Akira Kurosawa und seine Zeit [1. Aufl.]
 9783839403419

Table of contents :
INHALT
Zur Einführung in diesen Band
DIE FILME
Akira Kurosawa und seine Zeit
Akira Kurosawa: Konturen einer medialen Anthropologie
Statik und Dynamik in Kriegsschlachten bei Akira Kurosawa
Zwischen Tradition und Moderne: Schwertkampf bei Akira Kurosawa
Todesarten. Zum Verhältnis von Narrativik und Bildästhetik bei Akira Kurosawa
Der (digitale) Film öffnet die Tür in den virtuellen Raum der Malerei. Ein medientheoretischer Versuch zur Krähen-Episode aus Akira Kurosawas YUME
Kontrollierte Avantgarde und Präsentationalismus. Ästhetische Strategien in Hammetts Red Harvest und Kurosawas YOJIMBO
DIE ZEIT
Visueller Stil im japanischen Kino 1925-1945
Die europäischen Avantgarden in der japanischen Kunst 1876-1925
Brüderlichkeit des 20. Jahrhunderts. August Sanders fotografischer Menschenkatalog und Ryuzo Toriis Ethno-Fotografie
Von der Einstellung zur Einstellung. Filmtechnik und Diskursformation
Filme ausstellen – Ausstellbarkeit von Filmen?
„Eine Kunst der Zeit – wie die Musik.“ Ein Gespräch mit Mitarbeitern Akira Kurosawas
Die Autorinnen und Autoren

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Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hrsg.) Akira Kurosawa und seine Zeit

Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Ralf Schnell.

Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hrsg.)

Akira Kurosawa und seine Zeit

Medienumbrüche | Band 10

Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

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© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Susanne Pütz, Siegen; Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung mit freundlicher Genehmigung von Toho Productions, Tokyo Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-341-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Nicola Glaubitz

Zur Einführung in diesen Band ...................................................................... 7

DIE FILME Tadao Sato

Akira Kurosawa und seine Zeit.................................................................... 23 K. Ludwig Pfeiffer

Akira Kurosawa: Konturen einer medialen Anthropologie ......................... 33 Akiyoshi Shikina

Statik und Dynamik in Kriegsschlachten bei Akira Kurosawa.................... 51 Hyunseon Lee

Zwischen Tradition und Moderne: Schwertkampf bei Akira Kurosawa ............................................................. 63 Ralf Schnell

Todesarten. Zum Verhältnis von Narrativik und Bildästhetik bei Akira Kurosawa...................................................................................... 87 Jens Schröter

Der (digitale) Film öffnet die Tür in den virtuellen Raum der Malerei. Ein medientheoretischer Versuch zur Krähen-Episode aus Akira Kurosawas YUME............................................ 115 Nicola Glaubitz

Kontrollierte Avantgarde und Präsentationalismus. Ästhetische Strategien in Hammetts Red Harvest und Kurosawas YOJIMBO ........................................................................... 139

DIE ZEIT David Bordwell

Visueller Stil im japanischen Kino 1925-1945 .......................................... 161 Yuko Mitsuishi

Die europäischen Avantgarden in der japanischen Kunst 1876-1925.......................................................... 207 Kanichiro Omiya

Brüderlichkeit des 20. Jahrhunderts. August Sanders fotografischer Menschenkatalog und Ryuzo Toriis Ethno-Fotografie ........................................................... 225 Andreas Käuser

Von der Einstellung zur Einstellung. Filmtechnik und Diskursformation ............................................................ 253 Sabiene Autsch

Filme ausstellen – Ausstellbarkeit von Filmen? ........................................ 277 „Eine Kunst der Zeit – wie die Musik.“ Ein Gespräch mit Mitarbeitern Akira Kurosawas...................................... 293 Die Autorinnen und Autoren...................................................................... 311

NICOLA GLAUBITZ

ZUR EINFÜHRUNG IN DIESEN BAND1 Akira Kurosawas Kino manifestiert sich in einer überwältigenden Fülle von Themen, Formen und Genres. Zwischen 1943 und 1993 erkundeten Kurosawas 31 Regiearbeiten zeitgenössische und historische Themen, deren literarische, bildkünstlerische, filmische und musikalische Referenzpunkte nahezu global gestreut waren und dennoch immer auf Japan bezogen blieben. Locker episodische wechseln mit episch breiten Erzählungen ab, gewalttätige Schwertkampf- und Gangsterfilme stehen neben Transpositionen literarischer Klassiker mit ausgeprägter Sentimentalität. In ihre Inszenierung fließt die stilisierte Bildsprache des Nô-Theaters ebenso ein wie der amerikanische Western und der deutsche expressionistische Stummfilm der 1920er Jahre. Kurosawa (1910-1998) gilt häufig als der ‚westlichste japanische Regisseur‘. Tatsächlich verdichtet sich in œuvre und Person das Spannungsverhältnis von Japan und Westen, Tradition und Moderne. Dieses komplexe und dynamische Spannungsverhältnis steht im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes. Die kulturvergleichende und kulturhistorische Perspektive der einzelnen Beiträge richtet sich vorrangig auf die Rolle von Medien in dieser Konstellation. Medien kommen als Gestaltungs- und Inszenierungsweisen anthropologischer Dispositionen in den Blick, die historisch und kulturell variabel, aber nicht unbegrenzt verformbar sind. Die Filme Kurosawas inszenieren solche medialen Gestaltungsweisen erneut. Dabei verwenden sie vertraute und avantgardistische, kulturspezifische und kulturübergreifende, filmische und intermediale Bild- und Erzählformen. Der vorliegende Band untersucht die medienästhetischen Ausprägungen dieser medienanthropologischen Grundlage. Diese neue Perspektive auf Akira Kurosawa und seine Zeit baut auf einer langen kultur- und filmwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit seinem Filmwerk auf. Außerhalb Japans hat die Auseinandersetzung vorwiegend in den USA und in Frankreich stattgefunden. Sie gruppiert sich um vier eng miteinander verschränkte Hauptthemen, die hier zur 1 Ich danke Andreas Käuser für seine Mitarbeit an diesem Text und Hyunseon Lee für hilfreiche Kommentare.

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Einführung noch einmal kurz rekapituliert und auf unsere Fragestellung hin perspektiviert werden sollen. Zentral ist erstens die interkulturelle Position Kurosawas zwischen Japan, USA, Europa und Russland. Zweitens steht die Inszenierung von Individualität als Suggestion und Suspendierung von Humanität und Heroismus im Mittelpunkt der Diskussionen. Drittens geht es um eine filmische Ästhetik, die Klaus Kreimeier treffend als Kombination von „außergewöhnlicher Sinnlichkeit und, gleichzeitig, bestürzender Abstraktheit“2 charakterisiert hat, die aber aufgrund ihrer intermedialen Orientierung nicht allein in einem filmwissenschaftlichen Rahmen zu beschreiben ist.

1.

Tenno, auteur oder östlichster Botschafter Hollywoods?

Die japanische Presse verlieh Kurosawa den ehrerbietigen Spitznamen tenno (japanischer Kaiser), schreibt seinen Namen aber häufig in katakana (in der Silbenschrift, die eigentlich Fremd- und Lehnwörtern vorbehalten bleibt).3 Die widersprüchliche Doppelzuschreibung ‚japanisch/ westlich‘ hat Kurosawas Karriere von Beginn an geprägt. Im Zweiten Weltkrieg lehnten die japanischen Zensoren SUGATA SANSHIRO (1943; Sanshiro Sugata) zunächst als zu amerikanisch ab. TORA NO O FUMU OTOKOTACHI (1952; Die Männer, die dem Tiger auf den Schwanz traten), war ebenfalls erst 6 Jahre nach Ende der Dreharbeiten (im September 1945) in den japanischen Kinos zu sehen. In den letzten Kriegstagen fertiggestellt, missfiel die angeblich verunglimpfende Adaption eines Kabukistücks erst der japanischen Zensur und dann der amerikanischen, die sie für eine Verklärung des mittelalterlichen japanischen Feudalismus hielt.4 Der Goldene Löwe, den RASHOMON (1950; Rashomon – Das Lustwäldchen) 1951 bei den Filmfestspielen in Venedig erhielt, zog noch kompliziertere double binds transkultureller Wahrnehmung nach sich. Als erster japanischer Film, der je in Venedig gezeigt wurde, weckte er das westliche Interesse am japanischen Kino und festigte Kurosawas 2 Kreimeier, Klaus: „Fliehendes Leben, extreme Tode“, in: Akira Kurosawa (Reihe Film 41), München/Wien 1988, S. 19-48, hier S. 45. 3 Vgl. Yoshimoto, Mitsuhiro: Kurosawa. Film Studies and Japanese Cinema, Durham 2000, S. 2. 4 Vgl. Kreimeier: „Fliehendes Leben“, S. 44, Goodwin, James: Akira Kurosawa and Intertextual Cinema, Baltimore/London 1994, S. 55f., Galbraith, Stuart: The Emperor and the Wolf. The Lives and Films of Akira Kurosawa and Toshiro Mifune, New York/London 2002, S. 44f., 63.

EINFÜHRUNG

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Status in Japan. RASHOMON regte dann die gezielte Konstruktion eines bestimmten Japanbildes an: Das Daiei-Studio, das RASHOMON finanziert hatte, reagierte auf den Überraschungserfolg mit einer Vermarktungskampagne, die auf eine vermeintliche westliche Vorliebe für exotischhistorische Schwertkampffilme (jidai-geki und chambara) zugeschnitten war. Das bedeutete auch, dass Filme mit zeitgenössischem Bezug (gendai-geki) als ‚zu japanisch‘ dem Binnenmarkt vorbehalten blieben.5 Kurosawa sollte das Image eines auf Samuraifilme spezialisierten Regisseurs nicht mehr loswerden. Eine neue Generation von Regisseuren wie Masahiro Shinoda, Nagisa Oshima und Shuji Terayama befestigte es in den 1960er Jahren weiter, indem sie sich vehement von seinem angeblichen Traditionalismus abgrenzte.6 Kurosawa galt außerhalb Japans spätestens seit 1957 als ‚westlichster‘ japanischer Regisseur.7 Kritiker wie André Bazin, Michel Mesnil und Aldo Tassone suchten die kulturübergreifenden Elemente in Kurosawas Filmsprache und Thematik auf, während ein exotisches, von der japanischen Filmindustrie auch offensiv verbreitetes Japanbild vor allem in den USA die Auseinandersetzung bestimmte.8 Kurosawas Herkunft aus einer alten Samuraifamilie und seine Ausbildung in Kendo und Kalligraphie sprachen ebenso wie das filmwissenschaftliche auteur-Paradigma für eine Sicht seiner Filme als Ausdruck japanischer Traditionen und Werte.9 Die feste Verankerung des ‚letzten Samurai‘ Kurosawa in traditionellen bushido-Werten steht etwa für Donald Richie außer Frage: Trotz aller westlichen Einschläge lasse sich noch sein Filmstil am besten als japanisch kennzeichnen, denn: „Kurosawa comes from samurai stock.

5 Vgl. Galbraith: The Emperor and the Wolf, S. 140f. 6 Vgl. Prince, Stephen: The Warrior’s Camera. The Cinema of Akira Kurosawa, Princeton 1991, S. 6; Goodwin: Intertextual Cinema, S. 8; Russell, Catherine: „Men with Swords and Men with Suits. The Cinema of Akira Kurosawa“, in: Cineaste (Winter 2002), S. 4-13, hier S. 5. 7 Kreimeier („Fliehendes Leben“, S. 44) zufolge geht diese Bezeichnung auf Lindsay Andersons Artikel „Two Inches off the Ground“, in: Sight and Sound, Bd. 27, Nr. 3 (1957/58), S. 131 zurück. 8 Galbraith: The Emperor and the Wolf, S. 138. 9 Vgl. Bazin, André: Le cinéma de la cruauté, Paris 1975, S. 204f., 211, 214. (Die Texte zu Kurosawa entstanden zwischen 1952 und 1957.) Vgl. Mesnil, Michel: Kurosawa, Paris 1973; Tassone, Aldo: Akira Kurosawa, (1974) Paris 1990, S. 17, 19, 321. Zur US-amerikanischen Rezeption des japanischen Kinos im Kontext der Militäraufklärung vgl. Yoshimoto: Kurosawa, S. xi, 28, 35, 45-48.

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Whatever part heredity and environment may have played, Kurosawa himself embodies a number of these earlier qualities.“10 In Richies einseitiges Bild passt freilich nicht, dass Kurosawas Vater seine Kinder früh an Film und westliche Literatur herangeführt und dass Kurosawa zunächst Malerei im westlichen Stil studiert hatte. Auch in Interviews und in seiner 1980 erschienenen Autobiographie inszenierte sich Kurosawa als Kosmopolit, ohne seine japanische Identität und Perspektivität herunterzuspielen.11 Seine Filme spielen zwar oft in japanischen Kontexten, setzen aber einen kulturenübergreifenden und oft literarischen Erwartungs- und Wissenshorizont voraus. Das gilt besonders für seine Transpositionen von Werken Fjodor Dostojewskis (HAKUCHI, 1951; Der Idiot), Maxim Gorkys (Donzoko, 1957; Nachtasyl) und William Shakespeares (KUMONOSU-JO, 1957; Das Schloss im Spinnwebwald und RAN, 1985; Ran).12 Seine Position zwischen mehreren Kulturen verfestigte sich nach dem Misserfolg von DODESUKADEN (1970; Menschen im Abseits) und während der Krise der japanischen Filmindustrie in den frühen 1970er Jahren. Für die Realisierung seiner Projekte musste Kurosawa auf russische (DERSU UZALA, 1975; Uzala, der Kirgise), amerikanische (KAGEMUSHA, 1980; Kagemusha – Der Schatten des Kriegers) und französische Geldgeber (RAN) ausweichen. Das Repertoire Kurosawas ist vielgestaltiger, als das Schlagwort vom ‚westlichsten japanischen‘ Regisseur impliziert, und seine (Selbst)Inszenierung konturiert und konterkariert die komplexen Formen japanischer Selbstwahrnehmung wie auch westliche Bilder von Japan.13

10 Richie, Donald: The Films of Akira Kurosawa (1965), überarbeitete, erweiterte Neuauflage, Berkeley/Los Angeles/London: 1984, S. 228. Diesen Vorgaben und Interessen folgen weitgehend Prince: The Warrior’s Camera, und Desser, David: The Samurai Films of Akira Kurosawa, Ann Arbor 1983. 11 Vgl. Kurosawa, Akira: So etwas wie eine Autobiographie, München 1986, S. 15, 22, 77, 110, 175f. 12 TENGOKU TO JIGOKU (1963; Zwischen Himmel und Hölle) basiert auf Ed McBains King’s Ransom (1959), YOJIMBO (1961; Yojimbo – Der Leibwächter) auf Dashiell Hammetts Red Harvest (1927). Das Drehbuch zu NORA INU (1949; Ein streunender Hund) verfasste Kurosawa zunächst als Roman im Stile George Simenons, vgl. Kurosawa: Autobiographie, S. 205. 13 Vgl. Yoshimoto: Kurosawa, S. 2. und den Beitrag von Hyunseon Lee in diesem Band.

EINFÜHRUNG

2.

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Samurais und Samariter: Modelle des Menschlichen

Das gilt in gleichem Maß für seine Figuren, an denen Kritiker Gestalt und Gewicht kultureller Traditionen und ihre zeitgenössische Bedeutung abzuschätzen suchen. Tadao Sato etwa rückt Kurosawa entschieden in den Kontext des modernen Nachkriegsjapan. Seine Charaktere betrachtet er als Orientierungsmodelle, die alte Tugenden auf die Erfordernisse einer sich rapide modernisierenden Gesellschaft zuschnitten. Stephen Prince sieht sie zugespitzter als Amalgamierung westlich-humanistischer Individualitätsvorstellungen mit Tugenden des Zen und der Samuraikultur.14 Seelische Stärke, Mitgefühl und persönliche Integrität, aber auch Dickköpfigkeit und ungebremster Tatendrang15 zeichnen viele dieser Charaktere aus: den alkoholsüchtigen, grantelnden, aber im Grunde herzensguten Arzt Sanada und seinen Gegenspieler Matsunaga in YOIDORE TENSHI (1948; Engel der Verlorenen); den todgeweihten, sich zum Menschenfreund wandelnden Geizhals Watanabe in IKIRU (1952; Leben!); den manisch nach dem Dieb seiner Dienstpistole fahndenden Polizisten Murakami in NORA INU (1949; Ein streunender Hund) und den ausgeglichenen, doch im Falle eines Falles hochgefährlichen Schwertkämpfer Kambei in SHICHININ NO SAMURAI (1954; Die sieben Samurai). Doch auch wenn man in Kurosawas Filmen der späten 1940er und frühen 1950er Jahre eine Programmatik der Vermittlung zwischen ‚Japan‘ und ‚Westen‘, Traditionen und Modernen erkennen kann, weicht sie spätestens in den Filmen der 1970er und 1980er Jahre einem nicht mehr unmittelbar gegenwartsbezogenen Menschenbild. Für diesen eher lockeren Bezug zu konkreten historischen Situationen spricht die Plausibilität, welche die Zuschreibung eines ‚universalen‘ und damit auch transhistorischen, transkulturellen Humanismus letztendlich beanspruchen kann. Aldo Tassone verweist auf nahezu global anschlussfähige Themen wie Krieg, Tod, Initiations- und Grenzsituationen in Kurosawas Kino, deren intertextuelle Verflechtungen James Goodwin weiterverfolgt. Eine andere Frage ist, ob Kurosawa diese generelle humanistische Orientierung tatsächlich bruchlos in Szene setzte. Die humanistische Botschaft wirkt etwa auf Deleuze, Kreimeier und Visarius banal, ober14 Prince: The Warrior’s Camera, S. 114-120. 15 Vgl. Sato, Tadao: Currents in Japanese Cinema, Tokyo 1982, S. 28-30, 339, 116-31 und seinen Beitrag in diesem Band. Zu Kurosawas Charakteren vgl. Burch, Noël: To the Distant Observer. Form and Meaning in the Japanese Cinema, London 1979, S. 296.

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flächlich und aufdringlich ‚traktathaft‘.16 Tatsächlich führen bereits Kurosawas gendai-geki der unmittelbaren Nachkriegszeit weniger die Ausbalanciertheit von Individualitätsmodellen als vielmehr ihre Destabilisierung vor. Die Helden scheitern an äußeren Bedingungen, und oft erhält ihre trotzige Selbstbehauptung, von Toshiro Mifune mit Verve in Szene gesetzt, unübersehbar lächerliche oder groteske Züge. Kurosawas Vorliebe für Kriminelle, Außenseiter und Abweichler lassen ein starkes Interesse an dysfunktionalen, scheiternden Gesellschafts- und Individualitätsmodellen durchscheinen. In zeitgenössischen Settings illustrieren Kurosawas Filme die Schwierigkeit, unter den Bedingungen moderner Massengesellschaften individuelle, vor allem heroische Handlungsfähigkeit anders darzustellen als im Modus der Brechung. Wirkliche Helden sind, wie der vieldiskutierte Pyrrhussieg der Kriegerkaste in SHICHININ NO SAMURAI und Filme aus den 1960er Jahren nahe legen, nur mehr im Modus des Irrealen und/oder Sentimentalen möglich, z.B. in YOJIMBO, TSUBAKI SANJURO (1962; Sanjuro) oder AKAHIGE (1965; Rotbart). Die Aktualisierung des Heroischen in Form filmischer Narrative schlägt in die Groteske, in Sentimentalität und Naturalismus um. Heroismus erweist sich ebenso wie Humanismus als instabile Konstruktion. Deleuze beobachtet, dass Kurosawas Helden fast immer gezwungen sind, einer unklaren Situation ein moralisches Kernproblem erst abzugewinnen: Moral und Werte sind in NORA INU, YOJIMBO, SHICHININ NO SAMURAI oder KAGEMUSHA also eher improvisierte Situationsdefinitionen als voraussetzbare Leitbilder.17 Für Karsten Visarius hat die Haltung der Figuren Kurosawas daher „mehr mit Nietzsche zu tun als mit den Menschenrechten, [sie] ist eher ein Stil, eine Haltung, ein Gestus des Seins als ein moralisches Gut“.18 Es ist diese Instabilität von Rollenentwürfen, die in den Filmen den Eindruck einer starken Polarität hervorruft: zwischen einer ideellen und „zutiefst unbildliche[n] Dimension“ oder einem „cinema of ideas“ einerseits und der Einsicht, dass Menschliches ein grundlegend unbestimmtes, aber möglicherweise gefährliches Potential ist. Dieses ‚archaische‘, ‚archety-

16 Vgl. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1 (frz. 1983), Frankfurt/Main 1997, S. 256, 258. Zum ‚Traktathaften‘ vgl. Kreimeier: „Fliehendes Leben“, S. 38f., vgl. Karsten Visarius: „Kommentierte Filmographie“, in: Akira Kurosawa (Reihe Film 41), München/Wien 1988, S. 49-268, hier: S. 86; vgl. Tadao Satos Äußerungen in diesem Band („Eine Kunst der Zeit – wie die Musik. Ein Gespräch mit Mitarbeitern Kurosawas.“). 17 Deleuze: Kino 1, S. 255; vgl. Yoshimoto: Kurosawa, S. 313. 18 Visarius: „Kommentierte Filmographie“, S. 206.

EINFÜHRUNG

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pische‘ (Kreimeier) oder ‚dionysische‘ (Prince)19 Potential setzt Kurosawa in packenden und gleichzeitig formal strengen Bildern in Szene.

3.

Kino der Ideen und Kino der Sinne

Die besondere Filmästhetik Kurosawas zu charakterisieren ist schwieriger, als es zunächst scheint. Auch hier zeigt sich, dass sehr allgemeine Einschätzungen oft unbefriedigend bleiben oder irreführend sind, detaillierte Einzelanalysen (z.B. bei Karsten Visarius, Donald Richie oder Hubert Niogret) dagegen oft treffende Beschreibungen enthalten. Gängige film- und kulturwissenschaftliche Generalisierungen bieten sich oft an, passen aber nicht zueinander. Viel Kopfzerbrechen bereitet es Filmforschern etwa, in Kurosawas Filmen zwar experimentell-avantgardistische und/oder ‚traditionell japanische‘ Elemente zu finden, diese aber mit seiner virtuosen Beherrschung der Konventionen des Hollywoodkinos in Verbindung bringen zu müssen. Anders als Yasujiro Ozu, Kenji Mizoguchi oder Mikio Naruse verzichtet Kurosawa auf Blicke in die Kamera, ‚falsche‘ Anschlüsse und gebrochene Blickachsen. Er verzichtet auf Abweichungen von den Regeln diegetischer Kontinuität, die sich seit D.W. Griffith im Mainstreamkino (vor allem Hollywoods) etabliert hatten. Schließt Kurosawa, wie die Überlegungen Princes und Burchs andeuten, einen faulen Kompromiss zwischen den hegemonialen, ideologieverdächtigen Hollywoodcodes und dem ‚subversiven‘ Potential alternativer Darstellungsweisen der Avantgarden und Japans? 20 Selbst wenn neuere Studien zum japanischen Kino nicht mehr ohne weiteres formalen und erzählerischen Strukturen inhärente ideologische Bedeutungen zusprechen, bleibt es zumindest für westliche ‚distant observers‘ schwierig, zwischen absichtlichen Konventionsbrüchen und Anlehnungen an eine andere visuelle und erzählerische Kultur zu unterscheiden.21 Ästhetische Formen sieht man nach 1900 im Westen fast 19 Von Unbildlichkeit spricht Visarius: „Kommentierte Filmographie“, S. 128; vgl. 53. Vgl. Kreimeier: „Fliehendes Leben“, S. 38f.; zum ‚cinema of ideas‘ Prince: The Warrior’s Camera, S. 11, vgl. 28, 118, 127. Zu Flamboyanz, Pathos und Exzess als Konstanten in Kurosawas Kino vgl. Burch: To the Distant Observer, S. 296, und den Beitrag David Bordwells in diesem Band. 20 Vgl. Burch: To the Distant Observer, S. 123f.; 159, Prince: The Warrior’s Camera, S. xvi, 6, 158 ff., 173, Goodwin: Intertextual Cinema, S. 117. 21 Burch sieht in der japanischen Filmästhetik zumindest ein mögliches subversives Potential. Vgl. zu Infragestellungen solcher Annahmen die Beiträge in Ehrlich, Linda/Desser, David (Hrsg.): Cinematic Landscapes. Observations on the Visual Arts in China and Japan, Austin 1994 und Fischer,

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zwangsläufig durch die Brille der Avantgarden. Vincent van Gogh, W.B. Yeats, Ezra Pound, Sergej Eisenstein, Bertolt Brecht und andere hatten seit dem späten 19. Jahrhundert japanische und chinesische Bild- und Theaterformen adaptiert und im Rahmen ihrer avantgardistischen Programme verwendet.22 Daran anschließend hat z.B. das Autorenkino Godards und Antonionis mit planimetrischen Bildern gearbeitet und diese als Verweise auf filmische Mittel und als Subversion illusionistischer Hollywoodkonventionen codiert. Dieselbe Flächenhaftigkeit in einem japanischen Film (wie bei Kurosawa, der schon früh tiefenscharfe Objektive eingesetzt hatte, um flächige Bilder zu erzielen) dagegen schließt auch oder möglicherweise ‚nur‘ an eine lange etablierte, freilich auch nichtfilmische Sehtradition an.23 Ästhetische Traditionen, aber auch Traditionsbrüche sind hier nur schwer eindeutig und kulturkontrastiv zu bestimmen. Die Modernisierung verändert Funktion und Bedeutung von (ästhetischen) Traditionen; gleiches gilt für den Film als frühes und global verbreitetes Massenmedium.24 In welchem Ausmaß sich ein solcher Umbruch für Japan bemerkbar macht, ist nach wie vor umstritten. David Bordwell zeigt in diesem Band etwa, dass japanisches Kino in den 1920er Jahren rasch und gründlich die Hollywoodkonventionen einer möglichst flüssigen Erzählung (continuity) übernahm. Deren Verfeinerung und Weiterentwicklung habe auf dieser Basis, aber unter Anlehnung an ältere visuelle Stile stattgefunden. Richie, Burch und andere sprechen dagegen eher von Traditionsüberhängen, die sich – auch bei Kurosawa – in Form einer Weiterführung ‚präsentationalistischer‘ Darstellungsformen niederschlagen.25

22 23 24

25

Ralf Michael: „Der doppelte Blick des tenno. Filmische Bildschöpfungen im Spannungsfeld japanischer und westlicher Darstellungstradition“, in: Deutsches Filmmuseum Frankfurt/Main (Hrsg.): Akira Kurosawa, Kinematograph, Nr.18/2003 (Ausstellungskatalog), Frankfurt/Main 2003, S. 1229. Vgl. Fischer: „Der doppelte Blick des tenno“. Fischer: „Der doppelte Blick des tenno“, S. 22. Vgl. Antoni, Klaus: „Tradition und Traditionalismus im modernen Japan – ein kulturanthropologischer Versuch“, in: Japanstudien, Bd. 3 (1991), S. 105-128, hier: S. 110-112, 114. 117; Rimer, Thomas: „Film and the Visual Arts in Japan“, in: Ehrlich/Desser (Hrsg.): Cinematic Landscapes, S. 149-154, hier S. 150, 151-153. Eine solche Tendenz zeichnet sich durch Abstand vom Illusionismus aus und arbeitet stattdessen additiv mit einzelnen, diskreten Elementen (z.B. Stimme, Ausdruck, Bild, Narration, Bewegung, Musik, Aufführungs- oder Umraum). Vgl. Burch: To the Distant Observer, S. 13, 20, 31f, 53, 78f., 85, 117. Vgl. zu einer anderen Sicht des Films als „instrument of recording and shaping experience“ und als „elitist preserver of a textual tradition that

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Kurosawas markante stilistische Signaturen (die Wischblende, Tiefenschärfe, Farbigkeit) ermöglichen gleichfalls mehrere Kontextualisierungen. Die Stilmittel stehen im Dienst der Diegese (wie im Hollywoodkino). Sie halten die bildliche und akustische Organisation des Materials jedoch ständig oberhalb der Aufmerksamkeitsschwelle und deuten weitere, medienübergreifende und transkulturelle Verweisungsebenen an. Das Filmen mit mehreren Kameras beispielsweise (erstmals in SHICHININ NO SAMURAI) zeitigte im Zusammenschnitt unterschiedlicher Perspektiven ‚kubistische Verfremdungseffekte‘,26 erleichterte es aber andererseits den Schauspielern, filmischen Authentizitätscodes zu entsprechen: Da sie nicht bewusst für die Kamera agierten, wirkte ihre Performanz weniger theatralisch.27 Auch die langgedehnten Todesszenen28 produzieren einen Überschuss an Bedeutungen und Emotionen, der eine diegetische Funktion übersteigt. Für die akustische Ebene seiner Filme gilt dasselbe: Ausgefeilte Geräuscheffekte und Filmmusik stehen zwar im konventionellen Dienst der emotionalen Intensivierung der Handlung, werden aber eigens wahrnehmbar gemacht. Das Bolero-Motiv in RASHOMON, die ausgefallene Genrewahl in NORA INU, die ungewöhnliche Instrumentierung in YOJIMBO und der oft kontrastive Einsatz von Musik und Bild weisen beiden Elementen einen eigenständigen Status zu.29 Überschüsse an Bedeutung, Intensität und Expressivität kennzeichnen auch die thematische Ebene: Auch ‚Menschsein‘ manifestiert sich bei Kurosawa vorzugsweise im Modus exzessiver und flamboyanter Inszenierung, in Grenzsituationen und bei randständigen Charakteren. Es erscheint als grundsätzlich unbestimmtes Potential, das in Form überbordender Energie und als emotionaler Exzess immer wieder aus humanistischen Formaten ausbricht.30 Als Leitmotiv ziehen sich durch Kurosawas Filme daher der Zusammenstoß und das gleichzeitige Zusammenspiel menschlicher Dispositionen mit kulturell geprägten, oft stereotypisierten Inszenierungsmodellen von Individualität. Dieses Leitmotiv ist möglicherweise auch der Grund dafür, dass die film- und kulturwissenschaftliche Beschreibung dieser Filme ihre Stärken eher im Rahmen von Detail-

26 27 28 29 30

paradoxically was no longer defined by the interdependence of word and image“ die Einleitung der Herausgeber (S. xxv) und die Beiträge in Washburn, Dennis/Cavanaugh, Carole (Hrsg.): Word and Image in Japanese Cinema, Cambridge 2001. Vgl. Prince: The Warrior’s Camera, S. 173. Vgl. Kurosawa: Autobiographie, S. 229f.. Vgl. den Beitrag von Ralf Schnell in diesem Band. Vgl. Tassone: Akira Kurosawa, S. 319. Vgl. Goodwin: Intertextual Cinema, S. 66, Prince: The Warrior’s Camera, S. 117.

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analysen ausspielt und sich mit generalisierten Fragestellungen schwer tut. Der medienanthropologische und medienavantgardistische Hintergrund, vor dem die durchaus heterogenen Beiträge dieses Bandes entstanden sind, sollte daher nicht als weiterer Generalisierungsvorschlag verstanden werden. Er stellt vielmehr das gemeinsame Bezugsfeld dar, auf das sich verschiedene Ansätze, unterschiedliche Aspekte und Erkenntnisinteressen beziehen lassen: Die medial vermittelte Gestaltung menschlicher Dispositionen in ihrer stilistisch markanten Reinszenierung durch Kurosawa ist im doppelten Sinne die Verhandlungsbasis für kulturübergreifende oder kulturkontrastive, medienästhetische und mediengeschichtliche Fragestellungen.

4.

Akira Kurosawa in neuer Sicht

In neuer Sicht erscheint das Werk Kurosawas in diesem Band insofern, als interkulturelle, intermediale sowie interdisziplinäre Perspektiven sich in einer medienästhetischen Anwendung auf die Filmästhetik im allgemeinen und auf diejenige Kurosawas im speziellen bündeln. In aller Kürze sollen diese inhaltlichen und methodischen Aspekte der folgenden Beiträge hier vorgestellt werden, um – in einer Erweiterung der Skizze zum internationalen Forschungsstand – herauszustellen, wie das Werk Kurosawas zum konkreten Untersuchungsgegenstand medientheoretischer Ansätze werden kann, wie das Filmwerk umgekehrt aber auch die Weiterentwicklung dieser medientheoretischen und filmwissenschaftlichen Ansätze befruchten und befördern kann. Findet die interkulturelle Perspektive in der internationalen Beteiligung einen konkreten Ausdruck, so folgt die thematische Strukturierung des Bandes der Überlegung, dass die konkreten und detaillierten Auseinandersetzungen mit Kurosawas Filmen und ihrer Ästhetik (Schröter, Sato, Pfeiffer, Schnell, Glaubitz, Shikina, Lee, Bordwell) einer allgemeineren kulturell-ästhetischen und diskursiv-epistemologischen Kontextualisierung bedürfen (Pfeiffer, Mitsuishi, Bordwell, Omiya, Käuser, Autsch). Der direkte Blick auf das Medium Film und die indirekte Auseinandersetzung mit dem Film im Lichte seiner Diskurse widerspiegeln eine Ambivalenz und Widersprüchlichkeit, die nahezu alle Beiträge bei Kurosawa ausmachen. Ob nun die Divergenz von Moderne und Vormoderne, westlich und japanisch oder diejenige von Malerei und Film, cadre und cache: Die Beiträge suchen paradoxe und dichotomische Konstellationen im Werk auf, die filmästhetisch und -technisch durch das

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Hereinnehmen heterogener Hintergrundsemantiken und die multiple Bezugnahme auf diverse Medien zuwege gebracht werden. Ist der Intermedialitätsdiskurs eines derjenigen Analyseinstrumentarien, welches sich hervorragend auf Kurosawas Werk anwenden lässt, so legt diese intermediale Sichtweise diskrepante Strukturen und konträre Werkebenen frei. Insbesondere Malerei und Film, Fotografie und Film, aber auch Film und Ausstellung, Diskurs und Medium erstellen ein Koordinatennetz intermedialer Bezüge, in denen sich Kurosawas Werk situieren lässt. Ohne die Berücksichtigung dieser Medienkonfiguration und Medienkoppelung ist es aber auch kaum angemessen zu verstehen. Das zeigen die Beiträge von Schnell und Käuser, die sich mit der Bezugnahme auf die expressionistische deutsche Filmavantgarde und ihr diskursives Umfeld befassen, und die Bezüge Kurosawas zur amerikanischen Film- und Literaturkultur, die Glaubitz und Bordwell thematisieren. Eine film- und bildästhetische Fundierung bildet daneben einen Schwerpunkt und ein Verbindungsmoment der Beiträge. Sie ist, wie sich deutlich abzeichnet, nur durch interkulturelle sowie intermedial-interdisziplinäre Sichtweisen zu explorieren, die dann beispielsweise die (medien-)avantgardistische Grundierung des historischen Arbeitsumfelds Kurosawas zum Vorschein bringen (Mitsuishi). Formal gesehen erschließt sich das Werk Kurosawas bis in filmtechnische Details hinein aus der Dissoziation von cadre und cache (Schröter), Fotografie und Film (Omiya), Oper und Film (Pfeiffer, Lee), Einstellung und Montage (Bordwell, Schnell, Käuser). Doch die Ergänzung filmästhetischer durch kulturell-anthropologische Prämissen in diesen Beiträgen zeigt, wie diese formale Ebene durch semantische oder diskursive Elemente überhöht und transzendiert wird: Kampf und Harmonie, Ruhe und Bewegung, Intensität und Distanz, Moralität und Aggressivität, Tod und Leben werden als antagonistische Begriffe dynamisch kombiniert. Im Rahmen einer „Ästhetik des Untergangs“ (Schnell) gelingt Kurosawa die überzeugende filmische Darstellung der agonalen Konstellation, mit der durch moderne Medienkultur traditionelle Kulturformen – einschließlich deren anthropologischer Dispositionen – mittels filmisch-avantgardistischer Assimilierung destruiert werden. Der Kampf, den Shikina, Lee und Schnell als hervorstechendes Merkmal dieser Filme identifiziert haben, ist daher als Allegorie dieser Dialektik der Moderne zu verstehen. Diese Allegorie zielt, wie die Beiträge von Omiya, Käuser und Pfeiffer nahelegen, noch allgemeiner auf eine kulturelle Semantik der Moderne, das heißt auf eine anthropologische Kontextualisierung

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NICOLA GLAUBITZ

medialer Innovationen ab, wie sie etwa auch den anthropologisch-ethnologischen Blick der Fotografie kennzeichnet. Die wiederkehrenden thematischen und ästhetischen Muster in Kurosawas Filmen verdichten sich folglich zu einer Anthropologie der Medien. Wenn ein hoher medientechnischer Standard einen besonders scharfen Blick auf humane Dispositionen zulässt, erweitert er andererseits – wie die Beiträge von Schnell und Pfeiffer verdeutlichen – die Spielräume ihrer Darstellung. Kurosawa versenkt eine solche Visibilisierung humaner Dispositionen und Verhaltensweisen in die Fremdheit einer historistisch nachgestellten japanischen Tradition und ruft so vermeintliche anthropologische Konstanten auf – männliche Aggressivität und agonale Gesellschaftsstruktur, moralische und ethische Wertekanons. Dieser anthropologische Historismus ist jedoch gebrochen: Existenz und Geltung solcher Konstanten beschränken sich auf den Bereich ihrer filmtechnischen Realisierung und stellen sich als durchaus ambivalente und paradoxe anthropologische Dispositionen dar. Kurosawa nutzt und reflektiert daher die besondere Möglichkeit von Film und Kino, in medialer Verfremdung und Affirmation des Humanum dessen medientechnische und -ästhetische Aufhebung sinnlich und affektiv zu inszenieren.

Danksagung Der vorliegende Sammelband entstand aus der Zusammenarbeit des DFG-Forschungskollegs „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen mit Forschern der Keio-Universität Tokyo. Aus der Kooperation des Teilprojekts „Medienanthropologie und Medienavantgarde“ (Siegen) mit Prof. Masato Izumi und Prof. Kozo Hirao (Tokyo) gingen im November 2003 eine Tagung und eine Ausstellung zu Akira Kurosawa hervor, an welche die hier versammelten Beiträge anschließen. Ohne das hohe Engagement und die Unterstützung der im Folgenden genannten Einzelpersonen und Institutionen wäre keines der beiden Projekte möglich gewesen: Teruyo Nogami, Yoshiro Muraki, Masanobu Deme, Tadao Sato (Diskussion, Vorträge und Bildmaterial), Kentaro Nakaya (Anregung und Kontakte), Yuko Yamaguchi, Yuko Mitsuishi, Mechthild DuppelTakayama, Ute Schmidt (Übersetzungen, Organisation), Akio Konuma, So Yoshimura, Asako Ishizaki, Megumi Shimizu, Christoph Meibom, Anneli Fritsch (Technik, Organisation); Akihide Tamura, Jiro Miyagawa, Minoru Tabata bei Kurosawa-Productions, Toho, Kadokawa Pictures AG (Bildmaterial), Universitätsbibliothek Siegen. Finanziell unterstützt

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haben uns die JSPS (Japan Foundation), die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Forschungsinstitut für Geistes- und Sozialwissenschaften Siegen. Wir danken außerdem Georg Rademacher und Susanne Pütz, die den Einband gestaltete. David Bordwell schließlich danken wir für seine spontane und effektive Hilfe bei den Verhandlungen um die Übersetzungsrechte seines Beitrags sowie Ralf Schnell und K. Ludwig Pfeiffer für die organisatorische und konzeptionelle Initiative. Die Abbildungen sind (wenn nicht anders vermerkt) Screenshots und werden ausschließlich im Rahmen des deutschen Zitatrechts verwendet.

D IE F ILME

TADAO SATO

AKIRA KUROSAWA UND SEINE ZEIT Akira Kurosawa wurde im Jahre 1910 in eine Familie geboren, die zur Samuraiklasse gehört hatte. Sein Vater war beim Militär tätig und wurde dann später Sportlehrer an einer Militärakademie. 1910 war ein Jahr, in dem das japanische Militär nach dem gerade errungenen Sieg im Russisch-Japanischen Krieg hohes Ansehen genoss, und dadurch auch der Geist der Samurai als Ursprung der japanischen Militär-Moral in der Volkskultur neue Beachtung fand und hoch gelobt wurde. Dies stellt eine Wende dar, nachdem die Samurai mit der Meiji-Restauration von 1868, also etwa 50 Jahre zuvor, als Gesellschaftsklasse abgeschafft worden und daher auch ihr Geist verloren gegangen war. Dieser Geist der Samurai, der so genannte bushido, war in der Feudalzeit ein Moralsystem, dessen Kernpunkt die absolute Ergebenheit und Ehrerbietung dem Dienstherren gegenüber war. Es hat viele Ähnlichkeiten mit dem Rittertum im feudalen Europa. Doch es gibt meiner Meinung nach unter anderen einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Moralsystemen. Auch im europäischen Rittertum dienten die Ritter ihren Herren treu, aber gleichzeitig, zumindest bei den heldenhaften Rittern, von denen in den Ritterromanen erzählt wird, leisteten sie auch Minnedienst. Wenn die Liebe und Treue zu ihrem Herrn und die Minne zu ihrer Herrin sich widersprachen, hatten sie die Möglichkeit, der Minne den Vorrang zu geben. An diesem Punkt meine ich den Keim der Demokratie sehen zu können, die dann etwas später in Europa gedieh. Denn im bushido hat auf keinen Fall die Minne Vorrang, sondern unter allen Umständen die Treue zum Herrn. In diesem Sinne meine ich, dass es vielleicht nicht ganz unmöglich, aber doch viel schwieriger war, aus bushido die Demokratie zu entwickeln, als aus dem europäischen Rittertum. Mit ‚nicht ganz unmöglich‘ beziehe ich mich auf Elemente, die auch wichtige Grundelemente des bushido sind, wie z.B. der Hass gegen die Ungerechtigkeit oder das Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein. Hätten sich diese Elemente mit dem demokratischen Gedanken vereint, dann hätten sie eine tatkräftige Macht zur Durchführung von sozialen Reformen bilden können.

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Auf jeden Fall war die Kindheit Akira Kurosawas also die Zeit, in der der durch den Sieg im Russisch-Japanischen Krieg verursachte Nationalismus sich mit der Verherrlichung des bushido verband, und die Geschichten der heldenhaften Samurai bildeten die Hauptströmung in der damaligen Volkskultur. Der Vater Kurosawas hatte, obwohl er vom Militär kam, einen relativ bürgerlichen gesunden Menschenverstand und versuchte nicht, seine Kinder mit nationalistischem Gedankengut oder mit der Zelebrierung des bushido bewusst zu beeinflussen. Aber wenn Kurosawa trotzdem auf seine Samurai-Abstammung stolz gewesen sein sollte, war das ganz natürlich, und ich würde sagen, dass hier die Wurzeln des internationalen Regisseurs liegen, der die menschliche Seite der Samurai zum Ausdruck gebracht hat. Filmgeschichtlich betrachtet, etablierte sich 1910 das Genre des jidai-geki, d.h. des Historienfilms, in dem die Samurai als Helden dargestellt wurden, und etwa bis zur Mitte der 1960er Jahre gehörten über die Hälfte der japanischen Filme zu diesem Genre. Dass ein filmisches Genre über eine so lange Zeit ein so großes Kontingent hat, ist eine Seltenheit, auch auf internationaler Ebene. Ich vermute, dass dieses Phänomen aus einer Kombination von Gefühlen des Stolzes und der Isoliertheit Japans entstand; auf der Grundlage des Eindrucks, auf der ganzen Welt habe nur Japan ein nicht-westliches Zivilisationssystem bewahrt, das trotzdem mit dem westlichen mithalten könne. Die Samurai als Gesellschaftsschicht machten in der feudalistischen Zeit maximal 5 % der Bevölkerung aus, d.h. der größte Teil der modernen Japaner stammt von Bauern, Handwerkern oder Händlern ab. Aber viele Leute, besonders kleine Jungen, sahen die heldenhaften Samurai in den Filmen und ließen sich von der Illusion berauschen, auch ein Abkömmling jener Samurai zu sein. Doch es herrschte nicht nur die berauschende Illusion, sondern der Modernisierungsprozess Japans wurde weitergetrieben. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde viel westliche Philosophie und Ideologie importiert, und besonders in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen Kurosawa seine Kindheit und Jugendzeit verbrachte, begannen sich Antinationalismus und Antifeudalismus unter Intellektuellen wie auch unter der allgemeinen Bevölkerung zu verbreiten. Kurosawa erwähnte wiederholt respektvoll einen Kunstlehrer, bei dem er in der Oberstufe der Grundschule Kunstunterricht hatte, als seinen lebenslangen Lehrer. Dieser Kunstlehrer gehörte offensichtlich zu der Strömung der freien Künstlerbewegung, die die Spitze der damaligen progressiv-liberalen pädagogischen Bewegung bildete. Kurosawa schreibt in

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seiner Autobiographie auch, dass er in der Mittelschule gegen den Lehrer für Militärübungen rebellierte. Damals wurde das Militär weltweit abgerüstet, auch in Japan, und deshalb waren arbeitslose Soldaten in die Mittel- und Oberschulen sowie die Universitäten als Lehrer verpflichtet worden, um mit den Schülern und Studenten in den obligatorischen Unterrichtsstunden Militärübungen zu machen. Das Militär leistete gegen die damals herrschende liberale Tendenz Widerstand und versuchte, mit der militärischen Erziehung das Militärwesen durchzusetzen. In seiner Jugend rebellierte Kurosawa wiederholt gegen diesen Lehrer und zeigte seine starke Abneigung gegen das Ganze. Kurosawa hatte einen älteren Bruder, den er sehr schätzte. Dieser Bruder war sehr begabt und die Hoffnung seiner Eltern, aber er wurde Filmerzähler. Im damaligen Japan führte man die Stummfilme mit Erläuterungen von Erzählern vor. Bis etwa um 1920 wurden die Filme als Vulgärunterhaltung betrachtet und dementsprechend wurde auch die Leistung des Filmerzählers, der die Stimmen der Männer oder Frauen nachahmte und den Text zu dem Film vortrug, als Trivialkunst der Massenkultur angesehen. Aber der Bruder Kurosawas erzählte hauptsächlich den Text zu europäischen Kunstfilmen. In Japan fand sich damals unter den vielen Kinobesuchern nur ein kleines Publikum junger Intellektueller, z.B. Studenten, für solche Filme, die aus Europa importiert waren. Dies hatte eine besondere Bedeutung in der Massenkultur Japans. Denn außer in den Filmen konnte man fast nirgendwo in der populären Kunst damals die Ideen und das Handeln des Individualismus, des Liberalismus sowie Liebesbeziehungen positiv ausgedrückt sehen. In der geschlossenen, noch stark feudalistischen Gesellschaft Japans gab es hier die Möglichkeit, mit der modernen westlichen Kultur in Berührung zu kommen. Kurosawa wollte als junger Mann Maler werden. Doch er sah auf Empfehlung seines Bruders viele europäische und amerikanische Kunstfilme aus der Stummfilmzeit. Kurosawa hat z.B. im Jahre 1947 den Film SUBARASHIKI NICHIYOBI (Ein wunderschöner Sonntag) gedreht. Das Drehbuch des Filmes wurde nach der Erinnerung Kurosawas in Anlehnung an ISN’T LIFE WONDERFUL geschrieben, einem amerikanischen Film von D.W. Griffith aus dem Jahr 1924. Auch in dem weltweit bekannten Film RASHOMON (1950; Rashomon – Das Lustwäldchen) wollte Kurosawa eigentlich nicht, wie oft behauptet wird, philosophische Thesen darstellen – wie ‚Wahrheit ist nirgends‘ oder ‚die Menschen sind unglaubwürdig‘. Vielmehr sagte er einmal, er habe an die avantgardistischen Filme gedacht, die um die zweite Hälfte der 20er Jahre in Frankreich hergestellt wurden, und danach RASHOMON gedreht.

