Jerusalemer Heiligtum und seiner Priesterschaft genügen. Wie die in den Schriften vom Toten Meer enthaltene Alternative dazu aussah, wird im nächsten Kapitel zu fragen sein. In der neueren Forschung hat sich der Konsens durchgesetzt, dass es wohl weniger der sog. „Frevelpriester“ war, hinter dem sich möglicherweise der ob seiner Ämterhäufung angeklagte Hasmonäer und Hohepriester Jonathan verbirgt,65 der zur Separation des yaḥad vom Jerusalemer Kult führte, sondern vielmehr der Dissens über kalendarische, kultische, ethische und halachische Fragen.66 Konfliktträchtig war v.a. die Einführung eines kombinierten lunarsolaren Kalenders für den Opferkult.67 Dieser Kalender gefährdete die Gültigkeit der Opfer, weil deren Rechtmäßigkeit und göttliche Akzeptanz von der termingerechten Darbringung abhängig war. Die korrekte Opferdarbringung wird in Lev 23 und Num 28f. geregelt, wobei in Lev 23,37f. auf die Unterscheidung zwischen den Opferriten an Sabbattagen und jenen an bestimmten Festtagen wert gelegt wird. Der yaḥad folgte deshalb ebenso wie die Autoren des äthiopischen Henochbuches und des Jubiläenbuches dem Sonnenkalender mit 364 Ta63 Der priesterliche Hintergrund der Gruppe wird durch die etwa 300 Bezugnahmen auf Priester in den Qumrantexten deutlich, wobei die Hinweise auf Hohepriester, die „Söhne Zadoks“ und die „Söhne Aarons“ noch nicht mitgezählt sind. Vgl. W ARDLE, Jerusalem Temple, 145: „… the ubiquity of references to priests, alongside the very evident priestly concerns in many of the scrolls, suggests the influence of priests not only in the continuation of the sect but also in its formation.“ 64 MAIER, Zwischen den Testamenten, 256–259. 65 Vgl. 1QpHab 8,8–13; 9,3–7; 12,7–9; vgl. 4Q162 2,6–10; 4Q166 2,14–17; vgl. zum Frevelpriester auch Anm. →IV.2. Anm. 26. 66 CD 5,6f.; vgl. 4,18; 6,11–14; 4QMMT; vgl. HOGETERP, God’s Temple, 75–93; MAIER, Art. Temple (EncDSS), 923f. 67 Die Einführung geht wahrscheinlich auf die aggressive Kulturpolitik der Seleukiden zurück, weil dieser Kalender dem seleukidischen Kalender entsprach, während das Judentum bislang am 364-Tage-Sonnenkalender festgehalten hatte; vgl. dazu VanderKam, Calendars. Die Hasmonäer machten aufgrund ihrer Abhängigkeit von den Seleukiden diesen Schritt nicht mehr rückgängig, was zur Kritik frommer Kreise führte.

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gen, die man exakt in 52 Wochen gliedern konnte. Damit fielen alle Tage des Jahres immer auf denselben Wochentag. Nur so konnte verhindert werden, dass die für besondere Festtage vorgeschriebenen Handlungen mit der Sabbatheiligung in Konflikt gerieten.68 Durch die Kombination des Sonnen- mit dem Mondkalender war eine Trennung von Fest- und Sabbattagen jedoch nicht mehr zu gewährleisten. Es musste zu Überschneidungen kommen, die für die Gründer des yaḥad nicht mehr tragbare Kompromisse im Opferritus mit sich brachten.69 Da für den yaḥad wie wohl überhaupt für das traditionelle Priestertum allein der Sonnenkalender der göttlichen Zeiteinteilung entsprach, wurden die Sabbate nicht nur dann verletzt, wenn sie mit anderen Festtagen kollidierten, sondern generell, weil sie wie die Feste an den grundsätzlich verkehrten Tagen gefeiert wurden. Für die Gemeinschaft war mit dem neuen Kultkalender die Gültigkeit und Wirksamkeit der Opfer, somit das Opfersystem als Ganzes und letztlich das Heil Israels in Frage gestellt.70 Die Ordnung des Kosmos war durch diese Maßnahmen in Unordnung geraten. Eine weitere Beteiligung an diesem Kult und seinen unwirksamen Opfern (vgl. CD 6,11–12: „nutzloses Feuer“), kam daher nicht mehr in Frage, zumal man sich durch Mal 1,10 zu einem endzeitlichen Boykott des depravierten und insuffizienten Tempelkultes nicht nur legitimiert, sondern sogar genötigt sah (CD 6,11b–14a). Neben der Störung der kosmischen Ordnung durch den falschen Kalender werden in verschiedenen Schriften der Gemeinschaft noch eine Reihe weiterer Kritikpunkte aufgezählt: In dem halachischen Text 4QMMT wird in verhältnismäßig konziliantem Ton die Jerusalemer Priesterschaft und im Konkreten der Hohepriester ermahnt, besser auf einige „Werke der Tora“ zu achten. Zu den im Folgenden aufgelisteten Mängeln gehören auch die aus anderen frühjüdischen Schriften bekannten Kritikpunkte illegitimer Ehe- und Sexualbeziehungen (B 75.80–82). Unklar ist, ob auch finanzielle Unregelmäßigen thematisiert werden.71 68 Diesem Sonnenkalender mit exakt 52 Wochen entspricht auch die Zahl der Priesterordnungen im yaḥad, die nach 1QM 2,2 nicht wie in 1Chr 24,7–18 nur 24 Ordnungen umfassten, sondern 26. Auf diese Weise ist jeder Priester, abgesehen von den großen Pilgerfesten, jährlich zweimal eine Woche im Tempeldienst. 69 Vgl. CD 3,13ff.; 6,18ff.; 1QS 1,14f.; skeptischer KLAWANS, Purity, 157f. 70 Vgl. auch SCHIFFMAN, Community, 270: „Clearly, it was the view of this copyist [sc. von 4QMMT] that the founding of the sect was at least in part based on the controversy surrounding the calendar. If this is correct, then the sectarian separation from the Jerusalem Temple would have been encouraged if not caused by disagreement regarding dates of the festivals.“ 71 Vgl. 4QMMT C 9 und W ARDLE, Jerusalem Temple, 69, sowie KLAWANS, Purity, 156–158.

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Deutlich polemischer werden im CD die erwähnten Kritikpunkte formuliert. Wieder geht es um unreine Ehe- und Sexualbeziehungen (CD 3,17), Sexualverkehr während der weiblichen Menstruation oder unregelmäßiger Blutungen (CD 5,7),72 Priesterehen mit den eigenen Nichten (CD 5,8)73, finanzielle Missstände (CD 6,14–17)74, und um die bereits erwähnten „wirkungslosen Opfer“ (CD 6,12.14: „nutzloses Feuer“) aufgrund der durch die kalendarische Fehlentscheidung unvermeidbaren Vermischung von Sabbat- und Festtagen (CD 6,18f.). Kritik am Priestertum und hier v.a. an der Figur des „Frevelpriesters“ wird auch im Pesher Habakuk laut (vgl. 1QpHab 2,1–2; 5,11). In 1QpHab 8,9–9,3 wird dieser „Frevelpriester“ als stolz, hochmütig, geldgierig und gewalttätig beschrieben. Er erscheint darüberhinaus immer wieder als Kontrahent des „Lehrers der Gerechtigkeit“ (11,4–8 u.ö.). Hinzu kommt der bereits bekannte und nun stereotype Vorwurf der Unreinheit (8,13; 12,8f.). Wahrscheinlich stehen auch hinter diesem Begriff die Vorwürfe illegitimer Ehen sowie kalendarischer und halachischer Fehlentscheidungen. Im Rückblick auf die Kritikpunkte wird deutlich, dass in den Qumranschriften der Schwerpunkt weniger auf ethischen als vielmehr auf kultischen Anfragen und Vorbehalten liegt. Der yaḥad sah durch die unsachgemäße und kalendarisch falsche Opfer- und Kultpraxis die Integrität der Priester und in der Folge die Gültigkeit der Opfer grundsätzlich in Frage gestellt und entschloss sich deshalb zu entsprechend radikalen Konsequenzen, die im folgenden Kapitel zum Thema werden.

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Im Hintergrund dürften auch hier unterschiedliche Auslegungen der Tora bezüglich der einzuhaltenden Fristen im Zusammenhang des weiblichen Menstruationszyklus und irregulärer Blutungen stehen, vgl. Lev 15,19ff. 73 An der Nichten- und Neffenehe zeigt sich die strengere Halacha des yaḥad. In Lev 18,6ff. wird die Nichten- und Neffenehe nicht ausdrücklich verboten und liegt eher in der Logik der dortigen Regelungen. 74 KLAWANS, Purity, 147–153, sieht in der Opferung „gestohlener Opfer“ und der darin zum Ausdruck kommenden Habgier eine der Hauptursachen für die in den Qumranschriften geäußerte Kritik am Jerusalemer Kult. Im Anschluss an Jub 23,21; TestLev 14,5 und PsSal 8,11 vermutet er auch im Blick auf das CD und die Gemeinderegel, dass Habgier ein wesentlicher moralischer Kritikpunkt ist: In CD 6,15f. wird von den Priestern gefordert, dass sie sich von „schlechten Menschen“ fernhalten und den „schnöden, gottlosen Mammon“ meiden sollen, der von dem genommen wurde, was Gott geweiht ist, oder unter den Tempelschätzen gefunden wurde. Das Thema „Ausbeutung“ und „Habgier“ findet sich auch in CD 10,18; 11,15; 12,6f. In CD 16,13f. ergeht die Ermahnung, dem Altar nicht etwas Gestohlenes zu versprechen, sowie die Warnung an die Priester, keine derartigen Opfergaben anzunehmen. Die Gemeinderegel spiegelt diese Kritik am Jerusalemer Kult in den Eintrittsbestimmung für Novizen wieder. Sie ist geprägt vom Bemühen, das Element der Habgier aus der Gemeinschaft zu verbannen.

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1.2.3 Die Psalmen Salomos In den Psalmen Salomos, welche das Trauma der römischen Eroberung Jerusalems durch Pompeius (63 v.Chr.) zu verarbeiten suchen (vgl. PsSal 2; 8; 17), wird – vermutlich Mitte des 1. Jh. v. Chr.75 – die Profanisierung des Tempels durch die „Söhne Jerusalems“ (PsSal 1,8; 2,3; vgl. 8,22) ebenso wie durch Heiden (2,2) konstatiert.76 Wright vermutet, dass mit den „Söhnen Jerusalems“ die diensthabenden Priester gemeint sind, was sich aber nicht eindeutig belegen lässt.77 Der Psalmist könnte auch die gesamte Bevölkerung anklagen.78 Ist die Bestimmung dieser Belege als antipriesterliche Kritik und Polemik noch unscharf, so wird sie in PsSal 8,11–13 überdeutlich. Hier ist offensichtlich von offiziellen Personen die Rede, welche das Heiligtum Gottes ausrauben,79 verunreinigt (u.a. durch Menstruationsblut80) den Altar des Herrn betreten und keine Sünde übrig ließen, die nicht schlimmer als jene der Heiden gewesen wäre (vgl. 2,9; 17,15). Ähnlich wie die Polemik im Testament Levis und den Qumranschriften81 richtet sich die Kritik der Psalmen Salomos ausschließlich gegen die als korrupt und depraviert empfundene Priesterschaft, nicht gegen den Tempel als solchen. Somit spiegelt diese frühjüdische Schrift bei grundsätzlicher Wert- ja Hochschätzung des Tempels als Inbegriff jüdischer Identität eine umfassende Kritik am zeitgenössischen Priestertum wieder, die zwar nicht in Qumran beheimatet gewesen sein dürfte, aber doch eine Verwandtschaft zu diesem Denken aufweist.

75 Als ein gewisser Konsens kann heute die „Pompeianische Datierung“ gelten, wonach die Psalmen Salomos zwischen der Eroberung Jerusalems durch Pompeius, 63 v.Chr.; vgl. PsSal 2; 8; 9, und dem Tod des Pompeius, 48 v.Chr.; vgl. PsSal 2,26–27, sowie ATKINSON, Psalms, 39f., verfasst und kompiliert wurden, vgl. ATKINSON, Psalms, 419. ATKINSON, a.a.O., 427, selbst denkt an einen Herausgeber, der die Psalmen zwischen 62 und 30 v. Chr. edierte. Zu den Einleitungsfragen vgl. auch WRIGHT, Psalms of Solomon (OTP II), 639–650, und D. FLUSSER, Art. Psalms of Solomon (CRINT II/2), 573f. 76 So bezieht sich der Begriff „Sünder“ zwar immer wieder auf Pompeius, aber noch öfter auf Juden. Vgl. auch ATKINSON, Psalms, 19.25f. 77 WRIGHT, Psalms of Solomon (OTP II), 652, Anm. 2d. 78 ATKINSON, Psalms, 25. Deutlich ist lediglich, dass es sich um Juden handelt, die in Jerusalem leben und für den gegenwärtigen Zustand Jerusalem verantwortlich sind. 79 W ARDLE, Jerusalem Temple, 87, vermutet, dass der Vorwurf des Raubes sich auf die Verwendung von Tempelüberschüssen zur Finanzierung von Militäroperationen durch die hasmonäischen Hohepriester-Könige bezieht. 80 Vgl. auch CD 4,12–5,11 mit Lev 15,25. Es geht dabei entweder um die Frage, ob unregelmäßige Zwischenblutungen als Menstruationsblut anzusehen sind, oder um die Frage, wie lange die Menstruationsabstinenz zeitlich anzusetzen ist. 81 ATKINSON, Psalms, 184f., macht in diesem Zusammenhang auf die Ähnlichkeiten zwischen PsSal 8,10–12 und CD 4,15–18 aufmerksam.

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

1.2.4 Die Assumptio Moses AssMos 5 und 6 nehmen auf dieselbe Zeitperiode Bezug, wenn auch aus einer unterschiedlichen Perspektive: „Chapter 5 is a general characterization of the people’s sinfulness; chapter 6 connects this sinfulness to the kings under whose rule this corruption is to take place.“82 Der Autor will seine eigene Zeit83 als Spiegelbild der Ereignisse interpretieren, die zum babylonischen Exil führten, und stellt die jüdische Gesellschaft als „diseased in all its branches“ dar.84 In AssMos 6,1 kündigt der alternde Mose seinem Nachfolger Josua prophetisch an, dass Könige zu Hohepriestern berufen werden, was sich natürlich auf die Hasmonäer bezieht.85 Diese Ämterkumulation qualifiziert der Verfasser mit den Worten: „Gottlosigkeit werden sie verüben vom Allerheiligsten aus.“86 In AssMos 5,3f. wird dann die Priesterschaft der hasmonäischen Zeit im Ganzen angegriffen, weil sie „das Haus ihres Dienstes mit Befleckung schänden“ und „fremden Göttern nachhuren“ werden und „einige werden den Altar mit … Gaben beflecken, die sie dem Herrn darbringen, sie, die keine Priester sind, sondern Sklaven von Sklaven geboren.“87 Die befleckende Wirkung der Gaben bezieht sich hier wahrscheinlich weniger auf deren Minderwertigkeit, sondern auf ihre Opferung durch moralisch unreine Priester, wodurch die Gaben selbst un-

82

TROMP, Assumption, 185f. mit Bezug auf LAPERROUSAZ, Testament de Moïse, 119. Das „Testament“ bzw. die „Himmelfahrt Moses“ lässt sich nicht eindeutig datieren, da es kaum greifbare Anhaltspunkte für eine Datierung gibt. Die Tempelzerstörung wird jedoch nirgendwo angedeutet, was eine Spätdatierung, wie sie HAACKER, Assumptio Mosis, 404f., vertrat, unwahrscheinlich macht. In c. 6 wird der Tod Herodes des Großen (vgl. 6,6: 34 Jahre Regentschaft) vorausgesetzt (beides 4 v.Chr.). Ob auch der VarusKrieg (6 v.Chr.) in 6,8f. vorausgesetzt wird, ist nach wie vor umstritten, vgl. TROMP, Assumption, 117. Ferner wird die Regentschaft der Herodessöhne als kürzer angekündigt, was sich so nicht erfüllt hat, denn Antipas regierte 43 Jahre und Philippus 37 Jahre. Lediglich Archelaus wurde bereits im Jahr 6 n.Chr. verbannt. Möglicherweise ist damit der Abfassungszeitpunkt in den Jahren 4 v.Chr bis etwa 30 n.Chr. zu bestimmen, weil nachher eine solche Prophezeiung nicht mehr sinnvoll gewesen wäre. BRANDENBURGER, Himmelfahrt Moses, 59f., will das Werk unmittelbar nach 6 n.Chr. datieren. Auch TROMP, Assumption, 116f., denkt an das erste Viertel des 1. Jh. n.Chr. RHOADS, Assumption, 58, hält sogar die erste Hälfte des 1. Jh. für möglich. Zu den Einleitungsfragen vgl. auch P RIEST, Testament of Moses (OTP I), 919–926, und COLLINS, Art. Testament of Moses (CRINT II/2), 344–349. 84 TROMP, Assumtion, 187. 85 BRANDENBURGER, Himmelfahrt Moses, 73; TROMP, Assumption, 198f. 86 Übersetzung nach B RANDENBURGER, Himmelfahrt Moses, 73. Eine Diskussion, ob diese Verse atl. Zitate enthalten und, wenn ja, welche, findet sich bei TROMP, Assumption, 190f. 87 Übersetzung nach BRANDENBURGER, Himmelfahrt Moses, 72f. 83

1 Geschichte und Kritik in der Epoche des zweiten Tempels

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rein wurden und damit auch den Altar verunreinigten.88 Die scharfe Disqualifikation der Priester als Sklaven ist merkwürdig, weil es selbst in den Wirren der Hasmonäerzeit unmöglich war, dass Sklaven in ein Priesteramt kamen. Wahrscheinlich ist die Bezeichnung von Priestern als Sklaven schlicht auf deren Amtsmissbrauch zurückzuführen.89 Neben der hasmonäischen Ämterkumulation waren es somit v.a. die ethischen Defizite, die zur Kritik Anlass gaben, weil sie kultische Folgen hatten, indem sie die Wirkung der Opfer tangierten. 1.2.5 Ergebnis Im Rückblick fällt auf, dass es in den behandelten Schriften in der Regel dieselben Vorwürfe und Anklagen sind, die sich durch die gesamte Epoche des Frühjudentums ziehen. Häufig wird die Anklage illegitimer Ehe- und Sexualbeziehungen laut, die oft mit dem Stichwort „Unreinheit“ bezeichnet wurden. Diese Anklagen basieren auf im Vergleich mit der Tora wesentlich strengeren Reinheits- und Heiligkeitshalachot und dem sich aus diesen ergebenden Ehereglement für Priester. Diese durften demnach nur Ehepartner heiraten, die auf demselben Heiligkeitsniveau standen wie sie selbst.90 Andere Dauerkonflikte betrafen die Frage nach der korrekten Abstammung, v.a. was die zadokidische Abkunft des jeweiligen Hohepriesters anging, und halachische Kalenderfragen bezüglich der Anwendung des Mond- und/oder Sonnenkalenders.91 Die Bedeutung priesterlicher Reinheit, Heiligkeit und Integrität für die Reinheit des Tempels und in der Folge für die Gegenwart Gottes und die Wirksamkeit der Opfer wird in allen Belegen deutlich. Weiter fällt auf, dass die Polemik stetig zunimmt. Dominiert in frühnachexilischer Zeit noch die verhältnismäßig moderate Kritik an priesterlichen Mischehen, so werden die Vorwürfe in den folgenden Jahrhunderten vielfältiger und schärfer, v.a. was sexualethisches Fehlverhalten mit kultischen Folgewirkungen betrifft. Eine Schlüsselepoche ist die Mitte des 88 TROMP, Assumption, 193: „The priesthood is rejected because of its members’ moral misconduct, which renders their cultic actions impure, defiling the Lord’s sanctuary.“ 89 So TROMP, Assumption, 193, der an Thr 5,8 und Sib 3,383; 5,7; 11,197f. erinnert, wo der Sklaven-Titel ebenfalls zur Kritik an einer illegitimen Amtsführung verwendet wird. Eine Anspielung auf den pharisäischen Verdacht, dass die Mutter von Johannes Hyrkan (134–104 v.Chr.) eine Kriegsgefangene war und damit vom Status her eine Sklavin, Jos Ant 13,291–292, ist dagegen unwahrscheinlich. 90 In 4QMMT B 80–82 wird vorausgesetzt, dass Priester sich nicht mit Töchtern aus nicht-priesterlichen Geschlechtern verheiraten dürfen; vgl. dagegen Lev 21. 91 Zur Literatur zur Kalenderproblematik vgl. W ARDLE, Jerusalem Temple, 79, Anm. 106; VANDERKAM, Origin; DERS., Calendars.

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

2. Jahrhunderts. Die Vorgänge im Zusammenhang und Nachgang der antiochenischen Kultreform, die Machtergreifung der Hasmonäer und deren Ämterkumulation beginnend mit Jonathan führten zu einem tiefen inneren Zerwürfnis der jüdischen Gesellschaft und ihrer Fraktionierung in unterschiedliche Religionsparteien, die wiederum aus unterschiedlichen theologischen Perspektiven das etablierte Priestertum kritisierten. Nun tauchen auch die Anklagen der Habgier, des Diebstahls, des Hochmuts und der Arroganz in der Liste priesterlicher Vergehen auf und die Kritik weitet sich in den Qumranschriften, dem Testament Levis und den Psalmen Salomos zu einer Fundamentalkritik am Priestertum als solchem aus. Eine offene Frage ist nach wie vor, wie gerechtfertigt diese massive Kritik am Priestertum war, v.a. was die stereotypen Vorwürfe sexueller Verfehlungen und illegitimer Ehen angeht. Wardle dürfte mit seiner Vermutung Recht haben, dass sich viele Klagen letztlich auf eine bestimmte singuläre Situation bzw. auf das Fehlverhalten eines Hohepriesters beziehen und dann pauschal dem gesamten Priestertum als solchem angelastet wurden.92 Während bis auf die Qumranschriften die übrigen drei hier erwähnten Schriften den Tempel nicht als defizitär ansehen, geschweige denn ihn grundsätzlich in Frage stellen, gibt es aber auch zahlreiche Stimmen, die durch das missbräuchliche und defizitäre Handeln und Sein der Priesterschaft den Tempel ebenfalls in seinem Wesen tangiert und als irreversibel verunreinigt betrachten und eine Perspektive nur in der eschatologischen Hoffnung auf ein neues Heiligtum (und ein neues Jerusalem) sahen. Ihnen gilt die Aufmerksamkeit im nächsten Abschnitt.

2 Tempeltheologien und Tempelkritik in der Epoche des zweiten Tempels 2 Tempeltheologien und Tempelkritik

Unlösbar verbunden mit dem Handeln der Jerusalemer Priester war der Tempel. Er war der Ort, an und in dem der priesterliche Dienst geschah, ja – pointiert ausgedrückt – dem dieser Dienst geschah, denn als das „Haus Jahwes“ galt er schlicht als sichtbarer Inbegriff seiner Präsenz. Um die Diskussionen und Klagen verstehen zu können, die sich in nachexilischer Zeit um diesen Tempel erhoben, sollen zunächst die wichtigsten tempeltheologischen Perspektiven aus atl. und frühjüdischer Zeit skizziert werden. Anschließend werden die zahlreichen Stimmen zur Insuffizienz und eschatologischen Erneuerungsbedürftigkeit des Tempels behandelt. 92 W ARDLE, Jerusalem Temple, 96: „… it is possible that these charges functioned more as a slogan than as reflections of reality and were hurled against the priests with little knowledge of their originis or truthfulness.“

2 Tempeltheologien und Tempelkritik

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2.1 Der Tempel in der Vielfalt frühjüdischer Perspektiven 2.1.1 Aspekte alttestamentlicher Tempeltheologie Der Jerusalemer Tempel war schon in vorexilischer Zeit Gegenstand intensiver kontrovers-theologischer Diskussionen.93 Divergierende Überlegungen werden bereits im Tempelweihgebet Salomos (1Kön 8,12–61) hörbar, in dem die Frage aufgeworfen wird, inwiefern ein von Menschen erbauter Tempel als Wohnraum für den Gott dienen kann, den selbst Himmel und Erde nicht fassen (1Kön 8,27/2Chr 6,18; vgl. Jes 66,1; Act 7,48f.). Damit sind die wesentlichen Pole umrissen, zwischen denen sich die atl. Tempeltheologie bewegt. In vorexilischer Zeit war Shekhina-Theologie im Wesentlichen Tempeltheologie. Im Tempel auf dem Zionsberg wurde die Wohnung Gottes verortet.94 Hier war der Ort, an dem Himmel und Erde sich berührten und in der komplexen Symbolik der Kultordnung das Weltganze abgebildet wurde.95 In der dtr. Theologie ist vom Wohnen des göttlichen Namens im Tempel die Rede,96 womit einerseits die Vorstellung einer zu engen Bindung Jahwes an das Heiligtum vermieden, andererseits aber dennoch die Gegenwart Gottes „vollmächtig proklamiert“ wird.97 Diese „Zionstheologie“ von der „Einwohnung Gottes“ auf dem Zion entfaltete in vorexilischer Zeit eine solche Anziehungskraft, dass die Propheten sich immer wieder gerufen wussten, gegen eine falsche Heilssicherheit zu polemisieren, die aus dieser Zionstradition die irrige Vorstellung einer Art „Unverwundbarkeit“ für Jerusalem und Juda ableitete (vgl. Jer 7,4ff.). Die schon im Tempelweihgebet Salomos virulente Frage nach dem Verhältnis des göttlichen Wohnens im irdischen Tempel zu seinem Wohnen im Himmel, wurde Israel durch die Katastrophe der Tempelzerstörung und des Exils neu gestellt. Das traumatische Ende des Salomonischen Tempels machte es unmöglich, diese auf den Zion fokussierte Shekhina-Theologie ungebrochen weiterzutradieren. Der Tempel hatte das Volk offensichtlich nicht vor dem Gericht bewahren können und mit dem zerstörten Tempel stand nun die Existenz und Wirksamkeit Jahwes selbst auf dem Spiel. 93

Ein gewisser Konsens über alle Traditionen hinweg besteht in der Bezeichnung des Tempels als „Haus Gottes“, vgl. Gen 28,17; Ex 23,19; Dtn 23,19; Jos 9,23; Ri 18,31; Jes 2,3; Jer 27,21; Ez 10,19; Dan 1,2; 5,23; Joel 1,9; Ps 84,11[10]; 92,14[13]; 122,1; 1–2Chr passim. 94 2Sam 7,5; 1Kön 8,13.27; Jes 57,15; Jer 7,3.7; vgl. Ez 43,7; 2Makk 14,35, und auch Mt 23,21. Andere Texte sprechen davon, dass Jahwe auf dem Zion wohnt, Ps 132,13f.; Jes 8,18; Joel 4,17.21; vgl. auch Ps 9,12, bzw. über den Cherubim im Tempel thront, Ps 99,1; 2Kön 19,15. Vom Tempel als „Palast Jahwes“ reden 2Kön 18,16; Jer 7,4; Ps 5,8. 95 J ANOWSKI, Mitte, 143. 96 Vgl. z.B. Dtn 12,5; 1Kön 9,3; 2Kön 21,7; Ps 74,7. 97 J ANOWSKI, Mitte, 129.

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

Folglich finden sich nun zahlreiche Texte, die von einem Thronen bzw. Wohnen Jahwes im Himmel sprechen, was eine gewisse Distanz Gottes zu seinem Heiligtum impliziert, jedoch gleichzeitig die Existenz und heilvolle Wirksamkeit Gottes nicht mehr mit seinem Wohnen im (zerstörten) Heiligtum in Verbindung bringt.98 Vor allem in Jes 56–66 wird der universale Horizont sowohl des göttlichen Schaffens, Handelns als auch Wohnens betont. In Jes 66,1f. wird im Zusammenhang mit dem universalen Schöpfungshandeln Gottes die Frage gestellt, in welcher Behausung man diesen Schöpfer des Himmels, der sein Thron ist, und der Erde, die als sein Fußschemel dient, denn unterbringen wolle.99 In Jes 63,15 klagt der Prophet über diese „himmlische Distanz“ und erfleht Gottes Zuwendung aus seinem himmlischen Heiligtum ohne die Shekhina Gottes in seinem irdischen Tempel auch nur zu erwähnen, und in Jes 63,19b-64,2 erbittet er Gottes Herabfahren aus der himmlischen Höhe, was als Bitte einer Neuoffenbarung seiner Gegenwart in Analogie zum Sinaigeschehen zu werten ist. Zu einer neuen Konzeption der Gegenwart Gottes im Tempel kam es dann in der Prophetie des Propheten Ezechiel. Dieser erzählt davon, wie die Herrlichkeit Gottes den Tempel verlässt (Ez 10,18f; 11,22f.; vgl. 1,4– 28), aber auch von der Verheißung, dass Gottes Herrlichkeit zurückkehren wird, Gott sein Heiligtum wieder in die Mitte seines Volkes stellen und unter seinem Volk wohnen wird (Ez 37,26f.).100 In einem gewaltigen und detaillierten Entwurf wird in Ez 40–48 diese neue Tempelvision beschrieben (→II.4.6), in die hinein die Rückkehr Gottes erwartet wird (Ez 43,7– 9). Es handelt sich hierbei um einen eschatologischen Programmentwurf, für den die Trennung von Kult und weltlicher Macht konstitutiv ist. So darf der „Fürst“ den inneren Vorhof nicht betreten (Ez 46,2.8) und die Hauptstadt wird in einiger Distanz zum Tempel gebaut (Ez 48,15–21). Im 98

Vgl. Ps 2,4; 29,10; 33,14; 113,5f.; 123,1; Jes 40,22; 57,15; 63,15; 63,19b-64,2. Zum Himmel als „Palast“ oder Thron Jahwes vgl. Ps 11,4; 103,19. 99 T IEMEYER, Rites, 264–267, wendet gegen diese Deutung ein, dass sie nicht nur mit der zeitgenössischen Wertschätzung des nachexilischen Tempels durch Haggai (2,1–9), sondern auch mit entsprechenden Aussagen in Jes 57,13; 58,13f. und 65,11 in Spannung treten würden. Stattdessen möchte sie in Jes 66,1–2 weniger eine Kritik am Tempel als vielmehr am Tempelpersonal, d.h. den Priestern, herauslesen, wofür es jedoch keinerlei Anhaltspunkte gibt. T IEMEYERS Deutung liegt vielmehr in einer Linie mit ihrer durchgängig sehr spekulativen, priesterkritischen Deutung der Texte in Jes 56–66. Auch ihre Deutung der „Brüder“ auf die Jerusalemer Priester, 267–270, und die Schlussfolgerung, wonach „[t]he author of Isa 66:1–6 clearly envisions the end of the contemporary priests“, bleibt höchst hypothetisch. 100 Vgl. J ANOWSKI, Mitte, 132: „Diese Differenz zwischen der wirksamen Präsenz des Jahwenamens auf Erden/im irdischen Heiligtum und dem Wohnen Gottes im Himmel war ein Ergebnis theologischer Reflexion, die – unter den Existenzbedingungen des Exils – eine angemessene Antwort auf die Frage nach der Unverfügbarkeit und Freiheit Gottes suchte“ (kursiv bei J.).

2 Tempeltheologien und Tempelkritik

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Hintergrund steht eine deutlich stärkere, aus priesterlicher Provenienz stammende Unterscheidung zwischen Profanem und Heiligem (vgl. Ez 44,19; 46,20).101 Bemerkenswert ist ferner, dass die Rückkehr Gottes nicht mehr wie noch in 1Kön 8,12f. als ein Wohnen Gottes im Tempel erwartet wird, sondern als ein Wohnen Jahwes „inmitten der Israeliten“ (Ez 43,7a.9b). „Seit der Exilszeit kommt es somit verstärkt zu einer Übertragung des in vorexilischer Zeit dem Gottesberg Zion und seinem Tempel zugesagten Heils auf das Volk Israel; anders ausgedrückt: Die Schekina-Theologie erhält jetzt eine nationale, auf die Restitution Israels als Gottesvolk bezogene, geradezu ekklesiologische Komponente.“102 „Diese Selbstbindung Jahwes an Israel ist [...] das Novum der exilischen – und z.T. auch nachexilischen – Schekina-Theologie.“103 Der nachexilische Tempelneubau löste dann aber große Ernüchterung unter jenen heimkehrenden Exulanten aus, die noch die Pracht und Größe des salomonischen Tempels in Erinnerung hatten (vgl. Esr 3,12; Hag 2,3). Es sollte sich freilich erst sehr viel später zeigen, dass in dieser Enttäuschung bereits die Wurzel einer Tempelkritik angelegt war, die bis zur Zerstörung des zweiten Tempels nicht mehr abreißen sollte. Dennoch gewann der zweite Tempel in frühjüdischer Zeit trotz seines offensichtlichen Defizits eine dominierende Bedeutung für das jüdische Volk und Nationalbewusstsein. Vor allem durch die umfassenden Neubau- und Restaurationsmaßnahmen unter Herodes dem Großen erfuhr er nochmals einen immensen Aufschwung. Die Pracht dieses Neubaus zog alle Betrachter in ihren Bann und das in Mk 13,1 erwähnte Staunen der Jünger Jesu war eine übliche Reaktion zahlloser Pilger.104 2.1.2 Der Tempel als „universales Bethaus“ In nachexilischer Zeit erwuchs die Frage nach der Rolle dieses nunmehr jüdischen Tempels im Kontext eines mehr und mehr internationalen, ja universalen Horizonts. So reflektiert Jes 56,6–8 den universalen Anspruch, dass der Jerusalemer Tempel das „Bethaus“ für alle Völker werden soll (V. 7). Im Rahmen des Motivs der Völkerwallfahrt zum Zion (vgl. Jes 2,2–5; Mi 4,1–5) soll dieses Haus nun auch den „Söhnen der Fremde“ offenstehen, sofern sie sich Jahwe angeschlossen haben, um ihm zu dienen (V. 6). Hierhin werden sie ihre Gaben bringen und hier soll der erwartete Messias einmal Einzug halten (Hag 2,7; Sach 2,14–17). Konsequenterweise ist dann in Jes 66,18–22 von Boten die Rede, welche die Herrlichkeit Jahwes 101

B USINK, Tempel II, 775. J ANOWSKI, Mitte, 144. 103 J ANOWSKI, Mitte, 127 (kursiv bei J.). 104 Vgl. auch bBB 4a; bTaan 23a. 102

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

unter den Heidenvölkern verkündigen, woraufhin diese nicht nur Weihegeschenke nach Jerusalem bringen, sondern Jahwe will aus ihnen sogar „Priester und Leviten“ nehmen (→II.4.4). 2Chr 3,1 identifiziert den Tempelberg mit dem Berg Morija, wo Abraham seinen Sohn Isaak opfern sollte.105 Damit wird die Erwählung des Tempelbergs bereits in die Väterzeit terminiert.106 In dieser Linie liegt schließlich auch die frühjüdische Charakterisierung Jerusalems als „Nabel der Welt“,107 die sich natürlich am Tempel festmacht.108 Im Grunde hat die gesamte jüdische Literatur von der hellenistischen bis zur römischen Zeit die Tendenz, dem Tempel eine universale Rolle zuzuschreiben.109 Exakt dieser Anspruch provozierte aber in Anbetracht der äußeren Dürftigkeit des zweiten Tempels einen inneren Widerspruch. Die Spannung zwischen einer immer wieder konstatierten Insuffizienz des Tempels als Wohnung Gottes auf der einen und dem Anspruch und der Proklamation seines universalen Heilscharakters auf der anderen Seite konnte nie überwunden werden und blieb prägend für das Judentum in der Zeit des zweiten Tempels. Diese Spannung fand ihren theologischen und sozialen Ausdruck in unterschiedlichen Tempelkonzeptionen, sowie ab dem 2. Jh. v.Chr. in Parteien und Gruppierungen, die über dem Kampf um die Kontrolle des Tempels ihre Identität ganz maßgeblich aus ihren jeweiligen Tempeltheologien gewannen. 2.1.3 Der Tempel als Ausdruck jüdisch-monotheistischer Exklusivität Eine ganz andere Akzentsetzung als in Jes 56,6–8 finden wir in einigen frühjüdischen Texten, welche im Zuge der frühjüdischen Identitätsformation den Tempel gerade nicht als universales Gottes- und Gebetshaus begreifen, sondern ganz im Gegenteil als nationales Symbol eines exklusiven Monotheismus. So lässt sich 1Makk 7,37 begreifen, wo der Tempel als ein „Haus des Gebetes für dein Volk“ (oi=kon proseuch/j kai. deh,sewj tw/| law/| sou) beschrieben wird. Der Hintergrund für diese exklusive Haltung zum Tempel liegt in der Religions- und Kulturkrise unter Antiochus IV. Epiphanes. Der Kultfrevel und die Tempelentweihung durch die hellenisti105

Gen 22; vgl. Jub 18,13; Jos Ant 1,224–226; 7,333; BerR 55,7. Vgl. hierzu auch B EALE, Temple, 93–121, der die These vertritt, dass bereits in den atl. Traditionen der Garten Eden als archetypisches Tempelheiligtum konzipiert wurde, bestimmt zu einer weltweiten Ausdehnung. Diese Konzeption sei über die Altäre, Opferund Kultstätten der Väterzeit, v.a. durch Jakobs Heiligtum in Bethel, weitertradiert worden; vgl. dazu den kurzen Exkurs unter →VIII.5. 107 äthHen 26,1; Jub 8,19; Sib 5,250; Jos Bell 3,52; bSanh 37a; vgl. hierzu auch T ILLY, Jerusalem – Nabel der Welt. 108 Vgl. ALEXANDER, Jerusalem, 104–119. 109 HOGETERP, God’s Temple, 28. 106

2 Tempeltheologien und Tempelkritik

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schen „Söhne der Fremde“ löste einen derart nachhaltigen Schock aus, dass die universalistische Hoffnung aus Jes 56,6–8 von den Makkabäern nicht mehr nachgesprochen werden konnte. In idealisierender Weise greift auch das Jubiläenbuch diese exklusive Linie jüdischer Tempeltheologie auf. In den in Jub 49,16f.19–21; 50,10f. beschriebenen Vorschriften für die Tempelopfer unterstreicht das Jubiläenbuch die Zentralität des Tempels für das jüdische Volk und des Priestertums für die jüdische Identität, und es dürfte kaum ein Zufall sein, dass sich in Jub 33,20 eines der wenigen frühjüdischen Zitate von Ex 19,6 findet, wo das jüdische Volk in seiner Exklusivität aus den andern Völker als „Volk von Priestern“ herausgehoben wird: „Und es gibt keine größere Sünde als die Unzucht, die sie auf der Erde treiben. Denn ein heiliges Volk von Priestern des Königtums [ist es] und des Priestertums ist es. Und ein Besitz ist es. Und das gibt es nicht, daß solche Unreinheit gesehen wird mitten im heiligen Volk.“110

Ein ähnlich idealisierendes, nahezu romantisierendes Bild des Tempels und seines Betriebes findet sich im Aristeasbrief. Dort wird z.B. in starker Übertreibung die ideale Lage auf der Spitze eines hohen Berges gepriesen, auf dem „der Tempel in seiner Pracht“ erbaut wurde (Arist 83f.; vgl. 88f.). Arist 92.95 hebt den vollkommenen Dienst der Priester hervor, der hinsichtlich der Haltung unvergleichlich sei und in solcher Ruhe erfolge, dass der Besucher bei geschlossenen Augen den Eindruck gewinne, der Tempel sei menschenleer. Diese exklusive und idealisierende Linie wurde in den Jahren vor dem Jüdischen Krieg schließlich maßgebend. Wenn Josephus programmatisch formuliert „Ein Tempel eines Gottes! … gemeinsam für alle (ist der Tempel desjenigen Gottes, der allen gemeinsam ist“ (Ap 2,193),111 dann ist der Tempel zwischen dem Makkabäeraufstand und dem Jüdischen Krieg zu einem Instrument jüdischer Identitätssicherung nach innen und zum Inbegriff polemischer Exklusivität nach außen geworden.112 In dieses Bild passt auch die Notiz, dass die Zeloten als die „vierte Philosophie“ des Judentums 110

Übersetzung nach B ERGER, Das Buch der Jubiläen (JSHRZ II/3). Übersetzung nach S IEGERT, Ursprünglichkeit I, 195; vgl. auch Ant 4,200. Josephus scheint eine Existenz des Judentums ohne den Tempel für unmöglich gehalten zu haben. Er beschließt seinen „Bellum“ mit der pessimistischen Sicht, dass das Judentum ohne den Tempel untergehen müsse und deshalb die Rebellen von Massada die letzten Juden auf Erden gewesen seien. Erst in den Antiquitates gelangt er zu einer optimistischeren Sicht für die Zukunft des jüdischen Volkes ohne Tempel. 112 Vgl. hierzu auch Jos Bell 1,229, wo Fremde von Reinigungsritualen während eines jüdischen Festes ausgeschlossen werden; vgl. auch Bell 2,320.409–414; Ant 18,9. Aus dieser Perspektive wird der jüdische Zorn verständlich, den Pompeius provozierte, indem er im Zuge seiner Eroberung Jerusalems den Tempel besuchte und auch das Allerheiligste „besichtigte“, vgl. Jos Bell 1,152; Ant 14,72. 111

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

die Korruption der jüdischen Vätertraditionen vor allem mit der ausländischen Dominanz über das Judentum begründeten (Jos Ant 18,4–10). Denn seit der Eroberung Jerusalems durch Pompeius und erst recht seit dem von Rom geförderten Herodes dem Großen war das hohepriesterliche Amt zu einem Spielball römischer Machtinteressen geworden. 2.1.4 Der Tempel als Abbild des Kosmos Der bereits bei Philo anklingende Gedanke, dass ein Tempel sowohl ein Abbild bzw. eine Replik eines himmlischen Heiligtums darstellt, als auch eine Art Mikrokosmos bzw. eine Abbildung des Kosmos in nuce symbolisiert (vgl. SpecLeg 1,66f.; Mos 2,71–145), ist eine allgemein-antike Vorstellung.113 Ein Tempelbau sollte in einer ungeordnet und chaotisch erscheinenden Welt eine Erinnerung an die kosmische Ordnung darstellen und gleichzeitig ein irdischer Ort der Begegnung mit dem himmlischen Ideal (vgl. Ex 25,40). Die umfassendste Ausgestaltung dieses Themas im frühjüdischen Schrifttum findet sich bei Flavius Josephus, und zwar in beiden seiner großen Werke (Bell 5,184–237; vgl. 4,324, und Ant 3,102–279), die im Horizont der antiken Welt weniger als ein kreativer denn als konservativer Ansatz im Rahmen antiker Tempelperspektiven erscheint.114 Neben einer breiten Schilderung der Tempelstrukturen finden sich eine Reihe kosmischer Deutungen derselben. So wird der Tempel als Ganzes von Josephus als ein Abbild des Universums gedacht (Ant 3,180f.), im Besonderen spiegelt jedoch der Vorhang an den Tempeltüren dieses Universum wider (Bell 5,212f.; →V.3.1), die zwölf Schaubrote auf dem Tisch stellen den himmlischen Tierkreis und die Monate dar, während die Menora für die sieben Planeten steht (Bell 5,217; Ant 3,145f.182).115 Die Dreiteilung des Tempelgebäudes spiegelt nach Josephus die drei Sphären des Kosmos wider (Erde, Wasser und Himmel), wobei der unzugängliche Himmel dem ebenfalls Menschen unzugänglichen Allerheiligsten entspricht (Ant 3,181; vgl. 3,123 und BemR 13,19).116 Josephus deutet sodann Ex 40 als eine göttliche Bestätigung dieses kosmischen Modells, das Gott mit seiner Shekhina gewürdigt habe (Ant 3,202f.). So kann Josephus beide Motive miteinander verbinden: Der Tempel als Modell des Kosmos ist gleichzeitig der irdische Wohnsitz Gottes. 113 LUNDQUIST, Common Temple Ideology; DERS., What is a Temple?; vgl. auch LEVENSON, Creation, 78ff.; DAVIES, Priesthood, 141–144. 114 KLAWANS, Purity, 115; vgl. auch BEALE, Temple, 45–48. 115 Vgl. hierzu auch →IV.7.2.5 zu Philo. 116 Kosmische Deutungen erfahren auch die Wandbehänge, Ant 3,132, die Verzierungen, Ant 3,183, und vor allem die priesterlichen Gewänder, Ant 3,183–187; vgl. hierzu auch Sir 45,8; 50,6f.; Arist 99; SapSal 18,24.

2 Tempeltheologien und Tempelkritik

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2.1.5 Der Tempel als Abbild des Gartens Eden In einer noch weitergehenden Interpretation wird der Tempel als Abbild der Schöpfung bzw. des Garten Eden verstanden. Die frühesten Belege für diese Deutung sind Ez 28,13–18 und 47,1–12. Im letzten Beleg wird der Fluss aus dem eschatologischen Tempel beschrieben, der an den in Gen 2,10 erwähnten Paradiesfluss erinnert und eine eschatologische und tempeltheologische Entfaltung des Motivs darstellt. Dagegen wird in Ez 28,14.16 im Rahmen des Leichenklageliedes über den König von Tyrus der Garten Eden mit dem „heiligen Berg“ und in V. 18 mit einem „Heiligtum“ (vd'q.mi) identifiziert: „Du warst ein mit ausgebreiteten Flügeln schimmernder Cherub, und ich hatte dich dazu gemacht; du warst auf Gottes heiligem Berg; mitten unter feurigen Steinen gingst du einher. Vollkommen warst du in deinen Wegen von dem Tag an, als du geschaffen wurdest, bis sich Unrecht an dir fand. […] Und ich verstieß dich vom Berg Gottes und trieb dich ins Verderben, du schimmernder Cherub, aus der Mitte der feurigen Steine.“117

In der LXX-Version wird zudem deutlich auf Adam angespielt. Ez 28,13– 18 muss damit als Ausgangspunkt einer archetypischen Deutung des Gartens Eden als Tempel gelten, die sich in verschiedenen frühjüdischen Schriften widerspiegelt. So wird in Jub 8,19 wird der Garten Eden als das Allerheiligste bezeichnet und der Zionsberg als Nabel der Welt bestimmt.118 Der Zion und der Tempel werden damit in paradiesisches Licht getaucht. In ähnlicher Weise wird der Tempel in AssMos 1,17f. als der Ort genannt, den Gott „von Anfang der Schöpfung der Welt [dazu] geschaffen hat“.119 Auch im Midrasch Tadshe (1000–1200 n.Chr.) wird die Korrespondenz zwischen Schöpfung und Tempel explizit herausgestellt wird: „Die Stiftshütte wurde gemacht in Entsprechung zur Schöpfung der Welt“ und „das Allerheiligste wurde gemacht in Entsprechung zu den höchsten Himmeln.“120 Eine in der Forschung intensiv diskutierte Frage ist nun, ob sich die Identifikation des Gartens Eden als eines archetypischen Tempels, auf den sich alle späteren israelitischen und jüdischen Tempel beziehen, bereits in den atl. Ursprungstexten nachweisen lässt.

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Revidierte Elberfelder Übersetzung. Vgl. die Belege in →Anm. 122. 119 Vgl. auch Jub 4,25f.; TestLev 18,6–10; äthHen 24–27; 4Q174,3,6 und Midr Rabba Gen 2,8. 120 Midrash Tadshe, in: Bet ha-Midrasch, ed. Jellinek, 2,164–167; vgl. auch BemR 12,13, wo die Rabbinen eine direkte Analogie zwischen der Sieben-Tage-Schöpfung und dem Heiligtum ziehen, und PesR 6,6 wo die Vollendung des Tempels als die Vollendung der Schöpfung verstanden wird. Gott habe am Abend des sechsten Schöpfungstages noch nicht „alle Werke“ vollbracht, sondern habe seine Schöpfung unterbrochen und sie erst durch Salomos Tempelbau vollendet. 118

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

Eine Vielzahl von Forschern121 vermutet, dass dieses Theologumenon bereits im Alten Testament und hier v.a. in den Texten zu Schöpfung und Stiftshütte angelegt, wenn auch nicht breiter ausgeführt ist.122 Sie sehen eine Homologie und Korrespondenz von Stiftshütte und Schöpfung in Ex 39–40 angelegt, das zahlreiche Bezüge zu Gen 1,1–2,3 zeige, angefangen von der Errichtung des Zeltheiligtums am Neujahrstag (Ex 40,17: 1. Nisan), über die Parallele, dass der ~yhiOla/ x:Wr, der nach Gen 1,2 über den Wassern schwebte, auch den Bezalel, den Baumeisters des Zeltheiligtums, erfüllte (Ex 31,3; 35,31; vgl. auch bBer 55a), bis hin zu sprachlichen Parallelen zwischen Gen 1,31/2,3//Ex 39,43; Gen 2,1//Ex 39,32; Gen 2,2//Ex 40,33b; Gen 2,3//Ex 40,9–11. Das Heiligtum sei aufgrund dieser Korrespondenzen eine geordnete und Gott gehorsame Miniaturwelt bzw. ein Mikrokosmos, und umgekehrt sei die Schöpfung ein Makrotempel, „that is, a place in which the reign of God is visible and unchallenged, and his holiness is palpable, unthreatened, and pervasive“123. Demnach soll bereits im salomonischen Tempel eine dreiteilige Komposition den gesamten Kosmos symbolisieren: Die Tempelvorhöfe repräsentieren dabei die von Menschen bewohnte Welt, der Tempel selbst symbolisiert den sichtbaren Himmel mit seinen Lichtquellen und das Allerheiligste die unsichtbare Welt Gottes und seines himmlischen Hofstaats.124 Diese Tempelkosmologie soll sich auch bereits in der atl. – und nicht erst frühjüdischen – Konzeption der hohepriesterlichen Gewänder niederge121 LEVENSON, Creation, 78–99; DERS., Sinai and Zion, 142–145; BEALE, Temple, 25.29–50.60–80; DAVIES, Priesthood, 141–149; vgl. auch P ATAI, Man and Temple; CROSS, Tabernacle; ALBRIGHT, Archaeology, 147–155; W IDENGREN, Myths; CHILDS, Myth and Reality; C LEMENTS, God and Temple, 64–68; C LIFFORD, Tent of El; DERS., Cosmic Mountain; F ISHBANE, Text and Texture, 12f.; KLINE, Images, 35–42; WENHAM, Sanctuary Symbolism, 19–25; B ARKER, Older Testament, 25; DERS., Gate of Heaven, 57– 103; WEIMAR, Sinai und Schöpfung; KLINE, Kingdom Prologue, 31f.54–56; P ARRY, Garden of Eden. 122 So erscheinen der Garten Eden und das Allerheiligste des Tempels als die beiden Orte von Gottes unmittelbarer Gegenwart. Die Ähnlichkeit zwischen dem Baum des Lebens und der baumähnlichen Menora werden hervorgehoben und auf die botanische Bildgebung des Tempels in 1Kön 6,18.29.31; 7,20.22 verwiesen; vgl. auch die Vergleiche des Tempels mit einem Garten in Ps 52,10; 92,13–15; Thr 2,6; Jes 60,13.21. Die These, dass bereits der Autor von Gen 2,15 Adam als Priester beschrieben habe, BEALE, a.a.O., 68, beruht auf einer kultischen Deutung der Wendung Hr'm.v'l.W Hd'b.['l. im Sinne von „kultisch dienen“ bzw. „[das Heiligtum] bewachen“, vgl. auch BEALE, a.a.O., 70: „Thus, the implication may be that God places Adam into a royal temple to begin to reign as his priestly vice-regent.“ Diese Deutung findet sich in verschiedenen rabbinischen Schriften, vgl. TNeof und TPsJ zu Gen 2,15, vgl. auch 2,7; BerR 16,5 bleibt aber für Gen 2,15 hypothetisch. 123 LEVENSON, Creation, 86. 124 BEALE, Temple, 32f.48f. Diese These ist eine wesentliche Grundlage für seine Vermutung, dass die Offenbarung des neuen Himmels und der neuen Erde, die B EALE völlig mit dem neuen Jerusalem identifiziert, in Apk 21f. letztlich auf der Konzeption des Kosmos als universalem Tempel beruht, in dem Gottes Präsenz allgegenwärtig ist, vgl. Apk 21,3f., sowie B EALE, ebd., 23–27.59f. B EALE, ebd., 32–36, vgl. auch DAVIES, Priesthood, 147f., bemüht sich seine These mit Bezug auf 1Kön 6,23–28; 7,23–26; 8,11– 13, vgl. 2Chr 5,13b-6,2; Ez 43,14–17 und zahlreiche weitere Belege zu begründen, was ihm jedoch nicht überzeugend gelingt und ebenso wie LEVENSONS Rekonstruktion einen stark spekulativen Charakter trägt.

2 Tempeltheologien und Tempelkritik

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schlagen haben.125 Weitere Belege für die These einer kosmogonischen bzw. mikrokosmischen Konzeption des Tempels bzw. einer Tempelkonzeption der Welt sehen Levenson und Beale auch in Ps 78,69; Jes 6,3; 65,17f.; 66,1f. und Ps 134,1–3. 126Allerdings müssen beide zugeben, dass ihre „admittedly few explicit biblical passages“ mit einer „inevitable uncertainty in individual instances“ behaftet sind und „not necessarily be equally persuasive“, plädieren aber aufgrund des „cumulative weight“ für die Tragfähigkeit ihrer These.127 Insgesamt bleibt die Korrespondenz zwischen Schöpfung bzw. Welt auf der einen und der Stiftshütte bzw. dem Tempel auf der anderen Seite in der atl. Literatur zu vage und hypothetisch, als dass daraus weitreichende Schlüsse gezogen werden könnten.

Während die Identifikation des Gartens Eden als des archetypischen Tempels bzw. des Tempels als Abbild des Gartens Eden abgesehen von Ez 28,14.16 in den atl. Texte unscharf und hypothetisch bleibt, ist die dahingehende Interpretation der atl. Texte im Frühjudentum eindeutig nachweisbar. Das bedeutet aber, dass die in den atl. Texten allenfalls implizite Identifikation des Priesters mit dem paradiesischen Menschen im Frühjudentum eine logische Konsequenz der Identifikation von Tempel und Garten Eden ist. Somit wird in dieser Tempelkonzeption der Priester zum idealen Menschen am idealen Ort und zu einem Abbild des adamitischen, vollkommenen Menschen, der während seines zeitlich befristeten Dienstes das Volk im Zustand der ursprünglichen Integrität vor Gott abbildet und repräsentiert. 2.1.6 Bedeutung und Bedrohung des Tempels vor 70 n.Chr. Der Jerusalemer Tempel war nicht zuletzt durch die immense Erweiterung, die er durch die Tempelbaumaßnamen Herodes des Großen erfuhr, zum

125

BEALE, Temple, 39–48. Eine weitere Parallelität zwischen Schöpfung und Heiligtum sehen LEVENSON, Temple, 288, und BEALE, Temple, 60–63, in der „Ruhe“ Gottes am Ende des Schöpfungswerkes und im Allerheiligsten des Tempels, vgl. Ps 132,7f.13f.; 1Chr 28,2; Jes 66,1; 2Chr 6,41; Jdt 9,8, und in der Entsprechung zum Sabbat, vgl. B EALE, Temple, 31f. 42f.49f., und LEVENSON, Sinai, 144f. Was der siebte Tag für die Vollendung der Schöpfung in Gen 1–2 in zeitlicher Hinsicht bedeutete, stellt der Tempel in räumlicher Hinsicht dar: Ist der Sabbat die Ruhezeit Jahwes, so ist der Tempel der Ruheort, vgl. Ps 132,13f.; Jes 66,1; vgl. LEVENSON, a.a.O., 145: „The Sabbatical experience and the Temple experience are one. The first represents sanctity in time, the second, sanctity in space, and yet they are somehow the same. The Sabbath is to time and to work of creation, what the Temple is to space and to the painful history of Israel which its completion brings to an end, as God has at last given Solomon ‘rest from all his enemies round about’ (1Chr 22,9).“ 127 LEVENSON, Creation, 95; B EALE, Temple, 45.49. 126

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

unangefochtenen Mittelpunkt und Integrationssymbol des Judentums geworden.128 Einen beredten Eindruck von der Schönheit des restaurierten und beträchtlich erweiterten Tempels geben die euphorischen Zeugnisse der Zeitgenossen. So schwärmt Josephus von der Königshalle, „dass sich keinen Begriff von ihrer Schönheit machen konnte, der sie nicht gesehen, und dass jeder, der sie sah, in staunendes Entzücken geriet“ (Ant 15,416). Ganz ähnlich beschreibt auch Philo das Jerusalemer Heiligtum als den „berühmtesten und bedeutendsten Tempel, … der nach allen Seiten sonnengleich leuchtet und die Blicke von Ost und West auf sich zieht“ (LegGai 191). Und selbst der Traktat Sukka aus dem babylonischen Talmud behauptet im wehmütigen Rückblick: „Wer nicht das Heiligtum in seiner Bauausführung gesehen hat, der hat niemals einen Prachtbau gesehen“ (bSuk 51b).

Auch für das Diasporajudentum129 war der Tempel Kult- und Sühneort, Gebetsstätte, Wallfahrtsziel, Nationalbank130, sowie Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum131 in einem. Dies kommt gerade auch im lukanischen Geschichtswerk historisch zutreffend zum Ausdruck (→Exkurs 3). Hier erscheint der Tempel als der Versammlungsort des jüdischen Volkes schlechthin: Hier trifft sich das am-ha-arez aus dem galiläischen Hinterland (vgl. Lk 2,41) mit Jerusalemern (vgl. Lk 2,25.37; Act 3,1f.; 21,27ff.), hier treffen die Jünger Jesu (Lk 24,53) auf Pilger aus der gesamten Diaspora (Act 2,5). „Der Tempel wird so zum Kristallisationspunkt des jüdischen Lebens.“132 Seine Unterhaltung wurde durch die sog. Halbschekel- bzw. Didrachmensteuer sichergestellt, 133 eine Kopfsteuer, die von allen Juden im Alter zwischen 20 und 50 auch in der Diaspora jährlich entrichtet werden musste und von den Pilgern mit nach Jerusalem gebracht wurde.134 Hinzu kamen die agrarischen und tierischen Erstlingsgaben, sowie Gelübdegaben und freiwillige Schenkungen. Schätzungen beziffern die 128

Vgl. auch SANDERS, Judaism, 47–145; HERR, Jerusalem; POORTHUIS/S AFRAI, Centrality of Jerusalem; SKARSAUNE, Shadow, 87–132; LEVINE, Jerusalem; HJELM, Jerusalem’s Rise; sowie W ARDLE, Jerusalem Temple, 13–30. GANSER-KERPERIN, Zeugnis, 333f., spricht von einem „‘Gravitationszentrum‘ jüdischer Identität, insofern eine beständige Spannung zwischen dem Tempel als Ideal theologischer Reflexion und dem konkreten Vollzug des kultischen Tuns am Tempel in Jerusalem bestand. Nähe und Entfernung zum realen Tempel und seinem Kult unterschieden neben anderen Faktoren die verschiedenen Gruppierungen der jüdischen Gesellschaft voneinander.“ 129 Vgl. z.B. Phil LegGai 212. 130 Vgl. Mt 27,6; Jos Ant 15,408; 20,220; sowie SCHÜRER/VERMES, History II, 279– 281; MAIER/SCHREINER, Literatur, 373; B USINK, Tempel, Bd. 2, 1097; P AESLER, Tempelwort, 140f.; W ARDLE, Jerusalem Temple, 26; KLAWANS, Purity, 104f. 131 Vgl. hierzu v.a. JEREMIAS, Jerusalem, 31–33.63–66.84–89. 132 GANSER-KERPERIN, Zeugnis, 94. 133 Vgl. Ex 30,11–16; Neh 10,33f.; Jos Bell 7,218; Mt 17,24; Bill. 1,760–770. 134 Phil LegGai 156.315; SpecLeg 1,76–78; Jos Ant 14,110–112.185–267; 16,163; 18,311–313; Bell 5,187; 6,335; Cic Flacc 28.66–89; Tac Hist 5,5.

2 Tempeltheologien und Tempelkritik

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hier erbrachten Leistungen auf ein Drittel des Volkseinkommens.135 Zu den drei großen Pilgerfesten (vgl. Ex 23,17; 34,23; Dtn 16,16) strömten in herodianischer Zeit regelmäßig bis zu 200.000 Pilger nach Jerusalem und machten die Stadt und den Tempel damit zu einem der meistbesuchten Orte der antiken Welt.136 Die identitätsstiftende Bedeutung dieser Pilgerfeste zum Tempel ist kaum zu überschätzen.137 Trotz der zahlreichen devianten Strömungen blieb der Tempel der integrative Mittelpunkt der frühjüdischen Gesellschaft um die Zeitenwende.138 Nur auf dem Hintergrund dieser überragenden Bedeutung ist auch der breite Strom teilweise beißender Kritik am Tempel und dem in diesem amtierenden Priestertum zu verstehen. Denn der Eifer, mit dem sich die unterschiedlichsten Gruppen bis hin zu den Zeloten in den Jahrzehnten vor dem Jüdischen Krieg auf den Tempel fokussierten, ist immer ein Ausdruck höchster Wertschätzung und gleichzeitig tiefster Sorge. In diesen Kreisen nahm man Anstoß an den zahllosen „Befleckungen“, die dem Jerusalemer Heiligtum in frühjüdischer und insbesondere in römischer Zeit widerfahren waren.139 135

MAIER/SCHREINER, Literatur, 375. Vgl. Philo SpecLeg 1,69; Act 2,5–12; Jos Bell 2,280; 6,423–427; Ant 17,26; tPes 4,15; bMeg 26a; Abot R. Nat. B 55., sowie S AFRAI, Wallfahrt, 44–93; DERS., Pilgrimage; GOODMAN, Pilgrimage Economy. Über die Pilgerzahlen gibt es sehr unterschiedliche Angaben. Während Josephus von 2,7 Mio., Bell 6,423–427 bzw. sogar 3 Mio., Bell 2,280, spricht und tPes 4,15 die phantastische Zahl von 12 Mio. nennt, dürften die Schätzungen von LEVINE, Art. Temple, Jerusalem, 1290 (125.000 bis 200.000) realistischer sein. Offensichtlich wuchs die Zahl der Pilger in hasmonäischer Zeit stark an. Ab der herodianischen Zeit kommt es dann zu Massenpilgerfesten, bedingt einerseits durch den prächtigen Neubau, mehr und mehr aber auch durch die nationalistischen Strömungen im Land. Diese immense Zahl von internationalen Pilgern markierte einen signifikanten Unterschied zu den griechischen und römischen Tempelheiligtümern, bei denen Pilgerfahrten eher eine regionale Angelegenheit waren, vgl. GOODMAN, Pilgrimage, 70f. 137 Vgl. B AUCKHAM, Parting of the Ways, 139: „What they concretely and emotively shared was not simply what different forms of Judaism had in common, but what gave them their own ethno-religious identity as Jews.“ 138 W ARDLE, Jerusalem Temple, 20: „As the dwelling place of the God of Israel, location of the sacrificial system, and destination of Jews worldwide, the temple in Jerusalem was the cornerstone of Jewish religious experience“; vgl. auch SÖDING, Tempelaktion, 37f.; MAIER/SCHREINER, Literatur, 389. 139 Zu diesen „Befleckungen“ gehörte in den Jahrzehnten vor dem Jüdischen Krieg u.a., dass am Tempeltor der römische Reichsadler angebracht wurde, Jos Bell 1,650, und Pilatus die römischen Feldzeichen nach Jerusalem, Bell 2,169–174, und möglicherweise sogar bis in den Tempelvorhof brachte. Auch die von den Römern besetzte Burg Antonia war in unmittelbarer Nachbarschaft des Tempels eine Quelle kultischer Unreinheit. Schließlich war das seit den Tagen Herodes des Großen mehr oder weniger käufliche Hohepriestertum mit seinem als Feudalherren auftretenden Priesteradel ein permanenter Anstoß für den jüdischen Zelotismus. Da der das Hohepriestertum stützende Sadduzäismus sich nicht an die mündliche Tora hielt, waren ständige Diskussionen und Auseinan136

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

Die Kritik dieser Gruppen brachte sehr unterschiedliche Ausdrucksformen hervor, von denen nicht alle eine literarische Form hatten. Insbesondere die jüdischen Alternativtempel waren steingewordene Dokumente zeitgenössischer Kritik am Jerusalemer Heiligtum und dem dort amtierenden Personal. 2.2 Die jüdischen Alternativtempel zum zweiten Tempel Während der Existenz des zweiten Tempels ist die Errichtung von mindestens drei anderen jüdischen Tempeln belegt, die zum Teil über Jahrhunderte hinweg parallel zum Jerusalemer Tempel existierten.140 Zu Beginn des 5. Jh. v.Chr. bauten jüdische Söldner im oberägyptischen Elephantine einen jüdischen Diaspora-Tempel, über den wir leider nur spärliche Informationen besitzen. Wohl irgendwann im 5. oder 4. Jh. entstand dann ein samaritanischer Tempel auf dem Garizim, der erst 128 v.Chr. durch Johannes Hyrkan zerstört wurde. Auch dieser Tempel hatte einen eindeutig israelitischen bzw. jüdischen Charakter. Schließlich ist noch der im unterägyptischen Leontopolis errichtete Tempel zu nennen, der in der Mitte des 2. Jh. v.Chr. von Mitgliedern bzw. Anhängern der hohepriesterlichen Familie unter der Führung von Onias IV. dort errichtet und erst 73 n.Chr. durch Kaiser Vespasian zerstört wurde. Die Motivation zur Errichtung dieser Tempel war jedoch – sofern sich diese überhaupt historisch erhellen lässt – sehr unterschiedlich.141 Der Tempel in Elephantine war offensichtlich nicht als Konkurrenzheiligtum intendiert, sondern vielmehr Ausdruck der Loyalität zum Jerusalemer Heiligtum. Die Söldner hatten wohl lediglich das Bedürfnis, auch in der Ferne nicht auf den Tempelbesuch verzichten zu müssen und errichteten deshalb in höchst frommer Absicht diese „Tempelkopie“. Das Interessante dabei ist, dass dieser Gedanke eines „Tempelablegers“ in der ägyptischen Diaspora wachsen konnte, während die ungleich größere jüdische Diaspora in Babylonien nicht auf diesen Gedanken kam bzw. diesen von vornherein verwarf. Wesentlich brisanter waren die beiden anderen jüdischen Tempelbauten, die deshalb an dieser Stelle ausführlicher gewürdigt werden sollen.

dersetzungen vorprogrammiert; vgl. u.a. bPes 57a, sowie den Exkurs bei Bill. 4/2, 347– 349. 140 Vgl. hierzu FREY, Rival Temple, 171. 141 Vgl. FREY, Rival Temple, 196.

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2.2.1 Der samaritanische Tempel auf dem Garizim Die Hintergründe für die Errichtung des Heiligtums auf dem Garizim waren bisher nur schwer greifbar.142 In einer neueren Studie, die sich maßgeblich auf die Ausgrabungen auf dem Garizim und die daraus resultierenden Arbeiten von Y. Magen beruft, kommt T. Wardle jedoch zum Ergebnis, dass der samaritanische Tempel auf dem Garizim nicht wie bisher angenommen am Ende des 4. Jh. v.Chr. im Zusammenhang mit dem Aufmarsch Alexanders des Großen in Israel errichtet wurde, sondern bereits ein Jahrhundert früher, in der Zeit Nehemias.143 Ausschlaggebend für diese Datierung sind Zweifel an der Darstellung der Zusammenhänge bei Josephus in Ant 11,302–347.144 Dieser datiert den Bau des Tempels auf dem Garizim in die Regentschaft Darius III. (338–331 v.Chr.). Damals soll ein gewisser Manasseh, Bruder des Jerusalemer Hohepriesters Jaddua, eine Tochter des samaritanischen Gouverneurs Sanballat geheiratet haben, worauf er von den Jerusalemer Autoritäten vor die Wahl zwischen sofortiger Scheidung von seiner nicht-jüdischen Frau oder dem Verlust seiner hohepriesterlichen Ämter und Privilegien gestellt wurde (11,308). Daraufhin habe ihm Sanballat seinerseits die hohepriesterliche Würde in einem noch zu bauenden Heiligtum auf dem Garizim versprochen (11,310), Manasseh habe dieses Angebot angenommen und darüberhinaus noch zahlreiche andere Priester und Leviten, die ebenfalls mit samaritanischen Frauen verheiratet waren, mitgebracht. In diesem Moment trat Alexander der Große auf den Plan, und während die Juden sich mit Darius III. verbündet hatten, bot sich Sanballat Alexander als Partner an und überzeugte ihn davon, dass ein Tempel auf dem Garizim zu einer Spaltung und Schwächung des jüdischen Volkes beitragen würde (11,321–323). Alexander willigte ein, Sanballat baute den Tempel und Manasseh wurde Hohepriester. Der Bericht des Josephus wurde immer wieder in Zweifel gezogen, weil er verblüffende Ähnlichkeit mit einer Begebenheit hat, die in Neh 13,28 erwähnt wird. Dort wird im Zusammenhang mit Nehemias Kampf gegen Mischehen von Juden und insbesondere jüdischen Priestern, die ausländische Ehefrauen geheiratet hatten, von einem Enkelsohn des Hohepriesters Eljaschib erzählt, der eine Tochter des Horoniters Sanballat geheiratet habe und deshalb von Nehemia verjagt worden sei. Die Namensgleichheit beim jeweiligen samaritanischen Herrscher macht misstrauisch und wirft die Frage auf, ob Josephus möglicherweise mangels zuverlässiger Quellen diese Episode falsch eingeordnet habe.145 Neuere Ausgrabungsergebnisse von Y. Magen, der Reste eines Tempels aus der persischen Epoche des 5. Jh. v.Chr. fand, scheinen genau dies zu bestätigen.146 142

Vgl. zu den Hintergründen neben W ARDLE, Jerusalem Temple, 99–120, nun auch die Beiträge von BECKING, Samaritan Identity, und KARTVEIT, Second Temple, in dem Sammelband von FREY et al., Samaritaner. Zu den Samaritanern allgemein vgl. COGGINS, Samaritans and Jews, 116–131; HJELM, Samaritans and Early Judaism, 94–103.239–272, und auch die Beiträge in dem Sammelband von FREY et al., Samaritaner. 143 W ARDLE, Jerusalem Temple, 99–120; BECKING, Samaritan Identity, 56–58; KARTVEIT, Second Temple, 67–73. 144 KARTVEIT, Second Temple, 67–73. 145 W ARDLE, Jerusalem Temple, 106–109; KARTVEIT, Second Temple, 71–73. 146 MAGEN, Art. Gerizim, 1742–1748; DERS. et al., Mount Gerizim Excavations; MAGEN/STERN, Archaeological Evidence; DERS., Mount Gerizim – Temple City.

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

Wenn die Gründung des samaritanischen Tempels bereits in die Zeit Nehemias fällt, dann könnte sich ein neues Bild der Zusammenhänge ergeben. Während Becking sehr zurückhaltend ist, aus den äußerst spärlichen Quellen und den nun bei den Ausgrabungen auf dem Garizim ans Licht gekommenen Inschriften allzu weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen,147 vermutet Wardle, dass die Tempelgründung auf dem Garizim wahrscheinlich eine Reaktion der Samaritaner auf die jüdische Zurückweisung ihrer Hilfsangebote beim Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels war (vgl. Esr 4,1–5). Der Hintergrund dieser Hilfsangebote war möglicherweise der Wunsch der Nachkommen der Nordreichstämme, die sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten mit den von den Assyrern im ehemaligen Nordreich angesiedelten Kolonisten vermischt hatten,148 wieder am Jerusalemer Jahwe-Tempel partizipieren zu dürfen.149 Die schroffe Ablehnung dieses Ansinnens durch Esra und Nehemia, die damit markierte Trennlinie zwischen Judäern und Samaritanern und die von Esra und Nehemia durchgesetzte restriktive Heiratspolitik150 könnten sodann ausschlaggebend für die Gründung eines samaritanischen Alternativheiligtums gewesen sein,151 das damit von Anfang an ein „counter-move against Jerusalem“ gewesen wäre.152 Ist Wardles Rekonstruktion korrekt, dann stellt das samaritanische Heiligtum auf dem Garizim in bestimmter Hinsicht die Fortsetzung der jahrhundertalten Spannungen zwischen dem Süd- und Nordreich Israels dar. Mit dem Tempelbau hatte Sanballat den Samaritanern ein eigenes religiöses und wohl auch nationales, identitätsstiftendes Symbol errichtet, welches das im Licht von Esr 4,1–2 offensichtlich vorhandene Vakuum füllen sollte. Mit der Anwerbung des aus hohepriesterlicher Familie stammenden Manasseh und den ihm folgenden Priestern und Leviten gewann er auch noch genealogisch legitimiertes Personal für den Betrieb des neuen Tempels. Es ist offensichtlich, dass das neue Heiligtum in der Folgezeit die Spannungen zwischen Juden und Samaritanern weiter verschärfte.153 Hinzu kam, dass sich die Samaritaner als treue Anhänger des Jahwe-Glaubens 147 Vgl. BECKING, Samaritan Identity, 65: „Until new evidence shows up, we have to assume that the origins of Samaritanism as a specific religion are still buried under the dust of history and that the parting of the ways most probably was the result of a long process of independent developments on both sides of the growing divide.“ 148 Zur Deportation der Nordreichstämme durch die Assyrer vgl. 2Kön 17, sowie ODED, Mass Deportations, 41–74; BECKING, Fall of Samaria, 61–104. 149 Zum jüdischen Selbstverständnis, der Jahwe- und Tora-Orientierung der Samaritaner vgl. BECKING, Samaritan Identity. 150 Vgl. Esr 9–10; Neh 10,31; 13,23–29. 151 W ARDLE, Jerusalem Temple, 111–114. 152 KARTVEIT, Second Temple, 80. 153 Jos Ant 12,8–10; 13,74–79.

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verstanden,154 den Kultus ebenfalls nach den Vorgaben des bei den Samaritanern hochgeschätzten Pentateuch ausrichteten, der Garizim bzw. Sichem ein prominenter Ort der israelitischen Religionsgeschichte war155 und der Tempel gemäß den Angaben des Josephus nach dem Modell des Jerusalemer Tempels errichtet worden war.156 Von besonderer Brisanz muss auch der Umstand gewesen sein, dass der erste Hohepriester und damit wohl auch seine Nachkommen der zadokidischen Linie angehörten.157 Dies war für die Jerusalemer Priesteraristokratie solange zwar ärgerlich aber hinnehmbar, solange die Oniaden auch im Jerusalemer Heiligtum die zadokidische Linie repräsentierten. Es musste jedoch in dem Moment zu einem Problem ersten Ranges werden, in dem mit den Hasmonäern Nicht-Zadokiden das hohepriesterliche Amt an sich rissen. Nun hatte der Tempel auf dem Garizim zumindest in diesem Punkt sogar einen Legitimationsvorsprung vor dem Tempel auf dem Zion.158 Was für Johannes Hyrkan letztlich den Ausschlag gab, den Tempel auf dem Garizim im Jahre 128 v.Chr. zerstören zu lassen,159 wird von Josephus nicht berichtet, aber man wird wohl mit der Vermutung nicht völlig falsch liegen, dass dieser Tempel angesichts der Fraktionierung der jüdischen Gesellschaft unter der Regentschaft der Hasmonäer zu einer bedrohlichen und ernst zunehmenden Konkurrenz wurde. Die Nähe zu Jerusalem und die in der Erinnerung präsente Erfahrung aus der frühen Königszeit, dass zwei konkurrierende Kultzentren zur nationalen Spaltung führten, könnten Grund genug für diese Maßnahme gewesen sein.160 Das Ziel, das Hyrkan im Blick hatte, erreichte er freilich nicht, im Gegenteil. Die Samaritaner orientierten sich mitnichten nach Jerusalem, sondern schenkten dem Garizim weiterhin kultische Devotion (vgl. Joh 4,20–22), und die Kluft zwischen Juden und Samaritanern vertiefte sich irreversibel.161 2.2.2 Der oniadische Tempel in Leontopolis Der aus theologischer Sicht bedeutendste „Alternativtempel“ war sicherlich jener in Leontopolis, weil er als theologisches Programm verstanden werden musste und wohl auch so intendiert war. Die tiefgreifende Kultur154

Jos Ant 11,340f.; vgl. dagegen Ant 12,257; vgl. auch BECKING, Samaritan Identity, 54–56.64f.; KARTVEIT, Second Temple, 78. 155 Vgl. Gen 12,6f.; 33,18–20; Jos 24,1; 24,32; Dtn 27,11–14; vgl. 11,26–29, sowie KARTVEIT, Second Temple, 73–75. Zur Nähe und zu Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Samaritanern vgl. W ARDLE, Jerusalem Temple, 104–106. 156 Jos Bell 1,63; Ant 11,310; 13,256. 157 Vgl. Jos Ant 11,312. 158 W ARDLE, Jerusalem Temple, 116f. 159 Jos Ant 13,254–256; Bell 1,62f. 160 W ARDLE, Jerusalem Temple, 118. 161 Vgl. TestLev 5,3–4; 6,8; Jub 30,17f.; Theod 7–8; Massekhet Kutim 2,8.

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Kapitel III: Konflikte um Priestertum und Tempel

und Religionskrise unter Antiochus IV. Epiphanes, die Entweihung des Tempels, welche als Gottesgericht aufgrund der Sünden des Volkes aufgefasst wurde (2Makk 4,17; 5,17f.), und der folgende Makkabäeraufstand sorgten für einen nachhaltigen Bruch im jüdischen Verhältnis zum Tempel. Durch die Legitimitätsproblematik der hasmonäischen HohepriesterKönige und die daraus entstandene Aufsplitterung des Judentums in verschiedene Religionsparteien ging das Grundvertrauen in die Heilswirklichkeit des Tempels mehr und mehr verloren. Es ist daher kein Zufall, dass gerade in frühhasmonäischer Zeit ein „Konkurrenztempel“ im unterägyptischen Leontopolis entstand. Er wurde von Onias IV., einem legitimen Mitglied der hohepriesterlichen Familie der Zadokiden, errichtet und bestand bis zu seiner Zerstörung im Jahre 73 n.Chr. In den frühjüdischen Quellen herrscht eine gewisse Unklarheit über den Gründer des Tempels. Josephus bietet zwei Berichte über diesen Vorgang, wovon der zeitlich erste (Jos Bell 1,31–33; 7,423–432) eindeutig Onias III., den bis 175 v.Chr. amtierenden und durch Jason und dann Menelaos abgelösten Hohepriester, als Tempelgründer benennt. Dieser sei durch Antiochus Epiphanes zur Flucht nach Ägypten gezwungen worden und habe dort von Ptolemäus VI. Philometor, dem Erzfeind des Seleukiden, die Genehmigung zum Bau eines jüdischen Tempels im Verwaltungsbezirk von Heliopolis erhalten. Auch verschiedene Notizen in der Mischna, der Tosefta, dem Talmud und bei Theodor von Mopsuestia stützen diese Identifikation. Das Problem dieser Version ist, dass nach dem verglichen mit Josephus sehr alten Bericht in 2Makk 4 Onias III. niemals in Ägypten war, sondern kurze Zeit nach seiner Amtsenthebung durch Jason auf Betreiben von Menelaos in einem Tempel in Daphne ermordet wurde. In Ant 13,62–73 präsentierte Josephus zwei Jahrzehnte später einen zweiten Bericht über die Geschehnisse, der sich allerdings signifikant von der Version im Bellum unterscheidet. Hier wird „der Sohn des Hohepriesters Onias, der denselben Namen wie sein Vater führte“, als Erbauer des Tempels vorgestellt. Dieser habe eine Zuflucht in Alexandria gefunden und von dort aus an Ptolemäus VI. und Cleopatra geschrieben und auf diese Weise die Erlaubnis zur Errichtung eines jüdischen Heiligtums erhalten. Nun identifiziert Josephus den Erbauer eindeutig mit Onias IV., während er in anderem Zusammenhang vom frühzeitigen Tod seines Vaters Onias III. berichtet (Ant 12,237–239). Auch wenn die historische Rekonstruktion bei allen Berichten mit einer Reihe von Schwierigkeiten belastet ist,162 scheint nach Abwägung aller Evidenzen Onias IV. der wahrscheinlichere Bauherr des Tempels gewesen zu sein. Unklar ist auch der exakte Zeitpunkt für die Errichtung des Heiligtums, der wiederum von verschiedenen Altersangaben für Onias IV. abhängig ist.163 Auch hier ist die wahrscheinlichste Lösung, dass Onias III. tatsächlich relativ rasch nach seiner Absetzung ermordet wurde, sein damals noch unmündiger Sohn Onias IV164 nach Ägypten floh und dann einige Jahre später als junger Erwachsener die religionspolitischen Ambitionen seiner zadokidischen Familie in die eigenen Hände nahm.

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Vgl. hierzu die ausführliche Diskussion bei W ARDLE, Jerusalem Temple, 121–129. Vgl. auch hierzu besonders W ARDLE, Jerusalem Temple, 127–129. 164 Vgl. den Begriff nh,pioj in Jos Ant 12,237. 163

2 Tempeltheologien und Tempelkritik

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Der Tempel in Leontopolis war offensichtlich als Kopie des Jerusalemer Originals angelegt165 und entsprechend dürften die Beweggründe für seine Errichtung vor allem religionspolitischer Natur gewesen sein. Eine präzisere Antwort auf diese Frage ist allerdings von den kaum eindeutig lösbaren Datierungsfragen abhängig. Wenn die Flucht Onias‘ IV. und sein Tempelbau sehr rasch nach dem Tod des Vaters etwa zwischen 170 und 167 erfolgten, wäre das Projekt ein direkter und wohl auch höchst populärer Protest gegen die seleukidische Kultur- und Personalpolitik und die Tempelentweihung gewesen. Erfolgte der Tempelbau dagegen erst – wie Josephus zu glauben scheint – zwischen 162 und 145 v.Chr., dann war der Tempel in Leontopolis eher ein Protest gegen die Okkupation des hohepriesterlichen Amtes durch die nicht-zadokidischen Hasmonäer.166 Für Onias IV. scheint nach den Angaben von Josephus in Bell 7,432 und Ant 13,64.68 eine Prophetie aus Jes 19,18–20 eine wesentliche Rolle für die Legitimierung der Tempelgründung nach innen gegenüber sich selbst und seinen Anhängern, wie nach außen gegenüber seinen Gegnern gespielt zu haben. Dort ist von einer „Stadt der Zerstörung“ (MT: sr,h,h; ry[i) bzw. einer „Stadt der Gerechtigkeit“ (LXX: Po,lij-asedek) und einem Altar für Jahwe in der Mitte Ägyptens die Rede.167 Es spricht manches dafür, dass Onias IV. diese Prophetie selbstreferentiell gelesen hat und sich dadurch legitimiert sah, einen Konkurrenztempel und ein zweites Jerusalem in Ägypten zu begründen, in dem er und seine zadokidische Dynastie den einzig legitimen Kult weiterführten. Das Unternehmen kann nicht als eine Substitution des Jerusalemer Priestertums verstanden werden, denn als legitim im eigentlichen Sinn betrachtete Onias IV. nur das ihm loyale oniadisch-zadokidische Priestertum, das aus seiner Perspektive unrechtmäßig ins Exil gedrängt wurde. Allerdings stellt der Schritt zur bewussten Gründung eines Konkurrenztempels 165 Jos Bell 1,33; 7,426–430; Ant 12,388; 13,63.72.285; 20,236. In 7,427 ist zwar von einem „Turm“ die Rede, was diese Ähnlichkeit aber nicht konterkarieren muss, da in der zeitgenössischen Literatur des Frühjudentums auch der Jerusalemer Tempel häufig symbolisch als „Turm“ beschrieben wird, vgl. äthHen 89,50.73; TJes 5,2; ShemR 20,5; Herm 9,3–13; Barn 16,5. Josephus, Ant 13,72, charakterisiert den Tempel zwar als „kleiner und ärmer“ als den Jerusalemer Tempel, bezieht sich dabei aber anachronistisch auf die Referenzgröße des Herodianischen Tempels. Die Höhe von 60 Ellen, Bell 7,427, entspricht relativ exakt den Maßen des zweiten, nachexilischen Tempels vor der herodianischen Restauration, vgl. Esr 6,3; Jos Ant 11,99; 15,385; Bell 5,215. Vgl. auch W ARDLE, Jerusalem Temple, 132: „In nearly every way, Onias seems to have been replicating the blueprints of the second temple in Jerusalem“, sowie HAYWARD, Leontopolis, 429–443. 166 Vgl. dazu W ARDLE, Jerusalem Temple, 136–139. 167 Zur komplexen Textgeschichte hinsichtlich der „Stadt der Zerstörung/ Gerechtigkeit“ und der hebräischen Textvariante „Stadt der Sonne“ (sr,x,h; ry[i) u.a. in 1QIsA, die auch vom Symmachus und der Vulgata übernommen wurde, vgl. W ARDLE, Jerusalem Temple, 134–136.

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zum Jerusalemer Original die kühnste Form der Etablierung eines alternativen „Seins vor Jahwe“ jenseits des Jerusalemer Kultes dar, die uns in der Zeit des zweiten Tempels begegnet. Unklar freilich bleibt, welcher Charakter diesem Konkurrenzheiligtum auf Dauer zugedacht war: Sollte es nur eine Interimslösung sein, eine Zuflucht für die oniadischen „Dissidenten“ oder tatsächlich dem Jerusalemer „Original“ den Rang ablaufen? Letztes wäre jedenfalls eindeutig gescheitert, denn noch nicht einmal das durch Philo vertretene ägyptische Diasporajudentum in Alexandrien nahm den Tempel in Leontopolis im 1. Jh. n.Chr. zur Kenntnis.168 Rückblickend konnte keiner der drei jüdischen Tempel außerhalb Jerusalems eine nachhaltige Bedeutung entwickeln. Es waren nicht die „Alternativtempel“, die zur dominierenden jüdischen Institution in der Diaspora wurden, sondern die Synagoge, die zu keiner Zeit in den Verdacht geraten konnte, den Jerusalemer Tempel in Frage zu stellen (→IV.7.1). Dennoch zeigt die Konsequenz, mit der die Römer am Ende des Jüdischen Krieges im Jahr 73 n.Chr. auch den Tempel in Leontopolis zerstörten, welche Dynamik und damit auch Gefahr die Römer hinter jüdischen Heiligtümern – wo auch immer sie standen – witterten und fürchteten.169 2.2.3 Ergebnis So unterschiedlich diese drei Tempel im Blick auf den historischen Kontext und die Motivation ihrer Errichtung auch gewesen sein mögen, so machen sie immerhin deutlich, dass es in nachexilischer Zeit nicht für alle Juden undenkbar war, dass es neben dem Jerusalemer Tempel noch ein weiteres oder auch alternatives Heiligtum geben konnte. Mit einem alternativen Heiligtum musste es aber auch alternative Priesterschaften in Konkurrenz zu den Jerusalemer „Kollegen“ geben. Gerade dieser Umstand ist beim samaritanischen Heiligtum auf dem Garizim ganz evident und in seiner politischen Wirkung für die Geschehnisse im 2. Jh. v.Chr. auch virulent. Während die Gemeinschaft des yaḥad sich „lediglich“ auf ein Substitut des Priestertums beschränkte und sich aufgrund ihrer Theologie mit einem metaphorischen Tempel begnügte, wurde in diesen Alternativtempeln das weitgehendste Konzept jüdischen „Seins vor Gott“ jenseits des Jerusalemer Tempels verwirklicht, über dessen zeitgenössische Relevanz und Wirkung die Quellen leider fast gänzlich schweigen. Zumindest das samaritanische Heiligtum auf dem Garizim wie auch der oniadische Tempel in Leontopolis spiegeln etwas von der Zerrissenheit des zeitgenössischen Judentums im Blick auf Tempel und Priesterschaft wider, aber auch von der Energie, die einzelne Gruppen und Interessenverbände 168 169

Vgl. zum Ganzen, FREY, Rival Temple, 196f. W ARDLE, Jerusalem Temple, 4.

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aufbrachten, um ihre kultischen und religionspolitischen Vorstellungen zu verwirklichen. 2.3 Tempelkritik und die Hoffnung auf einen eschatologischen Tempel Kritische Stimmen zum nachexilischen Tempelbau werden nach Esr 3,10– 13 bereits bei der Grundsteinlegung des neuen, zweiten Tempels laut.170 Bei der feierlichen Zeremonie kommt es zu einer eigentümlich gespaltenen Reaktion unter den zum gemeinsamen Lobpreis angetretenen Priestern. Während die jüngeren „jauchzend“ das Lob singen in Anbetracht des freudigen Ereignisses, brechen die älteren Priester, die noch den alten Tempel vor Augen hatten, in Tränen und Wehklage aus angesichts der bescheidenen Dimensionen des neuen Baus.171 Exakt diese Reaktion reflektiert auch Hag 2,3: „Ist unter euch noch einer übrig, der diesen Tempel in seiner früheren Herrlichkeit gesehen hat? Und was seht ihr jetzt? Erscheint er euch nicht wie ein Nichts?“172

Von Beginn an haftete dem zweiten Tempel der Eindruck der Inferiorität gegenüber dem Vorgängerbau an. Im Tobitbuch, in zwei Targumen und in einer Reihe apokalyptischer Schriften und Texte wurde die Kritik am zweiten Tempel nicht direkt zum Ausdruck gebracht, sondern indirekt in Form einer eschatologischen Erwartung eines vollkommenen, (von Gott) neu zu errichtenden Tempels der Endzeit. Solche Erwartungen des Vollkommenen und Zukünftigen bedeuten jedoch immer eine indirekte Kritik am Unvollkommenen und Gegenwärtigen. 2.3.1 Das Buch Tobit In diesem Licht ist auch der Lobpsalm (Tob 13) und das Schlusskapitel des Tobitbuches (Tob 14) zu lesen.173 In Tob 13 entfaltet der Verfasser die 170

Übersichten zur Tempelkritik im Frühjudentum finden sich bei MCKELVEY, New Temple, 1–57; SANDERS, Jesus and Judaism, 77–90; DOWDA, Cleansing of the Temple, 3–171; LOSIE, Cleansing of the Temple, 1–230; ÅDNA, Kritik am Tempel, 145–296; KLAWANS, Purity, 145–174. 171 Vgl. auch Jos Ant 11,80–83. 172 Einheitsübersetzung. 173 Die Entstehungszeit des Tobitbuches wird in der Forschung in dem Rahmen zwischen der Kanonisierung des Prophetenkanons im späten 3. Jh. v.Chr. und dem Beginn der seleukidischen Religionskrise um 175 v.Chr., über die es keinerlei Hinweise in dem Buch gibt, diskutiert; vgl. FITZMYER, Tobit, 51. Terminus post quem ist die Kanonisierung der Propheten und die Abfassung der Chronik, vgl. Tob 14,5; absoluter terminus ante quem sind die in Qumran gefundenen Kopien aus der Zeit zwischen 100 v.Chr. und 25 n.Chr. Das Buch weist zahlreiche Berührungen mit anderen apokryphen Schriften auf, die FITZMYER, Tobit, 52, und EGO, Tobit, 899f., eine Datierung im späten 3. oder frühen 2. Jh. v. Chr. vermuten lassen.

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Vision eines endzeitlichen Jerusalem, in dem das „Zelt Gottes“ wieder aufgebaut werden wird (13,10f.), womit ein eschatologischer Tempel in einem idealtypischen, „himmlischen“ Jerusalem (13,16f.) gemeint ist.174 In dem das Buch abschließenden Epilog findet sich im Munde des scheidenden Tobit ebenfalls eine Prophetie, in der unter anderem auch die Zerstörung Jerusalems und des Tempels erwähnt wird (14,4), aber auch nach der Rückkehr des Volkes der Neubau eines Tempels (14,5), der jedoch betont vom alten, bestehenden abgerückt wird („nicht wie das erste [Haus]“). Anders als in 13,10f.16f. dürfte es hier um eine historische Reminiszenz an die bei Esra und Haggai erwähnte Enttäuschung über die Armseligkeit des nachexilischen Tempelbaus gehen, die in so starkem Kontrast zu den gewaltigen Visionen in Jes 54.56.60 und Ez 40–48 stand.175 Im selben Vers wird aber auch ähnlich wie schon in Tob 13,16f. nach dem Ablauf der „Zeit der Weltzeiten“ die Rückkehr aller Gefangenen angekündigt, die Jerusalem „ehrenvoll“ wieder aufbauen werden mitsamt dem „Haus Gottes“, das „für alle Geschlechter in Ewigkeit“ Bestand haben soll. 2.3.2 Das Jubiläenbuch Das Jubiläenbuch176 stammt offensichtlich aus einem Milieu, in dem Fragen des Kultes, des Kultkalenders, der Kultfähigkeit, der Priesterkleidung, 174 So richtig SCHÜNGEL-STRAUMANN, Tobit, 172f.: „Jedoch handelt es sich hier … um eine Zukunftsvision, um die Funktion eines irdisch-himmlischen Jerusalem als Mittelpunkt der Welt […] Damit [sc. dem Zelt in V. 10f.] kann zur Zeit Tobits nicht der Tempel aus Stein gemeint sein, dieser steht ja seit langem wieder, der altertümliche Ausdruck für das Heiligtum deutet vielleicht an, daß es dem Verfasser um einen idealen, einen zukünftigen Ort geht, das Zelt als eigentlicher Ort der Begegnung zwischen Gott und Mensch, der weitaus herrlicher sein wird als das Gebäude in Jerusalem“ [kursiv bei S.-S.]; vgl. auch a.a.O., 174: „Diese Vision einer märchenhaften Zauberpracht des himmlischen Jerusalem drückt mit der Zahl sieben die Vollkommenheit und Abgerundetheit dieses Kunstwerks aus. Eine solche Pracht ist schlechthin nicht mehr zu überbieten.“ F ITZMYER, Tobit, 312, denkt dagegen eher an die Wiedererrichtung des zweiten Tempels. 175 SCHÜNGEL-S TRAUMANN, Tobit, 179; FITZMYER, Tobit, 329f.; W ARDLE, Jerusalem Temple, 52. 176 Die Entstehung des Jubiläenbuches wird gewöhnlich in der Mitte des 2. Jh. v.Chr. vermutet. Den terminus ad quem stellt die paläographische Evidenz in den Qumranschriften dar, unter denen auch Abschriften des Jubiläenbuches aus der Zeit zwischen 125 und 100 v. Chr. gefunden wurden; die älteste Abschrift ist 4Q126; vgl. zur Evidenz die Liste bei SCHÜRER/VERMES, History III/1, 309, Anm. 1, und B ERGER, Jubiläenbuch, 286. VANDERKAM, Origins, 19f.; DERS., Jubilees, 18–21, bestimmt den Entstehungszeitraum auf die Jahre 161–140 v.Chr., wobei er die Jahre 161–152 bevorzugt, B ERGER, Jubiläen, 300, plädiert dagegen für die Jahre 145–140 v.Chr., weil neben den ausführlich dargestellten Strafexpeditionen von Judas Makkabäus gegen Edomiter, Jub 38,14, Amoritier, 29,9–11; 34,4–9, und Philister, Jub 24,28–32, in den Jahren 163–161 v.Chr. und der Polemik gegen den seleukidischen Kultfrevel in Jerusalem unter Antiochus IV. Epiphanes, Jub 23,21, auch der Tod Ptolemaios VI. im Jahr 145 v.Chr. in Jub 46,6–11

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des Priesterzehnten und die Gestalt Levis eine hervorgehobene Rolle spielten. Die Besonderheit im Vergleich mit der biblischen Überlieferung ist die Verortung der Gabe des Gesetzes bereits in der Väterzeit vor dem Sinaibund. Entsprechend werden bereits die Väter in einem priesterlichen Habitus gezeichnet (Jub 3,27; 4,25; 31,12–17; 45,16). Die Autoren sahen die Identität des Volkes durch den Hellenismus bedroht und reagierten darauf mit einem nationalistisch-antihellenistischen Impetus und der Betonung der Absonderung von allem Heidnischen. Die Wahrung der jüdischen Identität wird unter Rückgriff auf die Vätertraditionen vollzogen: „Der Widerstand gegen den Hellenismus war nur möglich um den Preis repristinierenden priesterlichen Denkens.“177 Verschiedene Merkmale wie das Verbot der Kriegsführung am Sabbat (50,12; vgl. 1Makk 2,32.39ff.) und auch Jub 23,19.26 legen nahe, die Verfasser im Milieu der Asidäer, Chasidim bzw. Anawim zu suchen, die Träger der makkabäischen Bewegung waren.178 Das Jubiläenbuch spricht zwar im Prolog179 in einem eschatologischen Ausblick (Jub 1,27.29, vgl. 1,17; 25,21) vom Bau eines Heiligtums „für die Ewigkeit der Ewigkeiten“, also einem Tempel mit ewigem Bestand. Dagegen findet sich jedoch im Rahmen einer apokalyptischen Schau in Jub 23,9–32, in welcher die Zunahme der Bosheit und Unreinheit beklagt wird, auch die Aussage: „… das Allerheiligste werden sie verunreinigen durch die Unreinheit des Verderbens ihrer Befleckung“ (V. 21).180 Da lediglich der Hohepriester legitimiert ist, am Yom Kippur das Allerheiligste zu betreten, kann sich diese Kritik nur auf ihn beziehen.181 Konkret wird ihm Ungerechtigkeit und unreines Sexualverhalten vorgeworfen. Vom Kontext her ist an die hasmonäischen Ämterhäufung und -vermischung zu denken vorausgesetzt würde, was damit als terminus post quem zu gelten habe. Gegen diese Identifikation zeitgeschichtlicher Ereignisse wurden jedoch in den letzten Jahren Einwände erhoben, weil die Bezüge alles andere als eindeutig sind, vgl. SEGAL, Jubilees, 36ff. Nach SEGAL, a.a.O., 37f.320, ist die einzige belastbare zeitgeschichtliche Reminiszenz die Erwähnung der innerjüdischen Spannungen in der Vision in Jub 23,9–32, die auf den Kontext der seleukidischen Religionskrise und einen innerjüdischen halachischen Disput hindeuten. Die zahlreichen Berührungen mit dem Schrifttum aus Qumran, wie z.B. dem Sonnenkalender, und die vielen in Qumran gefundenen Abschriften des Buches, legen eine zeitliche Nähe zur Entstehung der frühen Qumranschriften in der Mitte des 2. Jh. nahe, vgl. SEGAL, Jubilees, 321f. Zu den Einleitungsfragen vgl. auch W INTERMUTE, Jubilees (OTP II), 35–50; SCHÜRER/VERMES, History III/1, 308–316; NICKELSBURG, Art. Jubilees (CRINT II/2), 97–104. 177 BERGER, Jubiläenbuch, 298. 178 B ERGER, Jubiläenbuch, 299; SCHÜRER/VERMES, History III/1, 314; W INTERMUTE, Jubilees (OTP II), 45. 179 Eine Einführung in den Prolog findet sich bei VANDERKAM, Jubilees, 23–28. 180 Übersetzung nach B ERGER, Jubiläenbuch, 444. 181 VANDERKAM, Jubilees, 58.

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(vgl. 1Makk 10,15–21). Während der Text ab V. 26 von einer Umkehr des Volkes und einer beginnenden Heilszeit berichtet, bleibt offen, welche Folgen die Verunreinigung des Allerheiligsten für den Tempel hat. Möglicherweise müssen deshalb bereits Jub 1,15–18 und 1,27–29 im Sinne des Neubaus eines eschatologischen Tempels verstanden werden, der allerdings nicht von Menschenhand errichtet wird, sondern ein Neuschöpfungswerk Gottes (1,29) darstellt.182 2.3.3 Die Zehnwochenapokalypse Von einer Zerstörung und eschatologischen Neugründung des Tempels ist auch in der sog. Zehnwochenapokalypse in der sog. Epistel Henochs, dem fünften Teil des äthiopischen Henochbuches, die Rede.183 Die Weltgeschichte wird in der Aufeinanderfolge von zehn Wochen erzählt. Am Ende der fünften Woche wird „das Haus der Herrlichkeit und Herrschaft für die Ewigkeit“ gebaut werden (93,7; vgl. Barn 16,6), womit wohl der salomonische Tempel gemeint ist. Dieser wird allerdings in der gleich folgenden sechsten Woche aufgrund der Verblendung der Menschen und ihrer Herzen wieder verbrannt und „das ganze Geschlecht der auserwählten Wurzel“ wird zerstreut (93,8), was mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Eroberung Jerusalems, die Zerstörung des salomonischen Tempels und die Exilierung Judas zu beziehen ist.184 Es folgen am Ende der siebten Woche, welche die Gegenwartszeit des Autors ist, abermals ein Abfall des Volkes, an dessen 182

Vgl. auch 11QT 29,9 sowie ǺDNA, Stellung, 44f. Die sog. „Zehnwochenapokalyse“ gehört zum fünften Hauptteil des äthiopischen Henochbuches und ist vermutlich das älteste Teilstück dieser sog. Epistel Henochs, äthHen 92–105, deren Entstehung allgemein in der Mitte des 1. Jh. angenommen wird. Die Entstehung der „Zehnwochenapokalypse“ wird dagegen bereits im ersten Drittel des 2. Jh. datiert. UHLIG, Henochbuch, 709, nimmt eine Entstehung spätestens in der Mitte des 1. Jh.v.Chr. an, während N ICKELSBURG, 1Enoch, 441, und STUCKENBRUCK, 1 Enoch, 60–62, von einem Termin kurz vor dem Makkabäeraufstand ausgehen; vgl. auch HENGEL, Judentum, 305.320, Anm. 443. STUCKENBRUCK, a.a.O., 60, begründet dies auch damit, dass es keine entschlüsselbaren Anklänge an historische Ereignisse nach dem Makkabäeraufstand gibt. Die Abfolge der Apokalypse ist durch die Zählung in Unordnung geraten und muss aufgrund der Wochenzählung nach UHLIG, Henochbuch, 495– 497, wie folgt aussehen: äthHen 92,1–5; 93,1–10; 91,11–17; 93,11–105. Zu den Einleitungsfragen vgl. auch ISSAC, 1 Enoch (OTP I), 5–12, und STONE, Art. 1 Enoch (CRINT II/2), 395–406, v.a. 405. 184 Die Frage, warum der Tempel in 93,7 als „für die Ewigkeit“ charakterisiert und unmittelbar darauf seine Zerstörung berichtet wird, ist schwer zu beantworten. N ICKELSBURG, 1Enoch, 447, zieht in Erwägung, dass der Autor hier an den Tempel als Institution denkt. Dagegen plädiert STUCKENBRUCK, 1 Enoch, 110, eher für eine Anspielung auf die Monarchie, konkret auf das davidische Königtum. Die Tatsache, dass weder die Babylonier als die eigentlichen Zerstörer des Tempels noch die Umstände der Zerstöung erwähnt werden, ist auf die Fokussierung des Autors auf das Verhältnis zwischen Gott und Israel zurückzuführen, STUCKENBRUCK, 1 Enoch, 117. 183

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Ende aber die „Gerechten“ auserwählt werden, um eine siebenfache Belehrung zu empfangen. In der achten Woche „der Gerechtigkeit“ wird dann das Gericht an den Gewalttätern und Sündern stattfinden und an ihrem Ende wird „ein Haus gebaut werden für den großen König zur Herrlichkeit bis in Ewigkeit“ (91,13).185 Mit diesem „Haus für den großen König“ ist ein neuer, eschatologischer Tempel für den Gott Israels gemeint (vgl. dieselbe Formulierung in 93,7f.).186 Dieser ist offensichtlich nicht identisch mit dem nachexilischen Tempel, der in dieser Zehnwochenapokalypse merkwürdiger Weise keine Erwähnung findet. Damit wird faktisch die gesamte nachexilische Zeit des zweiten Tempels als eine Epoche der Apostasie qualifiziert und das Urteil L. Stuckenbrucks scheint durchaus berechtigt: „The absence of any allusion to the Second Temple in the Apocalypse suggests that the author and his community do not support the Jerusalem cult or at least do not have any direct involvement in it.“187 Der zweite Tempel hatte für den Verfasser der Zehnwochenapokalpyse keine Heilsrelevanz mehr.188 2.3.4 Die Tiersymbolapokalypse Eine solche (Dis)Qualifikation des zweiten Tempels liegt eindeutig auch in der sog. „Tiersymbolapokalypse“ (äthHen 85–90) vor, die zum vierten Teil des äthiopischen Henochbuches gehört, dem „Buch der Traumgesichte“ (äthHen 83–90), und ein Beispiel für die frühapokalyptische Geschichtsdeutung ist.189 Auch sie könnte ihren Ursprung im Milieu der Chasidim gehabt haben.190 Diese Tiersymbolapokalypse schildert die Weltgeschichte von Adam bis zur Vollendung durch den Auftritt von Tiergestalten. Nachdem in solch metaphorischer Form das Ringen um den Thron zwischen Saul und David geschildert wurde (89,47–49), folgt die Beschreibung eines großen Hauses, auf dem ein großer und hoher Turm steht, vor den ein vol185 Die Errichtung des eschatologischen Tempels in der achten Woche legt nahe, dass er eine Voraussetzung für die Durchführung des Endgerichts darstellt. 186 Vgl. zur Hoffnung auf einen eschatologischen Tempel auch Jes 56,7f.; 60; 65,17– 25; 66,1; Ez 40,5–43,17. 187 STUCKENBRUCK, 1 Enoch, 133. 188 STUCKENBRUCK, 1 Enoch, 137f.: „Although the Apocalypse does not contain any explicit polemic against the Jerusalem Temple of his day, the author (and his community) would have regarded it as uninspiring and of no salvific import.“ 189 UHLIG, Henochbuch, 673. Diese Tiersymbolapokalypse wird oft zusammen mit der Zehnwochenapokalypse zu den ältesten Stücken des äthiopischen Henochbuches gerechnet und meistens in die Anfänge der Makkabäerzeit terminiert. UHLIG, Henochbuch, 673f., datiert den terminus ad quem auf das Jahr 165/164 v.Chr.; ähnlich NICKELSBURG, 1Enoch, 361, und B LACK, Enoch, 20. Zu den Einleitungsfragen vgl. auch ISSAC, 1 Enoch (OTP I), 5–12, und STONE, Art. 1 Enoch (CRINT II/2), 395–406; v.a. 404f. 190 N ICKELSBURG, 1Enoch, 363. Er verweist auf die Ähnlichkeiten zu Schriften wie dem Damaskusdokument, dem Jubiläenbuch und der Gemeinderegel (1QS).

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ler Tisch gesetzt wird (V. 50). Vor dem Hintergrund des weiteren Kontextes (v.a. V. 66f.) wird deutlich, dass es sich bei dem Haus um Jerusalem, beim Turm um den Tempel und beim Tisch um den Brandopferaltar handelt. Nachdem in 89,66f. die Niederbrennung des Turmes und die Zerstörung des Hauses erzählt wird, ist folgerichtig in V. 73 vom Neubau des „Turmes“ und des „Tisches“ die Rede. Bemerkenswert sind hier zwei Dinge: Zum einen wird von dem neuerbauten „Turm“ gesagt, dass man ihn den „hohen Turm“ „nannte“, während der erste, zerstörte Turm in V. 50 als „großer, hoher Turm“ apostrophiert wird. Wieder klingt die Kritik an der Insuffizienz des neuen Tempelbaus an.191 Zum anderen endet der Vers mit der merkwürdigen Notiz: „… aber alles Brot auf ihm (war) verunreinigt und nicht rein.“ Hier findet die Kritik Maleachis an der Minderwertigkeit unvollkommener Opfer ihren Widerhall (vgl. Mal 1,7–12 sowie CD 4,17– 5,19). Während andere frühjüdische Schriften, wie z.B. die Makkabäerbücher den Tempel erst durch den Kultfrevel des Antiochus IV. Epiphanes verunreinigt und entweiht sahen, betrachtet die Tiersymbolapokalypse den zweiten Tempel bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt nach dessen Wiederaufbau als verunreinigt und damit als ungeeignet für die eschatologische Vollendung. Die Gründe für diese überraschende Qualifikation sind nicht ersichtlich. Im Zuge einer (durch den Makkabäeraufstand eingeleiteten?; vgl. 90,6ff.) eschatologischen Wende mündet die Geschichte in die Vollendung des Reiches Gottes. In 90,28f. wird dann erzählt, wie Gott das „alte Haus“ (sc. Jerusalem) entfernt und ein neues Haus bringt, „größer und höher als jenes erste und er stellte es an den Ort des ersten, das entfernt worden war“.192 Aufgrund der Tatsache, dass die Metapher des „Turmes“ nicht mehr erwähnt wird, ist in der Forschung umstritten, ob der Text nur von einer neuen, tempellosen Stadt Jerusalem ausgeht, oder ob der Tempel bei diesem neuen Haus mitzudenken ist.193 Während diese Frage vom Text her nicht eindeutig geklärt werden kann, ist soviel ganz deutlich: Die Apokalypse erwartete die aufgrund seiner sehr frühen Verunreinigung unausweichliche Entfernung des zweiten Tempels durch Gott selbst. Nirgendwo wird im Frühjudentum eindeutiger die Insuffizienz des zweiten Tempels zum Ausdruck gebracht als in diesem Text. Im Licht des erwarteten „eigentlichen“ Heiligtums musste das bestehende Heiligtum 191

NICKELSBURG, 1Enoch, 394; vgl. Esr 3,12–13. Die Begriffe „altes“ und „neues Haus“ stellen Symbole für das alte und neue Jerusalem dar, vgl. Ez 40–48; Jes 54,11f.; Hag 2,7–9; Sach 2,6–13. 193 So ganz entschieden („no doubt“) B LACK, Enoch, 278. Vgl. die Diskussion bei P AESLER, Tempelkritik, 161–163; ÅDNA, Stellung, 42f. NICKELSBURG, 1Enoch, 404, bemerkt, dass mit der Beschreibung des Hauses als „größer und höher“ sowohl die Eigenschaften des Hauses „Jerusalem“ als auch des Turms, der den Tempel symbolisiert, gemeint sein könnte. Zu beachten ist, dass dieses Haus nicht mehr nur „hoch“ genannt wird, vgl. 89,73, sondern dass es faktisch „höher“ ist. 192

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zwangsläufig an Bedeutung verlieren und eine Aura des Defizitären bekommen.194 Die Sehnsucht nach einem heilvollen „Sein vor Gott“ wird hier in die eschatologische Zukunft projiziert. 2.3.5 Die Qumranschriften Wie noch unter →IV.2.2 weiter ausgeführt werden wird, verstand sich der yaḥad in einem tempeltheologischen Licht und unterzog in diesem Zusammenhang den Tempelbegriff einer hermeneutischen Metaphorisierung.195 Der yaḥad selbst wird zu einer „ewigen Pflanzung“, einem „heiligen Haus für Israel“, einem „Heiligen der Heiligen für Aaron“ (1QS 8,5f.). Im Sinne einer Substitution des als verunreinigt und korrumpiert verstandenen Jerusalemer Kultes übernahm nun während der „Zeit des Frevels“ die Gemeinschaft selbst kultische Funktionen, die seither an das Jerusalemer Heiligtum gebunden waren. Allerdings ist die Substituierung des Jerusalemer Tempels durch den yaḥad nur ein vorübergehendes und partielles Interim.196 Denn für den Opferkult wird keine wirkliche Entsprechung geschaffen und die Substitution bleibt eine uneigentliche (vgl. CD 11,20–21; 1QS 9,4–5). Dies hat seinen Grund in der zukünftigen Erwartung einer Restauration sowohl des halachisch korrekten Tempelkultes als auch der Errichtung eines gegenüber dem bestehenden Tempel neuen Tempelgebäudes.197 Der yaḥad konnte und wollte weder den verunreinigten Tempel in Jerusalem voll ersetzen noch

194 LOHMEYER, Kultus, 109: „Wenn dieses eschatologische Gotteshaus aber alles Bisherige vollendet, so ist es diesem (sc. dem Jerusalemer Tempel) auch ein scharfer und unerbittlicher Feind, wie das Vollkommene immer Feind des Unvollkommenen ist.“ 195 Vgl. 1QS 8,4–10; 9,3–6; 11,8; 4Q174 3,2f.; vgl. HOGETERP, God’s Temple, 105– 108, sowie die Arbeiten von GÄRTNER, Temple, und KLINZING, Umdeutung. So werden das „Heilige“ und das „Allerheiligste“ des Tempels in 1QS 8,5ff., 9,3f. u.ö. auf die abgesonderte, aber von Gott erwählte Heilsgemeinde des yaḥad bezogen. In 1QpHab 7,10f. wird der Jerusalemer Kultus mit dem wahren Gottesdienst der Gemeinschaft kontrastiert. Der yaḥad gewinnt somit als „Stätte des Allerheiligsten Aarons“ (1QS 8,5f.) eine idealtypische Funktion. 196 Anders KLINZING, Umdeutung, 92f., der hinter den Aussagen zur Identifikation des yaḥad als Tempel und den Erwartungen eines zukünftigen Tempels hier zwei konkurrierende Vorstellungen sehen will. Als Hintergrund vermutet er priesterliche Kreise in der Gemeinde, welche die Hoffnung, eines fernen Tages wieder den Priesterdienst in einem restituierten Heiligtum ausüben zu können, nur ungern preisgegeben hätten. 197 Vgl. 4Q174 3,1–5; 11QT 29,9f., und möglicherweise auch 4Q171 3,8–13; 1QM 2,1–6; 2Q24 Fr. 8; sowie ÅDNA, Stellung, 46.99–106; P AESLER, Tempelwort, 158ff.; HORN, Paulus und der Herodianische Tempel, 191, und HOGETERP, God’s Temple, 92f.96f.100–104.111–113, der das Fazit zieht, a.a.O., 114: „The sectarian eschatological perspective envisages the eventual restoration of the Temple. This precludes the idea of a fundamental and definite substitution-theology“; ähnlich KLAWANS, Purity, 158–161.

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die eschatologische Erwartung eines neuen Tempels verdrängen.198 Von daher wäre auch die Bezeichnung dieses Vorgangs mit der Kategorie der „Spiritualisierung“ nicht treffend beschrieben. Es wird hier nicht etwas vergeistigt, sondern ein Konkretum, das für die Gemeinschaft seine Funktion verloren hatte, wird bis zur Ankunft eines besseren, nicht minder konkreten Tempels provisorisch substituiert.199 Der prominenteste Beleg für eine in den Qumranschriften existierende Hoffnung auf einen eschatologischen Tempel ist das Florilegium in 4Q174, das auch als „Midrasch zur Eschatologie“ bekannt ist,200 wo es in der 3. Kolumne heißt: „Das ist das Haus, das er für [sich errichten wird] am Ende der Tage, wie geschrieben steht im Buch [des Mose (?): „Das Heiligtum,] Jahwe, das deine Hände bereitet haben. Jahwe ist König für immer und ewig! [Ex 15,17b-18]“ (4Q174 3,2f.). Der Autor verknüpft Ex 15,17f. mit 2Sam 7,10 und betrachtet beide Belege als eine Referenz für das eschatologische Heiligtum. In den Z. 5f. ist unmittelbar danach vom verwüsteten Heiligtum Israels die Rede, womit der Salomonische Tempel gemeint ist, und in Z. 6f. ist in positiver Weise von einem „Heiligtum von Menschen“ die Rede. Es ist nicht eindeutig, ob hier dasselbe Heiligtum gemeint ist wie in Z. 2f.201 Wäre dies der Fall, dann müsste wohl auch das „Haus, das Gott am Ende der Tage errichten wird“, auf den yaḥad bezogen werden. Wahrscheinlicher aber dürfte die Interpretation von D. Dimant sein, dass hier drei unterschiedliche Heiligtümer gemeint sind.202 Damit wären also in 4Q174 neben dem in Z. 5f. erwähnten zerstörten Salomonischen Tempel auch vom Interimstempel des yaḥad die Rede, dem „Heiligtum von Menschen“ (Z. 6f.), und schließlich noch von der Erwartung eines eschatologischen Heiligtums (Z. 2f.).

Im Licht dieser eschatologischen Hoffnung bleibt das Verhältnis der Qumranschriften zum Jerusalemer Tempel ein ambivalentes: „[T]he sectarians dealt with their separation from the temple in three ways. First, 198

KLAWANS, Purity, 173: „… it is also important to emphasize that the sectarians did not view their own institution as in any way better than a proper temple would be. Indeed, they did not even view their own institution as an equivalent for the current temple, defiled as it was.“ 199 K LAWANS, Purity, 167f., weist in diesem Zusammenhang auch auf die nur begrenzte Wirksamkeit der in den Qumranschriften erwähnten Sühneriten hin. Obwohl die Standards für zu sühnendes Fehlverhalten in den Qumranschriften höher und die Strafen für Gebotsübertretungen schärfer waren, scheinen die sühnenden Riten eher eine schwächere Wirkung gehabt zu haben. 200 Das Florilegium wird gewöhnlich in die erste Hälfte des 1. Jh. v.Chr. datiert; vgl. STEUDEL, Midrasch, 202–210; DIES., Texte aus Qumran II, 187ff. Vgl. zum Inhalt und der Diskussion von 4QMMT SCHIFFMAN, Community, 269–281; DERS., Miqsat Ma’asé Ha-Torah, 435–457; sowie Q IMRON/STRUGNELL, Qumran Cave 4. 201 Zur Diskussion, ob es hier um zwei oder drei verschiedene Tempel geht, und zur Bedeutung des „Heiligtums von Menschen“ vgl. auch SCHWARTZ, Three Temples, 83– 91; W ARDLE, Jerusalem Temple, 157–160; KLAWANS, Purity, 162f., und MAIER, Art. Temple (EncDSS), 923.926. 202 D IMANT, 4Q Florilegium, 177f.188; vgl. YADIN, Midrash on 2 Sam vii, 95–98; FLUSSER, Two Notes, 88–98; ebenso etwas vorsichtiger ZIMMERMANN, Messianische Texte, 109; ÅDNA, Stellung, 106; W ARDLE, Jerusalem Temple, 159.

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they looked forward to a new, renewed temple. Second, they turned their minds to the heavenly temple and cult. Third, they viewed their community as a replacement for the temple.“203 Soziologisch betrachtet finden wir in den Qumranschriften eine qualitativ andere Reaktion auf die durch Antiochus IV. ausgelöste Religions- und Kultkrise als in den anderen uns bekannten Dokumenten und Bewegungen.204 An die Stelle der andernorts zu beobachtenden Reformbemühungen ist hier die schroffe Ablehnung und der Boykott des Vorfindlichen und der Rückzug in die religiöse und soziale Isolation getreten.205 Die Kompensation des als defizitär bewerteten Jerusalemer Kultpraxis findet hier einen Ausdruck in Form der äußeren Emigration. Doch bei aller Distanz zum zeitgenössischen Jerusalemer Kult besitzt der Tempelkult „an sich“ auch in den Qumranschriften eine durchgängig positive Konnotation. „So fallen schroffste Kritik am bestehenden Tempel mit höchster Bejahung des Tempelkultes in eins.“206 2.3.6 Die Sibyllinen Auf eine sehr komplexe Entstehungsgeschichte blicken auch die Sibyllinischen Bücher zurück. Den eindeutig ältesten Teil dieser 14 Bücher umfassenden apokryphen jüdisch-christlichen Orakelsammlung stellen die jüdisch-hellenistischen Bücher III–V dar. In diesen Büchern, die ihre Endgestalt vor dem Bar Kochba-Aufstand erhalten haben und deren Ursprünge im ägyptischen Diasporajudentum liegen,207 gehen die ältesten Orakelsprüche auf das 2. und 1. Jh. v.Chr. zurück. 203

W ARDLE, Jerusalem Temple, 150; vgl. 1QS 5,5f.; 8,5–7; 9,3–6. Vgl. KLAWANS, Purity, 161: „[W]e have no reason to suppose from any of our sources regarding the Pharisees or Sadducees that either group rejected the temple in any way, at any time.“ 205 Während z.B. in PsSal 7,1 betont wird, dass die Gegenwart Gottes sich noch nicht vom Tempel entfernt hat und bei Ben Sira die großzügige Unterstützung des Tempels von den Lesern erbeten wird, vgl. Sir 35,10–12, wird z.B. in 1QpHab 7f.; CD 5,6 und 20,23 die endgültige Verunreinigung des zweiten Tempels konstatiert; vgl. auch KLAWANS, Impurity, 146f.152. 206 J. MAIER, Tempelrolle, 67f. Die positive Rolle des Kultes an sich zeigt sich v.a. in der Tempelrolle; vgl. J ANOWSKI und LICHTENBERGER, Enderwartung, 53: „In Form eines an Mose gerichteten Gotteswortes am Sinai beziehen sich ihre Bauanweisungen ‚nicht auf einen idealen Tempel der Zukunft, sondern auf den – nichtexistenten - Tempel der Jetztzeit, den nach der Landnahme zu erbauen Salomo versäumt hat‘.“ 207 Das älteste Stück der Sammlung ist nach MERKEL, Sibyllinen, 1059f, das 3. Buch. Als terminus post quem sieht er aufgrund von 3,46–62 die Jahre nach der Schlacht von Actium, 31 v.Chr. Das vierte Buch ist in seiner heutigen Gestalt in den 80er Jahren des 1. Jh. n.Chr. entstanden, da es in 4,116 und 4,125f. Hinweise auf die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und in 4,130–136 eine Anspielung auf den Ausbruch des Vesuv 79 n.Chr. gibt, MERKEL, a.a.O., 1064. Auch das fünfte Buch hat als terminus post quem die Tempelzerstörung. Die Endredaktion datiert MERKEL, a.a.O., 1065ff., schließlich in die Zeit 204

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So geht wahrscheinlich ein Großteil des dritten Buches inklusive aller Tempelbelege auf die Mitte des 2. Jh. v.Chr. zurück. Hier wird wiederholt das Jerusalemer Heiligtum erwähnt. Sib 3,652–731 erzählt von einem König, der ein Friedensreich mit einem imposanten Tempelbau errichtet. Allerdings schließen sich seine neidischen Nachbarkönige zum Krieg gegen Reich und Tempel zusammen (661ff.), werden jedoch durch feurige, vom Himmel fallende Schwerter Gottes vernichtet (671ff.) mit dem Resultat, dass die „Söhne Gottes“ fortan sicher um den Tempel wohnen (702f.) und in ihm einen eschatologischen Gottesdienst feiern (718f.). Während sich eine ähnliche Hochschätzung des Tempels auch im fünften Buch findet (Sib 5,397–407.414–433), ist der Ton im vierten Buch deutlich anders, bedingt durch seine Perspektive nach 70 n.Chr. Bereits in der Einleitung (Sib 4,8–11) wird postuliert, dass Gott keinen Tempel aus niedergesetzten Steinen hat, sondern einen himmlischen Tempel, den man mit menschlichem Auge freilich nicht sehen kann. In 4,24–30 werden dann jene gepriesen, die den großen Gott lieben und deshalb „alle Tempel, wenn sie sie sehen, verleugnen werden und Altäre, eitle Bauwerke aus tauben Steinen, befleckt mit dem Blut lebender (Wesen) und mit Opfern von Vierfüßlern“.208 Das vierte Buch überrascht mit einem eigentümlichen Schweigen in Bezug auf den Jerusalemer Tempel und einer Fundamentalkritik an allen Tempeln und Kulten. Eine Unterscheidung zwischen dem Jerusalemer Tempel und paganen Tempeln wird nirgendwo sichtbar. Das Buch kontrastiert diese mit der Vision eines himmlischen Tempels, der jedoch nicht auf die Erde herabkommt, sondern himmlisch bleibt.209 Zusammengefasst vereinen die Sibyllinen eine große Breite tempelkritischer Positionen mit unterschiedlichen Lösungsansätzen. 2.3.7 Targum Sach 6,12f. und Jes 53,5 Eine ganze Reihe weiterer frühjüdischer Texte bringt eine Kritik am bestehenden und die Hoffnung auf einen neuen eschatologischen Tempel zum Ausdruck,210 aber nur in sehr wenigen spielt der Messias bei diesem Neubau eine Rolle. Eindeutig ist dies nur bei den Targumen zu Sach 6,12f. und Jes 53,5.211 Hadrians. Zu den Einleitungsfragen vgl. auch COLLINS, Sibylline Oracles (OTP I), 317– 329, und DERS., Art. Sibylline Oracles (CRINT II/2), 357–381. 208 Übersetzung nach MERKEL, Sibyllinen, 1109f. 209 W ARDLE, Jerusalem Temple, 90f. 210 Vgl. Sach 14; Test Benj 9,2; Tob 13,10; 14,5b; AssMos 5,3f.; VitProph 10,8; 12,11ff.; Jos Bell 4,323; Ant 20,165f.; LibAnt 19,6f.; ApkAbr 27,2–5; BemR 15,10 und MekhY shirata X. 211 ÅDNA, Stellung, 76–86, möchte noch eine Reihe weiterer Targumbelege messianisch interpretieren, wie z.B. die Targume zu 2Sam 7,13/1Chr 17,12, und Sach 4,7, deren Aussagen allerdings keine sicheren Schlüsse zulassen.

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Im Targum Jonathan zu Sacharja findet eine Messianisierung bestimmter Belege statt, die in ihrer masoretischen Vorlage lediglich von einem „Spross“ (Sach 3,8; 6,12) bzw. einem „Scheitelstein“ (Sach 4,7) sprechen. Die bedeutendste Auslegung im Kontext des Tempelbaus ist TSach 6,12f: „Und du [sc. der Prophet Sacharja] sollst zu ihm [sc. dem Hohenpriester Josua, vgl. V. 11] sprechen und sagen: So spricht der Herr der Heerscharen: Siehe, der Mann, dessen Name der Messias ist, wird geoffenbart und aufgerichtet werden, und er wird den Tempel des Herrn bauen. Ja, er wird es sein, der den Tempel des Herrn bauen wird, und er wird im Glanz erhöht werden, und er wird auf seinem Thron sitzen und herrschen. Und es wird ein Hoherpriester auf seinem Thron sein, und es wird Friede zwischen den beiden sein.“212

Wir finden hier eine Art „Doppelspitze“ vor: Neben dem königlichen Messias sitzt auch in friedlichem Einvernehmen ein Hohepriester auf dem Thron.213 An die Stelle des masoretischen xm;c, ist im Targum jedoch der Begriff ax;yvim. getreten. Die im biblischen Text dem „Spross“ zugeschriebene Hauptaufgabe des Tempelbaus wird nun auf den Messias übertragen. Während die Thematik des Tempelbaus in TSach 6,12f. ebenso wie in T2Sam 7,13 und 1Chr 17,12 vom biblischen Text her vorgegeben war, ist dies in TJes 53,5 nicht der Fall, was diesem Beleg eine besondere Bedeutung verleiht, da die hier angekündigte Tempelbautätigkeit des Messias ohne Anhaltspunkt am masoretischen Text eingefügt wird: „Und er [sc. der Messias, vgl. TJes 52,13] wird das Heiligtum aufbauen, das entweiht wurde wegen unserer Sünde, ausgeliefert wegen unserer Ungerechtigkeiten. Und durch seine Lehren wird Friede zunehmen über uns, und dadurch, dass er seine Worte eifrig befolgt, wird uns unsere Sünde vergeben.“214

Die starke Abweichung von der masoretischen Vorgabe ist charakteristisch für die gesamte Wiedergabe des vierten Gottesknechtsliedes (Jes 52,13– 53,12). Der Targumist hat bereits an anderen Stellen die Auffassung zum Ausdruck gebracht, dass der Tempel durch die Sünde Israels entweiht ist (vgl. TJes 5,1–4; 28,9–13), was zum Rückzug der Shekhina Gottes aus dem Tempel führt (TJes 5,5; vgl. Ez 10,18f.; 11,22f.), die Zerstörung des Tempels nach sich zieht (TJes 5,5; 32,14; 63,17f.) und Israel ohne die Präsenz Jahwes in seiner Mitte sein lässt (vgl. TJes 57,17; 59,2). Dieser Zustand wird nach TJes 53,5 eben durch den Neubau des Tempels durch den Messias beendet.215

212

Übersetzung nach DALMAN, Aramäische Dialektproben, 12. Vgl. dazu auch TJer 33,21f.; T1Sam 2,35. 214 Übersetzung nach B ARRETT/THORNTON, Texte, 353f. 215 Zur Diskussion, ob TJes 53,5 als eine Glosse von TSach 6,12f. her zu verstehen ist vgl. ÅDNA, Stellung, 83f. 213

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2.3.8 Ergebnis Rückblickend ergeben sich zwei Hauptlinien der Kritik. Eine erste, sehr frühe Linie sah bereits in den bescheidenen Dimensionen des zweiten Tempels einen Ausdruck seiner Insuffizienz. In späterer Zeit liegt der Schwerpunkt der Kritik auf dem Eindruck der Verunreinigung durch eine kultisch inkompetente (Hohe)Priesterschaft, die nicht mehr den erwarteten Heiligkeitsstandards genügte und mangels ihrer Integrität das Volk nicht mehr heilswirksam vor Gott repräsentieren konnte. So scharf die Kritik hier auch formuliert wird, so sehr bringt sie gleichzeitig die hohen und ungebrochenen Erwartungen an das kultische System an sich zum Ausdruck. Die Hoffnungen auf einen Tempelneubau und die Forderungen nach Erfüllung hoher, ja höchster Heiligkeitsstandards seitens der amtierenden Priesterschaft spiegeln keinerlei Zweifel an der heilsvermittelnden Wirksamkeit des jüdischen Kultes und Tempels an sich wider. Die Kritik richtet sich immer nur gegen die „real existierende“ Wirklichkeit des Kultes, des Tempels und v.a. seines amtierenden Personals in frühjüdischer Zeit. 2.4 Die Kritiklosigkeit gegenüber dem Herodianischen Tempel In einem Beitrag zum Tempelneubau Herodes des Großen hat jüngst G. Faßbeck auf das erstaunliche Schweigen kritischer Stimmen zu diesem Neubauprojekt aufmerksam gemacht.216 Dies ist insofern bemerkenswert, als die gesamte nachexilische Geschichte vorher und auch die folgenden Jahrzehnte bis zum Jüdischen Krieg von dem oben skizzierten Lamento unterschiedlichster Stimmen im Blick auf den Tempel charakterisiert waren. Ausgangspunkt ihrer Beobachtung sind die beiden Berichte zum herodianischen Tempelneubau, die Flavius Josephus in seinen beiden Hauptwerken liefert (Bell 5,184–247; Ant 15,380–425). Während Josephus Herodes im Bellum relativ freundlich und wohlwollend zeichnet, lässt er in den ca. 20 Jahre später erschienen Antiquitates keine Gelegenheit aus, um Herodes als halbjüdischen Schurken auf dem Thron Israels zu präsentieren. Die Gründe für diesen auch für den Erstleser auffälligen Unterschied in der Charakteristik ein und desselben Herrschers sind in der unterschiedlichen Verfasserintention für die beiden Werke zu suchen. Während Josephus im Bellum eine Rehabilitation des Judentums und seiner Repräsentanten in den Augen der durch die Erinnerung an den Jüdischen Krieg negativ voreingenommenen römischen Öffentlichkeit intendierte,217 lag sein Interesse

216

FASSBECK, Nutzen, 222–249; umfassende Literaturhinweise zum herodianischen Tempelbau bietet sie ebd., 225, Anm. 9. 217 Vgl. MASON, Josephus und das Neue Testament, 127: „Im Bellum, wo es Josephus in erster Linie darum ging, die Juden als beispielhafte Bürger des römischen Weltreiches

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in den Antiquitates auf einer Qualifizierung der jüdischen Geschichte und ihrer Protagonisten am Maßstab der altehrwürdigen jüdischen Traditionen und Gesetze.218 Vor diesem Hintergrund war es nicht mehr schwer, Herodes als religiös inkonsequenten, menschlich skrupellosen und grausamen Despoten zu präsentieren. Im Licht dieser unterschiedlichen Intentionen ist es nicht verwunderlich, dass Josephus im Bellum von keinerlei Kritik oder Opposition zum Tempel und/oder den herodianischen Neubauplänen berichtet. Dagegen würde man in Anbetracht der negativen Darstellung des Herodes in den Antiquitates und in Kenntnis der frühjüdischen Tempelkritik für das Neubauprojekt ausgerechnet dieses Herrschers eine Klimax jener Kritik erwarten. Doch genau dies ist nicht der Fall. So sehr sich Josephus in seinem Spätwerk bemüht, Herodes bei jeder Gelegenheit als unberechenbaren, illegitimen und beim Volk verhassten Despoten erscheinen zu lassen, so wenig ist von kritischen Stimmen im Blick auf den Tempelneubau zu hören.219 Im Gegenteil preist Josephus hier sogar gegen den Trend seines Herodesbildes stets die gesetzeskonforme Ausführung des Tempelbaus.220 Dieses Bild in den Antiquitates entspricht nun aber auch dem bei Philo und dem der rabbinischen Schriften, „denn auch dort wird ein kritisches Herodesbild zusammen mit höchster Wertschätzung seines Tempels tradiert“.221 Möglicherweise profitiert Herodes bei dieser Wahrnehmung von der noch wesentlich negativeren frühjüdischen Bewertung der Hasmonäer: „Man gewinnt den Eindruck, als hätten sich die hasmonäischen Könige derart als prototypische Schurkenherrscher in das Bewußtsein mindestens oppositioneller Kreise eingebrannt, als seien ihre Verletzungen des Sakralrechts derart grundlegend gewesen, daß Herodes die hier gebotenen Negativrekorde kaum noch überbieten konnte.“222

zu präsentieren, um damit den Vorwurf der Misanthropie zu widerlegen, stellt er den berühmten König als Urbild eines Freundes und Verbündeten des römischen Volkes dar.“ 218 Vgl. wiederum M ASON, Josephus und das Neue Testament, 156f.: In den Antiquitates folgt die Darstellung der Regel, „daß es … gemäß den alten und ehrwürdigen Traditionen der Juden mit denjenigen, die von den Gesetzen abfallen, ein schlimmes Ende nimmt.“ 219 FASSBECK, Nutzen, 230–235. Lediglich am Ende der herodianischen Herrschaft ist in Ant 17,150 von einer gewaltsamen Demontage des goldenen Adlers vom Tempelgebäude die Rede. 220 FASSBECK, Nutzen, 234. 221 FASSBECK, Nutzen, 235f.; vgl. bBB 3b-4a. 222 FASSBECK, Nutzen, 237f. Wenn SNODGRASS, Tempel Incident, 472, die Tempelaktion Jesu auf dem Hintergrund antiherodianischer Ressentiments erklären will – „Clearly there was dissatisfaction with the Herodian temple, if for no other reason than that Herod, someone not from a Davidic line, built it“ –, so trifft dies gerade nicht zu.

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Als Erklärung für dieses Schweigen weist Faßbeck auf die gewaltigen Dimensionen dieses Neubaus hin,223 in denen sich Herodes trotz der Übernahme der römischen Kaisareionarchitektur eschatologischen Tempelentwürfen des zeitgenössischen Judentums näherte, wie sie z.B. in der in Qumran gefundenen Tempelrolle sichtbar werden.224 Dort ist wie schon bei Ezechiel von einem quadratisch angelegten Tempelbezirk mit einer Seitenlänge von 500 x 500 Ellen die Rede.225 Faßbeck zieht daraus das Fazit, dass sich Herodes bei seinem Tempelbau „an Maßgaben gehalten [hat], wie sie möglicherweise auch in eschatologisch orientierten Gruppierungen vertreten wurden, die in Opposition zum hasmonäischen Heiligtum standen. Auf einem solchen Hintergrund würde es verständlich, daß der herodianische Tempelbau offenbar auch von den Gruppen unangefochten blieb, die sich vom hasmonäischen Tempel mit seinem Kultbetrieb losgesagt hatten und dem von Gott herbeizuführenden neuen Äon entgegenblickten.“226 Wenn Faßbeck mit ihrer Deutung der literarischen Quellen und archäologischen Befunde Recht hat, profiliert das zeitgenössische Wohlwollen gegenüber Herodes‘ Tempelkonzeption vice versa die seit nachexilischer Zeit bestehende Kritik an der Insuffizienz des zweiten Tempels und seiner dürftigen Erscheinung. Herodes wäre zumindest an diesem Punkt in geschickter Weise den Erwartungen tempelkritischer Kreise entgegen gekommen. 223

Nach Josephus Bell 1,401, wurde unter Herodes dem Großen die Fläche des ummauerten Tempelareals verdoppelt und zahlreiche Nebengebäude wie die königliche Halle und die Burg Antonia errichtet. Durch die Erhöhung des inneren Heiligtums von 40 auf 100 Ellen, vgl. Jos Ant 15,385, die Verbreiterung der Vorderfront auf ebenfalls 100 Ellen, Bell 5,207, und die Errichtung von mächtigen Torbauten gewann der Tempel ein imposantes Äußeres, dessen Beschreibung Josephus in Bell 5,184–247 einen gesamten Abschnitt widmet. 224 FASSBECK, Nutzen, 245; vgl. LICHTENBERGER, Baupolitik, 141f.; MAIER, Art. Temple (EncDSS), 925f. In der Tempelrolle wird in 11Q19 2–13 und 30–47 in Form einer direkten Weisung Gottes an Mose detailliert ein Heiligtum für die zwölf Stämme Israels beschrieben. Es handelt sich dabei um einen literarischen Bauplan für einen idealen Tempel, den die Israeliten nach der Landnahme hätten bauen sollen, und der wohl als Plan für ein eschatologisches Heiligtum gedacht ist. Die Anlage hat eine konzentrische Struktur verschiedener Heiligkeitsbereiche, die vom innersten Bereich des Allerheiligsten nach außen hin an Heiligkeit abnehmen, vgl. MAIER, Art. Temple (EncDSS), 925; sowie GARCÍA MARTÍNEZ, Art. Temple Scroll, 927–933. 225 Auch mMid 2,1 spricht von 500 x 500 Ellen, was einer Seitenlänge von jew. ca. 250 m und einem Umfang von 1.000 m entspricht. Josephus, Ant 15,400, berichtet von einem Umfang von vier Stadien, d.h. 800 m, und in Bell 5,192, von sechs Stadien, was 1.200 m entspricht. Archäologische Ausgrabungen haben sogar einen Umfang von 1.550 m ergeben, LEVINE, Art. Temple, Jerusalem, 1283. 226 FASSBECK, Nutzen, 245.

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3 Ergebnis 3 Ergebnis

Blickt man zurück, so lassen sich bei aller Vorsicht und in Anbetracht der äußerst lückenhaften Quellenlage, der Begrenztheit historischer Informationen zu dieser Epoche und der Unsicherheiten in der Datierung und Verortung der in der Regel undatierten und anonymen bzw. pseudepigraphen frühjüdischen Schriften doch einige vorsichtige Schlussfolgerungen formulieren: (1) Zunächst gilt es festzuhalten, dass wahrscheinlich nur eine Minderheit der frühjüdischen Gesellschaft dem Jerusalemer Tempel und seiner Priesterschaft kritisch gegenüber stand. Das Problem ist, dass sich die Größe dieser Minderheit kaum bestimmen lässt. Neben den Schriften des yaḥad und Schriften, die aus dem Milieu dieser Bewegung stammen, bleiben die Autoren vieler kritischer Stimmen im Dunkeln. Lediglich die Bauherren der frühjüdischen Alternativtempel lassen sich relativ präzise bestimmen. Umgekehrt wird sich aber im nächsten Kapitel zeigen, dass weder das sadduzäische „Tempelestablishment“ noch das Diasporajudentum eine kritische Haltung zu Tempel und Priestertum hatte. Wir werden zwar hier und dort eine gewisse Gleichgültigkeit beobachten bzw. eine verbreitete Haltung, welche die Heilsvermittlung nicht mehr allein von den Institutionen des Tempels, der Opfer und des Priestertums erwartete. Aber eine Ablehnung ist das noch nicht. Welche Gruppierungen sich auch immer hinter den vielen anonymen Stimmen verbergen, die Kritik selbst scheint ihren Ursprung bereits in der Enttäuschung über den verglichen mit dem salomonischen Tempel armseligen Neubau des Heiligtums gehabt zu haben (Esra, Haggai, evtl. Tobit). Diese These wird auch durch die Beobachtung gestützt, dass die Kritik im Zuge der umfassenden herodianischen Restaurationsmaßnahmen merkwürdigerweise abreist. Da dieses Schweigen der Kritiker nicht mit der Frömmigkeit oder moralischen Autorität Herodes des Großen zusammenhängen kann, wird man es auf die neu erstandene Pracht des Tempels zurückführen müssen, der nun dem Anspruch, ein „Haus Gottes“ zu sein, wesentlich deutlicher gerecht wurde. In Esr 9–10; Neh 10,31; 13,23–29 wird zum ersten Mal die Problematik illegitimer Mischehen v.a. bei Priestern und Leviten thematisiert. Dieser Konflikt prägte mit unterschiedlichen Hintergründen die Priesterkritik der folgenden Jahrhunderte. Durch die Ereignisse des Kulturkampfes unter Antiochus IV. Epiphanes, dem Makkabäeraufstand und der Machtergreifung der Hasmonäer kommt es im 2. Jh. zu tiefgreifenden Verwerfungen in der jüdischen Gesellschaft. Die ab den 60er Jahren des 2. Jh. stattfindende Fraktionierung der jüdischen Gesellschaft in unterschiedliche Religionsparteien hat ihren

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zentralen Ausgangspunkt im Ringen um die Kontrolle des Tempels,227 was sich in einer deutlichen Intensivierung, Diversifizierung und Personalisierung der antipriesterlichen Kritik (CD, 1QpHab, TestLev) spiegelt. Neu in den Fokus der Kritik rücken nun die hasmonäischen Hohepriester-Könige. Ihr negatives Image strahlt auf das gesamte Priestertum ab, so dass die moralischen Vergehen eines Hohepriester-Königs der gesamten Priesterschaft angelastet werden konnten. Die Brisanz der Konflikte lag darin begründet, dass „at the heart of this critique was a fear that a defiled priesthood would result in a polluted temple and inefficacious sacrifices“.228 Die defizitäre Integrität tangierte auch die Qualität des priesterlichen Dienstes und letztlich die Wirkung ihres repräsentativen Seins und mittlerischen Handelns. Eine weitere Zäsur markierte die pompeianische Eroberung Jerusalems im Jahre 63 n.Chr. In den Psalmen Salomos wird die Ernüchterung über den Verlust der Unabhängigkeit und die Verunreinigung des Heiligtums aufgrund der Besichtigung durch den Heiden Pompeius mit den bekannten, mittlerweile stereotypen Vorwürfen gegen die Priesterschaft verknüpft. Im Ganzen erscheint die frühjüdische Kritik an der Priesterschaft als eine schleichende Eskalation: Während die Kritik in der nachexilischen Zeit den Charakter einer Desillusionierung hatte, erwuchs daraus in den durch Antiochus und Pompeius ausgelösten Krisen eine Ablehnung und schließlich Opposition. (2) Priesterschaft und Tempel erfahren eine sehr unterschiedliche Bewertung im frühjüdischen Schrifttum. Während bei der Kritik gegen die Jerusalemer Priesterschaft eine sich verschärfende und letztlich zu verschiedenen Schismen führende Polemik ins Auge sticht, die schließlich zu einer Totalablehnung des Priestertums führte, wird der Tempel grundsätzlich mit großer Wertschätzung behandelt. Kritik am Tempel hat durchweg relativen oder indirekten Charakter, d.h. er wird im Vergleich mit dem salomonischen Tempel oder dem eschatologischen oder himmlischen Tempel als minderwertig qualifiziert oder als „Opfer“ priesterlicher Unreinheit und Beschmutzung gesehen (Esra, Haggai, Tobit, äthHen, Sib 4). (3) Die Träger der Kritik sind zu Beginn der nachexilischen Zeit noch in prophetischen Kreisen beheimatet gewesen (Haggai, Esra, Maleachi). Je länger je mehr scheinen die Kritiker aus den Reihen der Priesterschaft selbst gekommen zu sein, wobei die zunehmende Konkurrenz und Antagonie zwischen Priestern und Leviten eine wesentliche Rolle gespielt haben dürfte. Für die Qumranschriften ist der priesterliche Hintergrund evident, aber auch hinter den anderen Schriften lassen sich priesterliche Kreise in und um Jerusalem bzw. Judäa vermuten. Es ist bemerkenswert, 227 228

So die These von B AUMGARTEN, Flourishing of Jewish Sects, 69. W ARDLE, Jerusalem Temple, 95.

3 Ergebnis

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dass wir in keiner eindeutig diasporajüdischen Schrift einen Widerhall dieser Kritik finden. Wardle zieht das Fazit: „Thus, in terms of geographical and socio-economic proximity to the temple and its presiding priesthood, the closer one was to the center, the sharper the critique.“229 Allerdings hat umgekehrt M. Tuval darauf aufmerksam gemacht, dass das unkritische Schweigen diasporajüdischer Schriften zum Tempel, Priestertum und Kult nicht einfach als kritiklose Zustimmung gewertet werden darf. Es dürfte vielmehr ein Ausdruck der wachsenden Irrelevanz des Jerusalemer Kultes für das Diasporajudentum sein.230 G. Bohak weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Jerusalemer Tempel sowohl eine zentripetale als auch eine zentrifugale Kraftwirkung entfaltete.231 Dies hing zunächst einmal mit seiner konkurrenzlosen Alleinstellung zusammen. Die israelitisch-jüdische Kultzentralisation war einerseits die Voraussetzung für die immense religiöse und nationale Integrationskraft des Jerusalemer Heiligtums. Andererseits musste aber jegliche Kritik an ihm und seinem Priestertum zwangsläufig ausgrenzend und stigmatisierend auf die Kritiker zurückschlagen. Während es in anderen antiken Kulturen eine Vielzahl von Tempeln gab, an denen sich unterschiedliche Tempeltheologien und -liturgien entwickeln und nebeneinander her existieren konnten, musste die Kultzentralisation auf ein Heiligtum zu ständigen Konflikten im Blick auf die richtige Form des Kultvollzugs führen: „A nation with only one Temple could afford no mistakes in its priests‘ performance of that Temple’s rituals, and every tiny detail assumed enormous significance on the national scale.“232 Je größer deshalb die Bedeutung dieser Institution wurde, umso polarisierender musste ihre Wirkung für die unterschiedlichen theologischen und politischen Kräfte des zeitgenössischen Judentums werden. Die Polarisierung des Judentums über dem Konflikt um Tempel und Priestertum und die vielfältigen Bemühungen, entweder die defizitäre Kultpraxis oder die räumliche Distanz zum Tempel in der Diaspora zu kompensieren und ein „Sein vor Gott“ jenseits der priesterlichen Mediation zu etablieren, ist Gegenstand des nächsten Kapitels.

229

W ARDLE, Jerusalem Temple, 95. T UVAL, Paradigms, 186f. 231 B OHAK, Theopolis, 4. 232 B OHAK, Theopolis, 15. 230

Kapitel IV

Der priesterliche Kult in den Strömungen des Frühjudentums In ihrer 2006 erschienen Studie mit dem Titel „A Kingdom of Priests“ entfaltet M. Himmelfarb die These, dass die in der Exodusformel angelegte Spannung zwischen einem aus dem Volk herausgehobenen, auf dem hereditären Prinzip der Abstammung von einem Stamm bzw. einer Familie basierenden Erbpriestertums und der Identifikation des gesamten Volkes als eines „Königreichs von Priestern“ den Grundkonflikt der jüdischen Geschichte jener Epoche bilde – und das, obwohl Ex 19,6 weder in der Literatur der Epoche des zweiten Tempels noch in der rabbinischen Literatur eine große Rolle spielt.1 Entsprechend lautet auch der Untertitel ihres Buches „Ancestry and Merit in Ancient Judaism“. Der Konflikt ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass das levitische Erbpriestertum grundsätzlich in Frage gestellt worden wäre. Hierzu waren die auf göttlicher Offenbarung beruhenden Ordnungen der Tora völlig unumstritten. Der Konflikt entstand vielmehr an den gemessen an eben dieser Tora augenscheinlichen kultischen wie ethischen Defiziten des zeitgenössischen Priestertums und seiner Kultpraxis. Mit diesen Defiziten ging ein Verlust der priesterlichen Integrität einher, die wiederum das kultische System als Ganzes in Mitleidenschaft zog. Denn durch die mangelhafte Integrität der Priester wurde in den Augen vieler Gruppierungen in jener Epoche der Tempel selbst verunreinigt, was wiederum die Wirksamkeit der sühnenden Opfer beeinträchtigte und damit letztlich die heilvolle Existenz des Volkes vor Jahwe bedrohte und in Frage stellte. Als Reaktion auf diese Missstände gab es eine Reihe sehr unterschiedlicher Anstrengungen – in diesem Sinne ist Himmelfarbs „based on merit“ zu verstehen –, um die beklagte Unzulänglichkeit und das zumindest postulierte Versagen des Jerusalemer Priestertums zu kompensieren. Die verschiedenen Formen dieser Kompensation verfolgten sehr unterschiedliche Ziele. Teils hatten sie die Absicht, eine alternative Heiligkeit bzw. ein nicht auf sühnenden Opfern der Jerusalemer Priester gegründetes „Sein vor Gott“ herzustellen, teils ging es um radikale Neuanfänge der Heilsgeschichte, um die Mediation von Sündenvergebung jenseits des priesterlichen Kultes, oder auch lediglich darum, das „Sein vor Gott“ in der räumlich-geographischen Distanz der Diaspora zu ermögli1

HIMMELFARB, Kingdom, 1.10.