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Akira Kurosawa mag schon als kleines Kind stolz auf seine Abstammung von einem Samuraigeschlecht und seinen Status als Sohn eines militärischen Vaters gewesen sein. Als Jugendlicher genoss er dann auf natürliche Weise die westliche Kultur, die in der damaligen japanischen Gesellschaft als Ideal galt. Der starke Einfluss dieser Erlebnisse ist evident in seinen Filmen, die er später als Regisseur drehte. Um 1930 wurden die jungen japanischen Intellektuellen wie Studenten oder Künstler alle marxistisch. Eine marxistische Bewegung gab es damals nicht nur in Japan, sondern es war ein fast internationales Phänomen. Etwa in dieser Zeit stimmten die in Japan herrschende Philosophie und die dominierende Kulturbewegung mit den internationalen Tendenzen überein. Es war bei jungen Künstlern fast Mode, Mitglied einer marxistischen Organisation zu werden. Auch der junge, noch unbekannte Künstler Akira Kurosawa wurde im Jahr 1929 Mitglied des japanischen Proletarischen Kunstverbandes. Dort malte er propagandistische Bilder und war als Vermittler der politisch illegalen Untergrundbewegung unterwegs, bis er sich schließlich im Jahr 1932 völlig erschöpft in das Haus seines Bruders flüchtete und dort einige Tage durchschlief. Als er aufwachte, soll er sich von der Ideologie so befreit gefühlt haben, als wäre er einer ständigen Bedrohung entkommen. Damals gab es viele junge Leute, die sich in den linken Bewegungen engagierten, doch diese wurden von der Regierung vehement unterdrückt und somit konnten nur ganz wenige ihr Engagement durchhalten. Die meisten von ihnen schworen vor Gericht ihrer Ideologie ab und wurden entlassen. Entweder vergaßen sie dann das Ganze, oder aber sie nahmen ihre Aktivitäten nach 1945 wieder auf, als Japan den Krieg verloren hatte und als demokratischer Staat wiederaufgebaut wurde, ihnen somit auch Geistesfreiheit gesichert war. Kurosawa ging aber nach dem Krieg nicht mehr zu einer linken Partei zurück. Er hatte wohl die schmerzhafte Erfahrung gemacht, dass Kunst und Ideologie nicht miteinander vereinbar sind. Aber dass diese Erfahrung mit der linken Bewegung doch ein wenig seine Arbeit als Regisseur beeinflusste, kann man durchaus erkennen. In dem Film WAGA SEISHUN NI KUINASHI (1946; Ich bereue meine Jugend nicht) werden z.B. die Studentenbewegung vor dem Weltkrieg und die Antikriegsbewegung der Marxisten während des Krieges dargestellt. Im Film AKAHIGE (1965; Rotbart) werden die Armutsprobleme der sozial niedrigen Schichten in der Edo-Zeit behandelt. Doch in dem Film IKIMONO NO KIROKU (1955; Ein Leben in Furcht), der das Thema des Protests gegen die Wasserstoffbombenversuche aufnahm, versuchte er möglichst der realen politischen Bewegung aus dem Weg zu

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gehen. Die Bewegungen gegen die Nuklearwaffenrüstung wurden in Japan hauptsächlich von den kommunistischen und sozialistischen Parteien angetrieben, die um die Führungsmacht kämpften, deshalb hatten diese Bewegungen schon eine politisch wichtige Bedeutung. Kurosawa aber ignorierte sie gänzlich und stellte diese Nuklearproblematik im Kontext der menschlich instinktiven Angst dar. Dies machte einen etwas merkwürdigen Eindruck, und das Publikum war verwirrt. Hier vermute ich, dass Kurosawa ein starkes Interesse an sozialer Gerechtigkeit hatte, aber gerade deshalb seine Interessen nicht mit einer politischen Ideologie verbinden wollte. 1936 gab Kurosawa seinen Wunsch, Maler zu werden, auf und begann bei einem Filmverleih als Regieassistent. Im Jahr 1943 machte er sein Debüt als Regisseur mit dem Film SUGATA SANSHIRO (1943; Sanshiro Sugata). Damals führte Japan seit 1937 einen Krieg gegen China und war im Jahre 1941 mit den Angriffen auf Amerika und England in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Als Kurosawa Filmregisseur wurde, stand die Filmproduktion gänzlich unter der Kontrolle der Regierung, und es wurden viele Propagandafilme hergestellt. Kurosawa sollte auch einen solchen Film produzieren, doch er versuchte, von dem zu offensichtlich propagandistischen Plan abzuweichen. Trotzdem musste er Kompromisse eingehen. Der Film SUGATA SANSHIRO ist die Geschichte eines Judoka im 19. Jahrhundert. Da die Handlung nach der Abschaffung der Samuraiklasse durch die Meiji-Restauration spielt, ist die Hauptfigur Sanshiro Sugata kein Samurai, aber er bewahrt vorbildlich den Geist der Samurai. Man könnte sagen, dass dieser Film der Archetyp aller späteren SamuraiFilme Kurosawas ist. Der extreme Stoizismus und die Selbstdisziplin, die Ehre und das Pflichtgefühl werden hier gezeigt. Dies war keine direkte Propaganda für den Krieg, widersprach aber auch nicht der Stimmung der Kriegszeit, weil die Militaristen behaupteten, dass die gegenwärtigen Militärs die rechten Erben des Geistes der Samurai seien. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich Kurosawa während der Dreharbeiten zu diesem Film an seine Kindheit erinnerte. Kurosawa sagte auch selbst, dass er, als er als kleiner Junge Kendo übte, genau so ausgesehen habe wie Sanshiro Sugata im Film. Nach der Kriegsniederlage wurde unter amerikanischer Besatzung eine rapide Demokratisierung betrieben. Die Anzahl der jidai-geki, die bis zu diesem Zeitpunkt über die Hälfte der japanischen Filmproduktion ausgemacht hatte, wurde von der amerikanischen Besatzungsmacht stark reduziert. Die Amerikaner waren nämlich der Meinung, dass die Samu-

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rai-Filme die feudalistischen Gedanken affirmierten, die die Basis des Militarismus bildeten. Man kann eigentlich nicht sagen, dass alle jidaigeki feudalistisches Gedankengut beinhalteten, doch die Hauptströmung hatte in der Tat solche Tendenzen. Nach 1952, als die Besatzungszeit endete, kamen jidai-geki dieser Art wieder auf, und bis zur Mitte der 60er Jahre stabilisierte sich ihre Produktionsanzahl erneut auf über die Hälfte der japanischen Filme. Kurosawa drehte zu Beginn der Nachkriegszeit keinen Samurai-Film, sondern stellte in idealistisch-realistischen Beschreibungen hauptsächlich Menschen dar, die versuchten, in der damaligen chaotischen Gesellschaft aufrichtig zu leben. Diese Filme haben auf meine Generation, die die Kinder- und Jugendzeit in der Nachkriegsphase erlebt hat, einen starken Einfluss ausgeübt als ‚Richtlinie‘ für das Leben. Der Film IKIRU (1952; Leben!) handelt z.B. von einem Mann, der bei der Stadtverwaltung als unterer Abteilungsleiter tätig ist. Eines Tages erfährt er, dass er Krebs hat und nur noch ein halbes Jahr zu leben hat. Er versucht die Angst vor dem Tod zu überwinden, indem er seine Pflichten als Beamter vollständig erfüllt, und stirbt dann in Ruhe und Frieden. Dieser Gegenwartsfilm hat mit den Samurai nichts zu tun. Dennoch bin ich der Meinung, dass dieser Beamte uns heute Lebenden die beste Seite der Samurai-Tradition übermittelt. Wenn man die Tradition der Samurai als eine Tradition der Stärke und des Stolzes von Kriegern bezeichnet, kann man diesen Beamten, der kein Krieger ist, sogar eher schwächlich aussieht, mit seinem unsicheren Auftreten seinem Chef gegenüber keinesfalls als Samurai betrachten. Doch in der friedlichen Zeit zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert haben die Samurai in der Tat nicht gekämpft und waren, wie unsere Hauptfigur, selbst als Beamte tätig. Ihnen wurden eine starke Moral, Stolz und stoische Selbstbeherrschung in ihrem Dienst als Beamte abverlangt. Die Hauptfigur, die sich des bevorstehenden Krebstodes bewusst wird, handelt so tatkräftig, als ob sie sich plötzlich an die beste Seite der Samurai-Tradition erinnert hätte, die den Tod im Dienst zur Ehrensache erklärt, und stirbt, als ob sie damit zufrieden wäre. In diesem Sinne meine ich, dass dieser niedrige Beamte der Gegenwart der beste Samurai ist, den Kurosawa überhaupt dargestellt hat. Ich finde, dass hier, wenn auch sehr verklärt, der Geist ausgedrückt ist, der den moralisch unterstützenden Kern für die Restaurations- und Restitutionsarbeit des Nachkriegsjapan bildete. Im Jahre 1952, in dem dieser Film gedreht wurde, ging die amerikanische Besatzungspolitik zu Ende, und somit konnte man jidai-geki, in

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jeder Hinsicht frei herstellen. Die Demokratisierung Japans war schon so weit fortgeschritten, dass man diese Filme wegen ihrer feudalen Basisgedanken nicht mehr als Gefahr betrachten musste, und die Menschen genossen sie als reine Unterhaltung. Doch die Samurai-Filme, die die absolute Treue zu einem Herrn als Grundgedanken hatten, machten im Zeitalter der Demokratie nicht länger den Großteil der Unterhaltungsfilme aus. Tatsächlich dauerte diese jidai-geki-Renaissance der Nachkriegszeit nur 10 Jahre und ging schon am Anfang der 60er Jahre zu Ende. Akira Kurosawa wurde in dieser Zeit mit seinen Samurai-Filmen weltberühmt, angefangen mit RASHOMON von 1950, dann SHICHININ NO SAMURAI (1954; Die sieben Samurai), KUMONOSU-JO (1957; Das Schloss im Spinnwebwald), KAKUSHI TORIDE NO SAN AKUNIN (1958; Die verborgene Festung), YOJIMBO, TSUBAKI SANJURO (1962; Sanjuro), später dann KAGEMUSHA (1980; Kagemusha – Der Schatten des Kriegers) und RAN (1985; Ran). Man darf sicher sagen, dass die weltweit verbreiteten Vorstellungen über japanische Samurai auf diese Werke zurückzuführen sind. Aber diese Samurai-Filme sind eigentlich untypisch; sie unterscheiden sich deutlich von der Hauptströmung dieses Genres in Japan. In den normalen jidai-geki werden feudale Ideologien mehr oder weniger als Basiselemente übernommen. Daher wirken Personen von hohem Stand sehr arrogant, und die von niedrigerem Stand recht kriecherisch. In den Filmen Kurosawas gibt es aber diese Elemente nicht. Der Samurai in RASHOMON ist ein feiger Egoist und wird sogar von seiner Frau verachtet. Er entspricht nicht dem Samurai in der feudalen Gesellschaft, sondern vielmehr einem Menschen aus unserer Zeit. Die sieben Samurai im gleichnamigen Film sind allesamt herrenlose Vagabunden. Sie kämpfen aus eigenem Willen mit den Bauern zusammen. Der Samurai, der von Toshiro Mifune in dem Film KAKUSHI TORIDE NO SAN AKUNIN dargestellt wird, ist seinem Herrn treu ergeben. Doch ein Feldherr der Gegner, mit denen Mifune kämpft, ruft, als er Sympathie für Mifune empfindet: „Verzeihet den Verrat“ und verlässt im Handumdrehen seinen Herrn. Für Kurosawa bedeutete die feudalistische Treueergebenheit weder moralisch noch anderweitig etwas. Auch die Helden in den Filmen YOJIMBO und SANJURO sind herrenlose Samurai, sogenannte ronin, und quasi freie Menschen. In der Feudalzeit gab es zahlreiche solche herrenlose Samurai, deshalb kommen sie auch oft in den gängigen jidai-geki vor. Aber sie sind eigentlich nur Arbeitslose und haben deshalb in den Filmen oft die Funktion von

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Rebellen oder Unzufriedenen in der feudalen Gesellschaft. Sie haben auch nicht die Großzügigkeit eines freien Menschen, der über die Treuepflicht hinweg lebt, wie man sie bei den Samurai in Kurosawa-Filmen gut beobachten kann. Der Grund, warum Kurosawa gerne Samurai dargestellt hat, hängt meiner Vermutung nach mit dem Stolz auf die Abstammung der Familie und seiner Kindheit zusammen. Warum er den Charakter seiner Samurai, im Unterschied zu den normalen jidai-gekiFilmen, als freie Menschen gestaltet, lässt sich außerdem gut mit dem Zusammenhang seiner Erfahrungen erklären; nämlich dass er in seiner Kindheit bei einem liberalen Lehrer Unterricht hatte und in seiner Jugend mit der westlichen Kunst in Berührung kam, dann sich stark für die marxistische Ideologie interessierte und eine Gegenposition zu feudalen Ideen einnahm. Jidai-geki-Filme wurden in ihrer Blütezeit zu Hunderten pro Jahr gedreht, aber die meisten Filme, die in Europa und Amerika hoch geschätzt werden und weltweit bekannt sind, sind die Samurai-Filme von Kurosawa und einige andere Produktionen. Die sonst in Japan üblichen jidai-geki-Filme entsprechen meistens nicht dem Geschmack eines westlichen Publikums und bleiben deshalb unbekannt. Dass die SamuraiFilme von Kurosawa interessant sind und auch ästhetisch andere Filme überragen, ist die eine Tatsache, aber zum Grund ihres Erfolgs könnte man auch zählen, dass sie nicht wie die anderen jidai-geki dem feudalistischen Sinn treu bleiben. Viele Japaner in der Nachkriegszeit neigten dazu, ihr moralisches Bewusstsein zu verlieren. In dieser Zeit stellte Kurosawa mit starkem Willen wiederholt Menschen dar, die für Gerechtigkeit kämpfen: Der Aktivist der Anti-Kriegsbewegung im Film WAGA SEISHUN NI KUINASHI, der humanitäre Arzt in NORA INU (1949; Ein streunender Hund), der Unternehmer in TENGOKU TO JIGOKU (1963; Zwischen Himmel und Hölle), der den Sohn seines Bediensteten retten will, auch wenn er dabei alles verlieren könnte, der Mann in WARUIYATSU HODO YOKU NEMURU (1960; Die Bösen schlafen gut), der versucht, sich an der korrupten Bürokratie zu rächen, usw. Aber ich denke, der gelungenste Film von allen ist IKIRU, den ich vorhin schon erwähnt habe. Dieser Film war eine große moralische Ermutigung für die damals niedergeschlagenen Japaner. Natürlich finde ich auch, dass eine zu starke Moralität und Heroismus den Nachteil haben, ein wenig unrealistisch zu wirken. In diesem Punkt haben die Samurai-Filme keine Probleme, und das übertriebene Heldentum kommt um so mehr als Unterhaltung an. Vor allem Ausländer, die an den modernen Japanern vielleicht gar nichts Besonderes fin-

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den, halten die alten Samurai oft für etwas Besonderes, und auch deshalb wurde wohl Kurosawa als Regisseur der Samurai-Filme international hoch geschätzt. Kurosawa produzierte einerseits großartige Kunstfilme und Werke, die soziale Probleme aufwerfen, andererseits war er auch daran interessiert, sie unterhaltsam zu gestalten und beschäftigte sich eifrig mit Samurai-Filmen, von denen man relativ leicht kommerziellen Erfolg erwarten konnte. Doch als seine makabren Darstellungen in YOJIMBO oder in SANJURO Erfolg hatten und ins Gespräch kamen, und solche grausamen Darstellungen dann auch in normalen jidai-geki-Filmen üblich wurden, war Kurosawa sehr enttäuscht. Er drehte danach, im Jahre 1965, den großen Film AKAHIGE. In diesem jidai-geki ist die Hauptperson kein Samurai, sondern ein Arzt, und somit gibt es auch keine Kampfszenen; aber der Film ist sehr beeindruckend und hatte großen Erfolg. Trotzdem würde ich sagen, dass Kurosawa von diesem Zeitpunkt an den Heroismus mit großer Skepsis betrachtete. Im Jahre 1970 drehte Kurosawa den Film DODESUKADEN (1970; Dodeskaden – Menschen im Abseits), ein Gegenwartsfilm, der in einem Stadtviertel spielt, in dem verarmte Menschen leben – die Verlierer der Wettbewerbsgesellschaft. Nicht im realistischen Stil, sondern eher in einer träumerischen Stimmung inszeniert, ist der Film ein lyrisches und humorvolles Werk. Gerade in dieser Zeit befand sich Japan auf dem Höhepunkt des wirtschaftlichen Erfolgs, und ich habe den Eindruck, dass viele Japaner, im Vergleich zur Nachkriegsdepression, geradezu übermütig und arrogant wurden. Wenn man bedenkt, dass Kurosawa in der Depressionsphase viele starke Helden darstellte und viele heroische Meisterwerke produzierte, die die Japaner ermutigten, ist es sehr interessant, dass er in der Zeit, in der viele Japaner hochmütig wurden, ganz diametral entgegengesetzte Filme drehte, in denen man mit den schwachen Menschen, die vom Heldentum am weitesten entfernt sind, sympathisiert. Kurosawa führte dann Regie bei dem sowjetischen Film DERZU UZALA (1975; Uzala, der Kirgise). Die Hauptfigur in diesem Werk ist ein Jäger, der mit der Natur der sibirischen Wälder im Einklang lebt. Es ist deutlich zu erkennen, dass sich das Thema Kurosawas vom Kampf zur Harmonie wandelte. Mit den beiden Filmen KAGEMUSHA von 1980 und RAN von 1985 kehrte Kurosawa wieder in die Welt der Samurai-Filme zurück. Aber sein Thema war nicht mehr der Sieg des Helden, sondern dort wurde in schmerzlich tragischen Nuancen beschrieben, wie der Heroismus die Welt ruinierte. Danach wurden drei Gegenwartsfilme, YUME (1990; Akira Kurosawas Träume), HACHIGATSU NO KYOSHIKYO-

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KU (1991; Rhapsodie im August) und MADADAYO (1993; Madadayo – Noch nicht) gedreht. In allen drei Filmen wurden heroische Tendenzen strengstens vermieden, und wie ich finde, fragt sich Kurosawa wiederholt, wie die Menschen für ihr eigenes Überleben nach einer harmonischen Gesellschaft streben könnten. 1998 starb Akira Kurosawa im Alter von 88 Jahren. Er hinterließ zwei Drehbücher, die er noch selbst hätte verfilmen wollen. Eines der beiden Bücher heißt Ame agaru. Es ist eine Komödie, in der einem Samurai immer Missgeschicke passieren, weil er denkt, er sei viel zu stark und bereite den Mitmenschen ständig Unannehmlichkeiten. Es ist wirklich eine sehr ironische Geschichte, besonders deshalb, weil Kurosawa mit einem starken Mann als Held viele Erfolgsfilme hatte. Man kann das Buch auch als Suche nach dem absoluten Pazifismus betrachten, in dem sowohl der Kampf als auch der Wettbewerb negiert werden. Nach der Abkehr von heroischen Themen hatten die Werke Kurosawas, lapidar gesagt, in kommerzieller Hinsicht keinen Erfolg und man kann auch nicht sagen, dass seine Filme, im Vergleich zu früheren, von den Kritikern hoch geschätzt wurden. Kurosawa, der in der Phase, in der viele Japaner depressiv waren, das Heldentum hoch pries und damit die Menschen ermutigte, wandte sich dann in der Phase, in der die Japaner vom wirtschaftlichen Erfolg berauscht und verwöhnt wurden und nicht mehr wussten, was sie eigentlich zu tun hätten, vom Heldentum ab und konzentrierte sich auf die Frage, wie Menschen nach Harmonie streben sollten. Auch wenn ihm ästhetisch nicht alles gelang, zeigt sich in diesem Punkt, meiner Meinung nach, die Größe des Menschen Akira Kurosawa.

Übersetzung aus dem Japanischen: Yuko Mitsuishi

K. LUDWIG PFEIFFER

AKIRA KUROSAWA: KONTUREN EINER MEDIALEN ANTHROPOLOGIE 1.

Medienanthropologie

Anthropologische Denkformen scheinen der Differenzierung und Spezialisierung wissenschaftlicher Diskurse/Disziplinen und ihrer Ergebnisse zu widerstreiten. Insofern eignet ihnen eine kaum auszuräumende Unwahrscheinlichkeit. Eine Medienanthropologie hat mit dieser Unwahrscheinlichkeit verstärkt zu kämpfen, weil die Ausrichtung der Medientheorie und die Ergebnisse der empirischen Medienwissenschaften mehr die kulturelle, gesellschaftliche, ja oft noch nationale oder eben mediale Spezifik der Medienprodukte als deren basale Gleichartigkeit hervorkehren. Für manche Medienwissenschaftler verdankt sich eine Art Gleichartigkeit von Medienprodukten eher der Macht globaler technischer Standards und medialer Materialität, durch die sie entsteht und mit denen sie vergeht. Ohne ihn systematisch vom Terminus ‚Medienanthropologie‘ zu trennen, möchte ich mit dem Ausdruck ‚mediale Anthropologie‘ die sowohl wissenschaftliche und auch intuitive Unwahrscheinlichkeit dieser Orientierung noch einmal steigern. Freilich kehren anthropologische Denkformen mit zyklischer Hartnäckigkeit und wohl vor allem immer dann wieder, wenn sich die Beschreibungs- und Erklärungsleistungen bestimmter, (allzu) deutlich selektiver Diskursdisziplinierungen erschöpft haben. In den Disziplinen selbst meldet sich dann ein Bedarf an übergreifenden Perspektiven, die anders als mit dem Etikett ‚anthropologisch‘ kaum namhaft zu machen sind. Man wird kaum leugnen können, dass dieser Bedarf häufig weniger einem Repertoire sich durchhaltender menschlicher Eigenschaften als vielmehr zäh sich haltender Illusionen geschuldet ist. Damit ist aber die Frage noch nicht erledigt, zu welchen kognitiven (das heißt auch affektiven) und diskursiven (beschreibenden, interpretierenden) Reaktionen uns bestimmte, ‚ästhetisch‘ attraktive und medial markante Formen der Illusionsbildung bewegen oder gar nötigen. Eine Medienanthropologie

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könnte sich jedenfalls dafür interessieren, ob und wie prägnante künstlerisch-mediale Inszenierungen, also ästhetisch markante Medialisierungen bestimmte Dispositive menschlicher Selbstinterpretation in Szene setzen. Diese wären insofern bestimmt, als man ihnen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, so sehr sie sich als Produkte von Medientechniken offen oder nachweisbar zu erkennen geben, das Prädikat ‚menschlich‘ (‚menschlich relevant‘ usw. – im Unterschied und manchmal im Gegensatz etwa zu ‚gesellschaftlich‘, ‚kulturell‘, ‚systemisch‘ usw.) nicht verweigern möchte, auch wenn man solche Vorstellungen für grundsätzlich problematisch hält. Die Modalitäten solcher im Folgenden bei Kurosawa zu beschreibender sehr viel stärker menschlich als gesellschaftlich usw. wirkender Inszenierungsdispositive werden zwar vordergründig durch bestimmte, gelegentlich auch aktualistische oder gar ideologische Eigenschaften geprägt. Auch wo solche sich in den Vordergrund schieben, werden sie aber von einem Spektrum intellektuell-affektiver Intensität und Distanz überlagert, das nicht mit ihnen verrechnet werden kann. Vielmehr sind, um zur Geltung zu kommen, Intensitäten und Distanzen im Gegensatz zu aufzählbaren Eigenschaften geradezu auf ästhetische Inszenierungen angewiesen. Daher lässt sich eine derart angesetzte Medienanthropologie zwar an die diversen Formen der philosophischen Anthropologie (beispielsweise das Modell Arnold Gehlens), an die Psychoanalyse (Modell Jacques Lacan), an die Kulturanthropologie (Modelle Clifford Geertz, Marvin Harris usw.) und an die heutige Neurobiologie (vor allem in ihrer Modellierung durch Antonio R. Damasio) anschließen. Sie fällt aber nicht mit deren Vorgaben zusammen, weil diese Modelle, von Ausnahmen abgesehen, nicht sehr viel über den Stellenwert künstlerisch-medialer Dispositive für die von ihnen dingfest gemachten menschlichen Dispositionen aussagen. In ihrer Provokation wie in ihrer Prägnanz aber bieten die Dispositive einen anthropologischen Symptomwert, der den kulturell und lebensweltlich verpackten Dispositionen zumindest ebenbürtig ist.1 1 Vgl. dazu Näheres bei Pfeiffer, K. Ludwig: „Medienanthropologie und Kulturwissenschaft“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 33, Nr. 132 (2003), vor allem S. 51-54, 57-61, 63-65. Vgl. ferner beispielsweise Borch-Jakobson, Mikkel: Lacan. The Absolute Master, Stanford 1991, S. 59-69, Damasio, Antonio R.: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewußtseins, München 2002, S. 224 f., 374 f.; Hejl, Peter M.: „Konstruktivismus und Universalien – eine Verbindung contre nature?“, in: Peter M. Hejl (Hrsg.): Universalien und Konstruktivismus, Frankfurt/Main 2001, S. 51-59; Dissanayake, Ellen: „Kunst als menschliche Universalie:

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2.

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Medienumbrüche und anthropologische Symptomatik

Umschichtungsprozesse innerhalb historischer Medienkonfigurationen kann man bei entsprechender Radikalität der Verschiebungen als Medienumbrüche bezeichnen. Als drastische Eingriffe in den kulturellen Markt sind sie nicht nur mit anderen historisch-gesellschaftlichen Veränderungen verschaltet; sie müssen oft auch und dürfen wohl manchmal vornehmlich als Recodierungs- und Reinszenierungsversuche anthropologischer Intuitionen gelten, deren überlieferte und meist kulturell-medial auch irgendwie weiter gepflegte Codes unter die Räder des geschichtlichen Wandels geraten. Für die Zwecke des vorliegenden Themas isoliere ich, stark vereinfachend, mit der Entwicklung von Oper und Film zwei umbruchsartige Verschiebungen der genannten Art. Die Oper bietet ein zunächst ambivalentes, danach aber umso eindeutigeres Beispiel für die Recodierung des zentralen anthropologischen Themas ‚Affekt(-ausdruck)‘. Genauer: Die Oper löst das Problem nicht, das im Sprechtheater, teilweise aber auch in der Lyrik mit dem Veralten rhetorischer Codes im 17. und dann vor allem im 18. Jahrhundert unübersehbar geworden war: Sie löst es im Zusammenspiel von sprachlich vereinfachter, aber musikalisch intensivierter Körpertechnik (Gesang) und Inszenierung auf. Der Gesang, obgleich eine kulturelle Universalie, wirkt im Vergleichshorizont sowohl von Sprechtheaterrhetorik wie aufklärerischen Diskursen zunächst widernatürlich. In der Kritik, welche vornehmlich das 18. Jahrhundert am Gesang übt, steckt eine normative Anthropologie. Man darf unterstellen, dass sie selbst bereits in Auflösung begriffen ist und sich vornehmlich deswegen gegen den mit der Oper einsetzenden weiteren – und drastischen – Auflösungsschub wehrt. Gleichwohl bleibt über das 18. Jahrhundert hinaus das Problem bestehen, wie man sich zu einem (Inter-) Medium verhalten soll, dessen ‚Rhetorik‘ (der Gesang) allen Standards alltäglicher, geselliger, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Kommunikation zuwider läuft. Daher beteuert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis zu Richard Wagner und oft noch darüber hinaus, jeder so genannte oder selbsternannte Opernreformer, dass Operngesang und -musik im Dienste umfassender, ‚dramatischer‘ menschlicher Wahrheit stünden. In gewisser Weise stimmt das auch. Verschwiegen wird freilich zumeist, dass solche Wahrheiten nicht im Handlungszusammenhang, im Konflikt, Eine adaptionistische Betrachtung“, in: Hejl (Hrsg.): Universalien und Konstruktivismus, S. 209-217.

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im Text und seinen wie immer tiefgründigen Bedeutungen, also in einer normalisierten, oft normativen Sprachform, sondern in performativaffektiven Intensitäten bestehen, die mit Bedeutung assoziiert und aufgeladen werden können, diese aber nicht selbst ausdrücken. Die ‚Wahrheit‘ der Oper ist, dass ihre ‚Rhetorik‘, die Intensität des Gesangs, nicht (wie die des Sprechtheaters beispielsweise) diskursiv ‚hinterfragt‘ werden kann oder zu diskursiver Aushebelung gar einlädt. Natürlich sind gesprochene und in hohem, medial freilich variablem Maße auch geschriebene Sprache anthropologisch grundlegend. Ihre Wichtigkeit kann man kaum übertreiben. Dabei wird freilich leicht vergessen, was die Oper eindrucksvoll klarstellt: dass diese Relevanz nicht den im Sprechen und Schreiben zumeist zwangsläufig, in welcher Komplexität auch immer entworfenen Bedeutungen, sondern den durch die Körpertechnik ‚Gesang‘ und Inszenierung suggerierten, sprachlich nicht zwangsläufig und präzise deutbaren Intensitäten affektiv-figuraler Beziehungen zukommt.2 Das wirft nebenbei die Frage auf, in welchem Sinne bzw. in welchen Sinnen die ‚Literatur‘ als Medium betrachtet werden kann und wie es folglich um die medienanthropologischen Potentiale vor allem anspruchsvoller Texte bestellt ist. Dieser Frage kann hier nicht nachgegangen werden. Sie lauert aber auch im Hintergrund des anthropologischen Recodierungs- als Reinszenierungsproblems, welches mit dem Film in zugespitzter Weise wiederkehrt. Einerseits entsteht der Film – im Gegensatz zur Körper- bzw. Stimmtechnik des Gesangs – durch einen offenkundigen Technologiesprung. Wo sich andererseits Film- bzw. Kinotheorie nicht nur mit filmischen Zeichenstrukturen, sondern auch mit deren Sinn- und Wirkungsrichtungen beschäftigt, da ist deren anthropologische Drift bei markanten Vertretern unverkennbar. Ich greife der Einfachheit halber zwei französische Theoretiker des Kinos heraus. Edgar Morin und Gilles Deleuze haben beim Film vor allem die durch die vielfältigen Kameraeinstellungen, also durch Technologien und Techniken, beispielsweise die durch die Großaufnahme ermöglichte suggestive Psychisierung und affektive Intensivierung hervorgehoben. Morin wandelt die von mir behauptete Kopplung von sprachlichem Ungenügen und affektiver Intensivierung für den Film ab (er hat im Übrigen die Metamorphosen zwischen Oper und Film klar gesehen): Im Film wird das Gesicht zum Medium, die 2 Diese hier nur sehr grob vorgestellten Thesen setzen den Argumentationszusammenhang in einer Reihe meiner (im Druck befindlichen) Aufsätze zur Oper fort. Für eine allgemeine mediengeneaologische Skizze zur Oper vgl. Pfeiffer, K. Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt/Main 1999, S. 371-436.

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Großaufnahme gerät (nach Epstein) gleichsam zu einer Form der Psychoanalyse. Sie gestattet uns (nach Balázs) die Wiederentdeckung des Gesichts und zwingt uns, darin zu lesen, auch wenn wir keinen Code der ‚Seele‘ und spezifischer mimischer Ausdrucksvaleurs mehr besitzen: „L’âme ne nous est qu’une métaphore pour désigner les besoins indéterminés, les processus psychiques dans leur matérialité naissante ou leur résidualité décadente. L’homme n’a pas d’âme. Il a de l’âme ...“3 Die visuelle Inszenierung seelischer Intensität, nicht von Eigenschaften der Seele, obliegt dem Film. Die enorm vielfältigen Filmtechniken werden durch Codes und Subcodes zwar in eine vorläufige Ausdrucksordnung gebracht. In ihrer endlosen Reihung aber brechen die Codes ihre eigene Spezifik immer wieder auf. Daher, so James Monaco in einer etwas pauschalen Formulierung, stellen sie „grundlegende Fragen zum Leben und seiner Beziehung zur Kunst, zur Realität und zur Sprache.“4 Morin nennt seine Kinotheorie ausdrücklich einen anthropologischen Essay. Der Film ist eine paradigmatische neu(er)e Technologie, welche die zivilisatorische Musealisierung des Verbunds von Magie und Seele durch affektiv-ästhetische, primär, aber keineswegs ausschließlich visuelle Inszenierungen überspielt. Das Inter-Medium Film verschiebt die Körpertechnik des Inter-Mediums Oper in die technologische Visualisierung körperlich-seelischer Intensitäten oder deren Distanzierung. Deleuze hält sich mit anthropologischer Programmatik zurück. Aber der Film lebt bei ihm von herausgehobenen Momenten, die nichts mehr mit der kulturellen Spezifik früherer ,Posen‘ zu tun haben. Vielmehr treiben für Deleuze vor allem Großaufnahme und alle möglichen

3 Morin, Edgar: Le cinéma ou l’homme imaginaire. Essai d’anthropologie sociologique, Paris 1956, S. 114. 4 Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 114, vgl. S. 113, 134. Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 454, vgl. S. 417-454. Zur mediengeschichtlichen funktionalen Analogisierung von Oper und Film vgl. auch Daniel, Ute: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 464, 472 (mit Hinweis auf Adornos These von der Oper als ,Platzhalter‘ des noch ungeborenen Kinos). Auch bei Filmanalytikern, die sich nicht programmatisch einem anthropologischen Ansatz verschreiben, tauchen zumindest verwandte Dimensionen auf, sobald sie sich etwa den Funktionen und der Bedeutung von Kamerabewegungen zuwenden. Vgl. etwa Kühnel, Jürgen: Einführung in die Filmanalyse. Teil 1: Die Zeichen des Films, Siegen 2004, S. 58-59, 191-202, zu atmosphärischen und symbolischen Verdichtungen, zu emotionalen und symbolischen Implikationen des bewegten Bildes; vgl. auch Monaco.

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Formen der Montage bereits bei Eisenstein das „Pathetische“, ja gar die „Kohärenz“ einer „organisch-pathetischen Gesamtheit“ hervor.5 Bekanntlich hat Deleuze den filmtheoretischen Generalnenner seines ersten Bandes zum Kino, das Bewegungs-Bild, in Wahrnehmungs-, Aktions- und Affektbild aufgespalten. Es ist aber klar, dass diese Aufspaltung auf eine Privilegierung des Affektbildes hinausläuft. Deleuze erblickt in den bewegten, polyzentrischen Bildern des Kinos eine Art Widerlegung der Phänomenologie. Deren Vorstellung von natürlicher Wahrnehmung verharrt in „vor-filmischen Bedingungen“. Die phänomenologische, die einklammernde und zentrierende Wahrnehmung nimmt wenn nicht mehr essentielle, so doch existentielle Posen oder bestenfalls eine Folge isolierter Posen in den Blick. Die monozentrische Unterstellung derartiger Wahrnehmungsbilder ist aber beim Film auch dann nicht aufrecht zu erhalten, wenn man wie Deleuze das filmische Wahrnehmungsbild als – und sei es nur übergängliches – zentriertes Bild im Universum der Bewegungsbilder erklärt. Deleuze versichert daher rasch, dass es immer um eine „Fusion von Wahrnehmungsbild, Aktionsbild und Affektbild“ geht.6 Nicht nur das: Der Film nötigt uns nicht nur zur Relektüre von Gesichtern unter der Bedingung destabilisierter Codes (im Sinne Morins und Monacos). Die affektive Intensivierung überlagert auch die Wahrnehmung der Dinge. Ist das Affektbild derart durch mehrdeutige, aber nicht zerfließende Erweiterbarkeit gekennzeichnet, so gerät das Aktionsbild seinerseits in die Krise, weil es – exemplarisch bei Hitchcock – ständig neu relationiert werden muss. Es mündet daher in ein alles transformierendes „mentales Bild“. In „einer Welt ohne Totalität und Verkettung“ ist das konzentrierte Aktionsbild bestenfalls ein Klischee (gewissermaßen ein Rückfall in die frühere Welt der Posen), mit welchen Regisseure wie Altman dann virtuos umgehen.7

5 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt/Main 1989, S. 18, 59. Ich beschränke mich aus Platzgründen auf diesen ersten, dem „Bewegungs-Bild“ gewidmeten Teil. Ohnehin ist das Zeit-Bild des zweiten Teils dem Bewegungs-Bild untergeordnet. 6 Deleuze: Kino I, S. 97. Vgl. S. 84-85 zur Phänomenologie, S. 94-97 zur Trias der Bilder und ihrer Fusion. 7 Deleuze: Kino I, S. 272, 274, 279.

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3.

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Deleuze über Kurosawa

Dem Kapitel über die (Dauer-)Krise des Aktionsbildes geht bei Deleuze ein Kapitel über „Figuren oder die Transformation der Formen“ voraus. Figuren heißen die Übergänge, pointierter: die „Deformationen, Transformation und Transmutationen“ der großen und der kleinen Form des Aktionsbildes. Damit allerdings verwandeln sie sich nur in eine andere Figur der Krise des Aktionsbildes und verhelfen, mit erneutem Bezug auf das Pathetische bei Eisenstein, dem Affektbild wieder zur Vorherrschaft.8 Deleuze verstärkt diese Tendenz durch eine zweite Bedeutung, die er dem Wort ‚Milieu‘ gibt: Es handelt sich um die Stimmung oder das Umgreifende, das, was einen Körper umgibt und auf ihn einwirkt, auch wenn der Körper im Sinne des Aktionsbildes auf das Milieu zurückwirkt. In diesem Sinne wird das Werk Kurosawas, an sich der großen Form des Aktionsbildes verpflichtet, „von einem Atem beseelt, der die Zweikämpfe und die Schlachten durchdringt“. Kurosawa entwirft einerseits die spezifischen Milieus (im Normalsinne des Wortes). Zumindest die Hauptfigur muss die gesamten, für ihr Handeln wichtigen Umstände kennen. (Kurosawa hat deshalb selbst Shakespeares King Lear kritisiert, weil dort die Motivation für Lears Handeln unklar bleibe, und seinen RAN entsprechend aufgerüstet.) Daher kann es sich auch, wie in YOJIMBO (1961; Yojimbo – Der Leibwächter), um einen verengten Bühnenraum handeln, in welchem die Hauptfigur alle Gegebenheiten überblickt. Aber die Antwort auf die derart präzise entworfene Situation ist dann nicht nur die Aktion, „sondern, tiefgreifender, eine Antwort auf die Frage oder das Problem, zu dessen Enthüllung die Situation nicht ausreichte.“ Deleuze bringt damit Kurosawas, von diesem selbst immer wieder thematisierte Beziehung zu Dostojewski – und, wie ich hinzufügen möchte, vielleicht zur Literatur überhaupt – auf einen prägnanten Punkt: [...] absichtlich wird bei Dostojevskij die Dringlichkeit einer Situation von dem Helden [...] vernachlässigt. Das ist es, was Kurosawa an der russischen Literatur schätzt [...] Man muß einer Situation die Frage entreißen, die sie enthält, man muß die Gegebenheiten einer verborgenen Frage entdecken, die allein eine Antwort erlauben und ohne die die Aktion selbst keine Antwort wäre. Kurosawa ist also auf seine Weise Metaphysiker und erfindet eine Erweiterung der großen Form: er überwindet die Situation auf eine Frage hin und 8 Deleuze: Kino I, S. 241, 245. Vgl. auch die Ausführungen zur erhabenen und heroischen Aktion, S. 249f.

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K. LUDWIG PFEIFFER erhebt die situativen Gegebenheiten zu Gegebenheiten einer Fragestellung. So gesehen hat es kaum Bedeutung, daß uns die Frage manchmal enttäuscht, uns bürgerlich, aus einem leeren Humanismus entstanden scheint.9

Sicherlich ist es meinen Interessen geschuldet, wenn ich die Bezeichnung Kurosawas als ‚Metaphysiker‘ für einen Fehlgriff halte. Mir erschiene, auch wenn ich dafür nur ironisches Achselzucken ernte, die Bezeichnung ‚Anthropologe‘ gerade im Horizont der weiteren Beschreibungen Kurosawas durch Deleuze besser. Wenn nämlich die Aktion nicht zureichend auf die Situation antworten kann, wenn das Modell spezifischer Ursachen und Wirkungen versagt, dann verlagert sich die Aufmerksamkeit in die „Träume und Alpträume, Ideen und Visionen, Antriebe und Handlungen“ der Betroffenen. Es gibt keine Antwort, solange die Frage „nicht bis in die schrecklichen, sinnlosen und kindischen Bilder“ hinein verfolgt wird, in welchen die Frage „sich ausdrückt, bewahrt und respektiert wird“. Daher rührt für Deleuze das „Träumerische“ Kurosawas, „das die halluzinatorischen Visionen nicht bloß zu subjektiven Bildern, sondern vielmehr zu Denkfiguren werden lässt, die die Gegebenheiten einer transzendenten [?] Fragestellung offenlegen, insofern sie zur Welt, zum Innersten der Welt gehören.“10

4.

Methodologisch-methodische Zwischenbemerkung

Wie kommt man zu Beschreibungen von Filmen, wie sie Deleuze im Blick auf Kurosawa (aber natürlich auch andere Regisseure) bietet? Offenkundig eignet der zitierten Rede Monacos von den „grundlegenden Fragen zum Leben“ eine gewisse Beliebigkeit. Es gibt, so will es scheinen, keine präzisen Kopplungen zwischen der technisch-zeitlich detaillierten Analyse von Einstellungen und Filmsequenzen, zwischen der „endlosen Reihe von Codes und Subcodes“11 und den großen Fragen, den 9 Deleuze: Kino I, S. 255. Vgl. S. 253-254. In seiner Dostojewski-Einführung hat Klaus Städtke Dostojewskis Handlungen in vergleichbarer Weise auf die „emotionale Betroffenheit“, auf die in den Milieus wirksamen, aber nicht von ihnen primär bestimmten Triebe und Leidenschaften hin geöffnet. Städtke, Klaus: Dostojewski für Eilige, Berlin 2004, S. 10. Vgl. auch die im 20. Jahrhundert in einem russischen Theaterstück vorgeschlagene „Verdünnung“ Dostojewskis mit Stephen King, S. 11. 10 Deleuze: Kino I, S. 256. Wiederum, auch um den Preis offenkundiger Banalität oder Beckmesserei: Warum Fragen, die zum Innersten der Welt gehören, als transzendent bezeichnen? 11 Vgl. Monaco: Film verstehen, S. 454.

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sich immer wieder aufdrängenden symbolischen Bedeutungen. Formaltechnische Filmanalyse und deutende Filminterpretation brauchen einander. Aber der sicherlich bis in die kleinsten Details durchführbaren Präzisierung der Analyse sind die Regeln ihrer Ergebnisdeutung und der sprachlich-begrifflichen Plausibilisierung von Wahrnehmungseindrücken nicht zu entnehmen. Diese Disjunktion ist im Falle des Films deutlicher als in der Literatur, weil die dominierenden sprachlichen Ebenen der Literatur ungefähre Vorgaben für weitere sprachliche Deutungen liefern. Die Disjunktion ist im Film vielleicht sogar schwieriger als in der Oper zu handhaben, weil Filme, im Gegensatz zur Dominanz der psychisierten Körpertechnik ‚Gesang‘, an die Bedeutung der ja auch für die Literatur wichtigen Erzählung und ihrer Verstehbarkeit zumindest erinnern bzw. an diese anknüpfen, diese Erinnerung und Anknüpfung aber in die schwer deutbare Dynamik der Bilder verpacken. Noch McLuhan beschreibt den Film „both in its reel form and in its scenario or script form“ als „completely involved with book culture“ und hält ihn gleichzeitig für „a nonverbal form of experience“.12 Die trügerische Nähe des Films zu Textgeschichten hat Teile der Kurosawa-‚Literatur‘ zu intertextuellen Ansätzen verleitet. Angesichts der schon angeführten Bemühungen Kurosawas um die Motiviertheit zumindest der Ausgangssituationen seiner Filme mag dies plausibel erscheinen.13 Ebenso klar ist allerdings, dass die den Filmen unterstellten Intertexte in – milde ausgedrückt – sehr offenen Beziehungen zu den Bedeutungsdimensionen ihrer Bezugstexte stehen. Dies gilt, wie ich schon bei Deleuze angedeutet habe und noch weiter ausführen werde, auch und vor allem für die Bezugsgröße Dostojewski. Methodologisch steht Medienanthropologie daher zwischen formal-technischer Filmanalyse und den großen, den symbolischen (Be-)Deutungen. Sie kann sich auf Schlüssigkeit der Beziehungen zwischen technisch-formal analysierten Filmsequenzen und wahrnehmend-deutender Eindrucksbildung nicht verlassen. Sie kann sich aber auch nicht in die Höhen symbolischer Bedeutungshorizonte oder gar -systeme erheben. Methodisch folgt daraus für die Zwecke des vorliegenden kurzen Aufsatzes, dass die mediengenealogische Verzweigung des Sprechthea12 McLuhan, Marshall: Understanding Media: The Extensions of Man, New York 1964, S. 250, 249. Zur Verbindung von Einstellungsprofil und Interpretationszwang vgl. auch Kühnel: Einführung in die Filmanalyse, S. 141. 13 Vgl. beispielsweise Goodwin, James: Akira Kurosawa and Intertextual Cinema, Baltimore/London 1994, ein, wie ich meine, theoretisch wie inhaltlich eher schwaches Buch.

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ters und der traditionellen Bilder (im Sinne Deleuzes: der Posen) und ihre Implikationen Steuerungsfunktionen für die folgenden Ausführungen übernehmen müssen. Die Implikationen der Verzweigung bestehen in der semantischen Drosselung sprachlicher wie visueller Codes und der gegenläufigen Aufladung destabilisierter Codes mit affektiven, allenfalls ungefähr semantisierbaren Intensitäten. (Natürlich gibt es auch Filme mit stabilen Codes. Begnügt sich ein Film mit deren Inszenierung, dann schlägt aber wohl das aus der Literaturwissenschaft sattsam bekannte Trivialisierungsproblem beschleunigt zu.) Die detaillierte Analyse von Filmsequenzen ist angesichts des Umfangs und der Vielfalt von Kurosawas Filmschaffen unmöglich. Ich benutze daher eine Reihe von Untersuchungen, bei denen detaillierte formal-technische Analysen und eine Spannweite semantischer, affektiv bis symbolisch codierter Interessen unterstellt werden können, um daraus ein medienanthropologisches Modell ‚Kurosawa‘ auszufiltern.

5.

Selbstkommentare Kurosawas und ihre Anschließbarkeit

Ein solches Modell kann von Kurosawas Selbstkommentaren vor allem in seiner Autobiographie profitieren, die es zur Kenntnis, aber nicht immer beim Wort zu nehmen gilt. Zu fragen ist, inwieweit eine scheinbar tautologisch klingende ‚Definition‘ des Kinos durch Kurosawa medienanthropologisch konkreter erläutert werden kann: Cinema resembles so many other arts. If cinema has very literary characteristics, it also has theatrical qualities, a philosophical side, attributes of painting and sculpture and musical elements. But cinema is, in the final analysis, cinema. 14

„Cinematic beauty“15 verdichtet sich und gipfelt in Bildern wie jenem Kambeis in SHICHININ NO SAMURAI (1954; Die sieben Samurai), der in strömenden Regen langsam den Bogen spannt und den Pfeil dann plötzlich auf einen der Banditen loslässt; wie jenem letzten Bild des toten Kikuchiyo im selben Film, dessen schmutzigen Beine und mehr langsam vom Regen zu einem marmornen Weiß gewaschen werden. Solche Filmbilder sind nach Andrej Tarkovsky genau das, was Symbole nicht sind: ‚specific, unique, and factual‘. Es handelt sich um die wenigen ‚scattered 14 Kurosawa, Akira: Something Like an Autobiography, New York 1983, S. 191. 15 Kurosawa: Autobiography, S. 191.

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images‘, die in der Erinnerung haften bleiben und doch kaum erklärbar sind. Donald Richie hat sich an einer diesbezüglichen, medienanthropologisch einschlägigen Beschreibung des toten Kikuchiyo versucht: He has stolen some armour but his bottom is unprotected. Now he lies on a narrow bridge, on his face, and the rain is washing away the dirt from his buttocks. He lies there like a child – all men with bare bottoms look like children – yet he is dead, and faintly ridiculous in death, and yet he was our friend for we have come to love him. All of this we must think as we sit through the seconds of this simple, unnecessary, and unforgettable scene.16

Ähnlich umschreibt Visarius die Wirkung des Bilderflusses in RASHOMON (1950; Rashomon – Das Lustwäldchen): Die Dynamik des Bilderflusses erzeugt eine Art Euphorie, die auch dann nicht verebbt, wenn die Vorgänge sich ins Grausame und Bedrohliche wenden. Diese Stimmung gesteigerten Lebens verdichtet sich zu Momenten physischer, sensueller Intensität, die wie die Fundstücke von Prousts mémoire involontaire dem Zweifel und dem Vergessen widerstehen.17

Kurosawas Something Like an Autobiography umkreist vor allem die literarischen und visuellen Traditionen, die in seine Filme eingegangen, in ihnen aber auch eingeschmolzen worden sind. Manche von ihnen, wie etwa die Kalligraphie, stehen ohnehin zwischen beiden. Andererseits hat gerade Deleuze mit großem Recht darauf beharrt, dass der (Hinter-) Grund traditioneller visueller Posen, die japanische Landschaftsmalerei eingeschlossen, in der von den großen Aktionsbildern suggerierten affektiven Dynamik keinen Bestand hat. Auch wenn Kurosawa selbst ein beachtlicher Maler wurde und blieb, ist die dem Film dienende Funktion der meisten Bilder und Zeichnungen im Storyboard unübersehbar. Vor allem die Malerei seiner Zeit erscheint Kurosawa demgegenüber oft als Anwendung von „forced techniques“: „Gradually I lost confidence in my abilities, and the act of painting itself became painful to me“.18 Das mag sich im Alter wieder geändert haben. Und auch die Frage, welche Art von Präsenz das Nô-Theater, von dem Kurosawa immer wieder schwärmt, in den Filmen gewinnt, ist schwer zu beantworten. 16 Richie, Donald: The Films of Akira Kurosawa, Berkeley/Los Angeles/London 1984, S. 107. Zu den „few scattered images“ vgl. auch S. 10. 17 Visarius, Karsten: „Kommentierte Filmographie“, in: Akira Kurosawa (Reihe Film 41), München 1988, S. 124. Zu Tarkovsky vgl. Yoshimoto, Mitsuhiro: Kurosawa. Film Studies and Japanese Cinema, Durham/London 2000, S. 244. Vgl. S. 121-122 über „the affective power“ solcher Bilder. 18 Kurosawa: Autobiography, S. 88.

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Maskenartige Nô-Stilisierungen lassen sich in vielerlei Hinsicht – Gesten, Gang, Mimik usw. – vor allem in KUMONOSU-JO (1957; Das Schloss im Spinnwebwald), Kurosawas Macbeth-Version, erkennen. Die kritische Rezeption des Films erblickt darin eine nur in der Schlussszene Verdi-artig aufgebrochene Erstarrung zu „zeichenhafter Repräsentation“, dekorativem Formalismus und abstrakter Perfektion, weil der suggestive Minimalismus des Nô nicht filmmäßig dynamisiert wird. Kurosawa fällt gleichsam seiner eigenen Kritik an der modernen Malerei zum Opfer. Er bietet in diesem Film beispielsweise kaum Nah- oder Großaufnahmen; die Kamera entfernt sich von den Figuren gerade in Situationen unterstellbarer affektiver Intensität.19 Bewertet man die diversen Stellungnahmen, so wird man auch das Nô bestenfalls als eine im Hintergrund erkennbare Inspiration der im Normalfall damit nicht verrechenbaren Filme gelten lassen. Zu Recht hat parallel wie im Gegensatz dazu Kurosawas Abneigung gegen das lärmigere, vielleicht auch gröbere Kabuki-Theater Kritiker gleichwohl nicht daran gehindert, dessen Folie – und das gar im Verbund mit Nô – etwa in TORA NO O FUMO OTOKOTACHI (1945; Die Männer, die dem Tiger auf den Schwanz traten) ausfindig zu machen.20 Der Selbstmord seines älteren Bruders Heigo, einem StummfilmErzähler, der den jüngeren Akira in die ‚Welt des Films‘ im frühen 20. Jahrhundert ein- und ihn dem Kino gleichsam zuführt, zeigt die Verselbständigung des (Ton-)Films als Inter-Medium an, indem er das Ende einer mündlichen Erzähltradition zumindest in diesem Kontext – in anderen kann die Tradition noch weitergeführt werden – markiert. Zu verorten bleibt die mögliche Relevanz, welche die Welt der ‚großen‘ (gedruckten) Weltliteratur und des Welttheaters, deren genaue Kenntnis dem Filmemacher unerlässlich scheint, für den Film tatsächlich besitzt. „In order to write scripts, you must first study the great novels and dramas of

19 Vgl. dazu Visarius: „Kommentierte Filmographie“, S. 170-174. Zum VerdiEnde vgl. Richie: Kurosawa, S. 121. Ausgleichend Galbraith IV, Stuart: The Emperor and the Wolf. The Lives and Films of Akira Kurosawa and Toshiro Mifune, New York/London 2001, S. 230-239. 20 Galbraith IV: The Emperor and the Wolf, S. 58, auch mit Bezug auf Richies Kurosawa und Yoshimotos Kurosawa. Vgl. Kurosawa: Autobiography, S. 193, 195 zu wenig aufschlußreichen Kommentaren zu den beiden Theaterformen. Vgl. auch die Ambivalenz S. 147: „I was attracted by the Noh because of the admiration I felt for its uniqueness, part of which may be that its form of expression is so far removed from that of the film.“ Yoshimoto (Kurosawa, S. 111-112) hat Kurosawas im Bezug auf Film vollends substantialistische Opposition zwischen Nô und Kabuki zu Recht kritisiert.

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the world“.21 Wie selbstverständlich rückt, bei aller Beteuerung einer Art inspirierender Rolle der Literatur, das Drehbuch in den Mittelpunkt, welches die – vergleichsweise doch drastischen Auswahlprozessen unterworfenen – literarischen Vorlagen auch dann ausschlachtet, wenn sie der Schreiber als kulturelle Monumente respektiert. Kurosawa beginnt als fast fanatischer, nach einiger Zeit auch erfolgreicher Drehbuchautor, der die Wichtigkeit dieser oft genug in Gruppenarbeit – einer Mischung aus Badeurlaub und Schwerstarbeit – ausgeübten Kompetenz nicht genug hervorkehren kann und über lange Jahre auch Drehbücher für die Filme anderer Regisseure schreibt.22 Unvermittelt und kommentarlos geht daher eine Passage über das mit dem Alter wachsende Tiefenverständnis der Literatur – gemeint sind wohl „passages that struck some emotional chord in me or that I considered for some reason important“23 – in Bekenntnisse zum Drehbuchschreiben über. Ebenso unvermittelt, kommentarlos und an eher unerwarteter Stelle annonciert Kurosawa, dass Roman und Drehbuch doch „after all, entirely different things“24 seien. Kurosawa verficht diese These anlässlich der Diskussion seines Kriminalfilms NORA INU (1949; Ein streunender Hund). In dieser Hinsicht ist die These vom wesentlichen Unterschied besonders wichtig, weil der Kriminalfilm wegen seiner Story- und Spannungsbindung dem Kriminalroman wohl näher steht als die Literatur dem Film im Allgemeinen. Aber selbst der Kriminalfilm kann schon die im Kriminalroman mehr oder weniger unvermeidliche Ausdehnung sprachlich-analytischer, etwa psychologisierender Dimensionen nicht übernehmen. Der Film macht den Trend der Sprache zum Code – und handle es sich, wie in der Literatur, meist auch um eine Vielzahl komplexer Codes – nicht mit. Literatur und Bildtraditionen liefern daher Impulse für das Drehbuch und das Storyboard, welche Kurosawa stets absolut und detailbesessen im Blick auf ihre Filmtauglichkeit kontrolliert. Diese Kontrolle erstreckt sich bis in den Vorentwurf der Beleuchtung hinein, welche die Filmtheorie zu Recht, im Verbund etwa mit der Farbe, des öfteren für atmosphärisch-suggestive Effekte des Films verantwortlich macht.25 Im Drehbuch und im Storyboard verbindet sich die Reduk21 Kurosawa: Autobiography, S. 193; vgl. S. 103. 22 Ein genaues Verzeichnis von Drehbuch- und Regiearbeiten Kurosawas findet sich in der Filmographie bei Galbraith IV: The Emperor and the Wolf, S. 651-751. 23 Kurosawa: Autobiography, S. 103. 24 Kurosawa: Autobiography, S. 173. 25 Vgl. etwa das Gespräch von Yuchiro Nashimura mit Shuji Sano, dem Beleuchter für die Filme KAGEMUSHA (1980; Kagemusha – Der Schatten des

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tion narrativ-sprachlicher Komplexität mit der Richtung, in welcher der Film die Suggestivität des Visuellen, verstärkt durch jene der Musik, entfalten wird. Dieser Sachverhalt schränkt auch die Bedeutung von Dostojewskis Romanen für Kurosawas Filme deutlich ein. Man kann, wenn man will, Dostojewski als Metaphysiker bezeichnen, weil er Grundlegendes zur menschlichen Existenz geschrieben und seine Figuren in endlose Dialoge darüber verstrickt hat. Eine solche sprachliche Metaphysik aber wird für den Film, wie Kurosawa selbst angesichts der ‚Verfilmung‘ von Der Idiot einsehen und eingestehen musste, zur Last. Um den Kontakt zum Buch wie zum Zuschauer zu halten, setzt Kurosawa eine ganze Serie sprachlicher Informationstechniken ein, die in ganz offensichtlichen Widerspruch zur filmischen Dynamik geraten. Diese ist in den großen Kurosawa-Filmen „vitalistisch“, nicht aber metaphysisch.26

6.

Technologie, Technik, condition humaine: Trias oder Trio infernal?

Ich wälze meine medienanthropologische Beweispflicht abschließend nochmals auf Andere ab. Die anthropologische Repräsentativität und Relevanz von Künsten und Medien lässt sich nicht als Sammlung von Wesensmerkmalen oder auch nur Eigenschaften aufzählen. Ein Aufzählungsversuch würde bei Kurosawa schon an der wiederholt bemerkten Tatsache scheitern, dass die Rolle und die Rollen von Frauen in den Filmen nicht nur feministischen Ansprüchen nicht genügen. Man/Frau kann dergleichen unmissverständlich, aber auch unaufgeregt feststellen und doch eine Art anthropologischer Repräsentativität eines Films festhalten: Midori Yajima hält dafür, dass nach den kämpfenden Heldinnen am Anfang (etwa ICHIBAN UTSUKUSHIKU; 1944; Am allerschönsten) und den „Mädchenengeln mit den leuchtenden Augen“ im mittleren Filmschaffen – etwa SHUBUN (1950; Skandal), YOIDORE TENSHI (1948; Engel der Verlorenen), IKIRU (1952; Leben!) – im Wesentlichen ein dritter negativer Typ überlebt – die Tod und Verderben bringende Frau mit dem Gesichtsausdruck der Nô-Maske (u.a. KUMONOSU-JO, KAGEMUSHA, RAN). Kriegers) und RAN: „Es muss immer Grün dabei sein“, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Nr. 8 (1990), S. 83. Zur Rolle der Beleuchtung allgemein etwa Kühnel: Einführung in die Filmanalyse, S. 59-79, vor allem der Bezug zur atmosphärisch-symbolischen Verdichtung S. 59. 26 Visarius: „Kommentierte Filmographie“, S. 131-132. Zur filmischen Bürde ‚Dostojewski‘ vgl. auch Richie: Kurosawa, S. 85.

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Yajima meint aber auch, dass es Kurosawa vor allem in KAGEMUSHA und RAN nicht um ein einzelnes kämpfendes Subjekt, sondern darum ging, „den menschlichen Lebenskampf mit seiner Vergeblichkeit und Grausamkeit in düsterer Pracht vor Augen zu führen.“27 Meine – sehr schlichte – These ist, dass sich derartige, nennen wir sie einmal salopp: ‚anthropologisierenden‘ Reaktionen auf die Filme Kurosawas kaum vermeiden lassen. Das liegt weniger daran, dass Kurosawa wiederum zu Recht als der ‚westlichste‘ der japanischen Regisseure gelten kann und es schon deshalb nahe liegt, interkulturelle mit anthropologischen Wirkungen zu verwechseln oder zu identifizieren. Die in verschiedenen Varianten auftretende universalistische Drift in den Reaktionen auf Kurosawas Filme, zu deren Pflege er selbst im Übrigen einiges, auch Selbstironisches beigetragen hat, lässt sich umgekehrt auch nicht mit kritischen Hinweisen auf die Schichten des Zeitgeschichtlichen und Allzuzeitgeschichtlichen, ja Ideologischen in den Filmen aus den Angeln heben. Derartiges taucht horizontartig vom Anfang – japanische Kriegspropaganda in ICHIBAN UTSUKUSHIKU – bis zum Ende – AtombombenAntiamerikanismus im Spätfilm HACHIGATSU NO KYOSHIKYOKU (1991; Rhapsodie im August) – mit einer Art Vorläufer, der Atombombenangst eines eigenwilligen bis eigenartigen älteren Mannes in IKIMONO NO KIROKU (1955; Ein Leben in Furcht) in den Filmen immer wieder auf. Meine zweite, vielleicht nicht ganz so schlichte medienanthropologische These lautet vielmehr, dass die anthropologisierende, universalistische Drift, vorläufig jedenfalls unbeschadet aller historischen Bedingtheiten, gerade den raffinierten Techniken geschuldet ist, mit welchen Kurosawa die Technologie ‚Film‘ handhabt. In der Filmkritik kehren mit schöner Regelmäßigkeit sowohl Analysen zur avancierten, wo nicht avantgardistischen Filmtechnik Kurosawas wie auch zur universalistischen Wucht der Filme wieder. Ich möchte auf der Kopplung beider Dimensionen bestehen, die in der Filmkritik nicht immer deutlich vorgenommen wird. Neu ist Kurosawas Umgang mit der Wischblende (wipe-cut, einfache Komplexitätsstufe), mit der ein Bild horizontal oder vertikal oder selbst diagonal vom nächsten gleichsam weggewischt und ersetzt wird. Vor allem in einigen frühen Filmen wie TORA NO O FUMO OTOKOTACHI setzt Kurosawa diese Schnitttechnik auch innerhalb, nicht nur zwischen 27 Yajima, Midori: „Als Helden taugen Frauen nicht“, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Nr. 8 (1990), S. 76, 78. Klare Darlegungen in dieser Hinsicht auch bei Russell, Catherine: „Men with Swords and Men with Suits. The Cinema of Akira Kurosawa“, in: Cineaste (Winter 2002), S. 10-11.

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Szenen ein. Dazu zählt auf der mittleren Komplexitätsstufe die Verwendung von Teleobjektiven nicht nur bei Totalen, sondern auch für Großaufnahmen. Flachheit und Nähe solcher Bilder tragen vor allem zum anthropologisch kritischen Eindruck distanzierter Eindringlichkeit bei. Schließlich ist Kurosawa auf hoher Komplexitätsstufe während seiner ganzen Karriere virtuos mit dem Einsatz mehrerer (bis zu neun) Kameras umgegangen. Die Kombination dieser Techniken in der Montage erzeugt, fast paradox, manchmal 3-D Qualitäten. Nicht zuletzt deswegen gewinnt die endgültige Schnittfassung (final cut) eine nur dem Drehbuch vergleichbare Bedeutung. Richie, der Kurosawa nach der Wichtigkeit der drei Grundschritte der Filmherstellung (Drehbuch, Dreharbeiten, Schnitt) befragt hat, zitiert: „Well, the editing is probably the most important, but if you don’t have a good script, all the editing in the world won’t help.“28 Ich erspare mir Auslassungen zu der in der Kritik vielbehandelten Verwendung von Breitwandformaten und von Farbe, die Kurosawa wegen technischer Probleme, ‚satte‘ Farben in japanischen Kontexten zu erhalten, zögerlich einsetzt. Mit den genannten und anderen Techniken erzielt Kurosawa zunächst einmal den Eindruck einer Unvermeidbarkeit von Heterogenität in den menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Je komplexer aber die technisch erzeugten Spiegelungen werden, umso mehr werden die Heterogenität und der „Verwandlungsreichtum des Lebens“ (Visarius) von einer Art Gleichwertigkeit, ja Gleichförmigkeit menschlicher Konstellationen und Empfindungsdispositive überlagert. Je amorpher diese Gleichartigkeit bleibt, umso mehr beschränkt sich ein Film (wie NORA INU, vor allem KUMONOSU-JO) auf ein technisch perfektes Experiment. Je mehr sie umgekehrt an Bestimmtheit, das heißt Codeabhängigkeit der Affekte und Handlungen bis hin zu Pathos, Rührseligkeit 28 Richie: Kurosawa, S. 214. Zu anderen innovativen Techniken bei Kurosawa vgl. S. 23 (Kombination von schnellen Schnitten und Zeitlupe), 78 (Kürze der Schnitte vor allem in RASHOMON), 123 (Kamerapositionen in KUMONOSU-JO), 137 (die Art der frühzeitigen Verwendung von Breitwand ab KAKUSHI TORIDE NO SAN-AKUNIN (1958; Die verborgene Festung), 153 (die Kameratechniken in YOJIMBO), 167 (eine Art Selbstthematisierung des Sehens in TENGOKU TO JIGOKU (1963; Zwischen Himmel und Hölle), die durch insgesamt neun Kameras und alle möglichen perspektivischen Spiegeleffekte optische Geräte, Zeichnungen bewerkstelligt wird; vgl. dazu auch Visarius: „Kommentierte Filmographie“, S. 218-219), 182 (die Verwendung von Teleobjektiven in AKAHIGE (1965; Rotbart) trotz des relativ eng umgrenzten Raums). Vgl. auch Russell: „Men with Swords“, S. 9-11, Yoshimoto: Kurosawa, etwa S. 70 zur Einstellungskontrolle in SUGATA SANSHIRO (1943; Sanshiro Sugata) usw.

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und didaktischem Moralisieren gewinnt, umso stärker tendiert ein Film zum eher trivialen Melodrama. Eine solche Tendenz schlägt mehr oder weniger in einer ganzen Reihe von Filmen durch – selbst gemeinhin ‚groß‘ genannten wie IKIRU oder AKAHIGE, gelegentlich selbst im beeindruckenden 70 mm-‚Ökologismus‘ von DERSU UZALA (1975; Uzala, der Kirgise), von anderen wie HAKUCHI (1951; Der Idiot), jener unguten Mischung aus sprachlichen Informationstechniken, bedeutungsschwangeren Blicken, overacting und trotz allem fortbestehender Verwirrung, ganz zu schweigen. Für solche ‚Verfehlungen‘ ist Kurosawa oft kritisiert worden. In der Tat soll er sich selbst als „humanistische Heulsuse“ bezeichnet haben.29 Die Termini, welche die Filmkritik bei den zwischen formaler Perfektion und Pathos faszinierend balancierenden Filmen in Anschlag bringen zu sollen glaubt, lauten denn auch meist ‚Humanismus‘ und ‚Universalität‘. Adolf Muschg spricht von „umfassende[r] Menschlichkeit“, die in RASHOMON gerade aus der umfassenden Täuschung entspringe.30 Man hat in der Tat gelegentlich zu Recht darauf hingewiesen, dass die relativistische Beliebigkeit der Erzählungen in RASHOMON, die wir in den dem Film zugrunde liegenden Texten Akutagawas antreffen, im Film keinen wirklichen Bestand hat. Der Film steigert zwar den Relativismus noch einmal durch seine Darstellungstechniken von der Kadrierung bis zu den Kamerafahrten, fängt ihn aber durch die in der Schlussszene zwischen Holzfäller, Mönch und Kind aufscheinende menschliche Solidarität ab.31 Man kann beliebig lange über den Begriff des Humanismus streiten. Für mich ist er mehr als durch seine Vagheit durch die Grausamkeiten belastet, die sich historische Formen dessen haben zuschulden kommen lassen, was man (zum Beispiel juristischen) Humanismus in der europäischen Geschichte genannt hat. Im Blick auf Kurosawa ist allerdings einigermaßen klar, was damit gemeint ist. Formen der Solidarität kommen bei allen persönlichen und gesellschaftlichen Gegensätzen auch in einer ganzen Reihe von Filmen zustande, auch wenn deren Wahrnehm29 Zitiert bei Visarius: „Kommentierte Filmographie“, S. 125. Der oben zitierte Begriff des „Verwandlungsreichtums“, S. 171. 30 Dazu vor allem Galbraith IV: The Emperor and the Wolf, S. 9, 11, 72, 162, 232, 304, 558, 577, 581; Muschg, Adolf: „Zeichenverschiebung“, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Heft 8 (1990), S. 25, Tassone, Aldo: Akira Kurosawa, Paris 1990, S. 19 und zu DERSU UZALA, mit eigenem Pathos, S. 260. Vgl. wiederum sehr ausgewogen Russell: „Men with Swords“ S. 9-10, ebenso Richie: Kurosawa, S. 29, 45, 75. 31 Dazu vor allem Tassone: Kurosawa, S. 121-125, Visarius: „Kommentierte Filmographie“, S. 128.

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barkeit durch Rätselhaftigkeit, Abgründigkeit und, auf vielen Ebenen, chaotische Sinnlosigkeit (vgl. vor allem RAN – das Wort meint Bürgerkrieg oder bürgerkriegsähnliches Chaos) nachhaltig erschwert wird. Soziale Gegensätze könnten etwa kaum größer als bei den Hauptfiguren in TENGOKU TO JIGOKU sein, dem reichen Industriellen in der Villa ‚oben‘ und dem Kidnapper in einem winzigen Zimmer in der Stadt ‚unten‘. Und doch nähern sich die beiden in ihren basalen Empfindungsformen, wenn auch widerwillig, weitgehend aneinander an. In aufdringlicherer Form ist dieser Prozess zwischen dem Polizisten und dem Kriminellen in NORA INU vorgeprägt. Damit lässt sich die medienanthropologische Kurosawa-Perspektive abschließend reformulieren. Wir empfinden heute das Melodrama als aufdringlich codierte und allzu bestimmte, ja einer Falle ähnelnde Inszenierung menschlicher Affekte. Tassone zählt bei Kurosawa vor allem SHIZUKA NARU KETTO (1949; Stilles Duell) und IKIMONO NO KIROKU zum Melodrama. Andere Filme ließen sich dieser Liste hinzufügen. Auch wenn man sich über den Inhalt solcher Listen nicht einigt: Es besteht die zwingende Notwendigkeit, das Melodrama von dem zu unterscheiden, was André Bazin mit einer glücklichen Formulierung als ‚noblesse du mélodrame‘ bezeichnet hat. Dabei geht es nicht darum, den Fallstricken des Melodramas auszuweichen, indem man dessen Strukturen ausblendet. Vielmehr soll sie der Film gerade in ihrer strukturell vorgezeichneten, aber nicht erfüllten Reproduktion durch gestufte, aber nicht amorphe Unbestimmtheits- und die mit ihnen korrelierenden Intensitätsformen übersteigen. Ich lasse, auch mangels filmgeschichtlicher Detailkenntnisse, offen, inwieweit der Edelwestern solchen Forderungen entsprochen hat oder entsprechen könnte. Ich denke aber, dass Kurosawa, jenseits des Wortspiels, ein Beispiel dafür bietet, wie das filmisch veredelte Melodrama als ein prägnantes Film-Genre des 20. Jahrhunderts das ‚melodramma in musica‘ des 18. und 19. Jahrhunderts, die Oper, gleichzeitig beerbt und fortführt. Erbe und Fortführung bestehen in der Stärke, mit der ein Medium vergessen macht, dass die Prätention ‚peindre l’humanité‘ vielleicht wirklich nur eine Prätention ist. Kurosawa hat die Frage anlässlich der Vorfälle nach dem großen Kanto-Erdbeben 1923 einfacher, ‚unprätentiöser‘ gestellt: „[...] I couldn't help shaking my head and wondering what human beings are all about“. Die Filme geben darauf keine Antwort. Aber sie entwerfen ein Spektrum von unerhört (bzw. eher ungesehen) eindringlichen Suggestionen.32 32 Vgl. Bazin, André: Le cinéma de la cruauté, Paris 1975, S. 205, 219, Kurosawa: Autobiography, S. 52.

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STATIK UND DYNAMIK IN KRIEGSSCHLACHTEN BEI AKIRA KUROSAWA Vorbemerkung Der Regisseur Akira Kurosawa produzierte insgesamt dreißig Filme, darunter elf historische – den sowjetischen Film DERSU UZALA (1975; Uzala, der Kirgise) ausgenommen. Zu dieser Gattung gehören seine sieben sogenannten Samurai-Filme. Die Definition des Samurai-Films in Deutschland lautet wie folgt: „Chambara (Schwertkampffilme) sind die populärste Form des japanischen jidai-geki (Historienfilme). Meist in der Zeit der Bürgerkriege zwischen 1467 und der Abschließung des Inselreichs 1635 angesiedelt, erzählen sie vom Schicksal und den Abenteuern der feudalen sowie der herrenlosen Samurai (Ronin)“1. Man müsste diese Zeitspanne noch ausdehnen und vereinfachen. Die Schauplätze des Samurai-Films sind meistens in die japanische Umbruchszeit des 16. Jahrhunderts oder in die Edo-Ära unter dem Shogunat, d.h. zwischen 1603 und 1867 verlegt. Unter elf Historienfilmen von Kurosawa sind neun, deren Hintergründe dieser Zeitspanne entstammen. Hier werden fünf Kriegsfilme behandelt, die alle im sogenannten ‚Kriegszeitalter‘ (sengoku-jidai) des 16. Jahrhunderts spielen; nämlich SHICHININ NO SAMURAI (1954; Die sieben Samurai), KUMONOSU-JO (1957; Das Schloss im Spinnwebwald), KAKUSHI TORIDE NO SAN AKUNIN (1958; Die verborgene Festung), KAGEMUSHA (1980; Kagemusha – Der Schatten des Kriegers) und RAN (1985; Ran). Trotz der Konstruiertheit der Kulissen rezipiert das japanische Publikum die Ereignisse im Film mit einer vagen Vorstellung von der japanischen Geschichte. Es ist aber auch darauf aufmerksam zu machen, dass eine mögliche Gefahr von Historienfilmen darin besteht, dass man 1 Stiglegger, Markus: Artikel „Samuraifilm“ in: Koebner, Thomas (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002, S. 520.

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möglichst historisch korrekte Bilder haben will. Wenn ein Film in den Rahmen historischer Authentizität eingepasst wird, verliert er leicht seine eigentliche Bildkraft. Diese Gefahr aber wird umso latenter, desto mehr sich die Filmtechnik entwickelt und desto detailbesessener die Kulissenausstattung wird. Kurosawa musste sich immer mit diesem Problem auseinandersetzen. Jedem Filmregisseur erscheint es verführerisch, panoramatische Kriegsbilder zu präsentieren. Kriege und Schlachten, hinter denen sich brutale und grausame Wirklichkeiten verbergen, virtuell zu inszenieren, ist eine rein filmische Kunst, aber auch eine für den Film typische Männerphantasie. Insofern bilden Kurosawas fünf Kriegsfilme, die im 16. Jahrhundert spielen, eine interessante Konstellation. Seinem Erstling in diesem Genre, SHICHININ NO SAMURAI, folgen zwei kontrastierende Filme, KUMONOSU-JO und KAKUSHI TORIDE NO SAN AKUNIN; mit langem Zeitabstand griff er erst wieder in den 1980er Jahren das Thema Samurai im Kriegszeitalter in Farbaufnahmen auf. Im vorliegenden Aufsatz wird untersucht, wie der Regisseur Kurosawa bei der Schlacht-Inszenierung Furcht und Angst, Spannung und Intensität in seine Bildkomposition integriert hat. Dabei soll nicht nach Sinn und Bedeutung gesucht werden, sondern danach gefragt werden, was die Bildqualität ausmacht.

1.

Faszination Schlacht – Samurai im Kriegszeitalter

Das sogenannte ‚Kriegszeitalter‘ (sengoku-jidai) bildete die wilden, chaotischen Jahre der japanischen Geschichte. Genau genommen handelt es sich um die Zeit zwischen dem Beginn der Bürgerkriege ônin-no-ran (1467) und der Kapitulation des Schlosses Osaka (1615). Gerade deshalb sind diese Jahre, also das ganze 16. Jahrhundert, die beliebtesten für Historienfilme und Fernsehspiele in Japan. Das Kriegszeitalter dauerte ja über 150 Jahre, während denen das Muromachi-Shogunat (1392-1573) in Kyoto zusammenbrach, das seinen Einfluss auf die lokalen Fürsten bereits verloren hatte. Seitdem herrschte ein heilloses Durcheinander in ganz Japan. Die Fürsten beanspruchten ihre eigene Souveränität. So kam es, dass jeder Samurai-Fürst sein eigenes Land mit militärischer Macht regierte, ganz unabhängig von der zentralen Regentschaft oder vom machtlosen kaiserlichen Hof. Von der Kontrolle des Shogunats befreit, wagten es die mächtigen Fürsten-Krieger, in fremde Territorien einzudringen und ihre Macht zu erweitern. Da gab es Intrigen, Verschwörungen, Glaubensstreit, Bauernaufstände und Kriege. Unter Brüdern,

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sogar zwischen Vätern und Söhnen sowie zwischen Untertanen und Herren wurde gekämpft. Es war ein Zustand des ‚jeder gegen jeden‘. Auch für Kurosawa, der einen ganz neuen Samurai-Film produzieren wollte, bot dieses turbulente Zeitalter einen idealen Rahmen, in dem man sich die Kämpfe der Männerwelt frei ausdenken kann. Das beste Beispiel stellt sein Erstling in dieser Gattung dar, SHICHININ NO SAMURAI, in dem alle Stoffe und Motive seiner späteren Samurai-Kriegsfilme bereits im Keim enthalten sind. Die Geschichte beruht auf keiner wirklichen historischen Episode. Kurosawa gestand, dass es keine zuverlässigen Dokumente über das alltägliche Leben von Samurai gegeben habe, als er das Drehbuch schreiben wollte.2 Deshalb musste er andere Motive suchen. Da griff er auf die historische Tatsache aus dem Kriegszeitalter zurück, dass ein Samurai, der seine Kampfkunst weiter entwickeln wollte, durch verschiedene Länder wanderte, um dort Schulungsorte aufzusuchen. Auf diese Weise entsprechen die frei erfundenen Kulissen und Personen des Films der damaligen Realität. Dass er immer wieder von seiner Vorliebe für das Nô-Theater sprach,3 zeugt von seinem besonderen Interesse an dieser Zeit. Wie in KUMONOSU-JO versuchte er in seinen Samurai-Filmen Gestik und Ideen des Nô-Theaters anzuwenden, um statische Bilder zu ästhetisieren. Das Nô-Theater soll im 16. Jahrhundert bei den Fürsten sehr beliebt gewesen sein. Was viele Filmproduzenten anzieht, ist das Gefährliche beziehungsweise Heroische der Samurai (Krieger), das anregend wirkt auf die Abenteuerlust der Männer. Insofern ist das 16. Jahrhundert, eine der wenigen höchst ereignisreichen und unsicheren Umbruchzeiten der japanischen Geschichte, voll von tragisch-brutalen und heldenhaft-heiteren Legenden und Episoden. Sehr geeignet für die Autoren und Filmemacher späterer Zeiten ist, dass in jedem Ereignis viele Unklarheiten bleiben, die wissenschaftlich noch nicht geklärt sind. Die Dokumente aus dieser Zeit sind meist aus zweiter Hand oder vom Hörensagen. Sogar Berichte und Chroniken des portugiesischen Jesuitengesandten Luis Frois (15321597), die in der Geschichtswissenschaft als eher zuverlässige Quellen 2 Sato, Tadao: Kurosawa Akira sakuhin kaidai (Interpretation und Erläuterungen zum Werk von Akira Kurosawa), Tokyo 2002, S. 179f. 3 Kurosawa sagte einmal: „Wenn Sie sich eingehend mit dem Nô-Theater beschäftigen und etwas daraus lernen, wird es sich ganz von selbst in Ihren Filmen niederschlagen. Das Nô-Theater ist eine gänzlich einzigartige Kunst, die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt. Das Kabuki-Theater ist meines Erachtens dagegen steril.“ Kurosawa, Akira: So etwas wie eine Autobiographie, Zürich 1991, S. 227.

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angesehen werden, liefern manchmal falsche Informationen oder bloß Gerüchte. Um so bedenklicher ist der Forschungsstand der japanischen Geschichtswissenschaft, die lange die militärwissenschaftliche Untersuchung der historischen Kriege vernachlässigt hat. Diese Lücke der Geschichte kann jeder mit seinen imaginären Welten auffüllen. Dabei handelt es sich vor allem um Kriege und Schlachten, über die man bis jetzt auch nicht genau weiß, wie sie eigentlich geführt wurden und inwieweit ernstlich gekämpft wurde. Den Kriegsberichten aus dieser Zeit fehlt es immer an genaueren Daten. Außerdem gab es bei jeder Schlacht unterschiedliche Quellen. Wenn man die Kriege im 16. Jahrhundert nach vorhandenen Materialien beschreibt, besteht die Gefahr der Übertreibung und Überschätzung. Anders als bei geschichtswissenschaftlichen Überlegungen kann es bei literarischer und filmischer Bearbeitung vorkommen, dass eine Schlacht ohne weiteres als schicksalhafte Tragik oder als Sieg genialer Taktik verherrlicht wird oder dass ihr Gesamtbild in eingebildeten, weit verbreiteten Vorurteilen entstellt wird. In unserem Medienzeitalter jedoch wird dieses Missverständnis auch zur Faszination, die ferne Vergangenheit zu aktualisieren. Was die Kriegsereignisse im 16. Jahrhundert betrifft, dürfte es erlaubt sein, dramaturgische Eingriffe in die Geschichte vorzunehmen, obwohl einem solchen Vorgehen bei modernen Kriegen historische Verfälschung vorgeworfen werden müsste. Akira Kurosawa war auch einer der unbefangensten Filmemacher, der von der Inszenierung der Samurai-Schlachten besessen war. Er war ein bekannter Perfektionist, der unentwegt nach der realen Authentizität strebte. Beim Drehbuchschreiben studierte er gründlich historische Hintergründe, untersuchte Materialien zur betreffenden Zeit und entwarf Kostüme sowie Rüstungen nach vorhandenen Vorlagen. Er zielte offenbar auf die historisch-treue Wiedergabe des Kriegszeitalters ab, aber seine Phantasie durchbricht bei den Dreharbeiten regelmäßig alle Schranken, und zwar zugunsten seiner Filmästhetik, deren Formprinzip sich eher an einem modernen, nämlich westlich beeinflussten Wahrnehmungsmuster orientiert. In Bezug auf die dramatische Inszenierung eines Kampfes sollen Beweglichkeit und Schnelligkeit leibhaftig dargestellt werden. Wer aber so einen Kampf inszenieren will, dem stehen alle Ereignisse auf einem Einzelbild unter Blickführung eines Kameraauges in einer Rangordnung, deren Richtigkeit Produkt seines spezifischen Wollens ist. In Wirklichkeit waren japanische Krieger, die zugleich auch Bauern waren, damals nicht so diszipliniert und nicht immer kampfbereit organisiert wie Soldaten in modernen Schlachten. Da Schlachtszenen im Spielfilm keine Kriegsdokumente sind, wird dort in der virtuellen Wirk-

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lichkeit gekämpft. Es versteht sich von selbst, dass die Schlacht im Film kinematographisch manipuliert und jede Bewegung kalkuliert wird. Es gibt dabei auch keine wirklichen Toten. Wichtig ist nur, dass Furcht und Mut, Gelassenheit und Kampflust, Kälte und Ruhe, Todesangst und Annäherung an den Tod visuell überzeugend wiedergegeben werden. Nicht ohne Grund hat der Regisseur Kurosawa bei der Aufnahme der entscheidenden Schlacht in SHICHININ NO SAMURAI mehrere Kameras eingesetzt, und zwar, „weil man unmöglich voraussehen konnte, was in der Szene geschehen würde, in der die Banditen das Dorf während eines heftigen Sturmregens angriffen. Hätte ich die Szene in der üblichen Weise Einstellung für Einstellung gefilmt, wäre es kaum möglich gewesen, die Handlung nochmals genau zu wiederholen.“4 Indem auch unerwartete Bewegungen gezeigt werden, die der Regisseur nicht beabsichtigt, erreichte diese Szene eine bisher im japanischen Kino noch nie erlebte Vitalität. Was bedeutet nun für Kurosawa Krieg? Inszeniert er die Schlacht wie einen Kampfsport? Sicherlich hat die Schlacht im Kriegszeitalter eine Sogwirkung auf ihn. Seine Gefühle dabei sind aber ambivalent. Er akzeptiert einerseits den Krieg als das Schicksalhafte. Diesen Zug teilt er mit denjenigen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben. Andererseits fühlt er sich stark angezogen vom stilisierten Kampf im Kriegszeitalter, der in Wirklichkeit so nicht stattgefunden hat. Das Gleiche gilt auch für seine Kriegsvorstellung, die nicht frei von Einflüssen seiner Zeit war und gerade deshalb in einer idealisierten Vergangenheit, ganz unabhängig von den historischen Tatsachen, ästhetisiert wurde. Anders gesagt, Kurosawa war Kind seiner Zeit, nämlich der totalen Mobilmachung. Das lässt sich leicht an der Handlung von SHICHININ NO SAMURAI erkennen, da sich auch Bauern selbst zur Verteidigung des Dorfes unter der Leitung von Samurai für einen Kampf vorbereiten müssen. Im Gegensatz dazu tritt in KAGEMUSHA und RAN das Schicksal in den Vordergrund. Dort gibt es keine Helden mehr. Farbenspielerisch angelegte Schlachten erwecken keine Aufregung, sondern bringen uns vielmehr in Verwirrung. Da steht jede Person in tiefster Einsamkeit dem Tod gegenüber. Statische Bildkomposition und dynamische Bewegung sind ausgeprägte Merkmale von Akira Kurosawas Filmen. In seinen fünf Samurai-Filmen, in denen es in erster Linie um die Schlacht geht, sind sie deutlich zu erkennen, weil hier die Psychologie zunächst ausgeklammert wird. Es wird immer wieder behauptet, dass es bei Kurosawa thematisch um Humanität geht, die die menschliche Schwäche akzeptiert. Das Menschliche bedeutet 4 Kurosawa: Autobiographie, S. 230.

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dann: Verrat, Ruhmsucht und Selbstüberhebung (KUMONOSU-JO). Oder handelt es sich um seine Neigung zum Stärkeren, zum Monumentalen und zum Heroismus, der sich im Schauspieler Toshiro Mifune verkörpert? Geht es da wirklich um die Moral der Samurai: Disziplin, Selbstbeherrschung und Aufopferungsbereitschaft? Oder ist Kurosawa in RAN geneigt, im Untergang der Mächtigen etwas Schicksalhaft-Tragisches darzustellen? In seinen Schlachtszenen sagen Requisiten und Ausstattung mehr aus, als es jede Deutungssuche vermöchte.

2.

Bewegung der Masse – Pferde, Pfeile und Luntenflinten

Sehr beeindruckend und spektakulär wirken in Kurosawas Filmen die Massenszenen, für die der Regisseur eine Menge Statisten zur Verfügung hatte. Vor allem die Soldaten mit Fahnen, die in Gruppen oder in Zügen marschieren und kämpfen, werden in weiten und wechselnden Perspektiven gezeigt. Kurosawa war ein Meister der Massenregie. Die Schlachtszene im Kriegszeitalter, die nach der möglichst authentischen Wiedergabe der historischen Realität strebt, in organisierten Verfahren zu rekonstruieren, war für ihn immer eine große Herausforderung. Vor diesem Plan, dessen Verwirklichung großen Aufwand an Geld erforderte, schreckte die japanische Filmindustrie zurück. Er wurde mit Hilfe ausländischen Kapitals erst später, und zwar in den 1980er Jahren in KAGEMUSHA und RAN realisiert. Aber Kurosawas Kunst der Massenregie gilt nicht nur für die Schlachtszenen. Besonders hervorgehoben seien zwei Beispiele aus KAKUSHI TORIDE NO SAN AKUNIN: die Fluchtszene der Gefangenen (Nr. 8 nach dem Drehbuch5) und die Tanzszene im Feuerfest (Nr. 79). In der Szene Nr. 8, deren Vorgang in wenigen Sekunden in der Totalen, noch dazu im Studio aufgenommen wird, kommen die Gefangenen, die in Aufruhr geraten sind, trotz einzelner Schüsse massenweise die Steinstufen herunter. Dem liegt die berühmte Szene ‚Stufen von Odessa‘ im sowjetischen Stummfilm PANZERKREUZER POTEMKIN von Sergej Eisenstein zugrunde. Dort aber kommen die Soldaten, die zu schießen drohen, in Reihen die Stufen herunter, um die Masse vor sich her zu treiben. Kurosawa macht es genau umgekehrt. Die von Panik ergriffene, fliehende Masse überrollt die feuernden Wächter, die schließlich von ihr geschluckt werden. Diese witzig-ironische Bearbeitung der filmischen 5 Die Szenen-Nummer im Drehbuch nach der japanischen Ausgabe gesammelter Werke von Akira Kurosawa. Vgl. Kurosawa, Akira: Zenshu Kurosawa Akira (Gesammelte Werke), Bd. 6, Tokyo 1988, S. 239.

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Vorlage passt zum heiteren Charakter dieses Werks. In der FeuerfestSzene umkreist die tanzende Masse, von mysteriös-barbarischer Musik begleitet, das Feuer, was im wahrsten Sinn an Nietzsches Dionysos-Tanz erinnert. In der Massenregie von Kurosawa spielen nicht nur die Menschen, sondern Pferde, Pfeile und Luntenflinten eine wichtige Rolle. Reitende Samurai in kriegerischer Rüstung mit Fahnen sind typische Symbolbilder. Sie greifen im Film tapfer an der Spitze an, wie die Kavallerie im europäischen Militär. Das widerspricht der historischen Tatsache, dass damals im Kriegszeitalter Pferde in erster Linie zum Transport, aber nicht zum Kampf eingesetzt wurden.6 In diesem Zusammenhang ist das weit verbreitete Bild des Reiter-Samurai eine Fiktion. Dies war aber dem Regisseur bewusst, da er einmal offen gestanden hat, es habe im japanischen Kriegszeitalter keine Vollblutpferde gegeben.7 Trotzdem bestand er darauf, Vollblüter, die sogar importiert werden mussten, in den Schlachtszenen zur Verfügung zu haben, um die dynamischen Bewegungen der Pferde sichtbar zu machen und damit einen möglichst realen Eindruck zu erwecken, nicht um historisch korrekte Bilder zu zeigen. Schon früher hat sich der Regisseur zu seiner Vorliebe für Pferde bekannt. Als Regieassistent des Regisseurs Kajiro Yamamoto verfilmte er in UMA (1941; Pferde) den bäuerlichen Alltag samt Pferdezucht. Man sagt, der Regisseur Kurosawa wollte nicht nur die Menschenmassen, sondern auch die Pferde in Schach halten und inszenieren. In KAGEMUSHA geht es um die schicksalhafte Schlacht zwischen den reitenden Truppen und den mit Luntenflinten schwer bewaffneten Verteidigern. Im Hintergrund steht die historische Schlacht von Nagashino, ein legendäres Ereignis in der japanischen Kriegsgeschichte, in der zwei Rivalen aufeinander trafen, und zwar die Fürsten Nobunaga Oda und Katsuyori Takeda. Letzterer war der Sohn von Shingen Takeda, einem der mächtigsten Samurai-Fürsten im Kriegszeitalter, der in KAGEMUSHA einen Doppelgänger anstellt. Shingen soll seine berühmten Reiter-Truppen aufgestellt haben, deren Existenz in neueren Studien bezweifelt wird. Sein militärisches Potential wurde aber von den Nachbarländern gefürchtet. Nobunaga Oda war als aufgeklärter Fürst und gleichzeitig als Sonderling bekannt, der nicht nur europäische Einflüsse, son6 Vgl. Fujimoto, Masayuki: Nobunaga no sensou. „Nobunaga kouki“ ni miru sengokugunjigaku. [Die Schlachten, die von Nobunaga kommandiert wurden. „Chronik von Nobunagas Leben“ und die Taktik im Kriegszeitalter], Tokyo 2003, S. 223. 7 „Gespräch mit Akira Kurosawa“, in: Wochenzeitschrift Heibon Punch, 7. 1. 1980. Zitiert nach Kurosawa: Zenshu, S. 239.

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dern auch die christliche Religion akzeptierte. Er war gerüstet nach europäischer Art, wollte als radikaler Reformer das politische System gründlich ändern. Die Oda-Truppen waren mit enorm vielen Luntenflinten ausgerüstet, die 1543 von den Portugiesen nach Japan gebracht und innerhalb kurzer Zeit weit verbreitet waren. So gesehen erwartete man in Japan von KAGEMUSHA, in dem es um eine historisch sehr bekannte Schlacht geht, härteste, spannendste Kampfszenen zwischen Reitern und mit Gewehren bewaffneten Truppen. Diese Erwartung erfüllt die Schlussszene nicht. Der Vorstoß der durch drei Farben getrennten sogenannten Reiter-Truppen8 wird in der Totalen von befestigten Kameras aufgenommen, so dass alle Bewegungen verlangsamt erscheinen. Die Kameras fahren nicht mit. Sie bewegen sich nicht, abgesehen von einem kurzen Schwenk. Kurosawa mag aber das Zoom-Verfahren auch nicht.9 Es scheint daher, als ob sich die Pferdekolonnen nur wie Ströme willenlos bewegten. Außerdem wird am Schluss nicht gekämpft. Nach dem Knallen der Schüsse werden plötzlich verletzte und sterbende Soldaten und Pferde, die auf dem Schlachtfeld liegen, in Zeitlupe gezeigt. Diese Sequenz, die eigentlich viele bewegliche, dynamische Elemente enthalten sollte, wirkt statisch. Hier hat man den Eindruck, als werde das Schlachtfeld mitsamt seinem Grauen, in Pulverdampf gehüllt, auf einer großen Leinwand, das heißt wie in einem Schlachtengemälde abgebildet. Es sei aber darauf aufmerksam gemacht, dass in den Schlachten des Kriegszeitalters neben den Gewehren nach wie vor Pfeile effektiv eingesetzt wurden. Man griff damals gern zu den Waffen, mit denen man den Feind aus der Ferne auf indirekte Weise angreifen konnte: Steine werfen, Pfeile abschießen und Schüsse feuern. Da man schwere Verluste möglichst vermeiden wollte, kam es selten zum Nahkampf. Daher spielten Schwertkämpfe, die üblicherweise in Samurai-Filmen zu sehen sind, im Kriegszeitalter kaum eine große Rolle. Es hat sich langsam herausgestellt, dass die Samurai-Fürsten eine Kompromisslösung bevorzugten und sich viel Mühe gaben, um frontale Auseinandersetzungen zu ver-

8 Der Fürst Shingen Takeda hat die folgende Maxime auf seine Fahne geschrieben: ‚Schnell wie die Luft sein, still wie der Wald, angreifen wie das Feuer und sich nicht bewegen wie der Berg.‘ Im Film bedeutet die Luft Schwarz, der Wald Grün und das Feuer Rot. 9 Kurosawa hält das Zoom-Verfahren für falsch, denn die Kamera „sollte dem Schauspieler folgen, wenn er sich bewegt, und sie sollte einhalten, wenn er stehen bleibt. Wenn man diese Regel verletzt, bemerkt der Zuschauer die Kamera.“ Vgl. Kurosawa: Autobiographie, S. 230.

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meiden.10 In diesem Sinne will Kurosawa die Funktion der Pfeile verstanden wissen. Im Schlusskampf der SHICHININ NO SAMURAI greift der Kommandant Kambei, sein Schwert in den Boden steckend, nach einem Pfeil.11 Als eines der imponierendsten Beispiele sollte man aber zuerst die Schlussszene vom KUMONOSU-JO nennen, in der die Hauptperson Taketoki, ein dem Macbeth vergleichbarer Samurai, von seiner Truppe verraten am Ende auf grausame Weise stirbt, dabei mit seinem von Pfeilen durchbohrten Leib einem Igel gleicht. Hier stehen zunächst im Innenhof des Schlosses viele Soldaten, die zu Taketoki auf dem Balkon emporschauen. Da fliegt plötzlich ein Pfeil in seine Richtung, ihm folgen andere. Gezeigt werden aber nicht die schießenden Soldaten, sondern nur die fliegenden Pfeile und der fliehende Taketoki. Die Spannung wird bildlich um so mehr gesteigert, da der Zuschauer auch nicht wissen kann, woher und wann die Pfeile kommen und wie viele Pfeile fliegen. Später, in RAN, scheint die Inszenierung von Schlachtszenen von Kurosawa noch weiter perfektioniert worden zu sein, wird der Festungskrieg noch grausamer und in Farbe wiedergegeben. Aber auch im aus technischen Gründen begrenzten Arbeiten äußert sich Kurosawas meisterhafte Regiekunst.

3.

Schlösser und Belagerung – Symbol des Untergangs

In den Kriegsszenen, in denen eigentlich die Dynamik der kämpfenden Massen und rennenden Pferde herrscht, gibt es jedoch bei Kurosawa noch einen anderen Akzent im Hintergrund, und zwar das Schloss, das unbeweglich dasteht. Es sind nur drei Filme, in denen Kurosawa schöne japanische Schlösser als Teil der Ausstattung hat bauen lassen. Im imaginären ‚Schloss im Spinnwebwald‘, das aus unterschiedlichen architektonischen Stilen des Kriegszeitalters zusammengesetzt wurde,12 hat das große Tor eine symbolische Funktion. Schloss Nummer zwei ist die Residenz von Takeda in KAGEMUSHA, Nummer drei das dritte Schloss in 10 Suzuki, Masaya: Sengoku 15 daikassen no shinsou. Bushotachi ha dou tatakattaka [Die Wahrheit von 15 großen Schlachten im Kriegszeitalter. Wie kämpften die Samurai-Fürsten?], Tokyo 2003, S. 40f. 11 Diese Szene wurde später hinzugefügt. Vgl. Nogami, Teruyo: „Anmerkungen zum Szenario“, in: Kurosawa, Akira: Zenshu Kurosawa Akira (Gesammelte Werke), Bd. 4, Tokyo 1988, S. 390. 12 Vgl. Tanno, Tatsuya (Hrsg.): Muraki Yoshiro no eigageijutsu. Kurosawa eiga no dezain [Die Filmkunst von Yoshiro Muraki. Design und Ausstattung der Kurosawa-Filme], Tokyo 1998, S. 86-88.

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RAN. Das Schloss war im Kriegszeitalter nicht nur Symbol der Macht, sondern auch Schauplatz der Belagerung, weil es als Festung funktionierte. Es war sehr schwierig, ein Schloss zu erobern, wenn sich alle Soldaten einmal darin verschanzten. Man versuchte, mit dem belagerten Feind zu verhandeln, ob er bereit wäre, das Schloss zu evakuieren. Deshalb wurde damals nur selten bis zum Tod gekämpft.13 Wenn man aber hartnäckig durchhalten wollte, kam die Belagerung manchmal zum grausamsten Ende. In diesem Zusammenhang zeigt der Film RAN Paradebeispiele des Festungskriegs. Aus den Öffnungen der Burgmauer werden Pfeile und Feuerkugeln geschossen. Um die Tore des Schlosses wird angegriffen und hart verteidigt, schließlich verbrannt und ruiniert. Der Rhythmus von Angreifen und Verteidigen wird in Schnitten, deren Perspektive wechselt, dynamisch dargestellt. In das heftigste Schlachtengetümmel wird plötzlich auch ein statisches Element eingeführt. Während des Blutbades läuft es ohne Effektton. Man hört nur die tragische Filmmusik des Komponisten Toru Takemitsu. Nachdem das dritte Schloss in Flammen aufgegangen ist, verlässt der Protagonist Hidetora, halb verrückt, das Schlachtfeld, ohne dass er getötet wird. Es ist allerdings nicht schwer, diese in KAGEMUSHA und vor allem in RAN deutlich thematisierte Ästhetik eines Samurai-Lebens als eine des Untergangs zu kennzeichnen, in der westliche Zuschauer das Traditionell-Japanische gefunden zu haben glauben. In RAN hat deshalb die Ruine einen metaphorischen Charakter. Am Ende zeigt sich die Schlossruine in der Abenddämmerung. Vom abgebrannten Schloss bleibt nichts übrig als der Steinwall. Die Steinwälle im Hintergrund werden bei Kurosawa nicht nur in Außenaufnahmen verfilmt, sondern auch im Studio nachgebaut, da in Japan nur wenige Schlösser aus dem 16. Jahrhundert vorhanden sind und auf den gut erhaltenen Steinwällen neue Bergfriede oder Haupttürme originalgetreu wieder errichtet wurden. In diesem Sinne ist es auch eine ästhetisch herausfordernde Arbeit, die Ruine als solche ohne Hilfe der Computergrafik zu präsentieren. Wie sehr Schlösser in Kurosawas Filmen ein Teil der Landschaft sind, bemerkt man manchmal in seinen Samurai-Farbfilmen an statischen Schnitten, in denen Landschaft in weiten Perspektiven wie Malerei erscheint. Sehr interessant ist, dass häufig Schnitte von Fensterblicken oder der Dämmerung zu sehen sind, was offenbar an die Malerei der deut-

13 Suzuki: Sengoku 15 daikassen no shinsou, S. 183.

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schen Romantik erinnert.14 Man darf nicht vergessen, dass Kurosawa seine Karriere als Maler begonnen hatte. Wohl bekannt ist, dass er für seine Filmentwürfe, vor allem für KAGEMUSHA und RAN, zahlreiche Szenen-Bilder selber malte, mit starken, dicken Strichen. Im SchwarzWeiß ist seine konstruktive Bildkomposition deutlich erkennbar, in deren Rahmen er schärfere Bilder wollte. Worauf er abgezielt hat, sind starker Kontrast, inszenierte Echtheit und reale „Flächigkeit“,15 in der alle Personen und Gegenstände klare Konturen haben. Das ist der Grund dafür, dass er das Teleobjektiv und die Schärfentiefe bevorzugte. Letztere ist eine der beliebtesten Filmtechniken des Regisseurs Kurosawa. Mit dieser Einstellungstechnik sind alle Gegenstände des Vorder- und Hintergrunds scharf abgebildet. Gerade deshalb war für Kurosawa auch die Ausstattung wichtig, die mit ihrer Realität die Zuschauer täuschen kann. Sein langjähriger Ausstatter, Yoshiro Muraki, hat immer wieder erzählt, dass auch in jedem Detail, bis in die Kleinigkeiten, keine nachlässige Arbeit erlaubt war.16 Der Regisseur hatte also bis zum AKAHIGE (1965; Rotbart) asketisch auf einem Schwarz-Weiß-Film bestanden. Insofern zeigt sich im Schwarz-Weiß bei Kurosawa eine klassische Vollkommenheit, die man ‚edle Einfalt und stille Größe‘ nennen könnte. Ab 1968 ist Farbe in Japan weitgehend zur Norm geworden. Kurosawa ging die Sache jedoch zunächst sehr vorsichtig an. Nachdem sein erster Farbfilm DODESUKADEN (1970; Dodeskaden – Menschen im Abseits) fehlschlug, musste er in Japan fast zehn Jahre lang schweigen. Erst in den 1980er Jahren konnte er mit KAGEMUSHA und RAN seine eigenen Vorstellungen von Farbe finden und frei entfalten. Das war, als hätte er seine Farbe wieder entdeckt. Wie gesagt, erwecken seine späteren Farbfilme eher statisch-malerische Eindrücke. Dies spiegelt sich vor allem in den Landschaftsausschnitten, die in Außenaufnahmen unter hellem Sonnenlicht verfilmt wurden. Im grell kontrastierenden Farbenspiel, das in sich eigentlich dynamische Momente trägt, herrschen stilisierte Bewegungen, die fast zum Stillstand kommen und erstarren könnten. Dies bringt uns 14 Als Beispiel seien zwei aufeinander folgende Szenen aus KAGEMUSHA genannt; Schneelandschaft aus dem Fenster des Schlosses von Takedas Rivalen Kenshin Uesugi (nach dem Drehbuch, Nr. 23) und die in der Dämmerung zurückkehrenden Truppen (Nr. 24). 15 Den Begriff ‚Flächigkeit‘ bezieht Ralf Michael Fischer auf ein Merkmal der japanischen Bildkunst, die keine Perspektive kennt. Vgl. Fischer, Ralf Michael: „Der doppelte Blick des tenno. Filmische Bildschöpfungen im Spannungsfeld japanischer und westlicher Darstellungstradition“, in: Deutsches Filmmuseum Frankfurt/Main (Hrsg.): Akira Kurosawa, Kinematograph, Nr.18/2003 (Ausstellungskatalog), Frankfurt/Main 2003, S. 20f. 16 Tanno: Muraki Yoshiro no eigageijutsu , S. 154.

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manchmal in Verlegenheit, zumal wenn wir in seinen Schwarz-WeißFilmen eine wohl kalkulierte Homogenität finden. Was die westliche Rezeption von Kurosawa betrifft, scheint die Tatsache irreführend zu sein, dass seine späteren Filme KAGEMUSHA und RAN in Europa in hohem Maß geschätzt werden. Es wird immer wieder ironisch bemerkt, dass er „der westlichste Regisseur Japans“17 sei und trotzdem das Traditionell-Japanische für das westliche Publikum zu artikulieren gewusst habe. Kurosawa wollte aber nicht einmal in seinen Samurai-Filmen mit dem im Westen so verbreiteten Exotismus kokettieren. Er wollte die Form des Samurai-Films mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln vervollkommnen. Was uns an seinen Samurai-Filmen fasziniert, ist ja seine Realisierungskunst, mit der sich jedes Bild, wie beseelt, im rein kinematographischen Sinne zu bewegen anfängt. Damit ist nicht bloßer Realismus gemeint. So repräsentiert der Film eine imaginäre Einmaligkeit, obwohl Kurosawa keine Verherrlichung des Krieges, keinen Lobgesang des Heroismus beabsichtigte. KAGEMUSHA und RAN waren für ihn endgültige Samurai-Filme. Sein künstlerisches Schaffen hat ein weites Spektrum. Daher sollte man immer vorsichtig sein, aus einem Teilaspekt auf das ganze Charakterbild zu schließen. Es ist wohl bekannt, dass er die traditionellen Formprinzipien des japanischen Samurai-Films so sensationell revolutionierte, dass sich seitdem ein Kanon herausbildete. Es muss aber immer betont werden, dass der Regisseur Kurosawa unermüdlich versucht hat, seine eigene Kanonbildung durch innovative Einfälle zu brechen. Er hasste Routinearbeit. Er fing jedes Mal aufs Neue an. Der Film ist ein Medium, das Unmögliche möglich zu machen, und Kurosawa versuchte, immer an der Grenze der filmtechnischen Möglichkeiten, das zu realisieren. Er hat fortwährend alle Ausdrucksmittel gründlich geprüft und diejenigen ausgenutzt, die unter den jeweiligen technischen Bedingungen möglich waren. Sein Hauptanliegen bestand darin, die rein filmtechnische Methode neu zu beleben. Er scheute sich niemals vor dem Experiment. Insofern hat er wirklich Medienumbrüche miterlebt und gefördert. Er war bis zu seinem Tod ein innovativer Filmemacher.

17 Richie, Donald: A Hundred Years of Japanese Film, Tokyo/New York/ London 2001, S. 176.

HYUNSEON LEE

ZWISCHEN TRADITION UND MODERNE: S C H W E R T K A M P F BE I A K I R A K U R O S A W A 1 1.

Bilder kämpfender Männer

In Akira Kurosawas Filmen wird gekämpft. Der Kampf stellt eine grundlegende Situation dar, mit der Kurosawas Männer konfrontiert sind, sei es in Form einer Schlacht, eines Krieges, eines Zweikampfes, eines Duells mit sich selbst oder der Umwelt. Der Kampf wird angekündigt und vollzogen, mit dem Schwert, aber auch ohne das Schwert. Im Folgenden soll es jedoch in erster Linie um den Kampf mit dem Schwert gehen. Akira Kurosawas Filmwelt lebt von diesen Schwertkämpfen. Bilder kämpfender Männer dominieren seine Filme. Der Samurai ist dabei ein Phänotypus des martialischen japanischen Mannes. In den Filmen von Kurosawa tritt dieser häufig in Gestalt eines Schwertkämpfers in Erscheinung. Die Thematisierung japanischer Männlichkeit oder ‚großer Männer‘ mit Schwertern, die die Geschichte maßgeblich vorantreiben bzw. an großen geschichtlichen Ereignissen beteiligt sind, ist insbesondere in seinen Historienfilmen (jidai-geki) zu finden, wie z.B. RASHOMON (1950; Das Lustwäldchen), SHICHININ NO SAMURAI (1954; Die sieben Samurai), KUMONOSU-JO (1957; Das Schloss im Spinnwebwald), KAKUSHI TORIDE NO SAN-AKUNIN (1958; Die verborgene Festung), KAGEMUSHA (1980; Kagemusha – Der Schatten des Kriegers) und RAN (1985; Ran). Bezeichnenderweise siedelt Kurosawa seine Helden und Filmstrukturen häufig in der Umbruchsituation des partikularen, militärischen 1 Der folgende Beitrag basiert auf einem bereits veröffentlichten Text der Verfasserin: Vgl. Lee, Hyunseon: „Akira Kurosawas Symbolwelten. Schwertkampf, Männlichkeitsbilder und das extreme Ich des Samurai“, in: Deutsches Filmmuseum Frankfurt/Main (Hrsg.): Akira Kurosawa, Kinematograph, Nr. 18/2003 (Ausstellungskatalog), Frankfurt/Main 2003, S. 4861.

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Sengoku-Zeitalters (1482-1558) an, das zunächst als eine extrem turbulente Periode fortwährender Kriege gilt, bis schließlich Nobunaga Oda die zerstrittene Nation Japan mit der Errichtung einer zentralen Staatsmacht einen wird (1558-1582). Es ist anzunehmen, dass das japanische Ich in diesem chaotischen Zustand als ein ‚Herrscher-Ich‘– wie auch der Staat selbst – noch keine zentrale, gefestigte Form hat, so dass gerade dieser Zeitraum für die filmische Imagination japanischer Männlichkeit Kurosawa besonders faszinieren dürfte. Dies ändert sich schlagartig mit dem Aufstieg des Nobunaga Oda und der anschließenden Alleinherrschaft von Hideyoshi Toyotomi (Momoyama-Periode) und Ieyasu Tokugawa (Edo-Zeit), wobei neue nationalistische Konturen in einer sich selbst als maskulin definierenden japanischen Kultur entwickelt werden. Insofern situiert Kurosawa seine Filme in einer Welt, die Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik als eine Welt des heroischen Epos beschreibt: Ohne Zentralstaat und Bürokratie, so dass jeder männliche Held ein Leben entsprechend seiner Stärke führen kann.2 Doch im Unterschied zu den griechischen Helden ist die Selbstentfaltung der japanischen Aristokratie (bzw. Kriegerkaste) durch ihre Ehr- und Dienstauffassung gebremst. In Akira Kurosawas Filmen wird der Schwertkampf nicht nur als Zweikampf im wörtlichen Sinne ins Bild gesetzt. Er charakterisiert darüber hinaus Kurosawas Filmsprache in vielerlei Hinsicht. Im Folgenden möchte ich insbesondere das dualisierende Moment der Stilisierung und zugleich der De-Stilisierung des Schwertkampfes in den Vordergrund stellen. Die ambivalenten Momente der Ästhetisierung des Schwertkampfes, wie ich mit den Analysen der Schwertkampfszenen sowie der Samuraibilder zeigen werde (s.u. Abschnitte 5, 6, 7), haben eng mit der Sichtweise Kurosawas auf die japanische Kultur und Gesellschaft zu tun, die solch eine kulturelle Praxis überhaupt hervorgebracht und diese sogar nahezu verehrt hat.3 2 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. Erster Teil. Werke in 20 Bänden, Bd. 13, Frankfurt/Main 1970, S. 236-255 (Kapitel „Die individuelle Selbständigkeit: Heroenzeit“), hier insbesondere S. 243. 3 Mir ist außer der japanischen Kultur keine andere bekannt, in der das Schwert solch einen hohen Stellenwert hatte; im März 2004 konnte ich z.B. im Tokyo National Museum von Ueno Park in Tokyo beobachten, wie kunstvoll die japanische Aristokratie ihre Schwerter mit ihrer Familientradition in Verbindung gebracht hatte, und wie jenes Familiensymbol auf den Schwertern im Laufe der Entwicklung der japanischen Geschichte verfeinert und ästhetisiert wurde. Die Kunst der Schwerter, deren Historie auch im Nara National Museum zu finden ist, kann man vor allem im Schloss

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2.