180

Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

chen. Die Tatsache, dass das Judentum die Katastrophe nach 70 n.Chr. überlebte, basiert in erheblichem Maße auf eben diesen Anstrengungen in den Jahrhunderten vor dem Jüdischen Krieg. Eine These dieser Untersuchung ist es nun, dass auch die im Neuen Testament zu beobachtenden Prozesse einer Metaphorisierung und Verallgemeinerung des Priestertums eine Vorlage in diesen vielfältigen frühjüdischen Bemühungen haben. Ihre Grundlage haben sie dagegen im als Offenbarung Gottes verstandenen Kommen, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Deshalb sollen im Folgenden die verschiedenen Religionsparteien (Sadduzäer, Qumrangemeinschaft, Pharisäer und die prophetischen Erneuerungsbewegungen), die literarischen Zeugen jener Epoche (die priesterliche Levi-Tradition, Flavius Josephus und Philo) sowie das Diasporajudentum und ihre jeweilige Sicht des Priestertums und ihre Bemühungen um alternative Formen des „Seins vor Gott“ jenseits der priesterlichen Mediation Gegenstand der Untersuchung sein. Anders als für die vorexilische, exilische und frühnachexilische Zeit sind die Bedingungen für eine Untersuchung jener Spannungen und Konflikte in der Epoche des zweiten Tempels ungleich günstiger. Dies liegt nicht unbedingt an einer besseren Quellenlage, phasenweise gilt in dieser Hinsicht eher das Gegenteil. Aber mit Flavius Josephus kommt ein Zeuge hinzu, der zwar nicht unparteiisch ist, aber doch in einer erstaunlichen Genauigkeit und Stringenz die jüdische Geschichte erschließt, und als ständige Referenz dient.

1 Die Sadduzäer und das Priestertum 1 Die Sadduzäer und das Priestertum Beim Verhältnis der Sadduzäer zum Priestertum in frühjüdischer Zeit stellt sich dasselbe Problem wie beim Thema „Sadduzäer“ als solchem: Es fehlen aussagekräftige Quellen.2 Da keine Selbstzeugnisse dieser Religionspartei existieren, bleiben, um ein Bild von ihnen zu gewinnen, lediglich die kritischen bis polemischen Informationen von Außenstehenden, wie z.B. dem sich selbst als Pharisäer bezeichnenden Priester Josephus,3 den wenigen Erwähnungen im Neuen Testament und in der rabbinischen Literatur und einige wenige Erwähnungen bei den Kirchenvätern (vgl. besonders Hippolyt Ref 9,29,1–4), die

2

Verschiedentlich wurde erwogen, ob nicht Schriften wie das 1. Makkabäerbuch, das Sirachbuch, Judith, der Targum Ruth und andere frühjüdische Schriften den Sadduzäern zuzurechnen sind, doch konnte sich keine dieser Identifikationen durchsetzen, vgl. STEMBERGER, Art. Sadducees (EDEJ), 1179. 3 Die Sadduzäer sind bei Josephus völlig profillos und tendenziell negativ gezeichnet, vgl. Ant 18,288–298, sowie STEMBERGER, Pharisäer, 15.

1 Die Sadduzäer und das Priestertum

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jedoch häufig vom kritischen Bild der ntl. Evangelien geprägt sind.4 Spätere rabbinische Texte „are full of clichés and do not reveal reliable new information.“5

Die Ursprünge der Sadduzäer lassen sich ähnlich wie bei den beiden anderen jüdischen Religionsparteien, die Josephus in seinen sog. „DreiSchulen-Berichten“ als die bestimmenden Kräfte der jüdischen Gesellschaft in den Jahrhunderten vor und nach der Zeitenwende vorstellt, nicht mit letzter Sicherheit bestimmen.6 Vermutlich geht auch die Formierung der Sadduzäer auf die Ereignisse im Anschluss an die Religionskrise unter Antiochus IV. Epiphanes, den Makkabäeraufstand und die hasmonäische Verquickung des königlichen und hohepriesterlichen Amtes zurück.7 Der Parteiname „Sadduzäer“ leitet sich wahrscheinlich von „Zadok“ ab,8 was insofern irritierend ist, als sich die Sadduzäer mit der hasmonäischen, de facto nicht-zadokidischen Herrscherdynastie arrangierten. Dies unterschied sie beispielsweise von dem sich möglicherweise auf seine zadokidische Abstammung berufenden „Lehrer der Gerechtigkeit“ aus den Qumranschriften, von dem in der josephinischen „Schulanekdote“ auftretenden Pharisäer Eleazar (Ant 13,288–298) und auch von Onias IV., der in Leontopolis einen Alternativtempel gründete.9 Damit ist nicht automatisch gesagt, dass die Sadduzäer die hasmonäische Ämterverquickung befürworteten, sondern lediglich die Tatsache beschrieben, dass sie unabhängig von der legitimen hohepriesterlichen Erbfolge der religiösen Bedeutung von Tempel und Land oberste Priorität einräumten. Möglicherweise fiel an der Wiege der Sadduzäer die macchiavellistische Entscheidung, sich anstelle eines weiteren Bürgerkrieges mitsamt seinen unwägbaren Risiken mit der hasmonäischen Herrschaft abzufinden, um auf diese Weise das Überleben 4

Eine ausführliche Einführung in diese Quellen findet sich bei STEMBERGER, Pharisäer, 10–64. 5 STEMBERGER, Art. Sadducees (EDEJ), 1179; vgl. DERS., Sadducees, 428f. 6 Diskutiert werden neben einer Entstehung in der Makkabäerzeit auch spätere Termine unter Johannes Hyrkan (135–104 v.Chr.) und sogar unter Herodes dem Großen, vgl. dazu STEMBERGER, Sadducees, 430–433, der letztlich, a.a.O., 433, zu dem Schluss kommt: „Thus, the origin of the Sadducees must be considered to be unknown. Neither the theory of their rise in the Maccabaean period nor that of their origin in the Herodian period can be proved with absolute certainty.“ 7 W EISS, Art. Sadduzäer, 590. STEMBERGER, Art. Sadducees (EDEJ), 1180, geht von prämakkabäischen Ursprüngen aus, doch greifbar werden sie erst in der Folge des Makkabäeraufstandes. MAIER, Mensch, 136–144.151–164, bes. 158.163, vermutet, dass Jesus Sirach als ein „Sadduzäer der frühen Zeit“ eine Art „Lehrmeister“ der späteren Sadduzäer war. 8 B AMMEL, Sadduzäer, 117f.; B AUMBACH, Konservativismus, 202f.; WEISS, Art. Sadduzäer, 590; vgl. zu den verschiedenen Alternativen STEMBERGER, Sadducees, 430–433. 9 B AMMEL, Sadduzäer, 118, vermutet im Anschluss an W ELLHAUSEN und HÖLSCHER hinter dem Begriff „Sadduzäer“ sogar einen Spottnamen, „der denen angeheftet wurde, die das Gegenteil von dem waren, was er eigentlich aussagt.“

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

bzw. den Bestand von Volk und Land, vor allem aber von Stadt, Tempel und den eigenen Lebensgrundlagen zu sichern.10 Jedenfalls erhoben die am Jerusalemer Tempel verbliebenen Priester nach der Emigration Onias IV. den Anspruch, die einzig legitimen Zadok-Nachfolger zu sein.11 Aus den sich von genealogischen Ansprüchen herleitenden Zadokiden wurden die Sadduzäer, deren Name freilich nur noch eine Standesbezeichnung war.12 Josephus lokalisiert ihre Anhängerschaft im Milieu der Jerusalemer (Priester)Aristokratie (Ant 13,298; 18,16f.).13 Diese soziologische Bestimmung gilt heute zumindest für den Kern der Sadduzäer als Forschungskonsens, wobei neben den einflussreichen Jerusalemer Familien auch hohe Beamte und Schriftgelehrte dazugerechnet werden dürfen.14 Allerdings ist die weitverbreitete Auffassung, dass die Hohepriesterfamilien samt und sonders Sadduzäer gewesen seien,15 bis auf zwei Ausnahmen16 nicht belegbar. Die Sadduzäer dürfen daher auch nicht einfach als „Priesterpartei“ angesprochen werden, zumal weder bei Josephus noch in 10

B AUMBACH, Konservativismus, 204–209; WEISS, Art. Sadduzäer, 590f.; HOPPE, Religionsparteien, 63. 11 FABRY, Zadokiden und Aaroniden, 216. 12 HOPPE, Religionsparteien, 62. Falls die Boethianer tatsächlich von den zadokidischen Oniaden abstammen sollten, wäre dies eine (letzte?) Revitalisierung des sadduzäischen Ideals eines zadokidischen Hohepriesters in einem jüdischen Tempelstaat gewesen. 13 Zu den Gründen vgl. SANDERS, Judaism, 318. 14 DEINES, Art. Pharisäer (TBLNT²), 1459, sieht aufgrund von Jos Ant 13,298 den Einfluss der Sadduzäer auf die Vermögenden begrenzt. GUSSMANN, Priesterverständnis, 68–70, Anm. 152, und STEMBERGER, Art. Sadducees (EDEJ), 1180, geben einen Überblick über die aktuell diskutierten soziologischen Provenienzen der Sadduzäer. Die Vermutungen reichen von einer Anhängerschaft der Hannas-Familie, über Angehörige der zadokidischen Boethos-Familie, Nachfahren der Zadokiden-Linie, einer zadokidischen Priestermajorität am Tempel (nachdem die eigentlichen Zadokiden ein Alternativheiligtum in Leontopolis gründeten), Parteigänger der zadokidischen Priesteraristokratie bis zu einer Oppositionspartei gegen die Hasmonäer. 15 So z.B. SCHÜRER/VERMES, History II, 235.414; B AUMBACH, Konservativismus, 208f., und HOPPE Religionsparteien, 62. STERN, Aspects, 610–612, vertritt jedoch die Auffassung, dass sich die Familien des Hannas, Boethos und möglicherweise auch Phiabi in den Jahrzehnten vor Ausbruch des Krieges weitgehend mit den sadduzäischen Auffassungen identifiziert und häufig gemeinsame Interessen vertreten hätten, vgl. Act 4,1; 5,17. B AMMEL, Sadduzäer, 118f., vermutet hinter der herodianischen Religionspolitik eine bewusste Instrumentalisierung der zadokidischen Nachfahren des legitimen Hohepriestergeschlechts, um damit seine Machtposition gegenüber den Hasmonäern und ihren Anhängern zu festigen. 16 Josephus, Ant 13,296, erwähnt, dass Johannes Hyrkanos I., hasmonäischer Hohepriester-König von 134–104 v.Chr., Sadduzäer geworden sei, nachdem er die Pharisäer verlassen hatte. Auch Ananos/Hannas, der im Jahr 62 n.Chr. das Amt in harter und strenger Weise führte, wird in Ant 20,199 als Sadduzäer bezeichnet. Nach HENGEL/DEINEs, Common Judaism, 474, scheint dies von Josephus allerdings eher als „Auffälligkeit“ gewertet worden zu sein.

1 Die Sadduzäer und das Priestertum

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den patristischen Texten auch nur ein Priester erwähnt wird.17 Vielmehr dürfte Sanders mit seiner Formel der historischen Wirklichkeit am nächsten kommen: „Not all aristocrats were Sadducees, but it may be that all Sadducees were aristocrats.“18 Und weil diese Form der Aristokratie maßgeblich auf einer angesehenen priesterlichen Abstammung beruhte, wird man sicher nicht fehl gehen, den Kern des Sadduzäismus in der Priesteraristokratie zu suchen, ohne dass man im Gegenzug alle Priester im sadduzäischen Milieu verorten darf. Dass die Sadduzäer in den Quellen fast durchgängig in einer Opposition zu den Pharisäern geschildert werden, lässt vermuten, dass sie in zahlreichen strittigen Fragen die gegenteilige Position der Pharisäer vertraten.19 Während sich die Pharisäer als nicht-priesterliche Volksbewegung profilierten, scheinen sich die Sadduzäer als eine elitäre, aristokratische Interessengemeinschaft ganz auf Jerusalem und den Tempelbetrieb konzentriert zu haben (vgl. Jos Ant 13,297f.).20 Dieser lokal begrenzte Einfluss war in Jerusalem freilich erheblich. Saldarini vermutet hinter ihnen eine etablierte, respektierte und gut organisierte Gruppe,21 die nicht umsonst von den Römern als erste Ansprechpartner des damaligen Judentums betrachtet wurden. Den römischen Interessen kam es sehr entgegen, dass das 17

STEMBERGER, Sadducees, 433. SANDERS, Judaism, 318. Für die Mehrheit der hohepriesterlichen Familien mag eine Nähe zu den Sadduzäern sicher den Tatsachen entsprochen haben, vgl. Act 5,17. STERN, Aspekts, 609–612, ähnlich STEMBERGER, Sadducees, 434, vermutet dies v.a. für die Familien des Boethos – die Bezeichnungen „Boethusianer“ und „Sadduzäer“ waren austauschbar, vgl. Avot Rabbi Natan, Version A, 5; Version B, 10 – und des Hannas. Dennoch war das Amt prinzipiell unabhängig von einer bestimmten theologischen Überzeugung. Dass Josephus nur zweimal die Zugehörigkeit eines Hohepriesters zu den Sadduzäern erwähnt, Ant 13,296; 20,199, sollte zur Zurückhaltung mahnen. 19 In der Literatur werden sie im Anschluss an die „Drei-Schulen-Berichte“ bei Josephus häufig als die Rationalisten und Skeptiker des antiken Judentums bezeichnet, die in nahezu atheistischer Manier jegliches göttliche Eingreifen in die Immanenz – beispielsweise durch Engel – ebenso wie jede Auferstehungshoffnung leugneten. Dies sind freilich moderne Kategorien, die einer jüdischen Religionspartei jener Zeit kaum gerecht werden dürften. Tatsächlich wird den Sadduzäern in jenen spannungsvollen Zeiten um die Zeitenwende an einer offenbarungstheologischen Nüchternheit gelegen gewesen sein. Auch hinter der Leugnung der Auferstehungshoffnung wird sich in erster Linie die überkommene Auslegung der heiligen Schriften verbergen, die von einer Existenz der Toten im Scheol spricht. Eine Auferstehungshoffnung ist atl. in verhältnismäßig wenigen und in der Regel späten Belegen bezeugt; vgl. SALDARINI, Pharisees, 304, und STEMBERGER, Sadducees, 440f.; DERS., Art. Sadducees (EDEJ), 1180f. Zur Frage der Willensfreiheit im Sadduzäismus vgl. MAIER, Mensch, 113–164. 20 Zu den theologischen und kultischen Überzeugungen der Sadduzäer vgl. die Zusammenfassung bei STEMBERGER, Art. Sadducees (EDEJ), 1180f.; DERS., Sadducees, 435–442. 21 SALDARINI, Pharisees, 302. 18

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

sadduzäische Interesse und Wirken der Bewahrung von Stadt und Tempel und einer relativen Autonomie galt. Hier fanden die Römer den Ansatzpunkt für ihre erfolgreiche Kolonialpolitik. Die theologisch-ideologische Fundierung des sadduzäischen Anliegens sieht Weiss in einer „nationalpartikulare[n] Tempelstaatsideologie, die sich mit einer konservativen Religiosität [einerseits], andererseits aber auch mit einer aufgeschlossenen Haltung gegenüber kulturellen Einflüssen des Hellenismus verband“.22 Entsprechend schwierig war es für die Sadduzäer, ihre Interessen zu verfolgen. Sie mussten sich einerseits bemühen, das Vertrauen der römischen Besatzungsmacht zu erlangen und zu bewahren, andererseits durften sie innerjüdisch nicht als Kollaborateure erscheinen. Dieser politische Spagat konnte nicht auf große öffentliche Sympathien hoffen, war aber machtpolitisch über Jahrzehnte hinweg erfolgreich. Folglich besaßen die Sadduzäer zwar politisch gesehen den größten Einfluss, aber ihr Ansehen konnte noch nicht einmal annähernd mit der Popularität der Pharisäer konkurrieren, die sich umgekehrt – so darf man wohl schließen – nicht ganz unmaßgeblich aus den Vorbehalten gegenüber dem aristokratischen Elitarismus der Sadduzäer und dem religiösen Exklusivismus der Essener speiste. Die von der Mehrheit des zeitgenössischen Judentums abgelehnte, auf Kompromisse angelegte und auf Staatsräson beruhende Realpolitik der Sadduzäer wird allerdings gänzlich aus ihrem im eigentlichen Sinne des Wortes konservativen, d.h. „bewahrenden“ Bestreben verständlich. Aus der Perspektive einer solchen Wertehierarchie ist es nicht verwunderlich, dass mit dem Ende der Stadt und des Tempels auch die Sadduzäer aufhörten zu existieren. Ziel und Sinn ihrer Politik waren buchstäblich zu Bruch gegangen. Das Verhältnis der Sadduzäer zum Priestertum war, soweit sich das aus den Quellen rekonstruieren lässt, vom Erhalt des status quo und den kultischen Institutionen geprägt. Die (Hohe)Priester am Jerusalemer Tempel hatten – sofern sie solche überhaupt brauchten – in den Sadduzäern zweifellos ihre stärksten Lobbyisten, ohne dass die Priester umgekehrt alle Sadduzäer gewesen wären.23 Die Bewegung war daher in keiner Weise an Alternativen zum priesterlichen Kult interessiert. Die Mediation göttlichen Heils durch das aaronidisch-levitische Erbpriestertum war für sie alternativlos und angesichts der politischen Umstände und trotz der beschriebenen Defizite die beste aller 22

WEISS, Art. Sadduzäer, 591, vgl. auch B AUMBACH, Konservativismus, 210f. Nach allem, was wir aus den Quellen – v.a. aus ihrem Schweigen – über die Jerualemer Priesterschaft der Zeitenwende erfahren, war diese in religiöser Hinsicht keine homogene Gruppe. Vielmehr dürfte die Priesterschaft selbst als eine Folge der politischen Umwälzungen des 2. Jh. v.Chr. ein Spiegelbild der religiösen Pluralität des Frühjudentums vor dem Jüdischen Krieg gewesen sein, so SALDARINI, Pharisees, 307. 23

2 Das Priestertum in den Qumranschriften

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möglichen Optionen. Diese Perspektive war ein wesentlicher Grund für die Kontroversen mit nahezu allen anderen devianten Gruppierungen des Frühjudentums.

2 Das Priestertum in den Qumranschriften 2 Das Priestertum in den Qumranschriften

Auch nunmehr bald 70 Jahre nach der Entdeckung der Qumranschriften warten noch viele Rätsel auf eine Lösung. Dennoch ist in den letzten Jahrzehnten in der Forschung ein Bild der Zusammenhänge entstanden, das zwar nach wie vor umstritten ist, dessen Grundkonturen aber dennoch auf einem breiten Forschungskonsens beruhen. Dieser trotz aller formulierten Anfragen und Alternativdeutungen nach wie vor gültige Forschungskonsens24 sieht am Anfang der Bewegung, der wir die Qumranschriften mit ihrem originären theologischen Programm verdanken, eine priesterliche jüdische Separationsbewegung.25 Diese trennte sich wahrscheinlich in Folge der Okkupation des hohepriesterlichen Amtes durch den hasmonäischen Herrscher Jonathan (152 v.Chr.)26 vom Jerusalemer Priestertum und gründete jene Gemeinschaft, aus der wiederum nach einer ersten Formierungsphase im „Lande Damaskus“ (CD 6,5.19; 7,19; B 19,33) die Gruppe hervorging, welche die Siedlung am Nordwestufer des Toten Meeres errichtete, die heute als Khirbet Qumran bekannt ist.27 24

Einen kurzen Überblick über die vier wesentlichen Entstehungstheorien bietet LICHTENBERGER, Art. Qumran, 66. 25 Die Hintergründe dieser Bewegung bleiben in den vorhandenen Quellen im Dunkeln. Nach der Rekonstruktion von STEGEMANN, Essener, 198–204, bildete sich der yaḥad unter priesterlicher Führung aus der Vereinigung unterschiedlicher Vorläufergruppen mit antihellenistischer, asidäischer, weisheitlicher und evtl. auch henochitischer Prägung. 26 Vor allem im Pescher Habakuk wird immer wieder deutliche Kritik an einer Einzelperson, dem sog. „Frevelpriester“, 1QpHab 1,13; 8,8; 9,9; 11,4; 4Q171 4,8 u.ö., laut, der möglicherweise mit Jonathan Makkabäus, dem ersten Hasmonäer, der neben dem königlichen auch noch das hohepriesterliche Amt für sich beanspruchte, zu identifizieren ist. Dem Frevelpriester wird in 1QpHab 8,10–13 vorgeworfen, dass er die Gebote Gottes aus Habgier und Hochmut verriet. In 12,8f. wird er angeklagt, das Heiligtum Gottes verunreinigt zu haben. Ob Jonathan Makkabäus der „Frevelpriester“ ist, muss aber offen bleiben, vgl. dazu VANDERKAM, Joshua, 267–270. Neben Jonathan wurden auch seine Brüder Simon (142–134 v.Chr.), Johannes Hyrkanos I. (134–104 v.Chr.) und der Hohepriester Alkimos/Eljakim (163–160 v.Chr.) vorgeschlagen, zur Literatur siehe LIM, Art. Wicked Priest, 973–976. 27 VANDERKAM, Einführung, 126f. Schon in den pseudepigraphischen Schriften, die in den Höhlen vom Qumran gefunden wurden, ist eine ambivalente Bewertung des Priestertums wahrnehmbar: zum einen eine deutlich pejorative Einschätzung der Jerusalemer Priesterschaft und zum anderen die Konzeption eines idealen Priestertums in der Linie

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

Es war bereits E. Sukenik, einer der frühesten Pioniere der Qumranforschung, der die Schriftrollen vom Toten Meer mit den Essenern in Verbindung brachte und damit die später sog. „Qumran-Essener-These“ begründete.28 Ihre Grundlage basiert auf den Ähnlichkeiten zwischen den „Drei-Schulen-Referaten“ bei Josephus und der berühmten Essener-Notiz (Hist nat 5,73) im Reisebericht des römischen Historikers Plinius dem Älteren (23–79 n.Chr.) auf der einen und den Inhalten der gefundenen Schriften, die man der Gemeinschaft selbst zuordnen kann, auf der anderen Seite.29 Die hauptsächlichen Berührungspunkte sind die Gemeinschaftsmahle, die Gemeindehierarchie, das Gemeinschaftseigentum („Gütergemeinschaft“), die Probezeit für Novizen, das ablehnende Verhältnis zur Jerusalemer Priesterschaft und dem von ihr verantworteten Kult, die Bedeutung kultischer Reinheit, der Sonnenkalender und – in theologischer Hinsicht – der Determinismus, die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod und die zentrale Bedeutung der Tora.30 H. Lichtenberger umschreibt diesen nach wie vor in der Forschung bestehenden Mehrheitskonsens kurz und bündig: „Nach weitgehendem Konsens gehört die Gemeinschaft, als deren Hinterlassenschaft die Texte von Qumran im weiteren Sinn gelten und deren Gemeinschaftszentrum in unmittelbarer Nähe der Fundhöhlen lag, der essenischen Bewegung an.“31 Die These der essenischen Identität des yaḥad hat in den letzten Jahrzehnten jedoch auch entschiedenen Widerspruch erfahren,32 weil es neben den Parallelen auch deutliche Diskrepanzen gibt. Von geringerer Bedeutung sind die Unterschiede in den Regularien

Levis, vgl. dazu den nächsten Abschnitt zur priesterlichen Levi-Tradition →IV.3. Diese ambivalente Haltung wird auch in den gruppenspezifischen Schriften des yaḥad aufgenommen, wo in pointiert kritischer Weise über Priester, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Mitglieder der Jerusalemer Priesterschaft waren, geurteilt wird, z.B. in 4Q387 Fr. 3 3,6; 4Q390 Fr. 1,2–4. Die Jerusalemer Priester werden stellenweise als „gottlose Priester“ oder als die „letzten Priester von Jerusalem“, 1QpHab 9,4f. u.ö., diffamiert. Als Vorwurf taucht immer wieder die religiöse und moralische Korruption auf, vgl. CD 4,15f.; 1QpHab 9,4; 1Q14 11,1; 4Q169 3–4 1,11; 3–4 2,8f., sowie KUGLER, Priesthood at Qumran, 94f. 28 SUKENIK, Collection, 26. Auch nach Überzeugung von H. STEGEMANN, Essener, 197f., entstand die Siedlung von Qumran als eine essenische Gemeinschaft, die sich bald nach der illegitimen Absetzung des „Lehrers der Gerechtigkeit“ im Jahre 152 v.Chr. zusammengefunden haben dürfte. Sie war Teil der von STEGEMANN sog. „essenischen Union“, vgl. a.a.O., 206–212. Er datiert die Gründung der Qumran-Siedlung auf etwa 100 v.Chr, was u.a. durch die Arbeiten von E.-M. LAPERROUSAZ, Qoumran, und J. MAGNESS, Archaeology, 63–69, unterstützt wird; vgl. auch FREY, Qumran und die Archäologie, 38. Die Siedlung wäre somit erst beträchtliche Zeit nach der Gründung der essenischen Bewegung entstanden. Der „Lehrer der Gerechtigkeit“ dürfte diese Siedlung also nie selbst betreten haben. 29 Vgl. hierzu Plin mai Hist nat 5,73; Jos Bell 2,119–161; Ant 13,171–173; 18,18–22; und auch Phil Prob 75–91; Eus Praep ev 8,11,1–18, auf der einen mit CD und 1QS auf der anderen Seite; vgl. zum Ganzen VANDERKAM, Einführung, 92–108. 30 LICHTENBERGER, Art. Qumran, 66; LANGE, Art. Qumran (RGG), 1881. Vor allem LANGE, a.a.O., 1880–1882, argumentiert ausführlich für die Gültigkeit der sog. QumranEssener-These, wonach es sich bei den Bewohnern von Khirbet Qumran und den Verfassern der Schriftrollen um Essener gehandelt habe. 31 LICHTENBERGER, Art. Qumran, 65. 32 Vgl. ZANGENBERG, Qumran, 14–16.

2 Das Priestertum in den Qumranschriften

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für die Aufnahme in die Gemeinschaft. Schwieriger ist dagegen, dass Plinius von einer Gruppe spricht, die auf die Siedlung am Toten Meer begrenzt zu sein scheint, während Philo und Josephus diese über ganz Judäa verstreut beschreiben. Ein Problem stellt auch die von Plinius behauptete Ehelosigkeit der Mitglieder der Gemeinschaft dar (sine ulla femina), während Philo und Josephus durchaus von verheirateten Essenern berichten, in der Gemeinschaftsregel von Qumran (allerdings mit Ausnahme von 1QSa) jegliche Ehe(losigkeits)regularien fehlen und auf dem Gräberfeld nahe der Siedlung auch Frauenund Kindergräber gefunden wurden.33 Schließlich wird auch immer wieder auf das Problem hingewiesen, dass in den Qumranschriften selbst der Begriff „Essener“ nicht auftaucht.34 Da eine Klarheit in dieser Frage im Moment nicht zu erreichen ist und in der aktuellen Diskussion vermehrt Zweifel geäußert werden,35 wird im Folgenden eine Identifikation mit den Essenern vermieden, ohne dass damit eine mögliche, vielleicht sogar wahrscheinliche Verbindung ausgeschlossen wird. Deutlich ist aber, dass Khirbet Qumran nicht als „Zentrum des yaḥad“ gesehen werden sollte und auch die gruppenspezifischen Schriften nicht nur für die dort siedelnde Gemeinschaft Gültigkeit hatten.36

Nach der viel diskutierten These von H. Stegemann37 spielte bei dem Schisma dieser Bewegung von der Jerusalemer Priesterschaft die überragende Gestalt des „Lehrers der Gerechtigkeit“ (u.a. 1QpHab 2,8f.; 7,4f.; 4Q171 3,15) eine tragende Rolle. Aufgrund zahlreicher Indizien38 vermutet Stegemann, dass dieser mit dem namentlich nicht bekannten Nachfolger des nicht-zadokidischen Hohepriesters Alkimos (hebr. Eljakim) und Vorgänger des Makkabäers Jonathan identisch sein könnte.39 Während ersterer 33

Vgl. aber MAGNESS, Archaeology, 163–187, die aus archäologischer Sicht zum Schluss kommt, dass nur eine minimale Präsenz von Frauen angenommen werden kann und die Präsenz von Familien mit Kindern überhaupt nicht nachweisbar ist. 34 VANDERKAM, Einführung, 108–114. 35 Vgl. dazu FREY, Auswertung; DERS., Art. Essenes, 599–602; DERS., Qumran und die Archäologie, 39f. 36 FREY, Qumran und die Archäologie, 38. 37 STEGEMANN, Entstehung; DERS., Essener, 205ff. 38 Die wichtigsten Hinweise sind die Titel, die im gruppenspezifischen Schrifttum dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ gegeben wurden: moreh ha-zedek (der [einzige gemäß der Tora wahres] Recht Lehrende), moreh ha-jachid (der einzigartige Lehrer), doresch ha-tora (der [höchstrangige] Tora-Interpret) und ha-kohen (der Priester schlechthin) sind traditionelle hohepriesterliche Titel; vgl. STEGEMANN, Essener, 206. 39 STEGEMANN, Essener, 205f.; FABRY, Art. Zadok, 443; EGO, Art. Priester, 392; SANDERS, Judaism, 342; HENGEL, Judentum, 320.407f.; LANGE, Art. Qumran (RGG), 1882ff. Skeptisch bzw. ablehnend dagegen W ISE, Teacher of Righteousness; VANDERKAM, Joshua, 244–250. Zur Diskussion vgl. auch KUGLER, Priesthood at Qumran, 105f., Anm. 39. Angesichts der Bedeutung der sog. „Söhne Zadoks“ für den yaḥad, vgl. 1QS 5,2.9; 9,14; 1QSa 1,2; 1QSb 3,22; CD 3,21; 4Q174 1,17, liegt die Annahme auf der Hand, dass der „Lehrer der Gerechtigkeit“ selbst Zadokide und somit möglicherweise ein legitimer Anwärter auf das hohepriesterliche Amt war. Zur Identität des „Lehrers der Gerechtigkeit“ vgl. neben STEGEMANN auch B UNGE, Geschichte; RAINBOW, Oniad; BRUTTI, Development. Zur Geschichte der essenischen Bewegung vgl. STEGEMANN, Essener, 206–226.

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

159 v.Chr. starb und letzterer 152 v.Chr. das hohepriesterliche Amt an sich riss, bleibt der Amtsinhaber in jener Zwischenzeit im Dunkeln.40 Wenn die von Stegemann vorgeschlagene Identifikation des „Lehrers der Gerechtigkeit“ mit dem fraglichen Hohepriester jener Jahre korrekt ist, dann hat dieser, anders als zwei seiner ebenfalls abgesetzten Vorgänger,41 nach einer Flucht nach Damaskus und dem Asyl beim „Neuen Bund“ (CD 6,5.19; 7,18–20) eine eigene religiöse Gemeinschaft gegründet, die nach Stegemanns Überzeugung die Essener waren. Stegemann vermutet, dass sich seine Gefolgschaft aus treuen Priestern, Mitgliedern der zadokidischen Priesterfamilie und hochrangigen Mitgliedern der Jerusalemer Tempelverwaltung zusammensetzte. Die Gründung bzw. Weiterführung einer Art „Schattenpriestertum“ würde in Anbetracht der handelnden Personen naheliegen. Dass die Gemeinschaft tatsächlich eine priesterliche Identität und eine Ersatzfunktion für den Jerusalemer Tempel reklamierte, zeigt der Anspruch, eine sühnende Funktion zu übernehmen (1QS 5,1–7; 9,4–5; 1QM 2,5–6), die Selbstbezeichnung als „heilig“ (1QS 5,5–7; 8,5–6.8; 9,6; 10,4) bzw. „priesterlich“ (1QS 5,6; 8,9; 9,6; CD 3,18–4,4; 4Q174 3,3–4), ihre Bestimmung, wie die himmlischen Engel zu sein (1QS 11,8; 1QSb 3,25– 26; 4,24–26), sowie die Adoption priesterlicher Regeln für die Reinheit (1QS 5,13; 6,16–17; 1QSa 2,3–10; CD 15,15–17) und das Alter für den Dienst (1QSa 1,8–17; CD 10,6–8). Auch ein kritisches Verhältnis zum Jerusalemer Kult und seiner Priesterschaft ist in den Qumranschriften unübersehbar. Dieses entzündete sich jedoch weniger an der Okkupation des hohepriesterlichen Amtes durch den 40

Das 2. Makkabäerbuch endet mit seiner Erzählung leider im Jahr 160 v.Chr. und das hasmonäerfreundliche 1. Makkabäerbuch nennt vor dem Makkabäer Jonathan, der das Amt 152 v.Chr. okkupierte, keinen seiner Vorgänger, weder Onias III., noch Jason, noch Menelaos oder Alkimos und eben auch nicht den (oder die?) Hohepriester der Jahre 159–152 v.Chr. Dass die Behauptung des Josephus, Ant 20,237; vgl. 13,46, es habe in jenen Jahren keinen Hohepriester gegeben, höchst unwahrscheinlich ist, ergibt sich aus der jüdischen Kultpraxis. Ohne Hohepriester konnte der große Versöhnungstag nicht gefeiert werden. Da der toragemäße Tempelkult bereits 164 v.Chr. wieder hergestellt wurde, es für das hier fragliche Jahrzehnt keine Anzeichen für innen- oder außenpolitische Krisen gibt und die Makkabäer mit den Seleukiden 157 v.Chr. Frieden schlossen, ist kein Grund ersichtlich, warum das Amt vakant geblieben sein sollte. Die Vermutung, dass das prohasmonäische 1. Makkabäerbuch den Namen des antihasmonäischen Amtsinhabers getilgt hat, liegt nahe. Dies würde auch erklären, warum Josephus keine weitergehenden Informationen liefern kann, da auch ihm für die fragliche Zeit keine anderen Quellen als die Makkabäerbücher zur Verfügung standen, STEGEMANN, Essener, 205. 41 Onias III. floh nach Syrien und wurde dort im Auftrag des Menelaos, des Nachfolgers seines Bruders Jason, ermordet, 2Makk 4,34. Sein Sohn Onias IV. errichtete im ägyptischen Leontopolis einen alternativen jüdischen Tempel mit entsprechendem Kult, vgl. →III.2.2.2.

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Hasmonäer und Nicht-Zadokiden Jonathan Makkabäus, sondern vielmehr an kultischen, ethischen und kalendarischen Fragen (→III.1.2.2).42 Der „halachische Brief“43 4QMMT (= 4Q394–399) enthält eine Liste von etwa 22–24 halachischen Differenzen zwischen einer devianten Gruppe und den Jerusalemer Priestern mit dem Ziel, die Jerusalemer Kultpraxis im Sinne der ersteren zu ändern. Es geht um die persönliche Reinheit (CD 4,17f.; 5,6–8; 6,17), unethisches Verhalten der Priester (vgl. CD 5,8; 1QpHab 9,4f.; 1Q14 11,1), rituelle Laxheit, Kalender- und Opferfragen und sogar um Apostasie.44 Dieser halachische Konflikt, bei dem es letztlich um priesterliche Integrität, die Wirksamkeit des Kultes und das heilvolle Sein vor Gott geht, bildet den Auslöser für die Gründung der sich in den Qumranschriften spiegelnden Gemeinschaft.45 Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wird der Zusammenhang der in den Höhlen bei Khirbet Qumran gefundenen Schriften mit der benachbarten Siedlung und der dort vermuteteten religiösen Gemeinschaft in Zweifel gezogen,46 was nicht nur die Qumran42

So auch die These von LIVER, Sons of Zadok; COLLINS, Origins, und MAIER, Priester, 85f.88f. Sie räumen ein, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit Zadokiden in der Gemeinschaft gegeben hat, diese aber nicht die Ursache für die Separation des yaḥad von den Hasmonäern gewesen seien, vgl. LIVER, a.a.O., 29: „Not priestly lineage, but personal acts and outlook are thus seen to be the underlying cause of sectarian wrath.“ Das völlige Fehlen einer Polemik gegen die hasmonäische Abstammung in den Schriftrollen und auch der Gebrauch von „Aaroniden“ als priesterlicher Titel zeigten vielmehr eine Koexistenz von Priestern verschiedener Linien an. Auch B AUMGARTEN, Tribunal, 233– 236, kritisiert, dass der Begriff „Zadokiden“ nicht eine priesterliche Linie bezeichne, sondern das Konzept des yaḥad als einer legitimeren Priesterschaft als jener in Jerusalem beschreibt; vgl. auch W ARDLE, Jerusalem Temple, 145: „While those at Qumran may have been able to overlook the end of the Zadokide line and the installation of a new priestly family in office, what they could not ignore was the conduct of these new priests upon taking up the reins of the high priesthood.“ Umgekehrt argumentiert SCHWARTZ, Two Aspects, 158–165, dass gerade der Titel „Zadokiden“ die rechtmäßige Abkunft der Qumran-Priester gegenüber der unrechtmäßigen Abkunft der hasmonäischen Hohepriester reklamiere, die sich durch die Abstammung von Jehojarib nur auf eine aaronidische Abkunft berufen konnten, vgl. 1Chr 24,7; 1Makk 2,1. Von daher liege in diesem Titel sehr wohl eine antihasmonäische Polemik. 43 So die Bezeichnung von Q IMRON/STRUGNELL, Halakhic Letter, 400–407. 44 KUGLER, Priesthood at Qumran, 113; DERS., Art. Priests (EncDSS), 691; vgl. auch 4Q387a 3.iii.6. 45 SCHIFFMAN, Community, 268. 46 Maßgeblich sind hier die Untersuchungen von HIRSCHFELD, Qumran; DERS., Desert, und im Anschluss daran J. ZANGENBERG, Kontroverse; vgl. DERS., Region, 64– 67. HIRSCHFELD, Qumran, 191–205.247–270.282f.288–293, und ZANGENBERG, Qumran, 7ff., plädieren dafür, die in Khirbet Qumran entdeckte Siedlung als Landgut zu betrachten, das im Besitz einer reichen Jerusalemer Priesterfamilie war, die einen entsprechend hohen Wert auf kultische Reinheit legte. Dies begründe die Vielzahl der gefundenen Miqva’ôt. Die in den nahen Höhlen gefundenen Schriften müssten demnach völlig unabhängig von den gefundenen Siedlungsresten interpretiert werden.

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Essener-These, sondern auch den priesterlichen Charakter der in Khirbet Qumran siedelnden Gemeinschaft in Frage stellt.47 So richtig es ist, dass die archäologischen Daten in vielerlei Hinsicht nicht eindeutig sind, so gewichtig sind doch nach wie vor die Argumente für den erreichten Konsens.48 Für eine Identität der Verfasser der Qumranschriften mit den Bewohnern von Khirbet Qumran sprechen die große Bibliothek,49 die in der unmittelbaren Nähe von Khirbet Qumran gefunden wurde, und zum Teil nur von der Ortslage von Khirbet Qumran her zugänglich war (Höhle 8 und 9),50 die Existenz von Wohnhöhlen (Höhle 5 und 7–10), die zehn ausgegrabenen Miqva’ôt51 und die Existenz einer Nekropolis mit 1.200 Gräbern, die nicht einfach als ein Soldatenfriedhof erklärt werden kann. Deshalb ist es nach wie vor die wahrscheinlichste Erklärung, die Abfassung der Schriften in der in Khirbet Qumran siedelnden religiösen Gemeinschaft zu vermuten.

2.1 Der priesterliche Einfluss auf den yaḥad Der weitreichende Forschungskonsens über die priesterlichen Ursprünge der Gemeinschaft, die mutmaßlich v.a. aus Mitgliedern zadokidischer Priesterfamilien, der Jerusalemer Tempelverwaltung und konservativer Priesterkreise um den ehemaligen und namentlich unbekannten „Lehrer der Gerechtigkeit“ herum entstand, wurde in jüngerer Zeit durch die Forschungen von R.A. Kugler in Frage gestellt, der einen dominanten priester47 Einen Überblick über die alternativen Deutungen und die Diskussion geben VANDERKAM/FLINT, Meaning, 239–254; VANDERKAM, Einführung, 114–119; FREY, Qumran und die Archäologie, 16–27.35–37. 48 Vgl. dazu B ETZ/RIESNER, Verschwörung, 89–113; MAGNESS, Archaeology, 43f.; BROSHI, Art. Qumran; ESHEL, Qumran Studies; DERS., Qumran Archaeology; MEYERS, Khirbet Qumran; FREY, Qumran und die Archäologie, 3–49. Letztgenannter bietet darüber hinaus eine gute Einführung in die archäologischen und archäologie- und forschungsgeschichtlichen Probleme und die aktuelle Debatte. 49 Die hohe Anzahl von Schriften mit einem stark tempel- und priestertumskritischen Inhalt macht es nach FABRY, Archäologie und Text, 88f., höchst unwahrscheinlich, dass es sich um eine ausgelagerte Bibliothek aus Jerusalem handelt. Genau dies war die Vermutung von K.H. RENGSTORF, Ḥirbet Qumran, 24–42, der in Qumran eine „Außenstelle der Tempelverwaltung“ vermutete. RENGSTORFS These wurde von N. GOLB, Qumran, aufgegriffen und dahingehend modifiziert, dass er in Khirbet Qumran eine römische Festungsanlage erblickte, die vor ihrer Zerstörung unter der Kontrolle jüdischer Freischärler gestanden habe. Diese hätten Schriftrollen aus verschiedenen Jerusalemer Bibliotheken in den nahen Höhlen in Sicherheit bringen wollen. Hauptargument von RENGSTORF und GOLB ist die Verschiedenartigkeit der Schriften, die eine lebendige Diskussion und Textproduktion voraussetzt. Allerdings zeigt die von I. RABIN , Ink, vorgenommene chemische Analyse der Brom-Konzentration in der Tinte der Hodayot-Handschrift 1QHa, dass diese in der Nähe des Toten Meeres angefertigt worden sein muss, was ein wichtiges Argument gegen eine Herkunft aus Jerusalemer Bibliotheken ist. 50 Im Blick auf die Leugnung eines Zusammenhangs zwischen Siedlung und Bibliothek urteilt MEYERS, Khirbet Qumran, 29: „To ignore the scrolls completely in a consideration of the site of the Qumran settlement … seems … to be avoiding the obvious.“ 51 FREY, Qumran und die Archäologie, 30.40f.

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lichen Einfluss in der Anfangszeit der Gemeinschaft entschieden bestreitet,52 was wiederum M. Himmelfarb zustimmend aufgenommen hat.53 Kuglers Argumentation basiert maßgeblich auf der Edition der zur Gemeinderegel (1QS) und der Versammlungsordnung (1QSa) parallelen Texte aus 4Q, z.B. 4Q256 und 258.54 Die dadurch mögliche text- und redaktionskritische Arbeit an verschiedenen Varianten erbrachte als vorläufiges Ergebnis, dass die Textversionen auf unterschiedliche Stadien in der Geschichte des yaḥad zurückblicken.55 Im Hinblick auf die Frage nach der Rolle der unterschiedlichen Priesterkreise bedeutet dies, dass die Gemeinschaft wohl erst einige Zeit nach ihrer Gründung – zumindest in ihrer Literatur – Autorität an die „Zadokiden“ übertrug, die gemäß dem älteren Konsens als Gruppe des Ursprungs der Gemeinschaft galten.56 R. Kugler begründet diese Sicht mit folgenden Beobachtungen: (1) Die Belege für eine zadokidische Abkunft der Gemeinschaft vor allem in ihrer Frühzeit sind dünn. Hinzu kommt, dass in fast allen Belegen die Zadokiden ihre Macht mit den Laien des yaḥad teilen müssen.57 Die zadokidische Macht ist also in nahezu allen Belegen eine begrenzte, was der These einer hauptsächlich zadokidischen Separationsbewegung widerspricht.58 (2) Auch bedeutende „Aaroniden-Belege“ fehlen in der Gemeinderegel, der Versammlungsordnung, dem Damaskusdokument und in 4QMMT B fast ganz, bzw. wenn sie auftauchen, scheinen die Aaroniden kaum Autorität zu haben.59 (3) In 1QS 8,1 ist von einer Gründungsgruppe die Rede, die aus drei Priestern und zwölf Laien bestand. Damit scheinen die Priester in der Gründungsphase in der Minderheit gewesen zu sein.60 (4) Nach Kugler legt eine Reihe von Belegen (z.B. 4Q266 Fr. 6 1) eine erste Rezensionsstufe der Gemeinderegel nahe, in der der yaḥad den Aaroniden eine begrenzte Kontrolle über sein Gemeindeleben und seine Gemeindeleitung in Reinheitsfragen, Aufnahme- und Ausschlussentscheidungen und in der Beurteilung von Aussatz einräumt. Erst nach dieser letzten Entwicklungsstufe wurden die Zadokiden-Belege in das existierende Werk eingefügt. Sie wurden aber in Schriften eingefügt, in denen die Aaroniden bereits eingeführt waren.61 In der Konsequenz legen diese text- und redaktionskritischen Untersuchungen der Gemeinderegel und der Versammlungsregel nahe, dass sich die Zadokiden als dominierende Gruppe des yaḥad erst nach einer gewissen Zeit etablieren konnten, nicht jedoch

52

KUGLER, Priesthood at Qumran, 114. HIMMELFARB, Kingdom, 125ff. 54 Vgl. hierzu den sehr persönlich gehaltenen Bericht von VERMES, Leadership, 379, und den tabellarischen Überblick bei MAIER, Priester, 131–138. 55 Vgl hierzu METSO, Development. 56 KUGLER, Priesthood at Qumran, 100. 57 Nur in 1QSa 2,3 scheinen die Zadokiden absolute Autorität zu besitzen, allerdings wird diese Stelle von HEMPEL, Nucleus, 259f., als redaktionelle „recension“ betrachtet. 58 KUGLER, Priesthood at Qumran, 98. 59 KUGLER, Priesthood at Qumran, 101. Der Beleg in 4QMMT B 79–80 erinnert an 1QS 5,5–7; 8,5–6; 9,6, wo die ganze Gemeinde als „ein Allerheiligstes für Aaron“ bezeichnet wird, also gerade nicht eine speziell aaronidische Priesterschaft umschreibt. 60 KUGLER, Priesthood at Qumran, 95f. 61 KUGLER, Priesthood at Qumran, 102. 53

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am Anfang.62 Es hat aus dieser Perspektive vielmehr den Anschein, dass die Gemeinschaft ihr besonderes Verständnis des Priestertums erst im Laufe der Zeit entwickelt hat und dieses nicht bereits von Anbeginn an fest umrissen war. Auch von einem ausschließlich priesterlichen Charakter des yaḥad kann nach Kugler aufgrund dieser Evidenz keine Rede mehr sein.63 Es werde vielmehr klar zwischen Priestern und Laien unterschieden.64 Der Gebrauch von Titeln, die Verteilung von Aufgaben und Macht, sowie die Aufteilung zwischen dem „heiligen“ Israel und Aaron als „dem Heiligen der Heiligen“, deute auf eine Unterscheidung von zwei Klassen hin. Somit könne auch nur eingeschränkt von einer Alternativfunktion des yaḥad gesprochen werden. Auch M. Himmelfarb sieht in den Priestern der Gemeinderegel nur eine Gruppe mit „ornamentalem“ Charakter. Die Autorität sei nicht in den Händen der Priester gelegen, sondern bei der Gemeinde als Ganzer, was zum einen durch die Zahlenverhältnisse der Gründungsgruppe (1QS 8,1: drei Priester, zwölf Laien) belegt werde und zum anderen durch die Differenz zwischen 1QS 5,9 und 4Q256 9,8 und 4Q258 1,7: Während die Variante aus Höhle 1 die Autorität noch den Söhnen Zadoks zuschreibt, legen sie die Varianten aus Höhle 4 in die Hände „des Rates der Männer des yaḥad“, der aber eben von Laien dominiert werde.65 Himmelfarb „verbucht“ diese Beobachtung für ihre Grundthese, wonach die Priester auch in der Qumrangemeinschaft nur noch eine untergeordnete Rolle gespielt haben: „[T]he roles set aside for priests in both rules [sc. dem Damaskusdokument und der Gemeinderegel] are largely ornamental: a hierarchy based on ancestry is of limited relevance to a community in which members are ranked by their deeds.“66

Kugler sieht die Anfänge der Gemeinschaft hauptsächlich in einer Laiengruppe, „that was disenchanted with the Jerusalem Temple and its priesthood, and that saw itself as a replacement for the apostate Temple leadership until proper priests could take charge“.67

62

KUGLER, Priesthood at Qumran, 113f.; DERS., Art. Priests (EncDSS), 691f., so auch VERMES, Leadership, 383: „The earlier, no doubt original, version of the Rule had no mention of the sons of Zadok. Final authority in all matters lay with the congregation, consisting of priests and lay Israelites, but this was reconcilable with the acceptance of the doctrinal and legal expertise of the sons of Aaron. This democratically organized primitive community was subsequently joined by a group of Zadokite priests, who achieved a successful ‚takeoverʻ and became paramount leaders thanks to their social status and doctrinal expertise.“ 63 So aber z.B. bei STRACK, Terminologie, 387: „Die Gemeinde von Qumran verstand sich als eine Gemeinde von Priestern, ohne allerdings den Begriff auf die Mitglieder selber anzuwenden.“ 64 KUGLER, Art. Priests (EncDSS), 691. Der Gebrauch der unterschiedlichen Titel, die Zuweisung unterschiedlicher Aufgaben und Vollmachten und die Einteilung der Gemeinde in Israel (das „Heilige“) und Aaron (das „Allerheiligste“) machen die Unterscheidung von zwei Klassen, einer priesterlichen und einer laikalen, deutlich. Die Laien waren freilich einem wesentlich höheren Grad an Reinheit verpflichtet als dies für den normalen Juden der Fall war, vgl. SANDERS, Judaism, 376. 65 HIMMELFARB, Kingdom, 125f. 66 HIMMELFARB, Kingodm, 128. 67 KUGLER, Art. Priests (EncDSS), 692.

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Es bleibt allerdings abzuwarten, ob und wie weit sich diese „neue Evidenz“, die doch stark auf text- und redaktionskritischer Arbeit beruht, gegenüber dem „alten Konsens“ durchzusetzen vermag. Im Blick auf Kuglers „neue Fragen“ hat schon H.-J. Fabry an dessen „literarkritischer Wut“ heftige Kritik geübt.68 Insbesondere die literarkritischen Hypothesen einer nachträglichen Eintragung der Aaroniden- und Zadokidenbelege erregen Fabrys Widerspruch. Allerdings kommt auch Fabry nicht umhin, aufgrund der neuen Textgrundlage einzugestehen: „Man kommt um die Feststellung nicht herum, dass diese ältere Stufe der Gemeinderegel nicht von den Zadokiden spricht! Die Präponderanz der Aaroniden und der Generalversammlung als oberster Instanz der Gemeinde sind nicht von der Hand zu weisen.“69 Fabrys Lösung bleibt freilich konservativer als Kuglers Entwurf: Er sieht durchaus einen Machtzuwachs der Zadokiden, deren Präsenz schon in den Anfängen der Gemeinschaft von ihm jedoch nicht in Frage gestellt wird, da 1QSa, besonders 1QSb und CD eindeutige Belege für die Präsenz der Zadokiden in der Gründungszeit sind. Das „verwickelte Mit- und Nebeneinander von Aaroniden und Zadokiden in den Gemeinden von Damaskus und Qumran“ verbiete einlinige Entwicklungsmodelle.70 Er sieht in der Damaskusgemeinde und der Regelliteratur in Qumran gegenläufige Entwicklungen: „Während die Gemeinde von Damaskus anfänglich eindeutig zadokidisch dominiert war, dann aber ein Schisma erleiden musste, [...] sah die Regelliteratur in Qumran eher eine umgekehrte Entwicklung, wenn auch nicht in Reinform.“71 In Anbetracht der nach wie vor offenen Forschungslage und vor allem der neueren Diskussionen um das gegenseitige Verhältnis der qumranischen Regeltexte und den Charakter des yaḥad72 verbieten sich momentan zu weitreichende chronologische und historische Schlussfolgerungen. Deutlich ist, dass die Gemeinschaft ab einem bestimmten Zeitpunkt von Zadokiden dominiert wurde. Die Manuskripte der Gemeinderegel aus Höhle 4 legen in der Tat unterschiedliche Stadien und Stufen in der Entwicklung dieses Textes und auch im Blick auf den Einfluss der Zadokiden nahe. Wie diese Texte chronologisch und historisch – möglicherweise auch soziologisch und geographisch – zu bewerten sind, ist jedoch momentan ebenso offen wie die Frage, ab welchem Zeitpunkt im engeren Sinne vom 68

FABRY, Zadokiden und Aaroniden, 208f. FABRY, Zadokiden und Aaroniden, 212 [kursiv bei F.]. Auslöser ist auch bei FABRY der Vergleich der 1QS-Varianten. 70 FABRY, Zadokiden und Aaroniden, 212f.; ebenso MAIER, Priester, 130. 71 FABRY, Zadokiden und Aaroniden, 216. 72 Vgl. dazu COLLINS, Yaḥad, 81–96; DERS., Qumran Community, sowie SCHOFIELD, Qumran. 69

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yaḥad zu reden ist und was dieser Terminus genau bezeichnet. Nimmt der yaḥad seinen Anfang erst unter dem Einfluss des „Lehrers der Gerechtigkeit“ und seiner priesterlichen Separationsbewegung, oder verstanden sich einige der unterschiedlichen Vorläufergruppen ebenfalls schon als yaḥad? Handelt es sich um eine streng organisierte Gruppe oder um eine Art „Dachorganisation“73 von unterschiedlich organisierten Gemeinschaften, was eine Erklärung für die verschiedenen Varianten der Gemeinderegel sein könnte? Diese und weitere Fragen warten noch auf eine schlüssige Antwort. Deshalb kann an dieser Stelle nur das Fazit von H.-J. Fabry wiederholt werden: „Der Forschung bleibt es überlassen, durch literarhistorische Untersuchungen weitere Feinstrukturen zu erheben.“74 2.2 Der yaḥad als metaphorischer Tempel Die Gründung eines Konkurrenzheiligtums nach dem Vorbild Onias IV., der im ägyptischen Leontopolis einen Tempel mit konkurrierendem Opferkult etablierte, war aufgrund der Maßgabe der Kultzentralisation in Jerusalem und möglicherweise auch aufgrund ihrer extremen Naherwartung des Endgerichts für die Gemeinschaft ausgeschlossen.75 Umgekehrt mussten die Opfer jedoch gebracht werden, weil sie schließlich von Gott angeordnet waren. So blieb der Gemeinschaft für die kurze Epoche bis zum Endgericht nur noch die theologische Umdeutung des Opferkultes in Form eines kultisch inszenierten Provisoriums in Menschengestalt. Im Anschluss an kultkritische Worte wie z.B. Prv 15,8 sah man im Gebet und Gehorsam eine adäquate Substitution für den Opferritus.76 In diesem Licht gewinnen die zahlreichen, in den Qumranhöhlen gefundenen Gebetstexte und -lieder eine eminente Bedeutung: „These texts were no doubt intended to substitute for participation in the Temple which was made impossible either for reasons of distance or, as was the case with the Qumran sect, because of ideology.“77 Der angemessene Ort für diese Form der Opferdarbringung war der yaḥad, der damit konsequenterweise als der „aus Menschen gebaute“ neue

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So der Vorschlag von COLLINS, Yaḥad, 81–96; DERS., Qumran Community. FABRY, Zadokiden und Aaroniden, 216; vgl. auch MAIER, Priester, 138, der die Forschungssituation gegenwärtig als „undurchsichtiger“ beschreibt „als zur Zeit, da nur die Texte aus Höhle 1 vorlagen. 75 Vgl. STEGEMANN, Essener, 243.285. 76 CD 9,20f.: „Das Schlachtopfer der Frevler ist [dem Herrn] ein Greuel, das Gebet der Gerechten aber gilt dem Herrn als eine wohlgefällige Opfergabe [Prv 15,8].“ Vgl. auch 1QS 9,4–5: „Hebopfer der Lippen“ und „vollkommener Wandel“, und 8,6–7.9–10, sowie Phil Prob 75. 77 SCHIFFMAN, Community, 274. 74

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Tempel Gottes auf Erden verstanden wurde,78 der inmitten von Israel als der diesen Tempel umgebenden Tempelanlage steht. Es war nun die Toraobservanz der Gemeinde, die als substituierender Kultvollzug verstanden wurde. Auch die sühnende Funktion des Tempelkultes ging auf den yaḥad über, dem die Aufgabe zukam, für all jene Sühne zu schaffen, die sich als willig erweisen zum „Allerheiligsten für Aaron“ (1QS 5,5–7; 8,8f.; 9,6) zu gehören. Die in den Qumranschriften sich ausdrückende Gemeinschaft ist damit neben der frühchristlichen Gemeinde das einzige Beispiel dafür, dass eine Gruppe sich selbst als Ort der Präsenz Jahwes und damit als Tempel verstehen konnte.79 Das in den Qumranschriften zu beobachtende Phänomen der „Umdeutung“ bzw. „Übertragung“ ist terminologisch ähnlich schwierig zu beschreiben wie beim analogen Vorgang in den ntl. Schriften. Auch der hier zu beobachtende Vorgang ist mit dem Begriff der „Spiritualisierung“ oder „Vergeistigung“80 nicht sachgerecht wiedergegeben, denn mit den sprachschöpferischen Prozessen der stoischen Ethik oder der Mystik Philos hat dieses Phänomen nichts zu tun. Aber auch die Definition als „eine ‚ekklesiologische Umdeutung‘ kultischer Inhalte durch eine im Bewusstsein der göttlichen Erwählung lebende Gemeinde“81 trägt anachronistisch christliche Deutungskategorien in einen vorchristlich-frühjüdischen, hermeneutischen Vorgang ein. Man wird auch hier gut daran tun, den Begriff der Metaphorisierung zu verwenden, der am ehesten geeignet ist, um das Phänomen terminologisch adäquat zu beschreiben (→E.5.2).

Mit der Übertragung der Tempelsymbolik auf den yaḥad erfuhren die Glieder der Gemeinschaft das eschatologische Heil und die Heilssphäre Gottes bereits als gegenwärtig.82 Sie sahen sich im Anbruch der letzten Zeiten und teilten die Gewissheit, bereits jetzt Anteil an den zukünftigen Heilsgütern zu haben.83 Eine rein futurische Hoffnung musste demgegenüber zurücktreten. 78 Vgl. 1QS 5,5–7; 8,4–10; 9,3–6; 11,8; CD 3,18ff.; 11,20–22; 4Q174 3,1–3; 4Q511 Fr. 1 1,5–10; 1QpHab 12,3f. und KUGLER, Art. Priests (EncDSS), 691. Möglicherweise findet diese Umdeutung des Tempels einen Nachhall in einer Notiz bei Jos Bell 2,129, wonach die Essener den Speiseraum in einem solchen Zustand der Reinheit betreten hätten, „als ginge es in ein Heiligtum“. 79 Vgl. 4Q 174 3,3, sowie KUHN, Qumran und Paulus, 231: „Abgesehen von Qumran und christlichen Texten gibt es für die hellenistisch-frührömische Zeit und die Zeit davor keine Parallele dafür, dass eine Gruppe […] als Tempel verstanden wird.“ 80 Vgl. z.B. DOMMERSHAUSEN, Art. kohen, 76. 81 STRACK, Terminologie, 388f. 82 KUHN, Enderwartung, 176–188, vgl. v.a. 184: „Von der Ineinssetzung von irdischem und himmlischem Heiligtum lag es dann für den sich als diensttuenden Priester verstehenden Qumran-Frommen besonders nahe, das Sein in der Gemeinde auch als himmlischen Aufenthalt zu deuten.“ 83 Bereits G. JEREMIAS, Lehrer, 245–249, hat nachgewiesen, dass 1QH 6,24ff. die Verwirklichung des endzeitlichen Jerusalem im yaḥad sieht. Auch den neuen Bund, die eschatologische Pflanzung und die Gemeinschaft mit den Engeln betrachtete man im yaḥad als schon gegenwärtige Realität.

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Innerhalb dieses aus Menschen gebauten Tempels bildeten die Priester wiederum das Allerheiligste84 und zusammen mit den Zadokiden an ihrer Spitze den berit El, den Gottesbund. Hinter dieser Konzeption verbirgt sich die Abbildung Gesamtisraels innerhalb der Gemeinschaft.85 Solange der Jerusalemer Kult in unangemessener und damit ungültiger Weise vollzogen wurde, begriff sich die Gemeinschaft als die stellvertretende Darstellung Israels vor Gott, ohne dass sie umgekehrt in eine theologische Distanz zum Jerusalemer Tempel getreten wären, im Gegenteil. Die Mitglieder der Gemeinschaft blieben dem Tempel als der Wohnstätte Gottes verbunden und pflegten auch in ihren Gebetsgottesdiensten die Ausrichtung auf den Jerusalemer Tempel.86 Josephus (Ant 18,19) erwähnt, dass die Essener nach wie vor Votivopfer zum Tempel sandten, was gegen einen Totalboykott des Tempelkultes spricht. Ob dies freilich auch für die Gemeinschaft gilt, die hinter den Qumranschriften steht, bleibt unklar.87 Eine wesentliche Veränderung vollzieht sich in den Qumranschriften im Blick auf die Reinheitshalacha. Für die Teilnahme an den streng in Anlehnung an das Opferritual gestalteten Gebetsgottesdiensten wurden dieselben kultischen Reinheits- und Heiligkeitsnormen angelegt wie an die im Jerusalemer Tempel amtierenden Priester, Leviten und das opfernde Volk. Darüberhinaus wurden diese Standards nun aber noch durch moralische Reinheitshalachot erweitert. Diese Verschmelzung von kultischer und ethischer Reinheit und der Glaube an die verunreinigende Wirkung von Sünde ist eine wesentliche Weiterentwicklung des atl. Reinheits- und Heiligkeitsbegriffs, die später auch für das ntl. Verständnis maßgeblich werden sollte.88 Die Verschärfung und Ausweitung der überlieferten Normen war von der Absicht motiviert, dass die mangelhafte kultische und ethische Integrität der Jerusalemer Priester durch die eigenen Bemühungen kompensiert und im eigenen priesterlichen Kreis wiederhergestellt werden sollten. Dabei war auch die Vorstellung leitend, dass die Glieder des yaḥad nicht nur 84

STEGEMANN, Essener, 229f. STEGEMANN, Essener, 230f. 86 So zielt die Längsachse der Versammlungshalle von Qumran auf den 26 km entfernten Jerusalemer Tempel und sogar der Neigungswinkel des Richtung Jerusalem ansteigenden Fußbodens versucht ungefähr den Höhenunterschied des 1080 m höher gelegenen Tempels auszudrücken, STEGEMANN, Essener, 244f. 87 Zur Diskussion über den Grad der Beteiligung des yaḥad am Jerusalemer Opferkult vgl. W ARDLE, Jerusalem Temple, 145–150. 88 Zur Ausweitung der Reinheitshalachot vgl. VAHRENHORST, Sprache, 38–41. H IMMELFARB , Kingdom, 133f. vermutet, dass durch die Intensivierung der Reinheitsgesetze im Damaskusdokument und in der Tempelrolle normale Juden „more like priests“ gemacht wurden. Die wahre Bedeutung der Reinheitsgesetze liege daher nicht im Bereich des Physischen, sondern im Bereich des Spirituellen, nämlich in den Metaphern für Sünde und Buße. 85

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in einem temporären, sondern ständigen Kontakt mit der Heiligkeit Gottes und seinen himmlischen Engeln lebten.89 Dies alles geschah freilich unter dem eschatologischen Horizont, dass der yaḥad eines Tages nach einer endzeitlichen Schlacht die nicht mehr integre und damit illegitime Tempelpriesterschaft ablösen, die Kontrolle über einen neuen, eschatologischen Tempel90 (wieder?) übernehmen und einen gemäß seinem Verständnis legitimen Kalender sowie Kult- und Tempeldienst einführen wird.91 Bis zu diesem Tag distanzierte sich der yaḥad jedoch von einer Priesterschaft, die inmitten einer unreinen Stadt Opfer an falschen Tagen darbrachte. 2.3 Priesterliche Titel in den Qumranschriften Angesichts der zahlreichen Unsicherheiten und noch offenen Diskussionsprozesse kann auch im Blick auf das Priesterverständnis der Qumranschriften an dieser Stelle nur der relative Forschungskonsens wiedergegeben werden.92 Dass das Priestertum, die priesterliche Hierarchie und priesterliche Kategorien für die in den Qumranschriften sich ausdrückende Gemeinschaft von immenser Bedeutung war, steht auch trotz der erwähnten Unsicherheiten außer Frage. Ein Beleg dafür ist die bloße Menge priesterlicher Titel und Bezeichungen: (1) In den Schriftrollen finden sich über 300 Belege des Begriffs !heko, die sich über die unterschiedlichsten Textgattungen der Qumranbibliothek verteilen.93 Zahlreiche Belege unterstreichen (zumindest in ihrer Endredaktion) die Führungsposition der Priester (1QS 6,4–5.8; CD 9,13.15; 13,2–3; 14,3.5) und projizieren diese gehobene Position auch auf die Verhältnisse des von der Gemeinschaft erwarteten neuen, eschatologischen Zeitalters (1QSa 1,16.24; 2,3.12–13). 89

VAHRENHORST, Sprache, 71. Aus diesem Grund konnten auch physisch beeinträchtigte Menschen keine Aufnahme in die Gemeinschaft finden, weder gegenwärtig noch zukünftig, da diese eine verunreinigende Wirkung auf den Tempel der Gemeinschaft hätten, vgl. CD 15,15–17; 1QSa 2,3–11; 4Q174 3,2–5; 1QM 7,4–6; 11QT 45–51; 4QMMT B 39–49, sowie S CHIFFMAN, Community, 276: „Thus … we find that even while remaining separated from the Temple ritual, members of the Qumran sect continued to study and cherish laws and interpretations of the Torah which pertained to what they understood to be the correct procedures for Temple worship and related regulations of purity and impurity.“ 90 Vgl. 4Q174 3,2ff.; 11QT 29,9, sowie ausführlich unter →III.2.3.5. 91 SCHIFFMAN, Community, 276. 92 Dieser orientiert sich an den Arbeiten von KUGLER, Priesthood at Qumran, 93–116; DERS., Art. Priests (EncDSS), 688–693; LANGE , Art. Qumran (RGG), 1873–1896; MAIER, Qumran-Essener III; SCHÜRER/VERMES, History II, 550–554.585–590. 93 KUGLER, Priesthood at Qumran, 94; DERS., Art. Priests (EncDSS), 688.

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(2) Rund 20mal erscheint der Titel „Hohepriester“ (lwOdG'h; !h,Koh;) in den Qumranschriften. Damit wird aber kein aktuelles Mitglied des yaḥad bezeichnet, sondern der Oberpriester des eschatologischen Zeitalters bzw. eines in seiner Reinheit wiederhergestellten Tempels.94 (3) Wie oben gezeigt ist der Befund für den Titel „Söhne Zadoks“ umstritten, weil neuere text- und redaktionskritische Untersuchungen eine erst spätere Einfügung dieses Titels in den Textkorpus der Gemeinde- und Versammlungsregel behaupten. Für den bisherigen Forschungskonsens markierte gerade dieser Titel den Grund für das Schisma der Anhänger des „Lehrers der Gerechtigkeit“ von der ‚nicht-mehr-zadokidischen Hohepriesterschaft‘ der Hasmonäer.95 Man sah in den „Söhnen Zadoks“ bzw. in der zadokidischen Linie des Priestertums die Urheber für die Gründung der Gemeinschaft. In 1QS 5,2.9; 1QSa 1,2; 2,3 werden die Zadokiden als Führungsfiguren des yaḥad und der zukünftigen Heilszeit vorgestellt. Während diese Belege für die text- und redaktionskritisch orientierte Forschung der letzten Jahre spätere Einfügungen darstellen,96 was in der Konsequenz bedeuten würde, dass sich das zadokidische Selbstverständnis erst nach und nach entwickelt hätte, sieht Fabry die Beteiligung und den Einfluss der Zadokiden von Anfang an aufgrund von CD 3,20–4,4; 4Q163 Fr. 22 3; 4Q174 3,17 und 1QSb 3,22 als gesichert an. (4) In ca. 30 Belegen erscheinen die Aaroniden bzw. die „Söhne Aarons“. Durch den Begriff werden in der Regel Priester von Leviten (1QSa 1,16.23; 1QM 7,10; 11QT pass) bzw. anderen Mitgliedern des yaḥad unterschieden (1QS 9,7).97 Bemerkenswerterweise findet sich nirgendwo in den Schriftrollen eine Unterscheidung zwischen Zadokiden und Aaroniden.98 Es gibt einige wenige Passagen, in denen der Titel als austauschbar erscheint.99

94 KUGLER, Priesthood at Qumran, 96; DERS., Art. Priests (EncDSS), 688. Möglicherweise ist auch die determinierte Bezeichnung !hekoh; in 1QSa 2,12–13.19 als eine Bezeichnung für den eschatologischen Hohepriester zu betrachten. 95 STEGEMANN, Essener, 208.211; vgl. gegen diese Auffassung W ISE, Teacher of Righteousness. 96 KUGLER, Priesthood at Qumran, 97; DERS., Art. Priests (EncDSS), 688. Die wenigen Belege in anderen Schriften, CD 3,20–4,4; 4Q163 Fr. 22 3; 4Q174 3,17; 1QSb 3,22, können nach KUGLERS Urteil den „alten Konsens“ weder bestätigen noch widerlegen. 97 So werden die „Söhne Aarons“ in 4QMMT B 79–80 als „äußerst heilig“ bezeichnet, während Israel lediglich als „heilig“ gilt. 98 G. VERMES hatte ursprünglich in der englischen SCHÜRER-Ausgabe, History II, 253, Anm. 56, die Synonymität der beiden Bezeichnungen in den Qumranschriften betont. Später kommt er jedoch in DERS., Leadership, 379, unter dem Eindruck der neu edierten Texte zu der Auffassung, dass die Gemeinde ursprünglich priesterlich und laikal gemischt war, wobei den „Söhnen Aarons“ ein gewisser Vorrang zukomme. Die zadokidischen Anhänger von Onias III. (sic!) seien erst nach dessen Emigration nach

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(5) Schließlich finden sich noch ca. 100 Belege der Bezeichnung „Söhne Levis“ in den Qumranschriften.100 Auffallend ist dabei, dass die Leviten in zahlreichen Stellen mit einer gehobeneren Rolle und mehr Privilegien ausgestattet erscheinen, als dies in den atl. Texten der Fall ist. Ihre Privilegien übertreffen hinsichtlich der Versorgung mit dem Zehnten gelegentlich sogar jene der Priester (vgl. 11QT 21,1; 22,10–12; 60,6f.). In 11QT 44,5.14 werden den Leviten mehr Bereiche im Tempel zugewiesen als den Priestern, während die Leviten in den biblischen Texten überhaupt keine eigenen Räume im Tempelkomplex haben. In den meisten Belegen werden die Leviten zwar über ihren inferioren atl. Status erhoben, bleiben aber auf einer Stufe mit den Priestern.101 Dagegen bleiben die Leviten in anderen Passagen in ihrer biblisch begründeten Rolle eines clerus minor im Hinblick auf Rang und Privilegien gegenüber den Priestern verhaftet.102 Verglichen mit den anderen elf Stämmen Israels sind sie jedoch durchgängig privilegiert.103 Für diese bemerkenswert gehobene Rolle der Leviten in den Qumranschriften gibt es verschiedene Erklärungen. G. Brooke führt den Befund auf eine Periode des verstärkten Zustroms von Leviten in die Gemeinschaft zurück. Sie hätten entsprechende Literatur in den yaḥad eingebracht, in der die Leviten in einer wesentlich gehobeneren Position präsentiert worden seien.104 Dagegen sieht R.A. Kugler in der Aufwertung der Leviten ein Spiegelbild der eigenen Erfahrungen des yaḥad. Durch das Schisma vollzog sich eine Art „Selbst-Marginalisierung“ ehemaliger Tempelpriester, die nun nicht mehr am Jerusalemer Altar, sondern in einem Alternativkult einer in Mitgliedern gemessen weit kleineren Gemeinschaft amtierten. In dieser Situation könnte eine „Empathie“ mit den seit langer Zeit marginalisierten Leviten gewachsen sein, die durch eine literarische Aufwertung der Leviten kompensiert wurde.105 Letztlich seien aber weniger die historischen Leontopolis hinzugestoßen und hätten dann allerdings für eine zadokidische Dominanz gesorgt. 99 Vgl. 1QS 5,2.4.8–9 mit 9,7; 1QSa 1,23 mit 1,24, sowie KUGLER, Priesthood at Qumran, 101; DERS., Art. Priests (EncDSS), 689. 100 KUGLER, Priesthood at Qumran, 103; DERS., Art. Priests (EncDSS), 689. Die Leviten in Qumran hätten eine ausführliche Diskussion hervorgerufen. Die wichtigsten neueren Beiträge sind KUGLER, References to Levi; BROOKE, Levi; STALLMAN, Levi. 101 11QT 57,12; 60,12.14; 61,8; 1QM 13,1; 18,5f.; 4Q491 Fr. 1–3 9; 4Q493 1–10; CD 13,3; 1QS 1,18f.; 1QS 2,11. 102 11QT 21,4; 22,4; 58,13; 60,7–11; 1QM 2,2; 7,14–16; 8,9; 15,4; 16,7; CD 14,4f.; 1QS 2,20. 103 11QT 23,9f.; 24,11; 39,12; 40,14f. und 4Q365 Fr. 23 10. 104 BROOKE, Levi, 106–116. 105 KUGLER, Art. Priests (EncDSS), 689f.

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Leviten im Blick gewesen als vielmehr der eigene marginalisierte Status gegenüber dem Jerusalemer Priestertum. Auch die Stilisierung der Figur Levis und seiner Nachkommen als einer idealen Priesterschaft (→IV.3) diente der Profilierung des eigenen Selbstverständnisses und der Kritik am depravierten Jerusalemer Priestertum.106 2.4 Die Funktion der Priester in den Qumranschriften Die Funktionen und Aufgaben der Priester des yaḥad entsprachen trotz des Verzichts auf Tieropfer und des Wegfalls der Pflege und Instandhaltung einer Tempelanlage immer noch in vielerlei Hinsicht dem traditionellen Jerusalemer Priestertum. Dies ist insofern verständlich, als sich die Kritik der Gemeinschaft nicht am Jerusalemer Priestertum an sich entzündete, sondern an seinem ethischen Erscheinungsbild und dem daraus resultierenden Mangel an kultischer Integrität. Entsprechend mussten die Priester des yaḥad beweisen, dass sie das bessere und legitimere Priestertum sind. Dieses Programm setzte implizit eher reaktionäre als innovative Kräfte frei. Kugler gliedert das Aufgabenspektrum der Priester des yaḥad in fünf Kategorien:107 (1) Priester bei der Gottesdienstleitung Die Priester übernahmen selbstverständlich die Leitung in den Gottesdiensten des yaḥad. Sie sprachen Segnungen, verkündigten die Taten Gottes und verfluchten die Frevler (1QS 1,18–22; 2,1.11), segneten die Speisen (1QS 6,4f.; 1QSa 2,19f.) und schlossen feierlich irrende Gemeindeglieder aus (4Q266 Fr. 18 5 = 4Q270 Fr. 11 1). Die Gottesdienstordnung war dabei natürlich diejenige des Tempelgottesdienstes, denn diese wollte man im yaḥad vollkommener erfüllen als die Jerusalemer Priesterschaft.108 (2) Priester als Ausleger des Gesetzes Priester lehrten und interpretierten auch im yaḥad die Tora109 und rezitierten die Taten Gottes (1QS 1,21ff.). Entsprechend intensiv waren auch ihre Studienbemühungen. Nach der Gemeinderegel widmeten alle Mitglieder des yaḥad ein Drittel jeder Nacht dem Torastudium. Auch vor dem eschatologischen Kampf soll der Priester die Kämpfer der Hilfe Gottes versichern (1QM 10,2–5; 15,6–11). 106 KUGLER, Evidence, 479: „… what may be expressed here is simply the community’s self-definition as former altar priests who, in exile and cut off from the temple, identifiy themselves in a symbolic way as Levites, and who look forward to the day when, by God’s will, they will once again be the priests in charge of the temple, that is the Zadokites“ [kursiv bei K.]. 107 Siehe zum Folgenden KUGLER, Priesthood at Qumran, 109–111; DERS., Art. Priests (EncDSS), 690f.; vgl. auch DOMMERSHAUSEN, Art. kohen, 76, und BEST, Spiritual Sacrifice, 273f. 108 Vgl. SCHIFFMAN, Community, 275f. 109 1QS 5,9f.; 6,6; CD 12,22–13,7; 14,6–8; 1QSb 3,22–25; 1QpHab 2,7–10.

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(3) Priester als Richter Die Priester in Qumran entschieden über die Akzeptanz von Novizen und neuen Mitgliedern des yaḥad (1QS 5,21; 6,19; 9,7) und führten diese ein (1QS 1,18–2,23). Das hatte mit höchster Sorgfalt zu geschehen, weil der yaḥad den Tempel ersetzte (1QS 5,5f.; 8,5–7; 9,6) und entsprechend rein gehalten werden musste. Zur Erfüllung politisch-jurisdiktioneller Aufgaben wurde nach 11QT 57,11–15 ein aristokratisches Leitungsgremium konstituiert: ein sog. Kronrat aus zwölf Priestern, zwölf Leviten und zwölf Stammesfürsten, der Recht sprechen und Tora erteilen sollte. Dagegen bestand nach CD 10,4–6 das Gerichtsgremium der Gemeinschaft nur aus zehn Männern, von denen vier Priester sein mussten.110 (4) Priester als Gemeindeleiter Dass die Gemeinschaft durch Priester geleitet wurde, geht aus zahlreichen Belegen hervor (1QS 5,2.9.21; 6,8.19; 8,1; 9,7; CD 10,4–7; 13,3; 14,6) – umstritten ist lediglich, ob dies von Anfang an so war. Diese Leitung wird jedoch in der Regel in Kooperation mit Laien beschrieben, wobei die Priester bei den Gottesdiensten einen privilegierten Platz einnahmen (1QS 6,8; 1QSa 1,2; 2,3.12f.; CD 14,3.6; 4Q270 Fr. 11 1,16). (5) Opfernde Priester? Es ist unwahrscheinlich, dass die Priester des yaḥad Opfer darbrachten, auch wenn bei Jos Ant 18,19 (vgl. Philo Prob 75) eine scheinbar konträre Angabe gemacht wird.111 Möglicherweise sandten Mitglieder der Gemeinschaft Opfer nach Jerusalem (vgl. CD 9,14; 11,17–12,2; 16,13–16) oder bestimmten Opfer für ihre Priester,112 aber grundlegend bleibt 1QS 9,4–5, wo Gebet und Lobpreis in den Qumranschriften an die Stelle der Opfer treten.113 Allerdings erwarten die Qumranschriften, dass diese Aufgabe den Priestern des yaḥad in einem eschatologischen Zeitalter, das einer von ihnen heraufführen wird, wieder zufallen wird (4Q174 3,1–7; 1QM 2,5–6; 2Q24 Fr. 4 11–18). 2.5 Der priesterliche Messias Eine Besonderheit der Qumrantexte ist die einzig in diesen belegte Erwartung eines priesterlichen Messias. Die Profilierung dieser Gestalt wird jedoch dadurch erschwert, dass in den genuinen Texten des yaḥad ein priesterlicher Messias immer nur in Verbindung mit einem herrscherlich110

Vgl. dagegen 4Q159 Fr. 2–4 4. Vgl. KLINZING, Umdeutung, 44–49; KLAWANS, Purity, 161f.; KUGLER, Art. Priests (EncDSS), 691, und SCHIFFMAN, Community, 272, der von der Voraussetzung ausgeht, dass Khirbet Qumran die Siedlung des yaḥad ist: „There ist absolutely no archaeological evidence that would indicate the presence of a cult site or Temple at Qumran.“ 112 Diese Praxis wäre jedoch im Widerspruch zu CD 6,11f. gestanden, wo alle Opfer im Jerusalemer Tempel als „unnützes Feuer“ (v)erachtet werden. 113 SCHIFFMAN, Community, 272–274. 111

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königlichen Messias auftaucht, die beide mit der stereotypen Formel „die Gesalbten Aarons und Israels“ bezeichnet werden. Das Syntagma ist bisher ausschließlich in den Qumrantexten belegt (1QS; 1QSa; CD bzw. 4Q266– 273). Als locus classicus kann hier der Beleg aus der Gemeinderegel 1QS 9,11 gelten, wo die eschatologische Erwartung des Kommens „eines Propheten114 und der Gesalbten Aarons und Israels“ erwähnt wird. Komplizierter stellen sich die Dinge in der Damaskusschrift dar, wo stets nur im Singular von einem „Gesalbten Aarons und Israels“ die Rede ist.115 Da die Formulierung stets ohne nähere Erläuterung verwendet wird, liegt es nahe, an eine bereits fest geprägte Wendung zu denken, die keiner Erklärung mehr bedurfte. Das Problem ist seit Jahrzehnten Gegenstand der Diskussion. J. Zimmermann macht jedoch in seiner grundlegenden Untersuchung deutlich, dass v.a. im Blick auf CD 20,1 auch ein duales Verständnis im Sinne einer Herkunftsbezeichnung („Gesalbter von Aaron und [Gesalbter] von Israel“) möglich ist.116 Neben den Belegen aus der Gemeinderegel (1QS 9,11; vgl. auch die Erwähnung des Priesters in 1QSa 2,11ff.) und der Damaskusschrift ist 4Q175,14–20 der einzige Text aus der genuinen Literatur des yaḥad, wo im Rahmen einer Testimoniensammlung in Anlehnung an Dtn 33,8–11 eine priesterliche Gestalt messianische Züge bekommt.117 Mit dem Auftreten der Genannten kommt an mehreren Stellen die Geltung provisorischer Vorschriften, die mit dem Interimszustand des yaḥad verbunden sind, an ein Ende.118 Dies lässt vermuten, dass mit der/den erwarteten Gestalt(en) (ein) neue(r) Gesetzgeber bzw. -ausleger (vgl. 4Q174; CD 7) gemeint ist/sind.119 Möglich – jedoch nicht deutlich – ist auch, dass mit seinem/ihrem Auftreten eschatologische Sühnehandlungen und ein richterliches Handeln einhergehen.120 Da in den genuinen Texten des yaḥad von einem priesterlichen Gesalbten ausschließlich in Verbindung mit einem königlichen Gesalbten die Rede ist, legt sich für die Eschatologie der Gemeinschaft die Überzeugung 114

Es könnte sich hier um die Erwartung eines im Frühjudentum, vgl. 1Makk 4,46, bekannten eschatologischen Propheten nach Dtn 18,15–18 handeln, dessen Aufgabe es sein wird, eine neue, autoritative Toraauslegung für die Endzeit zu geben. 115 CD 12,23–13,1; 14,19/4Q 266 Fr. 18 1/4Q269 Fr. 13; CD 19,10f.; 20,1. 116 ZIMMERMANN, Messianische Texte, 42f.; ebenso KUGLER, Art. Priests (EncDSS), 690. „Aaron“ und „Israel“ bezeichnen dann die beiden wichtigsten Gruppen der „Gemeinde im Land Damaskus“, vgl. CD 1,7; 6,2–5. Solche Herkunftsbezeichnungen finden sich auch in den Testamenten der zwölf Patriarchen, wo von einem Retter „aus Levi“ und „aus Juda“ die Rede ist, vgl. TestSim 7,1f.; TestGad 8,1; TestJos 19,11. Ein Nebeneinander von einer priesterlichen und einer königlichen Person findet sich möglicherweise auch in 1QM 11,7–9; 4Q 285 Fr. 5 5 und 4Q161 Fr. 8 18–25. 117 Vgl. ZIMMERMANN, Messianische Texte, 428–436. 118 1QS 9,11; CD 12,23; 14,19. 119 ZIMMERMANN, Messianische Texte, 41. 120 ZIMMERMANN, Messianische Texte, 41.

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einer „messianischen Doppelspitze“ nahe, wobei es Indizien gibt, dass der priesterliche Gesalbte gegenüber dem politisch-militärischen Führer einen Ehrenrang besitzt. Jener ist diesem gegenüber weisungsbefugt (4Q161 Fr. 8 24; vgl. auch 1QSa 2,11ff.) und somit in der Würde vorgeordnet.121 Von einem „gesalbten Priester“ sprechen noch mehrere Texte, die in Qumran gefunden wurden, die jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach „voroder außerqumranische(n) bzw. nichtessenische(n)“ Ursprungs sind.122 Während 4Q375 und 376 einen (gesalbten) Priester – möglicherweise in einem eschatologischen Kontext – erwähnen, dessen Konturen jedoch sehr undeutlich bleiben, wird in einem sehr schlecht erhaltenen, aramäischen Text in 4Q541 eine priesterliche Gestalt erwähnt, die Sühne schaffen wird und deren Lehre universale Erleuchtung bewirkt, die jedoch auch starken Widerstand erfährt (Fr. 9 1,2–7) und an den jesajanischen Gottesknecht erinnert. Möglicherweise ist auch in dem kurzen und undeutlichen Text in 4Q540 von dieser Gestalt die Rede. Durch die starken Parallelen von 4Q541 zu TestLev 18 ist wahrscheinlich an den eschatologischen (Hohe)Priester der Endzeit zu denken.123 Die messianischen Texte aus den Höhlen von Qumran sind insgesamt zu undeutlich, als dass man aus ihnen allzu weitreichende Schlüsse ziehen könnte.124 Es scheint, dass eine priesterliche Messiasvorstellung zwar kein exklusives Theologumenon des yaḥad war, dort aber durch die Verknüpfung mit einem politisch-militärischen Messias zu einer Art messianischer Doppelspitze eine besondere Ausprägung erfahren hat.125 Funktional schließt diese Figur sowohl in den yaḥad-internen wie -externen Texten an die klassischen priesterlichen Funktionen des Segnens (1QM; 1QSa 2), des Sühnevollzugs (4Q541 Fr. 9 1,2) und in erster Linie der Lehre (4Q541 Fr. 9 1,3; 4Q175) an. 2.6 Allgemeines Priestertum in Qumran? In den Qumranschriften finden sich zahlreiche Hinweise, dass sich der gesamte yaḥad als eine Gemeinschaft mit priesterlichem Charakter verstand.126 Vor allem in der Gemeinschaftsregel wird deutlich, dass der 121

ZIMMERMANN, Messianische Texte, 311. ZIMMERMANN, Messianische Texte, 310. 123 ZIMMERMANN, Messianische Texte, 276. Er zieht in Erwägung, dass es sich „bei 4Q541 u.a. um eine Interpretation von Jes 53 auf eine priesterliche Gestalt“ handelt. 124 ZIMMERMANN, Messianische Texte, 474, hält noch in weiteren Texten Hinweise auf einen priesterlichen Messias bzw. eine eschatologische Figur mit priesterlichen Zügen für möglich: Neben CD 7 und 4Q174 könnten auch die Segenssprüche in 1QSb aus einem Segensformular für den eschatologischen Hohepriester stammen. 125 ZIMMERMANN, Messianische Texte, 311. 126 Schon KLINZING, Umdeutung, 136, kam zu der Überzeugung, dass alle Priesterbegriffe auf die ganze Gemeinde zu beziehen sind und in den Qumranschriften eine Vorstu122

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yaḥad Funktionen für sich beanspruchte, die traditionell dem Priestertum vorbehalten waren, allen voran die Sühnefunktion (1QS 5,1–7; 9,4–5; vgl. 1QM 2,5–6). Dem entspricht die Selbstdefinition als „heilig“ (1QS 8,5– 6.8; 9,6; 10,4) sowie als „Heiligtum Aarons“, „Allerheilgstes für Aaron“ bzw. „heiliges Haus für Aaron“ (1QS 5,6; 8,5f.8f.; 9,6; vgl. 4Q174 3,3–4) und damit korreliert auch die Adoption priesterlicher Regeln für die Reinheit (1QS 5,13; 6,16–17; 1QSa 2,3–10; CD 15,15–17) und das Alter für den Dienst (1QSa 1,8–17; CD 10,6–8). Die deutlichste Identifikation der Gemeinschaft als ein Allgemeines Priestertum findet sich in CD 3,19–4,4: (19) Und er baute ihnen ein zuverlässiges Haus in Israel, wie es zuvor nie bestanden hatte (20) bis heute, und die daran festhalten, sind für ewiges Leben (bestimmt) und alle Menschen-Ehre, ihnen gilt sie. So wie Gott es für sie (21) festgestellt hat durch den Propheten Ezechiel folgendermaßen: Und die Priester und die Leviten und die Söhne (1) Zakoks, die den Dienst meines Heiligtums gewahrt haben, als die Israeliten abirrten (2) von mir, sie sollen mir darbringen Fett und Blut (Ez 44,15). Und die Priester – sie sind die Umkehrenden Israels, (3) die aus dem Land Judah ausziehen, und jene, die sich ihnen anschließen. Und die Söhne Zadoks – sie sind die Erwählten (4) Israels, namentlich Berufene, die Dienst tun am Ende der Tage.127

Im Licht dieses und anderer Texte hat jüngst S. Paganini von der „eschatologisch-utopischen Vision eines Volkes aus Priestern“ gesprochen.128 Er begründet diese Interpretation zum einen mit der domierenden Rolle von Priestern im yaḥad und folgert daraus, dass die „besondere Aufmerksamkeit für die Rolle des Priestertums zeigt, dass die biblische Vorstellung eines ‚Volkes aus Priestern‘ sehr aktuell war“.129 Zum anderen ist es der im vorigen Abschnitt skizzierte, priesterlich geprägte Messianismus aus CD und 1QS und die herausragende Rolle, die der Hohepriester im eschatologischen Endkampf130 bzw. beim eschatologischen Festmahl (1QSa 2,11– 22) einnimmt, wovon Paganini die Vorstellung eines „priesterlichen Volk[es]“ in den Qumranschriften ableitet.131 Nun ist unbestritten, dass in den erwähnten Schriften die Priesterschaft eine herausragende und dominierende Rolle sowohl in der Gegenwart als auch in der eschatologischen Zukunft spielt, aber ein „Volk von Priestern“ fe der Vorstellung vom Allgemeinen Priestertum existiere. Diese These konnte sich jedoch aufgrund der häufigen Unterscheidungen von Priestern und Nicht-Priestern in den Texten zu Recht nicht durchsetzen. 127 Übersetzung nach J. MAIER, Texte I, 12f.; kursiv bei M. 128 P AGANINI, Vision, 31–67; ähnlich auch ROOSE, Teilhabe, 185: „CD 4 kann also Priesterbegriffe ausweiten und auf die gesamte Gemeinde beziehen. Abgehoben ist gerade nicht auf eine herausgehobene Gruppe mit besonderen Privilegien. Vielmehr klingt so etwas wie ein ‚allgemeines Priestertum‘ an …“ 129 P AGANINI, Vision, 33f. Auf die neuere Forschungsdiskussion zur fraglich gewordenen Rolle der Priester bei der Gründung der Gemeinschaft geht P AGANINI nicht ein. 130 1QM 2,1; 10,2; 15,4; 16,13; 18,5; 19,11. 131 P AGANINI, Vision, 38ff.

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im Sinne der Exodusformel, in dem alle Mitglieder eine priesterliche Identität besitzen, spiegelt die eher hierokratische Konzeption des yaḥad gerade nicht wieder. In dieser Hinsicht blieb die Gemeinschaft ganz und gar innerhalb der von der Tora vorgegebenen hereditären Grenzen. Anders als im frühen Christentum wurde hier die grundlegende Unterscheidung zwischen Priestern und Laien wie überhaupt das Profil des priesterlichen Dienstes gemäß dem „levitischen Paradigma“ mitsamt den Erfordernissen hinsichtlich Abstammung und Reinheit aufrecht erhalten, obwohl im yaḥad die funktionalen Unterschiede zwischen Priestern und Laien durch den Verzicht auf die Opfer im yaḥad wesentlich geringer in Erscheinung traten.132 Trotz der priesterlichen Charakteristik der Gemeinschaft konnte sich der yaḥad zur konsequenten Ausgestaltung eines „Allgemeinen Priestertums“ nicht durchringen. Die enge Bindung an die Tora und die Existenz von durch Abstammung legitimierten Priestern in den Reihen des yaḥad machte einen solchen hermeneutischen Schritt unmöglich.133 Auch eine Metaphorisierung des Priesterbegriffs analog zum Tempel- und Opferbegriff war auf diesem Hintergrund nicht vorstellbar.134 2.7 Ergebnis So undeutlich die Anfänge und Motive zur Gründung des yaḥad auch sind, so klar ist doch der Wille, mit dem yaḥad eine Substitution des Jerusalemer Tempelkultes zu etablieren. Die Kritik am letzteren entzündete sich sowohl an kultischen wie ethischen Defiziten durch die der yaḥad die priesterliche Integrität und folglich auch die Wirksamkeit des priesterlichen Opfer- und Sühnedienstes beeinträchtigt sah, was mit dem Begriff „unnützes Feuer“ (CD 6,14) umschrieben wurde. Zur Kompensation dieses heilsrelevanten Defizits versuchte der yaḥad selbst durch höhere Standards der kultischen wie ethischen Heiligkeit das bessere und legitimere Priestertum zu verkörpern. Dieses war jedoch aufgrund des nach wie vor anerkannten zentralen Kultortes in Jerusalem zu einem Kult ohne Tieropfer gezwungen. An ihre Stelle traten das Gebet und der Lobpreis. 132

HIMMELFARB, Kingdom, 4, formuliert den von ihr postulierten Grundkonflikt des Frühjudentums zwischen „ancestry and merit“ für die Qumrangemeinschaft wie folgt: „For these sectarians, Jewish ancestry is necessary, but far from sufficient, for membership in the holy community.“ 133 Vgl. KLINZING, Umdeutung, 143: „Es muß wohl in der Priesterschaft der Gemeinde Kreise gegeben haben, die an den alten Privilegien soweit wie möglich festhalten wollten und deshalb die neuen kultischen Vorstellungen nicht mit allen Konsequenzen mitvollziehen konnten.“ Entsprechend scheinen auch die Leitungsstrukturen innerhalb des yaḥad wesentlich hierarchischer angelegt gewesen zu sein als in der Frühzeit der ntl. Gemeinden. 134 KLINZING, Umdeutung, 217f.

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

Gänzlich substituiert wurden dagegen die Priesterschaft und die Gemeinde Israels. Der yaḥad aus Priestern und Laien bildete als Gemeinde einen metaphorischen Tempel innerhalb des als Tempelanlage verstandenen Israel. Dieser Entwurf eines alternativen „Seins vor Gott“ war auf der einen Seite weniger weitreichend als der oniadisch-zadokidische Alternativtempel in Leontopolis, auf der anderen Seite aber auch kreativer und offensichtlich attraktiver für viele Gleichgesinnte. Denn er blieb im Land Israel, verzichtete auf einen neuen Tempelbau und eröffnete auf den Prinzipien der Frömmigkeit und Heiligkeit ein elitäres und heilvolles „Sein vor Gott“ für jedermann, oder um es mit den Worten L. Schiffmans zu sagen: „Whereas Israelite religion assumed that God could best be approached through the sacrificial system in the Temple, it was the view of the sectarians that, in view of the impure state of Temple worship, life in the sect, following its principles and its laws, would best bring humans into close contact with God.“135 So sehr die Gemeinschaft einen priesterlichen Charakter beanspruchte, so wenig fand diese Selbstdefinition ihren Ausdruck in der Gemeindeordnung und der Praxis des alltäglichen Zusammenlebens. Die von der Tora gesetzten Unterschiede zwischen Priester, Leviten und Laien blieben auch im yaḥad im Grundsatz unangetastet. Ein Allgemeines Priestertum war die Gemeinschaft daher nur gemäß ihrem Anspruch, nicht gemäß der Wirklichkeit. Exkurs 2: Priester in Qumran und die frühchristliche Gemeinde Exkurs 2: Priester in Qumran und die frühchristliche Gemeinde Die auffälligsten Analogien zwischen dem yaḥad und der ntl. Gemeinde liegen in ihrer Entstehung und ihrem Versammlungsort. Der auslösende Faktor, der zur Gründung beider Gemeinschaften führte, war eine überragende Gestalt, die in beiden Fällen von der politischen Elite des zeitgenössischen Judentums abgelehnt wurde. Während der „Lehrer der Gerechtigkeit“ aller Wahrscheinlichkeit nach seines hohepriesterlichen Amtes enthoben wurde, fand Jesus ein gewaltsames Ende durch einen jüdischen und römischen Prozess. So unterschiedlich die Sammlungsvorgänge der jeweiligen Gemeinschaften auch waren, so ähnlich ist doch das Ergebnis. Hier wie dort entstand eine Gemeinschaft, die sich durch heterogene theologische Überzeugungen vom Judentum ihrer Zeit absetzte. Beide Gemeinschaften teilten ein apokalyptisch-eschatologisch geprägtes Verständnis der Heilsgeschichte.136 Auffallend ist ferner, dass für beide Gruppen der Jerusalemer Tempel an Bedeutung verlor und die Gottesdienste an anderen legitimen Orten gefeiert werden konnten. Für den yaḥad war dies möglicherweise Khirbet Qumran und viele andere Ḥaburot, für die frühen christlichen Gemeinden waren es schlicht die Wohnhäuser ihrer

135

SCHIFFMAN, Community, 272. SCHÜSSLER-FIORENZA, Cultic Language, 163; STRACK, Terminologie, 385; VAHRENHORST, Sprache, 155. 136

3 Das Priesterbild der Levi-Tradition

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vermögenden Mitglieder.137 Das Wesen einer jüdischen Gemeinschaft mit einem opferlosen Gottesdienst abseits des Jerusalemer Tempels, für deren Beschreibung sie jedoch die kultische Sprache und Terminologie verwendeten, ist die hervorstechendste Analogie zwischen beiden sozialen Gruppen.138 Hier enden dann allerdings auch rasch die Gemeinsamkeiten. Zwar blieb auch die frühe christliche Gemeinde stets an Jerusalem orientiert,139 aber im Unterschied zur Gemeinschaft der Qumranschriften hoffte sie nicht auf eine eschatologische Substitution der Jerusalemer Kultgemeinde durch die eigene Gruppierung. Im yaḥad blieben auch die grundlegenden Differenzierungen der Tora zwischen Priestern, Leviten, Laien und Heiden unangetastet. Die hereditäre Bestimmung des Menschen blieb trotz aller Hochachtung von Frömmigkeit und Toratreue in Kraft. Während es sehr bald zum Signum frühchristlicher Gemeinden wurde, dass grundsätzlich alle Menschen jenseits sozialer, ethnischer oder geschlechtlicher Grenzen zum Eintritt in die Gemeinschaft eingeladen waren (vgl. Gal 3,28), konnte der yaḥad von seinen kultischen und hereditären Grenzlinien nicht absehen und musste deshalb nicht nur Nichtjuden, sondern auch Juden mit körperlichen Gebrechen strikt abweisen (1QSa 2,3–11).140 Auch das Verhältnis zum Jerusalemer Tempel blieb ein unterschiedliches: Während der yaḥad bei aller Kritik durchaus positiv auf den Jerusalemer Tempel ausgerichtet war und dessen eschatologische Erneuerung erwartete, stellte für die christliche Urgemeinde in Jerusalem die in Act 4–5 reflektierte Verdrängung aus dem Tempel als ihrem öffentlichen Versammlungsort keine ernste Zäsur dar und für die heidenchristlichen Gemeinden der mediterranen Welt hatte dieser Tempel nie eine größere Bedeutung. Aus dieser Perspektive erscheint die These Klinzings, wonach „kein Zweifel darüber bestehen [kann], daß die Vorstellung [sc. von einer Gemeinschaft als Tempel] aus der Qumrangemeinde stammt“141 etwas kühn und voreilig. Die Hintergründe, Ausprägungen, Theologien und Sozialformen waren zu unterschiedlich, als dass man ohne eindeutige Textparallelen eine solche Herleitung rechtfertigen könnte.

3 Das Priesterbild der Levi-Tradition 3 Das Priesterbild der Levi-Tradition

In jüngerer Zeit erlangte eine Reihe von Texten eine verstärke Aufmerksamkeit, die sich alle in unterschiedlicher Weise um die Gestalt Levis ranken, ihn zu einem idealen Priester und jüdischen Führer stilisieren und die Begründung des Priestertums auf ihn zurückprojizieren.142 Aufgrund ihrer 137

Vgl. dazu GEHRING, Hausgemeinde, und GÄCKLE, Gottesdienste, 53–56. Auf eine Reihe weiterer theologischer und soziologischer Analogien macht R IESNER, Essener und Urgemeinde, aufmerksam. 139 Vgl. Act 20ff.; Röm 15,19.25f.31; 1Kor 16,3; 2Kor 8f.; Gal 4,23ff. 140 Auch H IMMELFARB, Kingdom, 142, weist auf diese Begrenzung hin. So sehr die progressive, auf Frömmigkeit und Leistung („merit“) beruhende Unterscheidung zwischen den „Kindern des Lichts“ und den „Kindern der Finsternis“ die Regeln der Abstammung außer Kraft setzte, so sehr blieb der yaḥad im Blick auf die Heiden dem Prinzip der Abstammung verhaftet. 141 KLINZING, Umdeutung, 210. 142 Vgl. hierzu die Arbeiten von KUGLER, Patriarch; DRAWNEL, Aramaic Wisdom Text; GREENFIELD/STONE/ESHEL, Aramaic Levi Document. 138

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

Nähe zu den Qumranschriften erfolgt ihre Darstellung und Auswertung gleich im Anschluss an dieselben, auch wenn es nicht möglich ist, sie eindeutig einer bestimmten Religionspartei zuzuordnen. 3.1 Die priesterliche Levi-Tradition Zu diesen Texten ist zum einen das aramäische Levi-Dokument zu rechnen, das erstmals unter den Schriften der Kairoer Geniza entdeckt wurde und vermutlich aus dem 3., evtl. auch aus dem frühen 2. Jh. v.Chr. stammt.143 Zum Zweiten gehören zu dieser Tradition die Kapitel 30,1–32,9 aus dem Jubiläenbuch, das gemeinhin in das 2. Jh. v.Chr. datiert wird.144 Schließlich zählt zum Dritten das Testament Levis aus den Testamenten der zwölf Patriarchen dazu, das deutlich christliche Bearbeitungsspuren aufweist und dessen Entstehungsgeschichte kaum mehr zu erhellen ist. Falls es eine jüdische Grundschrift gegeben haben sollte, dürfte diese ebenfalls im 2. Jh. v.Chr. zu verorten sein.145 Das Verhältnis dieser drei frühjüdischen Levi-Texte zueinander ist Gegenstand einer langen Debatte. Kugler vermutet, dass sowohl das aramäische Levi-Dokument als auch Jub 30,1–32,9 auf ein älteres LeviApokryphon Bezug nehmen,146 während das Testament Levis das aramäische Levi-Dokument zu Grunde legt, dieses aber in eigener Weise entfaltet.147 Möglicherweise stellt bereits Mal 2,4–7 einen Anfangspunkt einer priesterlichen Levi-Reflexion dar, wo Levi als eine priesterliche Idealfigur behandelt wird, die zum ethischen Maßstab und Kontrast für das depravierte zeitgenössische Priestertum dient. Als biblischer Hintergrund für diese ideale Levi-Figur dienen in den besagten Schriften die biblischen Levi-Texte aus Gen 34; Ex 32,25–29; Num 25,6–13 und Dtn 33,8–11. Alle drei Texte knüpfen an die Dina-Perikope in Gen 34 an, rühmen den Racheakt, den Levi mit seinem Bruder Simeon an dem Hiwiter-Fürsten Hamor und seinen Söhnen voll-

143

So GREENFIELD/STONE/ESHEL, Aramaic Levi Document, 19f., und STONE, Art. Aramaic Levi Document, 362; dagegen reklamiert DRAWNEL, Aramaic Wisdom Text, 66f., dass der Verfasser eine Kenntnis des numerischen Systems der Babylonier hatte und metrologische Listen der Babylonier imitiert, und das Dokument deshalb bereits ans Ende des 4. Jh. oder in das frühe 3. Jh. v.Chr. und damit in die frühe hellenistische Zeit datiert werden müsse, a.a.O., 71–75. 144 Zu den Einleitungsfragen →III.2.3.2. 145 Zu den Einleitungsfragen →III.1.2.1. 146 KUGLER, Patriarch, 130f.221f. 147 KUGLER, Patriarch, 221f., im Anschluss an HAUPT, Testament des Levi, 123. Zur Diskussion vgl. KUGLER, Patriarch, 5.

3 Das Priesterbild der Levi-Tradition

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zieht und begründen damit seine Erhebung zum Ur-Priester Israels.148 In der je eigenen Entfaltung dieses Stoffes wird Levi in allen Schriften zum idealen Priester stilisiert, der bereits zu Lebzeiten das Priesteramt verliehen bekommt.149 In dem aus verschiedenen fragmentarischen Qumrantexten,150 zwei Teilen eines Manuskripts aus der Kairoer Geniza und Zusätzen zum Berg-Athos-Manuskript der Testamente der zwölf Patriarchen (TestLev 2,3; 18,2) rekonstruierten Text des aramäischen Levi-Dokuments 151 wird im Anschluss an die – leider nur fragmentarisch erhaltene – Dina-Sichem-Erzählung (ArLev 1,1–2,1)152 und das Gebet Levis (3,1–18) Levi in einer Traumvision von Engeln zum Priester ernannt (4,4–7); von seinem Vater Jakob empfängt er den Zehnten (5,2), von seinem Großvater Isaak wird er gesegnet und zum Priester ordiniert (5,1.3–8) und im priesterlichen Recht unterwiesen (5,9–10,14). Nach einem biographischen Teil über Levis Nachkommen (11,1–12,9) schließt das aramäische LeviDokument mit einer weisheitlichen Unterweisung seiner Kinder ab (13,1–16). Auch Jub 30,1–32,9 sieht Levi aufgrund seines in der Vergeltung für Dinas Schändung erwiesenen Eifers (30,1–4.18–21) als idealen Kandidaten für das priesterliche Amt. 153 Die Isaak-Segnung und die Jakob-Berufung zum Priester werden wesentlich breiter ausgeführt (c. 31), wobei sich in 31,13–17 eine Paraphrase von Dtn 33,8–11 findet. In einer Vision wird Levi von seinem Vater Jakob in das priesterliche Amt eingeführt, um an Stelle seines Vaters die Opfer darzubringen und den Zehnten zu empfangen (32,1–9). Das Testament Levis beginnt mit einer Schilderung einer Vision und einer Himmelsreise, in der Levi über die sieben Himmel belehrt wird (c. 2,1–4,1). In 4,2–6 wird er über Gottes Gericht unterwiesen und ihm wird die Erhörung seines Gebetes um Erlösung von aller Gottlosigkeit zugesagt. In 5,1–6,2 werden ihm die Tore des Himmels geöffnet, er schaut den heiligen Tempel und den Höchsten auf dem Thron der Herrlichkeit und bekommt das Priesteramt zugesprochen. In 6,3–7,4 wird Levis Rache an Sichem und seine Rechtfertigung dafür berichtet. Seine Erhöhung zum priesterlichen Amt wird in 8,1–19 von Engeln vollzogen. Wie in ArLev 5 und Jub 30,1–32,9 reist Levi zu seinem Großvater Isaak, empfängt dort den Segen, reist mit seinem Vater Jakob nach Bethel, um dort von ihm den Zehnten zu bekommen (9,2b-4) und reist wiederum zu Isaak, um dort die priesterlichen Instruktionen zu empfangen (9,5–14). Analog zum aramäischen Levi-Dokument wird dann seine Lebensgeschichte erzählt (11,1–12,7), und das Buch schließt mit einer langen Rede über die Weisheit und das künftige Geschick seiner Nachkommen im Priesteramt (13,1–15,4; 16,1–18,14). Während in TestLev 17 eine fortschreitende Dekadenz des zeitgenössischen Priestertums beklagt wird, trägt die Erwartung des „neuen Priesters“ in TestLev 18 deutlich eschatologische Züge.

148

Vgl. B ERGER, Jubiläen, 469: „Der Bericht über die Schändung und Rächung der Dina in Gen 33,18–35,5 ist nur der Rahmen für daraus abgeleitete Bestimmungen über Mischehen und das Priestertum Levis.“ 149 Vgl. VANDERKAM, Creation, 548. 150 Vgl. hierzu den instruktiven Überblick der verschiedenen Textzeugen bei GREENFIELD/STONE /E SHEL, Aramaic Levi Document, 48f. 151 KUGLER, Patriarch, 23–138; DRAWNEL, Aramaic Wisdom Text, 97–204; GREENFIELD/STONE /E SHEL, Aramaic Levi Document, 56–109. 152 Die Verszählung erfolgt hier nach der neuesten Ausgabe von GREENFIELD/STONE/ ESHEL, Aramaic Levi Document. 153 Vgl. hierzu auch VANDERKAM, Creation.

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

3.2 Levi und das ideale Priestertum Für unsere Fragestellung nach der Wahrnehmung und Bewertung des Jerusalemer Priestertums in frühjüdischer Zeit ist v.a. von Bedeutung, dass die Figur Levis in allen drei Schriften in Anlehnung an die biblischen LeviTexte in anachronistischer Weise als idealer Priester und Begründer einer ebenso vollkommenen Priesterschaft in seinen Nachkommen präsentiert wird.154 Im Hintergrund dieser Idealisierung steht offensichtlich eine besondere Konzeption des priesterlichen Amtes, die auf ein konservatives jüdisches Milieu schließen lässt, das gleichwohl dem gesamten Volk im Licht von Ex 19,6 eine priesterliche Identität zuspricht. 3.2.1 Das aramäische Levi-Dokument Das aramäische Levi Dokument „takes an extreme position on the centrality of the priesthood“155und vertritt eine Sicht desselben, die sich als patriotisch und konservativ beschreiben lässt: „It insists that it is better to be a priest than anything else: political power is inferior to priestly privilege; the skills of the scribe are a nice addition to one’s resumé, but they are not an essential part of the priestly office.“156 Auf Levi, der auf dem Hintergrund der Dina-Perikope für seinen frommen Eifer gepriesen wird, werden dabei sowohl königliche wie priesterliche Züge übertragen,157 was von ferne an die doppelte Messiasvorstellung in einigen Qumrantexten erinnert, v.a. an die singuläre Bezeichnung eines „Gesalbten aus Aaron und Israel“ im Damaskusdokument (→IV.2.5).158 Aufgrund der Verwendung des Sonnenkalenders,159 der Anklänge an die Zwei-GeisterLehre und anderer Detailbeobachtungen verorten Stone und Eshel das Dokument in einem frühjüdischen Milieu, das der Gemeinschaft, die sich in den Qumranschriften ausdrückte, nicht allzu fern steht.160 Drawnel weist dagegen auf die Vertrautheit des Verfassers mit der babylonischen Schultradition hin, in welcher der Autor seine schriftgelehrte Ausbildung bekommen haben muss: „He must have received his own scribal education in a Babylonian school or was trained in a Levitical didactic system modeled on the Babylonian scribal education.“161 Entsprechend verortet Drawnel das Dokument zu Be154

Vgl. v.a. ArLev 5,3–8; vgl. auch VANDERKAM, Creation, 545ff. GREENFIELD/S TONE/ESHEL, Aramaic Levi Document, 20. 156 HIMMELFARB, Kingdom, 50. 157 Vgl. ArLev 4,7; 5,5f.; 11,6. 158 GREENFIELD/S TONE/ESHEL, Aramaic Levi Document, 20f. 159 Bei der Verwendung des Sonnenkalenders, der auch vom Jubiläenbuch und den Qumranschriften präferiert wird, fällt im aramäischen Levi-Dokument im Unterschied zu diesen Schriften das Fehlen jeglicher polemischer Äußerungen gegenüber den Gegnern des Sonnenkalenders bzw. den Befürwortern eines alternativen Kalendersystems auf. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Schrift in einem frühen Stadium der Diskussion abgefasst wurde. 160 GREENFIELD/S TONE/ESHEL, Aramaic Levi Document, 22. 161 DRAWNEL, Aramaic Wisdom Text, 63. 155

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ginn der hellenistischen Epoche in Kreisen der levitischen Priesterschaft, die sich um die Ausbildungstradition ihrer Priester mühte.162

Weitere Herrschaftsaspekte kommen in ArLev 13,16 (vgl. 4Q213 Frg. 2/Kol ii, Z. 10–16) zum Ausdruck, wo die Leviten als „Anführer und Richter“ (!yjpvw !yvar) vorgestellt werden, die nicht nur als Knechte (!ydb[w), sondern als „Priester und Könige“ (!yklmw !ynhk) einen Herrschaftsbereich (!ktwklm) ausfüllen, was in der letzten Zeile als „große Ehre“ gedeutet wird.163 Bei den priesterlichen Eigenschaften steht die Leidenschaft für die Reinheit des Kultes (vgl. ArLev 6,1ff.) ebenso im Vordergrund, wie die Charakterisierung des Priestertums Levis mit den Attributen der Weisheit und Schriftgelehrtheit (vgl. ArLev 13,4.15, sowie die Lehraufgabe in 13,2– 11 mit Dtn 33,10). Eine besondere Betonung erfährt auch die Ableitung der priesterlichen Überlieferung von den Erzvätern, ja sogar von Noah, was offensichtlich der Steigerung der kultischen Autorität Levis dienen soll.164 Umstritten und ungewiss ist, ob im Schlussabschnitt des Buches ein unreines und illegitimes Priestertum vorhergesagt wird. Während Kugler und Drawnel die Ankündigung eines devianten Priestertums aus dem Fragment 4Q213 Fr. 4 an das Ende des aramäischen Levi-Dokumentes stellen,165 und Kugler den Inhalt des Fragments als Schlüssel für die Datierung des gesamten Dokumentes betrachtet,166 werden die Verse in der Textrekonstruktion von Greenfield/Stone/Eshel zur Gruppe der Fragmente gezählt, die nicht in die Sequenz des ArLev eingeordnet werden können.167

162

DRAWNEL, a.a.O., 78. Vgl. LABAHN, Licht, 66f. 164 Im ArLev wird Levi von Isaak unterwiesen (5,8); dieser wurde seinerseits von Abraham instruiert (7,4) und dessen priesterliche Kenntnisse werden bis auf Noah zurückgeführt (10,10); vgl. auch DRAWNEL, Aramaic Wisdom Text, 62. Nach HIMMELFARB, Kingdom, 56, betrachtet ArLev mindestens Noah, Abraham als auch Isaak als Priester, während eine priesterliche Identität Jakobs eher unsicher ist, weil Levi hier von Isaak in seine priesterlichen Pflichten instruiert worden war. 165 Nach der Zählung von KUGLER und DRAWNEL ist dies ArLev 102; vgl. DRAWNEL, Aramaic Wisdom Text, 169f. 166 KUGLER, Patriarch, 136. KUGLER, Testaments, 51, betrachtet die Schrift als einen „protest against the incumbent priesthood. Its authors were disenchanted with the priests in their failure as intermediaries between God and people.“ Folglich verortet er das Dokument im sektiererischen Milieu. Dagegen kann HIMMELFARB, Earthly Sacrifice, 106f.115f. im Widerspruch zu KUGLER keine sektiererische Position in der priesterlichen Gesetzgebung der Schrift erkennen. Eine deviante Position vertritt die Schrift lediglich mit dem Sonnenkalender und der Eheregelung. Daraus könne aber noch kein sektiererischer Hintergrund abgeleitet werden. 167 GREENFIELD/S TONE/ESHEL, Aramaic Levi Document, 216f. 163

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

3.2.2 Jub 30,1–32,9 Im Blick auf das Jubiläenbuch vermuten Himmelfarb und Segal, dass der Verfasser des Werkes das gesamte Volk Israel im Licht der Exodusformel, die zweimal in diesem Buch zitiert wird (Jub 16,18; 33,20), in einer priesterlichen Identität präsentieren will.168 Ein Indiz dafür ist die Rückprojektion der Tora und der Einsetzung des Priestertums in die Väterzeit. Im Zuge dieser anachronistischen Verschmelzung der Gabe der Tora und der Einsetzung des Priestertums mit der Epoche der Erzväter werden nicht nur die biblischen Protagonisten, angefangen von Adam über Henoch, Methusalem, Lamech, Noah, Sem, Abraham, Isaak und Jakob bis zu Levi, in einem priesterlichen Licht und als Täter der mosaischen Tora gezeichnet, sondern auch das Allerheiligste des Tempels im Paradies verortet (Jub 8,19).169 „Of all the works of the Second Temple period, Jubilees tries hardest to show that the people of Israel is indeed a kingdom of priests … Its retelling of the stories of the patriarchs grants a priestly role not just to Levi but to all of the most important ancestors of the Jewish people … Thus it manages to imply priestly ancestry for the entire Jewish people.“170 Die priesterliche Rolle Levis wird indes im Vergleich mit dem aramäischen Levi-Dokument auffallend heruntergespielt, was Himmelfarb mit dem Interesse erklärt, möglichst alle Israeliten in priesterlichem Glanz zu zeichnen und die Dissonanz aufgrund der Erwählung nur einer einzelnen Familie zum Priestertum zu reduzieren.171 Diese Schlussfolgerung wird unterstützt durch die Beobachtung, dass im Jubiläenbuch eine strengere

168

SEGAL, Art. Jubilees, Book of, 845; HIMMELFARB, Kingdom, 53–84; DIES., Democratization, 91–98: 98: „Jubilees claims priestly status for all Israel through observance of the laws of the Torah directed at the laity, and not only for a small elite that has taken upon itself more stringent rules.“ 169 Vgl. Jub 3,27; 4,25; 6,1–22; 14,11–20; 16,20–31; 32,27–29; 44,1. Bereits in ArLev wird Isaak durch die priesterliche Unterweisung seines Enkels Levi in einer priesterlichen Aura präsentiert und ArLev 5,7 wird erwähnt, dass er sein Wissen von Abraham erhalten habe und es diesem wiederum im Buch Noahs überliefert worden sei. Die Rückprojektion priesterlicher Identität auf die Erz- und Vorväter hat somit bereits hier einen – wenn auch etwas zurückhaltenderen – Ausgangspunkt. 170 HIMMELFARB, Kingdom, 53. 171 HIMMELFARB, Democratization, 93; DIES., Kingdom, 57: „Jubilees‘ unwillingness to show Levi acting as priest is particularly striking in comparison to Aramaic Levi … Thus, while Jubilees glorifies Levi as the ancestor of the priestly line, it plays down his performance of priestly duties.“ H IMMELFARB, ebd., vermutet, dass der bzw. die Verfasser des Jubiläenbuchs mit der Begrenzung des Priestertums auf eine Familie nicht einverstanden waren. Dafür spricht möglicherweise auch, dass Aaron im Jubiläenbuch überhaupt nicht erwähnt wird, was H IMMELFARB, Democratization, 93, Anm. 12; DIES., Kingdom, 58, mit der kritischen Haltung des Buches gegenüber dem zeitgenössischen Hohepriester erklärt.

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Halacha für alle Juden gilt, z.B. im Blick auf den Umgang mit Blut172 und im Blick auf sexuelle Beziehungen.173 Diese Halacha scheint stark vom Heiligkeitsgesetz in Lev 17–26 beeinflusst zu sein. So interpretiert der Verfasser in Jub 33,15–20 den in Gen 35,22 nur als Randnotiz erscheinenden Vorfall zwischen Ruben und Bilha als eine Vergewaltigung und fordert in diesem Zusammenhang von Israel eine strenge Sexualethik, weil die Unzucht die schlimmste Sünde ist. Bemerkenswerterweise führt er als weitere Begründung Ex 19,6 an, wo Israel die Identität eines priesterlichen Volkes zugesprochen wird (Jub 33,20).174 Das priesterliche Levibild von Jub 30,1–32,9 ist somit auf dem Hintergrund der Dina-Sichem-Perikope von einem anti-exogamen Impetus geprägt (30,7–15). Der von Gott zusammen mit seinen Nachkommen175 zum Priestertum und Priesterdienst erwählte (30,18), von seinem Großvater gesegnete (31,12–17) und von seinem Vater Jakob zum Priester ordinierte (32,2–9) Levi wird für seinen Eifer bei der Ermordung der Sichemiten gepriesen und als priesterliches Antibild einer Priesterschaft mit laxer Gesetzestreue und exogamen Ehen präsentiert. Seine Segnung durch Isaak und seine Ordination durch Jakob lässt die Patriarchen umgekehrt als Idealisraeliten erscheinen, die dem priesterlichen Stand die entsprechende Ehre und Bedeutung geben. M. Himmelfarb kommt daher zu dem Schluss, dass „Jubilees‘ program for a kingdom of priests has obvious similarities to the Pharisees goal of priestly purity for non-priests, and the connections are probably historical as well as phenomenological“.176 Für sie ist die Übertragung priesterlicher Standards auf das ganze Volk ein Weg, um bei bleibender Achtung des levitischen Erbpriestertums, das im Jubiläenbuch an keiner Stelle in Frage gestellt wird, ein Priestertum ganz Israels zu entwickeln, das freilich ebenfalls auf der Abstammung von Abraham gegründet ist.177 Die Spannung zwischen auf Abstammung gegründeter Volkszugehörigkeit und dem Plädoyer für einen gehobenen Standard an Heiligkeit bleibt auch im Jubiläenbuch ungelöst.178 172

So werden in Jub 6,7–14 die beiden noachidischen Verbote des Blutvergießens und des Blutgenusses anachronistisch mit der Funktion des Blutes als Sühnemittel in der Tora verknüpft, vgl. Lev 17,10f. 173 Vgl. Jub 7,20f.; 25,7; 39,6. 174 Auch in der Erzählung der Vergewaltigung Dinas in Jub 30 wird die Heirat einer israelitischen Frau mit einem Heiden als ein todeswürdiges Verbrechen deklariert, Jub 30,7.10, was so nirgendwo in der Tora eine Grundlage hat. 175 LABAHN, Licht, 105f., weist in diesem Zusammenhang auf den bemerkenswerten Umstand hin, dass im Jubiläenbuch Priester und Leviten kaum mehr differenziert werden, was eine deutliche Aufwertung der Leviten bedeutet. 176 HIMMELFARB, Democratization, 98. 177 HIMMELFARB, Democratization, 104; DIES., Kingdom, 59.84. 178 HIMMELFARB, Kingdom, 84.

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Im Blick auf die komplexe Frage nach der zeitgeschichtlichen Einordnung ist Jub 31,15 von Bedeutung. Dort wird den Nachkommen Levis wie schon in ArLev 13,16 (vgl. 4Q213 Frg. 2/Kol ii, Z. 10–16) verheißen, dass sie „Richter und Anführer und Könige“ sein werden „für allen Samen der Söhne Jakobs“. Diese Gerichts-, Führungs- und Herrschaftsfunktionen gehen deutlich über das eigentlich priesterliche Amt hinaus und reklamieren für die Nachkommen Levis einen priesterlichen Herrschaftsanspruch, der nur in der Gestalt des priesterlichen Messias der Qumranschriften ein Pendant hat. Dass solche Ansprüche konkrete zeitgenössische Konflikte widerspiegeln, ist evident. Aufgrund der nicht eindeutig lösbaren Datierungsprobleme stellt sich jedoch die Frage, um welche es sich handelt. Geht es um eine anti-seleukidische oder um eine anti-hasmonäische Frontstellung? Handelt es sich um den Konflikt zwischen Oniaden und Tobiaden, oder um die Ämterkumulation des Hasmonäers Jonathan?179 Hier liegt noch vieles im Dunkeln. So viel lässt sich aber sagen, dass sich das Jubliäenbuch in diesen Kapiteln als eine frühjüdische Stimme in der Mitte des 2. Jh. v.Chr. zeigt, die sich am innerjüdischen Ringen um die Identität des Judentums und seiner zentralen Instanzen in veränderter Zeit beteiligt.180 3.2.3 Das Testament Levis Im Testament Levis sticht zunächst die bereits dargestellte scharfe Kritik am zeitgenössischen Priestertum ins Auge (vgl. 9,9; 14,2.5–7; 15,1; 16–18, sowie →III.1.2.1). Darüber hinaus werden auch im Testament Levis verschiedene Attribute und Funktionen der Herrschaft auf die Nachkommen Levis übertragen. So wird Levi nach TestLev 5,3 mit „Schild und Schwert“ ausgestattet, wodurch er zu einem „militärischen Aktanten“181 wird. In TestLev 6,1 findet Levi ein „ehernes Schild“, als er vom Berg „Aspis“ herabsteigt. Dieser militärischen Akzentuierung der Gestalt Levis entspricht auch die in TestSim 5,5 geäußerte Erwartung, dass Levi den „Krieg des Herrn“ siegreich besteht (po,lemon kuri,ou polemh,sei kai. nikh,sei). Auch in TestLev 8,11–17 werden den Nachkommen Levis verschiedene Herr179

LABAHN, Licht, 128, rechnet mit einer redaktionellen anti-hasmonäischen „Aktualisierung“ einer anti-seleukidischen Grundschrift: „Die Besetzung des Hohenpriesteramtes durch einen Hasmonäer wird im Jub jetzt kritisiert, indem das legitime Priesteramt den Leviten als dafür von Gott erwählte und angelologisch unterstützte Gruppe zugesprochen wird.“ Ähnlich H IMMELFARB, Kingdom, 61, die das Buch in die Zeit Johannes Hyrkans datiert und in ihm ein Plädoyer für eine doppelte, königliche und priesterliche Führerschaft von Juda und Levi entdeckt. So interessant diese Erwägungen sind, so wenig lassen sie sich freilich belegen. 180 KUGLER, Patriarch, 224. 181 LABAHN, Licht, 80; vgl. hierzu auch 1Chr 12; 2Chr 20; 23, wo Leviten sich ebenfalls an militärischen Aktionen beteiligen.

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schaftsfunktionen zugesprochen, so z.B. drei avrcai, (8,11), deren Profil jedoch undeutlich bleibt. Klar ist lediglich, dass es sich bei dem zweiten Amt (V. 13) um das Priestertum (i``erosu,nh) handelt. Nach A. Labahn könnte nicht nur die Beschreibung des dritten Amtes in V. 14f., sondern auch die des zweiten in V. 12 christlich überarbeitet und eine ursprüngliche Herrschaftszuschreibung durch den Begriff „Glauben“ ersetzt worden sein (pi,stij statt avrch,), um damit eine ursprüngliche Ämtertrias des königlichen, priesterlichen und prophetischen Amtes zu übermalen.182 Dafür spricht auch, dass Levi bereits in TestRub 6,7f.12 ein königliches bzw. herrschendes Amt zugesprochen wird (vgl. TestLev 5,3; 6,1). Schließlich ist in 8,17 davon die Rede, dass aus den Nachkommen Levis Hohepriester, Richter und Schriftgelehrte (avrcierei/j kai. kritai. kai. grammatei/j) kommen werden. So undeutlich vieles bleibt, so klar wird dennoch, dass für die Nachkommen Levis bestimmte Herrschaftsfunktionen beansprucht werden. Die Präsentation Levis als Heilsgestalt, Retter und idealem Priester und seiner ihm zugeordneten Nachkommen erreicht in den Testamenten der zwölf Patriarchen und hier nun v.a. im Testament Levis einen Höhepunkt.183 Allerdings bleibt Kuglers These, wonach die in TestLev 5,3 durch die Begriffe „Schild“ und „Schwert“ angedeutete Kumulation des priesterlichen mit einem herrscherlichen Amt auf eine prohasmonäische Position des Autors von TestLev deuten,184 spekulativ und fragwürdig. Demnach wollte der Autor der zeitgenössischen Kritik an der Ämterkumulation der Hasmonäer mit dem Verweis auf die Gesetzestreue ihrer makkabäischen Ahnherren begegnen und der skeptischen Leserschaft glaubhaft machen, dass diese Ämterkumulation bereits längst im Himmel beschlossen wurde und der Tempel in guten Händen ist.185 Zwar besteht zwischen dem erörterten Herrschaftsanspruch der Söhne Levis und der hasmonäischen Ämterkumulation eine gewisse Affinität, aber im Horizont der jüdischen Religionsparteien scheinen die Testamente der zwölf Patriarchen eine viel größere Nähe zu den Qumranschriften als zu den Hasmonäern zu haben. Leider sind jedoch sowohl die Datierung wie der Hintergrund des Testamentes Levis zu undeutlich, als dass sich weitergehende Schlüsse ziehen lassen. 182

LABAHN, Licht, 81. LABAHN, Licht, 140. 184 KUGLER, Patriarch, 216–219, schließt sich den Erwägungen Haupts, Testament des Levi, 122–124, an, der die Schrift u.a. als eine Legitimation der Herrschaft Johannes Hyrkans I. (134–103 v.Chr.) versteht; ebenso auch B EYER, Texte vom Toten Meer, und THOMA, John Hyrcanus I, 137: „The author of the Testament of Levi may have formulated his theological emphasis of the story in Gen 34 to support ideologically the cultic operations of Hyrcanus against the people on Mount Garizim and his political actions against the Samaritans“, sowie a.a.O., 139: „It is characteristic for all versions of TestLev that Levi represents the model of a Hasmonean high priest-prince who has an intimate connection with God. […] For the author of TestLev Hyrcanus was not 'the Messiah' himself but a precursor of the Messiah and a sign of the dawning of the messianic era.“ 185 KUGLER, Patriarch, 219. 183

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

3.2.4 Die Träger der priesterlichen Levi-Tradition Fragt man nach den Trägern dieser priesterlichen Levi-Tradition, so muss als Ausgangspunkt Mal 2 in Betracht gezogen werden. Dort verbindet sich ebenfalls eine scharfe Kritik am zeitgenössischen Priestertum (2,1–3.8–9) und exogamen Ehen (2,10–16) mit einem idealen „Priester Levi“-Bild (2,4–7). Die priesterliche Levi-Tradition des aramäischen Levi-Dokumentes und von Jub 30,1–32,9 scheint in einer großen Nähe zu jenen nachexilischen Stimmen zu stehen, die an einer – ob tatsächlichen oder lediglich postulierten – Laxheit des amtierenden Priestertums Anstoß nahmen. Dabei ist insbesondere für den bzw. die Verfasser des aramäischen LeviDokumentes eine Nähe zum Milieu, das die Qumranschriften verfasste, wahrscheinlich. Auch das Testament Levis fügt sich in diesen kritischen Chor nahtlos ein. Bei der Zuweisung der Texte zu einer bestimmten frühjüdischen Interessengruppe ist jedoch größte Zurückhaltung geboten. Bemerkenswert bleibt der massive Macht- und Herrschaftsanspruch, der hier für Levi und seine Söhne und Nachkommen reklammiert wird und der weit über das priesterliche Amt hinausreicht und dem triadischen Amt aus König, Priester und Prophet (im Sinne einer Deutungskompetenz des offenbarten Wortes Gottes) nahe kommt. Ein solcher Anspruch ist einzigartig in der atl.-frühjüdischen Tradition. Einen Widerhall findet eine derart herrschende Funktion von Priestern erst wieder in der Johannesapokalypse (vgl. Apk 5,9f.; 20,6). 3.3 Ergebnis Im Ergebnis spiegelt die priesterliche Levi-Tradition ein frühjüdisches Milieu wieder, das einerseits von einem hohen bis höchsten Interesse am levitischen Priestertum als der wichtigsten Instanz für das heilvolle „Sein vor Gott“ interessiert war. Gleichzeitig finden sich in allen Texten in unterschiedlichem Maße kritische Stimmen zur zeitgenössischen Erscheinungsform und Integrität der Jerusalemer Priesterschaft. Diese Spannung zwischen höchster Wertschätzung und schärfster Kritik wollte diese Tradition möglicherweise mit einer Ausweitung der priesterlichen Würde über das levitische Priestertum hinaus lösen, indem bereits den Erzvätern, ja auch Noah und sogar Adam priesterliche Züge verliehen werden, was umgekehrt betrachtet auch allen ihren Nachkommen eine priesterliche Aura verlieh. Der angedeuteten Konzeption eines „Königreichs von Priestern“ (Jub 16,18; 33,20) entsprach möglicherweise auch die Ausweitung priesterlicher, an das Heiligkeitsgesetz angelehnter Heiligkeitsstandards auf alle Israeliten, v.a. im Blick auf den Blutgenuss und die Sexualethik. So nahe die Texte den Schriften aus Qumran stehen, so sehr erinnert die sich in der priesterlichen Levi-Tradition andeutende Kompensation des priesterlichen Versagens durch eine Ausweitung der priesterlichen Aura

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und Heiligkeit auf ganz Israel an die pharisäische Tradition. Dieser gilt daher im nächsten Abschnitt unsere Aufmerksamkeit.

4 Die Haltung des Pharisäismus zum Priestertum 4 Die Haltung des Pharisäismus zum Priestertum Das Problem der Quellentexte im Blick auf den Pharisäismus verhält sich fast genau umgekehrt wie bei den Qumranschriften: In Qumran haben wir eine verhältnismäßig große Anzahl von Primärquellen und müssen nach einer religiösen Gruppierung suchen, die zu diesen Quellen gehört; bei den Pharisäern vor 70 n.Chr. haben wir eine verglichen mit den anderen Religionsgruppen des Frühjudentums relativ klar umrissene Gruppe, von der wir jedoch keine sicheren und authentischen Primärquellen besitzen. Es steht nur eine sehr limitierte Anzahl von Quellentexten zur Verfügung – bei Josephus werden sie weniger als 20mal erwähnt –, welche die Pharisäer zudem noch alle aus einer Fremdperspektive beschreiben, sofern man Josephus nicht als pharisäische Lehrautorität bezeichnen will.186 Die Problematik der tannaitisch-rabbinischen Zeugnisse liegt in ihrer späten Abfassung und der Frage von Kontinuität und Diskontinuität zwischen dem Pharisäismus vor 70 n.Chr. und dem tannaitischen bzw. rabbinischen Judentum danach. Angesichts der großen Unsicherheiten, inwieweit hier die Verhältnisse der späteren tannaitischrabbinischen Zeit in die Epoche vor 70 n.Chr. zurückprojiziert wurden, folge ich hier der skeptischen Position P. Schäfers, der seine Darstellung fast ausschließlich an den Pharisäer-Zeugnissen des Josephus orientiert.187

186 Paulus und Josephus sind die beiden einzigen uns bekannten antiken Schreiber, die sich selbst als Pharisäer identifizieren. Während aber Paulus nach seiner Lebenswende aus christlicher Sicht seine vorchristlich-pharisäische Existenz reflektiert, wird die Frage, ob Josephus entsprechend seines Selbstzeugnisses in Vita 10–12 wirklich Pharisäer war, nach wie vor kontrovers diskutiert, vgl. hierzu STEMBERGER, Pharisäer, 10f. (skeptisch) im Anschluss an M ASON, Was Josephus a Pharisee?; vgl. dagegen HENGEL/DEINES, Common Judaism, 435f., Anm. 113, und neuerdings GUSSMANN, Priesterverständnis, 21– 23.191–194, die aufgrund von Josephus‘ Zustimmung zu den pharisäischen Anschauungen die Frage eher positiv beantworten. Offen ist jedoch auch, ob die Pharisäerperspektive des Josephus tatsächlich den Sachverhalten vor 70 n.Chr. entspricht, oder ob sie lediglich seine Retrospektive im Licht der jüdischen Katastrophe und im Blick auf seine römischen Leser darstellt. 187 Vgl. SCHÄFERS, Pharisäismus, 125–132. Er begründet seine Entscheidung einer restriktiven Quellenauswahl im betonten Widerspruch zu J. NEUSNER, der in seiner Monographie „The Rabbinic Traditions about the Pharisees before 70“ alle in diesen Texten zitierten Zeugen, die vor 70 n.Chr. datiert werden, einfach als Pharisäer betrachtet (vgl. auch DERS., Verwendung). Dies mag in (vielen?) Einzelfällen berechtigt sein, lässt sich aber kaum beweisen und ist in dieser generellen Weise so auch nicht zutreffend. Ähnlich ablehnend auch SALDARINI, Pharisees, 8f.235, mit dem Hinweis auf das rabbinische Desinteresse an der Geschichte und der Überlagerung der rabbinischen Quellen durch aktuelle Interessen. Für eine gemäßigt skeptische Haltung gegenüber den tannaitischrabbinischen Quellen treten HENGEL/DEINES, Paulus, 242f., HOPPE, Religionsparteien, 68, und STEMBERGER, Pharisäer, 8.40f., ein.

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

4.1 Der Pharisäismus vor 70 n.Chr. Historisch liegen die Wurzeln des Pharisäismus wohl wie die der Essener bei jenen ḥasidim (vgl. 1Makk 2,42; 7,12; 2Makk 14,6) und ähnlichen Gruppen (vgl. 1Makk 2,29–38), die sich während der Religionskrise unter Antiochus IV. Epiphanes durch ihre Toratreue und ihren Mut ausgezeichnet haben. J. Schaper vermutet die Wurzeln jener Bewegung im Stand der Schreiber und der Schriftgelehrsamkeit, der sich nach dem babylonischen Exil in der persischen und hellenistischen Epoche herausgebildet hat.188 Die unter Esra und Nehemia etablierte Praxis der öffentlichen Toralesung und -auslegung „im Tor“ (vgl. Neh 8,1) bildet den soziologischen Ausgangspunkt für die Entstehung dieses Schreiberstandes, der mehr und mehr in die Hand von gebildeten Leviten – und damit Nicht-Priestern – überging, die sich mit der praktischen Lösung von legalistischen und kultischen Problemen befassten. Die öffentliche Lehre und Diskussion toraexegetischer Fragen führte zu einer Verbreitung schriftgelehrten Wissens unter der Bevölkerung und wurde zunehmend unabhängig von den Institutionen des Tempels und Kultes – und damit auch vom Priestertum. So entstand aus dem Levitentum heraus ein Stand „tempelunabhängiger Lehrer“, die sich um die Interpretation der Tora für Fragen des alltäglichen Lebens kümmerte und dabei notwendigerweise bestimmte halachot entwickeln mussten.

Die Entstehungsphase der Pharisäer189 dürfte ebenfalls in jenen Jahren in der Mitte des 2. Jh. v.Chr. liegen, als Jonathan Makkabäus neben der königlichen auch noch die hohepriesterliche Würde beanspruchte (152 v.Chr.).190 Die Phärisäer fanden in der Schriftgelehrsamkeit und ihrer exe-

188 SCHAPER, The Pharisees, 403–405; DERS., Priester und Leviten, 306f. Nach HOPPE, Religionsparteien, 61.76, reichen die Wurzeln aller jüdischen Religionsparteien bis in die persische Zeit zurück; vgl. auch B ECKWITH, Pre-History, 4f.31, der von einer Entstehung der pharisäischen Bewegung vor 340 v.Chr. ausgeht. Für die historische Forschung werden die Pharisäer jedoch erst in hasmonäischer Zeit greifbar und identifizierbar. Auf der anderen Seite hält STEMBERGER, Pharisäer, 91–98, nach ausführlicher Diskussion selbst die Ḥasidäer/Ḥasidim-These für „unbrauchbar“ (96). Dabei ist seine Skepsis umfassend: Die Vorgeschichte keiner der drei jüdischen Religionsparteien lasse sich verlässlich rekonstruieren (98). Zur Geschichte der Pharisäer vgl. STEMBERGER, Pharisäer, 91–114; SANDERS, Judaism, 380–412; SCHAPER, Pharisees, 402–427; DEINES, Art. Pharisäer (TBLNT²), 1458f.; DERS., Art. Pharisees (EDEJ), 1061f. 189 Zur umstrittenen Etymologie von farisai/oj vgl. DEINES, Art. Pharisäer. TBLNT2, 1455–1457; DERS., Art. Pharisees (EDEJ), 1061. 190 Bei Josephus werden die Pharisäer erstmalig im ersten sog. „Drei-SchulenReferat“ in Ant 13,171–173 erwähnt. Die einleitende Zeitangabe „um diese Zeit“ bezieht sich auf die Regierungszeit des zweiten Makkabäers Jonathan (161–142 v.Chr.). Diese zeitliche Lokalisierung durch Josephus ist allerdings nicht ganz unumstritten, vgl. SCHÄFER , Pharisäismus, 134; STEMBERGER, Pharisäer, 14ff. Der Widerstand gegen die hasmonäische Ämterkumulation des Königs- und Hohepriesteramtes wird in Jos Ant 13,288– 298 spürbar, der ersten Erwähnung der Pharisäer unter Johannes Hyrkan. Nach SANDERS, Judaism, 380f., war die Kritik des Eleasar an der Übernahme des hohepriesterlichen Am-

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getischen Interpretationskompetenz ein wichtiges Instrument und in der „Volksbildung“ einen Weg, um als „Laienbewegung“ zu großem (religions-)politischen Einfluss zu gelangen.191 Wesentlich für das Toraverständnis und die Schriftauslegung der Pharisäer war die von ihnen mündlich tradierte und als verbindlich gelehrte „väterliche Überlieferung“ (vgl. Gal 1,14), welche auch schlicht die „Vorschriften“ (ta. no,mima) genannt werden konnte (Jos Ant 13,296) und in jener alltagspraktischen Deutungstradition der levitischen sōfěrīm bzw. ḥasidim in der persischen und hellenistischen Zeit ihren Ursprung haben dürfte.192 Auch wenn die Zahl der Pharisäer in der herodianischen Zeit bei Josephus (Ant 17,41–44) mit lediglich gut 6000 angegeben wird,193 kann man ihren (religions-)politischen Einfluss kaum überschätzen.194 Ihr politisches tes durch Hyrkan I. nur die Spitze eines Eisberges, unter der sich eine weit größere Opposition verbarg. 191 HENGEL/DEINES, Common Judaism, 427, heben die stark intellektuelle Prägung der Pharisäer hervor und die Bedeutung ihrer Gelehrtenschule. Hinsichtlich der soziologischen Verortung des Pharisäismus plädiert SALDARINI, Pharisees, 120.281.284 u.ö., für eine Lokalisierung in der Klasse der Gefolgsleute („retainer class“) der herrschenden Schicht, d.h. im Milieu kleiner Beamter und Schreiber, die selbst keinen unabhängigen Status hatten, aber aufgrund ihrer Qualifikation von großer Bedeutung waren. Demgegenüber sehen HENGEL/DEINES, ebd., 473, die Pharisäer in allen Schichten vertreten. Vom gehobenen Establishment über den wohlhabenden Mittelstand der Kaufleute und Handwerker bis hinein in die untersten (Priester)Schichten dürften sie vertreten gewesen sein, freilich stets mit einem gehobenen Bildungsanspruch. Angesichts der kärglichen Quellenlage muss jedoch auch diese soziologische Einschätzung spekulativ bleiben. 192 SCHAPER, The Pharisees, 403–405. Zur „Überlieferung der Väter“ bzw. der „Ältesten“ vgl. DEINES, Art. Pharisäer (TBLNT²), 1460f. und HENGEL/DEINES, Common Judaism, 411–438. Letztere argumentieren gegen die Pharisäerdeutung E.P. SANDERS’ entschieden dafür, dass die von den Pharisäern vertretene mündliche Halacha zwar einerseits von der schriftlichen Tora des Mose unterschieden werden müsse, andererseits aber gemäß pharisäischem Verständnis bereits lange vor 70 n.Chr. die gleiche Autorität besessen habe. 193 Streng genommen bezeichnet die Zahl nur diejenigen Pharisäer, die den Eid auf Herodes verweigert haben. HENGEL/DEINES, Common Judaism, 429, Anm. 100, und N IEBUHR, Heidenapostel, 54f., gehen davon aus, dass die 6000 eine verbindliche Kerngruppe bzw. „ideologisch geschulte Führungskader“ der Pharisäer darstellen, es aber noch einen viel umfangreicheren Kreis von Anhängern und Sympathisanten gab, die pharisäisch beeinflusst waren. Zudem rechnen HENGEL/DEINES vor, dass 6000 motivierte und geschulte Pharisäer im Verhältnis zu einer geschätzten Gesamteinwohnerzahl von ca. 800.000 Juden, wovon 200.000 erwachsene Männer waren, immerhin 3% aller erwachsenen Männer ausmachten; vgl. zu der Zahlenangabe auch SCHALLER, 4000 Essener – 6000 Pharisäer. Zur Frage, ob sich aus dieser Zahlenangabe eine Art Mitgliedschaft in dieser Bewegung ableiten lässt, vgl. DEINES, Art. Pharisäer (TBLNT²), 1461. 194 Mit Recht SCHAPER, The Pharisees, 419; gegen SANDERS, Paul and Palestinian Judaism (dt.: Paulus und das palästinische Judentum); DERS., Judaism, 388–402, der mit seiner These eines common Judaism den Pharisäismus zu einem Randphänomen und einer Splittergruppe eines auf einem breiten Grundkonsens basierenden Judentums um

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Gewicht als eine elitäre Bildungs- und „Heiligungsbewegung“195 und ihr Einfluss auf die politischen Prozesse in den Jahrhunderten vor und nach der Zeitenwende wird bei Josephus in nahezu allen Erwähnungen dieser Gruppe deutlich.196 Nachdem es unter Alexander Jannai (103–76 v.Chr.) zu einem mehrjährigen Bürgerkrieg (93–88 v.Chr.) kam, in dessen Verlauf viele Pharisäer ins Exil fliehen mussten oder gar von Alexander Jannai hingerichtet wurden (Jos Bell 1,90–92; Ant 13,375f.), erlangten die Pharisäer aufgrund einer letzten Verfügung Jannais unter der Regentschaft seiner Witwe Salome Alexandra (76–67 v.Chr.) einen direkten und maßgeblichen Einfluss auf die politischen Geschicke des jüdischen Staates.197 Ihr Einfluss gründete sich auf eine hohe Sympathie und Anerkennung im jüdischen Volk,198 die sich auch in der – verglichen mit den anderen jüdischen Religionsgruppen – häufigen Erwähnung der Pharisäer im Neuen Testament widerspiegelt. Die Sympathie gegenüber den Pharisäern rührt daher, die Zeitenwende degradieren möchte. Vgl. dazu die Kritik von HENGEL/DEINES, Common Judaism, passim. 195 HENGEL/DEINES, Paulus, 226, sprechen bezüglich des Pharisäismus von einer „palästinische[n] Heiligungsbewegung“; vgl. auch den Abschnitt „Zum Charakter des Pharisäismus vor 70“, ebd., 254–256. Ihren Ausdruck fand diese Bewegung nach DEINES, Art. Pharisäer (TBLNT²), 1461; DERS., Art. Pharisees (EDEJ), 1063, im Streben nach Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Gottes Wohlgefallen, d.h. im Streben nach jüdischen Grundidealen, um die man sich jedoch im Pharisäismus in besonderer Weise bemühte und damit auch den Anspruch verband, die jüdische Identität am authentischsten zu verkörpern. 196 Eine Gesamtdarstellung der Pharisäer-Belege bei Josephus findet sich bei SCHÄFER , Pharisäismus, 132–165; STEMBERGER , Pharisäer, 10–23; SALDARINI, Pharisees, 107–133. 197 Vgl. Jos Bell 1,107–114; Ant 13,399–418, und SALDARINI, Pharisees, 89–95; SCHÄFER, Pharisäismus, 139–148; DEINES, Volk, 174–176; DERS., Art. Pharisäer (TBLNT²), 1459. HENGEL/DEINES, Common Judaism, 464f., vermuten, dass der pharisäische Einfluss auch nach Ende der Regentschaft Salome Alexandras bis zum Ende des jüdischen Tempels erhalten blieb. Auch die Einführung der pharisäischen Halacha in jenen Jahren wurde wohl nie offiziell zurückgenommen, sondern musste auch von ihren Nachfolgern als eine Art „Brauch“ geduldet werden, a.a.O., 470. Sie widersprechen damit der Darstellung von SANDERS, Judaism, 383ff., der nach der Regierungszeit Salome Alexandras von einem anhaltenden Bedeutungsverlust der Pharisäer, v.a. unter der Regentschaft Herodes des Großen ausgeht. Die Darstellung der Pharisäer bei SANDERS ist durchgängig vom Anliegen bestimmt, die Bedeutung der pharisäischen Bewegung für das Judentum zwischen 63 v.Chr. und 66 n.Chr. zugunsten eines (hohe)priesterlich bestimmten common Judaism gering zu veranschlagen. 198 Josephus berichtet in Ant 18,15: „Infolge dieser Lehren [sc. des Zusammenwirkens von göttlicher Bestimmung und menschlicher Willensfreiheit] besitzen sie beim Volk einen solchen Einfluss, dass sämtliche gottesdienstlichen Verrichtungen, Gebete wie Opfer, nur nach ihrer Anleitung dargebracht werden. Ein so herrliches Zeugnis der Vollkommenheit gaben ihnen die Bewohner der Städte, weil man glaubte, dass sie in Wort und Tat nur das Beste wollten“ (Übersetzung nach SCHÄFER, Pharisäismus, 159).