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Kollektivsymbol Schwert – Stereotyp Samurai

Bekanntlich ist das Schwert keine japanische Erfindung, ebenso wenig wie der Schwertkampf. Unter den zahlreichen glanzvollen Leistungen der Schwertkämpfer in den jüngsten Aktionsfilmen4 ist der japanische Schwertkampf zu einem global funktionierenden kulturellen Stereotyp geworden, und zwar mit einer deutlich markierten kulturellen Prägung.5 Wodurch unterscheidet sich nun der japanische Schwertkämpfer von allen anderen? Was assoziiert man mit dem japanischen Schwertkämpfer? Was ist so originell am japanischen Schwertkampf, dass dieser sich unter zahlreichen global-populären kulturellen Artefakten behaupten bzw. profilieren kann? Der japanische Schwertkämpfer ist, denke ich, eng mit der Vorstellung vom Samurai verbunden. Hierauf lässt in den Filmen Kurosawas vor allem die Ausstattung des Kämpfers schließen, wenn er sich dort in seinem mittelalterlichen ‚military look‘, also in der Ausrüstung eines Soldaten, und mit einem langen, schmalen und messerscharfen Schwert präsentiert. Bevor ich auf die Filmbilder Kurosawas ausführlicher eingehen werde, möchte ich einen kurzen Blick auf den Begriff ‚Samurai‘ werfen, um die Ambivalenz der Ästhetisierung des Schwertkampfes und somit auch der Samuraibilder in Kurosawas Filmen deutlich machen zu können. Ich möchte den Geist der Samurai, den der Schwertkämpfer verkörpert, hier vorläufig so formulieren: einer Sache gründlich und vollvon Nagoya bewundern, dessen Bau ab 1609 Ieyasu Tokugawa für seinen Sohn veranlasste, in dem die Owans, eine Zweigfamilie der Tokugawas, bis 1868 residierten. Hier wird die mittelalterliche Kultur der Samurai sorgfältig aufbewahrt. Die Spur einer prachtvollen Militärkultur kulminiert im Souvenirladen im obersten Stock des Schlosses. Man begegnet hier sowohl exklusiven kostspieligen Schwertern wie auch begehrenswerten Spielzeugschwertern für Kinder. 4 Als Beispiele gelten TROJA (Regie: Wolfgang Petersen, 2004), GLADIATOR (Regie: Ridley Scott, 2000), aber auch die chinesischen Schwertkampffilme wie TIGER & DRAGON (Regie: Ang Lee, 2000) HERO (Regie: Zhang Yimou 2002) oder HOUSE OF FLYING DAGGERS (ders., 2004). 5 Man vergleiche beispielsweise den griechischen Krieger Achilles (gespielt von Brad Pitt) oder den trojanischen Hektor (Eric Bana) aus TROJA und den römischen Gladiator Maximus (Russell Crowe) aus GLADIATOR, oder am besten den CONAN THE BARBARIAN (Regie: John Milius, 1981), gespielt von Arnold Schwarzenegger mitsamt dem breiten Schwert, – um bei Kurosawa zu bleiben – mit Toshiro Mifune in SHICHININ NO SAMURAI oder mit den japanischen Schwertkämpfern in THE LAST SAMURAI (Regie: Edward Zwick, 2003).

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kommen dienen bis in den Tod; sich absolut hingeben. Was ist eigentlich ein Samurai? Samurai bezieht sich auf das Wort ‚dienen‘ und damit auf den Krieger (Soldat) sowie die Kriegerkaste im gespaltenen, zerstrittenen mittelalterlichen Japan. Ständig bedroht von den Kriegen um die Vormachtsstellung waren Fürsten und Landbesitzer stark auf die Samurai angewiesen – jene Kriegerklasse des 11. bis 17. Jahrhunderts, von der absolute Loyalität, Treue, Heldenmut und souveräner Umgang mit dem Schwert wie mit sich selbst erwartet wurde. Die Samurai hatten sich die zu ihrer Klasse gehörigen Verhaltensweisen wie den Ehrenkodex anzueignen, so dass ihr Status durch ihren Habitus sowohl innerlich als auch durch die Kleidung mitsamt der Frisur sichtbar sein sollte. Das Schwert als ein Teil ihrer Dienstkleidung diente hierbei als ein Distinktionsmerkmal, das Mut, Disziplin und vor allem Männlichkeit repräsentieren sollte. Es ist einerseits Professionalität, die die stereotype Vorstellung vom Geist der Samurai mit dem Schwert konnotiert und ein globales Faszinosum darstellt. Man kann sich auf einen Samurai verlassen, weil er bis zum Tode, also bis zum ‚Geht-Nicht-Mehr‘ zu dienen weiß. Doch die Kehrseite dieser zunächst faszinierenden Professionalität, der absoluten bedingungslosen Hingabe, ist sinnlose Gewalt, absurder blinder Gehorsam für bestimmte Herren. Hier steckt die Gefahr einer Instrumentalisierung von Menschen. Über die Folgen solcher extremen Haltungen ist bisher von den Japan-ForscherInnen hinlänglich spekuliert worden. Beispielsweise analysiert die amerikanische Kulturanthropologin Ruth Benedict die japanische Mentalität nach zwei Weltkriegen und deutet Schwert und Chrysantheme symbolisch als Charaktermerkmale der Nation Japan. Ihre Position ist mittlerweile vielfach kritisiert worden, nicht zuletzt wegen ihrer den Untersuchungsgegenstand – hier die japanische Militärkultur – als solche essentialisierende Herangehensweise. Denn Benedict leitet maßgebliche Aspekte der japanischen Kultur von der Militärkultur her und muss aufgrund dieser Herangehensweise mögliche andere Aspekte (wie das Moment der Konstruiertheit) unbeachtet lassen. Ich gehe allerdings davon aus, dass die japanische Kultur und deren Tradition im Sinne einer „gelebten Tradition mit all ihren Widersprüchen und Ungereimtheiten“ von dem Traditionalismus als „Ideologie, geistige Konstruktion“6 differenziert zu betrachten ist. 6 Vgl. Rothermund, Dietmar: „Der Traditionalismus als Forschungsgegenstand für Historiker und Orientalisten“, in: Saeculum, Bd. 40/2 (1989), S. 142-148. Zitiert nach Antoni, Klaus: „Tradition und Traditionalismus im modernen Japan – ein kulturanthropologischer Versuch“, in: Japanstudien, H.3 (1991), S. 105-128, hier S. 116f. Der Traditionalismus als „die bewusst

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Die Analyse der symbolischen Funktion des Schwertes von Benedict ist hier dennoch interessant, weil sie die Diskursivität des Schwertes als ein Kollektivsymbol7 und somit den Traditionalismus anschaulich macht. Sie schreibt: Both the sword and the chrysanthemum are a part of a picture. The Japanese are, to the highest degree, both aggressive and unaggressive, both militaristic and aesthetic, both insolent and polite, rigid and adaptable, submissive and resentful of being pushed around, loyal and treacherous, brave and timid, conservative and hospitable to new ways. They are terribly concerned about what other people think of their behavior, and they are also overcome by guilt when other people know nothing of their misstep. Their soldiers are disciplined to the hilt but are also insubordinate. [Sowohl das Schwert als auch die Chrysantheme sind Teil eines Bildes [des japanischen Charakters]. Die Japaner sind sowohl aggressiv als auch friedfertig, militaristisch als auch schöngeistig, unverschämt als auch höflich, unnachgiebig als auch anpassungsfähig, unterwürfig als auch ärgerlich, wenn sie kommandiert werden, loyal als auch verräterisch, mutig als auch ängstlich, konservativ als auch aufgeschlossen gegenüber neuen Wegen. Sie machen sich schrecklich viel Gedanken darüber, was andere Leute über sie denken, und sie fühlen sich auch schuldig, wenn andere Leute nichts von ihren Fehltritten wissen. Ihre Soldaten sind durch und durch diszipliniert, aber auch aufsässig.]8

Hier ist das Schwert nicht bloß als ein Stereotyp zu sehen, das den militärischen japanischen Nationalcharakter konnotiert, sondern auch als ein Kollektivsymbol – im Sinne von Jürgen Link –, dessen signifikante Ebene (pictura: Schwert) reibungslos mit seiner Konnotations- wie Bedeutungsebene (subscriptio: Gewalt und Männlichkeit) einhergeht. Im filmischen Diskurs ist die Kraft solch eines allgemein verbreiteten kollektiven Symbols besonders wirkungsvoll, weil das Medium Film haupt-

selektive Traditions-Interpretation“ setzt sich die Solidaritätsstiftung zum Ziel, spielt so in der Formulierung nationaler Identität eine entscheidende Rolle und verleugnet deshalb solche Elemente der Tradition, die mit diesem Ziel nicht vereinbar sind, entweder schlicht oder aber versucht sie apologetisch umzudeuten“ (Rothermund: „Der Traditionalismus“, S. 144-145, hier 116.) 7 Vgl. zum Thema ‚Kollektivsymbol‘ Link, Jürgen/Gerhard, Ute: „Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen“, in: Link, Jürgen/Wülfing, Wulf (Hrsg.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, S. 16-52. 8 Benedict, Ruth: The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture. Cambridge, Mass. 1946, S. 2f.

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sächlich von den unmittelbaren sinnlichen Wirkungen der Bilder lebt, nicht von dessen Signifikaten. Takeshi Kitano, einst Regieassistent von Akira Kurosawa und derzeit einer der gefragtesten japanischen Filmemacher, hat solche Konnotationsebenen des Kollektivsymbols ‚Schwert‘ in seinem jüngsten Schwertkampffilm bzw. sword film,9 radikal – bis zur Parodie – in Szenen gesetzt. Im Film ZATOICHI – DER BLINDE SAMURAI (2003) hat Kitano einen jungen Samurai zu einem Diener der Banditengruppe werden lassen, die die unschuldigen (Dorf-)Leute hemmungslos terrorisieren und fast willkürlich umbringen. Der junge Samurai muss wegen seiner kranken Ehefrau seine Schwertkampfkunst, damit sich selbst verkaufen und dient seinen Herren ohne jegliche Ideale. Seine meisterhafte Kampfkunst, aber auch die unbesiegbare Schwertkampfkunst des ‚blinden‘ Helden dienen als reine Tötungsmaschinen in grausamen Blutbädern. Kitanos kritischer Blick auf die Samuraikultur kommt in den übermäßig willkürlichen Tötungsaktionen und einer übertriebenen Ästhetisierung solcher Kampfszenen zum Ausdruck, und zwar in Verbindung mit der Tanzkunst als Karikatur. Alle Darsteller feiern den Sieg der Gerechtigkeit und tanzen am Ende des Films miteinander, so dass der realistische Effekt des Films durch solche Übertreibungen und Parodien verloren geht. In einem Interview spricht Kitano von der japanischen Gesellschaft als einer mit der Bereitschaft zur totalen Unterwerfung. Er zieht dort radikale Vergleiche zwischen Samurai, Kamikaze sowie Yakuza (japanische Mafia) und den heutigen japanischen Angestellten, die sich den Firmenidealen der globalen Unternehmen wie z.B. Sony, Toyota oder Olympus völlig unterworfen haben.10 Mit dieser Ansicht zählt Kitano zu den japanischen Intellektuellen, die die Entwicklung der heutigen japanischen Gesellschaft in Zusammenhang mit dem Samurai-Geist zu analysieren versuchen.11

9 Siehe zur Differenzierung des Genre-Typus innerhalb der Samurai-Filme, Desser, David: The Samurai Films of Akira Kurosawa, Ann Arbor 1983. 10 Vgl. „Japans Mode, Japans Gier“, in: Die Zeit, Nr. 45 (30. Okt. 2003), S. 47. 11 Siehe zur – auch nach der Meiji Regierung bzw. modernen Industrialisierung nicht zu Ende geführten sondern nahezu geförderten – ‚Samuraisierung der japanischen Gesellschaft‘ Grassmuck, Volker: Geschlossene Gesellschaft. Mediale und diskursive Aspekte der „drei Öffnungen“ Japans, München 2002, insbesondere S. 238f.

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3.

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Weiblichkeitsbilder und Faszination des Samurai-Geistes

In Kurosawas Filmen tritt fast nie eine Schwertkämpferin auf, geschweige denn einen weiblichen Samurai. Es ist sicherlich kein bloßer Zufall, dass es kaum eine weibliche Schwertkämpferin in Kurosawas Filmen gibt, und dass der Schauplatz des filmischen Geschehens hauptsächlich der sogenannten ‚männlichen‘ Domäne (wie Schlacht, Krieg, Zentrum der politischen Macht, Unterwelt der Yakuza) überlassen wurde. In Kurosawas Symbolwelten spielen weibliche Figuren kaum eine zentrale Rolle, auch die Erotik steht meist im Hintergrund. Die filmische Marginalisierung weiblicher Charaktere geht einher mit der Zuweisung negativer Funktionen: So begegnet man im Film KUMONOSU-JO einer in der Ästhetik des Nô-Theaters in Szene gesetzten, grotesken, androgynen Intrigantin aus der oberen Schicht; in RAN konnotiert Kaedes ausdrucksloses schneeweiß geschminktes Gesicht ebenfalls eine Nô-Maske, wobei unter dieser entsetzlicher Hass, Intrige und Verführung verborgen werden; in SHICHININ NO SAMURAI lockt die verführerische Bauerntochter den jungen Samurai-Schüler ins Dorf zurück. In weiteren Filmen kommen weibliche Charaktere als kokette Gesellschaftsdamen oder Prostituierte aus dem Rotlichtmilieu vor: sei es in YOIDORE TENSHI (1948; Engel der Verlorenen) oder in NORA INU (1949; Ein streunender Hund) – aber keineswegs als zarte, kleine, gehorsame Frauen. Signifikant für die destruktive Kraft des Weiblichen in Kurosawas Filmen ist die Darstellung der Ehefrau in RASHOMON. Das Erotische gilt hier als eine Metonymie der Eroberung, und ihr verhüllter Körper dient dabei als eine Sphäre, die (von den Männern) mit Gewalt erobert werden muss. Ihr Körper wird zum Tatort eines Verbrechens, wobei die Figur selbst nicht im Zentrum des filmischen Geschehens steht. Es ist hier keineswegs meine Absicht, den maskulinen Zug der Filme von Kurosawa nur durch die mangelnde Präsenz der weiblichen Charaktere zu erklären und ihn somit als einen chauvinistischen patriarchalischen Filmemacher zu entlarven. Im Gegenteil beabsichtige ich die filmische Handhabung der Geschlechterrolle bei Kurosawa als eine wichtige ästhetische Strategie zu begreifen.12 Und dieser ästhetischen 12 Midori Yajima hat in ihrem Essay auf die „(moralische) Schönheit des Kämpfens als auf die Motive oder Ergebnisse“ sowie auf die Frau als kämpfendes Subjekt in Kurosawas Filmen aufmerksam gemacht. Sie weist auf die Kritiken in Japan hin, dass Kurosawa keine Frauen darstellen könne, was in der japanischen Moderne (z.B. in „Ich-Romanen/Shi shosetsu“) –

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Form folgt Kurosawa konsequent, radikal und also hochprofessionell, was zu einer Dekonstruktion des Samuraibildes führt. In diesem Sinne dient Kurosawa in der Gestaltung seiner Bilderwelt der Vermittlung des Samurai-Bildes, wie der Samurai seinen Idealen dient. Diese Ideale, jene wichtigen Grundelemente des bushido, nennt Sato Tadao: „de[n] Hass gegen die Ungerechtigkeit“ und „das Pflicht- oder Verantwortungsbewusstsein“.13 Das erlaubt ihm aber auch eine kritische Betrachtung der japanischen stereotypen Rituale, die durch bushido, geido, kata oder iki geprägt worden sind. Solche kulturellen Praktiken fungierten als Regeln bzw. Codes, die bestimmte Verhaltensweisen der Individuen in ästhetischer Form regulierten. Sie sind etwa seit dem 13. Jahrhundert entwickelt worden und nicht nur beim Schwertkampf zu finden, sondern darüber hinaus beim Nô-Schauspiel, beim Dichten eines haiku, aber auch bei alltäglichen Dingen wie der Teezeremonie, und damit nicht nur beim Ehrenkodex jener Kriegerkaste von Bedeutung, sondern auch bei den Gesellschaftsdamen wie z.B. im Verhältnis der Geishas ihren Herren gegenüber. Das iki ist die Bezeichnung für eine Sensibilität, die sich in den Vergnügungsvierteln in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausbildete und die Ideale der Kleidung der Kurtisanen dieser Zeit benennt. Iki deckt sich in verschiedenen Bedeutungsnuancen mit den Wörtern chic, coquet oder raffiné. Unter den japanischen Denkern, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Konfrontation mit dem Westen bzw. dem westlichen (ästhetischen) Denken einen japanischen Ästhetizismus zu konstituieren versuchten, suchte insbesondere der Philosoph Shûzô Kuki (1888-1941) nach vergessenen japanischen Seinsformen, um diese auf die sich in der modernen Welt manifestierende ästhetische Lebensform anzuwenden. Kuki zufolge enthält iki drei Bestandteile: bitai (Koketterie), ikiji (Stolz) und akirame (Entsagung). In der Koketterie sieht Kuki den Versuch des einheitlichen Selbst, sich einem anderen gegenüberzustellen, um Anerkennung zu erhalten, ohne sich selbst aufzugeben. Die Spannung als die bewegende Möglichkeit in diesem dualistischen Verhältnis wird vergeistigt im Stolz. Er ist das moralische Ideal der Ritterlichkeit, der Samurai-Geist. Resignation oder Entsagung entsteht aus einer von auch bis in die neueste Zeit – als conditio sine qua non des Schriftstellerberufes galt. Vgl. Yajima, Midori: „Als Helden taugen Frauen nicht“, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Nr. 8 (1990), S. 76-78, hier insbesondere S. 77. 13 Siehe den Beitrag von Sato Tadao in diesem Band, S. 23.

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allen Abhängigkeiten losgelösten Gleichgültigkeit und Schicksalsergebenheit. Es ist eine Selbstlosigkeit, die mit dem Erlösungsbegriff der buddhistischen Lebensanschauung in Verbindung steht. Während die Koketterie die affektiv-materielle Grundlage intersubjektiver Beziehungen abgibt, bestimmen der moralische Idealismus und die religiöse Jenseitigkeit ihren Charakter. Iki zeigt sich als zweckloses, gleichgültiges und autonomes Spiel.14 Und diese spielerische Seite von iki hat auch beim Schwertkampf ihre Rolle, so dass sie zur ‚nationalen Körperschaft‘ integriert werden kann, und zwar durch die symbolischen Funktionen des Schwertes wie etwa ‚Tapferkeit, Heldenmut – Männlichkeit – Souveränität in der Welt‘ (s.u.). Hier knüpft Kurosawas ambivalente Haltung zum Schwertkämpfer als Samurai an; fasziniert von dessen Bild ließ er bereits in seinem ersten Film SUGATA SANSHIRO (1943; Sanshiro Sugata), dem ‚Archetyp aller späteren Samurai-Filme‘, den Protagonisten den Geist der Samurai vorbildlich verkörpern, etwa durch Eigenschaften wie den Stoizismus, die Selbstdisziplin, die Ehre und das Pflichtgefühl. Andererseits wird Kurosawa relativ früh aufmerksam auf die möglichen negativen Aspekte des Samurai-Geistes, wenn dieser für den nationalistischen Zweck vereinnahmt wird. Bushido oder iki bleiben keineswegs unpolitisch, wenn sie im Verhalten der Japaner verinnerlicht werden und kollektive Identität mitkonstituieren. In diesem Zusammenhang möchte ich Kurosawas Interesse an dem Thema ‚das japanische Ich‘ verstehen. In seiner Autobiographie heißt es: Ich habe dem japanischen Militarismus keinerlei Widerstand entgegengesetzt. Leider muß ich eingestehen, dass ich nicht den Mut hatte, Widerstand zu leisten. [...] Hätte der Kaiser in seiner Ansprache nicht dazu aufgerufen, die Waffen niederzulegen; hätte er statt dessen den ‚ehrenhaften Tod der hundert Millionen‘ befohlen, so hätten diese Menschen auf der Straße in Soshigaya höchstwahrscheinlich getan, was man von ihnen verlangte, und sich selbst entleibt. Und wahrscheinlich hätte ich es ihnen gleichgetan. Die Japaner sehen in der Behauptung der eigenen Person etwas Unmoralisches, in der Selbstaufopferung dagegen die wahre Tugend. Diese Lehre war uns in Fleisch und Blut übergegangen, und niemand hätte sie in Zweifel gezogen. Ich kam damals zu der Einsicht, dass Freiheit und Demokratie keine Chance hätten, wenn es nicht gelänge, das Ich als einen positiven Wert zu etablieren. Mein erster

14 Vgl. Pörtner, Peter/Heise, Jens: Die Philosophie Japans. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1995, S. 377f.

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HYUNSEON LEE Film nach dem Krieg, WAGA SEISHUN NI KUI NASHI (Ich bereue 15 meine Jugend nicht), nimmt dieses Problem des Ich auf.

Es ist kein Geheimnis mehr, dass sich Kurosawa zur Welt der Samurai, der Schwertkämpfer, also der männlichen Männer überaus hingezogen fühlte. Der Samurai war ein faszinierendes Vorbild für den jungen Akira Kurosawa. Wie faszinierend die Welten der Samurai, der tapferen Schwertkämpfer, sowie die „wahrhaft ehrfurchtgebietende, majestätische Erscheinung“16 seiner Tante Togashi auf das Kind Akira gewirkt haben, berichtet Kurosawa in seinem autobiographischen Bericht, in dem er hauptsächlich von der filmischen Visualisierung seiner persönlichen Erfahrungen erzählt und die schillernden Züge eines visuell denkenden Künstlers zeigt. Ich nehme an, dass Kurosawas Sinn bzw. seine ästhetische Vorliebe für das Majestätische, den Schwertkampf, die Männlichkeit, sogar das Radikal-Extreme bereits in seiner Kindheit geformt wurde. Akira Kurosawa, geboren 1910, stand sowohl biographisch als auch künstlerisch an der Schnittstelle zwischen der japanischen Tradition und den Prozessen der Modernisierung. Sein Vater, Lehrer an einer Militärakademie und Abkömmling einer Samurai-Familie, schätzte den Sport und das Kino hoch. Er ließ seinen Sohn die traditionellen japanischen Kampfsportarten wie Judo und Kendo-Schwertkampf sowie die feinere Samurai-Etikette lernen. Auch mit den traditionellen Künsten wie NôTheater, Kabuki, Kalligraphien usw. wurde er von früher Kindheit an vertraut gemacht; andererseits wuchs er mit dem modernen Medium Film auf. Seine frühen, intensiven Kendo-Schwertkampf- und Kino-Erfahrungen hinterließen in seinen Filmen deutliche Spuren. Und gerade hier zeigt sich der originelle Werdegang Kurosawas, dem Meister der Konfrontation zwischen japanischer Tradition und dem modernen Medium Film. Ich denke, u.a. war dies wohl der Anlass für jene umstrittene Debatte bzw. Rezeptionsgeschichte, ob Kurosawa entweder als japanischer oder aber als westlicher Filmemacher aufzufassen sei.17 15 Vgl. Kurosawa, Akira: So etwas wie eine Autobiographie, München 1982, S. 172/173. 16 Kurosawa: Autobiographie, S. 85. 17 Ein amerikanischer Workshop geht von dem Standpunkt aus, dass diese extremen Gegensätze obsolet seien und dass man mit den bisherigen (an der Literatur orientierten) filmwissenschaftlichen Kriterien den Mythos Kurosawa nicht näher beschreiben könne, da Kurosawas Filmwelt über den gängigen Horizont hinausgehe. Vgl. Jones, Sumie: „Seven Ways of Looking at a Blackmarsh: Toward Rereading Kurosawa“, in: ICLA ’91 Tokyo Pro-

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In seiner Autobiographie erinnert er sich besonders gern an „einen ausgesprochen männlichen Zug“ der euro-amerikanischen Filme von William S. Hart wie auch von John Ford, die ihn als Kind beeindruckt haben. Geblieben seien ihm aus diesen Filmen vor allem zwei Dinge: „jener verlässliche männliche Geist und der Geruch nach Männerschweiß.“18 Gilles Deleuze beschreibt an verschiedenen Fallbeispielen von John Ford und Akira Kurosawa die Begriffe des Aktionsbildes19 und der großen Form. Doch was macht diese große Form von Kurosawa aus? Anders gefragt: Warum erscheint uns seine Filmsprache als derartig offen, dass man sie zugleich männlich und japanisch, aber ebenso gut auch westlich verstehen kann?

4.

Aktionsbild

In Anlehnung an Gilles Deleuze20 möchte ich nun an einigen Beispielen von Schwertkampfszenen die große Form sowie Schattierungen des Samurai-Bildes in Kurosawas Filmen behandeln, und zwar im Hinblick auf die Funktion des Schwertkampfes im Spannungsverhältnis zwischen traditionellen und modernen Elementen. Es geht also um die von Kurosawa kinematographisch aktualisierten Bilder vom mittelalterlichen Samurai, jener durch das Kollektivsymbol Schwert verkörperten japanischen Männlichkeit, die den Habitus des japanischen männlichen Ichs bezeich-

ceedings. The Force of Vision 6. Inter-Asian Comparative Literature. Workshop: Visions and Revisions on Kurosawa: An Experiment in Multidisciplinary Discussion, Tokyo 1995, S. 450-549. Auf Seite 467 heißt es: „Kurosawa’s career symbolizes Japan’s steps toward modernization. In intentionally speaking to the world, Kurosawa is shouldering Japan’s national agenda. His pronounced concern for the state and future of Japanese film seems to be the motive for his staging himself as a leading artist of Japan.“ [„Kurosawas Karriere versinnbildlicht Japans Modernisierungsbestrebungen. Indem Kurosawa sich bewusst an die Weltöffentlichkeit wendet, macht er sich zum Anwalt der nationalen Interessen Japans. Seine Sorge um den Zustand und die Zukunft des japanischen Films scheint sein Antrieb zu sein, sich als führender japanischer Künstler zu präsentieren.“] 18 Kurosawa: Autobiographie, S. 49. Besonders auffällig erscheint mir in seiner Autobiographie die sinnliche Dimension seiner Erinnerung. 19 Deleuze definiert das Aktionsbild als „Reaktion des Zentrums auf das Ensemble“. Vgl. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/ Main 1989, S. 322. 20 Vgl. in diesem Zusammenhang folgende Ausführungen in diesem Kapitel Deleuze: Kino I, S. 193-216 und S. 251-263.

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nen soll. Es geht somit auch um stereotype Vorstellungen vom ‚Japaner‘ sowohl im Westen als auch in Japan.21 Gilles Deleuze führt im Zusammenhang mit seinem Analysebegriff des Aktionsbildes vor allem die große Form „der fast ausschließlich männlichen Welt von Kurosawa“ an, der die kleine Form sowie „das weibliche Universum Mizogushis“22 gegenüberstehe. Er rechnet Kurosawas Filme zum Aktionsbild, das die Beziehung zwischen den aktualisierenden Milieus und verkörpernden Verhaltensweisen darstellt, und zwar in all ihren möglichen Variationen. Die Gesetze des Aktionsbildes benennt Deleuze als 1. organische Repräsentation. 2. Übergang von S(ituation) zu A(ktion). 3. die Umkehrung des ersten Gesetzes, laut Deleuze vergleichbar mit dem Bazinschen Gesetz der „verbotenen Montage“.23 Das Aktionsbild des Realismus sieht er als zwei gegenläufige Spiralen, von denen eine zur Handlung hin enger wird und die andere sich zur neuen Situation hin weitet. Dieser organischen und spiralförmigen Repräsentation gibt er die Formel S-A-S' (von der Situation über die Aktion zur transformierten Situation): „Diese Form entspricht anscheinend dem, was [Noël] Burch die ‚große Form‘ genannt hat. Das Aktionsbild oder die organische Repräsentation hat hier zwei Pole beziehungsweise zwei Zeichen: Das eine verweist auf das Organische, das andere vor allem auf das Aktive oder Funktionale.“24 Im Western liegen im Duell oder Zweikampf oft Momente, in denen dieses Aktive im Aktionsbild aktualisiert wird, so auch bei Kurosawa. Die Handlungen seiner Filme bestehen oft – mit Deleuze gesprochen – aus Kräften in Form einer Reihe von Zweikämpfen. Kampf mit dem Milieu, mit den anderen, mit sich selber. Die neue Situation (S'), die aus der Handlung entsteht, bildet mit der Ausgangssituation (S) ein Paar. Deleuze schreibt: Das Werk Kurosawas wird von einem Atem beseelt, der die Zweikämpfe und die Schlachten durchdringt. Dieser Atem repräsentiert sich in einem Zug [...]: stellen wir uns eine breite vertikale Linie, die von oben nach unten über die Leinwand geht und die dann von 21 Auch Mitsuhiro Yoshimoto hat auf die Problematisierung der Selbst- wie Fremdbilder Japans von Kurosawa aufmerksam gemacht, wobei sein Augenmerk insbesondere darin lag, inwiefern japanische Filme in den ‚Film Studies‘ konstituiert werden und Kurosawa in diesen „Erfindungsprozessen“ eine Rolle gespielt hat, und zwar im Hinblick auf den Orientalismus. Siehe Yoshimoto, Mitsuhiro: Kurosawa. Film Studies and Japanese Cinema, Durham 2000. 22 Deleuze: Kino I, S. 259. 23 Deleuze: Kino I, S. 208. 24 Deleuze: Kino I, S. 194-195.

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zwei schmaleren, von links nach rechts und von rechts nach links laufenden horizontalen Linien gekreuzt wird. So in KAGEMUSHA der schöne Abstieg des Boten, der ständig nach links und rechts versetzt wird [...] in den SHICHININ NO SAMURAI fällt ein dichter Regen, während die Räuber, die in die Falle gegangen sind, auf ihren Pferden immer wieder von einem Ende des Dorfs zum anderen galoppieren.25

In SHICHININ NO SAMURAI lässt sich die Funktionsweise der S-A-S'Struktur des Aktionsbildes bzw. die große Form exemplarisch beobachten. Der Film ist strukturell so organisiert, dass die zentrale Handlung auf die entscheidende Schlacht zwischen den Banditen und der Koalition aus Samurai und Bauern zuläuft. Bis zu diesem entscheidenden Augenblick vergeht eine geraume Zeit. Um den langen Atem herauszustellen, ist der Film von einem spiralförmigen Spannungsbogen getragen – mit anderen Worten: er wird von untergeordneten, weniger spektakulären Nebenhandlungen begleitet. Diese bestehen wiederum aus entsprechend kleineren S-A-S'-Strukturen. Auch hier ist das Duell kein singulärer und lokalisierter Moment des Aktionsbildes, sondern beruht in den Aktionskurven auf Momenten notwendiger Gleichzeitigkeit. Der Übergang von der Situation zur Aktion ist also von einer Verschachtelung der Duelle geprägt. Wenn sich die Krieger auf den unmittelbar bevorstehenden Entscheidungskampf vorbereiten, spüren das auch die Zuschauer. Sie können das Ereignis hören, bevor sie es sehen. Große Landschafts- oder Regenbilder signalisieren oft den Übergang von der Situation zur Aktion. Und für die Spannung sorgen variierende, für Kurosawas Kampfszenen charakteristische Rhythmen. Diese werden in erster Linie gebildet durch die Leitmotive der Filmmusik, deren Ursprung im Trommeln der Samurai zu liegen scheint. Ein Signal des Duells: Kampf und Spiel in einem. Hier liegt „dem Anschein nach die Formel SA im Reinzustand [vor]: ehe man handelt und um handeln zu können, muss man alle Gegebenheiten kennen“.26 Obwohl die Exposition vor der Aktion nach der Formel SA völlig ausreicht, um den Spannungsbogen zu entwickeln, so Deleuze, erweitert Kurosawa die große Form, indem er die Situation in eine tiefgründigere Frage überführt und die situativen Gegebenheiten zu Gegebenheiten einer Fragestellung erhebt. Die sieben Samurai sind also vielmehr mit einer existentielleren, philosophischeren Frage konfrontiert als mit der Situation des Dorfes, dessen Gegebenheiten sie bis zur Aktion gründlich kennenlernen. Auch wenn der Prozess des Kennenlernens bzw. 25 Deleuze: Kino I, S. 253-254. 26 Deleuze: Kino I, S. 254.

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die Vorbereitungsphase auf den Kampf die Handlung im Großen ausmacht, bleibt der eigentliche Kern der ganzen filmischen Erzählung die Frage: Was ist ein Samurai? Es ist m.E. eine Frage nach dem japanischen männlichen Ich, und diese Frage wird in verschiedenen Filmen auf traditionell japanische Art behandelt, wenn die Bilder der Schwertkämpfer in extremen Formen fluktuieren: Die Duelle, das immer wiederkehrende Aktive im Aktionsbild, werden in intensiver Länge, in radikal bohrender Blickrichtung und mit einem eindringlichen Atem behandelt – etwa in YOJIMBO (1961; Yojimbo – Der Leibwächter), YOIDORE TENSHI oder NORA INU.

5.

Schwertkämpfer

In Studien über die Funktion des Sports im europäischen Zivilisationsprozess fasst Norbert Elias die Selbstkontrolle als menschliche Universalie, die Beherrschung von Impulsen als Natur des Menschen auf, deren Formen allerdings historisch variabel sind. Während die Fuchsjagd in England eine vormoderne Form von Selbstkontrolle darstellte, sei der Sport eine moderne Form des kontrollierten und gewaltlosen mimetischen Kampfes, der eine ‚mimetische‘ Erregung erlaubt, die man genießen kann – gerade auch wegen ihrer befreienden, kathartischen Wirkung.27 So suchen die modernen Menschen durch ihre freizeitlichen Unternehmungen wie Sport oder Kunst weniger die Entspannung als die Spannung. Es liegt nahe, dass die filmische Verbildlichung des Schwertkampfes, der für die Selbstkontrolle der japanischen Menschen in der Vormoderne eine enorme Rolle spielte und dann während der Modernisierungsprozesse zum Sport entwickelt wurde, in mehrfacher Hinsicht – Film als Kunst, Schwertkampf sowohl als Kunst als auch als Sport – die Bedürfnisse nach der mimetischen Erregung oder Spannung befriedigen kann. Hier begegnet man einem Moment der modernen Erfindung der Kämpfe, die spielerisch in einer imaginären Umgebung inszeniert werden. Letztere Konstellation gewährleistet eine freudige Erregung und einen hohen ästhetischen Genuss des Zuschauers bei gleichzeitigem Gebot, die Verletzungen von Menschen so gering wie möglich zu halten. Besonders spannend erscheint mir, wenn verschiedene Typen von leidenschaftlichen Schwertkämpfern das Aktionsbild bestimmen. Gerade in einem solchen Moment des Duells von Kampf und Spiel ist exemplarisch das extreme japanische männliche Ich zu beobachten. 27 Elias, Norbert/Dunning, Eric: Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation, Frankfurt/Main 2003, S. 80-120, hier insbesondere S. 99.

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In den männlichen Symbolwelten Kurosawas, vor allem in den Historienfilmen wie in den Kostümbildern der Samurai, sind die Schwerter fast immer ein notwendiges Kampfmittel, Ornament und zugleich das Symbol des japanischen, männlich-militärisch geprägten Ichs. Das Schwert des Räubers in RASHOMON fungiert offensichtlich als Phallussymbol.28 Er erobert die Ehefrau des Samurai mit Gewalt. Der Eroberer stellt sicherlich einen dominanten Typus in Kurosawas Filmen dar. Allerdings steht die Eroberung der Frauenkörper eher im unehrbaren Kontext wie in den Fällen des Räubers in RASHOMON oder der Vertreter der Unterwelt (YOJIMBO, YOIDORE TENSHI). Die Männer in Kurosawas Symbolwelten unterscheiden sich von den europäischen Frauenhelden wie z.B. Casanova oder Don Juan. Kurosawas Helden lieben auch nicht,29 schon gar nicht die (ehrbaren) Frauen. Sie werden höchstens verführt (KUMONOSU-JO oder RAN). Sie wollen in erster Linie das größere Territorium oder das Machtzentrum Japans erobern, nicht etwa ‚Weiber‘. Sie wollen damit der ‚größeren männlichen Sache‘ gründlich und vollkommen dienen, ganz im Sinne dieser älteren Bedeutung des Begriffes. Dieses erobernde, sich für den großen Männerdienst opfernde Männliche bringen die Krieger Shingen Takeda, sein Doppelgänger und Nobunaga Oda in KAGEMUSHA am eindringlichsten zum Ausdruck, während in SHICHININ NO SAMURAI die idealisierten Samurai relativ statische Charaktere verkörpern. Diese japanischen Krieger ‚fliegen‘ nicht, im Vergleich zu den anderen asiatischen, insbesondere chinesischen Aktionsfilmen, in denen ebenfalls Schwerkämpfer eine zentrale Rolle spielen. Im Unterschied zu den fliegenden chinesischen Schwertkämpfern, die Akrobatik reichlich zur Schau stellen – z.B. Zhang Yimous Filme HERO (2002) oder HOUSE OF FLYING DAGGERS (2004) –, bleibt den Helden von Kusosawas Filmen zu viel Aktion erspart. Es wird eher das Moment der Zurückhaltung oder kontemplativer Konzentration in den Vordergrund gestellt. Das konnotiert den Samurai-Geist, der nicht nur bei den Schwertkämpfern der Historienfilme Kurosawas von zentraler Bedeutung ist, sondern auch bei den Männern im modernen Anzug, insbesondere den Figuren in dem Film IKIRU (1952; Leben!) oder MADADAYO (1993; Madadayo – Noch nicht). 28 Siehe Lacan, Jacques: „Die Bedeutung des Phallus“ (1966), in: ders.: Schriften II, Haas, Norbert/Metzger, Hans-Joachim (Hrsg.), Weinheim/ Basel 1991, S. 119-132. 29 Tadao Sato betont, dass im bushido – im Gegensatz zum europäischen Rittertum – auf keinen Fall die Minne Vorrang hat, sondern unter allen Umständen die Treue zum Herrn. Vgl. den Beitrag von Sato in diesem Band, erste Seite.

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Und dieser Samurai-Geist unterscheidet m.E. Kurosawas Helden auch von den amerikanischen ‚Western-Helden‘.30 In SHICHININ NO SAMURAI verkörpern die idealisierten Samurai relativ statische Charaktere. Einem Idealtyp des Samurai-Habitus entspricht hier die Figur Kyuzo, „der Meister der Schwertkampfkunst“, wie Kambei, der Führer der Männerbande, ihn nennt. Kambei beobachtet zufällig in Begleitung eines Schülers einen Zweikampf. Hier wird ein ‚echter‘ Schwertkampf mit sauber eingehaltenen Regeln präsentiert. Zwei Ehrenmänner in authentischem Format kämpfen um Leben und Tod, und zwar dem Ritual folgend in vollendeter Höflichkeit (Abb. 1).

Abb. 1: Schwertkampfszene in SHICHININ NO SAMURAI Ein Samurai wird vom Schwert des Kyuzo getötet und in dieser ‚slowmotion collapse‘-Szene präsentiert sich Kurosawa als ein radikaler Modernist, der souverän mehrere Kameras in langsamer wie in schneller Bewegung benutzt hat.31 Der Sieger Kyuzo zeigt ‚wahre‘ Schwertkunst, 30 Catherine Russell weist auf die Rezeption der Filme Kurosawas als „Japanese Westerns“ hin, was auf der Betonung der Maskulinität und Männerbeziehungen basiert; siehe zum Vergleich von Kurosawas Samurai-Filmen und amerikanischem Western Russell, Catherine: „Men with Swords and Men with Suits. The Cinema of Akira Kurosawa“, in: Cineaste (Winter 2002), S. 4-13, hier S. 6f. Sie schreibt: „Kurosawa’s films are sometimes referred to as ‚Japanese Westerns‘, a term which may help to pinpoint his unyielding emphasis on masculinity and the relations between men“ (S. 9). 31 Siehe Russell: „Men with Swords“, S. 8: „The use of visual style, and the ability to create powerful cinematic effects with a minimal degree of technology, is what makes Kurosawa a modernist. His predilection for long lenses creates a shallow depth of field in which composition within the frame is paramount. Add to that his use of multiple moving cameras, introduced with Seven Samurai and you have the basis of the dynamic kinetic effect of so many of the films. While the editing of the swordplay films is notoriously rapid-fire, it works only because it is juxtaposed with much

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die sich nicht allein aus der technischen Beherrschung des Schwerts speist, sondern aus seinem Geist, der perfekten Beherrschung des bushido, dem traditionellen Ehrenkodex der Samurai. Diese Schwertkampfszene wird recht kurz, doch so stilvoll und ästhetisch ins Bild gesetzt, dass man sich kaum über die Folgen bzw. die Grausamkeit des Schwertkampfes Gedanken zu machen braucht. Das Ungeheuerliche wird in der ästhetischen Überformung zur Nebensächlichkeit, was in den anderen Schlacht- wie Kampfszenen in Kurosawas Filmen noch radikalisiert wird.

6.

Bilder der Samurai

Besonders eindrucksvoll wird Kyuzos Habitus verbildlicht, wenn er allein im Wald – im heftigen Regen – seine Schwertkunst übt. Die Komposition aus Aktion und Setting wirkt so intensiv, so malerisch, wunderschön, und gleichzeitig doch so melancholisch, geheimnisvoll und mysteriös. Zum Ausdruck gebracht wird im Zuge dieser komplexen filmischen Repräsentation das japanische ästhetisierte Ich. Es weckt die Sehnsucht nach einer besonderen Schönheit, nach neuen Dimensionen der Ästhetik. Hier sei erinnert an iki, dessen Struktur Kuki Shûzô als japanischen Geist bezeichnete und an die Dreifiguren (bitai-Koketterie/ikiji- Stolz/ akirame-Entsagung), die in einem weiteren Schritt zu seiner Lesart der drei heiligen Regalien des Shintô interpretiert wird: –

„Juwelen: Natur – Gutmütigkeit – Verfeinerung (japanischer Naturalismus)“



„Schwert: Tapferkeit, Heldenmut – Männlichkeit – Souveränität über die Welt (chinesisch-konfuzianischer Idealismus)“



„Spiegel: Resignation/Entsagung – Weisheit – Zivilisation (indischer Nihilismus)“.32

slower sequences. […] This is a director who was not afraid to use fast motion, slow motion, or extreme high or low angles.“ 32 Kuki nach Grassmuck: Geschlossene Gesellschaft, S. 299. Bei Kôjin Karatani heißt es: „The structure of iki, defined by Kuki as ‚Japanese Spirit‘, is a mode of thought which has lost all exteriority by wrapping itself in its identity“. Zitiert nach Grassmuck, Kôjin Karatani: „One Spirit, Two Nineteenth Centuries“, in: Miyoshi, Masao/Harootunian, Harry D. (Hrsg.): Postmodernism and Japan, Durham/London 1989, S. 269.

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Die Bedeutung von iki verschiebt sich somit zu der einer ‚nationalen Körperschaft‘ (kokutai). Es ist also kein Wunder, dass sich Kuki in einen typischen Ideologen des Imperialismus des 19. Jahrhunderts verwandelte. In der stilvollen Szene der Schwertkunstübung von Kyuzo symbolisiert das Schwert das Japanische, und zwar das männliche Japan (d.h. das Schwert im Sinne von Ruth Benedict), das auch das Weibliche (d.h. die Chrysantheme) mit einschließt,33 wenn sich der Schwertkämpfer einsam, sensibel und geheimnisvoll seiner Übung hingibt. Diese Figur ist Symbol jener spröden Männlichkeit, die einerseits schweigsam, stark, tapfer, kontrolliert, diszipliniert, entschlossen und selbstlos handelt, andererseits melancholisch, schwermütig, geheimnisvoll und zerbrechlich wirkt. Erkennbar ist an dieser Figur jener Verwandte des ‚Zwischenseins‘ – iki als „ein Spiel auf der Grenze zwischen zwei Systemen unter Ausschluss eines Außen“.34 Hier zeigt sich Akira Kurosawa als Bewunderer des Schwertkampfes, als Sportliebhaber, der als Kind jeden Morgen zur Kendo-Übung lief, aber auch als Maler, der eine Zeitlang Mitglied der Liga proletarischer Künstler war, bevor er nach dem Selbstmord seines älteren Bruders, eines begabten Stummfilmerzählers, zur Filmregie wechselte. Hier ist nicht nur die Nähe zum Stummfilm, sondern auch zur Malerei spürbar. Kurosawa zeichnete sämtliche Szenenskizzen, insbesondere die Schwertkampfszenen im Storyboard selbst. Trotz oder gerade wegen der zerbrechlichen und doch so außergewöhnlichen Schönheit wird der edle Schwertkämpfer Kyuzo keinen Platz mehr auf der Erde haben – ebenso wenig wie seine untergehende Klasse, wie Kambei am Ende des Films bemerkt: „Gewonnen haben die Bauern“. Die filmische Dramaturgie gebietet es, ihn und die prachtvolle Figur Kikuchiyo in der letzten Schlacht fallen zu sehen. Am Ende ragen vier nackte Schwerter aus den Grabhügeln der gefallenen Samurai. Im Kontrast zu der Figur Kyuzo oder überhaupt der in diesem ‚humanistischen‘ Filmprojekt idealisierten Samurai-Typen steht Kikuchiyo, der Sohn eines Bauern. Diese kraftvolle Figur lässt sich als ein neu entworfenes japanisches Ich begreifen, wenn er sich nicht dem strikten Klassengefüge unterordnet und als interessanter lebendiger Charakter die Brücke zwischen der Samurai- und der Bauernklasse schlägt. Er behauptet sein starkes Ich, größere Freiheit genießend. Weder den Regeln der Samurai noch denen der Bauern gehorchend, kämpft er um Gerech33 Vgl. zum Komplex Ambivalenz des Japanbildes Benedict: The Chrysanthemum and the Sword. 34 Grassmuck: Geschlossene Gesellschaft, S. 299.

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tigkeit und Menschlichkeit. Zudem gibt er seine Begierde für die Frauen offen preis. Das Bild der spröden, schweigsamen, mutigen, entschlossenen und geheimnisvollen, sich hingebenden, vor allem verlässlichen Männlichkeit hat allerdings auch seine Schattenseiten. Drei Krieger in der Eingangsszene im Film KAGEMUSHA besitzen eine verblüffende Ähnlichkeit. Der Doppelgänger, der den Fürst Shingen Takeda nach dessen Tod vertreten soll, ist ein Schattenmann, der nichts zu sagen hat. Verlangt werden von ihm absoluter Gehorsam, Verschwiegenheit und Selbstkontrolle. Das Handeln des Doppelgängers ist strengen Regeln unterworfen. Seine Funktion beschränkt sich auf die leibliche Präsenz. Die Kamera beobachtet gründlich seine Körpersprache und beschreibt die Veränderungen des Ichs, das längst die Grenzen überschritten, sich selbst thematisiert hat und dafür schwer bezahlen soll. Mit der Figur des funktionierenden Herrscher-Ichs wird hier die Problematik des japanischen Ichs aufgegriffen. Samurai zu sein – so möchte ich es auffassen – bedeutet ein Schattendasein zu führen, Schattenmann auch deshalb, weil sich der Samurai unterworfen hat unter seinen Herren, unter den strengen Habitus – unter das Festhalten an seiner Rolle und unter seinen Stolz. Mit den rigorosen Regeln seines Lebens gibt er einen Teil seines Ichs auf. Dies bringt im Film KAGEMUSHA ein Samurai, der Doppelgänger des Fürsten, wie folgt zum Ausdruck: Das Schattendasein ist nicht immer einfach. Das eigene Ich abtöten, um Schatten eines anderen zu werden, ist ein schmerzlicher Akt. Man möchte umkehren, um wieder sein eigenes Ich zu werden.

So wird der Schattenmann kein selbstbestimmtes Leben mehr haben. Am Ende wartet auf ihn wie auf alle anderen Soldaten des Hauses Takeda der Tod, und zwar durch die Schusswaffen des Heeres von Nobunaga Oda.

7.

Tradition versus Moderne

Viele der letzten Szenen in Kurosawas Filmen sind Schlachtszenen. Die letzten Schlachtszenen, in denen – mit Deleuze gesprochen – das Milieu oder die Situation durch das Aktionsbild aktualisiert wird, verdienen genaue Aufmerksamkeit. Ein wichtiger Aspekt des Schwertkampfes tritt in Erscheinung, wenn z.B. der Held Kyuzo selbst im Sterben seine ästhe-

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tische Form bewahrt. Noch im Tod folgt der edle Samurai dem Ritual, jenem Moment des Homo Ludens im Sinne von Johan Huizinga, dem im Schwertkampf angelegten Programm der menschlichen Kultur – hier der spezifisch japanischen Kultur –, die im Spiel als Spiel aufkommt und sich entfaltet.35 In der Schwertkampfszene handelt es sich um eine Verdoppelung des Spiels, denn es ist ein Schauspiel des ritualisierten Schwertkampf(spiel)s im Spielfilm. Aber die stilisierenden Momente des Schwertkampfes bleiben nur noch fragmentarisch oder in medialen Zitatformen eines Nô-Theaters erhalten – wie in KUMONOSU-JO –, denn, wie Deleuze schreibt, sah sich Kurosawa „mit den äußersten Grenzen des anderen Aspekts des Aktionsbildes konfrontiert: das Elend der Welt wächst derart an, daß es den großen Kreis zerbrechen läßt und eine chaotische Realität enthüllt, in der nur noch Fragmente verstreut sind“.36 Die chaotische Realität wird oft durch de-stilisierte Schwert- oder Zweikampfszenen ins aktive Bild gesetzt. Dieser De-Stilisierung dienen die besonderen Formen der Schwertkampfkunst, in der der Schwertkämpfer jegliche Regeln (kata) ignoriert und diese überwindet, sowie die Todesmo37 mente der Helden. Kurosawas Helden enden häufig durch Schusswaffen, die Mitte des 16. Jahrhunderts durch die Europäer eingeführt worden waren. Als Beispiel dient der melancholische, geheimnisvolle, ritterliche Kyuzo oder der kreative, individuelle, anti-feudale Kikuchiyo in SHICHININ NO SAMURAI. Auch die Soldaten in KAGEMUSHA sterben durch die westlichen Waffen. Die hierin symbolisierte Konfrontation von Tradition und 35 Vgl. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Gesellschaft im Spiel, Hamburg 1956, S. 102/103. 36 Deleuze: Kino I, S. 263. 37 In Anlehnung an Dessers Beobachtung, dass keiner im Film KAGEMUSHA vom Schwert getötet wird, macht Davis darauf aufmerksam, dass kein bushido mehr am Werk ist und keine elaborierten ritualisierten Kämpfe mehr zwischen den Schwertkämpfern stattfinden: „Even though Kagemusha strips substance from style itself, demythologizing the epic stature of bushido heroics, the power of style itself remains. The film is built on the persistence of the Japanese heroic legacy in the face of an impersonal, mechanical subversion of the warrior ethos. Oda Nobunaga, who vanquishes Shingen, is portrayed as a flamboyant pragmatist who disdains tradition and embraces Western technology in his rush to domination. Yet, as a warrior, Nobunaga himself avoided the use of guns as personal weapons, even as he outfitted his army with three ranks of one thousand gunners who killed sixteen thousand at the climactic battle of Nagashino in 1575“. Vgl. Davis, Darrell William: Picturing Japaneseness. Monumental Style, National Identity, Japanese Film, New York 1996, S. 235.

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Moderne wird in YOJIMBO auf die Spitze getrieben und überlagert den vertrauten Duellcharakter – Schwert gegen Revolver, Kampf und Spiel in einem (Abb. 2, 3).

Abb. 2: YOJIMBO

Abb. 3: Schwertkämpfer aus dem Film YOJIMBO

Es ist ein Triumph des Schwerts, eine seltene Ausnahme, wenn der Samurai hier immer wieder mit seinen perfekt beherrschten sauberen Regeln in jedem Kampf gewinnt, selbst gegen einen Gegner mit Schusswaffe. Der Zweikampf von Schwert und Revolver wird auch in den Filmen Kurosawas, die im modernen Zeitalter spielen, thematisiert. Das

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HYUNSEON LEE

Aktive im Aktionsbild in YOIDORE TENSHI ist ein Duell ohne Schwert, doch mit dem Dolch. Auch in NORA INU ist es ein Zweikampf mit dem Revolver (Abb. 4).