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dass sie sich wie keine andere jüdische Religionsgruppe vor dem Jüdischen Krieg um das Gemeinwohl bemühten.199 Deines kommt daher zu einer hohen Einschätzung des pharisäischen Einflusses auf die jüdische Gesellschaft schon in der Zeit vor 70 n.Chr.: „Als am Volk interessierte und vom Volk als religiöses Modell akzeptierte Bewegung war der Pharisäismus nach Ausweis der uns zur Verfügung stehenden Quellen vor 70 die im Volk religiös dominierende, wenngleich nicht unumstrittene Strömung im jüdischen Land. Pharisäischer Einfluss ist dabei nicht am sozialen Status einzelner Pharisäer und noch weniger an der aktiven Beteiligung an institutionalisierter politischer Machtausübung ablesbar, auch wenn sie beides für ihre Ziele nutzen konnten. Es sind vielmehr die vielfältigen Kanäle der primär religiösen, verbalen wie nichtverbalen Kommunikation, die sie virtuos für ihre Ziele einsetzten.“200 4.2 Der Pharisäismus und das Priestertum Die Schwierigkeiten einer Verhältnisbestimmung zum Priestertum liegen wie bei fast allen Fragestellungen im Zusammenhang des Pharisäismus in der dürftigen Quellenlage begründet. Es existiert, abgesehen von mHag 2,7, kein Text, der Priester und Pharisäer in ein wie auch immer geartetes Verhältnis setzen würde. Entsprechend dürftig fallen auch die Untersuchungen der Sekundärliteratur zu diesem Thema aus.201 So problematisch ein argumentum e silentio auch ist,202 so scheint es in diesem Fall doch eine gewisse Berechtigung zu haben: Anders als die Gemeinschaft, die sich in den Qumranschriften äußert, scheint der Pharisäismus zwar in einer ständigen, theologisch, politisch und wohl auch soziologisch begründeten Konkurrenz zum Sadduzäismus gestanden zu haben, jedoch nicht direkt zum Priestertum.203 Nahezu alle Kontroversen mit den Sadduzäern wurzeln in der Grundfrage, ob und wenn ja, inwieweit das ge199

STEMBERGER, Pharisäer, 13, und DEINES, Volk, 178–180, interpretieren die Bemerkung innerhalb des Drei-Schulen-Referats in Jos Bell 2,166, wonach die Pharisäer „die Einigkeit zum gemeinsamen Besten hochhalten (th.n eivj to. koino.n o``mo,noian avskou/ntej)“ nicht als Ausdruck innerpharisäischer Solidarität, sondern als pharisäisches Engagement für das jüdische Gemeinwesen als Ganzes. 200 DEINES, Volk, 180 [kursiv bei D.]; vgl. DERS., Art. Pharisees (EDEJ), 1062. 201 Lediglich DEINES, Volk, 162–169, und SCHWARTZ, Kingdom, 57–66, beschäftigen sich mehr oder weniger knapp mit der Thematik. 202 Fragwürdig ist z.B. die Schlussfolgerung von G ANSER-KERPERIN, Zeugnis, 75, der aus der Tatsache, dass die Pharisäer im Jerusalemabschnitt des Lukasevangeliums nicht als Gruppe in Erscheinung treten, folgert, dass ihnen der Evangelist deshalb auch keine Kompetenz am Tempel und im Synhedrium zubilligt. 203 Bei Josephus werden die Sadduzäer in fünf der sechs Belege in einem Konkurrenzverhältnis zu den Pharisäern beschrieben. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch im Neuen Testament in Act 23,6–9; vgl. Mt 22,23–33par und 22,34.

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samte Volk Israel an den Kultvollzügen im Tempel partizipieren soll bzw. inwiefern diese zu den exklusiven Privilegien der Priester gehörten.204 Während die Pharisäer das gesamte Volk in der Verantwortung für den Tempelkult sahen, betrachteten die Sadduzäer den Tempelkult als eine exklusive Angelegenheit der Priesterschaft, die alleine auf eine strenge Heiligkeit und Reinheit des Tempels zu achten hatte und durch ihre genealogische Bestimmtheit auch als einzige dazu legitimiert war. Trotz dieser Spannungen zwischen Sadduzäismus und Pharisäismus ist letzterer – soweit wir es aus den Quellen wahrnehmen können – niemals in ein direktes bzw. offenes Konkurrenzverhältnis zu den priesterlichen Amtsträgern als solchen getreten.205 Die durchaus vorhandene Rivalität fand nicht im Ringen um Ämter und Posten ihren Ausdruck, sondern eher im subtilen Werben um öffentliche Popularität, Ehre und Prestige, sowie im Streben um politischen Einfluss. Dieses verglichen mit dem yaḥad der Qumranschriften weit geringere Konfliktpotential zwischen Priestern und Pharisäern liegt zunächst einmal schlicht darin begründet, dass den Pharisäern die genealogische Legitimation zum Priestertum fehlte. Die v.a. in der jüdischen Forschung des 19. Jh. diskutierte Frage,206 ob die Pharisäer mit Berufung auf Ex 19,6 ein „König-

204 VAHRENHORST, Sprache, 60f. Er, a.a.O., 59, sieht die Streitpunkte zwischen Pharisäern und Sadduzäern in folgenden vier Fragen: (1) Muss der Hohepriester, der die rote Kuh verbrennt, „ganz“ rein sein, oder ist das Tauchbad ausreichend; vgl. mPar 3,7–8; tPar 3,8; 4Q394 3 1,17f.? (2) Verunreinigt eine unreine Flüssigkeit, in die eine reine Flüssigkeit gegossen wird, diejenige, die sich im reinen Gefäß befindet, vgl. mYad 4,7; mToh 8,9; mMakh 5,9; 4Q394 8 4,5ff.? (3) Ist jedes Blut, das sich im Vaginalbereich befindet, als Menstruationsblut unrein oder nur das, das während der eigentlichen Menstruation auftritt? (4) Verunreinigen heilige Schriften die Hände oder tun sie das nicht? 205 Das Verhältnis zwischen den Verfassern der Qumranschriften und den Pharisäern lässt sich angesichts fehlender Belege nur mit größter Vorsicht bestimmen. In den Qumranschriften wird die Bezeichnung „Pharisäer“ nicht erwähnt, was möglicherweise mit der parallelen Geschichte der Absonderung vom überkommenen Kult zusammenhängt. Jedoch ist in mehreren Texten eine Gruppe mit dem Relativsatz „diejenigen, die nach glatten (oder: falschen) Dingen suchen“ umschrieben, vgl. CD 1,18f.; 1QH 2,15.32; 4,7–10; 4Q 169 [= p Nah] 3–4,I,1,2.7; 2,2.4; 3,3.6f., womit zahlreiche Exegeten die Pharisäer angesprochen sehen. In der Tat könnte damit die exakte und doch gleichwohl pragmatische pharisäische Schriftauslegung gemeint sein, die eine vergleichsweise praktikable Alltagsethik ermöglichte und sich dementsprechend großer Popularität erfreute. Für die Qumranfrommen war der pharisäische Anspruch der Toratreue dagegen eine bloße Anmaßung, vgl. 1QH 4,10; vgl. zum Ganzen SALDARINI, Pharisees, 278f., der die Identifikation mit den Pharisäern verneint; STEMBERGER, Pharisäer, 103ff.; DEINES, Art. Pharisäer (TBLNT²), 1457. 206 Vgl. hierzu SCHWARTZ, Kingdom, 66–70, und B IRENBOIM, Kingdom, 59.63f.66.68.

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tum von Priestern“ anstrebten, muss klar verneint werden.207 Dies wäre schon von Num 16f. (vgl. v.a. 16,10 und 17,5) her völlig unmöglich gewesen.208 Was der Pharisäismus anstrebte, war die allgemeine Heiligkeit und Reinheit des Volkes, nicht das Allgemeine Priestertum.209 Einer Bewegung, die sich so intensiv mit Fragen der Heiligkeit und Reinheit beschäftigte und mit einer besonderen Halacha einen „Zaun“ um die Tora zog, konnte an einer illegitimen Infiltration oder gar Infragestellung der hereditär begründeten Institution des Priestertums kein Interesse haben.210 Folg207

So B IRENBOIM, Kingdom, passim, im Anschluss an HENGEL/DEINES, Common Judaism, 448 [englische Version: 47]. SCHWARTZ, Kingdom, 60.66, macht an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass die rabbinische Exegese, vgl. Bill 3,789, Ex 19,6 ebenso wenig wie die atl. und frühjüdische Exegese, vgl. Jes 61,6; Jub 16,18; 33,20; 2Makk 2,17, nie im innerjüdischen bzw. antipriesterlichen Sinn verstanden hat. 208 Entsprechende Allüren wären wohl auch von Josephus streng verurteilt worden. Selbst ein stolzer Aaronide, vgl. Bell 3,352; Vit 1–6 und Ant 16,187, hat er in Anbetracht seiner Erfahrungen mit dem Zelotismus im Jüdischen Krieg schon aus rein politischen Gründen die Idee eines Allgemeinen Priestertums verworfen. Solche Ideen schreibt er vielmehr dem abtrünnigen Jerobeam zu, Ant 8,227–228; vgl. auch Ant 4,15.23. 209 HENGEL/DEINES, Common Judaism, 448: „Ganz gewiß wollten die Pharisäer nicht die verschiedenen Stufen priesterlicher Reinheit, die für das Kultpersonal innerhalb des Tempels oder außerhalb erforderlich waren, in dem Sinne ‚nachahmen’, daß sie dadurch den Priestern gleichgestellt würden. [...] Gerade weil sie die einzigartige Würde und Aufgabe des Priesters und die Notwendigkeit des von ihm vollzogenen Kultes voll anerkannten – Schrift und Tradition ließen ja gar keinen anderen Weg zu – lag ihnen alles daran, auch die exakte Einhaltung der Reinheit der Priester, des Tempels und der dem Kultpersonal zustehenden landwirtschaftlichen Abgaben umfassend sicherzustellen.“ SCHWARTZ, Kingdom, 64, verweist an dieser Stelle auf den – freilich späten – Midrasch Tanna deBe Eliyyahu 16. Ferner macht er darauf aufmerksam, a.a.O., 65, dass die Verquickung des Anspruchs auf Heiligkeit des Volkes mit dem Anspruch auf eine allgemeine Priesterschaft des Volkes erst vom Griechischen und Lateinischen her eingetragen wurde, wo der Priesterbegriff sich aus dem Begriffsfeld „heilig“ ableitet (i``ereu,j von i``ero,j und sacerdos von sacer). Dagegen hat die Wurzel !hk weder im Hebräischen noch im Aramäischen eine Beziehung zur Wurzel vdq für „heilig“. 210 Ein Reflex des Legitimitätsdiskurses findet sich in Josephus, Ant 13,288–298. Hier übt ein Pharisäer namens Eleazar Kritik an der Hohepriesterschaft des Johannes Hyrkan und empfiehlt diesem, das hohepriesterliche Amt aufzugeben, was jedoch zu einem empfindlichen Stimmungsumschwung des Kritisierten gegenüber den Pharisäern führt. Allerdings wird von Eleazar nicht die nicht-zadokidische Abkunft Hyrkans kritisiert, sondern dessen fragwürdige Abstammung mütterlicherseits. SCHWARTZ, Opposition, 53, sieht die pharisäische Kritik an den Hasmonäern nicht in deren Übernahme des hohepriesterlichen Amtes begründet, sondern in der Übernahme des Königstitels; anders SANDERS, Judaism, 380f. Aufgrund ihrer aaronidischen Abstammung sollten sie das Königtum meiden. Möglicherweise rührt auch der Konflikt zwischen Alexander Jannai und einer von Josephus namentlich nicht genannten Oppositionspartei, hinter der sich aber mit großer Wahrscheinlichkeit die Pharisäer verbergen, vom pharisäischen Misstrauen gegenüber der Legitimität seiner hohepriesterlichen Würde her, vgl. Jos Ant 13,372f.; SALDARINI, Pharisees, 85–89.93.116f.; SCHÄFER, Pharisäismus, 139.145; DEINES, Art. Pharisäer

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

lich konzentrierten sich die Anliegen und Interessen der pharisäischen Bewegung auf die Frömmigkeit, Heiligkeit und Toratreue des ganzen Volkes,211 weniger auf die konkrete Kultpraxis oder die Heiligkeit der Jerusalemer Priesterschaft.212 In diesem Punkt besteht ein wesentlicher Unterschied zur Gemeinschaft, die sich in den Qumranschriften äußert: Während sich der „Lehrer der Gerechtigkeit“ als legitimer Hohepriester eines nach seiner Absetzung depravierten Kultes betrachtete und diesen Anspruch und diese Sicht auf seine Anhänger übertrug, konnten und wollten die Pharisäer keine entsprechenden Ansprüche geltend machen. Sie betrachteten sich selbst aufgrund der Abstammungsverhältnisse als Laienbewegung, was nicht bedeutet, dass es nicht auch pharisäisch denkende und handelnde Priester gegeben hat, wie dies z.B. am prominenten Beispiel des Josephus deutlich wird.213 Während die Qumranschriften und der Sadduzäismus – soweit erkennbar – stark auf den Kult und damit auch auf den priesterlichen Dienst fokussiert waren, war der Pharisäismus als eine Bildungs-, Heiligungs- und Erneuerungsbewegung bestrebt, die priesterlichen Heiligkeitsideale, v.a. im Zusammenhang der Reinheitstora, in abgeschwächter Form auf das alltägliche Leben des ganzen Volkes zu übertragen.214 Am deutlichsten wird dies im Kontext der Speisehalacha. Nach pharisäischer Halacha durften auch eigentlich profane, alltägliche Speisen nur mit gewaschenen Händen eingenommen werden. Damit treten sie in einen Status abgestufter Heiligkeit im Verhältnis zu den heiligen Speisen des Tempels und stellen damit eine Relation her zwischen häuslichem Tisch und pries(TBLNT²), 1458. Eine explizite pharisäische Kritik an der nicht-zadokidischen Abkunft der Hasmonäer findet sich freilich nirgends. 211 Im Konkreten ging es dabei um Fragen der Reinheit, vgl. Mk 7,1–5; Mt 23,25f.par; Lk 11,39, des Zehnten, vgl. Lk 11,42; 18,12; sowie mDem; mMaas; mMSh, das Fasten, vgl. Mk 2,18; Lk 18,12; sowie mMeg; mTaan, die Sabbatobservanz, vgl. Mk 2,23–28; 3,1–6; sowie mEr; mShab, das religiöse Verhalten in der Öffentlichkeit, vgl. Mk 2,14– 16; Mt 23,5–7, vgl. auch Mt 23,27–33, und das Lehren, vgl. Mk 2,18par; Lk 5,33; Mt 22,16; Jos Ant 13,289; vgl. auch DEINES, Art. Pharisees (EDEJ), 1063. 212 Nach SCHÄFER, Pharisäismus, 126, gibt es in den tannaitisch-rabbinischen Quellen nur drei bis vier Belege, in denen Pharisäer und Sadduzäer miteinander diskutieren, vgl. mYad 4,6f.; tHag 3,35; evtl. mYad 4,8. Dabei geht es stets um bestimmte halachische Ansichten, über die man sich in teils bissiger Polemik auseinandersetzte. 213 Vgl. auch J EREMIAS, Jerusalem, 291f.; und HENGEL/DEINES, Common Judaism, 451–453.468f.473–478, die vermuten, dass die Pharisäer v.a. unter der niederen Priesterschicht viele Anhänger hatten (453). 214 HENGEL/DEINES, Paulus, 226; DIES., Common Judaism, 403. In Ant 13,297f. erwähnt Josephus, dass die Sadduzäer die Reichen überzeugen würden, aber die Pharisäer die Unterstützung der Massen hinter sich hätten. Eine interessante Verhältnisbestimmung findet sich in mHag 2,7, wo die Pharisäer als zwischen dem Am ha-arez und den Priestern stehend bestimmt werden. Ganz entsprechend soll nach tShab 1,15 ein blutflüssiger Pharisäer nicht mit einem Blutflüssigen des Am ha-arez essen. Die Pharisäer reklamierten für sich offensichtlich eine Art Sonderstatus zwischen Priesterschaft und Volk.

4 Die Haltung des Pharisäismus zum Priestertum

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terlichem Altar bzw. zwischen einem profanen Lebensvollzug und dem Bereich des Heiligen.215 Ziel war es, die Torafrömmigkeit und -observanz in möglichst allen Volksschichten zu etablieren, um durch die so erreichte Ausweitung der Heiligkeit216 die heilvolle Präsenz Gottes unter seinem Volk sicher zu stellen und die Herbeiführung des erwarteten Gottesreiches zu befördern.217 Das Desinteresse an priesterlichen Privilegien bzw. die grundsätzliche theologische Akzeptanz der hereditär und genealogisch begründeten Institution des Priestertums bedeuten jedoch nicht, dass das Verhältnis der Pharisäer zur Priesterschaft völlig harmonisch und spannungsfrei gewesen wäre. Schon allein der hohe moralische Anspruch und die Profilierung der Pharisäer als Bildungsbewegung berührten zwei sich überlappende Bereiche, die traditionell zu den priesterlichen Aufgabenfeldern gehörten. Der „volksmissionarische“218 Impetus der Pharisäer musste der Priesterschaft die Botschaft vermitteln, dass ihre Kompetenz oder ihre Anstrengungen (oder beides) hier nicht mehr ausreichend waren.219 Spürbar wird diese Verschiebung der legitimierenden „Deutungshoheit“, wenn Josephus erwähnt, dass das Volk sämtliche gottesdienstlichen Verrichtungen nach der pharisäischen Halacha praktizierte (Ant 18,15). Exakt dieses Bild vermitteln auch die Evangelien: Während die Priester fast nur in ihrer hygieni-

215 Vgl. DEINES, Steingefäße, 243–246; VAHRENHORST, Sprache, 63f.; REGEV, Pure Individualism, 186f.: „It seems that the ‚acting like a priest’ theory cannot fully explain the comprehensive phenomenon of non-priestly purity. […] Purity is necessary to achieve holiness. Thus we conclude that those who voluntarily observed purity in order to eat, pray, and read Scripture were seeking holiness in their everyday life, outside the realm of the Temple and the priestly system.“ 216 Im Hintergrund steht bei den Pharisäern ein statischer Heiligkeitsbegriff, der nicht an den Raum des Heiligen im Tempel gebunden war, sondern auch auf andere Räume und Lebensbereiche übertragen werden konnte. Anders als beim mehr dynamischen Heiligkeitsverständnis der Sadduzäer konnte diese Heiligkeit auch nicht verlorengehen oder entweiht werden, weshalb sie auch nicht von einer „Expertenkaste“ beschützt werden musste; vgl. hierzu REGEV, Sadducees. 217 DEINES, Volk, 148f. Entsprechend werden die Pharisäer von Josephus als frömmer und gesetzestreuer bewertet als die anderen Religionsparteien (ai``reseij) des damaligen Judentums, Bell 1,110. RÖCKER, Belial, 458, berichtet in diesem Zusammenhang von der rabbinischen Diskussion, was das Gottesreich noch aufhält. Als Gründe werden die fehlende Buße und Toraobservanz Israels angeführt, vgl. bSanh 97b.99b; bBB 10a; bShab 118b; bYom 86b; yTaan 64a, sowie Bill 1,599f. 218 Diesen Begriff verwendet DEINES, Steingefäße, 278; vgl. auch DERS., Art. Pharisees (EDEJ), 1063: „… the interest of the Pharisees [lies] in educating and encouraging the whole nation to live according to God’s commandments as a way of securing God’s blessing of Israel.“ 219 DEINES, Volk, 169.172.

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

schen Kontrollfunktion eine Rolle spielen,220 werden „die Pharisäer und die Schriftgelehrten“ als die religiöse Deutungsinstanz schlechthin vorgestellt, die sich auf die Kathedra des Mose gesetzt haben (Mt 23,2f.). So ist mit der Übertragung der priesterlichen Reinheits- und Heiligkeitsideale auf die Laienschicht möglicherweise der Anspruch verbunden worden, dass die Laien im Blick auf die Heiligung der Lebens- und Alltagsvollzüge nicht mehr hinter den Priestern zurückstehen.221 Deines macht auf einige weitere Punkte aufmerksam, hinter denen sich ein subtiler Konkurrenzanspruch im Blick auf Prestige, Ehre, Macht und Einfluss verbirgt. So könnte die besondere Kleidung der pharisäischen Schriftgelehrten (Mk 12,38/Lk 20,46; vgl. auch Mt 23,5) ein Äquivalent zur priesterlichen Amtstracht im Sinne einer pharisäischen Standestracht gewesen sein.222 Dass mit der Kleidung entsprechende Ansprüche dokumentiert wurden, zeigt schon der Streit zwischen Leviten und Priestern um die Amtskleidung, über den Josephus berichtet (Ant 20,216–218). Wahrscheinlich diente die Uniformierung dazu, den Leviten im öffentlichen Aussehen und Ansehen denselben Status zu verleihen wie den Priestern. Der Fundierung des eigenen Anspruchs könnten auch die pharisäischen Bemühungen um die Prophetengräber gedient haben (Mt 23,27–31/Lk 11,44.47f.). Falls die Vermutung von Deines zutrifft, hätten die Pharisäer auf die öffentliche Inszenierung und Demonstration der herditären Legitimität der Priesterschaft mit einer monumentalen Visualisierung der prophetischen Tradition reagiert. Die Berufung durch Gott wäre als eine Überbietung der genealogischen Vorrechte des Priestertums erschienen.223 Das pharisäische Streben nach öffentlicher Wahrnehmung und Anerkennung, das sich auch in den Evangelien widerspiegelt,224 wird verständlich, wenn man bedenkt, dass ihr politischer Einfluss mit ihrer Popularität im Volk korrelierte. Während sich das Priestertum auf seine hereditär begründeten Privilegien stützte, konnten die Pharisäer ihre religiösen Ziele 220

Vgl. Mt 8,4; Mk 1,44; Lk 5,14. Eine theologische Aufgabe im engeren Sinne kommt nur in Joh 1,19 zum Ausdruck. 221 HOPPE, Religionsparteien, 75, spricht sogar davon, dass durch die Reinheit des Volkes die „Tempelkompetenz demokratisiert“ und damit das Alleinvertretungsrecht der Priester in Frage gestellt wurde. Allerdings geben die Quellen eine so weitreichende Deutung nicht her. 222 DEINES, Volk, 162f. 223 DEINES, Volk, 165f. Vgl. HENGEL/DEINES, Common Judaism, 434: „Die Pharisäer verstanden sich ... selbst als Erben der Profeten, die sie ihrerseits als inspirierte Schriftgelehrte und ältere Ausleger der Tora deuteten, so daß deren legitimierende Kompetenz auch ihren Nachfolgern eignete.“ Ganz entsprechend verläuft nach mAv 1,1 die Traditionskette der Lehrer von Mose über Josua, die Ältesten, Jos 24,31, die Propheten, Jer 7,25, bis zu den „Männern der großen Versammlung“, die von den Vorläufern u.a. den Auftrag bekommen, „einen Zaun um die Tora“ zu machen. 224 Vgl. Mk 12,38–40/Lk 20,46f.; Mt 23,2–3; Lk 11,43; dazu DEINES, Volk, 157–163.

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nur über das Instrument politischer Macht erreichen, die sich einzig auf ihrer Popularität gründete.225 Der politische Einfluss war jedoch nie Selbstzweck, sondern immer ein Instrument, um die eigentlich religiösen Ziele zu verwirklichen.226 4.3 Ergebnis Anders als der Sadduzäismus und der sich in den Qumranschriften äußernde yaḥad verstand sich der Pharisäismus als eine Bildungs-, Heiligungsund Erneuerungsbewegung, der zwar ebenfalls an einer strengen Reinheit und Heiligkeit des Tempels gelegen war, die jedoch aufgrund ihrer genealogischen Illegitimität nie den Anspruch erhob, eine priesterliche Rolle zu übernehmen oder gar ein laikales „Königtum von Priestern“ zu etablieren. Vielmehr konzentrierte sich der Pharisäismus darauf, die priesterlichen Heiligkeits- und Reinheitsideale in abgeschwächter und durchaus pragmatischer Form auf das alltägliche Leben des ganzen Volkes zu übertragen. Durch die Übertragung kultischer Kategorien auf profane Alltagsvollzüge interpretierte der Pharisäismus das gesamte Leben als einen gottesdienstli225

DEINES, Volk, 148f.169. DERS, a.a.O., 173; DERS., Art. Pharisäer (ThBLNT 2), 1460, verweist auch auf die Attraktivität der pharisäischen Theologie, die mit ihrer Mittelposition zwischen der essenischen Lehre einer „doppelten Prädestination“ und der Determination aller Dinge und der sadduzäischen Ablehnung derselben und ihrer Behauptung einer völligen Willensfreiheit, Jos Bell 2,162f.; Ant 13,171; 18,13, eine Ethik vertraten, die ein „verantwortliches religiöses Engagement“ ermöglichte. Fundamental für das Verständnis der pharisäischen Position ist ferner die anthropologische Voraussetzung, wonach die äußere Toraobservanz auch der inneren Haltung des Menschen gegenüber Gott entspricht. Ihre Bemühungen um äußere Frömmigkeit darf daher nicht im Sinne einer „veräußerlichten“ Frömmigkeit missverstanden werden, sondern ist eine konsequente Verwirklichung einer Lebensveränderung, die sich „von außen nach innen“ vollzieht. Exakt gegen diesen anthropologischen Grundsatz richtet sich die Kritik Jesu in Mk 7,15; Mt 15,17ff., der nur eine wirkliche Lebensveränderung bzw. Umkehr für möglich hält, die vom Personzentrum des Herzens ausgeht, also „von innen nach außen“ führt; vgl. DEINES, Art. Pharisäer (TBLNT²), 1465. 226 Vgl. hierzu DEINES, Volk, 148: „Meine These ist darum, dass sich das gesellschaftliche Interesse der Pharisäer als Gruppe in erster Linie an den breiten Volksschichten orientiert, die in den Städten und Dörfern des Landes Israel als Bauern, Handwerker, Kaufleute und Händler lebten. Auf deren religiöses Verhalten versuchten sie einzuwirken.“ Damit widerspricht DEINES zum einen der Sicht SALDARINIS, Pharisees, 106.120. 132f.281.284.288 u.ö., der in den Pharisäern auf der Basis seiner stark soziologisch geprägten Untersuchung in erster Linie eine politische Interessengruppe sieht, die v.a. nach politischer Macht strebte; vgl. SALDARINI, a.a.O., 120: „... struggling to gain access to power“. Zum anderen wendet sich DEINES auch gegen die Darstellung von J. NEUSNER, From Politics to Piety, wonach der Pharisäismus sich von einer primär politischen „Partei“ erst allmählich zu der nach 70 n.Chr. bestimmenden religiösen Bewegung entwickelt habe, eben „from politics to piety“. Die religiösen Interessen werden jedoch bereits in der Frühzeit greifbar, vgl. Jos Ant 13,289.297.

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

chen Vollzug. Allerdings muss diese Ausweitung der priesterlichen Heiligkeit im Rahmen der pharisäischen Halacha wohl ebenfalls als eine Kompensation der Defizite der priesterlichen Integrität, Heiligkeit und Kultpraxis bzw. der als unzulänglich empfundenen sadduzäischen Halacha verstanden werden. Das damit verbundene Ziel war auch im Pharisäismus neben der Wegbereitung des kommenden Gottesreiches die alternative Gewährleistung eines heilvollen „Seins vor Gott“ im Rahmen des eigenen Einflussbereichs, der zwar am Tempelbezirk seine Grenzen fand, aber im Volk und Land umso größer war. Durch die immense Popularität, das hohe Sozialprestige und den starken politischen Einfluss des Pharisäismus lief die Bewegung dem Priestertum den Rang in der öffentlichen Aufmerksamkeit ab und zwar auf einem Gebiet, das ursprünglich zu den Domänen priesterlicher Kompetenz gehörte, nämlich dem der Volksbildung und Toraunterweisung. Dass der Pharisäismus nach 70 n.Chr. als einzige der drei großen jüdischen Religionsparteien überlebte, beweist, dass seine volksmissionarische Konzeption einer den priesterlichen Kult ergänzenden Sicherung der heilvollen Präsenz Gottes so tief im Volk verankert war, dass das Judentum die Katastrophe der Tempelzerstörung überdauerte.

5 Prophetische Gestalten und Erneuerungsbewegungen vor dem Jüdischen Krieg 5 Prophetische Gestalten und Erneuerungsbewegungen

Ein in der Regel wenig beachtetes und deshalb wohl in der Forschung auch unterschätztes Phänomen – zumindest für die Jahrzehnte vor dem Jüdischen Krieg – ist das Auftreten prophetischer Gestalten, die sowohl bei Josephus als auch im Neuen Testament erwähnt werden.227 Schon allein der Umstand der unabhängigen Erwähnung von zweien dieser Propheten in den beiden wichtigsten Quellen jener Zeit228 zeigt, dass ihre Wirksamkeit einen tiefen Eindruck im kollektiven Gedächtnis der damaligen Zeitgenossen hinterlassen haben muss. Die von ihnen ausgelösten Bewegungen, die 227 Interessanterweise gibt es vor der Zeitenwende weder bei Josephus noch irgendwo anders in der frühjüdischen Literatur ähnliche Berichte über derartige prophetische Bewegungen. Wir finden vor dem Täufer und vor Jesus auch nirgendwo eine literarische Notiz, dass es eine stärkere prophetische Erwartung, etwa im Anschluss an Dtn 18,15.18 oder Mal 3,23, gegeben hätte. Eine Ausnahme stellt lediglich Sir 48,10 dar. Es wird auch – soweit die Quellen dies erkennen lassen – keiner der in den folgenden Jahrzehnten auftretenden Prophetengestalten mit Mose oder Elia identifiziert. Eine solche Erwartung wird tatsächlich erst in den Evangelien sichtbar, vgl. Mk 8,27ff.parr; 9,11ff.parr. 228 Theudas wird in Jos Ant 20,97f. und Act 5,36, der „Ägypter“ sogar zweimal bei Josephus in Bell 2,261–263 und Ant 20,169–171 und dann noch in Act 21,38 erwähnt.

5 Prophetische Gestalten und Erneuerungsbewegungen

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in der Regel von kurzer Dauer und ohne Nachhaltigkeit waren, sind auch deshalb von Interesse, weil sie v.a. die Landbevölkerung mobilisieren konnten. Hier wurden heilsgeschichtliche Erinnerungen und Hoffnungen geweckt, die nicht mehr mit den zentralen Institutionen des Tempels und der Priesterschaft verbunden waren. R.A. Horsley und J.S. Hanson unterscheiden die Prophetengestalten nach der Zeitenwende in zwei Kategorien.229 Während sie den namentlich unbekannten samaritanischen Propheten, Theudas und den „Ägypter“ zu den Zeichen- bzw. „Aktionspropheten“ rechnen, die in der Tradition Moses, Josuas, der Richter, Elias und Elisas stehen und das Volk (des Landes) zu einem neuen Aufbruch oder Auszug in die Freiheit motivieren wollten,230 zählen sie Johannes den Täufer und Jesus ben Ananias zu den Wortbzw. Orakelpropheten in der Tradition der klassischen Wort- und Schriftpropheten des Alten Testaments.231 5.1 Johannes der Täufer Eine für Jesu Wirken sehr wichtige Stimme in diesem vielfältigen und zum Teil höchst widersprüchlichen Chor frühjüdischer Tempelperspektiven gehörte Johannes dem Täufer. In allen Evangelien ist der Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu mit dem Wirken Johannes des Täufers verbunden. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass Jesus im Täufer den Vorläufer seiner eigenen Sendung sah.232 Eben jener Täufer konkurrierte aber mit seiner

229 Vgl. HORSLEY/HANSON, Bandits, 135f.160–189. Eine weitere umfassende Darstellung findet sich bei GRAY, Figures, 112–144. 230 Exakt diese Charakterisierung ihrer Sendung findet sich in dem polemischen Summarium bei Josephus, Bell 2,259: „Sie waren nämlich Schwarmgeister und Betrüger, die unter dem Vorwand göttlicher Eingebung Unruhe und Aufruhr hervorriefen und die Menge durch ihr Wort in dämonische Begeisterung versetzten. Schließlich führten sie das Volk in die Wüste hinaus, dort wolle ihnen Gott Wunderzeichen zeigen, die die Freiheit ankündigen“; Übersetzung nach M ICHEL/B AUERNFEIND, Bello Judaico I, 233; vgl. auch Ant 20,168. Josephus macht gegenüber seinen römischen Lesern keinen Hehl daraus, was er als pharisäischer Aristokrat und jüdischer Überläufer, der gebrannt ist von den Eindrücken zelotischer Radikalisierung und der Katastrophe des Jüdischen Krieges, im Rückblick von diesen Bewegungen hält. Man wird seine Sicht der Dinge deshalb bei der Bewertung immer mit zu bedenken haben. 231 HORSLEY/HANSON, Bandits, 151.249, vertreten die These, dass gerade die Wortpropheten in nachexilischer Zeit in keiner Weise ausgestorben, sondern bis zum Ende des zweiten Tempels wirksam gewesen seien und lediglich keine kanonische Berücksichtigung mehr fanden. Insofern müssten die hier behandelten Propheten als Nachfolger einer ungebrochenen Linie des israelitisch-jüdischen Prophetismus gelten. 232 Vgl. dazu MÜLLER, Johannes, 67–75, mit Verweis auf Mt 11,9/Lk 7,26; Mt 11,11/Lk 7,28; Mt 11,19c/Lk 7,35; Mt 11,28.30 und Mt 11,12f./Lk 16,16. Zum Verhältnis Jesu zum Täufer vgl. MÜLLER, Johannes, 52–75.

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

Bußtaufe und dem damit verknüpften Zuspruch der Sündenvergebung mit einem zentralen Aufgabenbereich der Jerusalemer Priester. In seinem Auftreten werden prophetische Attribute sichtbar: Die Wirksamkeit in der Wüste als dem symbolischen Ort der Reinigung, Vorbereitung und Erneuerung (vgl. Jes 40,1–11)233 und seine Kleidung erinnern nicht nur an Elia, sondern generell an prophetische Kleidung (vgl. Sach 13,4).234 Seine Predigt vom unmittelbar bevorstehenden Gericht Gottes steht in der Tradition der großen deuteronomistischen Wortpropheten235 und lehnt sich in auffallender Weise an die Botschaft Maleachis an.236 Anders als die zeitgenössischen „Aktionspropheten“ deutet beim Täufer nichts darauf hin, dass er eine Massenbewegung mit revolutionären Ambitionen gründen wollte.237 Gewöhnlich wird aus seiner prophetischen Gerichtspredigt und mehr noch aus seinem mit der Taufe verbundenen Zuspruch der Sündenvergebung eine implizite Kritik an oder auch ein bewusster Bruch mit den Institutionen des Tempels und des Priestertums abgeleitet238 und auf die Analogien zu den Qumrantexten und der dort reflektierten Kritik am Jerusalemer Kult hingewiesen. Auch dort wurde – wie oben beschrieben – eine eschatologische Zerstörung des Tempelkultes mitsamt seinen Institutionen erwartet. Anders als in Qumran finden wir beim Täufer aber kein analoges, auf Dauer angelegtes Alternativsystem zum Tempel.

233

Vgl. STEGEMANN, Essener, 296f.: „Johannes hatte als Ort seines öffentlichen Auftretens genau jene Stelle gegenüber von Jericho gewählt, wo einst Josua das Volk Israel durch den Jordan hindurch in das Heilige Land hineingeführt hatte, Jos 4,13.19. Die Wahl des Ostufers des Jordans als Wirkungsstätte entsprach dabei der einstigen Situation Israels vor dem Durchschreiten des Flusses. Das Auftreten des Täufers analogisierte also das Dasein Israels … vor dem Einzug in das Gelobte Land, in dem erst künftig alles Wirklichkeit werden sollte, was Gott seinem erwählten Volk bereits durch Mose auf dem Sinai verheißen hatte“ [kursiv bei S.]. Vgl. zum Ort des Auftretens auch T ILLY, Johannes, 185–192. 234 Vgl. hierzu MÜLLER, Johannes, 20–25, und T ILLY, Johannes, 167–175. 235 MÜLLER, Johannes, 27: „Er [sc. Johannes der Täufer] ist … der Tradition deuteronomistischer Umkehrpredigt zuzuordnen, die zwar Israel wegen seines wiederholten Abfalls und seiner Halsstarrigkeit anklagte, aber doch immer eine Bußmöglichkeit offen ließ“; vgl. auch T ILLY, Johannes, 193–235. 236 V.a. Mal 3 redet zunächst vom Boten, der Gott den Weg bereiten soll (V. 1), sodann vom Tag Jahwes, dem Feuer- und Läuterungsgericht (V. 2f.), dem Appell zur Umkehr (V. 7) und schließlich auch von der Trennung der Spreu vom Weizen (V. 19). Sämtliche Motive tauchen in der Verkündigung des Täufers wieder auf. 237 HORSLEY/HANSON, Bandits, 178. 238 Vgl. z.B. LOHMEYER, Johannes der Täufer, 145–148; W EBB, John the Baptist, 191f.197; T ILLY, Johannes, 210.223; T HEISSEN/MERZ, Jesus, 185.195f.493.509; MÜLLER, Prophet, 165; HENGEL/SCHWEMER, Jesus, 316.

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Die wichtigste Analogie zwischen dem Täufer und dem yaḥad ist die Verbindung von Sündenvergebung und Wasser(ritus bzw. dem Untertauchen/Tauchbad), die auch in den Qumrantexten als konstitutiv für die Gemeinschaft betrachtet wurde (1QS 3,6–9; vgl. 3,3–5) und sowohl als Zusage wie als Zeichen fungierte. F. Avemarie erklärt die Verquickung institutioneller Sündenvergebung mit rituellen Waschungen als logische Konsequenz der Separation vom Tempel: „Wo ein Opferritus wegen der örtlichen Gegebenheiten nicht durchführbar ist, die Idee des Tempels aber nach Konkretion verlangt, ist es darum das Nächstliegende, an die Stelle des Opfers zur rituellen Darstellung des Sühnegeschehens die Waschung – Tauchbad oder Besprengung – treten zu lassen.“239 Der yaḥad hat damit aus dem kultischen Symbolsystem die transportablen Elemente übernommen und sie in den immateriellen Tempel der Gemeinschaft transformiert. „Die qumranische Sühnewaschung ist damit zugleich Ausdruck der Kritik und Produkt einer Transformation des Jerusalemer Opferkultes.“240 Umgekehrt muss allerdings auch auf die deutlichen Unterschiede zwischen den Tauchbädern der Qumrantexte und der Johannestaufe hingewiesen werden.241 Während die Tauchbäder des yaḥad allem Anschein nach vom Büßer selbstständig und in steter Regelmäßigkeit vollzogen wurden, wird die Johannestaufe vom Täufer seinen Täuflingen im Sinne eines transitiven Aktes gespendet. Ob diese Taufe einmalig und unwiderholbar war, wissen wir nicht. Seine Taufe war auch nicht mit der Mitgliedschaft in einer exklusiven Gemeinschaft verbunden. Wenn Johannes seine Taufpraxis tatsächlich der Praxis des yaḥad entlehnt hätte, dann enthielte sie gleichzeitig auch eine scharfe Kritik an derselben: „Mit dem auf Vergebung zielenden Wasserritus übernimmt der Täufer zwar ein sehr charakteristisches Element qumranischer Praxis (wohlgemerkt: nicht des Tempelkultes!), macht es aber, indem er auf ein halachisches System und den entsprechenden Verhaltenskodex verzichtet, einem breiten Publikum zugänglich und erteilt so dem Separatismus des Jachad eine Absage. Seine Taufe perpetuiert essenische Frömmigkeit und stellt sie zugleich in Frage.“242

Aus diesem Grund scheint die Distanz des Täufers zum Jerusalemer Kult nicht ganz so groß zu sein, wie oft angenommen. Zwar hat der Täufer mit seiner Taufe einerseits zweifellos ein „rival enterprise“243 etabliert, das

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STEGEMANN, Essener, 306–311; AVEMARIE, Johannestaufe, 403f. AVEMARIE, Johannestaufe, 404. 241 Vgl. hierzu MÜLLER, Johannes, 43f., und T AYLOR, Art. John the Baptist, 820. 242 AVEMARIE, Johannestaufe, 406. STEGEMANN, Essener, 306ff., schließt eine Verbindung des Täufers zur Qumrangemeinschaft nicht nur dezidiert aus, sondern betont das Konkurrenzverhältnis zwischen beiden, da beide jeweils exklusive Heilswege vertraten: Für den yaḥad war dies die Mitgliedschaft in der eigenen Gemeinschaft inklusive der Observanz aller Ordnungen, während es für den Täufer seine Taufe war; vgl. a.a.O., 311: „Johannes der Täufer ist weder ein Essener gewesen noch deren geistiger Schüler. Hätte er eines Tages die Strapaze auf sich genommen, nach Qumran hinüberzuwandern, wäre er als Nicht-Essener dort nicht einmal eingelassen, sondern bestenfalls mit hinreichender Wegzehrung für den weiten Heimweg versehen worden.“ 243 FREY, Temple, 451. Ähnlich T ILLY, Johannes, 224; DUNN, Purity, 459: „In a sense, baptism took the place of the sin-offering. That was the really distinctive feature of John’s baptism: not that he rejected the Temple ritual on the grounds that repentance alone was sufficient; rather that he offered his own ritual as an alternative to the Temple 240

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durch die Form der gewährten Reinigung und Sündenvergebung unweigerlich die Institution des Tempels in Frage stellen musste, andererseits finden wir beim Täufer nirgendwo eine explizite Kritik am Tempel, dem Kult oder der Priesterschaft. Die allgemeine Gerichtspredigt über die Gottlosen und Frevler (Mt 3,7–10.12/Lk 3,7–9.17) wird nicht eigens differenziert und erlaubt es nicht, eine dezidierte Kritik am Tempelkult in sie hineinzulesen.244 Zwar ist es auch hier nicht unwahrscheinlich, dass unter den in Mt 3,7 erwähnten Pharisäern und Sadduzäern Priester waren, aber sie werden vom Täufer nicht im Blick auf ein bestimmtes Amt oder eine defizitäre Kultpraxis, sondern wegen ihres religiösen Anspruchs als „Geschlecht der Ottern“ (gennh,mata evcidnw/n) kritisiert.245 Mehr als die Forderung nach einer konkreten Form des gerechten Lebenswandels ist der in den synoptischen Quellen überlieferten Bußpredigt kaum zu entnehmen. Die Bußriten des Täuferkreises, wie z.B. die Fasten- und Gebetspraxis deuten sogar eher auf eine Nähe zum Pharisäismus und zur Tempelfrömmigkeit hin (vgl. Mk 2,18/Mt 9,14/Lk 5,33).246 Damit soll nicht geleugnet werden, dass zwischen dem Täufer und der Priesterschaft durchaus ein spannungsvolles Verhältnis existiert haben mag, um nicht zu sagen haben muss. So darf man durchaus hinter den Sadduzäern (Mt 3,7) die Priesteraristokratie vermuten, der dann von Johannes unterstellt wird, dass sie eine trügerische Abrahamskindschaft für sich reklamiert. Mit dem Abraham-Logion (Mt 3,9), wonach Gott sich aus Steinen Kinder erwecken kann, zeigt der Täufer eine durchaus traditions- und damit auch kult- und priestertumskritische Haltung.247 Dies wäre umso mehr der Fall, wenn man den lukanischen Geburtsgeschichten Vertrauen schenkt, wonach Johannes der Täufer der Sohn eines Priesters namens Zacharias aus der Priesterabteilung Abija und einer Mutter mit aaronidischer Abstammung war (Lk 1,5). Da das Priesteramt erblich war, drängt sich natürlich die Frage auf, was den jungen Priester Johannes bewogen haben ritual. Perhaps we should even say that John the Baptist in baptizing played the role of the priest.“ 244 Auch T ILLY, Johannes, 210.223f., kann stets nur von einer „immanenten“ bzw. „impliziten“ Kritik des Täufers am Jerusalemer Tempelkult aufgrund seiner Insuffizienz sprechen. 245 In der Paralleltradition in Lk 3,7 bezieht sich das Scheltwort auch nicht mehr auf Pharisäer und Sadduzäer, sondern auf die gesamte zu ihm an den Jordan hinausgehende Volksmenge. 246 HOGETERP, God‘s Temple, 163f., macht darauf aufmerksam, dass diese Riten in einem engen Bezug zum Kult stehen und zumindest in Teilen mit den Tempelfesten korrespondieren. 247 Vgl. HENGEL/SCHWEMER, Jesus, 316: „Das Wirken des Täufers setzt einen Konflikt mit dem Tempelkult und der diesen beherrschenden Priesteraristokratie voraus ... Für den Priestersohn aus der Ordnung Abia spielte der Kult offenbar keine wesentliche Rolle mehr.“

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könnte, mit seiner Jordantaufe ein „Konkurrenzunternehmen“ zum Tempelkult zu proklamieren.248 Die Antworten bleiben aufgrund der Quellenlage freilich spekulativ.249 Dass das Verhältnis zumindest für die Hüter des Jerusalemer Kultes ein spannungsvolles war, wird in den synoptischen Streitgesprächen zwischen Jesus und den Hohepriestern und Volksführern bezüglich der Interpretation der Johannestaufe spürbar (Mk 11,30/Mt 21,25/Lk 20,4). Doch auch hier wird deutlich, dass der Konflikt wohl weniger vom Täufer als vielmehr von der (Hohe)Priesterschaft ausging, die sich durch seine Taufpraxis herausgefordert sah.250 Gegen eine bewusste und direkte Provokation der Priesterschaft durch den Täufer spricht auch der Umstand, dass die Möglichkeit der Sündenvergebung bereits inneratl. und v.a. frühjüdisch nicht mehr ausschließlich an den Tempelkult geknüpft war. So ist bereits in Num 30,6.9.13 von einem außerkultischen Verzeihen Gottes die Rede. Grundlage ist hier lediglich die rechtswirksame Entscheidung des pater familias. Mag dies noch eine sehr singuläre Stelle im Alten Testament sein, so zeigt Avemarie, dass spätestens im Frühjudentum eine unkultische und unblutige Form der Vergebung legitimiert wird.251 In Anbetracht der Unmöglichkeit des Kultes im babylonischen Exil bittet Asarja um eine göttliche Vergebung jenseits von Opfern: „Gibt es doch in dieser Zeit ... weder Brandopfer noch Schlachtopfer, weder Opfergabe noch Räucherwerk, auch keinen Ort, um Erstlingsfrüchte dir darzubringen und Gnade zu finden. Doch lass uns Annahme finden mit büßendem Herzen und mit gedemütigtem Geist wie mit Opfern von Widdern und 248

STEGEMANN, Essener, 304, sieht in seiner priesterlichen Identität eine „Mittlerqualität“ gegeben, welche „sicherlich die entscheidende Komponente seiner aktiven Rolle beim Taufen“ war, „die ihn als rituellen Stellvertreter Gottes zum Täufer und die durch ihn vollzogene Taufe zum wirksamen Sakrament gemacht hat“ [kursiv bei S.]. Etwas vorsichtiger ist MÜLLER, Johannes, 41, der jedoch ebenfalls die aktive Rolle des Täufers darin begründet sieht, „ritueller Stellvertreter Gottes zu sein, der im Taufakt den Verzicht auf die Ahndung der bisherigen Sünden symbolisch vollzieht.“ 249 In der Geburtsankündigung des Engels Gabriel klingen bei Lukas schon Prophezeiungen an, Lk 1,15, die über das priesterliche Amt hinausgehen und eher an einen Nasiräer als an einen Priester erinnern. Während ein Nasiräer nach Num 6,2–4 eine dauerhafte Abstinenz übt, lebt ein Priester nach Lev 10,9 nur während der priesterlichen Amtsverwaltung abstinent. Zusätzlich fallen die Stichworte evpistre,fein und VEli,a j, mit denen eher eine prophetische als eine priesterliche Identität angedeutet wird. Auch MÜLLER , Johannes, 13–19, der die lukanischen Geburtsgeschichten samt und sonders als „Personallegenden“ bewertet, geht dennoch von der priesterlichen Abkunft des Täufers als einem historischen Faktum aus (16), und nach STEGEMANN, Essener, 304, ist dies „überhaupt nicht zu bezweifeln“. 250 AVEMARIE, Johannestaufe, 398; HOGETERP, God’s Temple, 160f. Nach Jos Ant 18,116–119, hat es deutliche Spannungen zwischen dem Täufer und Herodes Antipas und möglicherweise anderen jüdischen Autoritäten gegeben, die ebenfalls mit seiner Popularität zusammen hingen. 251 Vgl. zum Folgenden AVEMARIE, Johannestaufe, 398–401.

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Stieren und von zahllosen Fettschafen. So möge unser Opfer heute vor dir gelten und dich versöhnen ...“ (Dan 3,38–40LXX/q).252 Tatsächlich können Buße, Gebet und der Einsatz des eigenen Lebens Gott dazu bewegen, vom Vollzug der angekündigten Strafe abzulassen. Der Jerusalemer Kult an sich wird in keiner Weise in Frage gestellt, aber angesichts der Not wird doch eine Alternative „errungen“, um bei Gott Gnade und Barmherzigkeit zu finden (V. 38: eu``rei/n e;leoj). Auch Ben Sira ist alles andere als ein Kultkritiker (vgl. Sir 32[35],6–13) und dennoch hält er Opfer im Status moralischer Unwürdigkeit für nutzlos (Sir 31[34],21f.). Vergebung findet der Frevler vielmehr mit Hilfe moralischen Handelns (Sir 32[35],5; 38,9f.), wie z.B. dem Geben von Almosen (Sir 3,30) oder eigener Vergebungsbereitschaft (Sir 28,2). Beim Siraciden steht nicht mehr der Tempel und Opferkult im Vordergrund des Vergebungsbegriffs, sondern die Barmherzigkeit Gottes253 und menschliche Moralität254. In einer eingehenden Studie hat S. von Stemm auf eine große Vielfalt von frühjüdischen Vergebungsbegriffen hingewiesen, welche die Reue des Sünders,255 Bekenntnis und Gebet,256 gerechte Werke,257 Fasten und Kasteiung,258 Züchtigung 259 oder die Fürbitte eines Frommen 260 zur Grundlage der Vergebung machen. In allen genannten Belegen wird nirgendwo die grundlegende Gültigkeit der Institution des Jerusalemer Kultes in Frage gestellt. Die alternativen Formen der Vergebung treten schlicht an seine Seite und lehnen sich gelegentlich an diesen an.261 Das verbindende Motiv hinter dieser Vielfalt von Vergebungsbegriffen, die eine neue Form des frühjüdischen Vergebungsglaubens widerspiegeln, ist die Beziehung zu Gott.262 Im Gebet und dem Gespräch mit Gott steht der Beter in einer Unmittelbarkeit vor Gott, die kultischem Denken bisher fremd war.

Im Ergebnis ist festzuhalten, dass der Täufer mit seiner Bußtaufe zweifellos ein „Konkurrenzangebot“ zu den Sündopfern des Tempels und damit überhaupt zum institutionellen Tempelritual etablierte. Er trat damit auch in eine faktische Konkurrenz zu den Priestern, insofern er die Vollmacht beanspruchte, als „ritueller Stellvertreter Gottes“263 die Vergebungs aufgrund der Taufe und nicht mehr aufgrund des Sündopfers zu erwirken. 252

Übersetzung nach P LÖGER, Zusätze zu Daniel, 72; vgl. hierzu auch STEMM, Sünder, 209–243. 253 Sir 3,3.30; 5,5f.; 16,7.11; 17,29; 18,12. 254 Sir 5,5f.; 16,7; 17,29; 18,20; 20,28; 28,5; 32[35],5. 255 TestRub 1,10; TestGad 7,5; Jub 41,23–25; 1QHa 9,13; vgl. auch Lk 18,13, und Behm, Art. noe,w ktl., 987. 256 Jub 41,23–25; TestSim 2,13; PsSal 9,6; OrMan 13 (= Oden 12,13); 4Q 242; VitProph 4,15; 11QPsa 19,13f.; JosAs 12,3–6; 13,11–13; LibAnt 39,7; vgl. auch Lk 18,13 und Mt 6,12. 257 Dan 4,24. 258 TestRub 1,10; TestJud 19,2; PsSal 3,7–8; VitProph 4,16; LibAnt 30,4. 259 PsSal 10,1; JosAs 11,18. 260 TestJud 19,2; 4Q504 2,7–10; LibAnt 52,3. Von einer erfolglosen Fürbitte berichtet äthHen 12,4–14,7; von einer Fürbitte neben Opfern Hi 42,8–10LXX; 11Q10 38,2f. 261 STEMM, Sünder, 242f.359; vgl. auch Tob 4,9–11, wo die rettende Funktion von Barmherzigkeitstaten mit Hilfe des soteriologischen Funktion von Opfergaben illustriert wird. 262 STEMM, Sünder, 362f. 263 MÜLLER, Johannes, 41.

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Gleichzeitig ist Vorsicht geboten, das Handeln des Täufers als eine direkte Kritik an bzw. Provokation des Jerusalemer Tempelestablishments zu verstehen. Wir finden beim Täufer keine direkte Kultkritik und auch nicht die Intention anstelle eines als defizitär betrachteten Kultes eine alternative Form zur Steigerung der allgemeinen Heiligkeit zu etablieren. Vielmehr waren bereits in der atl. und frühjüdischen Tradition zahlreiche Möglichkeiten der Sündenvergebung jenseits des Jerusalemer Kultes bekannt und anerkannt, ohne dass dabei die Institution des Jerusalemer Kultes und seiner Priesterschaft in irgendeiner Weise in Frage gestellt worden wäre. Offensichtlich hat sich spätestens im 2. Jh. v.Chr. ein Vergebungsglaube entwickelt, der nicht mehr an die kultische Form der Sühne durch Opfer gebunden war. Dieses Vergebungsverständnis ist mit der Barmherzigkeit Gottes oder mit menschlichem Wohlverhalten verknüpft.264 Eine dezidierte Opposition zum Tempel ist in Anbetracht dieser Pluralität von Vergebungsvollzügen gar nicht mehr nötig. Vielmehr deutet manches auf eine schlichte Nicht-Beziehung und Distanz hin. Damit stehen wir bereits am Beginn der ntl. Epoche vor dem Phänomen eines sich weiter ausdifferenzierenden Judentums, das seine zentralen Heilsinstitutionen – sieht man einmal von den Qumrantexten ab – nicht direkt in Frage stellte, aber dessen Hoffnungen und Frömmigkeit sich je länger je weniger auf diese Institutionen reduzieren ließen. 5.2 Prophetische Erneuerungsbewegungen Gemäß der Kategorisierung der Zeichen- und Aktpropheten durch R. Gray265 zeichnen sich die in diesem Abschnitt im Fokus stehenden Gestalten durch eine Reihe gemeinsamer Charakteristiken aus: Sie waren alle (1) Führer größerer Bewegungen, (2) die sich aus der einfachen Bevölkerung rekrutierten. (3) Die Führer präsentierten sich als Propheten und (4) führten ihre Anhänger stets von einem bestimmten Sammlungsort zu einem Zielort, wobei sowohl der Weg an sich als auch der Zielort heilsgeschichtliche Konnotation besaßen. Sie interpretierten (5) ihr Handeln als einen

264 AVEMARIE, Johannestaufe, 407, zieht aus diesen Zeugnissen die sehr weitgehende Schlussfolgerung, dass Johannes der Täufer ein Judentum repräsentierte, „das vielleicht nicht die Idee, aber doch die Realität eines funktionierenden Sühnekultes schlicht hinter sich gelassen hat“. 265 Die Nomenklatur ist umstritten. HORSLEY, Movements, 8f., favorisiert den abstrahierenden Begriff „Aktionsprophet“, da in den seltensten Fällen von „Zeichen“ die Rede ist, vgl. dagegen die Argumentation von GRAY, Figures, 198f., Anm. 2, die an dem eingeführten Begriff „Zeichenprophet“ festhalten möchte, weil de facto Wunder und Zeichen ein stets von Josephus erwähntes Motiv darstellen, auch wenn der Begriff selbst nicht auftaucht.

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göttlichen Akt der Befreiung, was (6) Gott selbst durch ein wie auch immer geartetes Wunder oder Zeichen bestätigen würde.266 5.2.1 Der samaritanische Prophet Nach Johannes dem Täufer berichtet Josephus in der Regierungszeit von Pontius Pilatus (26–36 n.Chr.) von einem nicht namentlich bekannten samaritanischen Propheten, der möglicherweise an die samaritanische Erwartung eines endzeitlichen Erneuerers (tahev), der den antiken Tempel auf dem Garizim wiedererrichten sollte, anknüpfte.267 Der Bericht des Josephus in Ant 18,85–87 folgt demselben Muster, mit dem er später vom Auftreten ähnlicher Propheten im jüdischen Kontext berichtet: Ein Mann ohne Skrupel und voll Hinterlist habe die Menge überredet, zum Garizim zu ziehen, um ihr die heiligen Gefäße zu zeigen, die Mose dort vergraben habe. Jene, die sich hätten überreden lassen, seien bewaffnet zu einer Ortschaft in der Nähe gekommen, um in großer Schar den Berg zu erklimmen. Pilatus habe dagegen sehr rasch gehandelt, ein Kavallerie- und Infanterieregiment geschickt, die einige getötet und andere geschlagen oder gefangen genommen hätten, während Pilatus die Rädelsführer habe hinrichten lassen. Die Vielzahl der Rädelsführer (prosunhqroisme,noi) deutet, ebenso wie die massiven Gegenmaßnahmen des Pilatus, auf eine gewisse Größe der Bewegung hin, die sich allem Anschein nach v.a. aus der umliegenden Landbevölkerung rekrutierte. Auffällig ist in jedem Fall die Wahl des heilsgeschichtlich bedeutenden Ortes, noch dazu die eines Berges, die zentrale Rolle der heiligen Gefäße Moses und die Bewaffnung der Menge, die evtl. auf die Vorbereitung eines religiös motivierten Krieges hindeuten könnte. Allem Anschein nach wollte der Prophet als eine Art „eschatological counterpart“268 des Mose verstanden werden, der das Volk auch gegen den Widerstand der aktuellen Machthaber dem eschatologischen Ziel einer erneuten Befreiung aus feindlicher Unterdrückung entgegenführen würde. Dass Pilatus sofort und entschieden reagiert, zeigt, dass auch er die Dynamik dieser Bewegung ähnlich eingeschätzt haben muss. Auch wenn diese Samaritaner am Jerusalemer Heiligtum gar nicht interessiert gewesen sein dürften, sind sie für unseren Kontext doch insofern von Bedeutung, als die Bewegung zeigt, wie stark die zeitgenössische Bereitschaft zu einem Neuanfang jenseits bestehender Heilsinstitutionen war. Exakt dieses Phänomen wird auch beim nunmehr jüdischen Aufstand des Theudas deutlich.

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GRAY, Figures, 113.133–144; vgl. auch SMITH, Troublemakers, 509–517. HORSLEY/HANSON, Bandits, 163. 268 HORSLEY/HANSON, Bandits, 164. 267

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5.2.2 Theudas Josephus berichtet in Ant 20,97f., dass unter der Prokuratur des Cuspius Fadus ein „Scharlatan“ namens Theudas viele „einfache Leute“ überredet habe, ihm mitsamt ihrem Besitz an den Jordan zu folgen. Er habe sich als Prophet ausgegeben und versprochen, dass sich auf sein Wort hin der Fluss teilen würde und einen einfachen Durchzug ermöglichen werde. Cuspius Fadus habe prompt reagiert und seine Kavallerie geschickt, die in einem Überraschungsangriff ein Blutbad unter dem Gefolge des Theudas angerichtet habe.269 Theudas sei lebend gefangen genommen, aber an Ort und Stelle enthauptet worden. Anschließend hätten Fadus‘ Soldaten das Haupt mit nach Jerusalem genommen, um es dort zu präsentieren. Lukas erwähnt in seiner kurzen, wohl anachronistisch vor Judas dem Galiläer eingeordneten Notiz in Act 5,36, dass Theudas 400 Anhänger mobilisieren konnte. Auch hier bleiben die Hintergründe weitgehend im Dunkeln,270 aber die Parallelen zum samaritanischen Propheten werden umso deutlicher: Wieder sammelt ein charismatischer Führer mit prophetischer Attitüde v.a. verarmte Bauern der Landbevölkerung, die ihm mitsamt ihrem Besitz folgen sollen. Am heilsgeschichtlich prominenten Ort des Jordanufers sollten sie in einer prophetischen Zeichenhandlung eines der Urdaten der Existenz Israels, den Durchzug durch den Jordan (und das Schilfmeer?) und den Einzug in das gelobte Land, wiederholen.271 Ob Theudas sich selbst als eine Art Josua redivivus (oder/und Mose redivivus?) verstand, lässt sich nicht klären, aber seine intendierte Zeichenhandlung macht deutlich, dass seine eschatologischen Hoffnungen nicht auf dem Tempel und der Jerusalemer Priesterschaft ruhten, sondern in einer Rekapitulation der Heilsgeschichte, einem neuen Exodus und/oder einer neuen Landnahme, verbunden mit der Hoffnung auf die endzeitliche Befreiung und Vollendung. 5.2.3 Der Prophet aus Ägypten In Josephus‘ dritter Schilderung eines „Aktionspropheten“ handelt es sich um einen nicht namentlich genannten jüdischen Propheten, der aus Ägypten stammt oder von dort her nach Israel zurückgekehrt ist (Bell 2,261– 263; Ant 20,169–171). Da Paulus nach Act 21,38 bei seinem letzten Jerusalem- und Tempelbesuch im Jahr 57 n.Chr. mit diesem Propheten verwechselt wird, muss dieser kurze Zeit zuvor, d.h. während der Prokuratur des Felix, öffentlich aufgetreten sein. Die Vorgänge lassen sich nach den 269 GRAY, Figures, 115f., vermutet angesichts der berichteten Umstände, dass die Gruppe unbewaffnet war. So konnte sie von einer relativ kleinen militärischen Einheit offensichtlich schnell überwältigt werden. 270 HORSLEY/HANSON, Bandits, 165f., sehen den Aufstand des Theudas stark in ökonomisch-sozialrevolutionärem Licht der Ausbeutungspolitik Herodes Agrippas I. und der extremen Unterdrückung durch den Prokurator Cuspius Fadus. 271 GRAY, Figures, 115, denkt an eine Kombination beider Ereignisse.

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beiden – nicht ganz widerspruchsfreien – Berichten bei Josephus wie folgt rekonstruieren: Der ägyptische (Falsch)Prophet hat 30.000 Anhänger (Bell 2,261) aus dem einfachen Volk des Landes (Bell 2,261: eivj th.n cw,ran) mobilisiert272 und diese zunächst in die Wüste und dann (zurück?) zum Ölberg geführt. Von dort aus habe er durch ein prophetisches Befehlswort die Stadtmauern Jerusalems zum Einsturz bringen, die römischen Truppen (mit Waffengewalt?) überwältigen und sich selbst zum Herrscher der Stadt machen wollen.273 Als Felix Wind davon bekam, sei er ihm sofort mit seinen schwer bewaffneten Truppen entgegen marschiert bzw. geritten und habe in einer blutigen Schlacht 400 seiner Anhänger getötet und 200 gefangen genommen (Ant 20,171). Der „Ägypter“ selbst sei dagegen entkommen und spurlos verschwunden. Wieder bleiben die zeitgeschichtlichen Hintergründe unerwähnt, doch scheint dieser Prophet den mit Abstand größten Mobilisierungserfolg gehabt zu haben, auch wenn die Zahl 30.000 eine Übertreibung sein sollte, da Lukas in Act 21,38 nur von 4.000 spricht und Josephus in den späteren Antiquitates am Ende nur von 400 Getöteten und 200 Gefangenen spricht. Auch die massive Reaktion des Felix spricht dafür, dass der Aufstand mehr als nur eine Provinzposse war. Auch hier scheint eine heilsgeschichtliche Ur-Erzählung Pate gestanden zu haben, dieses Mal die Eroberung Jerichos (vgl. Jos 6). Möglicherweise meint das „Herumziehen in der Wüste“ (Bell 2,261), dass der Ägypter mit seinen Anhängern versuchte, Jerusalem symbolisch zu umrunden, analog zu Josuas Umrundung Jerichos.274 Oder der Zug in die Wüste diente der Vorbereitung und Reinigung für einen neuen Einzug und eine neue Landnahme. Auffallend ist wieder der Rückgriff auf die Anfänge der Heilsgeschichte Israels, die Mobilisierung der Massen, der Weg in die Wüste und nicht zuletzt die Ignorierung der jüdischen Heilsinstitutionen. 5.2.4 Weitere Zeichenpropheten Josephus bietet noch weitere Berichte von ähnlichen Bewegungen, die aber ob ihrer Kürze kaum verwertbare Informationen bieten.275 In Bell 2,258– 260 und Ant 20,167f. ist von weiteren „Verführern“ und „Betrügern“ die 272 Nach dem Bericht in Ant 20,169 kreuzte der Ägypter zunächst in Jerusalem auf, und so scheint es, dass er zunächst hier seine Anhängerschaft rekrutierte, was jedoch recht unwahrscheinlich ist, zumal es am Ende zu einer Konfrontation zwischen seinen Anhängern und „dem ganzen Volk“ Jerusalems kommt (pa/j o`` dh/moj). 273 Im Blick auf die Frage der Bewaffnung der Gruppe vermutet GRAY, Figures, 119, dass sie von Josephus im Bellum eingetragen worden sei, um die Nachfolger des Ägypters als Revolutionäre erscheinen zu lassen. In den Antiquitates ist dagegen von Waffen keine Rede mehr. 274 Vgl. hierzu auch Jos Ant 5,22–32. 275 Vgl. hierzu GRAY, Figures, 118–120.

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Rede, die aufgrund einer „göttlichen Sendung“ „das Volk“ in die Wüste führten, wo Gott ihnen „Zeichen der Befreiung“ (Bell 2,259: shmei/a evleuqeri,aj) zeigen würde bzw. wo sie selbst in Übereinstimmung mit Gottes Plan „Zeichen und Wunder“ (Ant 20,167: te,rata kai. shmei/a) vollbringen würden. Felix habe daraufhin Kavalerie und Infanterie ausrücken und sie niedermachen lassen. In Ant 20,185–187, berichtet Josephus von einem Betrüger unter der Regentschaft von Festus, der all jenen Wohlergehen und Erlösung vom Elend versprach, die ihm in die Wüste folgen würden. Festus machte auch mit ihm und seinen Anhängern kurzen Prozess. Nach 70 n.Chr. berichtet Josephus schließlich von Jonathan dem Sikarier (Bell 7,437–450; Vit 424f.), der in Kyrene in Nordafrika ebenfalls eine Gruppe von Nachfolgern in die Wüste geführt habe, um ihnen „Zeichen und Erscheinungen“ (shmei/a kai. fa,smata) zu zeigen. Der zuständige Prokurator Catullus schickte seine Kavallerie und Infantrie und ließ Jonathans Nachfolger töten oder gefangen nehmen. Der Anführer selbst entkam zunächst, wurde aber später gefangen. Inhaltlich lässt sich auch hier wenig bis nichts sagen. Es scheint aber, dass Jonathans Aktion eher (sozial)politisch als religiös motiviert war. 5.2.5 Ergebnis Das Muster hinter den von Josephus erzählten Berichten ist immer dasselbe: Einer charismatischen Gestalt mit prophetischem Anspruch gelingt es, eine mehr oder weniger große Anhängerschaft aus der Landbevölkerung – Josephus spricht von plh/qoj, o;cloj und dh/moj – für die „Rekapitulation“ der heilsgeschichtlichen „Ur-Erlösung“ Israels zu mobilisieren. Häufig spielen bestimmte Zeichen (shmei/a), Wunder (te,rata) oder Erscheinungen (pa,smata) eine wichtige Rolle, die wahrscheinlich v.a. eine legitimierende und authentifizierende Funktion hatten.276 Ein direkt prophetischer Anspruch wird von Josephus jedoch nur bei Theudas und dem ägyptischen Propheten erwähnt. Eine wesentliche Rolle spielen schließlich stets traditionsgefüllte Orte und die Wüste als Ort der Reinigung und Vorbereitung.277 Keine dieser Bewegungen – möglicherweise abgesehen von jener von Jonathan dem Sikarier – scheint einen sozialrevolutionären oder messianischpolitischen Hintergrund gehabt zu haben, sondern alle Indikatoren spre276 GRAY, Figures, 125–130, zeigt, dass in der Moseerzählung des Josephus der Begriff shmei/a nur für die Legitimationswunder Moses vor dem Pharao verwendet wird, nicht jedoch für die „großen“ Exoduswunder (Plagen, Schilfmeer); vgl. a.a.O., 128: „The primary purpose, however, was to convince others that he was God’s agent, as he claimed to be, and thus that they should believe what he told them of God’s intentions and do what he commanded.“ 277 Vgl. Jes 40,1–11; 51,9–11.

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chen für in erster Linie religiös motivierte Bewegungen,278 wobei natürlich damit zu rechnen ist, dass sich verschiedene Intentionen mischten. Als ein Indiz für diese These führt R. Gray zum einen die politisch-militärische Naivität und die dilletantische Strategie an, die diese Bewegungen von messianischen oder sozialrevolutionären Gruppen jener Zeit unterschied.279 Für eine religiöse Motivation spricht zum anderen, dass die versprochene Wende, Befreiung oder Erlösung durch Gott allein oder zumindest durch seine maßgebliche Hilfe herbeigeführt werden würde.280 Ein Problem der historischen Auswertung ist die einseitige Quellenlage. Josephus macht aus seiner ablehnenden Haltung keinen Hehl, und die knappen Berichte von den einzelnen Gruppen scheinen zudem noch stilisiert zu sein,281 so dass es unsicher bleibt, ob Josephus dem Anliegen der einzelnen Anführer immer gerecht wird. Er präsentiert diese Zeichenpropheten als vorbereitende „Faktoren“ des Jüdischen Krieges und weist ihnen neben den Zeloten eine Hauptschuld an den tragischen Entwicklungen zu. Unsere Fragestellung beeinträchtigt dieser Umstand allerdings nur begrenzt. Denn allein die Tatsache, dass diese Bewegungen in scheinbar steter Regelmäßigkeit im Abstand von 10–15 Jahren möglich waren, zeigt die Bereitschaft zumindest der verarmten Landbevölkerung, sich von den religiösen Institutionen des zeitgenössischen Judentums (resigniert?) abzukoppeln und ihr Heil von einer radikalen eschatologischen Wende zu erwarten. Es scheint im ländlichen Bereich Milieus gegeben zu haben, die vom Jerusalemer Tempelkult und ihrem Personal nichts mehr erwarteten, sondern verzweifelt und damit empfänglich genug für radikale Botschaften der Befreiung waren.282 Die für diese Menschen überzeugende Botschaft ihrer Führer scheint eine wie auch immer geartete Rekapitulation der 278

GRAY, Figures, 135f. GRAY, Figures, 136. 280 Diese Erwartung teilten zweifellos alle jüdischen Aufstandsgruppen in jenen Jahrzehnten, aber der Grad der militärisch-strategischen Mobilmachung und Planung zeigt deutliche Unterschiede im Blick auf die erwartete „Synergie“ zwischen göttlichem und menschlichem Handeln. 281 Die Darstellung folgt stets einem bestimmten Raster: Ein Betrüger und Verführer XY tritt auf, führt Anhänger in die Wüste bzw. an einen heilsgeschichtlich relevanten Ort, verspricht Zeichen und Wunder sowie Befreiung, daraufhin reagiert der zuständige römische Befehlshaber sehr rasch und bereitet dem Spuk ein gewaltsames Ende. So wahrscheinlich ein schematisches römisches Vorgehen für das Ende der jeweiligen Aufstände ist, so unwahrscheinlich ist das Schema für die Entstehung der unterschiedlichen Bewegungen. 282 Ein Reflex auf diese und ähnliche Bewegungen findet sich auch im Neuen Testament. Sowohl die Warnung vor falschen Messiassen und falschen Propheten, die Zeichen und Wunder tun und die Erwählten verführen wollen, Mk 13,22, als auch die Warnung, nicht in die Wüste zu gehen, wenn dort ein Messias oder Prophet angekündigt wird, Mt 24,26, erinnern an diese Bewegungen. 279

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Heilsgeschichte zum Inhalt gehabt zu haben, gemäß der Israel wieder zurück in die Wüste zu seinen Ursprüngen musste, um erlöst und befreit zu werden. Dies würde jedoch eo ipso auch die fundamentale Erneuerungsbzw. Substitutionsbedürftigkeit der tradierten Heilsinstitutionen des Tempels, der Opfer und des Priestertums implizieren, denn diese Institutionen waren für diese Juden kein Element der Hoffnung mehr. 5.3 Jesus bar Ananias Zwischen den Auftritten der drei Zeichen- bzw. „Akt(ions)propheten“ und den zahlreichen zelotischen Führern mit ähnlichen Ambitionen während des Jüdischen Krieges berichtet Josephus noch von Jesus bar Ananias. Er ist der einzige sog. Wortprophet neben Johannes dem Täufer, von dem Josephus in den Jahren vor dem Jüdischen Krieg erzählt. Josephus beschreibt ihn im Rahmen der Aufzählung der Prodigien für die Tempelzerstörung (Jos Bell 6,300–309) als einen ungebildeten Bauern, der vier Jahre vor Kriegsbeginn (62 n.Chr.) beim Laubhüttenfest auftrat und rief: „Eine Stimme vom Osten, eine Stimme vom Westen, eine Stimme von den vier Winden, eine Stimme über Jerusalem und den Tempel, eine Stimme über Bräutigame und Bräute, eine Stimme über das ganze Volk!“ Mit diesen Worten lief er durch Jerusalem, was ihm harte Repressalien seitens der städtischen Aristokratie einbrachte, ihn aber gleichwohl bei seiner Mission nicht beirren konnte. Schließlich führte man ihn, von den Geißelhieben gemartert, dem römischen Prokurator vor. Unter weiteren Schlägen brachte er lediglich stets ein weiteres „Wehe Jerusalem!“ hervor. Als Jesus bar Ananias auf die Fragen von Albinus nicht antwortete, ließ dieser ihn, überzeugt von seinem Wahnsinn, laufen.283 Auch in den folgenden sieben Jahren und fünf Monaten soll er mit niemandem mehr gesprochen haben, sondern Tag und Nacht seine Klage über Jerusalem „Wehe, wehe Jerusalem!“ kund getan haben, am lautesten an den Festtagen. Schließlich soll er eines Tages schon während der Belagerung Jerusalems mit gellendem Ruf „Wehe der Stadt, dem Volke und dem Tempel!“ und schließlich auch „Wehe auch mir!“ an der inneren Mauer entlang gegangen sein, als er vom Stein eines römischen Katapults getroffen und getötet wurde. Die Attitüde dieses Gerichtspropheten erinnert stark an Amos und Jeremia, die mit ähnlichen Botschaften ihre Zeitgenossen provozierten. 283

GRAY, Figures, 162, weist im Blick auf die Entscheidung von Albinus auf den auffallenden Kontrast zu Jesus von Nazareth in. Auch er wurde während eines Pilgerfestes verhaftet, und auch er kündigte das Ende des Tempels an. Doch haben offensichtlich die Begleitumstände seines Auftretens, wie der messianische Anspruch, die Sammlung einer Jüngerschaft und die Tempelaktion, Pilatus zu einem wesentlich drastischeren Urteil und Vorgehen bewogen.

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Sein Auftreten erinnert ferner an die Zeichenhandlungen Jeremias, ebenso sein Leiden und nicht zuletzt auch seine Botschaft.284 Was ihn jedoch von diesen Propheten ebenso wie von Johannes dem Täufer unterscheidet, ist die Botschaft der Ausweglosigkeit in seiner Gerichtsankündigung. Es gibt keine Umkehroption mehr.285 Horsley und Hanson weisen darauf hin, dass Jesus bar Ananias wirklichen Widerstand lediglich von der Jerusalemer Nobilitas, zu der auch die Priesteraristokratie gehörte, erfuhr.286 Offensichtlich wurde von ihr der einsame Rufer gefürchtet, während ihn Albinus für verrückt hielt. Das Schweigen der anderen Gruppen ist vielsagend. Möglicherweise war man sich des prophetischen Charakters dieser Gestalt sehr bewusst und verstand die jeremianischen Assoziationen nur zu gut. 5.4 Ergebnis Die prophetischen Gestalten, die in diesem Kapitel vorgestellt wurden, sind ein weiteres Symptom der Heterogenität des Judentums um die Zeitenwende. Sie spiegeln aber auch die schwindende Integrationskraft der jüdischen Kultinstitutionen, der dort agierenden Autoritäten und das steigende Radikalisierungspotential unter den armen Bevölkerungsschichten, das umgekehrt verknüpft war mit einer wachsenden Offenheit für alternative Heilskonzepte. Diese Alternativen äußerten sich allerdings nicht in einer Distanz zu Israels Heilsgeschichte und Heilsinstitutionen, sondern verstanden sich vielmehr als eine Neuinterpretation derselben.

6 Das Priestertum im Werk von Flavius Josephus 6 Das Priestertum im Werk von Flavius Josephus

Die umfassendsten Einblicke in das Priestertum der frühjüdischen Epoche vor dem Jüdischen Krieg eröffnet uns das große Geschichtswerk des Flavius Josephus.287 Der historiographische Wert seiner Darstellung ist allgemein anerkannt, selbst wenn auch bei ihm mit persönlich, politisch und theologisch motivierten Tendenzen, Vereinfachungen, Verkürzungen288

284

Vgl. Jer 7,34; 22,1–9.26 und auch Mt 23,37–39. MÜLLER, Johannes, 27. 286 HORSLEY/HANSON, Bandits, 174f. 287 Jüngst ist eine umfassende Arbeit von O. GUSSMANN mit dem Titel „Das Priesterverständnis bei Flavius Josephus“, erschienen, der die Darstellung des Abschnitts im Wesentlichen folgt. 288 Zu den Verkürzungen sind nach GUSSMANN, Priesterverständnis, 411f., seine Darstellungen der „Kultdienstordnungen, Kalender, Opferliturgien, Festordnungen für Wallfahrtsfeste oder die Riten am Versöhnungstag, die Erstellung von Reinheitsgutachten, die Diskussion priesterlicher Halachot oder der Priestersegen“ zu zählen. 285

6 Das Priestertum im Werk von Flavius Josephus

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und Präferenzen zu rechnen ist.289 Gesteigert wird das historische Gewicht seiner Darstellung insbesondere des Priestertums durch seine persönliche und biographische Verbundenheit mit diesem System. 6.1 Josephus: Priester, Aristokrat, Hasmonäer Josephus war selbst Priester, genauer gesagt Jerusalemer Priester, ja sogar Mitglied des Priesteradels.290 Dieser Umstand eröffnete ihm Einblicke in die priesterlichen Abläufe, die priesterliche Kleiderordnung, in das Innere des Tempels und seine gestuften Heiligkeitsbereiche, die uns wertvolle Detailinformationen liefern.291 Josephus war darüber hinaus ein relativ prominentes Mitglied der Priesterschaft. In seiner Vita hebt er gleich am Anfang seine genealogisch begründete Mitgliedschaft in der bedeutendsten Priesterordnung, die auf Jehojarib zurückgeht, ebenso hervor,292 wie seine Abstammung von der hasmonäischen Dynastie.293 Diese Grunddaten seiner Existenz prägen maßgeblich seine Bewertungen des Priestertums. 289 GUSSMANN, Priesterverständnis, 417: „Josephus ist in seinen Werken ein einzigartiger Zeuge für das letzte Jahrhundert des jüdischen Priestertums. Er beschreibt die Institutionen ‚Tempel’ und ‚Hohespriestertum’ in ihrer ehemaligen geschichtlichen und politisch-nationalen, kultischen und ästhetisch-kulturellen Bedeutung. Die Intention seiner Priesterdarstellungen wird häufig von einem apologetischen Interesse gegenüber Nichtjuden geleitet. Unkenntnis oder schwerwiegende Fehler in seinem Bild vom Priestertum kann man Josephus nicht nachweisen. Die Vereinfachungen und Verkürzungen bei der Beschreibung des Priesterwesens lassen sich mit dem historiographischen Interesse des Josephus und der Intention seines Werkes begründen.“ 290 Vgl. Jos Vit 1f.: „Ich stamme übrigens aus einer keineswegs unbedeutenden Familie, sondern aus einer, die seit Urzeiten von Priestern herkommt. Wie aber bei den einzelnen [Völkern] die Voraussetzung für Adel jeweils eine andere ist, so ist bei uns die Zugehörigkeit zur Priesterschaft Kennzeichen für die Prominenz der Familie. Meine Familie stammt jedoch nicht nur von Priestern, sondern sogar von der ersten der 24 Priesterabteilungen – auch darin liegt ein großer Unterschied – und von den Sippen in dieser auch wieder von der vornehmsten. Ich gehöre aber auch zum königlichen Geschlecht von der Mutter her, denn die Söhne des Haschamon (‘Asamonai,oj), deren Nachkomme sie ist, waren über sehr lange Zeit Hohepriester und Könige des Volkes“; Übersetzung nach S IEGERT, Leben. 291 Für den regulären Priesterdienst im Rahmen des 24-wöchigen Opferdienstzyklus der 24 Priesterabteilungen kommen in der Biographie des Josephus allerdings nur die Jahre zwischen 57 n.Chr., dem Zeitpunkt der Priesterinvestitur mit 20 Jahren, und 63 n.Chr., als er mit einer diplomatischen Mission nach Rom gesandt wurde, in Frage. Vorher durfte er noch nicht als Priester amtieren und nachher konnte er es nicht mehr. Vgl. zu dieser biographischen Epoche GUSSMANN, Priesterverständnis, 228–233. 292 Vgl. Ant 12,265; sowie GUSSMANN, Priesterverständnis, 207–210. 293 Es muss allerdings erwähnt werden, dass die hasmonäische Herkunft über zwei weibliche Linien auf Josephus kam, vgl. Vit 1,2, ihn mit den Hasmonäern also kein patrilinearer, sondern „nur“ ein kognatischer Stammbaum verbindet. Bei der Betonung seiner (hohe)priesterlichen Abstammung dürfte er auch an seine römische Leserschaft

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

So spiegelt sich sein (priester)aristokratisches Standesbewusstsein294 unter anderem in der Präferenz eines streng hierarchischen Gesellschaftsmodells, an dessen Spitze der Hohepriester steht, gefolgt von den aristokratischen Priesterfamilien. Über die Standeszugehörigkeit entscheidet die genealogische Abstammung bzw. die familiäre Abkunft.295 Somit hat Josephus ein hereditär gegliedertes Gesellschaftsmodell vor Augen, das von der Fraktionierung zwischen Hohepriestern und Priestern,296 Priestern und Leviten,297 sowie zwischen Priestern/Leviten und Laien298 geprägt ist.299 Es nimmt nicht Wunder, dass der Gedanke eines Allgemeinen Priestertums ihm fremd blieb (vgl. Ap 2,186–188). Überraschenderweise tauchen bei Josephus neben der genealogischen Begründung des (Hohe)Priesteramtes auch noch leistungsbezogene Elemente auf, so wenn Josephus hinsichtlich des hohepriesterlichen Amtes auch noch bestimmte Tugenden wie Berufswissen (Kompetenz), Überzeugungskraft und Mäßigung für unabdingbare Voraussetzungen hält.300 Diese dürften wohl eine Konzession an seine römischen Leser darstellen, denen ein hereditär begründetes Priesteramt fremd war. Seine Abstammung aus dem ehemaligen hasmonäischen Priesteradel spielt bei der Idealisierung der hasmonäischen Priesterkönige eine wichtige Rolle. Insbesondere Johannes Hyrkan I. (134–104 v.Chr.) erscheint bei Josephus als eine Art hohepriesterliche Idealgestalt. Er billigt ihm neben

gedacht haben. In Rom war das Priestertum ein Ehrenamt mit hohem Sozialprestige und Josephus möchte andeuten, in welchem gesellschaftlichen Milieu er zu Hause ist. 294 Nach Vit 422 besaß die Familie des Josephus Land in Jerusalem, was auf einen gehobenen Sozialstatus hindeutet, vgl. GUSSMANN, Priesterverständnis, 202, Anm. 19. 295 Seinen römischen Lesern erläutert Josephus in Ant 20,225f. die herausragende Bedeutung des hereditären Prinzips: „Es gilt bei uns das Gesetz, dass niemand Hoherpriester werden kann, der nicht von Aaron abstammt. Aus einer anderen Familie darf niemand, und wenn es der König selbst wäre, auf diese Würde Anspruch erheben“; vgl. auch Vit 1 und Ap 2,186. Anders als Josephus beurteilt Philo von Alexandrien diese hereditäre Begründung der Standeszugehörigkeit wesentlich kritischer, Virt 187: „Darum muss man auch die Menschen, die den Adel als das größte Glück und als die Ursache großer Glücksgüter preisen, nicht wenig tadeln, wenn sie zunächst nur die für adelig halten, die aus einer von alters her reichen und angesehenen Familie stammen“. Vgl. auch seine Kritik in Decal 71f. 296 Jos Vit 197; Ant 20,205–207. Auch die Zugehörigkeit zu den Priesterordnungen ist noch einmal hierarchisch zwischen vornehmeren und einfacheren Priesterordnungen gegliedert. Entsprechend legt Josephus immer wieder gesteigerten Wert darauf, zur vornehmsten Dienstabteilung zu gehören, die sich von Jehojarib ableitet. 297 Jos Bell 2,321; Ant 20,216–218. 298 Jos Bell 4,182; 5,18; 6,271; Ant 3,181. 299 GUSSMANN, Priesterverständnis, 204f. 300 Jos Bell 4,156f.; Ap 2,186.

6 Das Priestertum im Werk von Flavius Josephus

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seinem König- und Hohepriestertum auch noch eine prophetische Begabung zu und stilisiert ihn so zum idealen Führer des Volkes.301 Der Rückbezug auf die Hasmonäer bringt für Josephus eine Reihe von Vorteilen mit sich: Er kann sich damit erstens von den kaum legitimierten und depravierten Hohepriesterfamilien der herodianischen und nachherodianischen Zeit abgrenzen, zweitens seine eigene Herkunft vom königlichen und hohepriesterlichen Geschlecht der Hasmonäer aufwerten, drittens seinem römischen Publikum zeigen, dass er Nachfahre einer gegenüber Rom loyalen Herrscherdynastie ist, und viertens mit der hasmonäischen Hohepriesterdynastie sein Ideal einer theokratischen Staatsform präsentieren.302 Dass die Hasmonäer keine zadokidische Abstammung vorweisen konnten und in der Geschichte ihrer Dynastie nicht immer die politische Macht besaßen, wird von Josephus geflissentlich übergangen, ebenso wie die faktisch vorhandene zadokidische Abkunft mancher Konkurrenten in der Jerusalemer Priesterschaft. Dass Josephus im Anschluss an den Jüdischen Krieg nicht mehr seiner Berufung folgen konnte, sondern als Geschichtsschreiber in Rom Karriere machte, wird er selbst nur bedingt als Bruch empfunden haben, waren doch eine profunde Gelehrsamkeit,303 sowie die Deutungskompetenz von Geschichte und Heiligen Schriften Kernkompetenzen seines Berufsstandes. 6.2 Das Wesen des Priestertums Wenn Josephus über den priesterlichen Dienst spricht, dann ist das Bemerkenswerte daran nicht irgendwelche überraschenden Neuerungen, sondern vielmehr die Konstanz, mit der diese Institution über die Jahrhunderte hinweg ihren Dienst tat. Auch für Josephus ist die Mediation zwischen Gott und Mensch bzw. den zahllosen Tempelbesuchern durch Opfer und Gebet die Kernaufgabe des Priesters.304 Ferner erfüllen sie kultisch-rituelle und jurisdiktionelle Pflichten und Aufgaben wie Reinigungsrituale und Rechtsprechung. Ausführlich beschreibt Josephus auch den Dienst des Hohepriesters und dessen Prachtornat. Durch den in der Kopfbedeckung geschriebenen Gottesnamen repräsentiert er einerseits Gott gegenüber seinem Volk; durch die zwölf Edelsteine auf dem Brustschild und die auf den Schultersteinen eingravierten Stammesnamen repräsentiert er andererseits aber auch sein Volk vor Gott. Anders als Philo versteht Josephus die auf dem Ornat dargestellten Naturelemente Feuer, Wasser, Luft und Licht 301

Vgl. Ant 13,282f.300.322f., sowie GUSSMANN, Priesterverständnis, 299–302. Zur Idealisierung Hyrkans I. bei Josephus vgl. Bell 1,68f.; Ant 13,255–266.299f. 302 GUSSMANN, Priesterverständnis, 415f.; vgl. auch 210–215.249.281f. 303 Zu den Bildungsvoraussetzungen und Sprachkenntnissen von Josephus vgl. GUSSMANN, Priesterverständnis, 216–228. 304 Vgl. GUSSMANN, Priesterverständnis, 289f.321.

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nicht als eine Repräsentation des gesamten Kosmos inklusive der Nichtjuden, sondern lediglich als Symbolisierung der ebenfalls durch den Hohepriester repräsentierten Natur.305 Eine Frage, die besonders im Zusammenhang mit dem Priesterbild des Josephus auftaucht, ist die nach dem prophetischen Charisma.306 Sie stellt sich deshalb, weil Josephus immer wieder von Traumdeutungen berichtet und seine Fähigkeit dazu mit seiner priesterlichen Kompetenz zur Schriftinterpretation begründet.307 „Durch die priesterliche Kenntnis früherer Prophetenschriften ist er in das Geheimnis Gottes eingeweiht und kann den göttlichen Willen für die Zukunft vorhersagen.“308 Josephus sieht sich nicht nur hier in der Tradition Jeremias und Ezechiels, die als Priester auch noch eine prophetische Berufung erlebten, deren Priesteramt wie bei Josephus während ihres prophetischen Dienstes ruhte und die wie Josephus Israel erfolglos vor der kommenden Katastrophe warnen mussten.309 In seiner Historiographie „revitalisiert“ Josephus die Botschaft des Priesters und Propheten Jeremia und sieht sich selbst ebenfalls in dieser Doppelrolle.310 Für Josephus ist die Verbindung der priesterlichen Existenz mit einer prophetischen Begabung etwas Selbstverständliches und in der Schrift begründet.311 Vor diesem Horizont sind auch seine geschichtstheologischen 305

GUSSMANN, Priesterverständnis, 389–392. Vgl. GUSSMANN, Priesterverständnis, 240–249.288–305. 307 Schon in seiner Einleitung zum „Jüdischen Krieg“, Bell 1,3, erklärt Josephus seine historiographische Kompetenz mit seiner priesterlichen Kompetenz und im Zusammenhang mit seiner Errettung aus der belagerten Höhle in Jotapata. In Bell 3,352 schreibt Josephus: „Josephus verstand sich nämlich auf die Deutung von Träumen und auf die Auslegung von Gottessprüchen, die zweideutig geblieben waren. Da er selbst ein Priester war und aus einem priesterlichen Geschlechte stammte, waren ihm die Weissagungen der heiligen Schriften gut bekannt“, Übersetzung nach MICHEL/B AUERNFEIND, Bello Judaico I, 369. Zum Besitz der Weissagungsprophetie vgl. auch Bell 3,399–408; 4,622–626.629. 308 GUSSMANN, Priesterverständnis, 244. 309 Ant 10,79f.119.142; vgl. Bell 1,10; 3,108f.; 5,415. Zur Jeremia-Tradition bei Josephus vgl. LINDNER, Geschichtsauffassung, 32f.; MASON, Flavius Josephus und das Neue Testament, 98f.; VAN UNNIK, Prophetie, 52f. 310 Die Frage, ab wann Josephus zu diesem Selbstverständnis gelangte, ist schwierig zu beantworten. GUSSMANN, Priesterverständnis, 304, rechnet damit, dass er die Einsicht bereits nach Jotapata und vor dem Untergang Jerusalems erlangte, und sie sich nicht erst retrospektiv als Historiograph sozusagen ex eventu „zuschrieb“. Zu beachten ist allerdings, dass Josephus sich mit verschiedenen biblischen Gestalten identifizieren konnte. Auch die Gestalt des Propheten Daniel dient ihm häufig als eine Art Muster für die eigene Identitätsbestimmung als jüdisch-aristokratischer und prophetisch begabter Fremdling am Hofe eines Weltherrschers; vgl. hierzu BRUCE, Josephus und Daniel; FELDMAN, Prophets; BEGG, Daniel and Josephus; MASON, Josephus, Daniel and the Flavian House. 311 Gemeinsame Nennung von Priestern und Propheten in Mi 3,11; Jes 28,7; Jer 2,8.26 u.ö. Propheten mit priesterlichen Aufgaben: Mose als Prophet in Dtn 18,18; 34,10; Sir 46,1, vgl. Ant 4,165.303.313.329; Mose als Priester in Ex 24,4–8; vgl. 33,7–11; Ps 99,6. 306

6 Das Priestertum im Werk von Flavius Josephus

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Deutungen der jüdischen Geschichte vor und während des Jüdischen Krieges zu verstehen. 6.3 Geschichtsdeutung aus priesterlicher Perspektive Die priesterliche Geschichtsperspektive des Josephus tritt besonders bei der Komposition der Antiquitates vor Augen: „Die beiden Hauptteile A 1– 10 und 11–20 decken jeweils eine Tempelzeit ab [...]. Beide Hauptteile enden mit der Zerstörung eines Tempels [...]. Am Ende beider Teile steht jeweils eine Liste der Hohenpriester (A 10:151–153; 20:224–251), die sich so als eine Art geschichtliches Summarium erweist. Josephus bildet durch diese Einteilung eine Synthese aus Verfassungs-, Tempel- und Hohepriestergeschichte.“312 Die rote Linie der josephischen Historiographie im Bellum ist die theologische Deutung der Zerstörung des Tempels und Jerusalems als ein Gericht Gottes.313 Die Römer sind dabei analog zu den Babyloniern nur Erfüllungsgehilfen Gottes.314 Schuld tragen die aufständischen und radikalisierten Zeloten. Umgekehrt versucht Josephus, die Priester und Hohepriester von einer schuldhaften Verstrickung in den Jüdischen Krieg freizusprechen und ihnen eine Rolle als Vermittler und Friedensstifter zuzuweisen. In den Kämpfen um Jerusalem und den Tempel werden sie von Josephus gar zu Helden stilisiert, die unter dem selbstlosen Einsatz des eigenen Lebens ihren Pflichten nachkamen und den Opferkult aufrecht erhielten.315 Das Ende dieser Priesterhelden schildert Josephus konsequenterweise nicht als Folge der römischen Angriffe, sondern als feigen Mord der Zeloten. Eine besondere Rolle in der josephischen Historiographie des Hohepriestertums spielt der hohepriesterliche Prachtornat, der immer an den hohen Festtagen vom jeweiligen Amtsinhaber beim Opfer getragen wurde.316 Nach der josephischen, an die alexandrinisch-jüdische Theologie sich anlehnenden Anschauung repräsentierte dieser Ornat die gesamte mediatorische Institution des Hohepriestertums. Sein Träger wurde von Philo aufgrund der Bildmotivik sogar als Vertreter des ganzen Kosmos vor Gott verstanden und als Vermittler göttlichen Heils an den Kosmos, v.a. aber an

Elia als Priester in 1Kön 18,33f.36. Priesterpropheten: Jeremia, Ezechiel, Esra, vgl. Esr 7,1; evtl. Jesaja, vgl. Jes 6: Berufung im Tempel; evtl. auch Habakuk: vgl. Hab 3; Nahum und Joel, vgl. Joel 1,9.13f.; 2,17. Vgl. im Neuen Testament den Priester Zacharias in Lk 1,11ff.22.67; und den Priestersohn Johannes der Täufer in Mt 11,9.14; 21,26; Lk 1,15.17.76; 7,27; 20,6. 312 GUSSMANN, Priesterverständnis, 258f. 313 Vgl. Bell 2,455; 5,19f. u.ö. 314 Bell 1,10; 2,390; 5,367.378.412 u.ö. 315 Bell 1,148–152; vgl. Ant 14,65–67. 316 Vgl. hierzu GUSSMANN, Priesterverständnis, 374–394.

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Israel.317 „Im Hohepriestergewand verdichtete sich symbolisch die Kulthoheit, d.h. die politische Kontrolle über das Hohepriestertum als über das oberste kultische Führungsamt des jüdischen Volkes.“318 Indem Josephus die Geschichte dieses Ornats, das politische Ringen um seine Kontrolle und die unterschiedlichen Aufbewahrungsorte detailliert nachzeichnet, schreibt er eine Geschichte des Hohepriestertums in nuce.319 Die Übergabe der Gewänder an die Römer markiert für Josephus schließlich das Ende der jüdischen Heilsgeschichte, denn mit dem Gewand war dem Judentum die Instanz der Mediation göttlichen Heils und Segens genommen. Freilich sieht er darin den Willen Gottes, der die Römer als Vollstrecker des Gerichts an seinem Volk beauftragt hatte. Auch in der Hohepriesterliste in Ant 20,224–251 verwendet Josephus die Institution des Hohepriestertums, um die jüdische Geschichte im Rahmen eines Verfallsschemas zu erzählen: Am Anfang steht das Ideal Aarons320 und am Ende die makkabäische, herodianische und römische Epoche mit illegitim ins Amt gekommenen und schwachen Nachfolgern.321 Die finalen Phänomene des Verfalls sind die Auflösung der genealogischen Erbfolge durch die Aufständischen, die den göttlich bestimmten Kandidaten durch Loswurf erfragten (Bell 4,148), der Mord am Hohepriester Ananos zeitgleich zum Fall der Stadtmauern (Bell 4,318), das Ende des Tempels mitsamt den bis zum Schluss dienenden Priestern und damit auch der theokratischen Verfassung. Diese Verfallsgeschichte will Josephus freilich nicht als eine Verfallsgeschichte des Amtes an sich verstanden wissen, im Gegenteil. Er unterscheidet streng zwischen den historischen Verfallserscheinungen und der Würde des Amtes an sich. Der Rückverweis auf das ursprüngliche aaronidische Ideal soll eine Restitution der Institution und der politisch-religiösen Selbstverwaltung unter hohepriesterlicher Führung ermöglichen.322 317

In einer dramatischen Szene schildert Josephus in Ant 11,317–319.324–339, wie der Ornat bei der Begegnung des Hohepriesters Jaddus mit dem feindlich gesinnten Alexander dem Großen letzteren zur Proskynese vor dem Ornat zwingt, da ihm der Hohepriester in diesem Ornat im Traum erschienen sei. Die ursprünglich bedrohliche Szene endet in einem friedlichen Handschlag zwischen Jaddus und Alexander. Dem Gewand wird hier von Josephus eine friedensstiftende Wirkung zugesprochen, vgl. zum Ganzen GUSSMANN, Priesterverständnis, 405–408. 318 GUSSMANN, Priesterverständnis, 395. 319 Vgl. GUSSMANN, Priesterverständnis, 395–408. 320 Josephus verschweigt konsequent alles, was die Idealgestalt Aarons in ein schlechtes Licht rücken könnte, wie z.B. die Geschichte des goldenen Kalbes in Ex 32, ebenso wie das falsche Opfer der Aaron-Söhne Eleasar und Itamar, Lev 10,16–20; vgl. dazu FELDMAN, Aaron, 180f.191f. 321 Vgl. Jos Ant 15,40f. 322 GUSSMANN, Priesterverständnis, 286.

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6.4 Das Priestertum als ideale Herrschaftsform Josephus hat die Tendenz, in den Antiquitates die jüdische Priesteraristokratie als die beste aller möglichen Verfassungen darzustellen,323 und in Ap 2,164–166 verwendet er für die ihm vor Augen stehende ideale Verfassungsform einer Priesterherrschaft den wohl selbst geprägten Begriff der Theokratie.324 Umstritten ist freilich, welche theologischen und politischen Implikationen der Begriff hat.325 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass Josephus offensichtlich nicht an eine direkte und politische Priesterherrschaft denkt,326 denn davon ist im Zusammenhang nicht die Rede. Als eine unmittelbare Hierokratie hat man die Theokratie erst später verstanden. Wahrscheinlich ist bei Josephus eine Entwicklung der „Depolitisierung der Priesterherrschaft“ vorauszusetzen, die noch in den Antiquitates von einer realpolitischen Priesteraristokratie mit herrschaftlichen Machtbefugnissen des Hohepriesters ausgeht, aber sich in Contra Apionem zu einer Theokratie im Sinne eines eher unpolitischen Gemeinwesens wandelt.327 Nach Gerber meint Josephus mit dem Begriff der Theokratie keine Herrschaft von Menschen oder Staaten über andere, sondern ganz allgemein die Herrschaft Gottes über alles und damit auch über jeden Einzelnen.328 Nirgendwo erwähnt Josephus in Contra Apionem, dass die Priester auch politische oder gar polizeiliche und militärische Funktionen übernehmen sollten, vielmehr konzentriert sich ihre Aufgabe völlig auf ihre kultischen Pflichten.

323

Vgl. z.B. Ant 4,223f.; 20,251. „[D]ie einen nämlich übertrugen die Regierungsgewalt des Staatswesens an Monarchien, die anderen an die Herrschaftsmacht weniger, wieder andere aber an die Masse. Unser Gesetzgeber [sc. Mose] hingegen hat keine dieser [Verfassungsformen] berücksichtigt, sondern er hat das Staatsgebilde (poli,teuma), wie man mit einem etwas gewaltsam formulierten Begriff sagen könnte, als Gottesherrschaft (qeokrati,a ) entworfen, indem er Gott die Herrschaft und die Macht zuteilte“ (Ap 2,164f., Übersetzung nach S IEGERT, Leben). Vgl. auch Ap 2,185: „Und welche Verfassung dürfte schöner oder gerechter sein als die, die Gott als Herrscher über das Ganze gesetzt hat, den Priestern jedoch überträgt, gemeinsam das Größte zu verwalten, dem Hohenpriester aller wiederum die Leitung der anderen Priester anvertraut hat?“ 325 Vgl. hierzu GUSSMANN, Priesterverständnis, 306–320; Literatur zur Theokratievorstellung bei Josephus ebd. Josephus verwendet den Begriff in einem apologetischen Zusammenhang, in dem er sich gegen pagane Vorwürfe verteidigt, die Juden seien Gottlose bzw. Missanthropen (Ap 2,148; vgl. 2,209f.). Hierauf bezieht sich Josephus direkt auf Platon, dessen Staatsideal er durch die Idee der Theokratie übertroffen glaubt. 326 So z.B. CANCIK, Theokratie, 65–77. Zur Kritik vgl. GERBER, Bild, 54–56. 327 GUSSMANN, Priesterverständnis, 324. 328 GERBER, Bild, 343f. 324

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6.5 Ergebnis Josephus beschreibt das Priestertum aus der Perspektive des Rückblicks auf eine vergangene Institution. Seine Darstellung ist von der von ihm selbst miterlebten Katastrophe der römischen Eroberung Jerusalems und des Tempels geprägt und orientiert sich an seiner aufgrund des Jüdischen Krieges judenkritischen Leserschaft in Rom. Mit seinen Werken verfolgt Josephus eine Rehabilitation des Judentums und damit auch des Priestertums, dessen Mitglieder er – selbst Mitglied einer prominenten Priesterordnung – als fähigste und vornehmste Klasse des jüdischen Volkes beschreibt. Der Priester, v.a. der Hohepriester, ist für Josephus der ideale Mensch am idealen Ort, ausgerüstet nicht nur mit der Fähigkeit der Mediation, sondern auch der Kompetenz zur Schrift-, Traum- und (prophetischen) Zukunftsdeutung. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass er gegenüber seinen Lesern aus der römischen Nobilität nicht nur das Abstammungsprinzip hervorhebt – das in den römischen Priesterschaften unbekannt war –, sondern auch das Kompetenzprinzip, das eigentlich gerade nicht zu den Voraussetzungen jüdischen Priestertums zählte. Zur Erklärung der dramatischen Entwicklungen, die zur Katastrophe des Jüdischen Krieges führten, kann Josephus allerdings nicht nur auf die Schuld der Zeloten und radikalen Kräfte verweisen. Vielmehr beschreibt er die Geschichte des Priestertums seit der makkabäischen, v.a. seit der römischen und erst recht seit der herodianischen Epoche als eine Verfallsgeschichte, die sich immer weiter vom Ideal Aarons bzw. der Anfänge entfernte. Auf diese Weise wird auch Josephus zum (unfreiwilligen) Zeugen jener Krise des jüdischen Priestertums, die in den bisher beschriebenen Gruppierungen zur Ausbildung alternativer Formen eines heilvollen „Seins vor Gott“ führte.

7 Das Diasporajudentum und das Priestertum 7 Das Diasporajudentum und das Priestertum

Das Diasporajudentum ist in seiner Bedeutung für die Fragestellung dieser Untersuchung kaum zu überschätzen, denn schon vor der Tempelzerstörung im Jahr 70 n.Chr. lebte die deutliche Mehrzahl der Juden in der sog. Diaspora.329 Allerdings stellt dieser Begriff keine Selbst-, sondern eine Fremdbezeichnung der Diasporajuden aus der Perspektive der „Israeljuden“ dar und beschreibt somit nur bedingt das Selbstverständnis großer Teile des Diasporajudentums.

329

Vgl. GRUEN, Diaspora, 3: „There is no mention of overall totals. But a confident conclusion can be voiced. By the time that the Roman commander Titus leveled the Temple, Jews abroad far outnumbered those dwelling in Palestine – and had done so for many generations.“

7 Das Diasporajudentum und das Priestertum

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Die Epoche des Judentums zur Zeit des zweiten Tempels war von Anfang an auch eine Epoche des Diasporajudentums. Zahlreiche Juden kamen bewusst und freiwillig nicht mehr aus dem babylonischen Exil zurück, sondern blieben in den Siedlungsgebieten an Euphrat und Tigris. Es war jedoch erst der Kollaps des persischen Weltreiches und der Siegeszug des Hellenismus in Folge der Eroberungszüge Alexander des Großen, der riesige Migrationswellen auslöste, vor allem unter den persischen Diasporajuden, aber auch unter den Juden im Land Israel.330 Auf diesem Weg fanden Juden ihren Weg nach und eine Heimat in Syrien, Ägypten, Kleinasien, Griechenland, Kreta, Zypern und der Kyrenaika. Am Ende des 1. Jh. n.Chr. bemerkt der Geograph und Weltenbummler Strabo in einer von Josephus überlieferten Notiz etwas übertreibend, dass es kaum einen Ort auf der Welt gibt, der nicht Mitglieder dieses Stammes – gemeint sind die Juden – besitzt.331 Die Erfahrungen und die religiöse Weltsicht dieser Juden, die nicht mehr in Israel lebten, sondern sich irgendwo zwischen Spanien und dem persischen Hochplateau niederließen, sollten in den folgenden Jahrhunderten das Bewusstsein des gesamten Judentums maßgeblich mitbestimmen. Die Gründe für ihre „Zerstreuung“ sind vielfältig. Nur eine geringe Minderheit dürfte unter „Zwang“ als Kriegsgefangene oder Sklaven zu einer Diasporaexistenz genötigt worden sein. Das Hauptmotiv war für die meisten die Verheißung besserer Lebensverhältnisse in den neuen Siedlungsgebieten und -städten. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die Nachfahren zwangsdeportierter Juden noch über Generationen an denselben Orten und Regionen zu finden sind, obwohl eine freie Rückkehr nach Israel für sie schon längst wieder möglich gewesen wäre. Die Umstände dürften stark den Verhältnissen vieler neuzeitlicher Migrationswellen geglichen haben: Wenn erst einmal die Kunde besserer Lebensverhältnisse von einem beliebigen Ort des Mittelmeerraumes nach Israel gedrungen war, ließ sich der Wunsch unter den Jüngeren nicht mehr unterdrücken, den oft ärmlichen Verhältnissen in der Heimat, auch wenn sie ein „heiliges Land“ sein mochte, zu entfliehen.332 Die Integration der Diasporajuden in der neuen Heimat bewegte sich zwischen den Extremen der radikalen Isolation und der vollständigen Assimilation.333 So finden sich sowohl Zeugnisse von überraschend assimi330

GRUEN, Diaspora, 233. Jos Ant 14,114f. Die große Verbreitung der Juden wird von Philo, LegGai, 281– 283, bestätigt, der von jüdischen Gemeinden in Ägypten, Phönizien, Syrien, Kleinasien, in allen Teilen Griechenlands, Zypern, Kreta und in den Ländern an Euphrat und Tigris zu berichten weiß. 332 Vgl. GRUEN, Diaspora, 3f. 333 Vgl. hierzu die ausführliche Studie von B ARCLAY, Jews, v.a. 103–124.320–335. 331

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

lierten Juden, die sogar hohe bis höchste Ämter im römischen Imperium innehatten, als Wohltäter paganer Kulte auftraten und sich als begeisterte Besucher von Theater- und Sportveranstaltungen zeigten,334 als auch radikale Stimmen, die auch in der Diaspora eine strikte Abgrenzung von der paganen Umwelt forderten.335 Soweit wir wissen, wurden Juden nirgendwo von den Behörden ghettoisiert, aber es entwickelten sich doch in den größeren Städten von selbst jüdische Viertel. Insgesamt ist es überraschend, dass wir für die Herausforderung der Bewahrung jüdischer Identität auf der einen und notwendiger Assimilation an die hellenistisch-römische Mitwelt336 auf der anderen Seite nirgendwo Theoriekonzepte, geschweige denn konkrete Leitlinien finden: „Jews in Greco-Roman cities felt no obligation to rationalize their life-style or explain their decision to dwell at a distance from their nation’s origins. Nowhere did they define themselves as part of a diaspora. And it is no accident that they never constructed a theory of diaspora.“337 So deutet vieles darauf hin, dass die Lebenswirklichkeit des Diasporajudentums in den paganen Gesellschaften des römischen Reiches insgesamt weit weniger komplex und spannungsgeladen war, als in der Forschung aufgrund der in den Quellen immer wieder berichteten Spannungen zwischen Diasporajuden und ihren paganen Gastgebergesellschaften gemutmaßt wurde.338

334 Zu Theateraufführungen vgl. z.B. Phil Prob 141; Ebr 177; Arist 284. Zu Philos Vorliebe für Sportevents vgl. Cher 81; Agr 114f.177.180; Prob 26.110; Somn 1,145f.; 2,134; Imm 75; Migr 133; Prov 58. 335 Z.B. Arist 139; Sib 3,218–247. 336 Ein überraschendes Zeugnis stellt eine Inschrift aus Acmonia in Phrygien aus der Zeit Neros dar, CIJ I, 766, wo eine Hohepriesterin des Herrscherkults namens Julia Severa als Wohltäterin der lokalen Synagoge auftritt; vgl. dazu RAJAK, Synagogue. 337 GRUEN, Diaspora, 11. Allerdings findet sich bei Philo, Flacc 45f.; vgl. Mos 2,232 und LegGai 281–283, der (entschuldigende?) Hinweis auf das überfüllte Heimatland und er fühlt sich auch genötigt, die Bezeichnung seiner Heimatstadt Alexandria als patri,j zu rechtfertigen, bzw. von einer doppelten Bürgerschaft zu sprechen, vgl. LegGai 157. Für Philo war die eventuelle „Rückkehr“ nach Jerusalem ein Element traditionelldiasporajüdischer Hoffnung und biblischer Verheißung, vgl. Praem 162–172, aber er ist realistisch genug, sie als „distant hope“ zu behandeln, vgl. Mos 2,43; QuestEx 2,76, sowie B ARCLAY, Jews, 422. 338 So die These von GRUEN, Diaspora, passim; ähnlich auch RAJAK, Jewish Community; sowie DIES., Synagogue, 468f.: „The Jewish communities seem to be an organic part of society in these parts of Asia Minor. That their unequivocally monotheistic cult is blatantly and fundamentally unlike others does not undercut their capacity for integration […] Judaism could be incorporated into the workings of the polis. So the character of that community would inevitably be dictated by the Greco-Roman polis norms. In this way, I would suggest, the Greek political system permanently shaped the evolution of diaspora Judaism.“

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Während das Fehlen literarischer (Selbst)Reflexionen über die jüdische Diasporaexistenz kaum einen Zugang zu diasporajüdischem Denken und damit auch zur Frage nach der Rolle des Priestertums für Diasporajuden eröffnen, ist jüngst M. Tuval einen anderen Weg gegangen.339 In einer Studie hat er umgekehrt die Relevanz von Tempel und Kult für die hellenistisch-diasporajüdische Literatur untersucht. Dabei wird auf der einen Seite deutlich, „that the Jews of the Diaspora [not] generally and consistently exhibited anti-Temple, anti-cultic or anti-priestly attitudes, openly critized the Jerusalem Temple and its cult, regularly emphasized their own estrangement from these institutions, or called for their abolishment“.340 Auf der anderen Seite zeigt sich aber auch, dass Tempel und Kult keine überragende Bedeutung für die religiöse Identität und Praxis in der Diaspora mehr hatten.341 In den von Tuval untersuchten diasporajüdischen Schriften wird die jüdische Identität und Weltsicht im Blick auf Themen wie Gottesdienst, Ethik, Sühne für Sünden, Gegenwart Gottes, Heil und Leben nach dem Tod ohne jeglichen Bezug zu Tempel und Kult entfaltet. Es ist vielmehr die Tora und ihr Studium, die eine dominierende Rolle gewannen. Gebete konnten an die Stelle von Opfern treten, indem sie als gleichwertig betrachtet wurden, und diese letztlich völlig verdrängen. Vor allem aber war es die Ethik, die aus einer spezifisch diasporajüdischen Torafrömmigkeit heraus eine große Bedeutung bekam. Tempel, Kult und Priestertum behielten in dieser Torafrömmigkeit selbstverständlich ihre Wertschätzung – es war schließlich dieselbe Tora, die hier wie dort gelesen wurde –, aber sie hatten keine Relevanz mehr für das religiöse Leben.342 Diese Entwicklung lässt sich im Folgenden zum einen an der diasporajüdischen Institution schlechthin nachweisen, nämlich der Synagoge. Zum anderen zeigt sie sich auch bei dem Autor, der aufgrund der umfassenden Überlieferung seiner Werke zur diasporajüdischen Stimme der antiken Welt geworden ist: Philo von Alexandrien. 7.1 Die Synagoge und das Priestertum Anstelle eines Theoriekonzeptes oder einer Art „Diaspora-Tora“ entwickelte sich in der jüdischen Diaspora die Synagoge zur identitätsstiftenden 339

T UVAL, Paradigms, 181–239. T UVAL, Paradigms, 185. 341 T UVAL, Paradigms, 187: „[T]he fact that one does not routinly find hard evidence of opposition to, or criticism and negation of, the Temple and its cult in Diaspora literature, does not automatically mean that Diaspora Jews were ‘loyal’ to the Temple in any immediate way, or that this institution was ‘central’ to their Judaism. Even if one could say, generally, that they were ‘loyal’, this would convey very little about their religious worldview, practices, and identity.“ 342 T UVAL, Paradigms, 238f. 340

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jüdischen Institution schlechthin. Sie war die wirkungsgeschichtlich bedeutendste und und innovativste „Erfindung“ des Judentums in der Zeit des zweiten Tempels.343 Unbeabsichtigt und gezwungen durch die pure Notsituation des babylonischen Exils entwickelte das Diasporajudentum in der Synagoge den revolutionärsten und modernsten Gottesdienst der gesamten antiken Welt und wurde auf diese Weise bestimmend für die religionsgeschichtliche Entwicklung sowohl des Judentums nach 70 n.Chr. wie auch der jungen Christenheit.344 Die Ursprünge der Synagoge liegen noch im Dunkeln. Gewöhnlich sieht man ihren Ausgangspunkt in der Zerstörung des salomonischen Tempels 586 v.Chr. und dem darauf folgenden babylonischen Exil. Allerdings wurde mit dieser Datierung früher eine bestimmte Substitutionstheorie verknüpft, die in der Synagoge eine Substitution bzw. eine Rivalin des Jerusalemer Tempels für Diasporajuden erblickt,345 was sich von den Quellen her jedoch nicht bestätigen lässt. Die ersten Belege für ihre Existenz stammen aus dem 3. Jh. v.Chr., wo sie in zwei ägyptischen Inschriften aus der Zeit von Ptolemäus III. und Ptolemäus IV. in Arsinoe-Crocodilopolis und Alexandrou-Nesos erwähnt werden.346 Neuerdings vertritt L.I. Levine die These, dass ihre Geburtsstunde erst in hellenistischer Zeit geschlagen hat, als die Stadttore als Orte der Gerichtsbarkeit, des Ältestenrates und der politischen Zusammenkünfte aufgrund der Verkehrszunahme ihre ursprünglichen Funktionen verloren und diese sich in ein benachbartes Gebäude verlagerten. Die Ursprünge liegen nach Levine also nicht in einer Krise, sondern in einem städtebaulichen Umbruch in hellenistischer Zeit.347 Auch die Verbreitung der Synagogen im Land Israel liegt im Dunkeln. Sie dürfte wesentlich später erfolgt sein als in der Diaspora, weil die Nähe des Tempels keine dahingehenden Bedürfnisse aufkommen ließ. Hengel vermutet, dass erst mit dem Aufkommen des Pharisäismus und seinem Programm der „Erziehung des ganzen Volkes im Gesetz“ diese innovative Idee der Diaspora auch im Land Israel Verbreitung fand.348 Der unspektakuläre und literarisch nicht kommentierte Auftritt von Synagogen auf der Bühne der antiken Geschichte ist für E. Gruen und S.J.D. Cohen ein Hinweis, dass die Substitutions- und Kompensationstheorien, welche die Synagoge mit einem empfundenen religiösen Defizit aufgrund der Distanz zum Tempel in Verbindung bringen, fehl 343 Vgl. hierzu: HENGEL, Proseuche; SAFRAI, Synagoge; B INDER, Temple Courts, 41– 341; COHEN, Temple; LEVINE, Ancient Synagoge, 42–123; RUNESSON, Ancient Synagoge; CLAUSSEN, Versammlung. 344 SIEGERT, Synagoge, 355.343; vgl. 345: „Hier entwickelte sich das Judentum in Ritus und Lehre weiter und bereitete sich unbewusst auf das Überleben in der kommenden Katastrophe vor. […] Dieser Gottesdienst, von dem in der Tora überhaupt keine Rede ist, ließ das Judentum zur Weltreligion werden. […] Diese Religion konnte in der ganzen Welt ausgeübt werden.“ 345 So die These z.B. bei TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 125, und FLESHER, Palestinian Synagogues, 28–31. 346 Vgl. CPJ 3 (1964), Nr. 1440, und CPJ 1 (1957), Nr. 129; vgl. HENGEL, Proseuche, 171–181, vgl. COHEN, Temple, 298; sowie GRIFFITHS, Egypt. 347 LEVINE, Synagoge, 26–41; ablehnend dagegen GRUEN, Diaspora, 120. 348 HENGEL, Proseuche, 191; vgl. hierzu neuerdings CLAUSSEN, Versammlung.

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gehen. Sie sehen in den Synagogen schlichte Funktionsbauten, die lediglich den religiösen wie gesellschaftlichen Bedürfnissen einer ethnischen Minderheit in der Diaspora Rechnung tragen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.349

Sowohl jüdische wie pagane Gottes- bzw. Götterverehrung war geprägt von Gaben an die jeweilige Gottheit, und hier spielte das getötete Tier mit seinem Blut die zentrale Rolle. Der unblutige Gottesdienst, welcher den philosophischen Kultkritikern wie z.B. den Pythagoreern immer als Ideal vorschwebte,350 konnte sich weder in der klassischen noch in der hellenistischen Antike durchsetzen. Ausgerechnet in der jüdischen Synagoge fand dieses philosophische Ideal eines tempel-, opfer- und priesterlosen Gottesdienstes seine Realisierung. „Die Situation der Entfremdung vom Zentrum, die der Psalm 137 so sehr beklagt, wurde zum produktiven Stimulus.“351 Neben dem Verzicht auf Tempel, Opfer352, Altar und Priester ist auch der Verzicht auf jegliche sakrale Sphäre signifikant. Die Synagoge war ein Multifunktionsgebäude.353 Der Gottesdienst geschah nicht in einem heiligen Bezirk, sondern in einem profanen Kontext. Er reduzierte sich auf Gebete,354 Schriftlesung und mündlichen Unterricht und konnte auf diese

349

GRUEN, Diaspora, 120ff., ebenso COHEN, Temple, 323: „Neither in second temple nor in rabbinic times did the Jews bestow on the synagogue an ideology which would enable it to ‚competeʻ with the temple in the same way that prayer and Torah study ‚competedʻ with the sacrificial cult.“ Auf die Synagoge wurde auch, soweit wir sehen, niemals eine dem Tempel äquivalente Heiligkeit übertragen. Man konnte eine Synagoge kaufen und wenn sie nicht mehr gebraucht wurde auch wieder verkaufen und sie sogar sogar in ein Badehaus verwandeln. 350 Vgl. SIEGERT, Synagoge, 338. 351 SIEGERT, Synagoge, 341. 352 Lediglich die Gebetszeiten erinnern an die Opferzeiten im Tempel, vgl. Dan 9,21 mit Act 2,15; 3,1; 10,9. 353 Eine Synagoge diente als Lehrhaus, Haus des Gottesdienstes, Archiv, politische Versammlungshalle und Gerichtssaal, vgl. hierzu SAFRAI, Communal Functions. Entsprechend vielfältig sind auch die belegten Bezeichnungen. Neben der üblichen Bezeichnung proseu,ch und etwas seltener sunagw,gh finden sich auch die Begriffe sabbatei/on in Jos Ant 16,164, i``ero,n in 3Makk 2,28, euvcei/on in CPJ 2, Nr. 223 und didaskalei/on in Phil SpecLeg 2,62. 354 So bedeutend die Synagogen als Orte des öffentlichen Gebetes waren, vgl. den Begriff proseu,ch, so wenig war diese Bedeutung von der Tora bzw. der Tradition her vorgegeben; vgl. COHEN, Temple, 302: „Neither Leviticus nor Numbers nor Deuteronomy nor Ezekiel nor the Qumran Temple Scroll nor Philo nor Josephus mentions prayer as an intergral part of the sacrificial cult … Aside from the squeal of the victim and crackle of the fire the act of sacrifice was silent; neither the priest nor the worshipper said anything.“ Wann öffentliche Gebete in die Tempelliturgie Einzug hielten, ist nach wie vor unklar, vgl. dazu COHEN, a.a.O., 303f. Es war letztlich die Synagoge, die zum genuinen Ort öffentlichen jüdischen Gebetes wurde.

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Weise mit den einfachsten Mitteln jederzeit und überall gefeiert werden.355 So wurde aus einem „Kultgeschehen“ ein „Sprachereignis“356, welches dem hellenistischen Bildungsbedürfnis wesentlich stärker entgegen kam als der exklusive Jerusalemer Kult. Erst in späterer Zeit entstanden durch die bauliche Ausrichtung einer Synagoge nach Jerusalem oder nach Osten (in Analogie zum Tempel) und mit der Einrichtung der Tora-Nische, in der die Tora-Rolle aufbewahrt wurde, Erinnerungen an den Tempel und das Allerheiligste. Im Zuge dieser späteren Entwicklung wurde das Herausholen, Aufrollen und Lesen der Tora-Rolle der feierlichste Moment des Gottesdienstes.357 Vor 70 n.Chr. wird von all dem noch nichts erwähnt358 und nichts deutet darauf hin, dass die Synagoge jemals in Konkurrenz zum Tempel konzipiert worden war.359 Ein sühnestiftendes Äquivalent zum Opferkult des Tempels wurde in der Synagoge nie installiert. Sie hatte immer die Funktion der Ergänzung und niemals die der Tempelsubstitution oder -kompensation, was schon die jährlich entrichteten Tempelsteuern und die riesigen Pilgerströme zeigen, die in frühjüdischer Zeit parallel mit der Verbreitung des Synagogeninstituts anwuchsen.360 Auch der Synagogengottesdienst war stets auf den Tempel hin ausgerichtet, niemals gegen ihn.361 Entsprechend genossen die Jerusalemer Priester als Garanten des zentralen jüdischen Kultes auch in der Diaspora höchstes Ansehen. So wenig die Synagoge den Tempel substituieren oder seine räumliche Ferne kompensieren sollte, so wenig wurden die zahlreichen Synagogendienste und -ämter362 als Substitution des priesterlichen Dienstes verstanden.

355 Zum Synagogengottesdienst vgl. die bis heute grundlegenden Studien von ELBOGEN, Gottesdienst; MOORE, Judaism, Bd. I, 281–307, Bd. III, 93–101; SCHÄFER, Gottesdienst, und SALZMANN, Lehren und Ermahnen, 450–459. 356 SIEGERT, Synagoge, 342f. 357 Nach der Zerstörung des Tempels und des Allerheiligsten 70 n.Chr. entwickelte sich eine synagogale Theologie, welche die Gegenwart Gottes im Wort der Tora erkannte und zwar im laut gelesenen und ausgelegten Wort, so SIEGERT, Synagoge, 348. 358 HENGEL, Proseuche, 179. 359 So verzichtete man in der palästinischen Synagoge sogar zunächst auf den Hymnengesang, weil dieser den Tempelsängern in Jerusalem vorbehalten bleiben sollte. Gerade auch der Unterschied zu den Alternativtempeln deutet darauf hin, dass die ägyptische Diaspora das Gebot der Kultzentralisation durch das Synagogeninstitut bewusst respektieren wollte, vgl. HENGEL, Proseuche, 177f.; GRUEN, Diaspora, 120f. 360 Zum Pilgerwesen vgl. SAFRAI, Relations, 191–194; B ARCLAY, Jews, 417–421; W ARDLE, Jerusalem Temple, 23; COHEN, Temple, 301f.323; GRUEN, Diaspora, 246f. 361 Vgl. auch GRUEN, Diaspora, 121: „The two institutions maintained a symbiotic and mutually reinforcing association.“ 362 Vgl. GRUEN, Diaspora, 113f.

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Die Orientierung und Ausrichtung des Diasporajudentums nach Jerusalem wird in vielerlei Quellen bezeugt und war ein elementarer Bestandteil diasporajüdischer Weltsicht.363 Allerdings – auch dies ist zu beachten – impliziert diese Ausrichtung nach Jerusalem bzw. auf das „Heilige Land“ nicht zwingend ein defizitäres Verständnis der eigenen diasporajüdischen Identität.364 Vielmehr scheint die Jerusalemorientierung ein wesentliches Element gewesen zu sein, um jüdisches Leben in der Diaspora nicht nur zu „legitimieren“, sondern in gewissem Sinne auch dem jüdischen Leben in Israel gleichzustellen. Wir finden in den Quellen nirgendwo einen Immigrationsdruck nach Israel. Eine Rückkehr wäre allen Diasporajuden prinzipiell jederzeit möglich gewesen, scheint aber in all den Jahrhunderten vor dem Jüdischen Krieg kein vordringliches Bedürfnis gewesen zu sein. Vielmehr lässt sich das diasporajüdische Lebensgefühl auf die schlichte – und bis in die Gegenwart hinein nicht unbekannte – Formel bringen: „Jerusalemverehrung und -unterstützung – ja, Rückkehr – nein“.365

Dennoch blieb diese an sich durchweg positive, auf Kompatibilität hin ausgerichtete Zuordnung der Synagoge zum Tempel nicht folgenlos für die Rolle der Priester in frühjüdischer Zeit. Zwar gab es auch in der Diaspora jüdische Priester, deren Abstammungs- und Heiratsregister minutiös geführt und nach Jerusalem gesandt wurden,366 aber trotz ihrem hohen, auf Abstammung basierenden Ansehen bei allen Diasporajuden spielten sie im Synagogengottesdienst keine unersetzbare Rolle. In der Mischna ist eine Stelle überliefert, die den Priestern unter dem Stichwort „Sätze, die sie [sc. die Rabbinen] ‚um des Friedens willen‘ sagten“ eine Art „Ehrenprimat“ im Gottesdienst zuweist: „Ein Priester liest als erster und nach ihm ein Levit und nach ihm ein Israelit, um des Friedens willen“ (mGit 5,8). Möglicherweise reflektiert dieser Beleg Auseinandersetzungen, die nach 70 n.Chr. in den Synagogen des Landes Israels oder evtl. auch der Diaspora entstanden. Priester und Leviten könnten aufgrund des Verlustes ihres „Arbeitsplatzes“ und des damit verbundenen Prestiges auf eine entsprechende Rolle in den Synagogengottesdiensten gepocht haben, die ihnen dann „um des Friedens willen“ zugestanden wurde.367 363

Phil LegGai 225.281.288.299.346; Somn 2,246; SpecLeg 1,66–68; Arist 249. GRUEN, Diaspora, 243: „Jews living around the Mediterranean were unapologetic and unembarrassed by their situation. They did not describe themselves as part of a diaspora. They did not suggest that they were cut off from the center, leading a separate, fragmented, and unfulfilled existence.“ 365 Vgl. GRUEN, Diaspora, 234.239f.247.252. Letztlich darf auch die Übersetzung der Septuaginta nicht als ein „Notbehelf“ für rückkehrwillige Diasporajuden betrachtet werden, die bis zum Zeitpunkt ihrer Heimkehr und des Erlernens des Hebräischen ein literarisches Interim in die Hand bekamen, um ihren Glauben nicht zu vergessen. Die Septuaginta muss vielmehr als ein Instrument betrachtet werden, das jüdisches Leben in der hellenistischen Diaspora auf Dauer ermöglichen und stabilisieren sollte. 366 Jos Ap 1,32f. 367 Vgl. hierzu auch den Beitrag von W EISS, Communal Leaders, der anhand der archäologischen Evidenz von Synagogenbauten nach 70 n.Chr. zeigt, dass die Tempelzerstörung für die Priester tatsächlich eine „Wasserscheide“ darstellte. Auch wenn sie aufgrund ihrer Abstammung ein gewisses Sozialprestige behielten, so minimierte sich doch ihre Bedeutung in den folgenden Jahrzehnten, a.a.O, 104: „In all events, even if we 364

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Die religiösen Funktionen übernahmen in der Synagoge neben dem Synagogenvorsteher (avrcisuna,gwgoj) einfache Vorbeter, Vorleser, Übersetzer, Ausleger und Lehrer. Sogar Frauen konnten diese Rollen übernehmen.368 Außer dem Amt des Vorstehers war keines dieser Ämter festgelegt und jedes konnte von Mal zu Mal wechseln. Lediglich der abschließende Segen sollte noch von einem Priester gesprochen werden (vgl. Num 6,23.27).369 Faktisch besetzten damit aber Nicht-Priester zwei traditionelle priesterliche bzw. levitische Kompetenzbereiche, nämlich die der Lehre und der Schriftinterpretation.370 Damit ging unvermeidbar auch ein Verlust von Autorität und Einfluss einher.371 Deshalb konnte der Priesteraristokratie an Synagogengottesdiensten im Heiligen Land eigentlich nicht gelegen were to assume that priests held a specific role in the leadership of the synagoge and contributed to the liturgy performed inside it, it was not because they wanted to restore their ancient status, but rather because they were on a par with the archisynagogoi, ḥazzanim, parnasim, and other men of means who functioned within the community. The priests were only one sector within the larger multifaceted congregation …“ Allerdings weist STEMBERGER, Priestertum, 278–288, darauf hin, dass der priesterliche Einfluss in der Epoche des späteren Rabbinats wieder zunahm. Ab dem 2. Jh. erfreuten sie sich wieder eines wachsenden Ansehens. Über die Gründe für diese überraschende Entwicklung kann jedoch auch STEMBERGER nur spekulieren. 368 Vgl. HORBURY, Women, sowie B ROOTEN, Women Leaders. Die letztgenannte Autorin belegt ihre These mit griechischen und lateinischen Inschriften, in denen jüdische Frauen Titel wie „Haupt der Synagoge“, „Älteste“ oder „Mutter der Synagoge“ tragen. 369 Freilich zeigt die rabbinische Diskussion, dass auch dieses Recht zwar anerkannt, aber seine Bedeutung nicht undiskutiert blieb. In bHulin 49a wird betont, dass der Segen von Gott stammt und nicht vom Priester. WENSCHKEWITZ, Spiritualisierung, 41, versteht diese Diskussionen im Kontext der Bemühungen, den priesterlichen Einfluss nach 70 zu begrenzen: „Hinter den Stellen steht das ängstliche Bemühen, alles fernzuhalten, was irgend an eine Mittlerstellung der Priester erinnern könnte. Auch das Recht der Segenserteilung ist kaum mehr, als ein in der Tora verbrieftes Ehrenrecht. […] Die praktischen Rechte der Priester sind also recht gering. Man erweist ihnen die gebührende Ehre; mitzubestimmen haben sie nur dann, wenn sie selbst zu den Gelehrten gehören.“ 370 Zur späteren rabbinischen Usurpation priesterlicher Rollen und Privilegien vgl. tKer 1,20; bBer 10b; bKet 105b; bNed 62a. 371 H IMMELFARB, Kingdom, 165.169.173; DIES., Priests, 40f.: „Priests retained a certain prestige on the basis of their ancestry, but in the absence of the Temple they had no claim to power“; vgl. auch STEMBERGER, Priestertum, 271–278, und B ARCLAY, Jews, 420: „Few if any aspects of Diapora Jewish life had been governed by Jerusalem priests“. Im Blick auf die Zeit nach 70 n.Chr., die sich im Alltag der Diaspora nicht so sehr von der Zeit vorher unterschied, weist H IMMELFARB, Kingdom, 165, auf einen anderen wichtigen Faktor hin: „[T]he diminution in status of priests meant that their piety or lack of it was no longer a subject of much concern, and thus priests no longer constituted a glaring example of the tension between ancestry and merit.“ Sinnbildlich für den Niedergang des Priestertums und den Aufstieg der Toragelehrsamkeit ist ein Ausspruch Rabbi Meirs, wonach ein Nichtjude, der sich mit der Tora befasst, wie ein Hohepriester ist; bSanh 59a; vgl. bAZ 3a. Die entscheidende Größe ist nun nicht mehr der Tempel oder der Kult, sondern die Tora. Deren Lehrort war aber die Synagoge.

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sein, da auch ein „bloßer“ Wortgottesdienst sich latent zu einer zwar nicht intendierten, aber durch die Lebensmacht des Alltags faktisch existierenden Konkurrenz zum Tempelgottesdienst entwickeln konnte.372 Im Ergebnis waren Priester ebenso wie Tempel, Kult und Opfer in der Diaspora und damit für die weit überwiegende Mehrzahl aller Juden sowohl für den individuellen als auch gemeindlichen Vollzug der Alltagsreligiosität faktisch bedeutungslos trotz aller ideellen Hoch- und Wertschätzung ihres Dienstes im fernen Jerusalem.373 Auch wenn Myriaden von diasporajüdischen Pilgern jährlich zu den großen Wallfahrtsfesten nach Jerusalem reisten, so dürfte trotzdem die Mehrzahl der Diasporajuden niemals in ihrem Leben einen jüdischen (Hohe)Priester bei der Ausübung kultischer Handlungen im Tempel gesehen haben. Für sie war der Jerusalemer Kult Gegenstand der Verehrung, der Identitätsstiftung und der Wertschätzung, die durch die Tempelsteuer auch einen monetären Ausdruck fand, aber eben nicht Gegenstand der Erfahrung. Diese „Lebensmacht“ der räumlichen Distanz zu dem aus reichsrömischer Sicht alles andere als zentralen Jerusalem schuf in der jüdischen Diaspora somit eine tempel-, opfer- und priesterlose Frömmigkeits- und Gottesdienstpraxis für den Glaubensvollzug im Alltag, die dann ab dem 1. Jh. n.Chr. als reichsweit verbreitetes Modell für die jungen christlichen Gemeinden in den Städten Syriens, Kleinasiens, Griechenlands und Roms diente. Und so wie für das Diasporajudentum, anders als für das Judentum in Israel, der Verlust des Tempels und die Zerstörung Jerusalems eine Tragödie, aber keine Katastrophe darstellte, war auch – wie sich noch zeigen wird – für die Diasporajudenchristen in Kleinasien eine Metaphorisierung des Priesterbegriffs leichter möglich als für die Judenchristen in Jerusalem bzw. dem Land Israel. 7.2 Das Priestertum im Werk Philos Das Werk Philos ist für die Fragestellung dieser Untersuchung von besonderem Interesse. Der alexandrinische Theologe und Philosoph zeigt sich nicht nur als ein Kenner der atl. Schriften, sondern auch der zeitgenössischen Verhältnisse am Jerusalemer Tempel und seiner Priesterschaft.374 Er 372

Vgl. hierzu HENGEL/DEINES, Common Judaism, 428f. Vgl. zur Bedeutung der Priester nach 70 n.Chr. KIMELMAN, Priestly Oligarchy, und SCHÄFER, Rabbis and Priests, 170: „… the rabbinic strategy with regard to their priestly predecessors and competitors … aimed to bolster the rabbis' status and power. This was done not by simply ignoring the priests …, but by aggressively eliminating and/or recasting them in the rabbis' own image.“ 374 Die Vermutung von SCHWARTZ, Descent, 155–171, die auf einen Hinweis von Hieronymus, Vir ill 11, zurückgeht, wonach Philo priesterlicher Abstammung gewesen sei, lässt sich kaum erhärten. GUSSMANN, Priesterverständnis, 172, Anm. 559, führt eine Reihe von Gründen an, warum eine priesterliche Abkunft Philos eher unwahrscheinlich 373

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hat mindestens an einer Wallfahrt nach Jerusalem selbst teilgenommen und sein Bruder Alexander hatte als Alabarch von Alexandria den Silber- und Goldschmuck der neun Tore des herodianischen Tempels gestiftet (Bell 5,205). An zahllosen Stellen beschreibt und interpretiert Philo den (hohe)priesterlichen Dienst in all seinen Facetten und Bezügen im Literalsinn,375 wobei er v.a. die mediatorische Funktion hervorhebt.376 Er bietet somit die ausführlichste zeitgenössische Beschreibung des Jerusalemer Kultes aus der Perspektive eines Diasporajuden. Sein Bild von den historischen Institutionen des Tempels, Kultes und Priesterdienstes ist durchweg positiv gestimmt und von einer großen Loyalität gegenüber der jüdischen Gemeinschaft und ihren Institutionen, Normen und Werten geprägt. Allerdings gründet Philos Wertschätzung des Tempels und des Kultes vor allem auf deren politischer Bedeutung für das Judentum seiner Zeit und auf ihrer „seelsorgerlichen Bedeutung“ für die weniger gebildeten Juden, die Philos spiritualisierender Sichtweise nicht folgen konnten.377 Auf der Basis dieser uneingeschränkt positiven Grundhaltung zu den besagten Institutionen kann Philo der Welt des Kultes, des Tempels, der Priesterschaft und hier v.a. der Person des Hohepriesters378 mittels seiner allegorisierenden, moralisierenden und spiritualisierenden Auslegung eine Fülle neuer Bedeutungsaspekte entnehmen, die für diesen platonischen Philosophen im Mantel eines jüdischen Schriftgelehrten den eigentlichen ist: (1) Josephus, Ant 18,259f., stellt Philo als Leiter der Gesandtschaft an Gaius vor, erwähnt eine priesterliche Abkunft aber mit keinem Wort, was im Falle der Richtigkeit des Sachverhalts ungewöhnlich für den stolzen Priester Josephus gewesen wäre. (2) Die von Philo ausgiebig zitierten Priestertraditionen (Sündlosigkeit des Hohepriesters, besondere Heiratsregeln) stellen kein Insiderwissen dar, sondern waren Allgemeingut unter den Schriftgelehrten, wie Philo einer war. (3) Die Schilderung der kultischen Traditionen erfolgt immer aus einer Außenperspektive, nicht aus einer Innenansicht. (4) Auch von einer sadduzäischen Identität oder Theologie ist bei Philo nichts zu spüren. 375 Vgl. Ebr 65–77; SpecLeg 1,66–119 u.ö.; vgl. LAPORTE, High Priest, 71–73; LEONHARDT-B ALZER , Priests, 127–144. 376 LEONHARDT-B ALZER, Priests, 127f.139f. Der Priester soll eine Mittelstellung zwischen Gott und Mensch einnehmen, „damit die Menschen durch einen Mittler die Gnade Gottes erflehen, Gott aber die Gaben seiner Gunst durch einen Diener dem Menschen reichen und übermitteln könne“, SpecLeg 1,116, Übersetzung nach I. HEINEMANN, Werke Bd. II; vgl. auch SpecLeg 1,244; Mos 1,216; 2,5.134. Entsprechend ist im Literalsinn die wichtigste Aufgabe des Hohepriesters der Sühnevollzug am Yom-Kippur, LAPORTE, High Priest, 81. 377 T UVAL, Paradigms, 190–192.238; MARTIN, School of Virtue. 378 Die Tatsache, dass in Philos Werken v.a. der Hohepriester, d.h. Aaron, und die Leviten im Mittelpunkt stehen, während die gewöhnlichen Priester kaum Erwähnung finden, hängt mit der Fokussierung Philos auf die narrativen Texte der Tora zusammen, während die Gesetzestexte eher in den Hintergrund treten, vgl. HIMMELFARB, Kingdom, 146.

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Sinn dieser Texte und der dort beschriebenen kultischen Realien darstellen. Sein Programm einer Spiritualisierung des Tempels, des Hohepriesters und der Kultvollzüge interpretiert diese als eine Art Bilderbuch sowohl für die kosmischen Prozesse des Universums als auch für die inneren Vorgänge in der Seele. Dieses Konzept ist an ein bestimmtes Weltbild bzw. an eine kosmologische Theorie gebunden, die zum hermeneutischen Prinzip seiner Interpretation wird. Im Folgenden soll dieses Programm an Philos Interpretationen des priesterlichen und v.a. des hohepriesterlichen Dienstes dargestellt werden.379 Für das bei Philo zu beobachtende Phänomen der Übertragung von Kultbegriffen auf ethische, seelische oder geistige Prozesse erscheint der Begriff der „Spiritualisierung“, anders als im Alten und Neuen Testament tatsächlich adäquat, denn hier findet eine deutliche Ablösung des Begriffs von seinem ursprünglichen Bedeutungsbereich statt. Philo geht es darum, mit Hilfe der Allegorese seinen Lesern die Bedeutung der Tora als Entsprechung zur hellenistischen, vor allem platonischen und stoischen Philosophie zu erweisen. Auf diesem Weg verliert der Jerusalemer Kult als reales Konkretum letztlich seine Bedeutung. Er scheint nur noch als Bild- und Begriffsspender für mikro- oder makrokosmische Zusammenhänge zu dienen, die im Rahmen der hellenistischen Philosophie mit einer völlig anderen Terminologie expliziert werden. Es geht nicht darum, dass Erfahrungen mithilfe eines bildspendenden Bereichs, der an bereits Bekanntes erinnert, kategorisiert und neu konzeptualisiert werden, sondern um die allegorische Erschließung einer neuen, bereits konzeptualisierten Bedeutungsebene des vorgegebenen Textes, die dieser in seinem Literalsinn so nicht besitzt. Dabei droht – wie sich noch zeigen wird –, anders als in der aristotelischen Metaphernkonzeption, das bildspendende Konkretum, also der Jerusalemer Kult, zum „Uneigentlichen“ und „Symbolischen“ reduziert zu werden, während der bildempfangende Bereich des Inneren, Seelischen und Immateriellen als die eigentliche Wirklichkeit präsentiert wird.

7.2.1 Moralisierung Der in der Tora formulierte Anspruch kultischer Reinheit wird bei Philo häufig allegorisch in moralische Kategorien verwandelt.380 So wird beispielsweise die Bedingung der körperlichen Unversehrtheit (Lev 21,16–20) von ihm als ein Symbol für die seelische Vollkommenheit und Gottesebenbildlichkeit des Priesters verstanden.381 Insbesondere der Hohepriester wird durchaus im Einklang mit dem zeitgenössischen Judentum als der ideale und paradiesische Mensch im Blick auf Kraft, Heiligkeit und „Gottgemäßheit“ vorgestellt, wobei diese Kategorien von Philo moralisch im Sinne von Tugendhaftigkeit verstanden werden: Die richtige Gesinnung

379 Ausführliche Darstellungen finden sich bei LAPORTE, High Priest, 71–82; HOSSFELD/SCHÖLLGEN, Art. Hoherpriester, 19–23; GUSSMANN, Priesterverständnis, 171– 181, und LEONHARDT-B ALZER, Priests, 127–153. 380 SpecLeg 1,63; 3,205–209; Ebr 66. 381 SpecLeg 1,80f.; Mos 2,138.