Abb. 4: Zweikampf: NORA INU

Abb. 5: RASHOMON

In solchen extrem intensiven, ausgedehnten und doch zugleich in hohem Maße de-stilisierten Kampf- wie Todesszenen38 geht die Symbolik des Duells zwischen Tradition und Moderne oder zwischen Japan und der westlichen Welt mit dem modernen Konzept des zerrissenen Ich einher. In der berühmten Schwertkampfszene in RASHOMON duellieren sich Räuber und Samurai, ohne jegliche kata-Regeln zu achten. Dieser Bruch mit dem traditionellen Schwertkampfritual entspricht der de-zentralisierten Perspektive des Films, der auf den Geständnissen der verschiedenen Ich-Erzähler basiert und ihm dadurch eine gebrochene, psychologisierte, also eine hochmoderne Struktur verleiht. Mit jener unverwechselbaren Montagetechnik, mit seinem ausgesprochen polyphonen Filmstil erzielt Kurosawa nicht Reduktion, sondern Verdichtung. Damit löst er sich deutlich von der Tradition der japanischen Filmsprache und widmet sich einer Kernfrage der modernen bzw. europäischen Literatur/Kultur, der Selbstthematisierung des Ichs in Geständnissen,39 dem eigentlichen Ereignis des Films. Kurz, es handelt sich hier um ein europäisches bzw. modernes Phänomen in traditionellen japanischen Kostümen bzw. Fassaden. Der ‚Irritator‘ Kurosawa hat m.E. das Zentrum der europäischen Vorstellungen von Japan getroffen: das japanisch Männliche, symbolisiert durch den Samurai mit Schwert. Ist es überhaupt möglich, sich 38 Vgl. den Beitrag von Ralf Schnell in diesem Band. 39 Siehe zum Komplex des Geständnisses Lee, Hyunseon: Geständniszwang und „Wahrheit des Charakters“ in der Literatur der DDR. Diskursanalytische Fallstudien, Stuttgart/Weimar 2000.

SCHWERTKAMPF BEI AKIRA KUROSAWA

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selbst zu thematisieren, sein eigenes Ich zu behaupten, in einer Gesellschaft, in der nur noch Schattenmänner zum Vorschein kommen? Auf die Fragen, ob Kurosawa ein japanischer oder ein westlicher Autor sei,40 ob die Selbstthematisierung des Ichs keine Entsprechung in der japanischen Tradition finde, ob nicht auch die historischen japanischen Helden solche Ichs behauptet hätten, fällt mir ein Beispiel von Oda Nobunaga ein: Er war bekannt als unbeugsamer Kriegstreiber, der nur ein Ziel kannte: mit allen erdenklichen Mitteln ein mächtiges, vereintes Japan unter seiner Herrschaft zu gründen. Für diesen Zweck benutzte er einige der neuen Ideen und Waffen, die die Europäer nach Japan gebracht hatten. Ein beeindruckendes Bild von Nobunaga Oda im Film KAGEMUSHA bleibt, wenn der Herrscher angesichts der Nachricht vom Tod des Shingen Takeda, seines Feindes, plötzlich die Rolle eines NôSchauspielers übernimmt. Der Krieger singt, tanzt und spielt in einer ausgesprochen japanischen kämpferischen Gestik; sein Heer schießt mit allerlei Feuerwaffen. Ich vermute, dass sich der Herrscher Nobunaga Oda seiner Stärke entsprechend selbst entfalten konnte, indem er konsequent sein Ziel, die Vereinigung Japans erreichen konnte. Doch die Selbstentfaltung seiner Männer blieb wohl durch ihre Ehr- und Dienstauffassung gebremst. Und Akira Kurosawa, selbst ein Abkömmling einer Samurai-Familie, schreibt in seinen Filmbildern keine Hymne auf die japanische Maskulinität. Stattdessen hat er sich seiner Sache vollkommen hingegeben. Er hat jenem Filmemachen so gründlich und radikal gedient, dass er sogar zur Vision einer Dekonstruktion der Samuraibilder gelangen konnte.

40 Donald Richie bietet ein Erklärungsmodell wie folgt: „Kurosawa was the first Japanese director to be ‚discovered‘ abroad, and this discovery is one of the reasons that his local critics have found him ‚un-Japanese‘. The director himself, however, was made famously furious by such criticism. He said […] he would never make a picture especially for foreign audiences: ‚If a work cannot have meaning to Japanese audiences, then I – as a Japanese artist – am simply not interested in it‘.“ Vgl. Richie, Donald: A Hundred Years of Japanese Film, Tokyo/New York/London 2001, S. 176.

RALF SCHNELL

TODESARTEN ZUM VERHÄLTNIS VON NARRATIVIK UND BILDÄSTHETIK BEI AKIRA KUROSAWA Von YOIDORI TENSHI (1948; Engel der Verlorenen) und IKIRU (1952; Leben!) über KUMONOSU-JO (1957; Das Schloss im Spinnwebwald) und YOJIMBO (1961; Yojimbo – Der Leibwächter) bis zu KAGEMUSHA (1980; Kagemusha – Der Schatten des Kriegers) und MADADAYO (1993; Madadayo – Noch nicht) zieht sich durch die Filme Akira Kurosawas ein Muster aus Todeszeichen. Die Tötungsszenarien, Vernichtungsorgien und Untergangsvisionen – so die Ausgangsthese dieses Beitrags – repräsentieren bei Kurosawa ein Geflecht aus Leitmotiven, an dessen Intensitäts- und Wandlungsstufen sich das narrative und bildästhetische Potential eines singulären Filmwerks beispielhaft ablesen lässt. Das Begriffspaar ‚Narrativik‘ und ‚Bildästhetik‘ wird dabei im folgenden in heuristischer Absicht benutzt. Fraglos besitzt jede Form filmischer Narrativik eine ästhetische Qualität, selbstverständlich kann die Bildästhetik eines Films auch narrativ strukturiert sein. Es geht bei der Verwendung dieses Begriffspaars ausschließlich um eine analytisch differenzierende Hervorhebung der erzählerischen Charakteristika und der filmtechnisch erzeugten visuellen Qualitäten, die sich in Kurosawas Filmen mit dem Sujet des Todes verbinden.

1. Noch als eine Art Handlungsaccessoire, das lediglich der narrativen Pointierung dient, kann die tödliche Konsequenz verstanden werden, mit welcher der Titelheld des Erstlingswerks SUGATA SANSHIRO (1943; Sanshiro Sugata) den Leiter der Shimnei-Schule besiegt. Hier – wie auch im Fortsetzungsfilm ZOKU SUGATA SANSHIRO (1945; Sanshiro Sugata II) – erscheint der Tod des Gegners lediglich als eine Art Erzählbaustein, der dem jeweils zugrundeliegenden Sujet, den Kampfsportarten Jiu-Jitsu und Judo, als genuine Dynamik eingelagert ist. In beiden Fällen ist das

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dramaturgische Gegengewicht zum Sujet des Kampfes denn auch nicht der Tod, sondern die Überwindung bzw. die Außerkraftsetzung destruktiver Potentialitäten: durch das märchenhafte Motiv der erwachenden Lotosblüte wie in SUGATA SANSHIRO, durch das Lächeln des Helden im Traum wie in ZOKU SUGATA SANSHIRO. Die Probe aufs Exempel dieser Beobachtung bilden die zeitlich benachbarten Filme ICHIBAN UTSUKUSHIKU (1944; Am allerschönsten) und TORA NO O FUMU OTOKOTACHI (1945; Die Männer, die dem Tiger auf den Schwanz traten). In diesen gleichfalls während des Krieges und noch unter Aufsicht der Zensur entstandenen Werken erfordert die filmische Dramaturgie die Konzentration auf ein Ensemble erzählerischer Facetten, das sich einer bestimmten, an vorgegebenen Zielen der Heimatfront-Propaganda orientierten Wirkungsabsicht verdankt. Nicht das Motiv des Todes, sondern Durchhalteappelle und Überredungstechniken pointieren den jeweiligen Handlungskern, stoffliche Prärogate also, wie sie auch in den Nachkriegsfilmen WAGA SEISHUN NI KUI NASHI (1946; Ich bereue meine Jugend nicht) und SUBARASHIKI NICHIYOBI (1947; Ein wunderschöner Sonntag) bestimmend bleiben. Die Strukturen verändern sich, als mit YOIDORI TENSHI erstmals bei Kurosawa der Tod ins Zentrum des Geschehens rückt und mit ihm das Motiv des Doppelgängers. Im Mittelpunkt steht der Arzt Sanada, der den Gangster Matsunaga einer Schusswunde wegen behandelt. Bei dieser Gelegenheit entdeckt er dessen Tuberkuloseerkrankung, eine Diagnose, die den Auftakt zu einer körperlichen Auseinandersetzung bildet und später Anlass zu wiederholten Attacken des Gangsters auf den Arzt gibt. Die Schicksalhaftigkeit des folgenden Geschehens indiziert ein Fiebertraum Matsunagas: In einem Sarg findet der Gangster seinen Doppelgänger vor – unverkennbar eine Anknüpfung an Robert Wienes DAS KABINETT DES DR. CALIGARI –, die Verfolgung des einen durch den anderen zeigt die Ausweglosigkeit der Situation. Das Fortschreiten der Krankheit führt, physisch wie sozial, zur Schwächung des Gangsters. Er verliert nicht nur seine Position innerhalb der Gang, sondern auch seine Geliebte an den mächtigen Gangsterboss Okada, der sich zudem der Assistentin des Arztes, seiner früheren Geliebten, bemächtigen will. Matsunagas Eintreten für den Arzt und dessen Gehilfin führt schließlich zum Tod des Gangsters. Ein Blutsturz schwächt ihn, er versucht zu fliehen, doch sein Gegner Okada ersticht ihn in einem Showdown, in dem sich die Kontrahenten, zu auswechselbarer Unkenntlichkeit entstellt, zuletzt in einer Lache weißer Farbe wälzen.

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Das Leben als endloser Kampf, der Tod als sein kathartischer Höhepunkt – beide Pole des Daseins bedingen einander, beide sind aufeinander verwiesen und miteinander verwoben im Symbol des sumpfigen Tümpels, der in unterschiedlichen Kameraeinstellungen immer wieder eingeblendet wird, ein Sammlungsort des Unrats, Quelle der gesellschaftlichen und körperlichen Krankheiten. Es ist das alle Handlungsstränge und Figuren bestimmende und organisierende Zentrum des Films, in dem sich die produktiven Energien des Lebenselements Wasser mit seinen destruktiven, Leben vernichtenden Potentialen zu einer Spirale der Unentrinnbarkeit verbinden. Die Tendenz zur ästhetischen Stilisierung, die den realistischen Verfahrensweisen Kurosawas in dieser Phase seiner filmischen Produktion eingelagert ist, zeigt in der Wahl des Symbols wie in dem zerdehnten blutigen Finale epische Qualitäten. Sie deuten auf eine Subjektivierung der Wahrnehmung, die nicht der Wirklichkeit zu ihrem Ausdruck, sondern der Wahrheit zur Geltung verhelfen will: Der Tod ist die Bedingung des Lebens. Diese Botschaft ist der narrativen Ebene des Films offenkundig deutlicher eingeschrieben als der ästhetischen Struktur seiner Bilder, eine Tatsache, die es erlaubt, YOIDORI TENSHI in unmittelbare Nachbarschaft zu RASHOMON (1950; Rashomon – Das Lustwäldchen) zu setzen. Das Motiv des Todes bildet auch hier den Handlungskern. Im Zentrum des Films steht auch hier die Frage nach der Wahrheit des Geschehens. Die während der Heian-Periode (794-1184) in Kyoto spielende Geschichte führt während sintflutartiger Regenfälle mehrere Personen unter dem zerfallenen Stadttor Rashomon zusammen, ein Ort der ausweglosen Wahrheitssuche, an dem sich die Figuren, untergliedert durch Rückblenden auf eine Gerichtsverhandlung, die Geschichte eines Mordes und einer Vergewaltigung erzählen. Kurosawa greift mit diesem Film Stoffe auf, die er in den Erzählungen „Yabu no naka“ (In einem Hain) und „Rashomon“ von Ryunosuke Akutagawa (1892-1927) gefunden hatte, um sie mit Hilfe prägnanter Um- und Neuakzentuierungen auf das polare Bedingungs- und Entsprechungsverhältnis von Leben und Tod zu beziehen. Wo Akutagawa in „Yabu no naka“ die einander widersprechenden Zeugenaussagen seiner Figuren vor Gericht nutzt, um den Anspruch auf Wahrheit generell zu denunzieren, stellt Kurosawa mit dem Geflecht unterschiedlicher Wahrnehmungen und Aussagen in seinem Film nicht grundsätzlich die Möglichkeit objektiver Wahrheit in Frage. Nur seien die Menschen, so schreibt der Regisseur in seiner Autobiographie, unfähig, mit sich selber ehrlich umzugehen, da sie nicht über sich sprechen

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könnten, ohne die Dinge schön zu färben.1 Mit der – neu erfundenen – Version des Holzfällers bietet Kurosawa in RASHOMON freilich eine Facette dieser Disposition an, die im Schlussbild des Films symbolisch gewichtet wird: Der Holzfäller nimmt ein ausgesetztes Kind auf, mit dem Versprechen, es mit seinen eigenen Kindern aufzuziehen. Damit versiegt der Dauerregen, und Sonnenlicht überstrahlt die Szene. Der Erfolg dieses Films im Westen – er erhielt 1951 den Großen Preis des Filmfestivals in Venedig und 1952 den Academy Award für den besten ausländischen Film – verdankte sich, so hat man verschiedentlich vermutet, der Multiperspektivik, mit der in Form von Rückblenden ein und derselbe Vorgang aus den einander widersprechenden Sichten von vier Personen geschildert wird, einer Technik nicht-linearen Erzählens also, wie sie bereits von Orson Welles in CITIZEN KANE oder von Joseph Losey in THE GO-BETWEEN erprobt worden war und wie Alain Resnais sie später in HIROSHIMA MON AMOUR zu einem künstlerischen Höhepunkt geführt hat. RASHOMON gilt, auch aufgrund dieser modernen Erzählstruktur, mit Recht als der artifiziellste der frühen Filme Kurosawas. Doch gerade diese Tatsache mag dazu beigetragen haben, dass der Film in Japan selbst keine gute Aufnahme fand: Das nicht-lineare Erzählen in Form filmischer Rückblenden war verpönt.2 Bedeutsamer und signifikanter für die Stilisierungsabsicht ist jedoch der filmgeschichtliche Rückgriff auf das bildästhetische Arsenal der Stummfilmzeit, von dem Kurosawa in seiner Autobiographie spricht, insbesondere auf den filmischen Expressionismus aus Deutschland, ferner auf die Filme von Eisenstein und Pudovkin, D.W. Griffith und Charles Chaplin sowie auf die französischen Avantgarde-Filme der 1920er Jahre.3 Der Versuch, für den japanischen Film der 1950er Jahre eine Ästhetik zurückzugewinnen, die auf der Strecke der Filmgeschichte geblieben war, führte zu jenen faszinierenden Licht-Spielen, die RASHOMON auszeichnen: die Hell-Dunkel-Effekte, das Flirren der Sonne, das Blitzen der Axt und des Messers, die Verschattungen des Waldes, der Bäume und der Blätter. Bereits in NORA INU (1949; Ein streunender Hund) hatte Kurosawa die expressionistische Bildertradition zur stilisierenden Charakterisierung des Filmhelden genutzt, eines Polizisten, der auf der Suche nach der ihm gestohlenen 1 Vgl. Kurosawa, Akira: Something like an Autobiography, New York 1982. 2 Vgl. Richie, Donald: Japanese Cinema. An Introduction, New York 1990, S. 6. 3 Die von Kurosawa zusammengestellte Filmliste vgl. bei Kurosawa: Autobiography, S. 73f.

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Dienstwaffe gehetzt die Stadt durchstreift, eingezwängt in Kerkermuster aus Licht und Schatten. Doch was in NORA INU als charakteristischer Akzent erscheint, der eine Persönlichkeit definiert, bildet in RASHOMON den atmosphärischen Hintergrund eines Geschehens, das aus einander bedingenden, aufeinander verweisenden Polaritäten zu seiner widerspruchsvollen, eben aus Widersprüchen bestehenden Einheit erwächst: Hell und Dunkel, Wahrheit und Lüge, Leben und Tod. RASHOMON ist narrativ wie bildästhetisch deutlich komplexer strukturiert als seine filmischen Vorläufer. Man kann in diesem Film eine Verschmelzung von modernistischer Narrativik und avantgardistischer Bildästhetik sehen, wie sie Kurosawa in solcher Intensität weder zuvor noch später erreicht hat.

2. Diese Qualität wird deutlich insbesondere im Blick auf zwei Filme, die, obwohl sehr unterschiedlichen, vier Jahrzehnte auseinander liegenden Produktionsphasen entstammend, gleichermaßen auf eindringliche Weise die primäre Intention erzählerischer Geschlossenheit dokumentieren: IKIRU und MADADAYO. Auch in IKIRU geht es um den Tod eines Menschen, auch hier handelt es sich um die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit, und der spezifische Charakter des Films wird auch hier durch einen Rückgriff auf Stilmittel des westlichen Theaters erreicht, in diesem Fall auf den Verfremdungseffekt Bertolt Brechts.4 Gleich zu Beginn wird die Großaufnahme eines Magens gezeigt. Er weist, undeutlich nur wahrnehmbar, dunkle Flecken auf. Dazu ist ein lakonischer Kommentar aus dem Off zu vernehmen: „Dies ist eine Röntgenaufnahme vom Magen unseres Helden. Er hat Magenkrebs, aber er weiß es noch nicht.“ Die Sprecherstimme klingt distanziert und sachlich, das Bild dazu wirkt dokumentarisch: „Magenkrebs“, so sagt seine Ästhetik, ist ein medizinischer Befund, weiter nichts. Der Film handelt vom Tod eines Mannes, dessen berufliche Identität das nächste Bild in Form einer symmetrischen Komposition bietet: der städtische Angestellte Kanji Watanabe, zuständig für öffentliche Verwaltung, an seinem Schreibtisch, aufgenommen in einer halbnahen Einstellung, eingerahmt, wenn nicht eingekerkert von Eingaben und Papieren, die er lustlos und desinteressiert durchsieht, abstempelt und beiseite legt. Mit dieser Eröffnungssequenz hat der Film sein Thema gefunden und den inneren Spannungsbogen seiner Geschichte akzentuiert. Was folgt, ist die erzählerische Entfaltung dessen, was der Titel des Films 4 Vgl. Prince, Stephen: The Warrior’s Camera, Princeton 1991, S. 158f.

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ikiru (zu Deutsch ‚leben‘) benennt. Untergliedert in zwei Teile, wird zunächst der Kampf Watanabes geschildert, sein Aufbegehren gegen die Gewissheit, seiner tödlichen Erkrankung erliegen zu müssen: Auseinandersetzungen in der Familie, Alkohol und Amüsement, Ablenkung durch eine junge Frau. Am Ende des ersten Teils kehrt Watanabe an seinen Schreibtisch zurück, um sich der Eingabe einer Frauengruppe anzunehmen, die er zuvor nicht bearbeitet hatte. Die Pointe dieses Schrittes bietet der zweite Teil des Films, der etwa ein Drittel der Spieldauer umfasst. Fünf Monate später, unmittelbar nach Watanabes Tod, treffen sich seine Kollegen anlässlich der Trauerfeier für Watanabe, um sich, untereinander im Streit, mit dessen letzter Lebensleistung, dem Bau eines Kinderspielplatzes, zu schmücken. Die Frauen hingegen, für die sich Watanabe am Ende eingesetzt hat, verneigen sich während der Trauerfeier vor dem Bild des wahren Wohltäters, der noch einmal in einer Rückblende gezeigt wird: nachts, während es schneit, auf einer Schaukel sitzend, ein Lied summend. 5

Abb. 1: IKIRU Der Titel des Films steht zu der tödlichen Diagnose, die seine Eingangssequenz stellt, offenbar in einem ironischen Verhältnis. Kurosawa stellt seinen Film mit diesem Titel in die Tradition des memento mori, das in Wahrheit ein Plädoyer für die Fülle des Lebens darstellt. Nur angesichts 5 Zum Alternieren bei Kurosawa, vgl. Deleuze: Kino 1, S. 257.

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des Todes, lautet demnach die Botschaft auch des Films IKIRU, erkennen wir den Wert des Daseins, nur dadurch, dass wir sterben müssen, lernen wir zu leben. Dass die Kollegen des verstorbenen Watanabe in ihrem Amt am nächsten Tag business as usual praktizieren, bringt die soziale Wirklichkeit gegen die anthropologische Wahrheit des Films zur Geltung. Als eine Art Probe aufs Exempel dieser Botschaft lässt sich Kurosawas letzter großer Film, MADADAYO, verstehen, die Geschichte eines Lehrers, der mit sechzig Jahren in Pension geht und alljährlich von seinen ehemaligen Schülern besucht wird. Die gemeinsamen Treffen dienen der Vergewisserung, dass der alternde Lehrer sich noch immer guter Gesundheit erfreut. Der Farbfilm zeigt ihn mit seinen Schülern vor einem sich wandelnden zeitgeschichtlichen Hintergrund: Krieg, Nachkrieg, Besetzung, Aufbau, wachsender Wohlstand. Strukturiert wird diese filmische Erzählung durch kleine, episodisch montierte szenische Einheiten, in denen sich Lebensweisheit und Alterstorheit, ebenso sensibel wie hintergründig und humorvoll beobachtet, anekdotisch aneinander reihen, bis am Ende, nach dem letzten großen Treffen, der Lehrer als weißhaariger Greis im Schlaf gezeigt wird, träumend von einem kleinen Jungen, der aus einem Heuhaufen kriecht, zum Himmel hinaufblickt und – wie der Lehrer in seinem Traum auch – ‚madadayo‘ ruft. „Es ist noch nicht soweit“, lautet die wörtliche Übersetzung des japanischen Originaltitels. Kurosawa bietet mit diesem Alterswerk das positive Gegenbild zu einem versäumten Leben, wie es IKIRU vorgeführt hat. Die erzählerische Geschlossenheit des Films entspricht, wie die thematische Verwandtschaft erwarten lässt, dem des mehr als vier Jahrzehnte zurückliegenden Vorläufers. Doch im Unterschied zu jenem lässt sich im Blick auf MADADAYO von einer ‚eigentlichen‘ Erzählweise sprechen: Es handelt sich um ein memento vitae, das dem unausweichlichen Tod entgegengehalten wird, ein Kraftquell, aus dem der Lehrer – und mit ihm, als ihrem Vorbild, auch seine Schüler – seine Lebensenergie bezieht. Das Motiv des Todes erscheint als eine Ahnung, die aus Erfahrung resultiert, und nicht als Gewissheit, die Verzweiflung hervorbrächte. Der Lehrer tut, was der Angestellte hätte tun sollen: leben. Dass diese Lehre in Kurosawas Spätwerk nicht zum Kitsch verkommt, hängt mit der expositorischen Qualität der Eingangssequenz zusammen. Sie schafft – in diesem Fall in Form der Ankündigung des Lehrers, seinen Abschied vom Schuldienst nehmen zu wollen – jene Distanz, die den Zuschauer zum Beobachter des Geschehens macht, abermals eine ‚epische‘ Filmdramaturgie, wiederum in Brechtscher Tradition. Hier wird sie

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durch den bühnenartigen Aufbau der einzelnen Filmszenen ebenso unterstützt wie durch die Linearität der Handlungsfolgen, die auf den abschließenden Traum des Lehrers hinausläuft. Der überraschende Schluss mit dem Schnitt auf eine Gruppe von Jungen, die in Heuhaufen Verstecken spielen, durchbricht diese Chronologie jedoch. Er verleiht dem kindlichen ‚madadayo‘ am Ende des Films die Qualität einer Vision der Dauer und des Neubeginns, die dem Alter durch das Bild der Jugend zuwächst.

3. Es gibt zu dieser Vision in Kurosawas Filmwerk kaum einen schärferen Gegensatz als die Schlusssequenz von KUMONOSU-JO. Der Film, eine Travestie von Shakespeares Macbeth, zeigt den von einem Geist prophezeiten Aufstieg des Festungskommandanten Taketoki Washizu zum Herrn des Schlosses im Spinnwebwald. Mord und Totschlag, Intrige und Verrat liegen auf dem Weg des Helden, an dessen Ende seine ihn stets zu weiteren Untaten treibende Gattin dem Wahnsinn verfallen ist. Washizu, so lautet eine zweite Prophezeiung des abermals befragten Geistes, könne nur dann besiegt werden, wenn der Wald aufs Schloss vorrücke. Und eben dies geschieht, als sich feindliche Heere, durch Bäume getarnt, der Festung Washizus nähern, der daraufhin von seinen eigenen Soldaten ermordet wird. Sein Film-Tod, der sich über mehr als drei Minuten erstreckt, ist eine kamera- und schnitttechnische Meisterleistung Kurosawas.6 Mit äußerster Distanz beobachtet die Kamera das Sterben eines Mannes im hundertfachen Hagel tödlicher Pfeile. In einer raschen Folge von Einstellungen, deren Dauer häufig nur zwei bis vier Sekunden beträgt, vermittelt die Kamera – teils aus Untersicht, teils aus Augenhöhe – einen Todeskampf, dessen Dramatik durch Dauer entsteht. Vielfache Wiederholung bei nur geringer Variationsbreite lautet die Maxime, mit der die Bildästhetik Kurosawas hier arbeitet. In nicht weniger als 24 von 34 Einstellungen ist zu sehen und zu hören, wie Pfeile, begleitet von Schreien, dicht neben dem Fürsten einschlagen oder seinen Körper durchbohren. Die Beobachtungskälte, die der Kameraführung hier auferlegt wird, reproduziert die Distanz, mit welcher der Film in seiner Gesamtheit Aufstieg und Fall Washizus begleitet. Es herrscht Finsternis in dieser Welt, 6 Vgl. hierzu Sequenzprotokoll 1: KUMONOSU-JO im Anhang dieses Beitrags. – Jörg Danger danke ich für seine Unterstützung bei der Erstellung des Sequenzprotokolls.

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deren Mechanismus nach dem Gleichmaß jenes Räderwerks abläuft, mit dem der Geist seine Schicksalsfäden spinnt. Zur Stilisierung trägt die Zeichenhaftigkeit des Nô-Theaters ebenso bei wie die Zeichensprache der Natur. Sie geht, wie Karsten Visarius gezeigt hat, „in das Zeichengefüge des Films als Konfiguration ein, als Bedeutungsfeld ohne materielle Substanz“.7 Dies gilt in vergleichbarer Weise auch für den Pfeilhagel, der Washizus Untergang besiegelt. Die Beobachtungskälte, mit der die Kamera den Vorgang registriert, die Vervielfachung der tödlichen Geschosse, die nicht endenwollende Repetition tödlicher Einschläge in den Körper – diese Zeichen sprechen weder dem Leben Washizus noch seinem Tod Substanz zu. Es sind Zeichen ohne eine Referenz über ihren filmimmanenten Zusammenhang hinaus. Die Pfeile verweisen durch Dauer und Wiederholung auf nichts als sich selbst. Die avantgardistische Bildästhetik des Finales registriert auf diese Weise die mechanische Zwangsläufigkeit, mit der ein Spruch des Schicksals exekutiert wird.

Abb. 2: KUMONOSU-JO Man kann Vorstufen der im Finale von KUMONOSU-JO brillant inszenierten und realisierten Beobachtungskälte einer Reihe von filmischen Sequenzen entnehmen, die – jeweils mit einer deutlichen Funktionszuweisung versehen – Kurosawa in SHICHININ NO SAMURAI (1954; Die sieben Samurai) genutzt hat. Hierzu zählt jene Tötung des Diebes, der ein Kind als Geisel genommen hat, durch den Samurai Kambei. Er verschafft sich, als Priester verkleidet, unter einem Vorwand Zugang zu der Scheune, in der sich der Verbrecher aufhält. Dieser taumelt, nach einer 7 Visarius, Karsten: „Kommentierte Filmographie“, in: Akira Kurosawa (Reihe Film 41), München 1988, S. 176.

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nur Sekunden währenden Phase des unsichtbar bleibenden Kampfes, tödlich getroffen aus der Scheune heraus. In Zeitlupe, in Form einer distanzierten Beobachtung aus der Parallelperspektive, wird sein Sterben gezeigt: ein völlig unspektakuläres, undramatisches, in sich zerdehntes Niederfallen des Körpers in den Staub. Kurosawa arbeitet hier mit einer Ästhetik der Aussparung: Der in elliptischer Form vorgeführte Kampf dient der Charakterisierung des Samurai Kambei. In ganz anderer und doch vergleichbarer Weise kennzeichnet ein weiteres Duell den meisterlichen Schwertkämpfer Kyuzo. Dieser, durch Beleidigungen und Aggressionen verschiedentlich provoziert, stellt sich seinem Herausforderer schließlich zum Zweikampf, dem auch Kambei als Zuschauer beiwohnt. In die Kampfvorbereitungen hinein wird auf den beobachtenden Samurai geschnitten. „Wie sinnlos“, sagt Kambei zu seinem Nachbarn, während er Kyuzo (am linken Bildrand) und seinen streitlustigen Herausforderer (am rechten Bildrand) wahrnimmt: „Es ist klar, was passieren wird.“

Abb. 3: SHICHININ NO SAMURAI Was „passiert“, zeigt ein überraschender Umschnitt aus der Gegensicht (Abb. 3): Von links greift nun der Herausforderer an – tödlich getroffen sinkt er nach wenigen Schritten zur Seite. Doch nicht das Töten, das in Form des Schwertstreichs kaum wahrnehmbar ist, bietet den Höhepunkt der Szene und auch nicht das Sterben, das abermals in zeitlupenhafter, nun schon topischer Zerdehnung einer distanzierten Beobachtung anheim gegeben wird. Vielmehr konzentriert der plötzliche Wechsel der Raumperspektive die Dynamik des Geschehens in sich. Pointiert auf den Effekt eines einzigen Schnitts fasst Kurosawa die Dramatik des tödlichen Augenblicks schockartig zusammen. Die Dimension des Film-Raums

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wird auf diese Weise zum Parameter der Organisation von Tod und Leben. Fortgeführt, über KUMONOSU-JO hinaus, hat Kurosawa diese Tradition einer gleichsam referenzlos nur auf sich selbst verweisenden Zeichensprache des Todes in YOJIMBO: zu Beginn des Films, als der Titelheld einem kampflustigen Gegner einen Arm abschlägt, abermals in Form eines knappen, die Perspektive verändernden Schnitts; am Ende, als Yojimbo gegen einen ganzen Clan von Feinden anzutreten hat, durch einen überraschend in den einsetzenden Showdown eingeschnittenen Messerwurf, der den mit einer Pistole bewaffneten Anführer der Gruppe außer Gefecht setzt. Was dann „passieren“ wird, ist ebenfalls klar, nämlich funktionaler Bestandteil einer Geschichte, deren vorhersehbarer Abschluss im Tod der Feinde Yojimbos besteht: rasch, unaufwändig, fachmännisch und kühl durch diesen herbeigeführt. In vergleichbarer Weise vollzieht sich das Ende in TSUBAKI SANJURO (1962; Sanjuro): Das Schlussduell wird auch hier durch einen raschen, überraschenden, abermals tödlichen Schwerthieb in Szene gesetzt, mit der Variante einer aus der Brust des Gegners hervorschießenden Blutfontäne.8

4. Die großen Todesfinale Kurosawas repräsentieren, blickt man auf seine Filme insgesamt zurück, eine Topographie eigenen Maßes. Kurosawa entwirft mit seinen Todesgemälden apokalyptische Visionen, in denen sich Schönheit mit Schrecken paart, Faszination mit Grauen und Pathos mit Trauer. Das Erhabene steht hier neben dem Alltäglichen, das Banale und Lächerliche neben verwehendem Glanz. Nach YOIDORE TENSHI und KUMONOSU-JO sind hier vor allem das Schlammgemetzel von Pferden und Menschen in SHICHININ NO SAMURAI und die Entscheidungsschlacht in der King Lear-Adaption RAN (1985; Ran) zu nennen. In keinem seiner Werke aber, abgesehen von KUMONOSU-JO, hat Kurosawa die qualvolle Dauer des Sterbens grandioser eingefangen als in KAGEMUSHA. Es ist ein visionärer Triumph der Vernichtung, der den Abschluss des Films bildet, ein überwältigendes Sterbeszenario, in dem sich abermals ein Lebensund Daseinsprinzip offenbart: die Ästhetik des Untergangs. Erzählt wird die Geschichte des historischen Machtkampfs zwischen Shingen Takeda, Nobunaga Oda und Ieyasu Tokugawa, an deren Ende die Errichtung des mehr als zwei Jahrhunderte währenden 8 Vgl. hierzu auch Kreimeier, Klaus: „Fliehendes Leben, extreme Tode“, in: Akira Kurosawa (Reihe Film 41), S. 24f.

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Tokugawa-Shogunats (1603-1864) in Japan stand. Kurosawa konzentriert den Handlungskern seines Films auf das Motiv des Doppelgängers, der, in Gestalt des Diebes Tatsuya Nakadai, den Fürsten Shingen Takeda vertreten soll, um diesen vor Anschlägen zu schützen. In dem Maße, wie der Doppelgänger in seine Rolle hineinwächst, identifiziert er sich mit der Originalgestalt des Fürsten, bis er im tödlichen Finale des Films gemeinsam mit dem Fürstenhaus Takeda sein Ende findet. Kurosawa hat diese Geschichte in Form eines Ausstattungsfilms entworfen, der erst mit Hilfe prominenter amerikanischer Bürgen (Francis Ford Coppola und George Lucas) realisiert werden konnte, weil die japanischen Produzenten dem Konzept Kurosawas unter Hinweis auf die für damalige Verhältnisse immensen Kosten (9 Millionen Dollar) ihre Zustimmung verweigerten. Zu vermuten ist freilich, dass das Konzept des Regisseurs in Japan auch seiner avantgardistischen Konzeption wegen auf Ablehnung gestoßen ist, die in der Bildästhetik des Finales exemplarisch zum Ausdruck kommt.9 Eine Totale aus der Obersicht (1) erfasst zunächst den Schauplatz des Geschehens: ein Schlachtfeld, gefallene Soldaten, tote Pferde. Dann eine Halbtotale, ebenfalls aus der Obersicht (2): Sie erlaubt eine genauere Wahrnehmung der verletzten Reiter und Pferde, die sich vergeblich aufzurichten versuchen. Eine halbnahe Einstellung (3) setzt diese visuelle Annäherung fort: tote Soldaten, ein Pferd, das sich aufbäumt – Bildinhalte, die, kaum variiert, in den folgenden drei Einstellungen (4-6), bei identischer (halbnaher) Kameraperspektive, fortgesetzt wird. Die Ästhetik dieser Bilderorganisation repräsentiert den Status reinen Beobachtens, der dem nahezu gleichmäßigen Wechsel von halbnaher und halbtotaler Einstellung ebenso wie dem Gleichmaß der Schnittfolgen entspringt (zwischen 2 und 4 Sekunden in den ersten 16 Einstellungen). Dem Eindruck der Ruhe, der hierdurch erzeugt wird, entspricht die Retardation der Bewegung vor der Kamera: Gezeigt wird das Sterben von Tieren und Menschen in Form extremer Zeitlupen, die – als Ästhetik der Verlangsamung – ihrerseits den Beobachtungsstatus des Zuschauers affirmieren. Nicht Spannung wird erzeugt, sondern eine Choreographie aus Bewegung, Farben und Formen entfaltet sich, die, in sich behutsam variiert und repetiert und daher scheinbar endlos zerdehnt, den Tod sublimiert. Das Erschrecken angesichts des Sterbens erfährt auf diese Weise eine Art Transsubstantiation: Es geht über in ein bewunderndes Erstaunen über 9 Vgl. zum folgenden Sequenzprotokoll 2: KAGEMUSHA im Anhang dieses Beitrags. – Nadine Buderath danke ich für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Sequenzprotokolls.

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die Schönheit, die dem Grauen innewohnt, ein Effekt des Erhabenen, der sich durchaus im Sinne von Kants klassischer Bestimmung verstehen lässt.

Abb. 4: KAGEMUSHA Erst mit der 17. Einstellung verändert sich der Rhythmus des Beobachtens. 11 Sekunden lang zeigt die Kamera nun, wie sich zwei verletzte Soldaten über den Boden wälzen, wie sie zusammenbrechen und ein Pferd über das Schlachtfeld läuft, Vorgänge, die auch die folgenden Einstellungen einfangen, deutlich länger (zwischen 4 und 6 Sekunden) gehalten als die der Eröffnungsbilder, bis sich abermals zwei vergleichsweise lange Einstellungen anschließen (22 und 23, jeweils 11 bzw. 20 Sekunden). Bis zu diesem Zeitpunkt – und auch danach noch (bis einschließlich 27) – variieren weder die Bewegungsformen oder die Bildinhalte (verletzte, sterbende und tote Menschen und Tiere) noch verändert sich die Wahrnehmungsperspektive der Kamera (Wechsel von Halbnaher und Halbtotaler, Wechsel von leichter Obersicht und gleicher Höhe). Was die langen Einstellungen ästhetisch vermitteln, lässt sich nur metaphorisch umschreiben: Sie stellen eine Art Atemholen dar, ein Besinnen der filmischen Apparatur auf die Bildinhalte, die sie vermittelt, ein Gestus der Bildästhetik, der sich als Figur der Reflexion bestimmen lässt. Die Bilder thematisieren auf diese Weise ihre Inhalte in der Form eines Eingedenkens. Sie stellen eine retardierende Vorbereitung auf die erste Großaufnahme der gesamten Sequenz dar (28), die das Gesicht Kagemushas in einer Dauer von 6 Sekunden bietet. Es signalisiert eine Zä-

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sur, die der narrativen Fortschreibung des Films dient. Kagemusha (zu Deutsch ‚der Schatten‘) wird, im Angesicht des eigenen Todes, seiner Identität gewahr, die in der Zugehörigkeit zum Takeda-Clan besteht. Er versucht, verfolgt von mehreren Schwenkbewegungen der Kamera, die seine Flucht über das Schlachtfeld beobachten (29-33), die Fahne zu retten, wird jedoch hinterrücks niedergeschossen. Man sieht ihn am Ende – nach einem Zwischenschnitt auf die im Fluss schwimmende Fahne (34) – in den beiden längsten Einstellungen der Sequenz (jeweils 29 bzw. 34 Sekunden) leblos im Wasser treiben. Die Schlusseinstellungen (36, 37) kombinieren die Semantik der zuvor genannten in einem grandiosen Finale, das die dominanten Motive der gesamten Sequenz in sich zusammenfasst: Wasser, Fahne, Tod. Kann man der Sequenz insgesamt die Qualität des Erhabenen zuschreiben, so diesem Finale, ohne ihm Zwang anzutun, die Funktion einer Katharsis, in der sich auf verstörende Weise Schönheit und Grauen mischen. Kurosawa war sich dieses Effekts durchaus bewusst und hat ihn auf seine Weise problematisiert: „I don’t wish to give the impression that war is beautiful“, so sagte er anlässlich der Uraufführung des Films: „That’s an extremely dangerous attitude. When I shot the battle scenes, I concentrated on making them as realistic as possible. But out of that horror – weirdly enough and absolutely involuntary on my part – a beauty emerged. A terrible beauty.“10 Man darf vermuten, dass es sich bei dieser Selbsteinschätzung – wenn sie nicht reine Koketterie gewesen sein sollte – um eine Schutzbehauptung handelt. Kurosawa wies mit ihr, gleichsam präventiv, jene Reaktionen zurück, die ihn nach der Premiere des Films des filmischen Ästhetizismus zeihen sollten,11 eine Kritik, die ihr Gegenstück seinerzeit in der euphorischen Äußerung vorbehaltloser Bewunderung besaß.12 Keine Frage: Kurosawas Entscheidung, in KAGEMUSHA die Ästhetik der extremen Zeitlupe zu nutzen, knüpft an die Tradition der filmischen Repräsentation von Todesarten an, die er bis zu diesem Zeitpunkt in seinem eigenen Werk – von SHICHININ NO SAMURAI und KUMONOSU-JO bis zu YOJIMBO und TSUBAKI SANJURO – bereits entwickelt hatte. Was KAGEMUSHA aus dieser Tradition heraushebt, ist, neben der rein quantitativen Dauer der Schlusssequenz (4 Minuten), die Intensität, 10 Kurosawa, Akira in: Kagemusha Press Kit, zit. nach Galbraith IV, Stuart: The Emperor and the Wolf: The Lives and Films of Akira Kurosawa and Toshiro Mifune, New York/London 2002, S. 555. 11 Vgl. Kreimeier, Klaus: „Apotheose ohne Widerhaken“, in: Frankfurter Rundschau, 27.10.1980. 12 Vgl. Wiegand, Wilfried: „Die Zeremonien des Untergangs“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung , 27.10.1980.

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mit der die filmischen Mittel zur Produktion einer ästhetischen Haltung genutzt werden: der Meditation über den Tod.

5. Lässt man die von Kurosawa inszenierten Formen des Tötens und Sterbens, herausgelöst aus ihrem jeweiligen filmischen Zusammenhang, in systematischer Absicht Revue passieren, so springen zwei Faktoren ins Auge: zum einen die Tatsache, dass jene Filme ein höheres Maß an narrativer Geschlossenheit aufweisen, die sich mit Sujets der japanischen Wirklichkeit nach 1945 auseinandersetzen; zum anderen die hiermit offenbar verbundene Heteronomie von filmischer Narrativik und avantgardistischer Bildästhetik. Pointiert gesprochen: Je weiter Kurosawas Filme sich aus der Gegenwart entfernen, je mehr sie sich thematisch der Geschichte der Samurai annähern, desto ausgeprägter ist die Bereitschaft des Regisseurs, filmische Techniken zu erproben und zu entwickeln, die eine avantgardistische filmästhetische Eigendynamik besitzen. Und umgekehrt gilt: Je enger Kurosawas Filme thematisch der japanischen Gegenwart verhaftet bleiben, desto weniger sind sie experimentell motiviert, desto deutlicher scheinen sie einem eigenwillig stilisierten Realismuskonzept verpflichtet. Die Todesarten in Kurosawas Filmen stellen sich, anders ausgedrückt, als die zunehmend komplexer werdende Ausfaltung eines frühzeitig angespielten Grundmotivs dar, das nach unterschiedlichen Prioritäten bearbeitet wird: primär narrativ, mit dem Ergebnis einer deutlichen erzählerischen Geschlossenheit, die auf avantgardistische medienästhetische Ansprüche verzichtet, und primär bildästhetisch, mit dem Resultat einer Ausdrucksqualität, die sich ganz bewusst avanciertester filmischer Techniken bedient. Sucht man nach Ursachen und Voraussetzungen dieses aufschlussreichen Phänomens, dann liegt es nahe, die hier idealtypisch unterschiedenen Verarbeitungsformen der Todesthematik auf ein Zurechnungsschema zurückzuführen, das in Japan selbst häufig zur Deutung der jüngeren Geschichte herangezogen wird: ‚wakon yosai‘– zu Deutsch: „japanischer Geist, westliche Technik“. Unter diesem Stichwort wurden in den Jahren nach der Meiji-Restauration, dem entscheidenden historischen Umbruch der japanischen Neuzeit im Jahre 1868, Medizin und Recht, Technik und Industrie aus dem Westen, nicht zuletzt aus Deutschland importiert, freilich ohne die Voraussetzungen dieser Entwicklung im westlichen Kulturraum zu übernehmen: die Autonomisierung des Bürgertums, Subjektwerdung und Identitätsbildung des bürgerlichen Ich ein-

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geschlossen. Mit anderen Worten: Die japanische Regierung betrieb nach 1868 eine technisch-industrielle Modernisierung nach westlichem Vorbild, ohne die Philosophie der Aufklärung und den politischen Liberalismus zu adaptieren. Man verband vielmehr konfuzianische Moralvorstellungen mit einer nationalistischen Ideologie, mit dem Tenno als Zentrum der Weltanschauung, so dass sowohl der Staat als auch das öffentliche Moralsystem unter Kontrolle der Regierung blieben, und konnte sich gleichwohl der technischen Errungenschaften des Westens versichern. Es gelang Japan auf diese Weise, den Westen auf vielen Gebieten – Bildungswesen, Industrieproduktion, Rüstung – zu überflügeln, ohne seine krisenhaften Erschütterungen teilen zu müssen. Die Verknüpfung von ‚wakon‘ und ‚yosai‘ setzt mithin gerade die Differenz zwischen den Kultur- und Wertsystemen Japans und des Westens voraus. Diese Differenz – und nicht etwa die bruchlose und widerspruchsfreie Verbindung beider Systeme – hat die soziale wie die ideologische Wirklichkeit Japans über mehr als ein Jahrhundert hinweg geprägt, auch nach 1945, und prägt sie noch heute. Bezieht man dieses bipolare Deutungsmuster auf die bislang zusammengetragenen Beobachtungen, bietet es sich an, die primär narrative Ausfaltung der Todesthematik beispielsweise in YOIDORE TENSHI, IKIRU und MADADAYO unter dem Signum ‚japanischer Geist‘ zu rubrizieren. Nicht ohne Grund sind es, neben anderen Nachkriegsproduktionen, gerade diese Filme, die in Japan als die besten, die ‚eigentlichen‘, die gelungenen Kurosawa-Filme angesehen werden. Man goutiert in Japan vor allem den – wenn auch stilisierten – Realismus der mise-enscène, die Lebensnähe der Figurenporträts, den Wirklichkeitsgehalt von Plot, Handlung, Konfliktentfaltung und Problemlösung, auch dort, wo diese mit Gewaltpotentialen arbeitet. Entscheidendes und allen genannten Wertungen gemeinsames Kriterium ist der weitgehende Verzicht Kurosawas auf ‚modernistische‘ erzählerische Mittel und eine avantgardistische Bildästhetik. Eben deshalb stieß RASHOMON in Japan – wie Kurosawa, überaus gekränkt, in seiner Autobiographie berichtet hat13 – auf Unverständnis bei den Produzenten und auf einhellige Ablehnung der Kritik, eben deshalb konnte der Film im Westen jene Anerkennung finden, die dem Autor Weltruhm gebracht hat. Und beide Urteile fanden ihre Begründung vor allem in der polyperspektivischen Erzählstruktur, die Kurosawa der literarischen Vorlage Akutagawas entnommen und in die Rückblendenästhetik des Films übertragen hatte – ein doppelter, literarisch-filmischer Avantgardismus. 13 Vgl. Kurosawa: Autobiography, S. 187 und 188f.

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Dessen Quellen cum grano salis als ‚westliche Technik‘ zu identifizieren, dürfte nicht zu gewagt sein, wenn man sich die bereits erwähnten filmhistorischen Prägungen Kurosawas durch die Medienavantgarden aus der Frühzeit des Films der 1920er Jahre vor Augen führt. Kurosawa hat deren bildästhetisches Potential aufgenommen und es fortentwickelt, bezeichnenderweise insbesondere dort, wo sein narratives Potential ihn tief in die japanische Geschichte hineinführte: in den Samurai-Filmen. Der Topos des Samurai und des bushido – übrigens noch heute, wie auch immer metaphorisiert, ein prägender Mythos des japanischen Alltagslebens und japanischer Selbstentwürfe – erfährt durch Kurosawa eine künstlerische Neu- und Umakzentuierung mittels filmischer Techniken, die diesen Mythos nicht unberührt lassen, vielmehr ihn mittels seiner breitgefächerten avantgardistischen Bildästhetik immer aufs neue umkreisen, auch in Frage stellen, vor allem aber: in ihn sich versenken. Die von Kurosawa filmisch entworfenen Todesarten repräsentieren mithin nichts Geringeres als eine Allegorese des Tötens und Sterbens in meditativer Form. Deren Bildarsenal, auch und gerade das auf spezifisch historische Vorgänge sich beziehende, erzählt von der Vergänglichkeit des Lebens und damit von der Vergänglichkeit der großen Mythen, auch derjenigen Japans. Dass es sich hierzu einer avantgardistischen Bildästhetik bedient, macht seine bleibende künstlerische Leistung aus.

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DER (DIGITALE) FILM ÖFFNET DIE TÜR IN DEN VIRTUELLEN RAUM DER MALEREI EIN MEDIENTHEORETISCHER VERSUCH ZUR KRÄHEN-EPISODE AUS AKIRA KUROSAWAS YUME

Einleitung Akira Kurosawas Episodenfilm YUME (1990; Akira Kurosawas Träume) gilt wahrscheinlich zu Recht nicht als seine beste Arbeit. Allzu prätentiös scheint die Symbolik über das Unrecht, Pfirsichbäume abzuholzen in der zweiten, allzu moralisierend die Botschaften der letzten drei der insgesamt acht Episoden über das Unheil der Atomtechnik und das Heil des Ländlichen. Und so enthält YUME auch eine Episode, die fünfte, welche penetrante Reminiszenzen an Kurosawas frühe Versuche als Maler und schlimmer noch Stereotypen des Künstlers als halbwahnsinniges Genie, natürlich verkörpert durch Vincent van Gogh, zu vereinigen scheint. Zur Einleitung ein kurzer Überblick über die Episode Die Krähen: Sie wird wie jede Episode mit dem Schriftzug ‚Ich träumte einen solchen Traum‘ eingeführt. Wir sehen einen jungen Mann (den Protagonisten, genannt ‚Ich‘; Akira Terao), der im Museum vor den Bildern van Goghs offenbar fasziniert hin- und herläuft. Schließlich sammelt er sich vor Die Brücke von Langlois bei Arles mit Wäscherinnen (März 18881, Abb. 1) und versinkt in intensive Betrachtung. Plötzlich ist er in diesem Bild und beginnt seine Reise durch die ‚Welt van Goghs‘: Er läuft durch zunächst fotografisch aufgenommene, wenn auch in der mise-en-scène bereits aufgearbeitete Landschaften, begegnet dem Meister selbst (gespielt von Martin Scorsese), um dann endlich – begleitet von Klaviermusik (Chopin) – durch gemalte Szenarien van Goghs zu irren. Ganz zum Schluss der Sequenz sieht er ‚van Gogh‘, wie dieser auf einem Feldweg 1 Es gibt auch eine fast identische Version vom April 1888; bei der hier gezeigten handelt es sich aber eindeutig um jene vom März 1888.

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zwischen Kornfeldern in die Tiefe entschwindet; Raben oder Krähen2 flattern auf – und der junge Maler alias Kurosawa steht wieder im Museum vor dem letzten Bild seiner imaginären Reise, Getreidefeld mit Raben (Juni 1890), welches auch das vorletzte Gemälde van Goghs überhaupt ist,3 und zieht ergriffen seine Mütze vom Kopf (vgl. Abb. 3, 18).

Abb. 1 Ohne Zweifel kann man diese Sequenz als autobiographische4 Verbeugung Kurosawas vor der Malerei van Goghs lesen, zumal sich Kurosawa als ehemaliger Maler oft auf Malerei bezogen hat.5 Innerdiegetisch kann 2 Die Episode heißt Die Krähen; in den meisten (französischen wie deutschen) Katalogen wird in Zusammenhang mit van Goghs Gemälde aber von „Raben“ gesprochen. Krähen und Raben sind jedoch verschiedene Arten, d.h. es hat sich wahrscheinlich irgendwo ein Übersetzungsfehler eingeschlichen. 3 Lange Zeit wurde das Bild für das letzte Gemälde van Goghs gehalten, angeblich nur wenige Tage vor seinem Freitod verfertigt. Daher fungierte es oft als das Emblem van Goghs, vgl. dazu Pollock, Griselda: „Artists’ Mythologies and Media Genius, Madness and Art History“, in: Hayward, Philip (Hrsg.): Picture This: Media Representations of Visual Art & Artists, London 1988, S. 75-113, hier S. 95f. Jedenfalls ist Kurosawas Wahl alles andere als beliebig. 4 Vgl. Stratton, M.: „Akira Kurosawa’s DREAMS: Creating an Unconscious Autobiography“, in: Arts in Psychotherapy, Vol. 28, Nr. 2 (2001), S. 103108. 5 Vgl. Goodwin, James: Akira Kurosawa and Intertextual Cinema, Baltimore/London 1994, S. 220-221. Dass sich Kurosawa in YUME gerade auf van Gogh bezieht, dürfte neben der Tatsache, dass van Gogh die „paradigmatic figure of artist“ (Pollock: „Artist Mythologies“, S. 85) darstellt, auch auf die intensive Beschäftigung van Goghs mit japanischer Kunst zurückzu-

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die ganze Sequenz als eine Darstellung des Imaginären des Protagonisten angesichts der überwältigenden Präsenz der Gemälde verstanden werden. Und leicht fällt es auch, diese beiden Perspektiven zusammen zu denken. Aber vielleicht ist diese Sequenz viel interessanter, vielleicht ist sie mehr als bloß eitle Selbstbespiegelung. Denn man kann diese Sequenz auch als eine komplexe Reflexion auf das Verhältnis von gemalten und fotografischen/filmischen Bildern verstehen,6 eine Reflexion, die schließlich eine Fluchtlinie auf ein ganz anderes Phänomen hin öffnet. Denn kurz bevor 1990 YUME in den Kinos erschien, begann ein anderer Traum: der Traum einer – mit dem Computer jetzt angeblich möglichen – virtuellen Realität.7 Und eine der zentralen Hoffnungen dieser Träume war gerade die Grenze zum Bildraum endlich übertreten zu können: So bemerkte etwa 1995 Philippe Quéau zuversichtlich: „In Zukunft können wir in die Bilder eintreten.“8 Die lange und stets etwas randständige Tradition immersiver Bilder schien mit der virtuellen Realität zu sich zu kommen.9 Auch wenn mir keine expliziten Äußerungen Kurosawas über die Bildpotentiale digitaler Medien bekannt sind, so ist doch YUME ein Film, in welchem der Regisseur auf die noch neuen Möglichkeiten digitaler Spezialeffekte der führenden Firma Industrial Light & Magic zurückgriff.10 Natürlich ist dies nur ein Wink – doch kann man daraus schlussfolgern, dass Kurosawa mit digitalen Bildverfahren in Berührung gekommen ist. So behauptet eine Autorin auch, leider ohne dies weiter aus-

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führen sein, dazu s.u. und vgl. generell Kodera, Tsukasa: „Japan as Primitivist Utopia. Van Gogh’s Japonisme Portraits“, in: Simiolus 14 (1984), S. 189-208. Bisher hat die Sequenz in der einschlägigen Literatur keine Würdigung erfahren, vgl. Dalle Vacche, Angela: Cinema and Painting. How Art is Used in Film, Austin 1996 und Peucker, Brigitte: Incorporating Images. Film and the Rival Arts, Princeton, New Jersey 1995. Vgl. zur Herausbildung der Konstellation ‚Virtuelle Realität‘, ihrem populären Auftauchen um 1989 und den damit verbundenen Phantasmen Verf.: Das Netz und die Virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld 2004, S. 152-275. Quéau, Philippe: „Die virtuelle Simulation: Illusion oder Allusion? Für eine Phänomenologie des Virtuellen“, in: Iglhaut, Stefan/Rötzer, Florian/ Schweeger, Elisabeth (Hrsg.): Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität, Ostfildern 1995, S. 61-70, hier S. 61. Vgl. Grau, Oliver: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin 2001. Galbraith, Stuart IV: The Emperor and the Wolf. The Lives and Films of Akira Kurosawa and Toshiro Mifune, New York 2001, S. 605 und 610. Allerdings scheinen die Spezialeffekte für Die Krähen nicht von ILM gemacht worden zu sein, s.u.