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und eine moralische Lebensführung gehören zum Schmuck der hohepriesterlichen Existenz.382 Unter der Hand entwickelt sich auf diesem Wege die Forderung nach einer makellosen kultischen Verfassung des Amtsträgers, wie z.B. körperlicher Unversehrtheit und korrekter Abstammung, auf die der einzelne Priester keinen Einfluss hat, zur Forderung nach einem moralischen Entwicklungs- bzw. Bildungsprozess, was in dieser Weise dem priesterlichen Amt in seiner tradierten Form eigentlich fremd ist. Entsprechend treten die kultischen und genealogischen gegenüber den moralisch-ethischen Voraussetzungen, Eigenschaften und Tugenden des idealen Priesters in den Hintergrund. 7.2.2 Spiritualisierung Vor allem die Gestalt des Hohepriesters erfährt in Philos Werken eine spiritualisierte Überhöhung. Dies beginnt schon mit dem Vergleich der außerordentlich hohen Anforderungen an die hohepriesterliche Reinheit mit der stoischen Affektenlehre. Das Verbot, selbst im Trauerfall den Tempel zu verlassen, um den Tod der eigenen Frau oder der eigenen Eltern zu betrauern, wird von Philo nicht mehr mit den Anforderungen kultischer Reinheit, sondern mit dem stoischen Ideal der emotionalen Affektlosigkeit in Beziehung gesetzt.383 Weiter unternimmt Philo eine gewagte Deutung des hohepriesterlichen Agierens im Allerheiligsten am Yom-Kippur. Wenn der Hohepriester in das Allerheiligste tritt, um als Rauchopfer die heiligen Tugenden darzubringen, dann ist er nicht mehr Mensch, aber auch nicht Gott, sondern eine Art Mittelwesen zwischen Gott und Mensch, ein „Diener Gottes, nach seinem sterblichen Teil der Schöpfung, nach seinem unsterblichen Teil dem Schöpfer verwandt“ (Somn 2,230ff.).384 Der Hohepriester wird hier zum idealen, integren, vollkommenen und gottähnlichen Menschen am idealen Ort der Präsenz Gottes. Eine Spiritualisierung findet auch dort statt, wo Philo die Figur des Hohepriesters mit der Logosspekulation verbindet385 und dabei die priesterlichen Handlungen und Vorgänge im Tempel sowohl als kosmologische wie als innerseelische Prozesse deutet: „Zwei Tempel Gottes gibt es nämlich offenbar: der eine ist diese unsere Welt, in der es auch einen Hohenpriester gibt, seinen erstgeborenen göttlichen Logos, der andere ist die 382

SpecLeg 3,135. SpecLeg 1,115f. 384 Zu dieser Mittelstellung zwischen Gott und Mensch vgl. auch SpecLeg 1,116; Somn 2,188f.231–233; Mos 2,134; Her 84. Nach Her 205f. ist er in seiner Mittlerstellung ein Fürsprecher der Sterblichen und zugleich ein Bote Gottes an die Menschen. Ähnliche mediatorische Eigenschaften billigt Philo auch dem (stoischen) Weisen zu, vgl. Somn 2,230f. 385 Vgl. dazu LAPORTE, High Priest, 71.75 383

7 Das Diasporajudentum und das Priestertum

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vernünftige Seele, deren Priester der wahre Mensch ist, dessen sinnlich wahrnehmbares Abbild jener Priester ist, der die von den Vätern übernommenen Gebete und Opfer vollzieht und dem befohlen ist, das erwähnte Gewand anzuziehen, welches das Abbild des ganzen Himmels ist, auf daß mitfeiere die ganze Welt mit dem Menschen und der Mensch mit dem All“ (Somn 1,215).386

Der Hohepriester wirkt hier als irdische Entsprechung des himmlischen Logos, sowohl im menschlichen Mikrokosmos als auch im Makrokosmos der Welt und des Universums.387 Während sich die makrokosmische Deutung des Hohepriesters als irdischem Repräsentanten des himmlischen Logos an die Auslegung des hohepriesterlichen Gewandes mit seinen kosmischen Symbolen anlehnt, durch das dem Universum eine Partizipation am Tempelkult ermöglicht wird,388 geht die mikrokosmische Deutung auf eine mystische Interpretation des hohepriesterlichen Opfer- und Gebetsdienstes im Allerheiligsten zurück.389 Die priesterlichen Handlungen werden dabei zu Abbildern innerseelischer Vorgänge390 und der Priester im hohepriesterlichen Ornat ist eine Art Archetyp des „wahren Menschen“, der im inneren Tempel der Seele in reiner Gesinnung seinen Dienst am „unvergänglichen Sein“ verrichtet.391 Der göttliche Logos bzw. der menschliche Hohepriester opfern hier letztlich sich selbst als ein geistliches Opfer: „Wer ist nun Gottes Mundschenk? Der die Trankopfer darbringende, der wahrhaft große Hohepriester, der den Zutrunk der ewig strömenden Gnadengaben annimmt und als Gegenleistung, indem er die ganze Schale des berauschenden Trankes vollgießt, sich selbst darbringt“ (Somn 2,183).392 386

Übersetzung nach M. ADLER, Werke Bd. IV. LEONHARDT-B ALZER, Priests, 142f.: „The high priest can do this because he is the visible representative of the ‚true man‘, while the heavenly Logos is the invisible representative of the material world. Thus the high priest is the earthly counterpart of the heavenly Logos, the one representing the idea of the true man to the material world, the other representing the material world in the ideas.“ 388 HIMMELFARB, Kingdom, 147. Nach Fug 108–110 hat der hohepriesterliche Logos Gott, den Vater des Alls, zum Vater, und die Weisheit, durch die das All entstanden ist, zur Mutter. 389 Somn 1,215; vgl. Ebr 144.152; Somn 2,183.249; LAPORTE, High Priest, 74–76; LEONHARDT-B ALZER, Priests, 142f. 390 Vgl. SpecLeg 1,205. 391 GUSSMANN, Priesterverständnis, 178; vgl. Somn 2,183.249; vgl. 2,77. In Imm 134f. vergleicht Philo den Priester allgemein mit dem überführenden Gewissen: „Wenn aber der wahre Priester, das uns überführende Gewissen, in uns eingeht wie ein ganz reiner Lichtstrahl, dann erkennen wir (erst) die in uns liegenden, der Seele nicht frommenden Willensregungen und die tadelnswerten und Vorwurf verdienenden Taten, die wir aus Unkenntnis des (uns) Zuträglichen unternahmen. Das alles macht nun der priesterliche Überführer unrein und befiehlt, dass es ausgeräumt und herausgenommen werde, damit er das Haus der Seele selbst rein sehe und die Krankheiten heile, die etwa in ihm stecken“, Übersetzung nach H. LEISEGANG, Werke Bd. IV. 392 Übersetzung nach M. ADLER, Werke Bd. IV. 387

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

Als eine Konsequenz dieser allegorischen Spiritualisierung behauptet Philo dann auch die Sündlosigkeit des Hohepriesters. Die Opfer, die der Hohepriester nach Lev 4 für die bewussten und unbewussten Sünden darbringen muss, können nach Philo nicht für seine eigenen Sünden bestimmt sein, sondern lediglich für die des Volkes, die er stellvertretend zu tragen hat. Er selbst ist und bleibt sünd- und fehlerlos.393 7.2.3 Universalisierung Aufgrund der kosmischen Bildwelt mit den Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer, die auf dem hohepriesterlichen Gewand zu sehen ist, repräsentiert der Hohepriester nach Philo die Schöpfung und Welt vor Gott. Im hohepriesterlichen Gewand tritt somit der Kosmos abbildhaft ins Allerheiligste.394 Entsprechend vertritt der Hohepriester mehr als nur das Volk Israel, sogar mehr als nur die Menschheit. Er ist Stellvertreter des Kosmos und bittet für ihn: „[D]ie Priester der anderen Völker pflegen nur für ihre Angehörigen, Freunde und Mitbürger die Gebete und Opfer zu verrichten, der jüdische Hohepriester dagegen spricht seine Bitt- und Dankgebete nicht nur für das ganze Menschengeschlecht, sondern auch für die Teile der Natur, Erde, Wasser, Luft und Feuer; denn die ganze Welt betrachtet er als Vaterland, wie sie es ja auch in Wirklichkeit ist“ (SpecLeg 1,97).395

Indem der Priester im hohepriesterlichen Gewand den Kosmos „trägt“, verändert er sich selbst von einer menschlichen in eine kosmische Natur und wird so selbst zu einem kleinen Kosmos396 und zu einem mediatorischen Wesen sui generis, das nicht nur Sühne für Israel schafft, sondern letztlich kosmische Bedeutung hat.397 Ähnlich wie in Sir 45,7–12; 50,5–11 und Arist 96–99 wird der Hohepriester somit konsequenterweise zu einer außerweltlichen Natur und Erscheinung. 7.2.4 Sozialisierung Für Philo ist die jüdische Nation für die bewohnte Welt das, was der Priester für die po,lij ist. Diese priesterliche Funktion hat Israel, „da es körperlich und geistig in jeder Weise gereinigt und geweiht ist durch die Anwei393

Die Heiligkeit des Hohepriesters wird letztlich so absolut verstanden, dass Philo den Gedanken einer bewussten Sünde bzw. Verunreinigung des Hohepriesters negieren muss, vgl. SpecLeg 1,229f.; Somn 2,185; Fug 117f., sowie QE 1,10; 2,105 und LAPORTE, High Priest, 72f. 394 Mos 2,133–135; Fug 110; SpecLeg 4,69. 395 Übersetzung nach I. HEINEMANN, Werke Bd. II. Vgl. LEONHARDT-B ALZER, Priests, 144: „On the basis of Spec. 1.97 and Virt. 120, it can be assumed that for Philo the success or failure of the people’s progress in virtue is the object of the high priestly prayer.“ 396 Mos 2,134f.; vgl. SpecLeg 1,116; Somn 2,185–189. 397 SpecLeg 1,114–116; vgl. LEONHARDT-B ALZER, Priests, 139: „Thus for Philo the high priest respresents the entirety of the worship in the Jerusalem Temple.“

7 Das Diasporajudentum und das Priestertum

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sungen des göttlichen Gesetzes …“ (SpecLeg 2,163; vgl. Migr 93).398 In diesem Sinne kann Philo an zahlreichen Stellen auf eine priesterliche Rolle ganz Israels verweisen. So begründet er ausgehend vom Passaopfer, dem einzigen Opfer der Tora, das von den Sippenvätern dargebracht und von allen Israeliten verzehrt wurde, das Priestertum aller Israeliten, weil „nach Vorschrift des Gesetzes das gesamte Volk Priesterdienst tut, indem jeder einzelne das für ihn bestimmte Opfer herbeiführt und mit eigener Hand die Opferhandlung vollzieht“ (Mos 2,224).399 Die priesterliche Identität jedes Juden wird hier mit seinem Recht, sich selbst zu reinigen und mit eigener Hand Opfer darzubringen, begründet.400 Dass der Bericht der Tora an dieser Stelle noch gar keine israelitischen Priester kennt, ist für Philos Deutung unerheblich. Ähnlich argumentiert Philo wieder mit Verweis auf das Dankopfer nach dem Durchzug durch das Schilfmeer, dass vor der Einsetzung des Priestertums alle Israeliten als Priester agiert hätten: „Er [sc. Gott] hielt es für gerecht und passend, dass bevor er besondere Priester erwählte, er dem gesamten Volk das Priestertum gewährte, damit der Teil durch das Ganze geschmückt werde … Und auch damit das Volk ein archetypisches Beispiel sei für die Tempelhüter und Priester und jene, die das Hohepriestertum und heilige Riten ausüben.“ (QE 1,10)

Das Volk wird als Archetypus für das Priestertum definiert, weil es nicht nur chronologisch, sondern auch ontologisch vor dem levitischen Priestertum und auch dem Hohepriestertum existierte.401 Noch weitergehend kann Philo das Priestertum Israels als einen Priesterdienst für die gesamte Menschheit deuten, denn Israel ist ein Volk, „das vor allen anderen bevorzugt zum Priesterdienste bestimmt war, das für das Menschengeschlecht stets Gebete verrichten sollte, sowohl für die Abwendung von Übeln als auch für den Genuss des Guten“ (Mos 1,149; vgl. SpecLeg 2,167f.).402 Zwar wird Ex 19,6 nirgendwo explizit erwähnt, aber Philo interpretiert in diesen Belegen die Exodusformel durchaus im Sinne 398

Übersetzung nach I. HEINEMANN, Werke Bd. II. Übersetzung nach B. B ADT, Werke Bd. I. 400 Vgl. auch SpecLeg 2,145–148. Hier verweist Philo neben der priesterlichen Opferung der Passalämmer durch ganz Israel auch auf die allegorische Deutung des Passaopfers, das er ausgehend vom Begriff ta. diabath,ria als eine Reinigung der Seele (yuch/j kaqa,rsij) und eine „Überquerung“ der Leidenschaften (tw/n paqw/n dia,basij) versteht, vgl. LEONHARDT-B ALZER, Priests, 144f. 401 HIMMELFARB, Kingdom, 159. 402 Vgl. auch SpecLeg 2,163 : „[W]as für den Staat der Priester, das ist das Volk der Juden für die ganze bewohnte Erde. Denn es nimmt, wenn ich die Wahrheit sagen soll, Priesterrang ein, da es körperlich und geistig in jeder Weise gereinigt und geweiht ist durch die Anweisungen des göttlichen Gesetzes“; Übersetzung nach I. HEINEMANN, Werke Bd. II; vgl. auch SpecLeg 1,96f.; Mos 2,134; Op 143–146; Somn 1,243; Her 199f. 399

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eines funktionalen Priestertums Israels für die Welt: In derselben Weise wie der Hohepriester für das jüdische Volk Fürbitte tut, bittet das jüdische Volk für die Welt. Generell kann Philo die Anbetung, den Dank und Lobpreis und die Fürbitte als priesterliche Handlungen verstehen, weil derjenige, „der nach diesen Gesetzen lebt, als Priester, ja, als Hoherpriester vor dem Richterstuhle der Wahrheit gelten darf“ (SpecLeg 2,164).403 Hier wird die priesterliche Identität mit der Tugendhaftigkeit begründet. Die Juden sind Priester, weil sie die Tora lesen, die sie zu einem tugendhaften Leben führt und sie in der Ehrfurcht vor Gott bewahrt. J. Leonhardt-Balzer macht darauf aufmerksam, dass Philo hier den Repräsentationsgedanken umdreht: „… if the priests represent the people at their purest, the people, if they are pure, can be priests.“404 Gleichzeitig machen die Belege deutlich, dass Philo nicht an einer Infragestellung der Institution des hereditär legitimierten Priestertums im innerjüdischen Verhältnis interessiert ist. Vielmehr ist bei Philo das Allgemeine Priestertum des jüdischen Volkes an den vollkommenen Gottesdienst jedes Einzelnen in geistiger, seelischer und leiblicher Hinsicht geknüpft. 7.2.5 Spiritualisierung und Universalisierung des Tempels Philo gelingt es mit Hilfe der Universalisierung einerseits und der Spiritualisierung andererseits dem spannungsvollen Verhältnis zwischen der auf Lokalität ausgerichteten atl. Shekhina-Tradition, dem adaptiv-universalistischen Denken des Diasporajudentums und auch dem spiritualisierenden Moment hellenistischer Philosophie eine Tempeltheologie zu entwerfen, die am physischen Tempel in Jerusalem festhält, ihn aber gleichzeitig abstrahiert und transzendiert. Trotz aller allegorischen und spiritualisierenden Denkformen kommt es nie zu einer Negation des vorfindlichen Kultes, der Opfer oder des Jerusalemer Tempels.405 So kann Philo in SpecLeg 1,67 Jerusalem einerseits als den einzigen designierten und legitimierten Platz für den Tempel, den er als Pilger selbst besucht hat (vgl. Prov 2,64), proklamieren, obwohl er andererseits unmittelbar zuvor das gesamte Universum als den heiligen Tempel Gottes bezeichnet (SpecLeg 1,66), zu dem der mit Händen gemachte Tempel lediglich das irdische, sozusagen mikrokosmische Gegenstück ist: „Als das höchste und wahrhafte Heiligtum der Gottheit ist das ganze Weltall zu betrachten, das zum Tempelraum den heiligsten Bestandteil der Welt, den Himmel, hat, dessen 403

Übersetzung nach I. HEINEMANN, Werke Bd. II. LEONHARDT-B ALZER, Priests, 152. 405 KLAWANS, Purity, 117, der von einem „interplay of practical and symbolic explanations“ spricht. 404

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Weihgeschenke die Sterne, dessen Priester die Unterdiener der göttlichen Kräfte, die Engel, sind, körperlose Seelenwesen, nicht wie unsere Seelen Mischungen aus vernünftiger und unvernünftiger Natur, sondern ganz bar des vernunftlosen Teils, vollkommen von Vernunft erfüllt, reine, der höchsten Einheit gleichkommende Verstandeswesen. Ausserdem gibt es ein von Menschenhand erbautes (Heiligtum); denn der Drang der Menschen, die zu frommen Zwecken beitragen und durch Opfer der Gottheit ihren Dank für das Gute, das sie betroffen, aussprechen oder für ihre Sünden Verzeihung und Vergebung erbitten wollen, durfte in seiner Bestätigung nicht gehemmt werden“ (SpecLeg 1,66f.; vgl. VitMos 2,71–145).406

Philo verbindet auf diese Weise „tempeltheologische Aussagen mit Aspekten einer aufgeklärten Religion […], ohne dabei jedoch durchgängig das Gebäude und den an ihm praktizierten Kult, selbst den Opferkult, grundsätzlich abzulehnen.“407 Mit Hilfe seiner spiritualisierenden Hermeneutik kann er auch die Seele auffordern, „Gottes Haus zu werden, ein heiliger Tempel, sein schönster Aufenthalt“ (Phil Somn 1,149; vgl. Sobr 62), um wenig später den Tempel des Universums als Entsprechung zum Tempel der individuellen Seele zu bezeichnen (Somn 1,215).408 Dabei wird die Integrität des Jerusalemer Tempels aus Philos Sicht in keiner Weise tangiert. Inwiefern die Bedeutung desselben aber dennoch unterschwellig unterminiert wird, wird noch zu klären sein. 7.2.6 Ergebnis Mit der allegorisch-moralisch-spiritualisierenden Deutung des atl. Priestertums bei Philo begegnen wir zum ersten Mal einer umfassenden, bewussten und konsequenten Abstrahierung dieser Institution von ihrem historischen Vorbild. Philo unternimmt im Geiste Platons das für das zeitgenössische Judentum kühne Projekt, die Person des Priesters als Abbild makround mikrokosmischer bzw. seelischer Vorgänge heranzuziehen. Dabei verlässt er bewusst den eng gesteckten atl. Deutungsrahmen und kommt zu gewagten Formulierungen, sowohl hinsichtlich der Überhöhung des Hohepriesters als auch des Allgemeinen Priestertums der Israeliten. Mit der gewaltigen Projektion sowohl des Hohepriesters als Repräsentant des Uni-

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Übersetzung nach I. HEINEMANN, Werke Bd. II; vgl. auch HOGETERP, God’s Temple, 29; KLAWANS, Purity, 118. Ähnliche allegorische Deutungen auf den Kosmos finden sich bei Philo ebenso wie bei Josephus im Blick auf die priesterlichen Gewänder, für die er ebenfalls eine kosmische Deutung bietet, SpecLeg 1,82–97, die Schaubrote, SpecLeg 1,172, und die verschiedenen Tempelteile, Mos 2,101–103; vgl. auch Mos 2,98. In der siebenarmigen Menora sieht Philo die sieben Himmelslichter – fünf Planeten, Sonne und Mond – symbolisiert, Her 221–225; Mos 2,102–105; Quaest Ex 2,73–81; vgl. ClemAl Strom 5,6,34f. 407 HORN, Paulus und der Herodianische Tempel, 193. 408 Gelegentlich kann Philo analog zur Seele auch die Vernunft als Tempel Gottes identifizieren; vgl. Somn 2,251; Praem 123.

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versums sowie des Tempels als Abbild des Kosmos wird den Priestern die Rolle der Hüter des Kosmos bzw. des Universums übertragen.409 In diesem Zusammenhang entfaltet Philo mit seiner spiritualisierenden Hermeneutik Sachverhalte, die in den biblischen Texten zwar implizit enthalten sind, aber niemals explizit zum Ausdruck gebracht werden. Vor allem die Gestalt des Hohepriesters wird von Philo als der ideale, integre, vollkommene und gottähnliche Mensch am idealen Ort der Präsenz Gottes präsentiert. Indem er für ihn den Anspruch der Sündlosigkeit reklamiert, betrachtet er den Hohepriester faktisch als die Restitution des paradiesischen Menschen und damit als Ziel und Inbegriff der Vollkommenheit und Ganzheit. Freilich erlangt der (Hohe)Priester diesen Status bei Philo weniger durch die Erfüllung der Vorbedingungen für den priesterlichen Dienst (priesterliche Abstammung, körperliche Unversehrtheit, korrekte Eheverhältnisse), die Präparation im Rahmen des kultischen Heiligungsvorgangs oder der Anlegung des priesterlichen Ornats, als vielmehr durch einen moralischen und tugendhaften Lebenswandel. Mit seiner allegorischen, moralischen und spiritualisierenden Deutung der atl. Priestergesetze gelingt es Philo einerseits, seinen gebildeten jüdischen Zeitgenossen in der alexandrinischen Diaspora die Bedeutung der Priestertora für das Leben in der Ferne vom Jerusalemer Tempel zu erschließen.410 Andererseits stellt Laporte die berechtigte Frage, ob mit der allegorischen Spiritualisierung, Moralisierung und Universalisierung des Hohepriestertums und der Sozialisierung des Priestertums im Sinne eines Priestertums aller Israeliten nicht die priesterliche Heilsinstitution und -vermittlung im Jerusalemer Tempel stillschweigend durch eine soteriologische Alternative jenseits des priesterlichen Opferrituals unterhöhlt wird.411 Zieht man ferner in Betracht, dass nach Philos Überzeugung Gott nichts vom Menschen bedarf, und er die Vorstellung, dass Menschen Gott ein Haus bauen könnten, für Blasphemie412 und den Gedanken, der Mensch könne Gott im Kult einen Dienst erweisen, für naiv hält, dann verlieren die 409

KLAWANS, Purity, 123, spricht von „angelic caretakers“. Nach GUSSMANN, Priesterverständnis, 162, kann Philo „mithilfe der symbolischen und allegorischen Interpretation [...] die lokale Distanz der alexandrinischen Juden zum Jerusalemer Tempel und seinem dortigen Priestertum bewältigen.“ 411 LAPORTE, High Priest, 71; vgl. dagegen KLAWANS, Purity, 116–123, der diese Frage streng verneinen würde. 412 Cher 99f.: „Wenn wir im Begriff König aufzunehmen unsere Wohnungen glänzender herrichten … und darauf bedacht sind, dass der Aufenthalt möglichst angenehm und in angemessen würdiger Weise sich für sie gestalte, wie müssen wir erst das Haus einrichten für Gott, den König der Könige und Allherrscher …? Etwa aus Steinen oder einer Holzmasse? Fern sei dieser Gedanke, den nur auszusprechen schon Sünde ist. […] als würdige Behausung ist nur die Seele geeignet“; Übersetzung nach I. HEINEMANN, Werke Bd. III. 410

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äußeren Kultvollzüge in der Tat ihre eigenständige Bedeutung. Durch die platonisch-konstruktivistische Grundanlage der philonischen Hermeneutik werden faktisch exakt jene identitätsstiftenden Realien unterminiert, die vordergründig gelobt und gepriesen werden. Letztlich behalten Priester und Tempel behalten lediglich eine symbolische Funktion für die Erkenntnis ihres eigentlichen Sinngehalts,413 eine politische Funktion für das Judentum als ethnische Größe und eine seelsorgerliche Funktion für den o;cloj, der nicht in der Lage ist, sich in die intellektuellen und spirituellen Sphären eines Philo aufzuschwingen.414 Eine unaufgebbare Relevanz für das diasporajüdische „Sein vor Gott“ und die heilvolle Existenz in der Welt haben sie aber nicht mehr. Wir stehen somit bei Philo vor dem gewagtesten Entwurf frühjüdischer Kulttheologie, der zumindest die Möglichkeit eines vollständigen Verzichts auf den realen Jerusalemer Kultvollzug impliziert.

8 Ergebnis 8 Ergebnis

(1) Der umfassende Überblick über die verschiedenen Strömungen des Frühjudentums und ihrer Sicht auf die Institution des Priestertums konfrontiert den Betrachter zunächst einmal mit einem überwältigenden Eindruck der Heterogenität. Die Disparatheit der theologischen Perspektiven und die Vielgestaltigkeit der soziologischen und politischen Kontexte, in denen jüdisches Leben in der Zeit des zweiten Tempels stattfand, reflektieren sich auch in den Wahrnehmungen der Jerusalemer Priester und ihres Dienstes. Auf den ersten Blick ist es so überraschend wie irritierend, dass alle beschriebenen Gruppen und Stimmen sich auf ein und dieselbe Institution beziehen – so bunt erscheinen die Perspektiven und Wahrnehmungen. (2) Erst auf den zweiten Blick wird in diesem polyphonen Chor doch ein gewisser cantus firmus hörbar. So disparat, gegensätzlich und kritisch die einzelnen Stimmen auch sein mögen, so sehr vermitteln alle – abgesehen vom Sadduzäismus – einen Eindruck der Mangelhaftigkeit und Unzulänglichkeit oder zumindest des Niedergangs und der Begrenztheit des Priestertums in frühjüdischer Zeit. Dabei verwirft keine dieser Gruppen und Stimmen die Institution des Priestertums an sich. Selbst die Gründer des Alternativtempels in Leontopolis und auch die Gemeinschaft, die sich in den Qumranschriften ausdrückt, beziehen sich mit ihrer Abkehr vom Jerusalemer Tempel und ihrer Kritik am vorfindlichen Jerusalemer Kult durch ein alternatives Heiligtum bzw. einer alternativen Priesterschaft eben auch auf diese Institutionen. Ihre Substitution des Jerusalemer Kultes be413 414

STRACK, Terminologie, 383f. T UVAL, Paradigms, 190f., mit Verweis auf MARTIN, School of Virtue, 250f.

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durfte einer eindringlichen theologischen Reflexion, und auch der kritischste Leser dieser Schriften wird hochachtungsvoll den Ernst und die Akribie bestaunen, mit welcher der yaḥad seine Abwendung vom Jerusalemer Kult und Hinwendung zu einem alternativen Kult, der in einem Heiligtum aus Menschen vollzogen wurde, durchdacht und entwickelt hat. Dabei sticht in beiden Fällen gerade nicht die Beziehungslosigkeit zum Jerusalemer Kult ins Auge, sondern vielmehr die minutiöse Bezogenheit aller Elemente auf den idealen Kult, der eigentlich in Jerusalem stattfinden sollte, aber nun aufgrund des defizitären status quo für die Oniaden wie für den yaḥad zu einem eschatologischen Hoffnungsgut geworden ist. (3) Bildlich gesprochen auf der gegenüberliegenden Seite der Qumranschriften kommt der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus zu stehen. Selbst ein Priester, sieht er es als seine historiographische Aufgabe, nicht nur das Volk der Juden, sondern im besonderen Maße auch seinen priesterlichen Stand vor seinem römischen Leserpublikum zu rehabilitieren. Folglich zeichnet Josephus ein idealisierendes Bild des Priestertums, als dessen herausragende Protagonisten er neben dem Ur-Priester Aaron die Hasmonäer, v.a. Johannes Hyrkan I., präsentiert, von deren Linie er mütterlicherseits abstammte. Doch auch Priester-Propheten wie Jeremia und Ezechiel stehen in seiner Darstellung aufgrund der Verbindung von prophetischem Charisma mit priesterlicher Identität, die Josephus ebenfalls für sich selbst beanspruchte, in hohem Ansehen. Doch bei allem Bemühen, das Priestertum als ehrwürdige Aristokratie des jüdischen Volkes zu präsentieren, musste Josephus in Anbetracht der Katastrophe der Tempelzerstörung und des unrühmlichen Endes der jüdischen Nation erklären, wie es unter der innenpolitischen Führungsrolle dieser Instanz dazu hatte kommen können. Deshalb geißelt er scharf den Verfall des (Hohe)Priestertums und die unwürdigen Zustände in den beiden Jahrhunderten vor dem Jüdischen Krieg. Nicht das Priestertum an sich, sondern eine Degeneration der hohepriesterlichen Amtsträger in den letzten Jahrhunderten der jüdischen Nation macht er neben den sich radikalisierenden Zeloten für diese Tragödie verantwortlich. (4) Fern jeder idealisierenden Überhöhung war die höchst realistische Wahrnehmung sowohl der Jerusalemer Priesterschaft und ihrer Aufgabe, als auch der Situation vor dem Jüdischen Krieg durch die Sadduzäer. Ihr realpolitisches Gespür für das Machbare, ihre Offenheit für hellenistische Einflüsse bei einem gleichzeitig höchst konservativen Interesse an der Bewahrung des status quo und der Sicherung von Nation, Tempel, Priestertum und damit auch der eigenen Privilegien, ließ sie zu den idealen Ansprechpartnern der römischen Besatzer werden – aber eben auch zu den beliebtesten Intimfeinden nahezu aller anderen jüdischen Religionsparteien. Als die größten Lobbyisten des real existierenden Priestertums sahen

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sie als einzige jüdische Religionspartei wohl kein Problem in der zeitgenössischen Kultpraxis. (5) Ein zu Josephus und dem Sadduzäismus völlig konträres, jedoch ebenfalls idealisierendes Priesterbild wird in der sog. „priesterlichen LeviTradition“ sichtbar. In der Rückprojektion des Priestertums auf den JakobSohn Levi und dessen idealisierender Beschreibung als weisheitlicher Priester und königlicher Herrscher wird die Priesterkonzeption einer Gruppe sichtbar, die mit dem priesterlichen Amt Levis ein rigoroses antihellenistisches Ethos und eine scharfe Kritik an den aus ihrer Sicht laxen und durch exogame Ehen disqualifizierten zeitgenössischen Priesterschaft verband. Gleichzeitig scheint die Rückprojektion priesterlichen Seins auf die Erzväter, ja letztlich sogar bis auf Noah und Adam, die Absicht zu verfolgen, zur Kompensation der kultischen Defizite des Jerusalemer Priestertums ganz Israel ein priesterliches Sein im Sinne eines „Königreichs von Priestern“ (Ex 19,6; vgl. Jub 16,18; 33,20) zuzuschreiben. (6) Die langfristig vielleicht größte Konkurrenz für das jüdische Priestertum ging jedoch von Bewegungen und Gruppierungen aus, die dem Priestertum gegenüber zunächst einmal positiv gestimmt waren, ja seine Würde fraglos anerkannten und ihm mit entsprechender Hochachtung entgegentraten. Allerdings führten die faktischen Akzentsetzungen in Lehre und Leben dazu, dass das Priestertum in den Augen dieser Gruppierungen an Zentralität verlor. Dies gilt v.a. für den Pharisäismus und das Diasporajudentum. Aufgrund der alles dominierenden Orientierung am Gesetz erkannten die Pharisäer als Laienbewegung die hereditär begründete Position der Priester fraglos an. Es ist vielmehr ihr Profil einer Bildungs-, Heiligungs- und Erneuerungsbewegung mit dem Anspruch, die priesterlichen Heiligkeits- und Reinheitsstandards auf die alltäglichen Lebensvollzüge des ganzen Volkes zu übertragen, verbunden mit ihrer ungeheuren Popularität, die ihr volkspädagogisches und -missionarisches Anliegen de facto zu einer Konkurrenzbewegung zum etablierten Kultpersonal werden ließ. Zwar besaßen die Priester und Sadduzäer nach wie vor den höchsten politischen Einfluss, aber die Pharisäer hatten die Deutungshoheit über die theologischen Alltagsfragen erobert. Der pharisäische Einfluss auf das alltägliche Leben und Denken des am-ha-arez war langfristig weit bedeutender und wirkungsvoller als der (hohe)priesterliche Zugriff auf den Tempel und die Schalthebel der Macht. (7) Die stärkste Unterhöhlung des Priestertums ereignete sich aber möglicherweise dort, wo die Priester in höchstem Ansehen und Wertschätzung standen, nämlich in der Diaspora, wo die Mehrheit aller Juden gegen Ende der Epoche des zweiten Tempels lebte. Trotz der hohen identitätsstiftenden Funktion, die Tempel, Opfer und Priesterschaft für das Diasporajudentum

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hatte, und der unhinterfragten ideellen und finanziellen Förderung und Unterstützung, die von Rom bis Persien nach Jerusalem kam, war die „Lebensmacht“ des Alltags in der Diaspora und der Erfolg der Synagoge mit dem innovativsten Gottesdienst der antiken Welt zur größten Bedrohung des Jerusalemer Priestertums geworden. Wer im Alltag nicht mehr gebraucht wird, kann noch lange ideell verehrt und unterstützt werden, wird jedoch auf Dauer seine Relevanz verlieren. Folglich war für das Diasporajudentum die Tempelzerstörung und der Verlust aller Kultinstitutionen eine Tragödie, aber keine Katastrophe. Im alltäglichen Leben änderte sich für diese Juden fast nichts. Die Bewusstseinsbildung, die sich durch das Erfahrungsdefizit hinsichtlich des Kultes im diasporajüdischen Alltag vollzog, fand ihren philosophischen Ausdruck in der Theologie Philos von Alexandria. Obwohl Philo seinen Lesern das Jerusalemer Priestertum in den schönsten Farben schildern kann, enthält sein hermeneutischer Zugang zu den biblischen Texten bereits den Keim der Relativierung der jüdischen Heilsinstitutionen. Denn durch seine allegorisierende, moralisierende und spiritualisierende Interpretation relativierte er letztlich die Bedeutung der Jerusalemer Realien. Wenn diese lediglich eine symbolische und heuristische Funktion für die Erkenntnis eines tieferen, vergeistigten Sinngehalts haben, ist der Schritt zum Verzicht auf Tempel, Opfer und Priestertum als reale Größen nur noch eine Frage intellektueller und philosophischer Konsequenz. In Philos Deutung der Gestalt des Hohepriesters kommt zunächst unabhängig von seinem hermeneutischen Konzept das Verständnis priesterlichen Seins zum Ausdruck, das in den atl. Texten nur implizit sichtbar wurde. Philo beschreibt den jüdischen Hohepriester als den idealen, integren, vollkommenen und gottähnlichen Menschen, der letztlich die Restitution des sündlosen, paradiesischen Menschen verkörpert und auf dieser Grundlage zum Mittler zwischen Gott und dem gesamten Kosmos wird. (8) Sieht man einmal von den Sadduzäern und Flavius Josephus als den großen Fürsprechern des zeitgenössischen Priestertums ab, so sind bei allen behandelten Strömungen auch Bemühungen erkennbar, um eine als defizitär oder auch nur distanziert empfundene Kultpraxis durch die eine oder andere Form zu kompensieren. Geschah dies bei den Oniaden und dem yaḥad durch einen alternativen Kult(ort), so bemühten sich die Pharisäer, die Kreise hinter der priesterlichen Levi-Tradition und nicht zuletzt auch der yaḥad um eine Etablierung der priesterlichen Heiligkeitsstandards in abgestufter Form für das ganze Volk bzw. in den eigenen Kreisen. Möglicherweise geschah dies in der priesterlichen Levi-Tradition auch in der Absicht, die Gesamtheit des Volkes im priesterlichen Glanz eines „Königreichs von Priestern“ erscheinen zu lassen.

8 Ergebnis

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Die Ausweitung des priesterlichen Heiligkeitsideals auf das ganze Volk bzw. auf die Laien der eigenen Bewegung muss als eine Kompensation der priesterlichen Defizite und der damit drohenden Unheilssphäre verstanden werden. Weil in den Augen dieser Kreise das durch die Tora legitimierte, aber kultisch als unzulänglich empfundene Erbpriestertum die priesterliche Integrität und Vollkommenheit und in der Konsequenz das heilvolle „Sein vor Gott“ nicht mehr länger gewährleisten konnte, bemühte man sich um alternative Formen und Möglichkeiten der Kompensation. Letztlich müssen auch die Synagoge und die spiritualisierende Hermeneutik Philos als ein diasporajüdischer Ausdruck eines solch alternativen „Seins vor Gott“ verstanden werden, wiewohl das Diasporajudentum eine solche Deutung strikt von sich weisen würde, weil die Synagoge nie als konkurrierende Substitution des Tempels verstanden wurde. Faktisch ermöglichte aber sowohl die Synagoge wie die philonische Spiritualisierung der Kultrealien ein jüdisches „Sein vor Gott“ jenseits des Jerusalemer Kultes. (9) Wie stark die Prägekraft des priesterlichen Kultes in den letzten Jahrhunderten des zweiten Tempels verloren gegangen war, lässt sich unschwer am Wirken der jüdischen Wort- und Aktionspropheten im 1. Jh. n.Chr. belegen. So unterschiedlich Gestalten wie Johannes der Täufer, Theudas und die anonymen Volksführer aus Samarien oder Ägypten auch sein mochten, so deutlich wird an ihrem „Erfolg“, wie gering die Bindung des einfachen Volkes auf dem Lande zu den zentralen Heilsinstitutionen des Judentums in den Jahrzehnten vor dem Jüdischen Krieg noch war. Die rasche Bereitschaft, die eigenen Heilserwartungen vom Tempel und dem Priestertum weg auf neue „Heilskünder“ oder auch „Heilsbringer“ zu richten, signalisiert eine zunehmende Entfremdung zwischen den Priestern und dem Volk des Landes. Auch der Täufer etablierte mit seiner Umkehrtaufe eine Alternative zum kultischen Sündopfer, die zwar eine lange Tradition von Vergebungsmöglichkeiten jenseits des priesterlichen Kultes fortsetzte, aber nichtsdestotrotz von den Priestern als Provokation empfunden werden musste. Faktisch beanspruchte er die Rolle eines „rituellen Stellvertreters Gottes“, dessen Bußtaufe Vergebung jenseits der sühnenden Opfer vermittelte. (10) In sprachlicher Hinsicht konnten wir, abgesehen von den erwähnten atl. Belegen und dem Menschentempel in den Schriften der Qumrangemeinschaft, nur bei Philo eine programmatische Metaphorisierung der Kultbegriffe beobachten, diese jedoch gleich im großen Stil. Es handelt sich jedoch nur bedingt um ein analoges Phänomen zum Neuen Testament. Anders als bei Paulus und im 1. Petrusbrief vollzieht sich in der spiritualisierenden Exegese Philos eine Ablösung des Begriffs von seinem ursprünglichen Bedeutungsbereich. Die konkreten Kultrealien verlie-

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Kapitel IV: Der priesterliche Kult im Frühjudentum

ren zwar sowohl bei Philo wie im Neuen Testament an Bedeutung. Aber während bei Paulus und im 1. Petrusbrief neue Erfahrungen mit Hilfe des bildspendenden Bereichs des Kultes kategorisiert und konzeptualisiert werden, überträgt und spiritualisiert Philo die Kultbegriffe mit Hilfe seiner Allegorese in einen völlig anderen, bereits philosophisch konzeptualisierten, mikro- oder makrokosmischen Kontext. Der bildspendende Bereich des Kultes mutiert bei Philo auf diese Weise zum „Uneigentlichen“ und „Symbolischen“, während der bildempfangende Bereich des Inneren, Seelischen und Immateriellen als die eigentliche Wirklichkeit präsentiert wird. (11) Auch von einem Allgemeinen Priestertum kann in frühjüdischer Zeit noch keine Rede sein. Zwar gibt es eine Reihe von Stellen bei Philo, welche dem gesamten jüdischen Volk einen priesterlichen Status zusprechen und sogar das Volk Israel als Archetypus des levitischen Priestertums definieren, aber hinter diesen Belegen steht weniger ein theologisches Konzept als vielmehr die Absicht, eine für philosophische Ohren anstößige Kultordnung zu erklären. Während in den Qumranschriften die strikte Unterscheidung zwischen Priestern und Nicht-Priestern eher verschärft als nivelliert wird, bemühen sich die Pharisäer und die Kreise hinter der priesterlichen Levi-Tradition um eine Verringerung der unterschiedlichen Heiligkeitsstandards zwischen Priestern und Nicht-Priestern, ohne freilich den offenbarungstheologisch begründeten, ontischen Unterschied in Frage zu stellen. Insgesamt bleibt die frühjüdische Literatur in dieser Hinsicht eher hinter den Hoffnungen und Erwartungen des Alten Testaments zurück. (12) Wenn wir uns nun der Metaphorisierung des Priesterbegriffs im Neuen Testament zuwenden, dann gilt es diesen in den ersten vier Kapiteln erarbeiteten Hintergrund im Blick zu behalten. Das Neue Testament erwuchs auf dem Hintergrund einer kultisch und priesterlich organisierten Welt und zwar sowohl im jüdischen, wie im hellenistisch-römischen Raum. Während die pagane Welt jedoch durch ein polytheistisches Religionsverständnis und eine Pluralität von Kulten, Tempeln und Priesterschaften geprägt war, die es ermöglichte, theologische Spannungen und unterschiedliche Kultverständnisse durch eine weitere Pluralisierung auszugleichen, war dies dem Judentum aufgrund der Kultzentralisation verwehrt. So musste es im Judentum in dem Moment zu unauflösbaren Spannungen kommen, in dem geschichtliche Umbrüche wie die Zerstörung des ersten Tempels und das babylonische Exil, sowie kulturelle Einflüsse wie die Hellenisierung eine Perpetuierung der überkommenen Ordnung unmöglich machten. Diese Situation verschärfte sich durch die jüdische Kult(ur)- und Religionskrise unter Antiochus IV. Epiphanes, der ihr folgenden Herrschaft der Hasmonäer, die römische Eroberung und die Herrschaft Herodes des Großen.

8 Ergebnis

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(13) Die verschiedenen Strömungen des Judentums im Land Israel reagierten in ganz unterschiedlicher Weise auf diese Krise(n) des Kultes und des Priestertums. Abgesehen von Josephus und den Sadduzäern war aber allen gemeinsam, dass sie um alternative Formen eines heilvollen „Seins vor Gott“ jenseits der priesterlichen Mediation rangen. Dies galt auch für das Diaporajudentum, das den Jerusalemer Kult zwar nicht als defizitär, wohl aber als distanziert empfand. Das Neue Testament muss somit im Kontext eines Judentums gelesen werden, das unter einer als depraviert betrachteten Priesterschaft litt, um seine elementaren kultischen Grundlagen stritt und in zahlreichen Strömungen nach alternativen Möglichkeiten eines heilvollen Lebens vor seinem Gott suchte.

Kapitel V

Jesus, der Tempel und das Jerusalemer Priestertum in den synoptischen Evangelien Kapitel V: Jesus, der Tempel und das Jerusalemer Priestertum

Die spärliche Erwähnung der Jerusalemer Priester ist angesichts der nach wie vor überragenden Bedeutung dieser Institution im zeitgenössischen Judentum ein merkwürdiges Phänomen im Neuen Testament.1 Die Priester kommen in den Evangelien und der Apostelgeschichte – sieht man einmal von der hohepriesterlichen Aristokratie ab – über eine „Statistenrolle“ kaum hinaus.2 Das Image der Priesterschaft im Neuen Testament – die Hohepriesterschaft muss gesondert bewertet werden – ist in der Regel neutral. Lediglich im Gleichnis vom barmherzigen Samariter werden dem vorbeiziehenden Priester und dem folgenden Leviten als Vertretern der Heilsinstitutionen Israels negative Rollen zugewiesen – und dies auch nur in narrativer, nicht expliziter Weise. Das Priestertum als solches wird dabei aber nicht in Frage gestellt. Mit der erwähnten Ausnahme von Lk 10,31 werden Priester in der erzählenden Literatur nirgendwo theologisch qualifiziert. Sie kommen lediglich in funktionaler Hinsicht in Betracht.3 Sieht man einmal von der Konfrontation mit den Hohepriestern im Zuge der Passion, v.a. im Prozess und dem vorausgehenden „VollmachtsDiskurs“ (Mk 11,27–33parr) ab, so bleibt Jesu Beziehung zum Jerusalemer Priestertum eine indirekte. Diese mittelbare Beziehung kommt vor allem dann in den Blick, wenn Jesus die Vollmacht zur Sündenvergebung beansprucht (z.B. Mk 2,1–12) oder sich mit dem Tempel auseinandersetzt (Mk 11,15–17parr; 14,57–59/Mt 26,60f.).4 Direkte Kontrahenten Jesu sind vor 1 Das jüdische Priestertum wird im Neuen Testament lediglich in den Evangelien, in der Apostelgeschichte, im Hebräerbrief und in der Johannesapokalypse erwähnt. 2 Mt 8,4/Mk 1,44/Lk 5,14; Mt 12,4f./Mk 2,26/Lk 6,4; Lk 1,8f.; 10,31; 17,14; Joh 1,19; Act 6,7; Hebr 7,5.11–14.20.24; 10,11; Apk 1,6; 5,10; 20,6. 3 Mt 8,4/Mk 1,44/Lk 5,14; Mt 12,4f./Mk 2,26/Lk 6,4; Lk 1,9; 17,14. 4 Sehr fraglich ist, ob im Markusevangelium ein priesterliches Bild Jesu gezeichnet wird, welches BROADHEAD, Jesus, 132f.; ähnlich CHEUNG, Priest, 269f., hinter den vier Perikopen in Mk 1,39–45; 2,1–12; 2,23–28 und 3,1–7a vermutet. In der ersten Perikope greift Jesus in die Weisungsbefugnis des Priesters gerade nicht ein. Er heilt den Aussätzigen, aber die offizielle Bestätigung überlässt er dem Priester. Die Perikopen über das Ährenraufen am Sabbat (2,23–28) und die Heilung am Sabbat (3,1–7a) stellen eher eine Auseinandersetzung mit der Tora im Licht des Kommens des Messias-Menschensohns

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Kapitel V: Jesus, der Tempel und das Jerusalemer Priestertum

allem „die Pharisäer und Schriftgelehrten“, selten die Sadduzäer5 und einmal die Herodianer6. Die seltene Erwähnung von Priestern schließt freilich nicht aus, dass unter den genannten Kontrahenten aus den diversen Religionsparteien auch Priester waren. Vor allem unter den mit Jesus diskutierenden Sadduzäern dürfte dies sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit der Fall gewesen sein. Zu bedenken ist hierbei, dass ein gewöhnlicher Priester lediglich zwei Wochen im Jahr im Tempel zu amtieren hatte und sein Priesterdienst im Blick auf Arbeitsaufwand und -zeit nach modernem Verständnis in der Regel eher eine Art „Neben- bzw. Minijob“ war. Dennoch war das Priesteramt als klassisches Erbpriestertum auch noch in ntl. Zeit in hohem Maße prestigeträchtig, wie Josephus‘ Betonung seiner priesterlichen Abstammung in Vit 1,1 eindrücklich zeigen. Dass die ntl. Evangelisten die von ihnen erwähnten Akteure weniger über ihre hereditäre Identität als vielmehr über ihre „Parteigängerschaft“ – von einer „Mitgliedschaft“ zu reden wäre wohl anachronistisch – bei einer der jüdischen Religionsparteien identifizieren, muss deshalb ihrer Wahrnehmung und ihrem Darstellungsinteresse zugeschrieben werden.7 dar als eine Inanspruchnahme priesterlicher Vorrechte. Dies wird durch den Umstand unterstrichen, dass die Konfliktpartner die an der Toraobservanz des Volkes interessierten Pharisäer sind und nicht die Priester. In Mk 2,1–12 ist es umstritten, ob Jesus ein priesterliches Prärogativ der Sündenvergebung in Anspruch nimmt oder nicht, →V.1.2. Selbst wenn dies der Fall wäre, darf aber bezweifelt werden, dass sich auf diese insgesamt magere Evidenz ein priesterliches Image Jesu gründen lässt. CHEUNG, Priest, 271, will Jesu Priesterschaft von seiner Taufe duch den Priestersohn Johannes den Täufer ableiten, die er nach Num 8,6f. als priesterliche Ordination versteht. Dies interpretiert jedoch mehr in den Vorgang hinein, als faktisch ausgesagt wird. Auch G. FRIEDRICHS umfangreicher Versuch, in den Evangelien eine verschleierte Hohepriesterchristologie nachzuweisen, vgl. DERS., Beobachtungen zur messianischen Hohepriestererwartung in den Synoptikern, 56–102, die jedoch an keiner Stelle explizit geäußert wird, muss als gescheitert betrachtet werden. Mehr als eine Vielzahl von vagen Vermutungen, Erwägungen, Spekulationen und Motivkombinationen, die in allen christologisch relevanten Evangelienbelegen eine Hohepriesterchristologie belegen sollten, konnte FRIEDRICH nicht präsentieren. Vielmehr verdient das Fazit von SÄNGER, Amt, 634, uneingeschränkte Zustimmung: „Die Evangelien sind also historisch und sachlich im Recht, wenn sie keinen der zuvor genannten Titel oder Funktionsbegriffe [sc. i``ereu,j; avrciereu,j] auf Jesus übertragen.“ 5 Mt 16,1–6; Mt 22,23–33/Mk 12,18–27/Lk 20,27–38. 6 Mt 22,15–22/Mk 12,13–17/Lk 20,20–26. 7 Bedenkenswert ist die These von SCHWARTZ, Scribes, 89–101, der hinter den in den Evangelien häufig erwähnten „Schriftgelehrten“ die Priester und Leviten des Alten Testaments und Frühjudentums vermutet. Wenn in den Evangelien von den „Schriftgelehrten und Pharisäern“ die Rede ist, dann sind damit nach SCHWARTZ die beiden wichtigsten religiösen Gruppen des antiken Judentums umrissen. Die Priester und Leviten würden somit in den Evangelien v.a. durch ihre Aufgabe als Lehrer, Schreiber und Ausleger der

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Lässt sich so die Kargheit der Referenzen erklären, so ist es dennoch erstaunlich, dass sich die Streitgespräche Jesu – wohl mit Ausnahme des Tempelwortes (Mk 14,58par) – nicht ein einziges Mal um den Tempel und den priesterlichen Dienst drehen. Überhaupt finden sich in den synoptischen Evangelien nicht nur relativ wenige Jesuslogien mit Bezug auf Priester/Priestertum, sondern auch mit Bezug auf die zentrale Institution des Tempels.8 Daraus ergibt sich das Problem, dass das Verhältnis Jesu zu dieser zentralen Institution des zeitgenössischen Judentums wesentlich schwerer zu bestimmen ist als beispielsweise sein Verhältnis zu Pharisäern, Schriftgelehrten und Sadduzäern. Es ist deshalb zu fragen, welche Haltung Jesu sich aus den wenigen Referenzen ergibt und welche Nähe bzw. Distanz zu Tempel und Priestertum sich daraus ableiten lässt.9 Weiter ist zu fragen, in welchem Verhältnis diese Haltung zur Kult-, Priester- und Tempelkritik der atl. Propheten und zu den tempel- und priestertumskritischen Stimmen aus frühjüdischer Zeit steht. Im Licht dieser Fragestellungen soll zunächst ein kurzer Überblick über kleinere, zur Thematik gehörende Evangelientraditionen gegeben werden, um anschließend ausführlicher das sog. Tempelwort und die Tempelaktion Jesu (Mk 11,15–17parr) zu behandeln. Abschließend steht die Tradition Tora bestimmt, weniger durch ihre priesterliche Identität und mediatorische Funktion im Tempelkult. Das Problem dieser These ist, dass die fast schon stereotype Formel „Pharisäer und Schriftgelehrte“ eine Homogenität beider Gruppen nahelegt, die zwischen Pharisäern und Priestern so nicht bestand, →IV.4.2. 8 Vgl. FREY, Temple, 451: „… the basic elements of his [sc. Jesus’] message and of discipleship seem remarkably unrelated to, and therefore independent of and distant from, the Temple.“ Dies stellt eine auffallende Parallele zu Johannes dem Täufer dar. Dem entspricht auch die Beobachtung SCHLATTERS, Theologie, 388, dass Jesus zur Charakterisierung des Verhältnisses seiner Jünger zu Gott, wie auch seiner eigenen Beziehung zu seinem himmlischen Vater kultische Sprache und Formeln vermeidet, das Verhältnis vielmehr mit Bildern und Begriffen sozialer Beziehungen wie Vater – Sohn oder Herr – Knecht beschreibt. 9 A. HOGETERP, God’s Temple, 193, hat jüngst die These vertreten, dass Jesu Tempelpolemik eine sozialethische Kritik an den priesterlichen Funktionsträgern überhaupt impliziere. Diese Kritik sei traditionsgeschichtlich in der prophetischen Kultkritik und soziologisch in der allgemein-galiläischen Distanz oder gar Feindseligkeit gegenüber der herodianischen Dynastie und ihrer Nähe zum „priestly establishment“ verwurzelt, vgl. a.a.O., 120–130.145–159.172.179; ähnlich W ARDLE, Jerusalem Temple, 169–191. Zu der von BROADHEAD, Jesus, 125.128.143 behaupteten kritischen Distanz der Galiläer zu Tempel und Priestertum vgl. auch das zusammenfassende Urteil von GOODMAN, Galilean Judaism, 617: „It seems certain that in at least a few respects the cultural and religious customs of the Galilaeans differed from those of the Judaeans, but the theological significance, if any, of such divergences cannot now be ascertained. If a distinctive Galilaean Judaism existed in the first century CE, as is quite possible, its nature is likely to remain unknown.“

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vom gespaltenen Tempelvorhang (Mk 15,38parr) im Mittelpunkt des Interesses.

1 Jesustraditionen zum Thema „Priester“ und „Tempel“ 1 Jesustraditionen zum Thema „Priester“ und „Tempel“

Die Entstehung der Jesustradition und der daraus erwachsenen Evangelien beruhen auf einem höchst komplexen Prozess, der nach wie vor in weiten Teilen historisch im Dunkeln liegt. Einigkeit besteht in der Forschung darin, dass die Evangelien erst nach den unumstrittenen Paulusbriefen verfasst wurden. Einigkeit besteht aber auch darin, dass sie auf Traditionen beruhen, die wesentlich älter sind und von denen viele einen Haftpunkt und damit Ursprung im Leben Jesu selbst haben. Keine Einigkeit besteht freilich nach wie vor in der konkreten Bestimmung dieser vagen Angabe „viele“. Gewöhnlich wird deshalb in diachronen Darstellungen mit den nach dem Urteil historisch-kritischer Wahrscheinlichkeit auf Jesus selbst zurückgehenden Traditionen begonnen, evtl. gefolgt von mutmaßlich frühen urchristlichen Traditionen. An zweiter Stelle steht dann die Analyse der unumstrittenen Paulusbriefe, der sich dann in der Reihenfolge der jeweiligen historischen Einschätzung die Analyse der restlichen Briefliteratur und der Perspektive der Evangelisten anschließt. Wenn an dieser Stelle von diesem üblichen Verfahren abgewichen wird, dann hat dies zwei Gründe: Zum einen scheinen die wichtigsten Jesustraditionen im Umkreis des Themas „Priester“ und „Tempel“, konkret das Tempelwort (Mk 14,58parr) und die Tempelaktion Jesu (Mk 11,15– 17parr), nach Einschätzung der weit überwiegenden Mehrheit der Kommentatoren im Kern authentisch zu sein.10 Zum Zweiten sind die übrigen in allen synoptischen Textgattungen verstreuten Notizen, Hinweise und Erwähnungen im Blick auf Priester und Tempel so peripher, dass eine historische Analyse nur wenig zur Klärung der hier zur Debatte stehenden Fragen beitragen würde.11 1.1 Die Heilung des Aussätzigen (Mk 1,44parr) Am Beginn des Markusevangeliums berichtet der Evangelist von der Heilung eines Aussätzigen (Mk 1,40–45; vgl. Mt 8,2–4/Lk 5,12–16).12 Im An10

Vgl. →Anm. 63 und 106. Ein ähnliches Verfahren wählt auch SÄNGER, Amt, 623, der in Anbetracht der Unverhältnismäßigkeit des aufwändigen Verfahrens im Verhältnis zur gestellten Frage das Zeugnis der Evangelien pauschal dem des Paulus vorordnet. 12 Nach GNILKA, Mk I, 91, spiegelt V. 43f. das palästinisch-judenchristliche Milieu einer Zeit wider, in der der Tempel noch stand und die judenchristlichen Gemeinden vor der Frage standen, wie sie sich hinsichtlich bestimmter Gesetzesfragen verhalten sollten. 11

1 Jesustraditionen zum Thema „Priester“ und „Tempel“

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schluss an die Heilung und das Schweigegebot (V. 44a) schickt Jesus den Geheilten zur offiziellen Bestätigung der Heilung zum Priester (vgl. Mt 8,4; Lk 5,14; 17,14; vgl. Lev 13,45–14,9, besonders 14,2)13 und zum Reinigungsopfer in den Tempel (vgl. Lev 14,10–32).14 Als Begründung fügt Jesus eivj martu,rion auvtoi/j an. Damit ist angedeutet, dass es nicht mehr um die Toraobservanz an sich geht (a] prose,taxen Mwu?sh/j), sondern nur noch um den Respekt gegenüber den jüdischen Autoritäten und Gepflogenheiten. Jesus will nicht als Gesetzesbrecher erscheinen.15 Eine Polemik gegenüber dem Priestertum ist der Perikope beim besten Willen nicht zu entlocken, im Gegenteil.16 Jesus respektiert die Ordnungsund Kontrollfunktion der Priester. Gleichzeitig macht Jesus deutlich, dass die Vorstellung beim Priester an sich nicht mehr nötig wäre und bringt dadurch eine unübersehbare Distanz zu dieser Institution zum Ausdruck. Im Hintergrund steht freilich keine Kritik kultischer Defizite, sondern Jesu messianischer Anspruch, der die Gültigkeit der Tora an eine heilsgeschichtliche Grenze führt (vgl. Lk 16,16/Mt 11,13). 1.2 Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung (Mk 2,1–12) Die Perikope17 über Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung18 ist in diesem Zusammenhang deshalb von Bedeutung, weil nach der These von E. LohEs ist jedoch sehr die Frage, ob der erzählte Kasus und die überlieferte Anweisung Jesu irgendeinen Nutzen für judenchristliche Gemeinden hätten haben können. Im Ganzen ist eine Authentizität der Perikope kaum auszuschließen. 13 Mt 8,4 ergänzt im Unterschied zu Mk 1,44/Lk 5,14 to. dw/ron, lässt aber bezeichnenderweise peri. tou/ katarismou/ sou weg, weil dies für Matthäus ein christologisches Geschehen ist, das nicht mehr durch eine Ordnung Moses normiert ist. 14 Das Schweigegebot und der Auftrag, zum Priester zu gehen, schließen sich nicht aus. Der Priester soll und muss von der Heilung gar nichts erfahren, sondern lediglich die Genesung bezeugen; so richtig gesehen von GNILKA, Mk I, 90f., ähnlich GRUNDMANN, Mk, 67. 15 Ähnlich P ESCH, Mk I, 146: „Der Erzähler legt Wert darauf, Jesus in Übereinstimmung mit dem Gesetz zu zeigen, dessen Anordnung (in leichter Differenz zu Lev 13,1; 14,1 nicht auf Gott selbst, sondern) auf Mose zurückgeführt wird.“ 16 So auch ÅDNA, Stellung, 434f.438; SCHMITHALS, Mk I, 145; DUNN, Purity, 461, und GNILKA, Mk I, 93: „Die Berührung ist nicht Verletzung der jüdischen Reinheitsvorschrift, sondern Übertragung der heilenden Kraft.“ 17 Die Authentizität und Integrität der Perikope ist heftig umstritten, vgl. B ULTMANN, Geschichte, 13, und KLAUCK, Frage, 225–236. Allerdings verdankt sich auch die im Gefolge BULTMANNs häufig behauptete Abgrenzung von V. 5–10 in eine reine Heilungsgeschichte einem formgeschichtlichen Vorurteil, das weniger auf exegetischen Evidenzen denn auf dogmatischen Vorurteilen ruht. Die Integrität der Perikope ist nach P ESCH, Mk I, 158; SUNG, Vergebung, 210–215; HOFIUS, Zuspruch, 131f., und ZIMMERMANN, Krankheit, 239–242, nicht anzuzweifeln. ZIMMERMANN, Krankheit, 240f., zeigt, dass die Perikope nicht nur hinsichtlich ihrer narrativen Gestaltung eine Einheitlichkeit nahelegt, sondern auch traditionsgeschichtlich im Blick auf den Zusammenhang von Krank-

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meyer und W. Grundmann Jesu Vergebungszuspruch einen Eingriff in die Rechte und Privilegien des Priestertums darstellt.19 Nun hat O. Hofius aber gezeigt, dass sich ein derartiges priesterliches Privileg der Absolution im Alten Testament kaum nachweisen lässt.20 Falls Priester in irgendeiner Weise bei der Zueignung der göttlichen Absolution an den Einzelnen beteiligt gewesen sein sollten, dann allenfalls als Mittler eines von Gott selbst ausgehenden Vergebungszuspruchs bzw. als Segensspender, wobei dieser Segen als ein impliziter Vergebungszuspruch verstanden wurde.21 Doch selbst wenn die Priester keine unmittelbare Absolutionsvollmacht hatten, so war die göttliche Absolutionskundgabe doch mit ihrem Dienst verbunden. Der durch Jesu Vergebungszuspruch ausgelöste Konflikt mit den Schriftgelehrten hat seine Wurzel deshalb nicht nur in Jesu Eingriff in das Gottesrecht der Sündenvergebung (vgl. Mk 2,7), sondern durchaus auch im Eingriff in ein zumindest im priesterlichen Kult verortetes Institut der Mitteilung dieser Vergebung. O. Hofius hat weiter gezeigt, dass Jesu Vergebungszuspruch als vollmächtige Zusage der von Gott geschenkten Vergebung zu verstehen ist, wie sie im Alten Testament öfter belegt (vgl. 2Sam 12,13; Jes 6,7; Sach 3,4) und mit dem ntl. Amt des Bindens und Lösens von Sünde (Mt 18,18, Joh 20,23) vergleichbar ist.22 Jesus handelt nicht in einer nur „abgeleiteten Vollmacht eines ‚Gesandten‘„, sondern in „der unmittelbaren Vollmacht Gottes selbst“.23 Er spricht in Mk 2,5 nicht etwas zu, was Gott im Himmel vollzieht, sondern er vollzieht in eigener, aber eben durch und durch göttlicher Vollmacht, was er zusagt. Sachgemäß geht es also nicht um einen Vergebungszuspruch, sondern um ein Machtwort und einen „Vergebungs-

heit/Sünde bzw. Heilung/Vergebung z.B. von Jes 33,22–24 und v.a. Ps 103,3 her als Einheit zu sehen ist: „Weder aus sprachlich-formalen, traditionsgeschichtlichen noch aus inhaltlichen Gründen ist es deshalb gerechtfertigt, die Perikope auseinander zu reißen.“ Vgl. dagegen WREDE, Heilung, 354–358; B ULTMANN, Geschichte, 12f., LÜHRMANN, Mk, 56f. 18 Neben den Kommentaren vgl. v.a. KLAUCK, Frage; SUNG, Vergebung, 208–221; HOFIUS, Zuspruch; DERS., Vergebungszuspruch; ZIMMERMANN, Krankheit. 19 Vgl. LOHMEYER, Mk, 52; ders., Mt, 169; GRUNDMANN, Mk, 57. 20 HOFIUS, Vergebungszuspruch, 57–69. Als atl. Beleg kommt nur Ps 130,5c in Betracht, wo der Beter nach seinem Sündenbekenntnis auf das „Wort“ Jahwes „wartet“. In der samaritanischen Literatur lassen sich dagegen mehr Hinweise finden, dass die aaronidischen Priester eine mittlerische Rolle bei der Absolutionserteilung spielten, wobei unklar bleibt, ob eine solche nicht in der Erteilung des aaronidischen Segens als enthalten gedacht wurde, vgl. HOFIUS, a.a.O., 62–66. 21 HOFIUS, Vergebungszuspruch, 67–69; ebenso KLAUCK, Frage, 248. 22 HOFIUS, Zuspruch, 126ff. 23 HOFIUS, Zuspruch, 129 (kursiv bei H.).

1 Jesustraditionen zum Thema „Priester“ und „Tempel“

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akt“24 analog zu Mk 5,41/Lk 8,54; Lk 7,14; 13,12 und Joh 11,43, der über die frühjüdischen Formen zur Erlangung von Vergebung weit hinausgeht (vgl. dazu den Petitexkurs in →IV.5.1). Die Entrüstung der Schriftgelehrten endzündet sich deshalb am impliziten Vollmachtsanspruch Jesu,25 der seinen Sachgrund in Jesu Anspruch hat, als messianischer Menschensohn und Gottesknecht stellvertretend den Sühnetod zur Erlösung „für die Vielen“ (Mk 10,45; 14,22–24) auf sich zu nehmen.26 Die Provokation durch die in göttlicher Vollmacht zugesprochene Vergebung ist eine indirekte, insofern die Sündenvergebung eine kultische Verankerung hatte. Es ist aber im Rahmen der Perikope nirgendwo erkennbar, dass Jesus mit seinem Handeln sich in direkter Weise gegen die Priesterschaft wendet bzw. deren Rechte in Frage stellt. Die Priester sind bei seinem Handeln noch nicht einmal ansatzweise im Blick, und doch werden sie zwangsläufig durch Jesu messianischen Anspruch und sein in göttlicher Vollmacht vollzogenes Heils- und Heilungshandeln in ähnlicher Weise tangiert, wie wir es schon beim Täufer beobachten konnten (→IV.5.1). Indem Jesus die göttliche Vergebung der Sünden zuspricht, übt er de facto die Funktion des Sühne vermittelnden Kultes und des Tempels aus. 1.3 Versöhnung vor Opfer (Mt 5,23f.) Ebenso beiläufig wie die Aufforderung an den Gelähmten, sich einem Priester zwecks Feststellung der wiederhergestellten Reinheit vorzustellen (Mk 1,44), erscheint im Rahmen der Bergpredigt der Hinweis, dass zuerst ein unversöhntes Verhältnis (zum Bruder) geklärt werden muss, bevor eine Opfergabe (im Tempel?) dargebracht werden kann.27 Der Tempelkult wird hier als gültig vorausgesetzt und in keiner Weise kritisiert oder in Frage gestellt.28 24

HOFIUS, Zuspruch, 131.133; gegen P ESCH, Mk I, 156, und KUHN, Ältere Sammlungen, 56f., und auch gegen die entsprechende Formbestimmung als „stilgemäße Zuspruchsformulierung“ von T HEISSEN, Wundergeschichten, 166 bzw. 68f., und das damit verbundene Verständnis der passiven Verbform als passivum divinum. HOFIUS, Zuspruch, 137, verweist in diesem Zusammenhang auf den Befund in der rabbinischen Literatur, wonach „die Gewährung der Vergebung im unmittelbaren Vergebungszuspruch durch eine […] passivische Redeweise ausgedrückt werden kann“ (kursiv bei H.). 25 HOFIUS, Zuspruch, 129f. Nicht von ungefähr ist ein ähnliches „Entsetzen“, vgl. das Verb evxi,stasqai in V. 12, auch in anderen Wundergeschichten überliefert, in denen die Vollmacht Jesu im Mittelpunkt steht, vgl. Mk 5,21–43: V. 42; Mk 6,45–52: V. 51. 26 Der Konnex zwischen dieser Perikope und dem Passionsgeschehen besteht im Blasphemievorwurf, der sowohl in Mk 2,7 von den Schriftgelehrten als auch in Mk 14,61ff. vom Hohepriester geäußert wird, vgl. HOFIUS, Zuspruch, 141. 27 LUZ, Mt I, 335.344f., geht von der Authentizität des Logions aus. 28 Ebenso ÅDNA, Stellung, 436.438.

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Kapitel V: Jesus, der Tempel und das Jerusalemer Priestertum

1.4 Jesus und die Tempelsteuer (Mt 17,24–27) Ein ganz ähnlicher Dialog wie bei der Heilung des Aussätzigen (→V.1.1) findet sich in der Perikope über die Zahlung der Tempelsteuer29 in Mt 17,24–27.30 Auch hier wird deutlich, dass die Zahlung der Tempelsteuer nicht mehr an und für sich notwendig wäre, Jesus aber keinen unnötigen Anstoß bei den Tempelsteuereinnehmern erregen möchte.31 Unübersehbar ist auch in dieser Perikope die Distanz zum Tempel und seiner Finanzierung, die jedoch weder in einer sozial- oder regionalgeschichtlichen Kritik am Jerusalemer Tempel und/oder Priestertum32 noch in einer grundsätzlichen Infragestellung des Tempels begründet ist,33 sondern wiederum in Jesu messianischer Sendung, der sich hier als „Sohn“ des Tempeleigentümers versteht (Mt 17,25f.).34

29 Zur sog. Halbschekel- oder Doppeldrachmensteuer vgl. den Exkurs bei LUZ, Mt II, 529ff. Zum Verhältnis Jesu zur Steuerfrage vgl. neuerdings auch die Habilitationsschrift von N. FÖRSTER, Steuerfrage. 30 LUZ, Mt II, 531, hält es für zwingend, dass die Perikope eine Gemeindebildung ist, weil die Steuereinnehmer die Frage an den Jüngersprecher Petrus als Vertreter der nachösterlichen judenchristlichen Gemeinde stellen. Der Sitz im Leben sei die Anfrage einer kultkritischen Gemeinde, die sich nicht mehr an das Zeremonialgesetz gebunden wusste, aber in den Jahren vor dem Jüdischen Krieg nach Orientierung suchte. 31 Vgl. ÅDNA, Stellung, 437, und DEINES, Gerechtigkeit, 107: „Nach 17,27 lehrt Jesus seine Jünger, sich der religiösen Ordnung (Tempelsteuer) zu beugen, um keinen Anstoß zu erregen, auch wenn das neue Sein der Jünger als ‚Söhne‘ sie davon eigentlich frei macht.“ 32 Nach LUZ, Mt II, 534, vertrat „[d]er Galiläer Jesus … in der Praxis vielleicht die alte Position der Sadduzäer, daß die Spenden an den Tempel freiwillig sein sollten, aber seine Gründe waren andere. Er wandte sich gegen eine von den Pharisäern eingeführte Praxis, aber nicht gegen die Tora, die auch nach der Meinung mancher damaliger Juden gar nicht von einer Pflicht zu einer jährlichen Tempelsteuer sprach.“ In der Tat wendet sich Jesus im Matthäusevangelium an keiner Stelle gegen die Tora. Allerdings ist sie als Mittel zur Erlangung der Gerechtigkeit für ihn funktions- und bedeutungslos, weil sie in Christus „erfüllt“ ist, vgl. Mt 5,17. Ihre Einhaltung dient lediglich dem Frieden innerhalb des Volkes Israel. Das war für Judenchristen der selbstverständliche Teil ihrer Torafrömmigkeit – nicht mehr, aber auch nicht weniger, vgl. DEINES, Gerechtigkeit, 256 und passim. 33 LUZ, Mt II, 533. 34 Dass Jesus die Tempelsteuer zunächst nicht bezahlt, steht nicht im Zusammenhang mit seiner galiläischen Herkunft, sondern mit seiner Sohnschaft. Vgl. LUZ, Mt II, 532: „‚Söhne‘ sind die Christen, weil ihre Beziehung zum ‚König‘ nicht mehr in einem Kult gründet, wo man wie die ‚Fremden‘ Steuern bezahlt.“ Ähnlich VOLLENWEIDER, Freiheit, 176: „Das eschatologische Sohnverhältnis tritt an die Stelle des Tempels und suspendiert das Kultgesetz in seinem Herzstück“ (kursiv bei V.).

1 Jesustraditionen zum Thema „Priester“ und „Tempel“

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1.5 Jesu Lehrtätigkeit im Tempel Im Zusammenhang der letzten Passawoche vor Jesu Passion berichten alle vier Evangelien von Jesu Lehrtätigkeit im Tempel (Mk 11,17; 12,35; Mt 21,23; Lk 19,47; Joh 8,2; 18,20f.), was keine ungewöhnliche Praxis im zeitgenössischen Judentum war.35 Nach Lk 19,47 war dies in jener Woche eine „tägliche“ Gewohnheit (vgl. Mt 26,55/Mk 14,49/Lk 22,53/Joh 18,20f.). Möglicherweise war der Ort dieser Lehrtätigkeit in der Nähe des Opferkastens (gazofulaki,oj, vgl. Mk 12,41.43/Lk 21,1; Joh 8,20).36 Eine explizite Kritik am Priestertum oder dem Tempelkult wird hier nicht hörbar.37 1.6 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,29–37) Dieses Gleichnis ist der einzige synoptische Text, in dem Priester und Leviten als Mitglieder eines religiösen Standes in ein kritisches Licht gerückt werden.38 Ihre Angst vor kultischer Unreinheit durch die potentielle Berührung eines Toten lässt sie als unmenschlich und herzlos erscheinen. Ihre Priorisierung der kultischen Reinheit gegenüber tätiger Nächstenliebe enthält auch einen kultkritischen Akzent. Eine grundsätzliche Priestertumskritik oder Kultkritik ist dies aber nicht.39 Dass mit dem Priester und dem Leviten der gesamte zeitgenössische Tempelkult mitsamt seinem Personal in den Fokus einer Sozialkritik gerate, bleibt eine unbeweisbare Spekulation.40 Es ist lediglich die Vorrangigkeit kultischer Reinheit vor aktiver Nächstenliebe, die angeprangert wird.