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zuführen: „[I]n Crows [Die Krähen, J.S.] Akira Kurosawa established a simulation of a journey through the evolution of the image in the 20th century, from analogue to digital poetics“.11 Daran anschließend sei hier eine alternative Lesart der Krähen vorgeschlagen, die die Episode als explizite Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bildlichkeiten von Malerei, Fotografie und Film und als implizite, ja vielleicht von Kurosawa bewusst gar nicht intendierte Thematisierung des Übergangs vom Bildraum zum Raumbild12 im Medienumbruch zu den digitalen Medien versteht. Die rund 9’5013 lange Episode ist aus 44 Einstellungen aufgebaut, deren Länge von wenigen Sekunden bis zu ca. 1’37 reicht.

Sequenz 1: 0’00, Exposition, der Rahmen Und diese längste Sequenz ist die einleitende, in der der Protagonist im Museum vor sechs Bildern van Goghs hin- und herschreitet. Ganz zu Beginn wird ein Selbstportrait van Goghs (Selbstportrait mit Palette, August/September 1889) dargestellt. Hier interessieren nicht so sehr die Konnotationen von Auktorialität, die ein solches Selbstportrait aufruft, sondern vielmehr, dass der Frame oben und unten exakt mit dem massigen Rahmen des Bildes abschließt. Dann – nach einigen Sekunden – tritt rechts der Protagonist ins Bild und nimmt genau den Raum zwischen Bildrahmen und Frame ein, wodurch der Raum zwischen der Grenze des Gemäldes und der Grenze des Filmbildes unterstrichen wird (Abb. 2). Wieder vergehen einige Sekunden und das mutmaßliche alter ego Kurosawas geht nach links aus dem Bild, die Kamera fährt mit, das Selbstportrait ‚verlässt‘ rechts das Filmbild und das nächste Gemälde van Goghs (Die Sternennacht, Juni 1889) kommt in den Blick. Genau derselbe Vorgang wird mit zwei weiteren Bildern wiederholt. Offenkundig wird hier die Differenz zwischen zwei verschiedenen Typen von Bildbegrenzungen inszeniert: Nämlich die zwischen dem Rahmen des Gemäldes, der den Bildinhalt fest einschließt, und dem Frame des Filmbildes, 11 Corominas, Aurora: „The Artist’s Gesture. An Initial Approach to the Cinematic Representation of Vincent van Gogh’s Pictorial Practice“, URL: www.iua.upf.es/formats/formats3/cor_a.htm, 12.8.2004. 12 Vgl. dazu Glaubitz, Nicola/Schröter, Jens: „Quälende Kuben und beruhigende Tableaus. Fragmente einer Diskursgeschichte des Raum- und des Flächenbildes“, in: Sprache und Literatur, Jg. 35, Nr. 93 (2004), S. 33-63. 13 Die folgenden Zeitangaben der Einstellungen beziehen sich auf den Beginn der Krähen-Episode (kurz vor Beginn des entsprechenden Titels) als Nullpunkt. Die Längen der Einstellungen sind als ungefähre Werte aufzufassen.

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der als mobiler Ausschnitt einer größeren Totalität operiert. Es geht um die Differenz zwischen – wie André Bazin es formulierte – cadre und cache.14 Doch trotz dieser Differenz hinsichtlich der ‚seitlichen‘ Bildbegrenzung teilen Malerei und Film (und auch Fotografie etc.) aber die Eigenschaft, dass die ‚vordere‘ Bildbegrenzung unüberschreitbar ist – niemand kann in den Bildraum oder in die Diegese eindringen.

Abb. 2

Abb. 3

Genau das wird in der Exposition thematisiert, denn am Ende der beschriebenen Kamerabewegung nach links steht der Protagonist vor dem Getreidefeld mit Raben, welches durch den dargestellten Feldweg in die Tiefe des Bildraums den Betrachter zum (unmöglichen) Betreten auffordert (Abb. 3). Und kaum dass der Protagonist dieses Gemälde betrachtet hat, fährt die Kamera nach rechts und zurück und gibt schließlich den Blick auf drei der Gemälde frei, d.h. der filmische Blickpunkt kann zurückfahren, ohne die ‚vordere‘ Bildbegrenzung zum Betrachter hin zu durchstoßen. Die Betonung der Unberührbarkeit des Bildraums ist eigentlich eine Platitüde – wäre da nicht eben jene mit dem Aufkommen der virtuellen Realität um 1990 neu aufgeflammte Idee, die Bilder könnten durch die neuesten Medien eben doch betretbar werden. Und exakt das geschieht in der Krähen-Episode ja auch. Als nach 1’37 der erste Schnitt die lange Exposition der RahmungsProblematik unterbricht und einen weiteren, spezifisch filmischen Rahmungstyp – den Schnitt – einführt, geschieht das, um das vorher schon en passant gezeigte Bild Die Brücke von Langlois bei Arles mit Wäscherinnen (März 1888) und den Protagonisten, der wieder genau zwischen cadre und cache positioniert ist, hervorzuheben: Nicht zufällig hat Kurosawa ein Bild ausgewählt, das motivisch eine Brücke zeigt – also eine Technik zur Überwindung einer Barriere. Denn durch dieses Bild tritt der Protagonist in den Bildraum ein. 14 Vgl. Bazin, André: „Painting and Cinema“, in: ders.: What is Cinema?, Bd. 1, Berkeley 1967, S. 164-169, bes. S. 166.

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Sequenz 2: 1’48, Eintritt, Bewegung, Japonismus und die Rasterung Nun sind wir also im Bild. Ein weiterer Schnitt beendet die Exposition und wir sehen eine recht genaue Nachstellung der Brücke von Langlois. Zunächst steht das Bild jedoch still. Nach einigen Sekunden ertönt Klaviermusik und dann erst setzt es sich in Bewegung. Offenkundig wird hier also die Differenz zwischen cadre und cache erneut hervorgehoben, indem die Differenz zwischen dem statischen und dem bewegten – durch die Musik explizit verzeitlichten – Bild inszeniert wird. Doch zugleich geht es hier um ein Bild, das jenseits des unbetretbaren Filmbildes steht, denn der Protagonist kommt von links in das Bild und beginnt seine Reise. Abb. 4 zeigt den Moment, in dem er die sonst für immer unansprechbaren Wäscherinnen – quasi interaktiv – begrüßt und nach dem Aufenthaltsort van Goghs fragt. Wenn das Virtuelle definiert werden kann als die Eröffnung der Möglichkeit „mit Objekten zu interagieren, die nirgendwo außerhalb der Kommunikation existieren – die also nur als Zeichen existieren“,15 dann handelt es sich bei der Darstellung einer Plauderei mit gemalten Wäscherinnen um die Inszenierung eines virtuellen Raums. Darauf wird zurückzukommen sein.

Abb. 4

Abb. 5

Zunächst weiter zu Abb. 4: In dieser Einstellung findet sich die für Kurosawa typische Dialektik von Fläche und Tiefe. Das rechte Bilddrittel zeigt den Durchblick in die Tiefe hinter der Brücke, zugleich ist es in drei klar getrennte Streifen – oben Himmel mit der geometrisierenden Konfiguration der Brücke, in der Mitte das entfernte Ufer und unten das Wasser – geteilt. Die linken zwei Drittel des Bildes zeigen die Wäscherinnen vor der jeden Blick in die Tiefe verstellenden und zudem in offenbarer Anlehnung an van Goghs Malstil auffällig kolorierten Mauer, zur Linken 15 Esposito, Elena: „Illusion und Virtualität. Kommunikative Veränderungen der Fiktion“, in: Rammert, Werner (Hrsg.): Soziologie und künstliche Intelligenz, Frankfurt/Main 1995, S. 187-213, hier S. 202.

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steigt in einer Diagonale das Ufer an. Die Mauer dient aber nicht nur zur Inszenierung des Gegensatzes von Fläche und Tiefe oder der Inszenierung eines ‚Stils van Goghs‘. Sie spielt mit den gefärbten einzelnen Steinen auch auf die aus farbigen Bildelementen aufgebauten Bilder an – und das sind eben nicht nur die pointillistischen, impressionistischen und post-impressionistischen (wie van Goghs) Gemälde des späten 19. Jahrhunderts. Es sind auch die hybriden Bilder schon des Fernsehens und Videos und vor allem die digitalen Bilder, insofern diese aus einzeln adressierbaren Bildpunkten bestehen.16 Kurz nach seinem Gespräch mit den Wäscherinnen geht der Protagonist die Böschung hoch und nochmals wird die ‚gepixelte‘ bzw. gerasterte Mauer unübersehbar in den Blick gerückt (Abb. 5). Van Gogh hatte nur kurz vor der Anfertigung der Brücke von Langlois drei Kopien japanischer Holzschnitte (bzw. deren Reproduktionen) hergestellt, indem er die Vorlage rasterte, ein vergleichbares Rastermuster auf die Leinwand malte und so das Bild übertrug.17 Die Rasterung des Bildes, die heutigem Bildscanning noch immer zugrunde liegt, war van Gogh also tatsächlich bekannt. Überdies weist diese Vorgeschichte auch darauf hin, dass das Gemälde als interkulturelle Brücke zwischen europäischer Moderne und japanischer Bildlichkeit (genauer: einem in der japanischen Bildtradition wichtigen reproduzierbaren Bild, dem Holzschnitt) verstanden werden kann. Folglich heißt es explizit zur Brücke von Langlois: „In this painting, van Gogh sought to represent the Provencal landscape in the manner of a Japanese woodcut“18 – dies begründet nochmals die Wahl dieses Gemäldes durch Kurosawa, dessen Arbeit ja selbst zwischen westlichen und japanischen Traditionen steht.

Sequenz 3: 2’50, Malerei, die Farbe und die Suche nach dem Zentrum Der Protagonist geht nun also an der Wand vorbei, dann buchstäblich über die Brücke in die Bildtiefe hinein (eine Verdoppelung seines Übergangs). In der folgenden Sequenz (ab 2’50-3’46), die insgesamt aus fünf 16 Zu dieser Parallele, die man allerdings nicht zu weit treiben sollte, vgl. Brüderlin, Markus: „Von der analytischen Malerei zum digitalen Impressionismus“, in: Claude Monet … bis zum digitalen Impressionismus, Fondation Beyeler (Ausstellungskatalog), Basel, 28.3.-4.8.2002, S. 191-225. 17 Vgl. Vincent van Gogh. Paintings, van Uitert, Evert/van Tilborgh, Louis/ van Heugten, Sjraar (Hrsg.): Katalog zur van Gogh-Ausstellung, Rijksmuseum Vincent van Gogh 30.03.-29.7.1990, Amsterdam/Rom 1990, S. 96. 18 Vgl. Vincent van Gogh. Paintings, S. 100.

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Einstellungen besteht, eilt er durch verschiedene fotografisch aufgenommene Landschaften bzw. an Scheunen und Häusern vorbei. Die räumliche Kontinuität steht dabei nicht im Vordergrund, vor allem die Farbigkeit ist als zentrales Stilmittel herausgehoben. Rot, Blau und Gelb, also die Grundfarben der in der Malerei gültigen subtraktiven Farbmischung dominieren.19 Es scheint so, als seien etwa die Scheunen und Häuser extra zu diesem Zweck angestrichen worden.20 So wird weniger ein konkreter Ort, sondern vielmehr eine dezidiert malerische Atmosphäre etabliert, die sonnendurchflutete, intensiv farbige Welt der Provence: Van Gogh war im Februar 1888 nach Arles gekommen (später ging er nach Saint-Rémy und Auvers-sur-Oise) und malte dort als eines der ersten Bilder die eingangs diskutierte Brücke von Langlois. Diese Sequenz ist also eine Transition und bebildert die Suche des Protagonisten nach dem Zentrum dieser malerischen Welt – oder wie Deleuze über Kurosawas Kino bemerkte: „[M]an geht von allen verfügbaren Angaben aus [die Hinweise der Wäscherinnen in der zweiten Sequenz, J.S.], um den Aufenthaltsbereich der Unbekannten immer weiter einzugrenzen.“21 Immer tiefer taucht der Protagonist – quasi immersiv – in die Welt van Goghs ein, sie wird durch ihr Kolorit bereits zur Kette potentieller Gemälde und schließlich gelingt ihm die Ermittlung des ‚Aufenthaltsbereiches‘ desjenigen, um den sich jene Bildwelt zu ordnen scheint: Wieder sieht er sich suchend um und entdeckt, dargestellt in einer Totalen, in der Ferne auf einem Kornfeld mit Heuhaufen eine winzige Gestalt, von der die Betrachter schon zu diesem Zeitpunkt wissen, dass sie van Gogh (Martin Scorsese) sein muss (Abb. 6).

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19 Blau, Gelb und ein Ocker-Rot waren die bevorzugten Farben van Goghs. 20 Schon in DODESUKADEN (1970; Dodeskaden – Menschen im Abseits) hatte Kurosawa prä-filmische Gegebenheiten kolorieren lassen. 21 Deleuze, Gilles: Das Bewegungsbild. Kino 1, Frankfurt/Main 1989, S. 254.

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Sequenz 4: 3’47, Film, das Maschinelle und die Kunst So kommen wir ins Zentrum der Krähen-Episode. Die Totale zieht sich mit dem nächsten Schnitt etwas auf van Gogh zusammen – und von rechts kommt der Protagonist ins Bild (Abb. 7). D.h.: das Bild, das wir – etabliert durch den Blick des Protagonisten – für einen point of view-shot hielten, ist gar kein solcher (mehr). Meines Erachtens ist diese Zurückweisung des Subjektiven22 gerade am Beginn der zentralen Sequenz der Episode ein Indiz dafür, die autobiographischen Konnotationen nicht zu überbetonen.23

Abb. 8

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Der Bildraum zieht sich in den folgenden Einstellungen immer weiter um van Gogh zusammen. Zunächst wählt Kurosawa eine amerikanische Einstellungsgröße. Der Protagonist nimmt Kontakt auf, kommt aber über ein zögerliches „Sind Sie Vincent van Gogh?“ kaum hinaus, denn der berühmte Maler beginnt sofort mit einem Monolog über seinen Schaffensprozess. Wichtig ist dabei der Satz: „Ich treibe mich vorwärts wie eine Lokomotive.“24 In diesem Moment erscheint ein Insert, das im Close-up eine von rechts nach links das Bild durchquerende Lokomotive zeigt (Abb. 8). Die nächste Einstellung zeigt van Gogh im Close-up (Abb. 9) – blickend und malend.25 Insgesamt alternieren zwischen 5’08 22 Zu point of view und Subjektivität im Kino vgl. Branigan, Edward: Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film, Berlin u.a. 1984, S. 73-121. 23 Vgl. Galbraith: The Emperor, S. 607 ist ebenfalls der Ansicht, dass der autobiographische Charakter des Films nicht überbetont werden sollte. 24 Ich konnte leider nicht feststellen, ob diese oder eine ähnliche Äußerung von van Gogh wirklich gemacht worden ist. 25 Und nicht zufällig spielt diese Szene auf einem Kornfeld mit Garben, zeigt doch eine der letzten Zeichnungen van Goghs (Garben vom Juli 1890) exakt eine solche Szene, d.h. hier wird erneut auf den kurz bevorstehenden Tod van Goghs angespielt, vgl. Vincent van Gogh. Drawings, van Uitert, Evert/van Tilborgh, Louis/van Heugten, Sjraar (Hrsg.), Katalog zur van

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und 5’27 vier solche van Gogh-Einstellungen mit drei solcher Lokomotiven-Inserts. 26 Zum einen wird in dieser alternierenden Subsequenz, die durch die rhythmische Anordnung der sowohl kürzesten als auch nahesten Einstellungen (Kontraktion des Raums) in der ganzen Sequenz als Kern der Episode hervorgehoben ist, in das Herz des künstlerischen Schaffensprozesses ein maschinelles und automatisches Moment eingeführt.27 Dieses widerspricht dem gerade mit van Gogh verbundenen expressionszentrierten und interioristischen Künstlerbild. Die selbst rhythmische Rotation der Räder der Lokomotive deutet dabei zunächst auf jene, eben nicht mehr auf die Hand des Künstlers, wie sie in der Sequenz auch inszeniert wird, rückführbare Kunst mit Maschinen, die wir Kino nennen.28 Dies wird dadurch gestützt, dass der zentrale Gründungsmythos des Kinos der angebliche Ausbruch von Panik angesichts eines der ersten Filme überhaupt ist; eines Films, in dem es um einen heranrasenden Zug geht – DIE ANKUNFT EINES EISENBAHNZUGES IM BAHNHOF VON LA CIOTAT (Louis Lumière, 1895).29 Ruft man sich die Zurückweisung des Subjektiven, die Anspielung auf den Ursprungsmythos des technischen Mediums Kino und den Rekurs auf den Japonismus der Brücke von Langlois am Beginn der Sequenz ins Gedächtnis, und bedenkt man außerdem, dass dieses Bild auf mechanisch oder besser: algorithmisch30 gerasterten, ihrerseits proto-

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Gogh-Ausstellung, Rijksmuseum Kröller-Müller 30.03.-29.7.1990, Otterlo/ Rom 1990, S. 329. Vgl. auch Hulsker, Jan: The New Complete Van Gogh. Paintings, Drawings, Sketches, Amsterdam u.a. 1996, S. 483. Zum Alternieren bei Kurosawa, vgl. Deleuze: Kino 1, S. 257. Der maschinelle Charakter des Künstlers wird insbesondere in der amerikanischen Nachkriegskunst immer stärker in den Vordergrund treten, vgl. dazu Jones, Caroline A.: Machine in the Studio: Constructing the Postwar American Artist, Chicago 1996; und am Beispiel bestimmter Formen künstlerischer Fotografie Verf.: „The Ephemeral, the Provisional ... Anmerkung zur Fotografie von Garry Winogrand und William Eggleston“, in: Chi, Immanuel/Düchting, Susanne/Verf. (Hrsg.): Ephemer_Temporär_ Provisorisch, Essen 2002, S. 197-218. Auch wenn gelegentlich die Kamera nostalgisch mit den manuellen Techniken identifiziert wird. So z.B. besonders einflussreich 1948 von Alexandre Astruc: „The filmmaker-author writes with his camera as a writer writes with his pen.“ (Astruc, Alexandre: „The Birth of a New Avantgarde: La Caméra-Stylo“, in: Graham, Peter (Hrsg.): The New Wave, Garden City 1967, S. 22-24, hier S. 23). Vgl. Loiperdinger, Martin: „Lumières ANKUNFT DES ZUGS. Gründungsmythos eines neuen Mediums“, in: KinTop, Nr. 5 (1996), S. 37-70. Zum Algorithmus in der Malerei vgl. Kittler, Friedrich: Kunst und Technik, Basel 1997.

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maschinell gedruckten japanischen Holzschnitten basiert – dann wird deutlich, dass Kurosawa sich des irreduzibel Technischen in letztlich jeder Form der Bildproduktion wohl bewusst war. So gesehen ist die mit Trickeffekten bewirkte diegetische Intrusion einer Figur in die Bildwelt van Goghs, der ja nicht zufällig von einem Filmregisseur gespielt wird, Metapher für das – vielleicht von Kurosawa reflektierte – Versprechen einer neuen,31 digitalen Technik, die nun wirklich und endlich den Bildraum in ein Raumbild verwandeln kann. Und genau das inszeniert der Regisseur in der übernächsten Sequenz.

Sequenz 5 : 5’30, Fotografie/Film, der (Aus-)Schnitt, das Licht der Sonne und das Auge Die gesamte Krähen-Episode besitzt einen bewundernswerten symmetrischen Aufbau: Aus dem Museum in die Landschaft, eine kleine Transition, dann auf die Alterationssequenz van Gogh schaffend/Lokomotive und dann wieder eine kleine Transition 2, zurück in die Landschaft und schließlich wieder zurück ins Museum. Bei der Transition 2, die aus dem verdichteten Zentrum der Sequenz wieder herausführt und insofern die erste Einstellung von Sequenz 4 spiegelt, sind wir jetzt. Hier findet sich zwischen 5’51 und 6’39 die zweitlängste Einstellung der gesamten Episode. Das ist vielleicht ein wenig verwunderlich, denn der Höhepunkt der Sequenz scheint vorüber zu sein. Doch in Sequenz 5 wird das wohl unvermeidliche abgeschnittene Ohr diskutiert – es wurde abgeschnitten, so van Gogh, weil es sich unbotmäßig dem Bild verweigerte. Diese Akzentuierung Kurosawas unterstreicht erneut das Primat des Bildes. So gesehen spielt das abgeschnittene Ohr nicht (nur) als Signifikant ‚genialischer‘ und mithin ‚verrückter‘ Subjektivität eine wichtige Rolle, sondern unterstreicht gegen jede hagiographische oder autobiographische Lesart die Reflexion verschiedener Typen von Bildlichkeit und ihre intermedialen Konnexionen. In 31 So wie Kurosawa gerade noch die Ausbreitung digitaler Bildtechnologie erlebte, so war van Gogh Zeitgenosse der Ausbreitung der – in der diskutierten Sequenz zitierten – Eisenbahn. Diese ist in den Werken zahlreicher Maler des 19. Jahrhunderts Ikone der Moderne (z.B. bei William Turner, vgl. dazu Gage, John: Turner: Rain, Steam and Speed, London 1972) – bei van Gogh, der den Modernisierungsprozessen außerordentlich skeptisch gegenüberstand (vgl. Zemel, Carol: „The ‚Spook‘ in the Machine. Van Gogh’s Pictures of Weavers in Brabant“, in: The Art Bulletin 67 (1985), S. 123-137), taucht sie bis auf eine signifikante und von Kurosawa sicher vorsätzlich genutzte Ausnahme (s.u.) nicht auf.

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diesem Lichte könnte man die Thematisierung des abgeschnittenen Ohrs auch als Metapher des Schneidens, des Schnitts verstehen. Der Schnitt ist nicht nur eine spezifische Rahmungsform aller Bewegungsbilder entlang der Zeit und als Aus-Schnitt schon Spezifikum der Fotografie. Konkreter noch führt die filmische Organisation von Aus-Schnitten entlang der Zeit (Montage) unter Umständen zu einer Fragmentierung von Körperbildern (z.B. den Close-ups auf van Goghs Gesicht in der Sequenz zuvor). Diese Bezugnahme ist nicht ganz so abwegig, wie es zunächst scheinen mag, denn neben dem einfahrenden Zug von Lumière gibt es noch einen weiteren Mythos des neuen Mediums Film – Béla Balázs’ ‚Mädchen aus Sibirien‘. Laut Balázs, der die Geschichte von einem seiner „alten Moskauer Freunde“ haben wollte, ging das Mädchen, das zuvor noch nie einen Film gesehen hatte, in ein Kino: „Bleich, mit finsterer Miene kam sie zurück. […] ‚Ich habe gesehen, wie sie Menschen in Stücke gerissen haben. Der Kopf, die Füße, die Hände, alles war woanders‘.“ Und Balázs ergänzt: „Wir wissen, daß in jenem Hollywooder Kino, in welchem Griffith zum ersten Mal seine Premierplan-Detailbilder vorführte und ein riesengroßer ‚abgehackter‘ Kopf dem Publikum zulächelte, Panik ausbrach.“32 So wie der einfahrende Zug Mythos des Bewegungsbildes, so ist das sibirische Mädchen bzw. Griffiths abgehackter Kopf Mythos der Montage. Diese Thematisierung des Schnitts, der Fragmentierung und der Montage im Zusammenhang mit der Malerei kann wiederum als Verweis auf die historische Zäsur zwischen der so plötzlich entmachteten Malerei33 zu den fotografischen und kinematographischen (aber auch a fortiori

32 Béla Balázs: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst, Wien 1972, S. 24. Vgl. auch Heath, Stephen: Questions of Cinema, London 1981, S. 183-185, der die reflexive Thematisierung dieses Phänomens in Genres wie dem Horrorfilm, der sich ausschließlich um die Zerstückelung des Körpers dreht, anschneidet. Andernorts wurde der Ausschnitt der Fotografie explizit mit der psychoanalytischen Theorie des Partialobjekts und mit dem Phantasma des zerstückelten Körpers in Verbindung gebracht, vgl. Metz, Christian: „Foto, Fetisch“, in: Wolf, Herta (Hrsg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2, Frankfurt/Main 2003, S. 215-225. 33 Deren Entmachtung sich besonders eklatant in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Portrait-Malerei zeigte – also genau jenem Genre, in dem van Gogh sich (laut Film) bewegte, als er sich das Ohr abschnitt: „Ich habe gestern versucht, ein Selbstportrait zu vollenden. Das Ohr wollte mir nicht so recht gelingen, da habe ich es abgeschnitten und weggeworfen.“ Zur Verdrängung der Portraitmalerei durch die Fotografie im 19. Jahrhundert am Beispiel von Paris, vgl. McCauley, Elizabeth Anne: Industrial Mad-

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zu den digitalen) Medien gelesen werden – „Medien [sind] epochale Einschnitte in der Gesellschaft, der Kultur und der Kunst.“34 D.h. als Anspielung des Übergangs vom zentripetal geschlossenen Bildraum der Malerei zum sequenziell und zentrifugal konstruierten Bildraum des Films – mit Ausblick auf das navigationale Raumbild digitaler Medien.

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Diese Lektüre wird bekräftigt durch die Inszenierung der Sonne in den folgenden Einstellungen – gegen Ende der hier diskutierten Sequenz bemerkt van Gogh: „Die Sonne, sie zwingt mich zu malen“ und in einer Gegenlichteinstellung wird das Licht der Sonne extra hervorgehoben (Abb. 10). Die Sonne ist die für alle Lebewesen auf der Erde notwendige Grund- und Urform des Lichts, jenes Lichts, das mehr noch als der Malerei allen fotografischen Medien (bis zu den halbdigitalen CCDs in digitalen Foto- und Videokameras) zugrunde liegt. Nicht zufällig war einer der frühesten Namen (nach point-de-vue), den Nicephore Niépce um 1826 der entstehenden Fotografie gab, Heliographie – also ‚Sonnenschrift‘.35 Die Inszenierung der Sonne – Kurosawa ist offenbar nicht nur „einer der größten Regisseure des Regens“36 – verweist aber nicht nur allgemein auf die Bedingung der Möglichkeit fotografischer Medien, sondern gerade deswegen konkret auf das Kino, da der blendende Blick ness. Commercial Photography in Paris, 1848-1871, New Haven/London 1994. 34 Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt/Main 2002, S. 7. 35 Vgl. Batchen, Geoffrey: „The Naming of Photography“, in: History of Photography, Vol. 17, No. 1 (1993), S. 22-32, hier S. 24. 36 Deleuze: Kino 1, S. 254. Dass Kurosawa (auch) ein Regisseur der Sonne ist, wie van Gogh ein Maler der Sonne war, zeigt sich schon in NORA INU (1949; Ein streunender Hund), wo vielleicht zum ersten Mal die Kamera auf die Sonne gerichtet wurde – zuvor war dies unüblich, vgl. Kurosawa, Akira: So etwas wie eine Autobiographie, München 1986, S. 220 (dort allerdings unter Bezugnahme auf RASHOMON (1950; Rashomon)). Mit Dank an Nicola Glaubitz.

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in die Sonne – vom Protagonisten nur mühsam mit der Kappe abgewehrt (Abb. 11) – ein wichtiger Bestandteil der Archäologie des Kinos ist: In der physiologischen Erforschung des Auges in den späten 20er Jahren des 19. Jahrhunderts formulierte Joseph Plateau das Gesetz von der ‚Trägheit des Auges‘, also dass Nachbilder eine Zeit lang verweilen.37 Dieses Wissen war die wesentliche Bedingung der Möglichkeit des kinematographischen Bewegungsbildes. Plateau erforschte die Nachbilder durch zu langes Starren in die Sonne, was ihn schließlich sogar das Augenlicht kostete: Wie van Gogh sein Ohr für die Malerei, so opferte Plateau seine Augen für das kommende Kino. Eine weitere Inspiration für die Erforschungen des Auges war im 19. Jahrhundert ausgerechnet „the often accidental observation of new forms of movement, in particular mechanized wheels moving at high speeds. Purkinje and Roget [andere Forscher neben Plateau; J.S.] both derived some of their ideas from noting the appearance of train wheels in motion [...]“.38 Mithin ist die Verbindung der Zugsequenzen mit der Inszenierung der Sonne – nur folgerichtig endet die Szene damit, dass in dem Moment, in welchem der Protagonist auf dem sonnendurchfluteten Feld dem gerade entschwundenen van Gogh nachzulaufen beginnt, das kräftige Pfeifen einer Dampflok erklingt – lesbar als eine komprimierte Chiffre für die epistemischen Bedingungen der fotografischen und kinematographischen Medien, die die Kunst im Allgemeinen und die Malerei im Speziellen irreversibel veränderten.39

37 Vgl. Crary, Jonathan: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge, Mass. 1990, S. 107-110. Für den hier verfolgten – eher diskursanalytischen – Argumentationsgang ist die Frage, ob Plateaus Überlegungen im Lichte heutiger neurophysiologischer Erkenntnisse noch gültig sind, schlicht irrelevant, vgl. dazu Anderson, Joseph/Anderson, Barbara: „Motion Perception in Motion Pictures“, in: Heath, Stephen/de Lauretis, Theresa (Hrsg.): The Cinematic Apparatus, London 1980, S. 76-95. 38 Crary: Techniques, S. 111. 39 Wie bekanntlich schon Walter Benjamin betont hatte, ist die im 19. Jahrhundert intensiv diskutierte Frage, ob die Fotografie (und später der Film) eine Kunst sei, zweitrangig gegenüber derjenigen danach, „ob nicht durch die Erfindung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe“ (Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (2. Fassung), in: ders.: Gesammelte Schriften, Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann (Hrsg.), Frankfurt/ Main 1980, Bd. I.2, S. 471-508, hier S. 486).

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Sequenz 6: 7’01, Im-Gemälde-Sein, der virtuelle Raum und der Index Die Malerei hat in der nächsten Sequenz ihren prominenten Auftritt – aber konsequenterweise als andere. Nun läuft der Protagonist – der Special-Effects-Schmiede Industrial Light & Magic sei’s entgegen landläufigen Behauptungen nicht gedankt40 – wirklich durch die Gemälde van Goghs wie durch die Landschaften in Sequenz 3. Aus der Kette potentieller wird eine Kette tatsächlicher Bilder bzw. Bildfragmente von Gemälden van Goghs. Einerseits liegt das ganz auf einer Linie mit der vorherigen Thematisierung der Sonne, des Zugs und damit des Kinos. So schreibt Jacques Aumont etwa über die Veränderung der Wahrnehmung im späten 19. Jahrhundert, die der Erfindung des Kinos vorausgeht, dass es zu einer „Konzeption der Welt als ununterbrochenes Feld potentieller Gemälde, das vom Blick des Künstlers gestreift wird, von einem Blick, der es durchläuft, durchforscht, der oft verweilt und der Ausschnitte des Feldes rahmt“41 kommt. Man kann darin das Szenario Kurosawas erkennen. Der Protagonist vollzieht, angestoßen durch die chochafte Begegnung mit dem Zentrum der Bildwelt – nach einem schönen Wort Max Imdahls –, den Übergang vom wiedererkennenden zum sehenden Sehen. Er läuft wieder durch Landschaften und an Häusern vorbei, doch sieht er nunmehr allein ihr Kolorit, Hell/Dunkel, Masse, Raum, Fläche/Tiefe. Der Übergang zu Sequenz 6 wird durch den abrupten Helligkeitsunterschied 40 Vgl. Cotta Vaz, Mark/Duignan, Patricia Rose: Industrial Light & Magic: Into the Digital Realm, New York 1996, S. 172-176. Dort wird betont, dass Industrial Lights & Magic die Spezialeffekte für die Episoden 1 und 6 in YUME gemacht habe – also nicht für die Krähen. Laut www.imdb.de, 26.08.2004 hat auch eine gewisse Produktionsfirma ‚Den Films‘ an den Effekten für YUME mitgearbeitet. Manuel Alducin, ein Kenner der Special Effects-Szene, dem sehr gedankt sei, schrieb mir in einer E-Mail von 26.08.2004: „I’m guessing Den Films is/was some sort of VFX [Visual Effects] or CG [Computer Graphics] facility in Japan. [...] Back in those days digital compositing was fairly new and ILM, though they had digital capabilities, still did mostly optical compositing. I’m guessing, from what you described [die Krähen-Episode], that they had some early video compositing systems. Checking their credits it seems Dreams was the only film they worked on, so maybe they were assembled in house by the production. I’m not sure how to contact them, seems they are long gone. [...] The film has several credits for Den Films Special Effects, and see if you can find a reference in Japan.“ Leider waren diesbezügliche Versuche bis zum Zeitpunkt der Fertigstellung des vorliegenden Textes erfolglos. 41 Aumont, Jacques: „Projektor und Pinsel. Zum Verhältnis von Malerei und Film“, in: montage/av, Bd. 1.1 (1992), S. 77-90, hier S. 80f.

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zwischen der Einstellung auf dem Kornfeld und der folgenden Einstellung unterstrichen. Dann wird nochmals auf die Sonne angespielt (Abb. 12) – diesmal aber schon in Form einer von van Gogh gemalten Sonne in Großaufnahme.42 Dabei ist auffällig, dass das Bild wie durch Hitzeschlieren erscheint. Diese Überlagerung von ‚Realraum‘ und ‚Bildraum‘ ist das Scharnier zwischen den vorherigen Sequenzen und der jetzt folgenden Bewegung durch den virtuellen Raum43 der Malerei selbst.

Abb. 12

Abb. 13

Denn ab nun bewegt sich der Protagonist durch eine Serie von neun Einstellungen (7’15-8’57), in denen je ein Ausschnitt aus einer Zeichnung bzw. einem Gemälde van Goghs den Hintergrund bildet. Dabei beginnt Kurosawa in den ersten drei Einstellungen mit Ausschnitten aus drei Zeichnungen van Goghs.44 Diese Reihenfolge – erst die Zeichnungen und dann die Gemälde – ist wahrscheinlich ein Verweis auf die Arbeitsweise van Goghs, der oft Vorzeichnungen zu seinen Gemälden anfertigte (und auch auf seine Biographie, denn er begann als Zeichner und nicht als Maler).45 Abb. 13 zeigt die dritte dieser Einstellungen. Man sieht einen Ausschnitt aus der Zeichnung Landhäuser mit Strohdächern (Mai 1890).46 Besonders bemerkenswert ist in dem hier gewählten Moment die Verdeckung des Protagonisten durch einen gezeichneten Busch – ein Verfahren, welches auch in einigen anderen Einstellungen dieser Sequenz eingesetzt wird, besonders markant in der siebten, wo der Protago42 Ich konnte nicht herausfinden, ob es sich um einen Ausschnitt aus einem Gemälde von van Gogh handelt oder um eine verfremdete Realaufnahme. Der catalogue raisonné jedenfalls enthält kein vergleichbares Bild. 43 Im Sinne von Esposito: „Illusion und Virtualität“, S. 202. 44 Die ersten beiden Einstellungen zeigen Ausschnitte aus den Zeichnungen Straße nach Tarascon, 31.7.-6.8.1888 und Straße in Saintes-Maries, Juli 1888 (vgl. Hulsker: The New Complete Van Gogh, S. 351 und 343). 45 Vgl. van der Wolk, Johannes: „Van Gogh the Draughtsman at his Best“, in: Vincent van Gogh. Drawings, S. 15-21. 46 Vgl. Vincent van Gogh. Drawings, S. 322.

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nist durch einen Ausschnitt des Gemäldes Große Platanen (zweite Version, Dezember 1889, Abb. 14)47 hinter einem Baum her und dann zwischen den Bäumen nach vorne aus dem Bild läuft (Abb. 15). Während also einerseits die Bildausschnitte horizontal entlang der Zeitachse zu einem großen Raum (‚die Welt van Goghs‘) verkettet werden, wird der Raum der Bilder selbst vertikal in die Tiefe geöffnet, d.h. die in der Malerei (und anderen Flächenbildern) irreversibel abgeschatteten Objekte bekommen ihre Dingräumlichkeit (ihre Rückseite) zurückerstattet. Der Protagonist dringt in die „profondeur vertigineuse du monde de van Gogh“48 ein. Der Bildraum wird in einem ganz direkten Sinn in ein Raumbild, ein interaktiv betretbares Bild umgewandelt: Das zeigt sich nicht allein, aber besonders deutlich in Abb. 15 – da der Protagonist zudem noch im Bild einen Schatten wirft; der dunkle Fleck am Fuß der linken, großen Platane ist eben dieser.

Abb. 14

Abb. 15

Aber Kurosawas Inszenierung ist noch komplexer. Nicht nur thematisiert er Fläche und Raum, auch anderweitig ist der Vergleich zwischen Abb. 14 und Abb. 15 aufschlussreich: Alle von van Gogh in dem Gemälde dargestellten Personen wurden entfernt49 – obwohl der Maler gerade in diesem Bild auf sie besonderen Wert legte: „The idea that figures, however small, can determine the character of a composition was one which 47 Vgl. Vincent van Gogh. Paintings, S. 245. Die anderen verwendeten Gemälde, bis auf das vorletzte (Einstellung 36, 8’31, s.u.), sind in: Vincent van Gogh. Paintings auf den S. 262, 259, 134, 209 zu finden. 48 Tassone, Aldo: Akira Kurosawa, Paris 1990, S. 300. 49 An den Stellen, wo sich die Personen befanden, scheint mir das Bild leicht verschwommen zu sein – es könnte sich dabei um die Spuren der Retusche handeln. Allerdings: Da sich nicht genau eruieren ließ, wie diese Sequenz effekttechnisch hergestellt worden ist, seien die Schlussfolgerungen mit aller Vorsicht zu genießen.

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van Gogh had learnt from the art of Japanese prints [...].“50 Wieder zeigt sich hier eine bedachte Auswahl der Bilder durch Kurosawa, welche die wechselseitigen Einflussnahmen westlicher und japanischer Bildtraditionen unterstreicht. Außerdem demonstriert er darüber hinaus im Eingriff in das Bild van Goghs eine Unterwerfung der einzelnen Bilder unter die Logik des Films: Medien transformieren andere Medien, wenn sie sie darstellen, sie bilden sie niemals 1:1 ab. Im Unterschied zu Kunstvermittlungs-Fernsehsendungen, die uns die ‚Wahrheit‘ des ‚Werkes‘ durch eine inszenierte Pseudo-Transparenz tendenziell autoritär vermitteln wollen,51 geht es Kurosawa nicht um eine – vielleicht sowieso unmögliche – Werkvermittlung. Ebenso wie van Gogh die japanischen Holzschnitte zu seinem Zweck filterte und transponierte, so unterwirft Kurosawa die Bilder van Goghs nun seinerseits einer Transformation und Transposition – und legt so auch den immer schon transponierenden Charakter medialer Repräsentationen von Medien offen. Und gerade diese Inszenierung der Differenz zwischen Bild und Reproduktion unterstreicht – selbst wenn sie nicht mit digitalem, sondern analogem Videocompositing gemacht worden ist – etwas, das gerade zu der Zeit, als YUME in die Kinos kam, virulent war: Die Anwendung digitaler Verfahren zur Retusche war in der Frühphase der populären Ausbreitung digitaler Bildbearbeitungstechniken Hauptdiskussionsgegenstand – kurz vor YUME52 erschien im Februar 1990 Adobe Photoshop 1.0. Die Diskussion hockte auf einem schon länger schwelenden Horror vor den Potentialen digitaler Retusche auf – bereits 1982 hatte die Zeitschrift National Geographic einen Eklat ausgelöst, als sie auf einem Titelblatt der Gestaltung halber die Pyramiden von Gizeh näher aneinander rückte. Man befürchtete den Verlust des Wirklichkeitsbezuges fotografisch aussehender Bilder durch solche und andere ‚Manipulationen‘, z.B. die Entfernung missliebiger oder die Schönung zu liebender Personen etc.53 Dabei wurde – gefördert durch solche Metaphern wie die ‚Paletten‘ bei Photoshop – sehr bald der Vergleich zwischen den Verfahren der Bildbearbeitung mit der Malerei lanciert. Schon 1992 hatte W. J. Mitchell in 50 Vincent van Gogh. Paintings, S. 243. 51 Vgl. kritisch dazu Winter, Gundolf: „Kunst im Fernsehen“, in: Korte, Helmut/Zahlten, Johannes (Hrsg.): Kunst und Künstler im Film, Hameln 1990, S. 69-80. 52 YUME kam zuerst am 11.5.1990 in Frankreich in die Kinos. In Japan lief der Film am 25.5.1990 an. Daten laut URL: www.imdb.com, 16.8.2004. 53 Vgl. Verf.: „Das Ende der Welt. Analoge vs. digitale Bilder – mehr und weniger ‚Realität‘?“, in: Verf./Böhnke, Alexander (Hrsg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, S. 335-354.

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seinem einflussreichen Buch The Reconfigured Eye die seitdem oft unreflektiert wiederholte These aufgestellt, die leichte Manipulierbarkeit des digitalisierten Bildes verwische die Grenze zwischen Fotografie und Malerei,54 da das Bild Pixel für Pixel bearbeitet oder konstruiert werden kann – scheinbar wie in der Malerei – und so der Künstler nicht beschränkt bleibt auf die Auswahl eines Ausschnitts und evtl. die Nachbearbeitung eines Bildes, das sich ohne sein Zutun durch die Tätigkeit des Lichts (der Sonne) selbst aufgezeichnet hat.55 Unlängst noch behauptete Rainer Metzger zur Digitalisierung und Bildbearbeitung: „Das Ende des Fotos bedeutet die Rückkehr von Prinzipien der Malerei.“56 So pries auch der Verlag Schirmer und Mosel in seiner Ankündigung von Jörg Sasses Fotobuch Arbeiten am Bild den bekanntlich mit der elektronischen Bildbearbeitung von gefundenen Fotos arbeitenden Künstler mit den Worten: „Aus dem Photographen ist so etwas wie der erste elektronische Maler geworden.“57 Insofern kann die Differenz zwischen van Goghs Urbild und Kurosawas Abbild gerade im Zusammenhang mit der Darstellung von Malerei-als-Welt als ahnungsvoller Vorgriff auf das befürchtete und behauptete ‚Malerei-Werden‘ der weltvergewissernden Bilder der Fotografie verstanden werden. In diesem Lichte kann auch die vorletzte Einstellung der Sequenz gelesen werden. Der Protagonist, Kurosawas alter ego, läuft von rechts durch einen weiteren Ausschnitt eines Gemäldes – es handelt sich dabei 54 Vgl. Mitchell, W.J.: The Reconfigured Eye, Cambridge, Mass./London 1992, S. 7 und 30. Unlängst unreflektiert wiederholt von Hemken, KaiUwe: „Von Sehmaschinen und Nominalismen. Anmerkungen zur digitalen Photographie von Andreas Gursky und Thomas Ruff“, in: Steinhauser, Monika (Hrsg.): Ansicht Aussicht Einsicht, Düsseldorf 2000, S. 29-39, hier S. 36. 55 Vgl. Lüdeking, Karlheinz: „Pixelmalerei und virtuelle Fotografie. Zwölf Thesen zum ontologischen Status von digital codierten Bildern“, in: Spielmann, Yvonne/Winter, Gundolf (Hrsg.): Bild – Medium – Kunst, München 1999, S. 143-148, der streng zwischen „hergestellten“ und „verursachten“ Bildern unterscheidet, bei ersteren – wie der Malerei – einen „nahezu grenzenlose[n] Spielraum von Möglichkeiten“ sieht, während bei letzteren – vor allem Fotografien – von „darstellerische[r] Freiheit [...] keine Rede sein“ könne. Digital codierte Bilder können beiden Modi entsprechen: „Ihr Status gleicht entweder dem von Gemälden oder dem von Fotografien“. So dass gilt: „Wer einen Computer zur Gestaltung einer Bildfläche benutzt, arbeitet unter denselben Bedingungen wie ein Maler“. 56 Metzger, Rainer: „Medium und Methode, Mechanik und Modell. Die MFragen der Fotografie“, in: Frame, Nr. 11 (2002), S. 90-93, hier S. 92. 57 Unter: http://www.schirmer-mosel.de/TitelDetailEinWKE.php3?1822, 13.8. 2004. Vgl. Sasse, Jörg: Arbeiten am Bild, Keul, Andreas (Hrsg.), München/ Paris/London 2001.

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ausgerechnet um das Bild Landschaft mit Wagen und Zug in der Ferne (Juni 1890),58 einem der ganz wenigen Gemälde van Goghs, auf dem ein Zug dargestellt wird, was nach den obigen Überlegungen zur Rolle der Eisenbahn kaum verwundert. Allerdings ist das Bild so ausgeschnitten, dass der Zug gar nicht zu sehen ist. Zunächst ist die Einstellung sehr nah gefilmt. Der Protagonist steht vor abstrakt anmutenden, stark vom Pinselduktus gekennzeichneten Farbflächen, die sich in der Folge der Sequenz – in dem Maße, in welchem die Kamera herauszoomt – als Elemente eines Bauernhauses erweisen (Abb. 16). Es geht um den Aufbau des Bildes aus farbigen Grundelementen – ist es ein Zufall, dass der Protagonist ein kariertes Hemd trägt?59 Waren es in Abb. 5 jedoch die regulären, angemalten Bausteine, aus denen die Brücke verfertigt wurde, sind es hier stark pastos wirkende Farbfelder, zumal vorwiegend in den Farben gelb, blau, rot und grün – also den Grundfarben sowohl der subtraktiven (Malerei, Fotografie), als auch der additiven (Fernsehen, Video, Computermonitore) Farbmischung. Dieser Verweis auf einige der bildbestimmenden Parameter (Bildelemente und Grundfarben) wird ergänzt durch die Inszenierung des Pinselduktus. Dieser ist konventionell als Handschrift des Künstlers und somit als Substitut der Signatur lesbar, bei medientheoretisch präziserer Betrachtung vor allem aber als Index, also im Sinne von Peirce als über Kausalität signifizierendes Zeichen. Die Unterschrift als grafische Form ist zunächst uninteressant, entscheidend ist sie als (notwendig konventionalisiertes und insofern stets auch fälschlich zitierbares)60 Zeugnis, dass der Unterzeichnende anwesend war. In diesem Sinne ist der Pinselduktus an der Malerei das einzig indexikalische Moment: Der Duktus bezeichnet den Maler, der – frei nach Barthes – da gewesen sein muss, damit ein Pinselduktus überhaupt ist und nicht vielmehr nicht (und so wird er in modernen Paint-Programmen simuliert, um einen bestimmten ‚Style‘ vorzutäuschen). Insofern ist gerade der Duktus jenes Moment der Malerei, das diese mit der Fotografie verbindet.61 D.h. mit der Inszenierung des Pinselduktus, dem Indexikalischen der Malerei, wird explizit auf 58 Vgl. Hulsker: The New Complete Van Gogh, S. 463. 59 Immerhin ließ sich van Gogh in einem Brief an Albert Aurier (mutmaßlich vom 12. Februar 1890) über die „hübschen karierten schottischen Stoffe“ aus. Vgl. Erpel, Fritz (Hrsg.): Vincent Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 5, Bornheim-Merten 1985, S. 328. 60 Vgl. Derrida, Jacques: „Signatur, Ereignis, Kontext“, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 291-314. 61 Vgl. Verf.: „Das Malen des Malens. Malerische Darstellungen des Malprozesses von Vermeer bis Pollock“, in: Kritische Berichte, Nr. 1 (1999), S. 17-28.

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jenes Prinzip verwiesen, mit welchem – so glaubte man um 1990 vorwiegend – die digitalen Bilder brechen. Kurosawa unterläuft mithin die vorschnelle Identifikation von digitalen Bildern und Malerei anhand des Kriteriums der Nicht-Indexikalität – und stellt dadurch allzu einfache Zuschreibungen in Frage. Wie dem auch sei: Der Protagonist läuft links aus dem Bild heraus.

Abb. 16

Sequenz 7: 8’58, noch einmal: Raum und Fläche In der nächsten Einstellung kommt der Protagonist von rechts ins Bild. Er läuft durch eine jetzt wieder fotografisch aufgenommene Wiese. Er blickt nach rechts und sieht van Gogh auf einem Feldweg zwischen blendend gelben Kornfeldern am Horizont, über dem sich ein klarer blauer Himmel erhebt, verschwinden. In dem Moment, in dem van Gogh den Horizont erreicht, fliegen mit lautem Geschrei viele – sehr synthetisch anmutende – schwarze Krähen auf (Abb. 17). Das buchstäbliche Verschwinden van Goghs in der Tiefe des Raums wird hier kontrastiert mit den Krähen, die wie kleine schwarze Risse in der Bildoberfläche wirken, denn die Krähen selbst haben keinerlei innere Kontur und Plastizität. Nochmals wird – quasi als Bekräftigung der in Sequenz 6 vorgenommenen Verschiebung vom Bildraum zum Raumbild – der Gegensatz von Fläche und Tiefe (ein zentrales Thema Kurosawas) iteriert.

Abb. 17

Abb. 18

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Sequenz 8: 9’31, Coda (siehe Sequenz 1): Die Rahmung, das Archiv und das Museum Der Übergang zur letzten Einstellung der Sequenz wird erneut durch das Zuggeräusch unterstrichen. Der Protagonist ist wieder im Museum, steht vor dem Getreidefeld mit Raben und zieht ergriffen seine Mütze (Abb. 18). Diese Demutsgeste im Kontext jener Institution – dem Museum –, welche Objekte durch Archivierung,62 Dekontextualisierung und die Erzeugung auratischer Distanz erst mit dem Kultwert der Kunst ausstattet,63 kann als fast schon ironische Geste verstanden werden, da van Gogh bekanntlich museale Weihen zu Lebzeiten versagt blieben. Diese allerletzte Sequenz wiederholt die allererste durch Rekurs auf den musealen Raum. So thematisieren die beiden Episoden, welche die ganze Episode einschließen und rahmen, selbst nicht nur die Bildrahmung (s.o. zu Sequenz 1 und hier Abb. 18, in welcher wieder der üppige goldene Rahmen das Getreidefeld mit Raben einschließt und so nachgerade penetrant den Wert des ‚Werks‘ unterstreicht), sondern auch die diskursive, institutionelle und architektonische Rahmung, durch die ‚geniale‘ Künstler wie van Gogh – oder Kurosawa – retrospektiv erst konstruiert werden. Vielleicht ist dies der ‚dekonstruktivste‘ Moment der gesamten Episode, insofern Kurosawa am Beispiel des paradigmatisch erst verkannten, dann von Institutionen wie der Kunstkritik und dem Museum unbezahlbar gemachten ‚Genies‘ van Gogh die diskursiven, institutionellen und architektonischen Rahmungen selbst (unbewusst?) thematisiert, die auch einen Text wie den vorliegenden allererst ermöglichen. Auch Kurosawa wird vom Rahmen des musealisierten Kanons eingerahmt: Er muss auf jene kanonisierten, in unzähligen Katalogen reproduzierten Bilder van Goghs zurückgreifen, um künstlerische ‚Authentizität‘ und ‚Genialität‘ überhaupt erst andeuten zu können – und stellt deswegen das Getreidefeld mit Raben so in den Mittelpunkt, obwohl es, wie neuere Forschungen zeigen, wohl nicht das letzte Bild vor van Goghs Selbstmord darstellt.

62 Die Debatten um das museale Archiv sind umfänglich und komplex – es sei nur darauf hingewiesen, dass sich dem ca. Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Museum als materiellem Archiv bald schon das ‚imaginäre Museum‘ (Malraux) durch die Fotoreproduktionen und neuerdings die Datenbank als elektronisches Archiv hinzugesellte. Vgl. Foster, Hal: „Das Archiv ohne Museen“, in: Wolf, Herta (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt/Main 2002, S. 428457. 63 Vgl. O‘Doherty, Brian: Inside the White Cube. The Ideology of the Gallery Space, Santa Monica 1986.

DER (DIGITALE) FILM

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Fazit: Die Frage nach den Medien Festzuhalten bleibt: Kurosawa ist ein Regisseur, der sich offenkundig intensiv mit Bildmedien und ihren Formen auseinandergesetzt hat – über die subjektiven und autobiographischen Verweise64 hinaus. Ob alle der hier diskutierten Anschlüsse ‚intendiert‘ waren – manche waren es sicher, andere sicher nicht, sie legen eher ein ‚(inter)mediales Unbewusstes‘ frei – tut nichts zur Sache. Deleuze hat schon 1985, also 5 Jahre vor Erscheinen von YUME, auf die transsubjektiven Aspekte von Kurosawas Arbeit hingewiesen. Auch in der hier vorgeschlagenen Lektüre der Krähen-Episode ging es um „das Träumerische [‚Träume‘! J.S.] Kurosawas, das die halluzinatorischen Visionen nicht bloß zu subjektiven Bildern, sondern vielmehr zu Denkfiguren werden lässt, die die Gegebenheiten einer transzendenten Fragestellung offen legen, insofern sie zur Welt, zum Innersten der Welt gehören“.65 Die Visionen, Denkfiguren in der diskutierten Episode legen – nach Sequenz 1: Rahmung; Sequenz 2: Malerei, Rasterung; Sequenz 3: Malerei, Farbe; Sequenz 4: Film; Sequenz 5: Fotografie/Film; Sequenz 6/7: Malerei, virtueller Raum, Index; Sequenz 1 und 8: Rahmung, Archiv, Museum – die Fragestellung nach den Medien offen. Und diese Fragestellung ist nicht nur transzendent (was auch immer das bedeuten soll),66 sondern vielleicht sogar transzendental, denn die Medien sind das ‚Innerste der Welt‘, insofern sie ‚Welt‘ allererst eröffnen oder verschließen. Die Krähen-Episode dreht sich in der Inszenierung der Eröffnung einer Welt durch Bilder (Medien) ja um nichts anderes. Und diese Inszenierung zeigt auch: Mit den digitalen Medien wird (scheinbar, angeblich) der Raum des Bildes selbst zur Welt und nach diesem Umbruch die Welt zu einer anderen. Man kann nicht umhin zu vermuten, dass Kurosawa dies geahnt hat.

64 Auf die sich z.B. Sato, Tadao: „Träumereien“, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Nr. 8 (1990), S. 99, 103 oder Yoshimoto, Mitsuhiro: Kurosawa. Film Studies and Japanese Cinema, Durham 2000, S. 358-363 konzentrieren. 65 Deleuze: Kino 1, S. 256. 66 Vgl. Deleuze, Gilles: Cinema 1. L’image mouvement, Paris 1983, S. 258/ 259: „D’où l’onirisme de Kurosawa, tel que les visions hallucinatoires ne sont pas simplement des images subjectives, mais plutôt des figures de la pensée qui découvre les données d’une question transcendante en tant qu’elles appartiennent au monde, au plus profond du monde […].“

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KONTROLLIERTE AVANTGARDE UND PRÄSENTATIONALISMUS ÄSTHETISCHE STRATEGIEN IN HAMMETTS RED HARVEST UND KUROSAWAS YOJIMBO1 „Poisonville was beginning to boil out under the lid […].“ Red Harvest, S. 115 „The town’s beginning to boil, like this pot.“ Yojimbo, 0 : 53’072

Es ist bislang unklar gewesen, ob Dashiell Hammetts 1929 erstmals in Buchform veröffentlichter Roman Red Harvest die Vorlage zu Akira Kurosawas YOJIMBO (1961; Yojimbo – Der Leibwächter) ist. Einige Details – wie die oben angeführten Zitate – stimmen erstaunlich gut überein. Wenn man aber mit philologischer Akribie den Grad der Originaltreue von Kurosawas Version zu ermitteln versucht, stößt man nur auf eine lose Adaption.3 Die Frage der Originaltreue ist jedoch ohnehin von 1 Ich danke Jens Schröter für seine kritische Lektüre des Textes und für seine hilfreichen Kommentare. 2 Hammett, Dashiell: Red Harvest (1929), New York 1992, S. 115; Kurosawa, Akira: YOJIMBO, Japan 1961, zitiert nach den englischen Untertiteln der 2000 vom British Film Institute herausgebrachten DVD. Die Zeitzählung läuft von Beginn des Films. 3 Um Red Harvest als mögliche Vorlage für YOJIMBO gibt es eine lange Diskussion. Allein David Desser geht (ohne weitere Belege) davon aus, dass es sich um eine Adaption handelt. Vgl. ders.: The Samurai Films of Akira Kurosawa, Ann Arbor 1983, S. 101, vgl. ähnlich Galbraith, Stuart: The Emperor and the Wolf. The Lives and Films of Akira Kurosawa and Toshiro Mifune, New York/London 2002, S. 313. Rolf Niederer zitiert dagegen Sergio Leone, der sein Plagiat von YOJIMBO, PER UN PUGNO DI DOLLARI (1964), mit dem Hinweis verteidigte, er und Kurosawa hätten – ohne Angabe der Quelle – auf Carlo Goldonis Il servitore di due padroni zurückgegriffen (Niederer, Rolf: „High Noon in Nippon“, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Nr. 8 (1990), S. 80-82, 109, hier S. 82). Nach Auskunft

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marginalem Interesse. Bei Film und Text kommt es eher auf die besondere Art und Weise an, auf die Hammett und Kurosawa die einfache Plotvorgabe ‚Ein Held spielt zwei übermächtige, korrupte Mächte gegeneinander aus‘ modifizieren und präsentieren. Diese ähnlich angelegten ästhetischen Strategien haben für Red Harvest und YOJIMBO ganz ähnliche und ähnlich gegensätzliche Zuschreibungen herausgefordert. Beide sind als modernistische und innovative Werke gerühmt, aber auch als konventionalisierte Unterhaltung abgetan worden. Sie sind insofern Grenz- und Testfälle für solche Zuschreibungen. Die hier durchgeführte Gegenüberstellung von Kriminalroman und Film problematisiert daher auch die Reichweite der Beschreibungskategorie ‚Avantgarde‘4 auf dem Feld der populären Kultur. Die hier vorgeschlagene Bezeichnung ‚kontrollierte Avantgarde‘ überschneidet sich teilweise mit dem Begriff des Präsentationalismus, den Noël Burch für die japanische Ästhetik entwickelt hat. Daher steht die Frage der Tauglichkeit dieser beiden Termini für die Beschreibung einer gleichzeitigen Orientierung an Medienreflexion und Genrekonventionen in den folgenden Überlegungen im Mittelpunkt.

1. Die Erzählung Red Harvest wurde zwischen November 1927 und Februar 1928 in vier Teilen in dem Magazin Black Mask veröffentlicht. Für dieses preiswerte pulp-Magazin hatte Hammett bereits vorher Kriminalgeschichten um einen namenlosen Detektiv der fiktiven Continental Detective Agency in San Francisco geschrieben. Mit der Romanversion von Red Harvest gelang Hammett 1929 der langersehnte Schritt in die Welt der ‚ernsthaften‘ Literatur. Der Roman erschien bei dem renommierten von Teruyo Nogami handelt es sich bei YOJIMBO aber tatsächlich um eine Adaption Hammetts. 4 ‚Avantgarde‘ wird hier in der entscheidend von Clement Greenberg im Kontext der bildenden Kunst geprägten Bedeutung verwendet, nämlich als Synonym für Modernismus, das heißt für eine formal ausgerichtete, auf ihre eigenen medialen und materialen Voraussetzungen reflektierende Kunst. Im Bereich der avantgardistisch/modernistischen Literatur und des Films schließt dies auch das Zurückdrängen von Erzählzusammenhängen und Referentialität ein. Vgl. Greenberg, Clement: „Avant-Garde and Kitsch“ (1939), in: The Collected Essays and Criticism. 4 Bde., John O’Brian (Hrsg.), Bd. 1, S. 5-22, Chicago/London 1988, hier: S. 9, 17; zum Avantgardefilm vgl. Scheugl, Hans/Schmidt jr., Ernst (Hrsg.): Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms, 2 Bde, Frankfurt/Main 1974, hier Bd. 1, S. 29f., 80f..

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Verlagshaus Alfred Knopf, das auch die nachfolgenden vier Kriminalromane Hammetts verlegte. Wie Christopher T. Raczkowski zeigt, vermarktete Knopf Hammett als modernistischen Autor, und als solcher wurde er auch von anderen Schriftstellern – André Gide, Gertrude Stein, Robert Graves – akzeptiert. Stein hielt Hammett für einen der besten zeitgenössischen amerikanischen Schriftsteller, Gide glaubte, Hemingway und Faulkner könnten von ihm lernen.5 Die akademische Kritik zollte ihm gleichfalls recht schnell und kontinuierlich Respekt (1949 erschien der erste Aufsatz zu Hammett), und die inzwischen beachtliche Sekundärliteratur bemüht sich darum, Zweifel an Hammetts Zugehörigkeit zur Geschichte des amerikanischen Modernismus auszuräumen.6 Allerdings ragt auch bereits Hammetts bevorzugtes Genre, der Detektivoder Kriminalroman, in die Sphäre der ‚ernstzunehmenden‘ Literatur hinein. Ulrich Suerbaum attestiert dem Genre neben scharfen Gattungskonturen zwar eine durchgängige Beschränkung auf das Unterhaltsame, zugleich aber ein sehr hohes literarisches Niveau. Der Krimi spricht auch oder sogar vorwiegend ein durchweg an ‚hoher Literatur‘ geschultes Publikum an.7

5 Vgl. Raczkowski, Christopher T.: „From Modernity’s Detection to Modernist Detectives: Narrative Vision in the Work of Allan Pinkerton and Dashiell Hammett“, in: Modern Fiction Studies, Bd. 49, Nr. 4 (2003), S. 629-659, hier S. 653, 631. Zu Stein vgl. Marling, William: The American Roman Noir. Hammett, Cain, and Chandler, Athens, Georgia/London 1995, S. 106, zu Gide vgl. Metress, Christopher: „Introduction“, in: ders. (Hrsg): The Critical Response to Dashiell Hammett, Westport, Conn./London 1994, S. xv-xxxvii, hier S. xviii. In dem Magazin Black Mask bildete sich mit Hammett, Carroll John Daly und Raymond Chandler in den späten 1920er Jahren die hard boiled school heraus, vgl. Dooley, Dennis: Dashiell Hammett, New York 1984, S. 13. Hammett selbst hatte, so Dooley, durchaus hochliterarische Ambitionen und rezensierte regelmäßig modernistische Literatur. 6 Vgl. Metress, „Introduction“, S. xxi, Metress, Christopher: „Dashiell Hammett and the Challenge of New Individualism: Rereading Red Harvest and The Maltese Falcon“, in: Essays in Literature, Bd. 17, Nr. 2 (1990), S. 242-260, hier S. 242. Weniger zuversichtlich beurteilen Hammetts Status als akzeptierten Modernisten McGurl, Mark: „Making ‚Literature‘ of It: Hammett and High Culture“, in: American Literary History, Bd. 9, Nr. 4 (1997), S. 702-717, hier S. 702, 704, 706, und Thompson, Jon: „Dashiell Hammett’s Hard-Boiled Modernism“ (1993), in: Metress (Hrsg.): The Critical Response to Dashiell Hammett, S. 118-131, hier S. 118. 7 Suerbaum, Ulrich: „Der gefesselte Detektivroman. Ein gattungstheoretischer Versuch“, in: Vogt, Jochen (Hrsg.): Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte, München 1998, S. 84-96, hier S. 85f.

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Hammett liefert mit Erzählungen wie The Dain Curse oder The Maltese Falcon ein Paradebeispiel für eine Literatur, die sowohl das Register des Kriminalromans als auch das der modernistischen Literatur zieht. Sein Status als „both a daring original and a mere pulpster“8 beruht auf einer Verschränkung modernistischer und populärer Konventionen. Sprachreflexion und die scharfe Beobachtung moderner, depersonalisierter Gesellschaftssysteme sind mit einem zynischen Stil, der Beibehaltung von Krimi-Plots und der spektakulären Beschreibung von Gewalttätigkeit kombiniert. Red Harvest, Hammetts erster Roman, dreht allerdings auch das Raster der Kriminalgeschichte um: Es geht nicht um die Aufklärung eines Verbrechens und das Ergreifen eines Täters, sondern um die offene Bekämpfung von Gewalt durch mehr und unkontrollierte Gewalt. Die Erzählstruktur von Red Harvest folgt daher keinem linearen Plot, sondern einer Eskalationslogik.9 Das Geschehen wirkt ebenso zufallsbestimmt wie das Vorgehen des namenlosen Detektivs, kurz Continental Op(erative). Sein Mitarbeiter Mickey Linehan, der erst in der Mitte des Buches zur Verstärkung herangeholt wird, reagiert nicht umsonst mit völligem Unverständnis auf den Bericht des Op – er hatte eine verdeckte Ermittlung und ein zu klärendes Verbrechen erwartet: „I understand everything about it except what you have done and why, and what you’re trying to do and how.“10 Dabei hatte Hammett auch für seine Leser durchaus die Erwartung aufgebaut, man habe es mit einem klassischen Kriminalfall zu tun. Erzählt wird aus der Ich-Perspektive des Detektivs, der im Auftrag des Zeitungsverlegers Donald Willsson in der Bergbaustadt Personville, Montana, ermitteln soll. Bevor er erfährt, weswegen Willsson ihn hat kommen lassen, wird dieser ermordet. Der Detektiv bleibt und erhält – nachdem sich der Mord nebenbei und unspektakulär aufgeklärt hat11 – von dem Vater des Ermordeten den Auftrag, die Stadt zu ‚säubern‘: Willsson senior, vormals ein einflussreicher Magnat, wird die Gangster nicht mehr los, die er einige Jahre zuvor zur Niederschlagung von linken Gewerkschafterprotesten angeheuert hatte. Personville (oder im Dialekt der Gegend: Poisonville) wird nun von rivalisierenden Spielern, Schwarzbrennerbanden und käuflichen Polizisten kontrolliert. Obwohl Willsson später vor seiner eigenen Courage er8 Metress: „Introduction“, S. xvi, vgl. Thompson: „Dashiell Hammett’s HardBoiled Modernism“, S. 122, vgl. Pfeiffer, K. Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt/Main 1999, S. 114. 9 Marling: The American Roman Noir, S. 108. 10 Hammett: Red Harvest, S. 118. 11 Hammett: Red Harvest, S. 61.

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schrickt und dem Op den Auftrag entziehen möchte, will (oder kann) dieser sich nicht zurückziehen. Er hatte zunächst interveniert, um die latenten Spannungen zwischen den Parteien überhaupt sichtbar zu machen. Damit hat er sich aber in die Situation verwickelt: Er positioniert sich offen zwischen allen Fronten und baut gleichzeitig in alle Richtungen ein Netz vorgetäuschter Loyalitäten auf. Er empfiehlt sich durch gezielte Denunziationen dem Polizeichef Noonan und durch das Erschießen eines Polizisten dessen Gegenspieler Max Thaler. Mit Geldversprechen sichert er sich das Vertrauen der Edelprostituierten Dinah Brand, die über die wunden Punkte der führenden Köpfe Personvilles bestens informiert ist, zieht sich aber das Misstrauen ihres Protegés Dan Rolff zu. Seinen Plan, die einflussreichen Männer der Stadt gegeneinander aufzuhetzen, hält er dabei keineswegs geheim.12 Dass die Durchführung dieses Plans so schwierig ist (und der Roman sich – trotz einiger Ähnlichkeiten Poisonvilles mit einer frontierStadt – nicht in die Richtung einer Westernerzählung bewegt),13 liegt an der bald unübersehbaren Vielzahl der Figuren. Mit dem Schwarzbrenner Pete the Finn und dem Hehler Lew Yard tauchen auch in der zweiten Hälfte des Romans neue Figuren mit neuen Helfershelfern auf. Die wechselnden Konstellationen, Interessen und Loyalitäten machen die Situation für den Detektiv unkalkulierbar. Was sich jeweils aus einer Situation entwickelt und wie die einzelnen Figuren handeln werden, ist für ihn fast nicht zu antizipieren. Auf der erzählerischen Ebene verbieten sich überdies klischeehafte Lösungen: Die Vervielfältigung von Figuren und Plots14 depersonalisiert die geschilderten Konflikte. Gewalt, Korruption und Machtkämpfe stellen sich als Effekte struktureller, an sich ungreifbarer Gegebenheiten dar und entziehen sich einem direkten, handelnden Zugriff. Der Detektiv ist mit der moderneparadigmatischen Situation eines hochkomplexen und ‚Amok laufenden‘ Systems konfrontiert.15 Da rücksichtsloser Gewalteinsatz nicht mit den Vorschriften der Continental Detective Agency vereinbar ist, ist der Detektiv auf andere Weisen der Komplexitätsreduzierung – flexible Erwartungshaltungen

12 Hammett: Red Harvest, S. 68, 118. 13 Vgl. Porter, Joseph C.: „The End of the Trail: The American West of Dashiell Hammett“, in: The Western Historical Quarterly, Bd. 6, Nr. 4 (1975), S. 411-424. 14 Vgl. McGurl: „Making ‚Literature‘ of It“, S. 712, 714. 15 Vgl. Porter: „The End of the Trail“, S. 414.

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und Situationsdefinitionen16 – angewiesen. Er taktiert mit einem Informationsvorsprung hier und einem Loyalitätsguthaben dort. Basale Verhaltensregeln (wie Ehre oder Gewaltverzicht) gelten in Personville nicht; daher bestimmt der Zweck die Mittel und determiniert die Motivation. Der Detektiv bezähmt bei Bedarf eigene Gefühle oder betäubt sie mit Alkohol und Laudanum, bei Bedarf instrumentalisiert er sie aber auch und setzt sie ebenso wie körperliche Gewalt zur Zuspitzung und Klärung von Situationen ein.17 Allein Professionalität – das Bestreben, ‚seinen Job ordentlich zu erledigen‘ – bleibt für den Continental Op ein (ebenfalls gefährdeter) Referenzpunkt individueller Integrität.18 Der andere Referenzpunkt für die bis zur Inkohärenz flexibilisierten Restbestände von ‚Person‘ ist nicht das in der modernistischen Literatur Woolfs und Joyces zentrale Bewusstsein, sondern der Körper: Ein Selbstgefühl manifestiert sich zuverlässig in den Limitationen einer alternden, unattraktiven, für Prügeleien zu korpulenten und immensen Alkoholmengen nicht mehr gewachsenen Physis. Der Körper und unspezifische affektive Dispositionen fungieren als anthropologische Grundierung, die den forcierten Handlungszwängen in einer überkomplexen Situation ein Widerlager bietet. In ähnlicher Form ist ein solcher Durchgriff auf den Körper als Merkmal der Moderne zur Kenntnis genommen worden,19 z.B. von Foucault und von Theoretikern, die unter dem Stichwort der Biopolitik an ihn anschließen. Die Suspendierung selbstverständlicher, bedeutungsstiftender Referenzpunkte – Persönlichkeit, Moral, Verhaltensregeln – spiegelt sich in einer knappen, manchmal ‚telegrammartigen‘20 Syntax wider, die Informationen eher aufreiht als in Zusammenhänge bringt. Die folgende Passage etwa versammelt Wahrnehmungsdaten eines Polizistenmordes: „I 16 Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme (1984), Frankfurt/Main 1996, S. 418-425. 17 Vgl. Hammett: Red Harvest, S. 64, 153f. 18 Vgl. Metress: „Dashiell Hammett and the Challenge of New Individualism“, S. 243, Hammett: Red Harvest, S. 154. Die Signifikanz der professionellen Distanz als Garant eines minimal kohärenten Selbstbilds zeigt sich auch daran, dass der Detektiv ihren Verlust am meisten fürchtet; er reagiert mit Alpträumen und macht eine Gewissenskrise durch, als er sich in Kapitel 21 der Möglichkeit stellen muss, er könnte Dinah Brand im Laudanumrausch ermordet haben. 19 Vgl. Giddens, Anthony: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Stanford 1991, S. 164. 20 Vgl. Walker, John: „City Jungles and Expressionist Reifications from Brecht to Hammett“, in: Twentieth Century Literature, Bd. 44, Nr. 1 (1998), S. 119-133, hier S. 129.

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steadied my gun-arm on the floor. Nick’s body showed over the front sight. I squeezed the gun. Nick stopped shooting. He crossed his guns on his chest and went down in a pile on the sidewalk.“21 In diesem Kontext werden gelegentlich Parallelen zwischen Hammetts Darstellungsstrategien und dem Film gezogen: Die Disjunktion von kohärenten Selbst-, Körper- und Gesellschaftsbildern kann auf einen Umbruch in der Medienlandschaft des frühen 20. Jahrhunderts und auf damit verbundene Wahrnehmungsveränderungen bezogen werden.22 Reflektiert auch Hammett filmische Präsentations- und Wahrnehmungsweisen als Ausdruck und Ursache von Moderneerfahrungen? William Marling sieht Hammetts aktionsreiche Sequenzen als Versuche, filmische Eigenschaften („motion, visual veracity, and later, sound“) und spektakuläre Effekte (wie Verfolgungsjagden, Explosionen) einzuholen.23 Auch die zahlreichen Filmadaptionen von Romanen der hard boiled school, die ihrerseits das neue Genre des film noir ausbildeten, scheinen auf eine leichte Verfilmbarkeit hinzudeuten. Obwohl Hammetts Stil dem filmischen Prinzip der Montage einzelner, kontrastierender Augenblicke ähnelt und er das „Potential dynamischer, suggestiver und dennoch unbestimmter Bilder“24 ausnutzt, ist er nicht wirklich filmisch. Es fehlt ein entscheidendes Element – Anschaulichkeit. Seltsamerweise sind Hammetts Beschreibungen sowohl hochpräzise als auch ausdruckslos und abstrakt. In der Darstellung einer Schießerei beispielsweise, deren Zeuge der Continental Op und seine (mittlerweile) Geliebte Dinah Brand werden, benennt Hammett nur die fundamentalen Bedingungen der Möglichkeit von Sichtbarkeit: Bewegungsqualität, Gestalt, Position im Raum, Richtung. Konkretere, sinnliche Qualitäten bleiben (bis auf allgemeine Farbadjektive) ausgespart. A man leaned far out a front second-story window, a black gun in his hand. […] From a hedge by the road, a flash of orange pointed briefly up at the man in the window. His gun flashed downward. He leaned farther out. No second flash came from the hedge.25

21 Hammett: Red Harvest, S. 52. 22 Vgl. Schnell, Ralf/Pfeiffer, K. Ludwig: „Medienanthropologie und Medienavantgarde“, in: SPIEL, Jg. 20, Nr. 2 (2001), S. 174-190; Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zur Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart/Weimar 2000, S. 36, 48f. 23 Vgl. Marling: The American Roman Noir, S. 113 und S. 114, zum Folgenden vgl. S. 117. 24 Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre, S. 113. 25 Hammett: Red Harvest, S. 134f.

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Das Visuelle ist zwar in dieser Beschreibung Referenzpunkt der sprachlichen Deskription, doch es fehlt eine konkrete, sinnliche und suggestive Detailfülle, die imaginäre Vorstellungsbilder aufrufen könnte. Selbst der Informationsgehalt einer Feststellung kann gegen Null tendieren: „She decided she wanted to go places and do things.“26 Visualität an sich bleibt bedeutungs- und oft belanglos, wenn sie von emotionalen Wertungen freigestellt und aus narrativen Sinnzusammenhängen herausgelöst wird. Visuelle Details wirken beliebig. Diese Beliebigkeit kennzeichnet – folgt man Deleuze – durchaus das Prinzip des Films: Film ist ein System, das beliebige Momente aufzeichnet (und ihnen dann durch die sequenzierte Projektion einen Eindruck von Kontinuität verleiht).27 Auch Hammetts Sprache erschwert so die Vorstellbarkeit von Dingen, Situationen und sinnvollen Handlungsreihen. Sie lockert, wie K. L. Pfeiffer beobachtet, selbstverständlich gewordene Bindungen zwischen Sehen und Wissen, Sinn und Information.28 Der Film tut dies zwar prinzipiell ebenfalls. Auf der wahrnehmungsrelevanten Ebene (beim Betrachten eines projizierten Films) aber fällt das Beliebigkeitsprinzip nicht ins Gewicht, da die Sequenzierung und die filmischen Inszenierungstechniken Sichtbarkeit bereits in bedeutungsvolle Bilder überführt haben. Insofern bleibt der filmische Charakter der Texte Hammetts fraglich. Hammett ist insofern Modernist, als er mit dieser Lockerung ein Problem markiert, das erst kürzlich wieder in Form des Postulats eines pictorial turn aufgegriffen wurde und das sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Sprachskepsis und im linguistic turn artikulierte. Diese Problematik verbirgt sich auch hinter Hammetts Hervorhebung der semantisch-syntaktischen Eigenlogik des Textes. Diese Hervorhebung dient nicht dazu, die Referentialität von Sprache in Frage zu stellen. Es geht eher um die Verfremdung des Bezeichneten, hier eines Sekretärs, der sich auf das Sprachzeichen ‚face‘ reduziert: „The secretary’s frightened face appeared at the door. ‚Get out of here!‘ the old man roared at it, and the face went“.29 Wenn Hammett sich wie hier an der Semantik 26 Hammett: Red Harvest, S. 133. 27 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt/Main 1997, S. 18. Vgl. Hammett: Red Harvest, S. 131: „She took me into her living room, backed away from me, revolved, and asked me how I liked the new dress. I said I liked it. She explained that the color was rose beige and that the dinguses on the side were something or other […].“ 28 Vgl. Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre, S. 115, Pfeiffer, K. Ludwig: „Mentalität und Medium. Detektivroman, Großstadt oder ein zweiter Weg in die Moderne“, in: Poetica, Nr. 20 (1988), S. 234-259, hier S. 245, Raczkowski: „From Modernity’s Detection to Modernist Detectives“, S. 631. 29 Hammett: Red Harvest, S. 14f., Hervorhebung N.G.

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einzelner Wörter (und nicht an der Prätention einer beschriebenen Wirklichkeit) entlanghangelt, setzt er auf den Überraschungseffekt grotesk verzerrter Körperbilder.30 Auch die eigentlich konventionelle Beschreibung Dinah Brands überrascht, weil die Details – schiefer Scheitel, verrutschter Lippenstift, nachlässig geknöpftes Kleid in unpassender Farbe, Statur eines Mannweibs, Laufmasche – in scharfem Kontrast zu ihrem Ruf als geldgieriger, lasziver und männermordender Vamp steht.31 Körperreferenzen tragen darüber hinaus action und evozieren, im Modus der Groteske, eine affektive Aufladung des Beschriebenen. Hammetts Text verlässt sich auf ihre rezeptionsästhetische Funktion als Bezugsfelder, die dem vollständigen Auseinanderfallen von Visuellem und Bedeutendem, Sinn und Information einen zumindest assoziativen Zusammenhang und eine plausible Handlungsdynamik unterlegen. Das und seine Orientierung an Erzählkonventionen des Kriminalromans machen es verständlicherweise schwer, Hammett ohne weiteres als Modernisten zu sehen – seine tendenzielle Zertrümmerung narrativer und referenzieller Kohärenzprinzipien blieb (auch zu seinem eigenen Leidwesen) unvollständig.32 Aber möglicherweise weicht diese gezügelte, ‚kontrollierte Avantgarde‘ Problemen aus, die eine konsequent durchgeführte avantgardistische Strategie sich einhandeln würde und sich auch eingehandelt hat. Die ersten Generationen modernistischer Schriftsteller von Henry James über Ezra Pound bis Ernest Hemingway hatten es immer schwieriger gefunden, für ihre stilistisch und thematisch hochkomplexen Texte ein Publikum mit entsprechendem Lese- und Interpretationstraining zu finden. Wie Fredric Jameson beobachtet, wandten sich spätere Autoren wie Vladimir Nabokov und Alain Robbe-Grillet nach der modernistisch-formalistischen Verbannung des Erzählens kriminalistischen Plots zu. Die Kriminalgeschichte in Form eines (unernsten) Zitats bietet, folgt man Jameson, ein narratives Raster (oder einen Vorwand) für formales und „reines stilistisches Experimentieren“.33 Hammett hat die modernistische 30 Vgl. auch „a battered black touring car went down the street, […] crammed to the curtains with men.“ (S. 115). Die karikaturhafte, expressionistische Reduktion von Dingen auf eine bestimmte Eigenschaft (oder ein pars pro toto), die dann verzerrend generalisiert wird, verweist vorrangig auf die Selektionsfunktion des Sprachzeichens. Vgl. Walker: „City Jungles“, S. 119-133, hier v.a. S. 128. 31 Hammett: Red Harvest, S. 32. 32 Vgl. McGurl: „Making ‚Literature‘ of It“, S. 707. 33 Vgl. Jameson, Fredric R.: „Über Raymond Chandler“ (1970), in: Vogt, Jochen (Hrsg.): Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte, München 1998, S. 378-397, hier S. 379. Vgl. Pfeiffer: Das Mediale und das Imagi-

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Reduktion literarischer Sprache zwar zum für sich genießbaren Stilexperiment weitergeführt. Kriminalfälle garantieren aber auch – das bemerkt Jameson eher am Rande – affektives Interesse. Das zeigt sich bei Hammett besonders deutlich. Aber er legt damit gleichzeitig anthropologische Dispositionen bzw. Faszinationsmuster (Affekte wie Gewaltbereitschaft und Gier) frei, die vereinfachenden Stereotypen und populärliterarischen Klischees noch vorausliegen. Diese Art der freiwilligen Selbstkontrolle eines zunächst durchaus modernistischen Schreibprojekts34 kann daher die These untermauern, dass Avantgarde-Bewegungen insgesamt „radikale ästhetische Ausprägungen einer anthropologischen Spannung sind“ und „die Konfrontation zwischen ‚zahmen‘ und ‚wilden‘ Bildern und Inszenierungen des Menschen […] radikalisieren“.35

2. Mehr als 30 Jahre später greift Kurosawa in YOJIMBO (1961) das narrative Grundgerüst von Red Harvest auf. Obwohl er es bis zur Banalisierung vereinfacht und linearisiert – der Protagonist spielt zwei klar abgegrenzte Gegnergruppen gegeneinander aus –, treiben auch hier Zufälle und unvorhersehbare Entwicklungen die Handlung voran. Den Protagonisten (Toshiro Mifune), einen zerzausten, verlausten, rülpsenden Samurai ohne Lehnsherr (ronin), verschlägt es in eine Ortschaft, die von zwei rivalisierenden Händlern und den von ihnen angeheuerten Banditen in Atem gehalten wird. Er ist hungrig, lässt sich von der einen Seite als Leibwächter (yojimbo) anwerben und entschließt sich alsbald, die Parteien gegeneinander auszuspielen. Das zweifelhafte Resultat ist zwar eine befriedete, aber nach einem Gemetzel auch beinahe ausgestorbene Stadt. Kurosawa wählt ein historisches Setting, das den 1920er Jahren in Hammetts Roman, in denen sich eine Bergbaustadt mit starken frontierZügen zu einem frühkapitalistischen Pandämonium wandelt, gar nicht so näre, S. 115. Vgl. zu James und Pound Seeber, Hans Ulrich: „Vormoderne und Moderne“ in: ders. (Hrsg): Englische Literaturgeschichte, Stuttgart/ Weimar 1999, S. 306-351, hier S. 319, 337; zu Hemingways Problemen mit einem Publikum, dessen Voraussetzungen gestreut und unkalkulierbar waren, vgl. Boardman, Michael M.: Narrative Innovation and Incoherence. Ideology in Defoe, Goldsmith, Austen, Eliot, and Hemingway, Durham/ London 1992, S. 147f. 34 Hammett schrieb über seine Kriminalgeschichten 1928 an seine Herausgeberin Blanche Knopf: „Some day some body’s going to make ‚literature‘ of it.“ Zitiert nach McGurl: „Making ‚Literature‘ of It“, S. 706, vgl. S. 707, vgl. Dooley, Dennis: Dashiell Hammett, S. 13. 35 Schnell/Pfeiffer: „Medienanthropologie und Medienavantgarde“, S. 184f.

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unähnlich ist. Die Erzählung spielt um 1860, in der späten TokugawaZeit.36 Bereits vor der gewaltsamen Öffnung Japans für den internationalen Handel durch General Perry 1853 bröckelten die festen Hierarchien der japanischen Gesellschaft; Handel, Geld und Profit begannen gegenüber schichtspezifisch codierten Loyalitäten an Bedeutung zu gewinnen. Aber Kurosawa verwendet die historische Situation teils latenter, teils offener Anarchie, die YOJIMBO eingangs thematisiert,37 nur als Grundierung. Situationen und Schauplätze beziehen sich auf Filmgenres, nicht auf Geschichte. Der klassische Showdown, die staubige, windige kleine Stadt sind dem Western entlehnt, die Schwertakrobatik des ronin den Samuraifilmgenres. Den oft hervorgehobenen märchenhaften, irrealen Charakter des Films38 unterstreichen stark formalisierte, ihren Inszenierungscharakter und ihre Flachheit deutlich markierende Bilder. Der Soundtrack fällt (noch immer) aus dem Rahmen. Anstelle der üblichen orchestralen Filmmusik, die selten die Aufmerksamkeitsschwelle überschreitet, konfrontiert Masaru Sato die Bilder mit einer sperrigen, perkussiven Musik, die Jazz- und traditionelle japanische Instrumente kombiniert. Aufgrund dessen ist YOJIMBO als „an extraordinary modernist work“, aber auch als „truly nothing more than a fusion of the latter-day chambera tradition with the Hollywood Western“ gesehen worden.39 Für beide Positionen gibt es in Kurosawas Film Anhaltspunkte. Die Analyse konzentriert sich auch hier vorwiegend auf die form- und selbstreflexiven Momente und auf die Frage, welche Funktion ihnen zugeordnet wird. Wie in Hammetts Roman beherrschen Zufälle und unvorhersehbare Eskalationen die Handlung. Erst nach einer ausgedehnten Exposition (etwa 15 Minuten) nimmt der Protagonist mit der Bemerkung‚ „es wäre besser, wenn all diese Männer tot wären“ (0 : 14’46) Stellung zu 36 Zu dieser Datierung vgl. den Audiokommentar von Philip Kemp auf der DVD-Ausgabe des British Film Institute, 2000, und Prince, Stephen: The Warrior’s Camera. The Cinema of Akira Kurosawa, Princeton 1991, S. 222. 37 Ein Bauer streitet mit seinem Sohn, der sich, auf schnelles Geld erpicht, den Banditen der kleinen Stadt anschließen möchte, vgl. YOJIMBO 0 : 03’23 – 0 : 05’17. 38 Vgl. Goodwin, James: Akira Kurosawa and Intertextual Cinema, Baltimore/London 1994, S. 167; Prince: The Warrior’s Camera, S. 221, 235, S. 249. 39 Erstes Zitat: Russell, Catherine: „Men with Swords and Men with Suits. The Cinema of Akira Kurosawa“, in: Cineaste (Winter 2002), S. 4-13, hier S. 5; zweites Zitat: Burch, Noël: To the Distant Observer. Form and Meaning in the Japanese Cinema, London 1979, S. 318f. Chambera ist die Bezeichnung für ein japanisches Filmgenre, in dem Schwertkämpfe im Mittelpunkt stehen und ihre Brutalität als Selbstzweck inszeniert wird.

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der Situation, in die er geraten ist. Zunächst aber bleibt auch der Zuschauer im Ungewissen über die Gegebenheiten des Schauplatzes. Kurosawa reduziert den Informationsgehalt der Filmbilder, indem er Raum und Bewegung desorientierend entkoppelt. Noch während der Vorspann läuft, sehen wir Kopf und Schultern des Protagonisten in einer halbnahen Einstellung in leichter Untersicht. Seine Silhouette verdeckt die Berglandschaft im Hintergrund fast völlig. Dann schneidet Kurosawa auf seine etwas ziellos vorwärtsschreitenden Füße. Die Betonung liegt auf fragmentarischen Körperansichten als Indikatoren für Bewegung, während der durchquerte Raum visuell unbestimmt bleibt. Und offensichtlich überlässt auch der Protagonist die Richtung seines Fußmarsches dem Zufall, indem er an einer Wegkreuzung einen Ast in die Luft wirft und diesen die Entscheidung über seinen weiteren Weg fällen lässt. Der wandernde Samurai trifft dann am weiteren Schauplatz der Handlung ein, einer kleinen, menschenleeren Stadt. Die Figur scheint sich hier eher vor einer vertikalen Bildfläche zu bewegen als in einen dreidimensionalen Raum hinein: Die Figur tritt, einer Wischblende und einer gleich orientierten Kamerafahrt folgend, von rechts ins Bild. Dieses wirkt aufgrund der hohen Tiefenschärfe und der rechtwinkligen Position der Kamera zur Bewegungsrichtung flach, beinahe wie ein schmaler Bühnenraum.40 Kurosawa weist seinen Figuren einen Ort auf einem Schauplatz zu; er stellt nicht, wie in einem klassischen establishing shot, die objektiven Gegebenheiten eines Raums vor. Die folgende Sequenz aus halbnahen, von hinten und unten aufgenommenen Bildern von Kopf und Schultern des ronin führen erneut eine erkundende Bewegung vor, wobei die bildfüllende Figur für den Zuschauer verdeckt, was sie sieht. Die Suchbewegung des Protagonisten kulminiert in einem Bild, das gleichzeitig entsetzlich und komisch-grotesk wirkt: Ein kleiner Hund trabt mit einer abgehackten Menschenhand im Maul auf die Kamera zu, kontrastiv begleitet von einem nun einsetzenden witzigen musikalischen Motiv mit Flöten, Xylophon und Perkussionsinstrumenten. Im weiteren Verlauf der Exposition tritt das Motiv des Beobachtens in den Vordergrund: Der ronin, der sich im Laufe des Films den Namen Sanjuro Kuwabatake zulegt, sammelt im Laufe mehrerer Begegnungen (mit einem Bauern, mit dem Nachtwächter, mit der Bande Ushi-Toras und dem Wirt Gonji) erst einmal ausgiebig Informationen, bevor er einen 40 Donald Richie macht diese rechtwinklige Kameraposition mit ihrem Effekt, das Bild in die Fläche zu stauchen, auch in anderen Szenen des Films aus, vgl. Richie, Donald: The Films of Akira Kurosawa (1979), Berkeley/Los Angeles/London 1984, S. 153.

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Plan entwickelt. YOJIMBO ist insofern paradigmatisch für ein Prinzip, das Deleuze zufolge die Filme Kurosawas kennzeichnet: Erstens sind die situativen Gegebenheiten, die einer vollständigen Exposition bedürfen, nicht einfach die Gegebenheiten einer Situation. Vielmehr sind es die Gegebenheiten einer Frage, die sich hinter der Situation verbirgt, einer Frage, die in der Situation verhüllt ist und die der Held freilegen muß, um handeln und auf die Situation antworten zu können.41

Die Fragestellung, die das Interesse des Protagonisten in YOJIMBO leitet, ist aber nur in einem sehr rudimentären Sinn moralisch. Es wäre besser, wenn die Halunken tot wären, überlegt Sanjuro und legt sich einen entsprechenden Plan zurecht. Aber seine Definition der Situation ist wesentlich ästhetisch, und sein Umgehen mit dieser Definition wird auch so inszeniert.

Abb. 1 Die abgedunkelte Wirtsstube Gonjis (Abb. 1) erlaubt Sanjuro – und dem Kinozuschauer, der ihm wiederholt über die Schulter blicken darf – über zwei Filmminuten hinweg dosierte, unauffällige Blicke auf die Machenschaften der Gangster (0 : 12’14 – 0 : 14). Der Raum hat auf- und zuschiebbare, in verschiedene Richtung weisende Fensterläden. Durch diese Rahmen hindurch beobachtet er später die Bestechung des offiziellen Beamten durch den anderen Bandenchef Seibei (0 : 33’03 – 0: 34’17). Der Raum ist gleichzeitig eine camera obscura und ein Panoptikum. Vielleicht soll sie auch ein frühes Kino in Erinnerung rufen, in dem stumme Bilder von einem Erzähler begleitet wurden.

41 Deleuze: Kino I, S. 255.

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Kurosawa führt, wie Donald Richie beobachtet, hier vor, wie sich erst aus einer Kombination von Sehen und verbaler Belehrung darüber (oder wieder: aus einer Kombination von Information und Sinn) Verstehen ergibt.42 Aber über diese Mindestbedingung jeder Art von visueller Wahrnehmung hinaus verweist die mise-en-scène auch darauf, dass verstehende Sehakte sich auf kulturell etablierte ‚Rahmungsformen‘, auf Resultate einer „kollektiven Symbolisierung“43 stützen. Dieser Hinweis richtet sich an den Zuschauer, der die Filmbilder zusätzlich vor dem Hintergrund seiner Seherfahrungen mit Theater, Kino, Filmgenres und anderen, traditionellen Inszenierungsweisen von Visualität wahrnehmen kann: Viele Gegenlichtaufnahmen erinnern an Kalligraphie, die flächigen Bilder an die japanische Grafik. Dem Betrachter bereitet dieses reichliche Angebot an Augenfutter Vergnügen; der Protagonist, der sich als Regisseur versucht, hat mit der ästhetischen Inszenierung der Dinge nur begrenzten Erfolg.44 Nachdem Sanjuro Seibei seine Dienste wieder gekündigt hat, sind die beiden Parteien wieder gleich stark und gleich feige; als sie auf der Dorfstraße gegeneinander antreten, bleibt es bei einem grotesken Gefuchtel mit Knüppeln und Schwertern. Sichtlich amüsiert verfolgt Sanjuro die theatralischen Drohgebärden von einem Feuerwachturm aus, der deutliche Reminiszenzen an einen Regiesitz aufruft (0 : 28’19 – 0 : 29’55). Gonji spielt zu einem späteren Zeitpunkt erneut auf diese visuell angedeutete Position als Regisseur an, wenn er die direkte Frage an Sanjuro, nun in Ushi-Toras Diensten, richtet: „Is this a play that you wrote?“ Worauf Sanjuro antwortet, er habe die erste Hälfte geschrieben, aber Unosuke habe die zweite verändert.45 Mit Ushi-Toras Bruder Unosuke kommt tatsächlich unverhofft ein weiterer Faktor ins Spiel – der junge Mann ist erstens klug genug, um Sanjuros Doppelspiel zu durchschauen; zweitens ist er unberechenbar und im Besitz einer überlegenen Waffe (eines Revolvers). Von nun an läuft für Sanjuro nicht mehr alles nach Skript. Wie Hammetts Detektiv verliert er die Kontrolle über den von ihm angezettelten Konflikt. Er kommt nur zufällig mit dem Leben davon, um aber in einem langgedehnten Showdown Unosuke mit einem geschickten Dolchwurf zu besiegen.

42 Richie: The Films of Akira Kurosawa, S. 151. 43 Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 11, vgl. S. 58. 44 Vgl. Prince: The Warrior’s Camera, S. 224 f. 45 Kurosawa: YOJIMBO, 0 : 53’12, vgl. 0 : 53’21, zitiert nach den englischen Untertiteln.

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Die Aktionen des Protagonisten, die wie bei Hammett latente Spannungen zum Ausbruch bringen, finden bei Kurosawa eine Strukturanalogie in der ästhetischen Praxis des Inszenierens. Ästhetische Praxis kann man in der Moderne als das Strukturieren von Kontingenz definieren: als eine Form der Ordnung, die weder von ethisch-moralischen Wertsetzungen noch von Ursachen geleitet ist, deren sinnlich-kognitiv wahrnehmbare Effekte nicht formalisierbar sind und die daher provisorisch und flexibel bleibt. Der Protagonist ‚spielt‘ mit der Gewalt, die er vorfindet, indem er sie wie ein groteskes Theaterstück beobachtet und manipuliert. Techniken der Rahmung, Distanzierung und inszenatorischen Manipulation machen – im Film, aber vielleicht auch als Film – so etwas wie konkrete Wirklichkeit überhaupt erst einer Deutung zugänglich und für Handlungen verfügbar. Wie provisorisch und flexibel solche Situationsdefinitionen sind, zeigt (wie bei Hammett) die eigene, oft genug fatale Dynamik der von Sanjuro inszenierten Konflikte. Sie können von einer Sekunde auf die nächste von Spiel in blutigen Ernst umschlagen. Die Frage, die YOJIMBO nach Deleuze aufwerfen würde, wäre dann die nach den Kapazitätsgrenzen ästhetischer Ordnungsformen und wie man sie austestet, ohne selbst Schaden zu nehmen. Die hochgradig formalisierten Bilder in YOJIMBO sind zwar über das Motiv der Inszenierung mit der Diegese verwoben, gehen aber nicht völlig in der diegetischen Funktion auf. Gegenlichtaufnahmen, Tiefenschärfe, der Verzicht auf Diagonalen, häufige halbnahe Untersichten mit einer die Bildfläche beherrschenden Figurensilhouette drängen die Illusion eines dreidimensionalen Raums zurück und erzeugen extrem flach wirkende Bilder. Sie greifen erneut eine Stilform des japanischen Kinos der 1930er Jahre auf, die sich an die traditionell flächenorientierte japanische Grafik oder an Kalligraphien anlehnt und die Bordwell als ‚piktorialistisch‘ bezeichnet.46 Die gleichzeitige Isolierung ‚reiner‘ Bewegung von einem Tiefenraum wiederum erzeugt eine expressive, nicht mehr nur narrativ funktionelle Dynamik. Diese Elemente lassen zu keinem Zeitpunkt des Films die eigentliche Flachheit des Filmbildes vergessen, ebenso wenig wie die stark geschminkten, grotesken Banditenfiguren ihre Herkunft aus dem Kabuki verbergen können.47 Die Filmmusik bleibt 46 Vgl. den Beitrag von David Bordwell in diesem Band: „Visueller Stil im japanischen Kino, 1925-1945“. 47 Die Szene, in der Sanjuro seinen ihn suchenden Gegnern entkommt, indem er unter dem erhöhten Fundament eines Hauses wegkriecht, ist Richie zufolge eine direkte Anspielung auf eine Kabuki-Version von Chushingura. Richie spricht auch von einer „intended theatricality“ des Films. Vgl. Richie: The Films of Akira Kurosawa, S. 154.

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aufgrund ihrer ungewöhnlichen Instrumentierung und ihrer oft kontrapunktischen Verwendung als eigenes Element wahrnehmbar. Sie wirkt aber, wie Richie sorgfältig herausarbeitet, auch wieder auf die Bilder zurück – und zwar auf eine Weise, die von einer diegetischen Funktion nicht mehr gedeckt wird: „Mifune’s movements are not specifically ballet-like but the music gives the impression that they are.“48 Der Film erscheint, wie Richie nahe legt, als Kopplung distinkt bleibender, aber dennoch zusammenspielender Elemente: „It is because Kurosawa has seen through and re-ordered the ‚actual‘ visible world in terms of dance, spectacle, movement, composition, that we feel beauty.“49 Noël Burch hat diese Art der Kopplung als Präsentationalismus bezeichnet.50 Wenn sich dabei der ästhetische Effekt (wie Richie beobachtet) gewissermaßen zu Schönheit verselbständigt, erhöht dies im Gegenzug die Wirksamkeit visueller Schreckmomente. Die erste Kampfszene (0 : 17’07-0 : 18’50) verbindet eine eruptive und dennoch elegante Plötzlichkeit von Figuren- und Kamerabewegung mit einem unvermittelt einmontierten Bild eines abgehackten Arms und einer Blutfontäne (0 : 18’19-22); auf das deutlich vernehmbare Geräusch eines Schwerthiebs auf Fleisch folgt das gequälte Geschrei des Opfers. Auch das Schlussgefecht setzt solche naturalistischen Effekte.51 Der affektive Gehalt der Filmbilder spitzt sich so bei Kurosawa bis hin zu dem Eindruck zu, dass ihre Wirkung stärker sei als die realer Gegebenheiten.

3. Aus einer Perspektive, die an der westlichen Entwicklung der Künste seit etwa 1900 geschult ist, verfolgen Hammett und Kurosawa in den beiden diskutierten Werken eine vergleichbare ästhetische Strategie: einen kontrollierten Avantgardismus. Hammetts Red Harvest suspendiert die Funktionen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als selbstverständliche Aufgaben literarischer Sprache etabliert haben und deren ‚Realismus‘ aus Sicht des Modernismus überholt erschien: das Aufrufen imaginärer, anschaulicher Bilder im Rahmen einer Erzählung, die auf ganz-

48 49 50 51

Richie: The Films of Akira Kurosawa, S. 153. Richie: The Films of Akira Kurosawa, S. 155. Vgl. Burch: To the Distant Observer, S. 79, vgl. 98. Showdown und elegant choreographierte Fechterei wirken wie die formelhaften Zitate, die sie sind; erst danach verblutet Unosuke langsam in einer größer werdenden Blutlache, und Sanjuro hetzt hinter einem in höchster Verzweiflung nach seiner Mutter schreienden Banditen her.

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heitliche Sinnkonstitution angelegt ist.52 Hammett markiert, wie gesehen, eine tendenzielle Ablösung literarischer Sprache von dieser Funktion, um die Nichtselbstverständlichkeit insbesondere von Personen-, Handlungsund Körperkonzepten zu markieren und ihre anthropologischen Substrate sowohl freizulegen als auch auszubeuten. Kurosawa könnte man ebenfalls einen gebremst selbstreflexiven Gebrauch filmischer Mittel attestieren und ihn als Vertreter einer kontrollierten Avantgarde betrachten. Dagegen sprechen allerdings zwei Gründe. Erstens sind die selbstreflexiven Elemente in YOJIMBO wie in anderen Filmen Kurosawas in der Diegese verankert. Die Filmhandlung ist verstehbar, ohne dass man die selbstreflexive Ebene zur Kenntnis nehmen müsste; und die selbstreflexiven Elemente arbeiten der Narration und der Bildreferenz niemals entgegen. Zweitens ist da noch die japanische Ästhetiktradition. Diese weist schon seit langem formal ‚modernistisch‘ aussehende Elemente auf, ja beförderte im späten 19. Jahrhundert sogar die Herausbildung der klassischen Moderne. Noël Burch zieht daraus die Konsequenz, die formalen Parallelen zwischen japanischer Tradition und europäischem Modernismus noch enger zu ziehen. Seit der Heian-Zeit (794-1185), so Burch, war japanische Kunst ‚präsentationalistisch‘: Kabuki, bunraku und andere japanische Kunstformen verwenden Stimme, Ausdruck, Bild, Narration, Bewegung, Musik und Aufführungsraum eher additiv und als selbständig bleibende Elemente. Auch Erzählung ist nur Teil eines „field of signs“.53 Im frühen japanischen Film bis ca. 1945 erhält sich, so Burch, diese Präsentationalismustradition und teilt als solche nicht allein formale Elemente mit den westlichen Filmavantgarden: Beide Formen des Films sind, so Burch, mehr oder weniger konsequent konzeptualisierte Alternativen zu den repräsentationalen, hegemonialen, ideologiebehafteten Hollywoodkonventionen.54 Die Probleme dieser Analogisierung sind eingehend diskutiert worden. David 52 Vgl. zur kulturhistorischen Genese einer ‚halluzinierenden‘ Lesehaltung, die Gelesenes automatisch in Vorstellungsbilder umsetzt, Kittler, Friedrich: Dichter, Mutter, Kind, München 1991 und Siskin, Clifford: The Work of Writing: Literature and Social Change in Britain, 1700-1830, London/Baltimore 1998. Dass diese Lesehaltung wie auch ihr entgegenkommende literarische Strategien immer auch problematisiert und gebrochen wurden, ist klar, gerät in den Abgrenzungsbestrebungen modernistischer Strömungen in Literatur wie Kritik aber manchmal aus dem Blick. 53 Vgl. Burch: To the Distant Observer, S. 79f. und S. 98. 54 Vgl. Burch: To the Distant Observer, S. 16, 19f., 32, 98, 123f. Das Hollywoodkino privilegiert die Narration und verschleiert die künstlerischen Mittel; insgesamt strebt es eine Maximierung und Generalisierung des diegetischen Effekts an.

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Bordwell etwa geht auf Abstand zu Burchs marxistisch gefärbter Gleichsetzung von Formen mit ideologischen bzw. subversiven Zielen. Er zeigt, dass die japanische Aneignung des Massenmediums Kino im Kontext der Modernisierung keineswegs als ‚blinde‘ Fortführung von bildlich-inszenatorischen Traditionen anzusehen ist, sondern als bewusste Aktualisierung eigener kultureller Bestände im Rahmen importierter US-amerikanischer Filmkonventionen. Diese Aktualisierung resultiert, wie Bordwell argumentiert, nicht in einem ‚anderen‘, notwendigerweise avantgardistisch-subversiv codierten Kino, wohl aber in ästhetisch innovativen Stileigenschaften.55 Als ‚Variante‘ des klassischen Hollywoodkinos zeichnet sich der japanische Filmstil Bordwell zufolge durch Expressivität, Flamboyanz, Piktorialismus und eine Schärfung des Betrachterauges für Nuancen aus. Im Falle der Kopplung Stummfilm-Filmerzähler spricht er auch von einer „Sättigung“ der performativen Situation.56 Diese Merkmale konvergieren weitgehend mit dem, was Burch unter ‚Präsentationalismus‘ versteht. Bordwells Beobachtungen zeigen, dass die deskriptive Leistung dieses Begriffs in seinem systematischen, nicht historischen Gebrauch liegt. In diesem Sinne verwendet kann ‚Präsentationalismus‘ beispielsweise Kurosawas Strategie der Kopplung einzelner Elemente ästhetischer Darstellung – Bild, mündlicher Erzählung, Tanz, Spektakel, Musik, Bewegung – zu einem ‚formal gesättigten Pluralismus‘57 sichtbar machen. Das mag, wie gesagt, aus einer westlich-modernistisch geprägten und auf das Formale fokussierten Perspektive die Zuschreibung eines „extraordinary modernist work“58 legitimieren. Doch diese Beschreibung greift, wie die Analyse gezeigt hat, ebenso zu kurz wie Burchs Reduzierung YOJIMBOS auf bloße Unterhaltung („truly nothing more than a fusion of the latter-day chambera tradition with the Hollywood Western“59). Kurosawas vorwiegend visuell überwältigende, späte ‚Bildepen‘ KAGEMUSHA (1980; Kagemusha – Der Schatten des Kriegers) und RAN (1985; Ran) kommen wie YOJIMBO vielmehr einem Appetit nach ‚reichhaltigen multimedialen Erfahrungen‘ entgegen, den Bordwell beim frühen japanischen Filmpublikum vermutet. Wegen dieser zumindest tendenziell multimedialen Orientierung erscheint mir aber der Begriff des ‚visuellen Stils‘ zu eng. ‚Präsentationalismus‘ würde, folgt man Burch, die Inszenierung und Steigerung des 55 56 57 58 59

Vgl. insgesamt Bordwell: „Visueller Stil“. Vgl. Bordwell: „Visueller Stil“, S. 172. Vgl. Bordwell: „Visueller Stil“, S. 196. Russell: „Men with Swords and Men with Suits“, S. 5. Burch: To the Distant Observer, S. 318.