35

Vgl. Jos Bell 1,648–651; Ant 17,149–155. Ein Problem stellt die exakte Identifikation des gazofulaki,oj dar. Der Begriff kann sowohl den Opferkasten bezeichnen, in den die Besucher Geldmünzen zur Finanzierung der Opfer warfen, als auch die Schatzkammer des Tempels im inneren Tempelbezirk. Der Kontext spricht jedoch für den Opferkasten. 37 Anders HOGETERP, God’s Temple, 174. 38 GANSER-KERPERIN, Zeugnis, 59, macht darauf aufmerksam, dass im lukanischen Doppelwerk mit Ausnahme des Zacharias in Lk 1,5 Priester nicht primär als Individuen in den Blick kommen, sondern vor allem als Gruppe relevant werden, was sich schon daran zeigt, dass der Priestertitel meistens im Plural Verwendung findet. Auch dort, wo einzelne Priester erwähnt werden, vgl. Lk 1,5; 5,14; 10,31, kommen sie vor allem als Teil der Gesamtheit aller Priester in Betracht. 39 Anders wieder HOGETERP, God’s Temple, 179: „Jesus‘ parable implies a polemical picture of priests and Levites who were traditionally considered with high esteem in Israelite society, but who did not come to the assistance of the victim to act as a neighbour.“ 40 Von daher ist es auch hier übertrieben, wenn HOGETERP, God’s Temple, 179, das Gleichnis dahingehend deutet, dass „the heartlessness of the socio-religious reality“ durch das priesterliche Establishment perpetuiert werde. 36

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1.7 Jesus und die prophetische Kultkritik Auch die Aufnahme der prophetischen Kultkritik in Mk 12,33, Mt 9,13 und Mt 12,1–8 (vgl. Hos 6,6LXX) impliziert eine Distanz, aber keine Ablehnung der aktuellen Praxis des Jerusalemer Priestertums.41 Luz betont im Blick auf Mt 9,13 zu Recht, dass die Verhältnisbestimmung zwischen Barmherzigkeit und Opfer komparativisch zu deuten ist und nicht alternativ im Sinne einer absoluten Antithese: „Gemeint ist dann: Barmherzigkeit will ich mehr als Opfer.42 Dasselbe gilt auch in Mt 12,7, wo bereits in 12,5f. ein Vergleich das Hoseazitat einleitet. Auch hier ist dieses nicht antithetisch, sondern komparativ zu deuten.43 Eine den Qumrantexten vergleichbare Kritik am Tempelkult liegt diesen Belegen fern. Jesus betont stattdessen im Rückgriff auf die traditionelle atl. Kultkritik die Priorität eines ethisch angemessenen Verhaltens gegenüber dem Nächsten vor den kultischen Obligationen. 1.8 Jesus und die Hohepriester Vor allem das Markusevangelium zeichnet den wachsenden Konflikt zwischen Jesus und der jüdischen Führerschaft als einen Konflikt mit den Hohepriestern, die meistens durch die sog. „Schriftgelehrten und Ältesten“ ergänzt werden. In zwei der drei Leidensweissagungen Jesu werden die Hohepriester noch vor den Schriftgelehrten als Kontrahenten Jesu genannt (Mk 8,31; 10,33). Sie stellen im Tempel Jesu Vollmacht in Frage (Mk 11,27–33) und kommen im Anschluss an die Tempelaktion Jesu zum Beschluss, ihn zu töten (Mk 11,18; vgl. 14,1). Entsprechend geht die Initiative für Jesu Verhaftung von ihnen aus (Mk 14,10.43.47). Auf die Verhaftung folgt unmittelbar der jüdische Prozess vor dem Synhedrium, bei dem wiederum der Hohepriester den Vorsitz führt (Mk 14,53ff.). Die Hohepriester sind es auch, die Jesus Pilatus überstellen und somit den römischen Prozess provozieren, der dann zu Jesu Verurteilung und Kreuzigung führt (Mk 15,1.10), bei der sie wiederum spottend und höhnend unter dem Kreuz stehen (Mk 15,31f.). Die beiden anderen synoptischen Evangelien ergänzen das Bild in der Passionsgeschichte. Im Matthäusevangelium spielen die Hohepriester noch beim Judasverrat (Mt 27,3–10) und bei der Forderung nach einer Grabeswache (Mt 27,62–66; vgl. 28,11) eine Rolle, bei Lukas wird ihnen von den Emmausjüngern die Verantwortung am Tod Jesu gegeben (Lk 24,20). Nach übereinstimmendem Urteil der synoptischen Evangelien sind sie die Hauptgegner Jesu. Sie tragen die Hauptverantwortung für den Tod Jesu 41

Vgl. HOGETERP, God‘s Temple, 127f. LUZ, Mt II, 44. Er deutet das kai. ouv im Sinn eines Hebraeorum idioma als dialektische Negation. 43 LUZ, Mt II, 232. 42

1 Jesustraditionen zum Thema „Priester“ und „Tempel“

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und erscheinen ausschließlich in negativem Licht.44 Gleichzeitig müssen sie in ihrer Rolle als Führer des Volkes von den gewöhnlichen Priestern unterschieden werden.45 Sie agieren als innenpolitische Machthaber und Verantwortungsträger. Der Konflikt zwischen Jesus und dem bzw. den Hohepriester(n) hat deshalb eine völlig andere Konnotation als der Konflikt, der sich im frühjüdischen Schrifttum im Blick auf die kultischen Defizite des Priestertums spiegelt. Mit der Kritik des yaḥad am Frevelpriester und den kultischen Defiziten des Jerusalemer Kultes oder anderer frühjüdischer Texte an der hasmonäischen Ämterkumulation hat das alles nichts zu tun. Es geht ausschließlich um die hohepriesterliche Ablehnung Jesu und seines messianischen Anspruchs. 1.9 Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mt 21,33–46parr) In dem an die Parabel vom unfruchtbaren Weinberg (Jes 5,1–7)46 angelehnten Gleichnis bringt Jesus eine scharfe Kritik an der jüdischen Führungsschicht zum Ausdruck,47 zu der er zweifellos auch die Jerusalemer Priesteraristokratie und die hohepriesterlichen Familien zählte. In allen drei Evangelien wird der mashal mit dem nimshal aus Ps 118,22f. abgeschlossen, wobei die jüdische Führungsschicht mit den Bauleuten und der Sohn mit dem Stein identifiziert wird.48 Diese Interpretation wird durch die 44

Diese Perspektive setzt sich in den Acta fort. Die Hohepriester erscheinen als Widersacher von Petrus und Johannes, Act 4,6.23; 5,17.21.24.27, von Stephanus, Act 7,1, der Jerusalemer Jünger, Act 26,10, der Gemeinde in Damaskus, Act 9,1.14.21; 22,5; 26,12, und von Paulus, Act 22,30; 23,2.4.5.14; 24,1; 25,2.15. 45 Wenn BROADHEAD, Jesus, 132, meint, das Markusevangelium „constructs a narrative image of priests as opponents of Jesus who are partially responsible for his death“ und daraufhin zu dem Urteil kommt, dass „the discourse sketched around the Markan priests is wholly negative, disruptive and destructive“, dann beachtet er eben diese wichtige Unterscheidung nicht. 46 Zum Weinberg als Metapher für Israel vgl. auch Ps 80,9–17; Jes 27,2–5; Jer 2,21; 5,10; 12,10; Ez 15,1–8; 19,10–14; LibAnt 12,8f.; 4Esr 5,23. 47 Für die Authentizität der Perikope hat sich nachdrücklich SNODGRASS, Parable, 80f.109.111, ausgesprochen, vgl. a.a.O., 111: „There is no reason to doubt and good reason to believe that the parable was told originally by Jesus toward the end of his ministry in the context of his conflict with the Jewish authorities.“ Die Qumranforschung hat ferner gezeigt, dass in 4Q500 1 eine allegorische Deutung des Weinbergliedes auf den Tempel schon im Judentum möglich war, vgl. G. BROOKE, Dead Sea Scrolls, 235–260; DERS., Use of Scripture. Der allegorische Charakter des Gleichnisses muss deshalb nicht als Gemeindebildung bewertet werden, sondern kann durchaus auf Jesus selbst zurückgehen, so BROOKE, Dead Sea Scrolls, 260. 48 Dass auch mit Mt 21,43 nicht das ganze jüdische Volk gemeint ist, sondern lediglich die jüdische Führungsschicht, betont auch SNODGRASS, Parable, 77.91f.98; vgl. a.a.O., 92: „… this parable is not anti-Semitic, but anti-Pharisaic; or more accurately, the parable is directed against the religious authorities.“ Er macht, a.a.O., 76, ferner deutlich,

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entsprechende Reaktion der „Hohepriester und Pharisäer“ (Mt 21,45) bzw. der „Schriftgelehrten und Hohepriester“ (Lk 20,19) bestätigt, die sich offensichtlich in diesem Gleichnis sofort wiedererkannten. Im Unterschied zur langen Liste frühjüdischer Anklagen gegen Priestertum und Tempel zielt das Gleichnis ausschließlich auf die Gott vorenthaltenen Früchte, worin die prophetische Klage über die nicht erfolgte Umkehr Israels ihren Widerhall findet, und v.a. auf die Ermordung des „Sohnes“, d.h. der Ablehnung des Messias.49 Eine darüber hinaus gehende Kritik am (Hohe)Priestertum ist nicht erkennbar. Weder werden disqualifizierende Abstammungsverhältnisse, kultische Unreinheit, illegitime Ehen, finanzielle Unregelmäßigkeiten oder Korruption angeklagt. Vielmehr ist das Verhältnis zum Weinbergeigentümer, d.h. zu Gott, fundamental zerrüttet, was durch die Ablehnung und Ermordung des Sohnes offenbar wird. Deshalb lässt sich das Gleichnis nicht in die Linie frühjüdischer Tempelund Priestertumskritik einreihen. Von zentraler Bedeutung ist auch in diesem Gleichnis die Messiasfrage, die allerdings durch das Zitat von Ps 118,22 in der Tat einen tempeltheologischen Akzent bekommt. K. Snodgrass und S. Kim haben auf das hebräischen Wortspiel zwischen Sohn (!be) und Stein (!b,a,), aufmerksam gemacht,50 wodurch die bereits frühjüdische messianische Deutung der Steinmetapher aufgegriffen wird (→Exkurs 5). Das Psalmenzitat dient somit im Kontext des Gleichnisses als Schriftbeweis sowohl für das erlittene Schicksal der Zurückweisung und des Todes trotz der Identität als messianischer „Sohn“, als auch für die bevorstehende Rechtfertigung und Erhöhung des „Sohnes“/“Steins“.51 Die Steinmetapher hat aber spätestens seit Jes 28,16 auch eine tempeltheologische Konnotation: Der Stein kann atl. sowohl den Grund- als auch Schlussstein des Tempels beschreiben und als pars pro toto für den gesamten Tempel fungieren. Jesus sah sich als den entscheidenden Grund- und Fundamentstein eines neuen Tempels, den Gott durch die Verwerfung des „Sohnes“/“Steins“ dass mit dem Weinberg, weniger das Volk Israel als ethnische Größe als vielmehr ganz allgemein die von Gott Erwählten gemeint sind. 49 Eine Kritik am ökonomischen Missmanagement der Weinbergpächter, so W ARDLE, Jerusalem Temple, 190f., liegt dem Gleichnis völlig fern. Es wird nicht erzählt, dass der Weinberg keine Früchte brächte, sondern lediglich, dass dem Besitzer sein legitimer Anteil verweigert wird. Entsprechend taugt das Gleichnis auch nicht als Beleg für W ARDLES verfehlte These einer ökonomisch geprägten Kritik Jesu an einer raffgierigen und korrupten (Hohe)Priesterschaft. 50 SNODGRASS, Parable, 63.113–118; KIM, Jesus, 135. Aufgrund dieses Wortspieles sollte Jesus das Gleichnis auch nicht vorschnell abgesprochen werden. Denn das Wortspiel kann seinen Ursprung nicht in einer griechischsprachigen Gemeinde haben. In Jos Bell 5,272 wird im Kontext der Belagerung Jerusalems durch Titus erzählt, dass die jüdischen Verteidiger beim Anflug eines römischen Wurfgeschosses, in der Regel eines großen Steins oder Felsstücks, riefen ‚Der Sohn kommt!‘ und sich in Sicherheit brachten. 51 KIM, Jesus, 135.

1 Jesustraditionen zum Thema „Priester“ und „Tempel“

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durch die führenden „Bauleute“ Israels (vgl. yYom 3,40; bShab 114a; MShir 1,5) schaffen und vor aller Welt erweisen würde.52 Zieht man dies in Betracht, dann sind die hohepriesterlichen Weingärtner an ihrem Fehlurteil über Jesus, dem messianischen Tempel und eschatologischen Ort der Gegenwart Gottes, gescheitert. 1.10 Ergebnis Die weit überwiegende Mehrzahl der synoptischen Traditionen, in denen der Tempelkult und die Priester eine Rolle spielen, spiegeln eine Distanz Jesu zum Tempel und Priestertum wider. Diese Distanz – man könnte auch von einer Unabhängigkeit sprechen – steht in nahezu allen behandelten Perikopen im Horizont des messianischen Vollmachts- und Sendungsanspruchs Jesu, der die Bedeutung der zentralen jüdischen Kultinstitutionen des Tempels, der Opfer und des Priestertums eo ipso relativierte: So ist die Vorstellung des von Aussatz Geheilten bei den zuständigen Priestern (Mk 1,44f.) ebenso wie die Bezahlung der Tempelsteuer (Mt 17,24–27) „eigentlich“ nicht mehr nötig; sie dient nur den Priestern „zum Zeugnis“ (Mk 1,44) bzw. der Vermeidung eines Ärgernisses (Mt 17,27). So unpolemisch Jesus seinen göttlichen Vollmachtsanspruch zur Sündenvergebung vertritt, so sehr stellte er natürlich implizit den Sinn und den weiteren Bestand der jüdischen Kultinstitutionen in Frage (Mk 2,1–12). Dies musste über kurz oder lang zum Konflikt mit den Hohepriestern, Schriftgelehrten und Ältesten führen (vgl. 2.8 und Mt 21,33–46parr). Auf der anderen Seite lässt sich Jesu Haltung in keiner Weise als eine Ablehnung oder grundsätzliche Kritik der jüdischen Institutionen interpretieren. Nirgends wird erkennbar, dass Jesus die tempel- und priestertumskritische Position der in →III.2.3 und →III.1.2 dargestellten frühjüdischen Literatur teilt. Die einzige Parabel, in der sich eine direkte Anklage auch gegen die (hohe)priesterlichen Führer findet (Mt 21,33–46parr), zielt gegen deren Zurückweisung seiner selbst bzw. seines messianischen Anspruchs. Dagegen finden wir nirgendwo einen Widerhall der stereotypen frühjüdischen Klagen über die fehlende (kultische) Legitimität des Tempels oder der Priesterschaft. Wir hören nichts über disqualifizierende Abstammungsverhältnisse, kultische Unreinheit, illegitime Ehen, finanzielle

52 K IM, Jesus, 137f.; DERS., Vollmacht, liest das Stein-Logion ganz im Licht von 2Sam 7,12–16 bzw. unter der Verheißung an den messianisch-davidischen „Sohn“, den wahren Tempel zu bauen, a.a.O. 137: „Did his [sc. Jesus'] self-understanding as the Son of God who was to build a temple for God based on the tradition stemming from 2 Sam 7:12–16 … directly lead him to Ps 118:22–23 where he found not only a good opportunity for a word-play … but also an expression of his mission as the Son of God?“ Allerdings kann auch er keinen wirklichen Beweis für diese interessante Vermutung liefern.

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Kapitel V: Jesus, der Tempel und das Jerusalemer Priestertum

Unregelmäßigkeiten oder Korruption. Es ist ausschließlich die Messiasfrage, die zum Konflikt zwischen Jesus und der Hohepriesterschaft führt.

2 Tempelwort und Tempelaktion Jesu 2 Tempelwort und Tempelaktion Jesu

2.1 Das Tempelwort (Mk 14,58par) Ein vieldiskutiertes und höchst komplexes Problem stellt das sog. Tempelwort Jesu dar, das sich in einer siebenfachen Tradition in der frühchristlichen Literatur spiegelt53: Neben einer markinischen (Mk 14,58) und matthäischen (Mt 26,61) Version im Rahmen des Verhörs Jesu vor dem Synhedrion, sowie einer johanneischen Version im Kontext der sog. Tempelreinigungsperikope (Joh 2,19), wird es im Neuen Testament noch an zwei weiteren Stellen reflektiert: In Mk 15,29/Mt 27,40 wird dem gekreuzigten Jesus von der Volksmenge das Tempelwort polemisch vorgehalten und in Act 6,14 wird Stephanus von den jüdischen Anklägern vorgeworfen, er habe gesagt, dass Jesus „diesen Ort“ (sc. den Tempel) abbrechen und die Sitten/Regeln ändern werde, die Mose gegeben hat. Schließlich sind noch das Thomasevangelium zu erwähnen, wo in Logion 71 Jesus selbst sagt: „Ich werde dieses Haus zerstören und niemand wird es (wieder) aufbauen“, und Mk 13,1f., wo Jesus im Rahmen der sog. jesuanischen Apokalypse und damit in einem völlig anderen Kontext die Tempelzerstörung ankündigt. Die komplexe Bezeugung des Logions spiegelt etwas von den Schwierigkeiten der ersten Tradenten im Umgang mit diesem anstößigen und für die nachösterliche Gemeinde problematischen Logion wieder, das aber offensichtlich nicht unterschlagen werden konnte. Möglicherweise steht hinter der uneinheitlichen Überlieferung das Bemühen, Jesus von einer destruktiv-revolutionären Botschaft abzugrenzen.54 2.1.1 Überlieferungsgeschichtliche Beobachtungen Das Tempelwort gilt ob seiner komplexen Überlieferungsgeschichte als eine crux interpretum der Evangelienforschung. Bemerkenswerterweise findet sich das einzig direkte zweigliedrige Zitat im Munde Jesu nur in Joh 2,19 und dort wird es bereits im Horizont der Auferstehung auf den „Tempel seines Leibes“ gedeutet. Offensichtlich konnte auch Johannes dieses schwierige und von Missverständnissen umrankte Tempelwort nicht einfach ignorieren bzw. unter den Tisch fallen lassen, sondern musste es auf-

53 Einen guten Überblick über die verschiedenen Traditionen und ihre Bewertung geben THEISSEN/MERZ, Jesus, 380f., und ÅDNA, Stellung, 111f. 54 T HEISSEN/MERZ, Jesus, 381.

2 Tempelwort und Tempelaktion Jesu

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nehmen und interpretieren.55 Ansonsten erscheinen nur die beiden eingliedrigen Versionen in Mk 13,1f. und EvThom 71 im Munde Jesu. Alle anderen Varianten werden in indirekter Rede wiedergegeben. In Mk 13,1f. erscheint die Tempelzerstörung als ein zukünftiges Ereignis prophetisch angekündigt, jedoch ohne Angabe des Zerstörers.56 Im Lukasevangelium fehlt das Tempelwort, aber der Evangelist greift in Act 6,14 darauf zurück, wo in einem in Analogie zum Prozess Jesu gestalteten Bericht das Tempelwort nun in einer doppelt indirekten Rede wieder eine entscheidende Rolle spielt.57 Bei Markus und Matthäus erscheint die zweigliedrige Form des Wortes zuerst im Munde falscher Zeugen und dann im Munde der Spötter unter dem Kreuz. Unklar ist hier zunächst, ob die doppelgliedrige Aussage (Mk 14,57f./Mt 26,61) an sich falsch (d.h. erfunden) ist, oder nur ihre Wiedergabe. Es macht jedoch keinen Sinn, das Wort einfach als eine Fälschung den Gegnern anzulasten, denn sämtliche Evangelisten (auch Lukas in Act 6,14!) verarbeiten das Wort durchaus hintergründig und vielschichtig in ihren Evangelien. Zudem hätte eine frei erfundene Fälschung ohne jeglichen Anhalt am historischen Jesus und seiner Verkündigung kaum diese Wirkungsgeschichte hervorbringen können bzw. wäre von den Evangelisten klarer zurückgewiesen worden.58 Auch die Annahme einer Gemeindebildung kommt nicht in Frage: Welchen Sinn würde es machen, Jesus ein Wort zuzuschreiben, es dann in den Mund falscher Zeugen zu legen und es im Falle des Lukas wieder zu streichen und in einen anderen Kontext (Act 6,14) zu platzieren? Gerade die Undeutlichkeit und uneinheitliche Wiedergabe spricht für die Authentizität.59 Schließlich scheidet auch eine Interpretation als vaticinium ex eventu von vornherein aus, denn nach der Zerstörung des Tempels wäre die Bildung einer Ansage der Tempelzerstörung durch die Hand Jesu sinnlos gewesen.60

55

SANDERS, Jesus and the Temple, 375. Zur Frage der Authentizität vom Mk 13,2 vgl. KRAUS, Tod Jesu, 218–222. 57 Warum Lukas das Tempelwort offensichtlich bewusst aus der Passionsgeschichte ausgeklammert hat, kann nur vermutet werden. S IEGERT, Tempel, 119, führt diesen Umstand auf das lukanische Interesse zurück, die Konflikte um den Tempel möglichst klein zu halten: „Lukas vertagt den Konflikt um den Tempel, um aus ihm die Ausbreitung der Kirche herzuleiten.“ 58 Vgl. auch BROADHEAD, Jesus, 141: „It is unlikely that three Gospel traditions would invent such a charge in different forms only to refute it.“ 59 BETZ, Probleme, 630. 60 Vgl. SANDERS, Jesus and the Temple, 376. 56

292

Kapitel V: Jesus, der Tempel und das Jerusalemer Priestertum

Der Vorwurf der Falschaussage bezieht sich somit wahrscheinlich sowohl auf die nicht einheitliche Wiedergabe durch die Zeugen,61 die sie juristisch wertlos machen würde, als auch auf die falsche Interpretation des Wortes durch die Zeugen, die Jesus eine falsche, nämlich revolutionäre bzw. terroristische Absicht unterstellen wollten, die Gewaltanwendung gegen den Tempel einschloss. Denn, verglichen mit Mk 13,2 und Joh 2,19, ist nur die Aussage, dass Jesus den Tempel selbst abreißen will, nicht korrekt.62 Im Ergebnis besteht ein relativ großer Forschungskonsens, dass das Tempelwort, in welcher Form auch immer, auf den historischen Jesus zurückgeht,63 es im Mund der falschen Zeugen uneinheitlich wiedergegeben wurde und Jesus eine dem Wort nicht innewohnende, falsche Absicht unterstellt. 2.1.2 Die ursprüngliche Form des Tempelwortes Wenn diese vielfältige, vielgestaltige und komplexe Überlieferung ihren historischen Ursprung bei Jesus selbst haben muss, dann ist in einem zweiten Schritt zu fragen, welches die mutmaßlich ursprüngliche Gestalt des Wortes war. In der längsten Version in Mk 14,58 gehört zu diesem Wort (1) eine negative Aussage einer wie auch immer gearteten Tempelzerstörung – wobei offen bleibt, durch wen diese initiiert werden soll (durch Gott selbst?)64 –, (2) eine positive Aussage seiner Wiedererrichtung durch Jesus – wobei offen bleibt, in welcher konkreten Form dies gemeint war –, (3) die Angabe einer Drei-Tage-Frist zwischen beiden Ereignissen und (4) die Antithese ceiropoi,hton – avceiropoi,hton. 61

BETZ, Probleme, 630. Darauf deutet der Begriff i;soj in 14,56 hin, der nach B AUER, Wörterbuch, 772, hier mit „gleichlautend“ zu übersetzen ist. 62 BETZ, Probleme, 632; ÅDNA, Stellung, 115f. 63 Vgl. B ETZ, Probleme, 630; T HEISSEN/MERZ, Jesus, 381; SANDERS, Jesus and the Temple, 362; KRAUS, Tod Jesu, 216; ÅDNA, Stellung, 116.128–130; BROADHEAD, Jesus, 141, und auch FREY, Temple, 452, Anm. 21: „Some form of this logion is probably authentic, since it occurs in all strata of the Synoptic and non-Synoptic Jesus traditions.“ THEISSEN, Tempelweissagung, 141f., führt zudem noch das Unableitbarkeitskriterium für die Authentizität ins Feld. Zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt jedoch P AESLER, Tempelwort, 17–30.121f., der das Logion aus literarkritischen Erwärgungen heraus einer hellenistischen (122.228), dem Jerusalemer Kult feindlich gegenüberstehenden (122), vormarkinischen Redaktion zuschreibt, die es in die Synhedriumsperikope, Mk 14,55–64, eingetragen habe (28), die ihrerseits wiederum als Ganzes sekundär in den Passionsbericht interpoliert worden sei (17f.). Er hält den Bericht auch aus sachkritischen Erwägungen heraus für unhistorisch (15–17), beruft sich hierbei jedoch ausschließlich auf mehr als 50 Jahre alte Forschungsbeiträge, die mittlerweile als überholt gelten müssen. 64 Das Verb katalu,ein wird lediglich in Mk 13,1f. eindeutig nicht-metaphorisch verwendet. SIEGERT, Tempel, 110f., weist darauf hin, dass das Verb selbst eine Fülle verschiedener Bedeutungen eröffnet.

2 Tempelwort und Tempelaktion Jesu

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Die Aussage des Tempelabbruchs (1) ist fester Bestandteil aller Versionen des Tempelwortes und stets mit dem Prädikat katalu,ein verknüpft. Damit enden jedoch bereits die Gemeinsamkeiten. Während das Verb in Joh 2,19 als Imperativ an die „Juden“ gerichtet ist und diese somit Subjekte des Abbrechens sind, erscheint es in Mk 13,2 als ein passivum divinum. Damit bekommt das Logion den Charakter eines prophetischen Drohwortes, das sich auf einen breiten traditionsgeschichtlichen Hintergrund im Alten Testament und Frühjudentum berufen kann. In allen anderen Varianten (Mk 14,58/Mt 26,61; EvThom 71; Act 6,14) ist Jesus selbst Subjekt des katalu,ein. Während die johanneische Variante sich sehr rasch als eine interpretierende Weiterentwicklung der synoptischen Form zu erkennen gibt, was schon durch die Wiedergabe des Verbs oivkodomei/n mit dem doppeldeutigen, auf die Auferstehung verweisenden evgei,rein deutlich wird, ist die Frage im Blick auf die Passivform in Mk 13,2 schwieriger zu entscheiden. Die Passivform erscheint plausibler, unanstößiger und traditionsgeschichtlich verankert, was sie als lectio facilior erscheinen lässt. Für die Echtheit der doppelgliedrigen Formel mit der aktiven Form von katalu,ein spricht auch, dass die passive Form in keiner anderen Variante des Tempelwortes erscheint.65 In Mt 26,61 ist die Aussage insofern etwas entschärft, als die falschen Zeugen gehört haben wollen, dass Jesus den Tempel abreißen kann, aber nicht, dass er dies tun wird. Sowohl die Bezeichnung „Tempel Gottes“ als auch das erwähnte du,nasqai lassen die matthäische Variante zurückhaltender und weniger tempelkritisch erscheinen als die dezidiert futurische Prophetie der Markusvariante („Ich werde …“). Deshalb ist auch hier der anstößigeren Variante in Mk 14,58 als lectio difficilior der Vorzug zu geben, womit freilich nicht automatisch eine Kampfansage gegen den Tempel verbunden ist. Wahrscheinlich handelt es sich gerade dabei um ein (intrigantes?) Missverständnis der falschen Zeugen, da sich in den Evangelien nirgendwo sonst ein gewaltsames Vorgehen Jesu gegen den Tempel belegen lässt – das gilt auch für die Tempelaktion (s.u.). Auch die positive Aussage zur Wiedererrichtung des Tempels (2) würde in der Form von Mt 26,61; 27,40/Mk 15,29 als Gemeindebildung keinen Sinn machen, da es in dieser Form um denselben Tempel geht, der zerstört und aufgebaut wird.66 Im Neuen Testament wird aber zum einen nirgendwo auch nur angedeutet, dass sich Jesus oder seine Jünger im Sinne des herodianischen Tempelneubaus oder eines alternativen Projektes engagiert hätten und zum anderen fand auch nach 70 n.Chr. kein Tempelbauprojekt statt, das in irgendeiner Weise als Erfüllung dieser Ankündigung hätte gewertet werden können. 65 66

ÅDNA, Stellung, 119. BERGER, Theologiegeschichte, 605.

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Kapitel V: Jesus, der Tempel und das Jerusalemer Priestertum

Eine Gemeindebildung käme daher ausschließlich in Verbindung mit der erwähnten Drei-Tage-Frist (3) und/oder der Antithese ceiropoi,hton – avceiropoi,hton (4) in Betracht. Die Drei-Tage-Frist ist durchgängiger Bestandteil in allen fünf positiven Aussagen des zweiten Teils des Logions. Sie fehlt lediglich in EvThom 71, wo das zweite Satzglied jedoch auch keine positive Aussage enthält. Die Drei-Tages-Frist steht natürlich unter dem Verdacht, im Licht der Osterereignisse formuliert worden zu sein und Joh 2,19 stellt das Tempelwort auch bewusst in diesen Zusammenhang. Allerdings ist zu beachten, dass die Ankündigung der Auferstehung nach drei Tagen in allen synoptischen Worten entweder mit der Präposition meta, mit Akkusativ67 oder mit einer Zeitpunktbestimmung im Dativ68 gebildet wurde. Die für das Tempelwort charakteristischen Präpositionen evn und dia, spielen in den Auferstehungsankündigungen dagegen keine Rolle. Vielmehr sind diese Präpositionen traditionsgeschichtlich gesehen Teil einer semitischen Redewendung zur Bestimmung durativer Fristen. Die Frist „in drei Tagen“ fungierte dabei als relative Angabe einer kurzen oder längeren Zeitspanne und ist als Anspielung auf die Auferstehung nicht so eindeutig, wie es zunächst scheint.69 Im Rahmen eines ursprünglichen Jesus-Logions wäre die Drei-Tage-Frist somit als Ankündigung zur Errichtung eines Tempelbaus in einer unbestimmt kurzen Zeit durchaus plausibel.70 Der Verdacht einer metaphorischen „Entschärfung“ des Tempelwortes durch die frühe Gemeinde ist auch bei der Antithese ceiropoi,htonavceiropoi,hton in Mk 14,58 nicht von der Hand zu weisen.71 Allerdings hat Ådna gezeigt, dass sich die Antithese zum einen traditionsgeschichtlich von Ex 15,17b her verstehen lässt, wo sie keine polemische oder pejorative Konnotation hat, sondern lediglich auf eine Errichtung eines Tempels durch Gott selbst und nicht durch Menschen hinweist.72 Zum anderen lässt sich gerade für diese antithetischen Adjektive eine aramäische sprachliche Vorgabe in Dan 2,45 aufweisen, wodurch auch eine Rückübersetzung ins Aramäische problemlos möglich wird.73 67 68

15,4.

Vgl. Mk 8,31; 9,31; 10,34; Mt 27,63. Vgl. Mt 16,21/Lk 9,22; Mt 17,23; Mt 20,19/Lk 18,33; Lk 24,7; Act 10,40; 1Kor

69 ÅDNA, Stellung, 120. Vgl. zur Drei-Tages-Frist im Sinne einer langen Zeitspanne Jos 2,16; 1Sam 20,5.19; Jon 3,3; 2Chr 20,25; 2Makk 5,14. Als Bezeichnung einer kurzen Frist werden drei Tage in Jos 1,11; 2Sam 20,4; 2Kön 20,8 und Hos 6,2 erwähnt. Auch JEREMIAS, Drei-Tage-Worte, 225.229, plädiert für eine vorösterliche Überlieferung. 70 Vgl. B AUER, Drei Tage, 356f.; J EREMIAS, Drei-Tage-Worte, 226; KRAUS, Tod Jesu, 225, Anm. 136. 71 Vgl. Phil Mos 2,88f.; SpecLeg 1,66f. 72 ÅDNA, Stellung, 122–127; vgl. STUHLMACHER, Theologie I, 84. 73 ÅDNA, Stellung, 127f.

2 Tempelwort und Tempelaktion Jesu

295

Das Attribut ceiropoi,hton hat in der LXX und in weiten Teilen der frühjüdischen Literatur eine eindeutig pejorative Bedeutung, denn der Spott über das handwerkliche Herstellen von Götzenbildern war ein stereotypes Element der atl. und frühjüdischen Götzenpolemik. 74 Neben dieser jüdisch-hellenistischen, anti-idolatristischen Konnotation hat der Begriff jedoch auch noch einen genuin hebräisch-atl. Hintergrund. So bringen die beiden Adjektive bereits im Tempelweihgebet Salomos die Begrenztheit eines von einem Menschen gebauten Hauses als Wohnung für den selbst von Himmel und Erde nicht zu fassenden Gott zum Ausdruck (1Kön 8,27; vgl. Jes 66,1f.). Auch bei Philo, Mos 2,88f., hat der Begriff im Blick auf das mit Händen gemachte Zentralheiligtum (h`` skhnh,) keinen pejorativen Akzent. In SpecLeg 1,66f. dient der verwandte Begriff to. ceiro,kmhton zur Unterscheidung des irdischen Heiligtums vom Weltall als dem höchsten und wahrhaftigen Heiligtum Gottes. Damit wird zwar der bloße Abbildcharakter des Jerusalemer Tempelheiligtums hervorgehoben, was dieses aber nicht grundsätzlich in Frage stellt.75 Ein ganz ähnliches Verständnis findet sich in der Areopagrede des Paulus: Gott, der Schöpfer und Herr des Himmels und der Erde, „wohnt nicht in mit Händen gemachten Tempeln“ (Act 17,24; vgl. Act 7,48). Auch in Hebr 9,11.24 markiert der Begriff zwar die Unvollkommenheit des irdischen Heiligtums gegenüber dem vollkommenen, himmlischen Heiligtum, qualifiziert ersteres jedoch nicht als absolut negativ. In 2Kor 5,1 wird der Begriff avceiropoi,htoj im Sinne von „unvergänglich, ewig“ im Unterschied zur vergänglichen und sterblichen „irdischen Behausung“ des Leibes verwendet, und in Kol 2,11 steht das Adjektiv für eine „nicht mit Händen“ gemachte Beschneidung durch Christus in Antithese zur jüdischen Beschneidung. Ansonsten findet sich diese Negativform des Adjektives nur sehr selten und in der LXX und frühjüdischen Literatur gar nicht. Die Negativform wird somit nie im Rahmen der Götzenpolemik verwendet, sondern ausschließlich im Rahmen einer vergleichenden Beschreibung von göttlich-vollkommenen Dingen gegenüber menschlich-unvollkommenen. Um exakt diesen Gegensatz zwischen einem von Menschenhand gebauten und deshalb unvollkommenen und einem von Gottes Hand errichteten und deshalb vollkommenen Tempel geht es auch in Mk 14,58.76 Damit liegt das 74

Lev 26,1; 26,30; Jes 2,18; 10,11; 16,12; 19,1; 21,9; 31,7; 46,6; Dan 5,4; 5,23; 6,28; Bel 1,5(Th); SapSal 14,8; Jdt 8,18; vgl. Jes 44,10–17; vgl. auch Jos Bell 5,400.458f.; Sib 3,604–606.616–618.718–723; 4,6–17; vgl. auch FASSBECK, Tempel der Christen, 90–99, und P AESLER, Tempelwort, 210–212. 75 Vgl. W ARDLE, Jerusalem Temple, 183, Anm. 61: „Philo's use of this terminology reveals that these adjectives did not necessarily entail critique and could simply be used to describe the humble origins of the temple and tabernacle.“ 76 Für ein eindeutig polemisches Verständnis der Antithese tritt dagegen P AESLER, Tempelwort, 210–222, im Anschluss an LINNEMANN, Studien, 121f., ein; vgl. auch B EALE, Temple, 224f. Demnach werde ceiropoi,htoj im Neuen Testament immer dort gebraucht, „wo sich der von Christus erschlossene Zugang zu Gott als der jüdischen Tradition überlegen erweist und das jüdische Heilsgut somit seiner exklusiven Stellung beraubt“ (218). Entsprechend werde es in der Tradition der Fremdkultkritik immer von Christen gegen das Judentum verwendet (ebd.). Vor dem Hintergrund einer polemischen Intention müsste die Antithese zwingend als sekundäre Interpolation verstanden werden. Mit dem ausschließlich polemischen, in der frühjüdischen Fremdkultkritik wurzelnden Verständnis der Antithese wird P AESLER jedoch der nuancierten und deutlich unpolemischen Verwendung der Adjektive in zahlreichen frühjüdischen und ntl. Belegen nicht gerecht; vgl. auch Rebell, Art. ceiropoi,htoj/avceiropoi,htoj, 1112f. zu Act 7,48; 17,24: „An beiden Stellen wird keine grundsätzliche Kritik zum Ausdruck gebracht.“

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Tempelwort in einer traditionsgeschichtlichen Linie, deren Ursprung in Ex 15,17f. zu suchen ist, dem locus classicus für ein von Gott mit eigenen (und damit nicht mit menschlichen) Hände errichtetes Heiligtum.77

Versteht man die Antithese nicht im Horizont der frühjüdischen Götzenpolemik, sondern als schlichte Unterscheidung eines von Menschenhand hergestellten Gebäudes im Unterschied zu einem Tempel, der allein auf Gottes Wirken zurückgeht (vgl. Jes 60,13; äthHen 90,28f.) und bereits in Ex 15,17f. angekündigt ist, dann wäre auch die Antithese ceiropoi,hton – avceiropoi,hton im Munde Jesu vorstellbar und könnte ein authentischer Teil des ursprünglichen Jesuslogions gewesen sein.78 2.1.3 Die Bedeutung des Tempelwortes Wenn die Rekonstruktion des ursprünglichen Tempelwortes zutrifft – eine letzte Sicherheit ist hier nicht zu gewinnen –, dann wäre aber nicht erst in der johanneischen Rezeption des Tempelwortes in Joh 2,19 ein metaphorisches Verständnis des Wortes im Blick auf Jesu Leib und Auferstehung angezeigt, sondern bereits in einem mit Mk 14,58 identischen, ursprünglichen Tempelwort selbst.79 Mit dem Stichwort avceiropoi,hton hätte Jesus angezeigt, dass er den ihm vor Augen stehenden Tempel vom bestehenden Jerusalemer Tempel deutlich unterscheiden wollte und keinen Tempelneubau im Sinn hatte, der den Abriss des bestehenden Tempels zwangsläufig voraussetzt.80 Vielmehr wird durch das Attribut angedeutet, dass es sich um eine wie auch immer geartete metaphorische Größe81 handelt, woran die junge Gemeinde nach Ostern ekklesiologisch anknüpfen konnte.82 77

Vgl. ÅDNA, Stellung, 91–110.144.147.151–153. Er zeigt wie Ex 15,17b bereits in 4Q 174 3,1–5 eine erste Aufnahme und Interpretation erfährt. Auch SCHWEMER, König, 356, betont diesen Zusammenhang: „Streicht man das Gegensatzpaar ‚mit Händen gemacht‘ – ‚nicht mit Händen gemacht‘, … so versperrt man sich den Blick für die alttestamentliche Prophetie, die hier mit messianischer Vollmacht neu ausgelegt wird: das Schilfmeerlied Ex 15,17f. […] Sieht man den inneren Zusammenhang zwischen der Königsherrschaft Gottes und dem eschatologischen Tempel nicht, so hat man außerordentliche Schwierigkeiten, dieses Herrenwort, das alle Kennzeichen der Authentizität trägt, zu verstehen.“ 78 ÅDNA, Stellung, 127, spricht entsprechend vorsichtig von der „Vorstellbarkeit“ einer Authentizität. Vgl. auch THEISSEN/MERZ, Jesus, 381: „Jesus wird erwartet haben, daß Gott ihn zerstört und auf wunderbare Weise einen neuen Tempel an seine Stelle setzt“. 79 Vgl. auch B ETZ, Probleme, 632: „Der zweite, positive Teil dieses Wortes, der den Bau eines neuen, andersartigen Tempels verheißt, ist ohne Zweifel authentisch, von Jesus gesprochen als wichtiger, wenn auch indirekter, Hinweis auf sein messianisches Sendungsbewußtsein.“ 80 Richtig gesehen von B ERGER, Theologiegeschichte, 605. 81 Ein solch metaphorisches Verständnis wird durch die Qumrantexte und ihr Tempelverständnis nun aber gerade nicht gestützt. So sehr der yaḥad den Jerusalemer Tempelkult ablehnte, so sehr betrachtete man den alternativen Kult in der Wüste und das Ver-

2 Tempelwort und Tempelaktion Jesu

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J.P.M. Sweet versucht eine direkte Traditionslinie von Jesu Tempelwort zum paulinischen Gebrauch der Tempelmetapher nachzuweisen. So sieht er in 2Kor 5,1 eine direkte paulinische Anspielung an Jesu Tempelwort, zumal Paulus die Korinther mit dem einleitenden oi;damen an bereits Bekanntes erinnern will.83 Neben dem Begriff des Zeltes, der als Metapher für den Tempel gebräuchlich war, finden sich hier auch die Begriffe katalu,ein, oivkodomh, und avceiropoi,htoj, was die Stelle rein sprachlich als nächste Parallele zum Tempelwort erscheinen lässt, obwohl die Begrifflichkeit hier in einem völlig anderen Kontext und mit einer anderen Aussageintention gebraucht wird. Eine von Mt 16,18 her geprägte Anspielung auf das Tempelwort zieht er ferner für Gal 2,18 in Erwägung. 84 Doch mehr als „the likelihood, that Paul knew, and assumed his hearers knew … the Temple-saying“ kann auch er nicht erweisen.85 Am ehesten lässt sich 1Kor 3,11 im Horizont von 1Kor 3,16f. als eine Anspielung auf das Tempelwort verstehen. Trifft dies zu, wäre Jesus hier als Tempelgründer charakterisiert.86

Eine gewisse Bestätigung findet diese Deutung zum einen in der Beobachtung, dass in der frühen Christenheit weder vor noch nach 70 n.Chr. die Erwartung einer Restitution des irdisch-physischen Tempels begegnet, ganz im Gegenteil (vgl. Apk 21,22!). Jesu Tempelwort hatte offensichtlich in dieser Hinsicht keine Wirkungsgeschichte.87 Damit unterschied sich die junge christliche Gemeinde signifikant von den frühjüdischen Erwartungen einer eschatologischen Restitution des physischen Tempels.88 Dass ein metaphorisches Verständnis bereits im Ursprung des Wortes lag, wird zum anderen aber auch in der von Markus herausgestellten ironischen Hintergründigkeit von Mk 15,29 deutlich: Die Volksmenge, die Jeständnis des yaḥad als alternative Tempelsubstitution lediglich als ein befristetes Interim, das durch Gottes eschatologisches Heiligtum, das man sich als ein reales Bauwerk vorstellte, wieder abgelöst werden würde. 82 Eine ganze Reihe von Exegeten ist der Überzeugung, dass Jesus hier bereits selbst an den metaphorischen Tempel seiner Jünger und Nachfolger dachte, so z.B. PESCH, Mk II, 433, und B ETZ, Probleme, 630f., der hinter dem Tempel das neue Gottesvolk vermutet, „das er als Messias zu einem lebendigen Heiligtum gestaltet“. An die Gemeinde als „geistlichen Tempel“ denken auch W EISS, Mk, 472; JEREMIAS, Jesus, 40.81; LOHMEYER, Mk, 326f.; MICHEL, Art. nao,j, 888; SCHWEIZER, Mk 180; SWEET, House, 389f., vgl. auch SÖDING, Tempelaktion, 41. WRIGHT, Victory, 426, zieht auch eine Selbstidentifikation Jesu in Erwägung. Bestritten wurden und werden diese Deutungen u.a. von W ENSCHKEWITZ, Spiritualisierung, 100; LOHSE, Art. cei,r, 425f.; LINNEMANN, Studien, 121f. und P AESLER, Tempelwort, 203–228. 83 SWEET, House, 371f. 84 SWEET, a.a.O., 378–382. 85 SWEET, a.a.O., 371. 86 Vgl. LIU, Purity, 111: „The image oft he temple-founder is exactly how Paul attempts to identify Jesus Christ in his metaphor.“ 87 Dies könnte auch der Anlass für die Umformung des Wortes in EvThom 71 gewesen sein. Jesu Tempelwort wurde hier nach 70 n.Chr. den historischen Gegebenheiten angepasst, vgl. T HEISSEN/MERZ, Jesus, 381. 88 Vgl. Tob 13,10; 14,5; Jub 1,15–17.27–29; äthHen 89,73; 90,28f.; 91,13; 4Q174 3,2f.; 11Q19 29,7–10; TSach 6,12f.; TJes 53,5.

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Kapitel V: Jesus, der Tempel und das Jerusalemer Priestertum

sus spottend das Tempelwort vorhält, versteht nicht, dass die Erfüllung dieses Wortes bereits in vollem Gange ist.89 Die metaphorische Bedeutung des Tempelaufbaus muss aus diesem Grund bei Matthäus und Markus im Zusammenhang der Passion Jesu gesucht werden. Angesichts der komplexen Überlieferungssituation und der vielen offenen Fragen sollte diesem Logion jedoch auch umgekehrt nicht zu viel Beweislast aufgebürdet werden.90 Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann lediglich vermutet werden, dass Jesus nicht mit der Unzerstörbarkeit des Tempels gerechnet hat und gleichzeitig den Ort der Präsenz Gottes metaphorisch neu interpretieren konnte, wobei er ihn als eine Größe betrachtete, die im Anschluss an Ex 15,17 ganz aus Gottes Hand und nicht aus Menschenhand resultiert. Eine dezidierte Kritik am vorfindlichen Tempel nach dem Vorbild der frühjüdischen Tempelkritik (→III.2.3), gar mit dem Ziel seiner Substitution, ist aus dem Logion nicht abzuleiten. Zusammen mit der Beobachtung, dass nirgendwo in den Evangelien erwähnt wird, dass Jesus und seine Jünger sich den üblichen Reinigungsriten während der Passahwoche unterworfen hätten (vgl. Joh 18,28 mit 13,10),91 deutet dieses Wort lediglich auf eine Distanz zur zeitgenössischen Tempelfrömmigkeit und -theologie hin, nicht jedoch gegenüber dem Tempel an sich, der für Jesus nach wie vor als

89

S IEGERT, Tempel, 109 und 113: „Sollte Jesus seinen Leidensweg vorausgesehen haben, so hat er dies am ehesten metaphorisch ausgesprochen – mit einem Wort wie dem hier zu erklärenden“ (kursiv bei S.). 90 Dies gilt auch für die messianische Deutung ÅDNAS, Stellung, 142–153, wonach sich Jesus im Licht der Nathanweissagung aus 2Sam 7,12–14 als „messianische[r] Bauherr des eschatologischen Tempels auf dem Zion“ (143) verstanden habe; ähnlich P ESCH, Mk II, 434f., mit Hinweis auf 4Q174 3,1–13 und TJes 53,5. Es ist jedoch alles andere als eindeutig, dass es „zur Zeit Jesu eine traditionsgeschichtlich längst feststehende Tatsache [war], daß der gegenwärtige Jerusalemer Tempel dem eschatologischen Tempel weichen muß“ und die „Ersetzung des gegenwärtigen, herodianischen Tempels durch einen neuen, von Gott selbst errichteten Tempel […] ein zentraler Bestandteil des unmittelbar bevorstehenden eschatologischen Dramas“ ist (148). Die frühjüdischen Tempeltraditionen sind zu vielfältig und die synoptischen Tempeltraditionen zu dünn, als dass eine solche Schlussfolgerung mehr als den Status einer Hypothese beanspruchen könnte. 91 T HEISSEN/MERZ, Jesus, 380f. Exakt dieser Umstand wird im apokryphen Evangelienfragment des Papyrus Oxyrhynchus 840 Jesus und seinen Jüngern von einem pharisäischen Oberpriester explizit zum Vorwurf gemacht. Dagegen setzt SANDERS, Figure, 250f., die Teilnahme an den üblichen Reinigungsriten stillschweigend voraus. Die Notiz in Mk 11,11, wonach Jesus den Tempel (wie ein „Tourist“) besichtigte, unterstreicht den Eindruck einer gewissen Distanz. Ob er allerdings aufgrund seiner galiläischen Herkunft ein „weniger partriotisches Verhältnis zum Tempel gehabt“ hatte, so SIEGERT, Tempel, 124, bleibt eine Spekulation.

2 Tempelwort und Tempelaktion Jesu

299

erwählter Ort der göttlichen Präsenz galt.92 Anders ist der positive Bezug auf Jes 56,7 und das dort enthaltene Possessivpronomen (o`` oi=koj mou) und die ständige Orientierung am Tempel während der letzten Passawoche Jesu (vgl. Mk 14,49/Lk 22,53) nicht zu erklären.93 Jesu Haltung zum Jerusalemer Kult steht damit in einer gewissen Analogie zum Täufer. Von einer direkten Kritik am Tempel und seinem Personal kann hier zwar keine Rede sein. Aber mit dem bestehenden Kult hat Jesus keinerlei Erwartungen mehr verbunden. Vielmehr reflektiert sich auch im Tempelwort der Anspruch Jesu, wesentliche Funktionen des Tempels selbst zu übernehmen. 2.2 Die Tempelaktion Jesu (Mk 11,15–17parr) In konzentrierter Weise kommt Jesu Haltung zu Priestertum und Tempel in der sog. „Tempelreinigung“ zum Ausdruck (Mk 11,15–17parr).94 Die Benennung der Perikope mit der mittlerweile eingebürgerten Bezeichung „Tempelreinigung“ legt den Leser bereits auf eine bestimmte Deutung des Geschehens fest: Jesus reinigt den Tempel von seiner Verunreinigung durch einen kommerzialisierten Tempelbetrieb und eine profitorientierte Priesterklasse.95 Diese Deutung impliziert, dass sich Jesu Handeln lediglich gegen den kommerzialisierten Missbrauch des Tempels, aber nicht gegen den Tempel selbst richtete.96 Das Hauptproblem dieser Interpretation ist die Unterscheidung zwischen einem ursprünglich „reinen“ und einem gegenwärtig aufgrund des Missbrauchs verunreinigten Tempel. Die Berechtigung dieser Unterscheidung ist aber höchst fraglich, denn es ist schlicht nicht vorstellbar, dass der Tempelkult zu irgendeiner Zeit ohne die Infrastruktur der vielen Opfertierhändler und Münzwechsler funktionierte. Während die Händler für die Bereitstellung der riesigen Mengen von kultisch reinen, unversehrten und bereits vor dem Verkauf priesterlich geprüften Opfertiere sorgten, kamen die Geldwechsler dem Interesse des Hohepriestertums nach einer einheitlichen Münzwährung im Tempel entgegen.97 Das System des Tempelmarktes war z.Zt. Jesu trotz kleinerer Missstände kein 92 Vgl. SIEGERT, Tempel, 127: Jesu „Verhältnis zum Tempel läßt sich […] wohl am besten mit dem Wort ‚Unabhängigkeit‘ beschreiben. […] Dem Tempel als solchem galt bei ihm kein besonderes Interesse, wohl aber dem rechten Gottesdienst.“ 93 BETZ, Probleme, 632. 94 Zur neueren Literatur und zu den verschiedenen Deutungsvorschlägen dieser Perikope, die ebenfalls eine crux interpretum der ntl. Forschung darstellt, vgl. SNODGRASS, Temple Incident, 462ff. und 476–480, sowie die umfangreiche Literaturliste bei KRAUS, Tod Jesu, 201, Anm. 4. 95 Vgl. z.B. JEREMIAS, Theologie I, 144f.; HORSLEY, Spiral of Violence, 299; T AN, Zion Traditions, 185.187.231f.; ähnlich auch GANSER-KERPERIN, Zeugnis, 164f. und neuerdings, mit suggestivem Impetus, W ARDLE, Jerusalem Temple, 172–181. 96 Zur Forschungsgeschichte dieser Interpretation siehe ÅDNA, Stellung, 16f. 97 Vgl. hierzu SANDERS, Jesus and the Temple, 365; ÅDNA, Stellung, 251–253; P AESLER, Tempelwort, 243f. GNILKA, Mk II, 127f., und SÖDING, Tempelaktion, 60, Anm. 115, lehnen einen Einfluss von Sach 14,21b zu Recht ab, anders KRAUS, Tod Jesu, 207–209; P AESLER, Tempelwort, 245–249, und GANSER-KERPERIN, Zeugnis, 164, welche

300

Kapitel V: Jesus, der Tempel und das Jerusalemer Priestertum

Auswuchs einer kapitalistischen Kommerzialisierung,98 sondern seit frühester Zeit eine zwingende „innerbetriebliche“ Notwendigkeit.99 Die Deutung der Perikope im Sinne einer „Reinigung“ des Tempelheiligtums vom kommerzialisierten Missbrauch desselben, kann sich lediglich auf das Stichwort „Räuberhöhle“ aus Jer 7,11 in Mk 11,17par stützen. Ådna hat in seiner Untersuchung aber gezeigt, dass der Sinngehalt dieses Begriffs im Kontext von Jer 7,11 ein ganz anderer war. Es geht bei der jeremianischen Anklage nicht um den Missbrauch des Tempels als Asyl für (kapitalistisch-gewinnsüchtige) Diebe oder Verbrecher, sondern darum, dass Israel den Tempel und die mit ihm verbundene Verheißung der heilvollen Präsenz Jahwes als Refugium einer vermeintlichen Heilssicherheit missversteht (analog zu einer Räuberhöhle) und meint, aufgrund dessen weiterhin gefahrlos den Gotteswillen ignorieren zu können. In Aufnahme der jeremianischen Kritik wirft Jesus nun den Geldwechslern, Taubenverkäufern und Bediensteten des Tempelbetriebs vor, den Tempel zu einer illusionären „Räuberhöhle“ gemacht zu haben, in die sie sich im falschen Vertrauen auf die Heilswirksamkeit des von ihnen ausgestatteten Opferkultes zurückgezogen haben.100 E.P. Sanders und ihm darin folgend P. Fredriksen, K.R. Snodgrass und in eigener Weise auch T. Wardle haben Jesu Tempelaktion dagegen im Licht der atl. und frühjüdischen Erwartung eines neuen, eschatologischen Tempels101 als Gerichtssymbol bzw. als „enacting a restoration eschatology“102 gedeutet, das die unmittelbar bevorstehende Zerstörung des bestehenden Tempels und die darauf folgende Errichtung eines neuen und eschatologischen Tempels ankündigen soll.103 Diese Deutung liest freilich mehr in den Text hinein als aus ihm heraus. So stellt sich zum ersten die Frage, ob das Umwerfen von Tischen in der relativ abseits liegenden königlichen Stoa von Jesu Zeitgenossen als Symbol der Tempelzerstörung wahrgenommen werden konnte.104 Zweitens ergibt sich das

die Attacke gegen die Händler allerdings nicht im Rahmen der „Kommerzialisierungskritik“ deuten, sondern im Sinne einer heilsgeschichtlichen Überflüssigkeit, da deren Dienstleistungen im Licht der heilsgeschichtlichen Stunde nun nicht mehr gebraucht würden. Sach 14,21 wird jedoch im Neuen Testament nirgendwo sonst zitiert. Hinzu kommt, dass sowohl der MT wie die LXX von Kanaanäern sprechen, die als Zwischenhändler aufgetreten sind und derer es im Jerusalem und Juda der Endzeit nicht mehr bedarf. 98 Vgl. GNILKA, Markus II, 128: „Grobe Mißstände, die beim Tempelmarkt aufgetreten wären, sind uns nicht überliefert“, ähnlich SÖDING, Tempelaktion, 38, Anm. 11, und ebd., 60, Anm. 116. 99 Der Ort in der königlichen Stoa konnte auch nicht durch die Händler „entweiht“ oder durch die Passanten, welche die Halle als Abkürzung zwischen Ölberg und Stadtzentrum benutzten, verunreinigt werden, wie dies H.D. B ETZ, Jesus, 461f., und PESCH, Mk II, 198, vermuten, denn die königlichen Hallen im äußersten Süden partizipierten nicht an der Heiligkeit des traditionellen Tempelquadrats. Eine Gefährdung der Heiligkeit oder gar eine Entweihung des Tempels war hier überhaupt nicht möglich, vgl. ÅDNA, Stellung, 342–346. 100 ÅDNA, Stellung, 267–275. 101 Vgl. Ez 40–48; äthHen 90,29; 91,13; 4Q174 3,1–5; sowie →III.2.3. 102 SNODGRASS, Temple Incident, 473–475. 103 SANDERS, Jesus and Judaism, 75f.; FREDRIKSEN, Jesus and the Temple, 299; W ARDLE, Jerusalem Temple, 173f.181. 104 Vgl. SNODGRASS, Temple Incident, 465: „Turning over tables is a weak symbol of destruction, if one at all.“

2 Tempelwort und Tempelaktion Jesu

301

Problem, dass für diese Deutung die Adressaten von Jesu Attacke, konkret die Geldwechsler und Taubenverkäufer, lediglich zufällige Objekte einer eigentlich auf den Tempel zielenden Symbolhandlung sind. Schließlich wird drittens aus der Tempelaktion nicht ersichtlich, worin hier ein Element der Erneuerung und der Hoffnung sichtbar werden soll.105

In seiner Studie hat J. Ådna diese Perikope minutiös untersucht und die markinische Version als die ursprünglichste Form verifiziert, der er auch ein hohes Maß an historischer Vertrauenswürdigkeit bescheinigt.106 Dazu trägt nicht nur die vierfache Bezeugung in allen Evangelien bei, sondern auch ihre Schlüsselfunktion für die Verhaftung und den Prozess Jesu. In sekundärer Gewichtung kommt hinzu, dass die Aktion als Gemeindebildung nicht erklärbar wäre.107 Während Ådna die geschilderte Aktion für eine gemäßigte und räumlich auf den Tempelmarkt108 begrenzte Symbolhandlung Jesu hält,109 deren In-

105

Vgl. ÅDNA, Stellung, 355–357. ÅDNA, Stellung, 300–333. Auch P ESCH, Mk II, 200; GNILKA, Mk II, 130; SANDERS, Jesus and the Temple, 362, Anm. 5; SÖDING, Tempelaktion, 50; REPSCHINSKI, Größeres, 163; FREY, Temple, 452f., und SNODGRASS, Temple Incident, 429–439, zweifeln nicht an der Historizität des Berichteten, das ein Ereignis aus den letzten Tagen vor Jesu Tod wiedergebe. Für die Historizität der Perikope sprach sich bereits R. B ULTMANN in der 1. Auflage seiner „Geschichte der synoptischen Tradition“ (1921 und ebenso in allen weiteren, ab der 2. Auflage 1931 nicht mehr veränderten Auflagen) aus, vgl. Geschichte, 59. Im Blick auf die johanneische Version in Joh 2,13–22 vermuten ÅDNA, Jesus‘ Symbolic Act, 462, und SNODGRASS, Temple Incident, 444, mit der Mehrheit der Forschung eine unterschiedliche und unabhängige Tradition, die jedoch mit der synoptischen Version durch einen gemeinsamen Ursprung verbunden sei. Insgesamt gilt die Tempelaktion Jesu als „one of the most secure in the Jesus material“, so SNODGRASS, Temple Incident, 429. Zu kritischen Stimmen im Blick auf die Historizität vgl. SNODGRASS, Temple Incident, 435, Anm. 24. 107 SNODGRASS, Temple Incident, 431. Weder ist ein Anlass für eine Gemeindebildung erkennbar noch ein möglicher Gewinn von einer solchen. Es lassen sich auch keine eindeutigen Parallelen für eine solche Handlung ausmachen und die Aktion lässt sich nicht einfach harmonisch in die Reihe der bisher in diesem Kapitel behandelten Belege zu Jesus und dem Tempel bzw. der Priesterschaft einfügen. Schließlich hätte man eine Gemeindebildung kaum in so einem obskuren Zustand gelassen, sondern eine entsprechende Deutung mitgeliefert. 108 Dieser Tempelmarkt ist nach ÅDNA, Stellung, 247–251; DERS., Jesus‘ Symbolic Act, 463, vgl. auch SNODGRASS, Temple Incident, 449–452, architektonisch-archäologisch in der basilikalen Halle an der südlichen Wand des Tempelbezirks zu lokalisieren, der sog. königlichen Stoa, die in erster Linie dem Handel mit kultischem Tempelequipment diente, vgl. Jos Ant 15,411–416, sowie mSheq 5,3; 6,5; 7,2; mBek 2,4; tSheq 3,9. 109 ÅDNA, Stellung, 301–306; DERS., Jesus‘ Symbolic Act, 463.471; PESCH, Mk II, 198. Nach SANDERS, Jesus and the Temple, 372f., handelt es sich um eine prophetische Zeichenhandlung, welche die kommende Zerstörung des Tempels symbolisch andeuten soll. Deutlich ist jedoch, dass es weder um eine vollständige Besetzung des Tempels 106

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Kapitel V: Jesus, der Tempel und das Jerusalemer Priestertum

tention ausschließlich eine Signalwirkung war und keine nachhaltige Veränderung der Zustände,110 führt Snodgrass eine Reihe von Gründen an, die für eine umfangreichere Aktion sprechen und diese auch als historisch denkbar erscheinen lassen.111 Im Hintergrund steht bei ihm allerdings der Versuch, die Tempelaktion als Anlass für Jesu Verhaftung plausibel zu machen.112 Ein Konnex zwischen beiden Ereignissen ist zwar durchaus möglich, aber alles andere als sicher. Konkret behindert Jesus den Geldumtausch durch die Geldwechsler,113 den Handel mit Opfertauben114 und den Transport von Gefäßen mit Geld oder Opfergaben wie Mehl, Öl oder Wein.115 Jede einzelne dieser Maßnahmen dient nicht wie oft angenommen der „Reinigung“ von einer illegitimen Kommerzialisierung des Tempelbezirkes oder der Wahrung seiner angeblich gefährdeten Heiligkeit,116 sondern zur Einschränkung und zumindest symbolischen Unterbindung des Opferkultes, der ganz wesentlich

ging, so LOHMEYER, Mk, 237, noch um eine unhistorische Fiktion, so HAENCHEN, Weg Jesu, 382–389. 110 Sonst hätte Jesus seine Aktion in viel umfangreicherer und massiverer Art und Weise planen und durchführen müssen, freilich mit dem Ergebnis, dass sich der Konflikt mit den jüdischen Autoritäten augenblicklich zugespitzt hätte, und eine weitere öffentliche Wirksamkeit in Jerusalem undenkbar gewesen wäre. 111 SNODGRASS, Temple Incident, 447–454. 112 SNODGRASS, Temple Incident, 447: „The more one makes the event a minor incident, the more difficult it is to see it as causing Jesus’ arrest.“ 113 Da im Tempel nur mit dem tyrischen Shekel bezahlt werden konnte, vgl. tKet 12,6, hatten die Geldwechsler eine sehr grundlegende Funktion für den Kultbetrieb. Sie ermöglichten den zahlreichen Pilgern aus der mediterranen Welt den Erwerb von Opfertieren und damit die Partizipation am und den geistlichen Profit vom Sühnekult. Der tyrische Shekel war allerdings keine „bildlose“ Münze, wie häufig behauptet wird, sondern diejenige mit der höchsten Qualität und dem höchsten Silbergehalt, vgl. SNODGRASS, Temple Incident, 455. 114 Armen, die sich teure Opfertiere wie Schafe, Lämmer, vgl. Lev 4,32; 12,6; 14,10.19f., oder Ziegen, Lev 4,28, nicht leisten konnten, wurden auf dem Tempelmarkt Tauben als Opfertiere angeboten, Lev 5,7; vgl. auch 12,8; 14,21–23. Nach SANDERS, Judaism, 91, wurden Tauben im 1. Jh. n.Chr. wesentlich häufiger geopfert als Vierfüßer. Die Taubenverkäufer ermöglichten so einer Mehrheit der Pilger überhaupt das Opfer. 115 Es lässt sich nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren, von welchem Inhalt Markus im Blick auf die von ihm erwähnten Gefäße ausgeht. Wahrscheinlich handelt es sich um Stein- oder Tongefäße, in denen entweder Geld oder vegetarische Opfergaben wie Wein, Öl oder Mehl transportiert wurde; vgl. ÅDNA, Stellung, 256–265. 116 SÖDING, Tempelaktion, 60, Anm. 116, macht darauf aufmerksam, dass die Händler durch die Bereitstellung makelloser Tiere gerade die Heiligkeit des Opferkultes garantierten. Hätte Jesus mit seiner Aktion gegen eine Entheiligung des Tempels protestieren wollen, wäre seine Aktion geradezu kontraproduktiv gewesen.

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auf dem reibungslosen Geldumtausch, dem Verkauf von Opfertauben und dem Transport von Opfergaben zum Altar basierte.117 Auffallend ist ferner, dass Jesus in keiner der synoptischen Versionen die Priester(schaft) anspricht oder gar kritisiert. Lediglich in Mt 21,15ff. wird ein kurzer Dialog mit den Hohepriestern und Schriftgelehrten erwähnt, der sich aber nicht direkt auf die Tempelaktion bezieht. Den eigentlichen Konflikt führt Jesus aber auch nicht mit den Taubenhändlern und Geldwechslern, sondern vielmehr mit der Hauptfunktion des Tempels: dem Opferkult. Durch die Sabotage der Dienstleistungen der Geldwechsler und Taubenhändler wird dieser Opferkult zeichenhaft an seinem sensibelsten Punkt unterbrochen.118 Die fehlende Kritik am Priestertum ist insofern bemerkenswert, als in der Zeit des zweiten Tempels alle Klagen über den Jerusalemer Kult immer mit einem kultisch und ethisch defizitären Priestertum und einem kultisch unzulänglichen Kultvollzug begründet wurden (→III.1.2). Dies gilt für die von Maleachi angekündigte „Reinigung“ und „Läuterung“ der „Söhne Levis“ (Mal 3,3) ebenso wie für die Kritik der Psalmen Salomos an der auch ethisch begründeten Unreinheit der im Tempel amtierenden Priester in hasmonäischer Zeit (PsSal 8,7–13). Nicht zuletzt wurzelt auch die Separation der Qumrangemeinschaft in der Kritik am sog. Frevelpriester (z.B. 1QpHab 12,8f.), dem Vorwurf priesterlichen Fehlverhaltens (z.B. CD 5,6–8), halachischer Fehlentscheidungen (4QMMT) und der Anwendung eines aus ihrer Sicht falschen Opferkalenders durch die Jerusalemer Priester, was automatisch alle Opfer ungültig macht (1QpHab 11,4–8). Verglichen mit der gesamten Agenda frühjüdischer Vorwürfe gegen das Jerusalemer Priestertum fällt der Bericht von der Tempelaktion Jesu gerade durch sein Schweigen gegenüber der Priesterschaft auf. Dennoch haben jüngst T. Wardle und K.R. Snodgrass versucht, die Tempelaktion Jesu im Zusammenhang der frühjüdischen Priesterkritik zu verstehen.119 Auf der Grundlage der fragwürdigen Kommerzialisierungsthese bzw. der damit verwandten, jedoch nicht deckungsgleichen, Korruptionsthese und einer höchst spekulativen, mit zahlreichen argumenti e silentio begründeten Beweisführung wollen beide Jesu Tempelaktion als einen Protest gegen hohepriesterlichen Amts- und Finanzmissbrauch („financial improprieties“, „economic malfeasance“), Korruption und Raffgier und umgekehrt als ein „enactment of restoration eschatology“120 deuten. Wardles These basiert auf einem nur oberflächlichen Verständnis des Begriffs sph,laion lh|stw/n, dem literarkritischen Zweifel

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Mit der Behinderung von Personen, die ein skeu/oj durch den Tempel trugen, waren wohl weniger Passanten gemeint, die den Weg durch den Tempel als Abkürzung zwischen Ölberg und Weststadt benutzten, vgl. mBer 9,5c, als vielmehr Pilger, die Kultgegenstände, speziell Opfergaben, in Richtung Tempel trugen. In der johanneischen Version werden auch die größeren Opfertiere mitsamt den Händlern und Geldwechslern aus dem Tempel getrieben, vgl. Joh 2,14f. 118 ÅDNA, Stellung, 385; ähnlich KRAUS, Tod Jesu, 210, und P AESLER, Tempelwort, 244. 119 W ARDLE, Jerusalem Temple, 172–181; SNODGRASS, Temple Incident, 455– 460.473–475. 120 SNODGRASS, Temple Incident, 474f.

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an der Echtheit der beiden atl. Zitate aus Jes 56,7 und Jer 7,11121 und einer Parallelisierung seiner postulierten (Hohe)Priesterkritik mit vier anderen frühjüdischen Texten. Dabei handelt es sich um zwei (!) „anecdotes“ des Josephus über hohepriesterlichen Amtsmissbrauch aus den Jahren 59–66 n.Chr.,122 einen sehr undeutlichen und schwer datierbaren Text aus AssMos 7,1–10 und einen späten rabbinischen Text aus tMen 13,21. Aufgrund dieser mehr als dürftigen Belege kommt Wardle zum Schluss, dass „there is good reason to think that this portrayal of priestly rapacity and corruption in these sources is founded on solid historical grounds“.123 Auch Snodgrass sieht in den vielfältigen frühjüdischen Anklagen gegen priesterliche Habgier und Korruption einen wesentlichen Hintergrund der Tempelaktion: „Jesus‘ action … was a critique of the ruling priests.“124 Dazu listet er die einschlägigen Belege frühjüdischer Tempel- und Priesterkritik auf, in denen auch von Habgier und finanziellen Unregelmäßigkeiten seitens der Priester die Rede ist.125 Nun ist in keiner Weise zu bestreiten, dass die Quellen ein gewisses Maß an Korruption widerspiegeln und die Situation zur Zeit Jesu nicht wesentlich besser gewesen sein dürfte als vorher und nachher. Gleichzeitig stehen wir aber vor der verblüffenden Tatsache, dass es nicht einen einzigen eindeutigen Beleg gibt, in dem Jesus die Priesterschaft diesbezüglich angreift. Die Aktion gilt eindeutig den Tempelhändlern und Geldwechslern, nicht den Priestern. Über die Kommerzialisierungsthese wurde oben das Nötige gesagt; die auf den einschlägigen frühjüdischen Belegen sich gründende Korruptionsthese ist jedoch eine andere. Wenn Jesu Aktion im Strom frühjüdischer Priester- und Tempelkritik verstanden werden soll, bleibt rätselhaft, warum diese nur auf die priesterliche Korruption und nie auf den viel umfassenderen, schwerwiegenderen und häufiger geäußerten Kritikpunkt der kultischen Verunreinigung zielt. Die (Hohe)Priesterschaft mag korrupt gewesen sein, aber nichts deutet darauf hin, dass Jesu Tempelaktion auf diesem Hintergrund motiviert gewesen wäre.126 Insofern scheitert Snodgrass‘ Deutung an dem von ihm selbst formulierten Kriterium:

121 W ARDLE, Jerusalem Temple, 176, behauptet einerseits die Unmöglichkeit, die exakten Worte Jesu im Kontext der Tempelaktion zu rekonstruieren, postuliert aber im gleichen Atemzug „that the content of this [sc. zwar artikulierten, aber nicht mehr rekonstruierbaren] pronouncement was directly tied to forms of commercialism sanctioned by the priestly overseers of the temple that he found particularly repugnant.“ 122 Jos Ant 20,181.206. 123 W ARDLE, Jerusalem Temple, 180. 124 SNODGRASS, Temple Incident, 470; vgl. ebd., 469: „[I]t was a protest against the temple leadership and the way temple affairs were being conducted.“ 125 SNODGRASS, Temple Incident, 455–460, listet folgende Belege auf: 1QpHab 8,7– 13; 4QpNah [4Q 169] f3 und 4 1,10; CD A 6,14–17; 4QpPs 37 2,14; 3,6.12; 4QMMT 82f.; äthHen 89,72f.; TestLev 14,1–15,1; 17,8–11; TestJud 23,1–3; AssMos 5,3-6,1; Jub 23,21; PsSal 1,8; 8,9–13; PesR 47,4; tMen 13,18–23; TJes 28,1–4; T1Sam 2,17–32; mBek 5,4; mKer 1,7; mSheq 1,3; Avot Rabbi Natan 4. Er schließt mit dem Fazit, 460: „It would be naive to argue corruption was not a factor.“ 126 SNODGRASS, Temple Incident, 471, geht selbst auf dieses Problem ein und kommt dann zu dem Fazit: „Regarding the question why Jesus did not attack the ruling priests more directly, it would seem that this concern was more commercialism than corruption, and the former would be most obvious at the southern end of the temple complex.“ Kommerzialisierung ist aber etwas anderes als Korruption. Während letztere im frühjüdischen Schrifttum häufig thematisiert wird, ist dies bei ersterer nicht der Fall.

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„Any acceptable conclusion must be able to bring together Jesus‘ action with his teaching in other contexts.“127

Eine sinnvolle Interpretation der Tempelaktion gelingt dagegen nur von der Komposition der markinischen Passionserzählung her, die beginnend mit der dritten Leidensanküngung Jesu messianischen Selbstanspruch herausstellt, sein Leben als messianischer Menschensohn und Gottesknecht stellvertretend als Sühnegeld „für die vielen“ hinzugeben (Mk 10,45/Mt 20,28; vgl. Jes 53,11).128 Aufgenommen wird dieses den Tod Jesu im Licht von Jes 53 und Ps 49,8 deutende Lösegeldwort in der markinischen Version vom Kelchwort in Mk 14,24, das ebenfalls eine Deutung des Todes Jesu im Sinne eines stellvertretenden Sühneopfers impliziert (vgl. Jes 53,11; Ex 24,8).129 Eingerahmt von diesen beiden sühnetheologisch konnotierten Todesdeutungen erscheint Jesu Beeinträchtigung des Opferbetriebs als eine Störung des kultischen Sühne- und Vergebungsrituals.130 In der synoptischen Einordnung zwischen Lösegeld- und Kelchwort muss die Tempelaktion vom Ende der Passawoche her und im Licht von Kreuz und Auferstehung interpretiert werden.131 Im Horizont der markinischen Passionsgeschichte erscheint die Perikope als eine symbolische Abrogation des Tempelkultes und des kultischen Sühneinstituts. Beide werden nun durch Jesu stellvertretenden Sühnetod und die mit diesem offenbarte neue Heilsordnung obsolet und abgelöst.132 127

SNODGRASS, Temple Incident, 464. STUHLMACHER, Theologie I, 120–122.128–130; GÄCKLE, Deutung, 54–58; ÅDNA, Stellung, 429. Letzterer macht a.a.O., 428f., auch darauf aufmerksam, dass „Jesu Tempelaktion […] zeitlich, kompositionell und sachlich vom Lösegeldwort Mk 10,45 und den Spendeworten Mk 14,22.24 umschlossen [ist] und […] in Kohärenz mit ihnen gedeutet werden [muß].“ 129 STUHLMACHER, Theologie I, 131–137; GÄCKLE, Deutung, 58–61. 130 ÅDNA, Jesus‘ Symbolic Act, 469; P AESLER, Tempelwort, 244: „zeichenhafte Verunmöglichung und Aufhebung des Jerusalemer Kultbetriebs“ (kursiv bei P.); vgl. auch GNILKA, Mk II, 129: Trifft dies zu [sc. dass es bei den Geräten um Opfergaben von Pilgern ging], betrachtete bereits der vormarkinische Bericht das Vorgehen Jesu gegen den Tempel nicht als Säuberung, sondern als Ausdruck der Abschaffung des Kultes.“ 131 ÅDNA, Jesus‘ Symbolic Act, 472; vgl. DERS., a.a.O, 472f.: „The claim of the postEaster Christian community that the death of Jesus, once for all, had brought about atonement and, consequently, had replaced the sacrificial cult in the Temple thus stood in continuity with this aspect of substitution in the mission of Jesus in accordance with the way he had conceived of it himself.“ 132 GNILKA, Mk II, 131; MERKLEIN, Botschaft, 134–144; DERS., Künder, 147–150; SÖDING, Tempelaktion, 41.61f.; P AESLER, Tempelwort, 249; HENGEL, Jesus und die Tora, 160: „Wo Gott selbst sein Volk ‚heimsucht‘, bedarf es der Vermittlung durch den Opferkult nicht mehr, der Tempel muß Gottes Gegenwart selbst Platz machen.“ Auch FREY, Temple, 469, deutet die Tempelaktion im Markusevangelium im Licht des Todes Jesu und des dabei sich spaltenden Vorhangs im Tempel als ein Geschehen, das von der Passion Jesu her zu verstehen ist: „Thus, the perspective adopted in Mark 11:17 is not 128

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Während es in den frühjüdischen Diskussionen und Schismen stets um die kultische Legitimität des Tempels und seiner Priesterschaft ging, geht es in den Synoptikern vor dem Hintergrund des messianischen Anspruchs Jesu und seines bevorstehenden Sühnetodes um die zentrale Funktion und Zweckbestimmung des Tempels als solcher: Es geht um den mediatorischen Sühnekult. Der Tempel als Ort der heilvollen Präsenz Gottes und der priesterlichen Mediation der Vergebung der Sünden hat im Horizont von Kreuz und Auferstehung Jesu seine wesentlichen Funktionen verloren, was nicht zuletzt – wie noch zu zeigen sein wird – auch in der synoptischen Tradition vom sich spaltenden Vorhang als unmittelbarer Konsequenz des Todes Jesu zum Ausdruck kommt (→V.3).133 Diese Interpretation der Perikope erklärt auch den Alarmzustand der Priesterschaft, denn mit dem Tempel war doch nicht weniger als ihre eigene Existenzberechtigung verquickt. Das Scheltwort Jesu in Anlehnung an Jer 7,11 vergleicht die Händler und Geldwechsler mit den Zeitgenossen Jeremias, die in gleicher Weise geblendet durch eine falsche Heilssicherheit die Zeichen der Zeit nicht erkannten. Ein weiteres Festhalten am Opferkult wäre angesichts des gekommenen Messias Selbstbetrug.134 simply a restoration of the ‚hand-made‘ Temple and its cult in a less commercialized manner. […] The episodes of Jesus and the Temple are related with the vision of salvation for all nations, opened up through Jesus himself; the tribulations in Judea and the impending destruction are understood to be simply a step towards eschatological salvation and the erection of another temple not made with hands.“ Von daher ist auch die psychologisierende Deutung ROWLANDS, Temple, 472, wonach Jesus aufgrund des Misserfolgs seiner „Jerusalem expedition“ seine reformistische Position in eine pessimistischsektiererisch-ablehnende Position gegenüber dem Tempel verändert hätte, völlig abwegig. 133 VERSEPUT, Geographical Motif, weist in diesem Zusammenhang auf die spezifische, tempeltheologische Komposition im Matthäusevangelium hin. In der Komposition des Evangeliums ist Jerusalem und insbesondere der Tempel der geographische Fixpunkt, auf den die gesamte Handlung zuläuft. VERSEPUT, a.a.O., 119f., beschreibt den Spannungsbogen als die Rückkehr des exilierten Königs in seine Stadt. Allerdings steht am Ende dieses „Pilgerweges“, auf den der Evangelist seine Erstleser mitnimmt, nicht die Annahme Jesu, sondern seine Ablehnung, Mt 23,37–39; vgl. 27,25. Jerusalem wird zur Stadt der Rebellion und des Abfalls. Deshalb werden die Jünger nach Tod und Auferstehung angewiesen, Jerusalem den Rücken zuzuwenden und nach Galiläa zu gehen, Mt 28,10. Von dort erfolgt ihre Sendung in die ganze Welt, Mt 28,16–20. 134 Vgl. SÖDING, Tempelaktion, 61: „Jesus kritisiert eine auf das Heiligtum fixierte Heilssicherheit, die trügerisch ist, weil sie gerade das übersehen läßt, was Gott seinem in Sünde verstrickten Volk zur Rettung werden lassen will“; und a.a.O., 63: „Die Kritik Jesu setzt voraus, daß es zwischen dem eschatologischen Heil der Basileia Gottes und dem Opferkult im Heiligtum keinen inneren Zusammenhang gibt, sondern angesichts der Ablehnung seiner Botschaft durch die Protagonisten des Tempels sogar ein Gegensatz aufbricht.“

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Wie ist das Verhältnis Jesu zum Tempel im Licht dieser Perikope nun zu beschreiben? Von einer direkten, den frühjüdischen Vorbehalten äquivalenten Kritik am Tempel selbst, geschweige denn an der Prieste