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Visuellen durch eine Vielzahl nebeneinandergeordneter ‚Medien‘ und durch weitere Konnotations- und Verweisungszusammenhänge (ästhetische Traditionen, Filmtraditionen, Musikstile, literarische Erzählmuster) umgreifen. Der Begriff geht damit über einen ‚visuellen Stil‘, der auf das Einzelmedium Film zugeschnitten ist, hinaus. Er beschreibt einen Typus von Medienkopplung, für den K. Ludwig Pfeiffer zufolge die Oper exemplarisch ist und der sich kulturübergreifend als relativ stabile ästhetische Formation ausmachen lässt.60 Die Parallelen zwischen der Stoßrichtung einer kontrollierten Avantgarde, wie sie Hammetts Roman repräsentiert, und Kurosawas filmischem Präsentationalismus würden sich vor diesem Hintergrund jenseits japanischer Tradition und westlicher Avantgarde auf dem Feld einer plurimedialen Intensivierung und Ästhetisierung von Affekten und anthropologischen Dispositionen schneiden.

60 Vgl. Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre, S. 32f., 48, 107, 333.

D IE Z EIT

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VISUELLER STIL IM JAPANISCHEN KINO 1925-19451 Das ‚Goldene Zeitalter‘ des japanischen Films verorteten die meisten Kritiker der 1950er und 1960er Jahre in der Nachkriegszeit, als die Meisterwerke von Kurosawa, Mizoguchi, Ichikawa und anderen entstanden. In den 1970er und 1980er Jahren verschob sich die kritische Aufmerksamkeit: Je mehr Filme aus den 1930er Jahren verfügbar wurden und je mehr Kritiker sich den bislang vernachlässigten frühen Filmen Ozus und Mizoguchis zuwandten, desto deutlicher begann man die Vorkriegszeit als die aufregendste und innovativste Periode japanischer Filmgeschichte wahrzunehmen. Im folgenden Beitrag geht es um einige Kernfragen der Geschichte des japanischen Films, die seit den frühen 1980er Jahren zur Diskussion stehen. Mein Interesse gilt dem visuellen Stil, und ich befasse mich mit den folgenden drei Fragen: Inwiefern unterscheidet sich der Stil japanischer Filme zwischen 1925 und 1940 von den dominanten Normen des westlichen Kinos, insbesondere Hollywoods? Welche Rolle kann man bei der Untersuchung solcher Unterschiede der traditionellen japanischen Kultur zumessen? Und welche Auswirkungen hatten die zeitgenössischen gesellschaftlichen Umstände auf die Entwicklung des Filmstils, insbesondere der Krieg mit China und im Pazifik? Die ersten beiden Teile dieses Aufsatzes zeigen, dass sich der spezifisch japanische Filmstil am sinnvollsten als eine Transformation westlicher découpage-Normen verstehen lässt. Diese These liegt quer zu Ansätzen, die stilistische Besonderheiten vorrangig auf den Einfluss der einheimischen japanischen Kultur zurückführen, und daher spreche ich 1 Anm. d. Hrsg.: Dieser Text ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Aufsatzes, der 1995 unter dem Titel „Visual Style in Japanese Cinema, 1925-1945“ in Film History (Bd. 7, Nr. 1, S. 5-31) erschienen ist. Die Übersetzungs- und Abdruckrechte hat uns Indiana University Press überlassen. Wir danken Kathryn Caras und Michael W. Lundell bei IUP für ihre Kooperationsbereitschaft. Die Bilder stammen aus Beständen David Bordwells.

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dieses Problem als erstes an. Meine These ist, dass die Assimilation traditioneller Elemente im japanischen Film vor allem durch internationale Normen der Filmproduktion und durch die zeitgenössische Populärkultur vermittelt wurde. Darauf aufbauend wendet sich der vierte Teil der Studie mit einer provisorischen Kartierung der wichtigsten stilistischen Tendenzen den Filmen selbst zu. Abschließend nehme ich zu den stilistischen Veränderungen aufgrund der anderen Sozialordnung Japans im Krieg Stellung, speziell nach Pearl Harbor. Obwohl ich einige dieser Fragen bereits an anderer Stelle behandelt habe, perspektiviert dieser Essay einige Punkte neu und schlägt systematischere Antworten vor. In diesem Zusammenhang komme ich auf einige Meinungsverschiedenheiten mit Noël Burch zu sprechen, dessen mutige und anregende Studie To the Distant Observer die wohl wichtigste Neubewertung der 1920er und 1930er Jahre enthält.2

1.

Ein klassisches Kino?

Aus den ersten fünfundzwanzig Jahren japanischer Produktion blieben so gut wie keine Filme erhalten.3 Wahrscheinlich waren die meisten Filme, die vor 1908 gezeigt wurden, Adaptionen von Szenen aus Kabukistücken, die sorgfältig den theatralischen Charakter der Aufführung hervorzuheben suchten. Dieses Genre des abgefilmten Theaters setzte beim Publikum eine vollständige Kenntnis des Stücks voraus und blieb bis Ende der 1910er Jahre populär. Die Schauspieler agieren sehr frontal zur 2 Ich gehe davon aus, dass das hohe Niveau der westlichen Forschung zum japanischen Kino eben solche Debatten anregt. – Meine Untersuchung bezieht sich auf ein Korpus von 163 Filmen, die ich beinahe alle an Schneidetischen genau analysieren konnte. Ich bin den folgenden Archiven und ihren Mitarbeitern für ihre Hilfsbereitschaft zu Dank verpflichtet: der Library of Congress, Washington, D.C.; dem National Film Archive, London; der Cinémathèque Royale de Belgique, Brüssel; der Museum of Modern Art Film Library, New York und Matsuda Eigasha, Tokyo. Für ihre Hilfe bei der Beschaffung schwer zugänglichen Materials danke ich außerdem John Dower, John Gillett, Peter High, Don Kirihara und besonders Hiroshi Komatsu. 3 Hisashi Okigama, Archivar im Japan Film Center zufolge enthält das Archiv nur 500 Spielfilme, die vor dem 2. Weltkrieg produziert wurden. Er schätzt, dass ungefähr 4 % der japanischen Vorkriegsfilme erhalten geblieben sind. Vgl. Okajima, Hisashi: „Japan’s Case: Hopeful or Hopeless?“, in: Bulletin FIAF, Nr. 45 (1992), S. 2. Die Gründe für die hohen Verlustraten sind die Kurzlebigkeit der Filmgesellschaften, die Vernachlässigung des eigenen Materials bei größeren Firmen, die Tatsache, dass von vielen Titeln nur wenige Kopien existierten, die Kriegsschäden (z.B. das Brandbombardement Tokyos durch die Alliierten) und Naturkatastrophen (wie die Zerstörung vieler Verleihfirmen in Tokyo beim Erdbeben von 1923).

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Kamera, und dennoch arbeiteten die beiden mir zugänglichen Beispiele mit einer beachtlichen Tiefenrauminszenierung. Andere erhaltene Filme weisen auffallend wenige Schnitte innerhalb einer Szene auf. Bei der Aufnahme froren Schauspieler oft einfach ihre Posen ein, während ein neuer Film eingelegt wurde.4 Burch hat mit Recht die multimediale Natur des frühen japanischen Kinos hervorgehoben. Vor dem ersten Weltkrieg waren die meisten Filme Teil einer umfassenderen Aufführung. Sie wurden meistens mit einem Filmerzähler, dem benshi, aufgeführt, tauchten aber auch als Element von Bühnenstücken, Gesangsnummern oder jener Mischung aus Theater und Film auf, die man rensageki (Kettendrama) nannte. Als das Kino allmählich auf die westliche Aufführungspraxis einschwenkte, übernahm es auch westliche Stile. Europäische und amerikanische Filme übten vom Augenblick der Einführung des Films an ihren Einfluss aus; um 1910 überwogen französische Filme (z.T. Serien) mit Verfolgungsjagden. Die Konstitution der Nikkatsu-Gesellschaft 1912 und eine neue Welle amerikanischer Importe zwei Jahre später zeugen von einer erwachenden Aufmerksamkeit für internationale stilistische Entwicklungen – vor allem für Vorformen der continuity aus Nordamerika und Westeuropa. In den Jahren vor dem Erdbeben von Kanto (1923) forderten Reformer sogar explizit die Modernisierung.5 Ein Publizist sprach 1911 ein Thema an, das auch westlichen Intellektuellen und Gegnern eines ‚theatralischen‘ Kinos vertraut war: „Watching a Japanese film is like watching a slow dirge. It wilfully ignores the need to keep the screen in perpetual motion. […] All this is because the films are slavish recordings of stage plays. What could be more boring?“6 Ebenso wie im Westen, aber langsamer und mit einiger Verzögerung entwickelte sich eine Erzählweise, die genuiner visuell war. In Japan hieß das in erster Linie, durch Zwischentitel und in den frühen 1920er Jahren auch durch Dialogtitel den Kommentar des benshi über4 Zu einer detaillierten Diskussion dieser Periode, vgl. Komatsu, Hiroshi: „Some Characteristics of Japanese Cinema before World War II“, in: Nolletti, Arthur/Desser, David (Hrsg.): Reframing Japanese Cinema: Authorship, Genre, History, Bloomington 1992, S. 229-258. 5 Vgl. Komatsu, Hiroshi: „The Fundamental Change. Japanese Cinema Before and After the Earthquake of 1923“, in: Griffithiana, Nr. 38/39 (Oktober 1990), S. 191-192. Joanne Bernardi diskutiert in The Early Development of the Gendaigeki Screenplay: Keriyama Norimasa, Kurihara Tomas, Tanizaki Jun’ichiro and the Pure Film Movement (Dissertation, Columbia University, 1992) detailliert die Modernisierungstendenzen in dieser Zeit. 6 Zitiert in High, Peter B.: „Japanese Film and the Great Kanto Earthquake of 1923“, in: International Studies, Bd. 1, Nr. 3 (1985), S. 72.

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flüssig zu machen. Das Tokyoter Erdbeben beschleunigte die Modernisierung des japanischen Kinos: Produktionsfirmen mussten sich neu organisieren, und Regisseure begannen ihre Erzählweise zu überdenken. Das Gegenwartsdrama absorbierte westliche Einflüsse, vor allem der Hollywoodkomödie und des Hollywooddramas. In Kyoto brachte Shozo Makino eine Serie von Samuraifilmen auf den Markt, welche die typisch amerikanischen schnellen Schnittfolgen und bildfüllenden Aufnahmen (close framing) verwendeten.7 Auf der Basis des verfügbaren Materials kann man sagen, dass im japanischen Kino um 1925 die Normen der Inszenierung und des Schnitts beinahe völlig denen des populären westlichen Films entsprachen.8 Minoru Muratas ROJO NO REIKON (1921; Souls on the Road), der exemplarisch für den modernisierten Film steht, enthält über 800 Einstellungen und verwendet so gut wie alle westlichen Schnitttechniken, inklusive der Parallelmontage. KANTSUBAKI (1921; Winter Camelias) enthält längere Einstellungen, aber noch immer gibt es in jeder Szene mehr als ein Dutzend Einzeleinstellungen. Dieser Spielfilm orientiert sich wie die Schwertkampffilme SHIBUKAWA BANGORO (1922; Shibukawa Bangoro), OROCHI (1925; Serpent) und HORO ZANMAI (1928; The Wandering Gambler) an den Prinzipien des continuity editing. In KANTSUBAKI finden sich außerdem elegante match cuts, Diagonalkompositionen und eine sorgfältige Tiefenrauminszenierung durch eine Tür hindurch. Selbst ein Film, in dem ein oyama auftritt und der benshi den gesamten Dialog beisteuert – FUTARI SHIZUKA (1922; The Two Shizukas) – weist ein vertrautes découpage-Muster auf (Abb. 1-4). Und in FUUM YOSHI (1928; Yoshi Castle) kommt eine meisterhafte Beherrschung der Über-Schulter-Einstellung und des Gegenschusses, des match cut und der Subjektiven zum Ausdruck (Abb. 5-6). Découpage-Standards dieser Art sollten sich fest etablieren. Dutzende Filme, von KAIGARI IPPEI (1930) über KITA NO SANNIN (1945; Three Men from the North), sind in dieser Hinsicht kaum von gängigen nordamerikanischen oder europäischen Filmen zu unterscheiden. Viele gendai-geki über Großstadt7 Vgl. High: „Japanese Film and the Great Kanto Earthquake of 1923“, S. 83f. 8 Burch argumentiert: „The Western codes had impinged upon Japanese perception, but Japan was on the whole not interested in them as a system, they were merely used on occasion to produce special dramatic effects.“ (To the Distant Observer. Form and Meaning in the Japanese Cinema, Berkeley 1979, S. 82). In den 11 Spielfilmen aus den 1920er Jahren, die ich sehen konnte, findet sich aber durchgängig und grundlegend eine standardisierte Hollywood-continuity (auch wenn sie gelegentlich etwas ungeschickt gehandhabt wurde).

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liebe oder Erfolg im Showbusiness erinnern sogar an gewöhnliche Hollywood-B-Movies.

Abb. 1: In einer Anfangsszene von FUTARI SHIZUKA trifft der Protagonist Teruo seine Verlobte Mieko. Dem establishing shot folgt...

Abb. 2:… ein Heranschnitt auf Mieko (dargestellt von einem oyama, einem männlichen Schauspieler)…

Abb. 3: …und ein Gegenschuss auf Teruo.

Abb. 4: Eine nähere Einstellung auf Miekos Reaktion.

Abb. 5, 6: Schuss/ Gegenschuss-Aufnahme eines Schwertkampfs

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Dass japanische Filme den Hollywoodnormen folgen, bedeutet natürlich nicht, dass sich keine stilistische Vielfalt entwickelt hätte. Auch Haydn, Mozart und Beethoven teilen die Normen der Wiener Klassik und dennoch klingen ihre Kompositionen unterschiedlich. John Ford, Otto Preminger und Anthony Mann richten sich nach den Normen des klassischen Hollywoodkinos, doch ihre Arbeiten aktualisieren diese Normen auf sehr unterschiedliche Weise. Einen Gruppenstil bildet nicht allein ein Repertoire wiederkehrender Mittel, sondern auch Funktionsprinzipien und ein Spektrum an Wahlmöglichkeiten, die auf unterschiedlichen Ebenen der Komposition wirksam werden. Normen zu befolgen schließt darüber hinaus ihre kreative Revision keineswegs aus. KAIKI EDOGAWA RANZAN (1937; The Mysterious Edogawa Ranzan) zum Beispiel schneidet zwischen einem Schwertkampf und einer Frau, die sich von einem Glücksspieler zu befreien sucht, hin und her. Der Regisseur entwickelt eine ingeniöse Variation der Schuss/Gegenschuss-Formel, indem er von einem extrem spitzen Blickwinkel auf den einen Dialogpartner zu einem Gegenschuss im korrekten Winkel schneidet – dieser aber zeigt eine Figur aus dem anderen Handlungsstrang (Abb. 7-10). Solche Passagen ragen aus einem Film heraus, der den Kontinuitätsregeln entsprechend inszeniert und aufgenommen ist. Sie zeigen, wie sich aus gängigen Mitteln neue Effekte entwickeln können. Was Ernst H. Gombrich ‚stilistische Schemata‘ nennt – traditionelle Muster, die ein künstlerisches Repertoire ausmachen – sind die notwendigen Ausgangspunkte für Innovationen.9

Abb. 7: KAIKI EDOGAWA RANZAN. Statt des erwartbaren Schnittes (auf einen Gegenschuss des Ninjagegners)…

Abb. 8: … ein ‚korrekter‘ Gegenschuss, der jedoch den Angriff eines Spielers auf eine Frau zeigt. Dann...

9 Vgl. Gombrich, Ernst H.: Kunst und Illusion, Köln/Berlin 1967, S. 116-205.

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Abb. 9: … ein Gegenschuss der Frau …

Abb. 10: … und erst jetzt die Einstellung auf den Ninja, die Abb. 7 ergänzt.

Abb. 11: In der Eingangsszene von ATARASHIKI KAZOKU schaut die Ehefrau von links nach rechts zu ihrem Mann auf, der ihren Blick …

Abb. 12: … ebenfalls von links nach rechts erwidert. Im Hollywood-System wäre diese Brechung der imaginären Achse zwischen den beiden ein desorientierender Schnitt.

Ganz offensichtlich also übernahmen japanische Regisseure die klassische découpage als System. In einem Punkt allerdings stehen ihre Schnittnormen offenbar im Gegensatz zu den westlichen. Japanische Regisseure verletzten die Achsensprung-Regel etwas häufiger als ihre amerikanischen Kollegen. Daher sind die Blickachsen und die Auf- und Abtritte gelegentlich inkonsistent (Abb. 11-12). Wie soll man nun aber diese offenbar absichtlichen Verletzungen der continuity bewerten? Erstens: Solche Abweichungen sind vergleichsweise selten, die meisten Filme entsprechen vollständig der Hollywood-continuity. Achsensprünge treten meist nur in bestimmten Szenen auf, fehlen aber im Rest des Films. Außerdem sorgt fast immer der Kontext dafür, falsche Anschlüsse un-

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problematisch erscheinen zu lassen: Der dargestellte Raum ist oft bereits gut etabliert. In dem hier gezeigten Beispiel aus ATARASHIKI KAZOKU (1939; A New Family, Abb. 11-12) ist die Platzierung der Figuren schon aus einer Totale bekannt, und die Tatsache, dass die stehende Figur nach unten und die sitzende nach oben schaut, legt nahe, dass sie einander ansehen. Andererseits kann aber auch – wie in Hollywood – eine Verletzung der Achsensprung-Regel durch die Dramatik der Situation motiviert sein. Die abweichende Einstellung etabliert manchmal einen neuen Raum, in den sich eine Figur dann hineinbewegen wird (Abb. 13-17). Einige Achsensprünge in den Arbeiten Ozus haben eine vergleichbare – und vergleichsweise nicht desorientierende – Funktion.

Abb. 13: HANA CHIRINU. Die Köpfe der geisha im Vordergrund sind abgewendet, um die Aufmerksamkeit auf das zentrierte, von vorn gesehene Gespräch der Frauen im Hintergrund zu lenken.

Abb. 14: HAHA WA TSUYOI: Ryuku betritt das Haus, gesehen durch ein Weitwinkelobjektiv.

Für Burch trägt ein solcher nicht-traditioneller Schnitt dazu bei, die in der IMR10 angestrebte klare räumliche Orientierung zu ‚dekonstruieren‘. Er scheint anzunehmen, dass eine solche Orientierung mit einem Streich, durch eine technische Entscheidung unterminiert werden kann. Man kann freilich auch den Standpunkt vertreten, dass Hollywoods continuity-System grundlegend redundant ist, da es aus einer Vielzahl sich gegenseitig stützender stilistischer Hinweise (cues) und aus dem Wissen des Zuschauers um Raum und menschliches Verhalten besteht. So gesehen bringt das Weglassen des einen oder anderen Hinweises nicht unbedingt sofort alles durcheinander. Man könnte daher sagen, dass japanische Re10 Institutional Mode of Representation; die an amerikanischen Filmschulen gelehrte Methode. Anm.d.Übers.

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gisseure bei Inszenierung und Schnitt nicht denselben Grad an stilistischer Redundanz voraussetzen mussten wie Hollywood-Regisseure. Das würde der notorischen Tatsache Rechnung tragen, dass den meisten westlichen wie östlichen Zuschauern diese Abweichungen von der Hollywood-continuity einfach nicht auffallen.

Abb. 15: Die Kamera schwenkt mit Ryuku nach links; sie schaut herein und sieht ihre kranke Mutter; der Arzt schaut hoch.

Abb. 16: Die Kamera schwenkt weiter nach links, Ryuku bleibt im Vordergrund stehen. Der Arzt wendet sich ab; die nun zentrierte, hell beleuchtete Mutter wird kompositorisch hervorgehoben.

Es gibt also zahlreiche Belege dafür, dass japanische Filme der 1920er und 1930er Jahre sich an den grundlegenden Normen klassischer Inszenierung und des continuity editing orientierten. Daher wäre die Annahme zu bezweifeln, diese Filme seien das radikal und essentiell Andere des westlichen ‚Mainstreams‘. Wenn folglich der japanische Film eher eine Variante als eine radikale Alternative der klassischen continuity darstellt, dann hatten die kulturelle Isolation und der politische Chauvinismus, die Burch zur Erklärung des ‚Goldenen Zeitalters‘ heranzieht, keine Auswirkungen auf die Grundlagen der découpage. Die ideologisierte japanische Tradition schuf keinen fundamental anderen Stil. (Ich gehe – dazu später – allerdings nicht davon aus, dass eine solche Ideologie keine Auswirkungen hatte.) Welche Rolle nun spielt der benshi, das vielleicht augenfälligste Beispiel einer radikalen Andersheit des japanischen Kinos? In Burchs Argumentation ist der benshi das zentrale Beispiel für die anti-illusionistische Basis japanischer Filmformen. Indem der benshi die gesprochene Sprache außerhalb der Erzählwelt positionierte, präsentierte er

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Burch zufolge verschwand diese präsentationale Seite des japanischen Films, die der benshi verkörperte, in späteren Jahrzehnten niemals vollständig. Auf theoretischer Ebene können einige seiner Annahmen in Frage gestellt werden. Erzeugt die physische Trennung von Stimme und Erzählung notwendigerweise eine ästhetische Dissoziation?12 Erleben westliche Filmzuschauer eine Illusion?13 Reduziert sich der diegetische Effekt, wenn man eine sich abspielende Geschichte kommentiert? Das scheint dann nicht zu passieren, wenn ein Elternteil einem Kind eine Geschichte vorliest und die Handlung erklärt. Wichtiger für mein Anliegen sind jedoch neuere Forschungen vorwiegend von Joseph L. Anderson, die Burchs historische Schlussfolgerungen in Zweifel ziehen.14 Die ursprüngliche Funktion des benshi – das scheint gesichert – war es, die Handlung des Films zu erhellen. Der benshi kam offenbar dem Bedürfnis des frühen japanischen Publikums entgegen, Handlungen ausländischer Filme erklärt zu bekommen. Importierte Stummfilme hatten keine japanischen Zwischentitel, da Japan ein zu kleiner und zu wenig lukrativer Markt war. Hätte man tatsächlich den diegetischen Effekt schwächen und jede Einstellung als Zusammenstellung von Signifikanten hervorheben wollen, wäre die beste Methode sicherlich der Ver11 Burch: To the Distant Observer, S. 79. 12 Burch folgt hier der Darstellung des bunraku-Puppenspiels durch Roland Barthes, welche die physische Trennung von Sprecher und Puppenführer betont und in ihr einen Brechtschen Verfremdungseffekt sieht. Vgl. Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen, Frankfurt/Main, S. 67-75. 13 Zu einer prägnanten Kritik des Illusionismusarguments, vgl. Carrol, Noël: Mystifying Movies: Fads and Fallacies in Contemporary Film Theory, New York 1988, Kapitel 1-3, und Carrol, Noël: The Philosophy of Horror; or, Paradoxes of the Heart, New York 1990, S. 60-87. 14 Die folgenden Überlegungen folgen größtenteils Andersons umfassender und materialreicher Studie „Spoken Silents in the Japanese Cinema; or, Talking to Pictures: Essaying the Katsuben, Contextualizing the Texts“, in: Nolletti/Desser (Hrsg.): Reframing Japanese Cinema, S. 259-311. Vgl. auch Komatsu, Hiroshi/Musser, Charles: „Benshi Search“, in: Wide Angle, Bd. 9, Nr. 2 (1987), S. 73-90; und Kirihara, Donald: „A Reconsideration of the Institution of the Benshi“, in: Film Reader, Nr. 6 (1985), S. 41-53.

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zicht auf jeglichen Kommentar und die Vorführung der Filme ohne Ton, aber mit all ihren narrativen Ungereimtheiten gewesen. Wenn das Publikum jedoch nicht übersetzte ausländische Filme hätte verstehen und sich in sie hineinversetzen wollen, wäre der benshi im Grunde die einzig naheliegende Lösung gewesen. Das Auftauchen des benshi zeugt also von einem Bedürfnis des Publikums nach einer begreifbaren Handlung und vielleicht auch nach einer transparenteren Erzählweise. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass der früheste Einsatzbereich des benshi bei einheimischen Filmen nicht in erster Linie der erzählende Kommentar war, sondern der Dialog – eine Funktion, die Burch herunterspielt. Bis in die 1920er Jahre brauchte man für viele Kabukifilme mehrere benshi, die aufgereiht neben der Leinwand standen und alle Figuren sprachen. In einigen Fällen waren diese Rezitatoren dieselben Schauspieler, die auch im Film mitspielten.15 Auch bei den Soloauftritten, die im Laufe der 1920er Jahre üblicher wurden, machte die Beherrschung von kowairo oder Stimmenimitation zu einem Teil die Virtuosität des benshi aus: die Fähigkeit, Stimmen von Kindern, alten Frauen oder Samurai nachzuahmen. Die Zentralität des Dialogs im Auftritt des benshi verweist auf eine Orientierung, die Burch Illusionismus nennen würde. „Because of [the benshi]“, beobachtete Hiroshi Inagaki, „we directors were aware that when you went to a movie theatre, voices came out of the characters on the screen.“16 Ein Zeitschriftenartikel von 1915 erklärt die Funktion des benshi so: „They act [as] dialogists for the players in the picture and some of them make a dialogue so skilfully [it seems] as if the players in the picture were really speaking.“17 Ein weiterer Aspekt der Aufführung stellt Burchs Überlegung in Frage, der benshi blockiere diegetische Transparenz. Der benshi erklärte nicht nur die Handlung und porträtierte Figuren, sondern intensivierte darüber hinaus die Expressivität des Films. Ein Journalist merkte 1925 an, der benshi strebe danach, das Publikum trunken zu machen und emotionale Massenreaktionen auszulösen.18 Durch Figurendarstellung und Kommentar konnte der benshi das emotionale Erleben des Publikums 15 Es gibt sogar Belege dafür, dass während des Drehs der frühen jidai-geki ein Souffleur die Dialoge vorlas, so dass die Schauspieler ihre (Mund-) Bewegungen mit dem Text synchronisieren konnten, der auch bei der Aufführung verwendet wurde. Vgl. Anderson: „Spoken Silents“, S. 269. 16 Zitiert bei Anderson: „Spoken Silents“, S. 292. 17 Zitiert in Komatsu/Musser: „Benshi Search“, S. 73. Der Text aus dem japanischen Magazin Kinema Record (10. August 1915) ist im Original englisch. 18 Zitiert bei Anderson: „Spoken Silents“, S. 288.

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leiten – das Tempo bei schnellen Passagen steigern, Stille durch plötzliche Rufe unterbrechen oder sentimentale Szenen durch lyrische Intonation verlängern. Einige benshi waren dafür bekannt, zu manchen Szenen zu singen. Wieder stellt sich die Frage: Wenn das Ziel ‚semantische Dissoziation‘ sowie das Ausweisen der Leinwand als bloßes Spiel von Signifikanten war, war dann diese emotionale Wiedergabe der Handlungshöhepunkte der naheliegendste Weg? Sind solche Bemühungen nicht vielmehr zu erwarten, wenn man voraussetzt, dass das Publikum unbedingt intensiver mit den erzählerischen Wendungen mitgehen wollte? Japanische Zuschauer schienen von einem Kinobesuch etwas anderes erwartet zu haben als eine erzählte Welt, die ein dissoziierender, entmystifizierender Kommentar als solche auswies. Vielmehr suchten sie, wie das Material nahe legt, eine reichhaltige multimediale Erfahrung, die das Erzählen der Handlung, die expressive Intensivierung von Szenen und das absichtliche Zurschaustellen stimmlichen und schauspielerischen Könnens vereinigte. Wenn derart geballte Genüsse den diegetischen Effekt brechen, dann gilt dasselbe für die Oper. Das verringert die Bedeutung des benshi als eines spezifischen Aspekts des japanischen Films keineswegs. Aber diese Bedeutung ist schwer einzuschätzen. Die Mischung aus narrativer Denotation und expressiver Steigerung sowie das gleichzeitige Hervorkehren seiner Virtuosität machen den benshi auch zu einem typischen Merkmal vieler anderer Tendenzen eines japanischen visuellen Stils. Die Sättigung der Aufführungssituation ist mit der Tendenz der Filme zu einer hochgradig expressiven und dekorativen Behandlung des Visuellen verwandt.19 Außerdem räumte die Anwesenheit des benshi den Regisseuren mit hoher Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit ein, elliptischer zu erzählen. Späte Stummfilme weisen eine Freiheit im Gebrauch der Zwischentitel auf, die in westlichen Filmproduktionen recht selten anzutreffen ist. Anstelle des gebräuchlichen Musters Sprecher / Zwischentitel / Sprecher oder Sprecher / Zwischentitel / Hörer erkundeten die Japaner beispielsweise Varianten wie: Hörer / Zwischentitel eines Sprechers aus dem Off / Hörer und Detailaufnahme / Zwischentitel eines Sprechers aus dem Off / Detailaufnahme.20 Das Nachahmungsvermögen des benshi konnte den jeweiligen Sprecher kenntlich machen, auch wenn er oder sie gerade nicht im Bild waren. 19 Vgl. meinen Aufsatz „A Cinema of Flourishes. Japanese Decorative Classicism of the Prewar Era“, in: Nolletti/Desser: Reframing Japanese Cinema, S. 328-345. 20 Ich gehe in Ozu and the Poetics of Cinema, Princeton 1988, S. 66-68 ausführlich auf diese Varianten ein.

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Sehübungen

Der benshi-Kommentar, kowairo-Mimikry und expressive Verstärkung dienen insgesamt dazu, die wichtigen Aspekte des Bildes hervorzuheben. Wir haben noch andere Gründe anzunehmen, dass japanische Regisseure wie ihre ausländischen Kollegen die Aufmerksamkeit des Zuschauers lenken wollten. Die Abbildungen 1 bis 12 zeigen, wie sie sich an Standards der Zentrierung, der selektiven Fokussierung und ähnlichem orientierten. Auch in weniger eindeutigen Fällen finden sich Inszenierungsmethoden, die in Hollywood und Europa in den 1910er Jahren kultiviert wurden. HANA CHIRINU (1938; Fallen Blossoms) verwendet die völlig übliche Taktik, mit bestimmten Hinweisen wie Frontalität und Komposition die Tatsache hervorzuheben, dass man es mit einer Dialogszene zu tun hat (vgl. Abb. 13). Die Anwendung desselben Prinzips in engeren Räumen zeugt vom bewundernswerten Können des Regisseurs: In HAHA WA TSUYOI (1939; A Mother Is Strong) trifft Ryuku zu Hause ein und findet ihre Mutter krank vor. Diese Entdeckung wird als dicht gestaffelte Folge unterschiedlicher Tiefenebenen gezeigt, die jeweils die bedeutsamen Bildelemente durch Hinweise wie Frontalität, Kamerabewegung und Enthüllung – mit Hilfe einer Schiebetür oder fusuma – entfalten (vgl. Abb. 14-16). Wie um ihre Virtuosität im Verbergen und Enthüllen des sichtbaren Bildfeldes zur Schau zu stellen, verwenden Regisseure häufig bildimmanente Rahmungsstrukturen. Man findet diese Verfahren auch im europäischen und amerikanischen Kino der 1910er Jahre, aber die Japaner treiben sie sehr weit. Im typischen Fall wird eine Figur in einer Zelle jenes Gitterwerks versteckt, das typisch für japanische Häuser ist (Abb. 17). Die bildimmanente Rahmung geht bis an die Grenzen der Sichtbarkeit. In Hiroshi Shimizus KAZE NO NAKA NO KODOMO (Children in the Wind, 1937) sieht man die zwei Jungen durchweg in stark tiefenräumlichen Einstellungen den Erwachsenen hinterher spionieren. Als ihr Vater von einem Polizisten festgenommen wird, spielt sich das in einem entfernten Spalt ab, den ein geöffnetes Tor freigibt (Abb. 18). Regisseure geben durch Verbergen und Enthüllen, bildimmanente Rahmung und andere Techniken (wie selektive Fokussierung) oft kaum zu erkennen, was im Bild das eigentlich Wichtige ist. Dass man im japanischen Kino den Bildausschnitt stärker mit dem Blick abtasten muss, liegt zum Teil an Inszenierung und Beleuchtung, die oftmals den Zugang zu den narrativ wichtigen Informationen verstellen. Wenn diese Informationen fehlen oder unzureichend sind, muss der Betrachter nach

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anderen Hinweisen suchen. Das heißt oft, dass er sich wieder den auffälligeren Bildzonen zuwenden muss. Im Laufe dieses Abtastungsprozesses der Einstellung und im angestrengten Schauen versteht der Zuschauer die Gesamtkomposition als visuelle Gestaltung und als Übermittlung narrativer Informationen. Man läuft aber dabei ständig auf und stößt auf Bereiche, die mit erzählerischer Information ziemlich sparsam umgehen; daraus ergibt sich ein geschärftes Bewusstsein für Nuancen. Man bemerkt plötzlich kleinste Unterschiede in Umriss, Beleuchtung oder Körperhaltung oder winzigste Bewegungen.

Abb. 17: GINETSU (1938; Heat of the Earth): Dekorative Verwendung der bildimmanenten Rahmung.

Abb. 18: Der Vater wird durch das Tor weit hinten abgeführt, und der Junge fragt die Mutter, was geschieht.

Yasujiro Shimazus JORIKU DAI-IPPO (1932; First Steps Ashore) ist ein glänzendes Beispiel. Zwei Betrüger betreten eine Hafenbar; sie werden durch ein Gitter mit Bullaugen gefilmt (Abb. 19). Später spricht unser Held außerhalb des Barbereichs mit einer Frau, und in der Ferne mustern ihn im Verlauf der Szene die beiden Betrüger durch mehrere runde Öffnungen hindurch (Abb. 20). Man muss sich anstrengen, die Figuren ausfindig zu machen und ihren Bewegungen zu folgen, während man gleichzeitig das Entstehen grafischer Modulationen innerhalb des Gitters bewundert, das mit den sich verschiebenden Figurenpositionen entsteht. Während des gesamten nachfolgenden Streits zerschneidet Shimazus pseudomoderner Raumteiler die Figuren (Abb. 21). Hier scheint man sich jenem ‚dramatischen Schachbrett‘ zu nähern, in das sich nach André Bazin zehn Jahre später die Leinwand dank Orson Welles und William Wyler verwandelte. Und doch bieten Welles und Wyler dem Publikumsauge kaum jemals eine so elegante Übungsmöglichkeit wie die japanischen Regisseure.

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Abb. 19: JORIKU DAI-IPPO: Zwei Betrüger und der Barkeeper in der oberen ‚Bullaugenreihe‘.

Abb. 20: Später: Die Betrüger beobachten das Paar aus dem Hintergrund.

Abb. 21: Figurenpositionierung und Gitterwerk fragmentieren die Einstellung. Aktionen und Reaktionen und Teile von Gesichtern konkurrieren um Aufmerksamkeit.

Abb. 22: Partielle Enthüllung und Dezentrierung in THE LITTLE FOXES.

Als Birdie in Wylers THE LITTLE FOXES (1941; Die kleinen Füchse) Zan von ihrem unglücklichen Leben mit Oscar erzählt, steht dieser hinter ihnen – versteckt hinter einem Türvorhang (Abb. 22). Der Zuschauer wartet angespannt darauf, dass er hervorstürzt. So gewagt diese Inszenierung gemessen an Hollywood-Standards ist, so schwerfällig wirkt sie neben der Finesse, die Jiro Kawate in der Internatskomödie TSURUGANESO (1935; Lily of the Valley) beweist. In einer Versammlung im Speisesaal beginnt sich die Heldin wegen ihrer Beteiligung an einem Diebstahl zu schämen. Als die Schulleiterin die Mädchen auffordert, ihre Portemonnaies vorzuzeigen, schneidet Kawate von einer Halbnahen mit der Heldin, die ihren Kopf hängen lässt (Abb. 23), zu einer Einstellung

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auf die Schulleiterin. Der gesenkte Kopf des Mädchens ist gerade noch als undeutliche Form zwischen der rechten Schulter der Leiterin und einem anderen, viel besser beleuchteten und frontaler positionierten Mädchen zu erkennen (Abb. 24). Noch kühner schneidet Kawate dann zu einer extremen Totale des Speisesaals (Abb. 25), während sich unsere Aufmerksamkeit immer noch dorthin richtet, wo das Mädchen steht – unter der Uhr, im Halbschatten, als einzige mit beschämt gesenktem Kopf.

Abb. 23-25

Die Energie, Raffiniertheit und Nuanciertheit, die sich in diesen Varianten westlicher continuity- und Inszenierungsprinzipien manifestiert, lässt den Rückschluss auf eine hinreichend wirksame kulturelle Motivation dieses Filmstils zu. Denn sind nicht gerade dies die Eigenschaften, die man an japanischer Wandschirmmalerei, e-makimono-Rollen, Holzschnitten und ähnlichem schätzt? Finden wir dort nicht dieselben dynamischen Perspektiven, verschleierten Ausblicke und dezentrierten Kompositionen? Schon – aber nur bis zu einem gewissen Grad. Es ist meiner Ansicht nach nicht möglich, von einer kontinuierlichen Tradition auszugehen, in der das Kino zum Träger jahrhundertealter Repräsentationsmodelle wird. Die Situation ist komplizierter und interessanter.

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Konstruktionen und Rekonstruktionen ‚des Japanischen‘

Als er 1955 gefragt wurde, warum er so viele Filme für den Export gedreht habe, antwortete Masaichi Nagata: „America was making action pictures. France had love stories, and Italy realism. So I chose to approach the world market with the appeal of Japanese historical subjects. Old Japan is more exotic than westernized Japan is to westerners.“21 Der Gedanke, dass ‚das Japanische‘ kommerzialisierbar war, war in der Nachkriegszeit sicherlich weiter verbreitet, denn Geishas und Kirschblüten wirkten im Kontext einer aggressiven Industriewirtschaft bereits anachronistisch. Aber auch viele Jahrzehnte zuvor waren Vorstellungen japanischer Tradition gleichermaßen für den ausländischen wie für den einheimischen Konsum produziert worden, und das Kino spielte dabei eine Rolle. Nachdem sich Japan im späten 19. Jahrhundert dem Westen geöffnet hatte, begann es seine eigene Kultur über und gegen Europa und Amerika zu definieren. Die Meiji-Modernisierung erstreckte sich nicht nur auf die Prinzipien des Bank-, Erziehungs- und Armeewesens und des technologischen Fortschritts. Japan sollte zusätzlich durch seine selektive Assimilation der westlichen Kultur reifen. Malerei im französischen Stil beherrschte die Kunstschulen. Das Musikkonservatorium von Tokyo übernahm seinen Lehrplan aus Europa, und die Lehre klassischer japanischer Musik war dort bis 1936 verboten. Viele bedeutende Schriftsteller dieser Zeit gingen ins Ausland und die meisten ließen sich von englischer, französischer und deutscher Literatur beeinflussen. Im Alltagsleben brachte das Wachstum des japanischen Kapitalismus bei Angestellten in der Staatsverwaltung und in Privatfirmen einen neuen städtischen Lebensstil hervor. Berufstätige und Büroangestellte trugen bei der Arbeit westliche Kleidung. Eine expandierende Ökonomie und wachsende Stadtzentren verschafften Japanern mehr finanziellen Spielraum. In den 1910er Jahren wuchs die Beliebtheit populärer Magazine, Romane, Filme und Musik nach westlichen Vorbildern und bildete sich zu einer Massenkultur der Mittelschicht (taishu bunka) aus. Genres der traditionellen Kultur erlebten einen Niedergang, wurden zu Liebhaberkünsten oder zu Vehikeln der Nostalgie. Um 1900 waren Nô und Kabuki für die Massen größtenteils unverständlich, und shimpa, das melodramatische Theater nach westlichem Muster, sollte bald von 21 Zitiert in: „Industry: Beauty from Osaka“, in: Newsweek (11. Oktober 1955), S. 116.

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dem emporkommenden Medium Film verdrängt werden. Während der Meiji-Periode durchlief traditionelles Kabuki eine Reihe von Reformen; die neuen Theater hatten wie im Westen Auditorien mit Proszeniumsbühnen und Vorhängen. Zur selben Zeit starb der Holzschnitt im Stil der Edo-Zeit aus. Die ‚Neue Druckgrafik‘-Bewegung begann nummerierte Editionen nach westlichem Vorbild aufzulegen, die für ausländische Sammler bestimmt waren. Nô-Gesang und Blumenstecken waren nicht länger Bestandteil des Alltagslebens; sie wurden als Hobby oder im Rahmen der Erwachsenenbildung praktiziert. Mit der Ausbreitung der Massenmedien entfremdeten sich viele Japaner von jenen Praktiken, die aus Sicht der Außenwelt ihre Kultur am deutlichsten charakterisierten. Sogar der Begriff Kultur (bunka) wurde zum Synonym für den Import westlicher Gebräuche, und in diesem Prozess spielte das Kino eine Schlüsselrolle. Der Asakusa-Park in Tokyo wurde zu einem pulsierenden Zentrum populärer Unterhaltung; Filmtheater siedelten sich wie in einem Bienenstock neben westlichen Restaurants, Milchbars und Cafés an. Das Kino wurde zu einem Teil der Mittelschichtkultur – aber dabei musste es mit den modernisierten Hollywoodfilmen konkurrieren. Norimasa Kaeriyama und andere Intellektuelle befürworteten eine aktuellere Technik, und die Shochiku-Gesellschaft wurde gegründet, um moderne, mit amerikanischen Produktionen konkurrenzfähige Filme zu produzieren. Japaner, die für amerikanische Studios gearbeitet hatten, wurden heimgeholt, um Filme zu drehen. Während der gesamten 1920er Jahre bereisten japanische Filmmanager Hollywood und europäische Studios, kauften Ausrüstung, studierten Produktionsmethoden und sahen die neuesten Filme. Regisseure entwickelten ihre Technik anhand der westlichen Beispiele, die japanische Kinos überschwemmten. Teils aus Gründen der Effizienz, teils um ein höherrangiges Publikum zu erreichen und teils in der Hoffnung auf Exportchancen wurden amerikanische Inszenierungs- und Filmtechniken zur Grundlage der japanischen Filmproduktion. Das katastrophale Erdbeben von Kanto im September 1923 erzwang den Wiederaufbau großer Teile Tokyos, und dieser Prozess intensivierte die Modernisierung des Stadtlebens. Gas, Wasser und Elektrizität waren nun verbreiteter, und die Straßen wurden auf Autoverkehr ausgerichtet. Da die Brände während des Erdbebens viele der innerstädtischen Armen obdachlos gemacht hatten, wuchsen die Vorstädte. Das Stadtzentrum konzentrierte sich stärker als zuvor auf Geschäft und Unterhaltung. Japanische Künstler ließen sich von Bewegungen wie dem Surrealismus und dem Expressionismus beeinflussen, während die Mengen sich begierig auf Baseball, Radio, Grammophonplatten, amerikanische und japa-

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nische Comics und die in Tageszeitungen serialisierten Massenromane stürzten. Die 1920er Jahre waren eine Periode des urbanen Dandyismus, der Faszination massenproduzierter Konsumgüter (Bleistifte, Süßigkeiten, Füllhalter) und einer sorglosen, erotisch gefärbten Lebenseinstellung, die als ero-guro-nansensu bekannt wurde: ‚erotic-grotesque nonsense‘. Diskutierten zeitgenössische Beobachter Kultur, dann sprachen sie von einer Kultur, die von der Vorliebe für Verwestlichung und Modernismus beherrscht war. Das Ethos der Aufopferung und des Fortschritts aus eigener Kraft, das in der Meiji-Zeit öffentlich propagiert wurde, wich schwelgerischem Konsum und modischer Kennerschaft.22 Das Kino blieb zentral; es verbreitete und verklärte den neuen urbanen Lebensstil. Gegenwartsfilme wimmelten von ‚Backfischen‘23– mogas (‚modern girls‘) – und mobos (‚modern boys‘), die mit roydo ausstaffiert waren, Brillen, wie sie Harold Lloyd trug. In dieser Zeit begannen japanische Regisseure den westlichen Filmstil perfekt zu beherrschen. Das Entwerfen einer westlich orientierten Modernität setzte sich sogar in den frühen Jahren der Depression fort; in dem ersten erfolgreichen Tonfilm der japanischen Filmindustrie, MADAM TO NYOBO (1931; Madam and Wife) spielte der japanische Jazz eine Hauptrolle. Der Übergang zum Tonfilm machte den benshi überflüssig und die Produktion rationeller. Eine neue Firma, Toho, organisierte ihr Management nach dem Hollywoodsystem eines Zentralproduzenten, der die Arbeit überwacht und an untergeordnete Produzenten delegiert. Um die Mitte der 1930er Jahre übertraf nur Hollywood das japanische Kino, was Massenproduktionen und ein vertikal integriertes Studiosystem anging. Aber der Widerstand gegen die Verwestlichung wuchs. In der Politik brachen Bemühungen um eine parteienzentrierte Demokratie zusammen; konservative Splittergruppen verlangten militärische Expansion, vor allem nach China. Im kulturellen Bereich verbreitete sich bei Schriftstellern mittleren Alters, die zunächst die Verwestlichung willkommen geheißen hatten, das Gefühl des Kontaktverlustes zu einheimischen Traditionen. Japaner nannten diesen Trend nihon kaiki, ‚Rückkehr zu Japan‘. Jun’ichiro Tanizakis Essay In’ei raisan (Lob des Schattens, 1933) ist die vielleicht bekannteste Bestandsaufnahme dieser Zeit. Tanizaki nahm den Zusammenbruch der traditionellen Kultur angesichts der Modernisierung 22 Vgl. Roden, Donald: „Taisho Culture and the Problem of Gender Ambivalence“, in: Rimer, J. Thomas (Hrsg.): Culture and Identity. Japanese Intellectuals During the Interwar Years, Princeton 1990, S. 58. 23 Im Original flappers; dieser Ausdruck kann auch Erotisch-Verruchtes konnotieren. Anm.d.Übers.

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zur Kenntnis und forderte Schriftsteller dazu auf, einheimische Ursprünge des Schönen wiederzuentdecken. Daisetz Suzukis Vorlesungen, die den Zen-Buddhismus als zentrale Triebkraft der nationalen Kultur beschrieben, suchten auf ähnliche Weise ‚das Japanische‘ neu zu definieren. Ein kaiserlicher Erziehungserlass von 1937, Kokutai no hongi (‚Die Grundprinzipien des japanischen Nationalwesens‘) legt ausführlich dar, wie ein Japaner offiziell zu sein hatte: intuitiv und asketisch im Gegensatz zum rationalen und analytischen westlichen Menschen, loyal zur Gruppe und nicht individualistisch; gegen soziale Umwälzung und Klassenkampf.24 Die Künstlichkeit solcher Aktivitäten ergibt sich teilweise aus der absichtlichen Beschränkung dessen, was als inhärent oder rein japanisch zu gelten hatte. Peter Dale hat Publikationen zur japanischen Kultur scharf kritisiert für „their simple faith in the idea that Japan’s vast and varied tradition may be summed up in one ‚key word‘“.25 Wie bei den meisten anderen Völkern sind auch die japanische Kultur und Kunst von widerstreitenden Tendenzen durchsetzt. Ian Buruma zufolge weist Japan mindestens zwei kulturelle Traditionen auf: eine populäre, vom Shinto inspirierte Wertschätzung der Sinnlichkeit und des Grotesken, und eine aristokratischere buddhistische Ästhetik, die aus China und Korea importiert wurde und Asketik und Strenge in den Vordergrund stellt.26 Somit lud bereits die bloße Vorstellung von japanischer Kultur zu taktischen Neudefinitionen ein. Viele Gebräuche, die man allgemein für jahrhundertealte Traditionen hielt, waren absichtlich von Sozialplanern der Meiji-Ära eingeführt worden. Saisonarbeit, Altersrangfolge, lebenslange Loyalität zur Firma – all dies hatte eine Regierung eingeführt, um mit selektivem Rückgriff auf Teile des Samuraiethos eine vereinheitlichende, offizielle Ideologie für eine Nation zu konstruieren, die gerade ins weltweite kapitalistische System eintrat.27 Sogar die Verehrung des Kaisers, eine vermeintlich ewige Tradition, war eine Erfindung der 24 Zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit den Debatten über diese ‚Rückkehr‘ vgl. Najita, Tetsuo/Harootunian, H. D.: „Japanese Revolt against the West: Political and Cultural Criticism in the Twentieth Century“, in: Duus, Peter (Hrsg.): The Cambridge History of Japan, Bd. 6, Cambridge 1988, S. 711-774. 25 Vgl. Dale, Peter N.: The Myth of Japanese Uniqueness, New York 1986, S. 56-67. 26 Buruma, Ian: Behind the Mask. On Sexual Demons, Sacred Mothers, Transvestites, Gangsters, Drifters and Other Japanese Cultural Heroes, New York 1984, S. 13-14. 27 Vgl. Gluck, Carol: Japan’s Modern Myths: Ideology in the Late Meiji Period, Princeton 1985.

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Meiji-Ära; vor 1868 wussten die meisten Japaner nicht einmal, dass sie einen Kaiser hatten. Besonders während der 1920er und 1930er Jahre wurde ein Bild spezifisch japanischer Traditionen als Konsumobjekt für den einheimischen und ausländischen Markt geprägt.28 Ganz ähnlich suchte die ‚Rückkehr zu Japan‘-Bewegung der 1930er Jahre japanische Tradition in Abgrenzung gegen den fremden Einfluss der 1910er und 1920er Jahre, aber auch über ihn zu definieren. Von einer Kabuki-Aufführung mit elektrischer Beleuchtung lernt beispielsweise Tanizaki, wie wichtig Schatten in der einzigartigen Tradition seines Landes sind. Er kostet aus, was er für einen spezifisch japanischen Geschmack hält – Geschmack an halbwahrgenommenen Texturen, an düsteren Emotionen, am Blick auf eine Frau in der Abenddämmerung; an allem, was nun weggebrannt ist von einer lauten, hellen, frohsinnigen Urbanität. Die Nostalgie Tanizakis, Suzukis und vieler anderer reagierte auf den unautorisierten, überstürzten und potentiell gefährlichen Flirt mit westlichen Moden. Auf das fehlende Vermögen vergangener Dekaden bezogen, die ‚Dinge gründlich zu verdauen‘, beklagt das Kokutai no hongi, dass ‚seit der Meiji-Zeit sehr viele Elemente europäischer und amerikanischer Kultur, Systeme und Gelehrsamkeit importiert worden sind, und dass dies zu rasch geschah‘.29 Der Text ist insofern ein Echo der Meiji-Politik, als er keinen vollständigen Bruch mit dem Westen, sondern eine Absorption seiner nützlichsten Erfindungen in die nationale japanische Identität fordert. Dieses Gefühl der Einheit, das ein Erlass von 1941 in noch deutlichere Worte fasst, sollte zur offiziellen politischen Linie der Kriegsjahre werden: „It is an urgent matter for Japan to realize

28 Dieser Prozess ist von Miriam Silberberg in den folgenden Aufsätzen am ausführlichsten untersucht worden: „The Modern Girl as Militant“, in: Bernstein, Gail Lee (Hrsg.): Recreating Japanese Women, Berkeley 1991, S. 239-266, „Constructing the Japanese Ethnography of Modernity“, in: Journal of Asian Studies, Bd. 51, Nr. 1 (1992), S. 30-54, und „Remembering Pearl Harbor, Forgetting Charlie Chaplin, and the Case of the Disappearing Western Woman: A Picture Story“, in: Positions: East Asia Cultures Critique, Bd. 1, Nr. 1 (1993), S. 24-76 und „Constructing a New Cultural History of Prewar Japan“, in: Miyoshi, Masao/Harootunian, H. D. (Hrsg.): Japan in the World, Durham 1993, S. 115-143. Vgl. auch die Beiträge in Gluck, Carol/Graubard, Stephen R.: Showa: The Japan of Hirohito, New York 1992. 29 Kokutai no hongi: Cardinal Principles of the National Entity of Japan, übers. von John Owen Gauntlett und Robert King Hall, Cambridge, Mass. 1949, S. 52.

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the establishment of a structure of national unanimity in politics, economy, culture, education and all other realms of national life.“30 Es genügt also nicht, Einflüsse westlicher Praktiken auf die Kultur Japans des 20. Jahrhunderts nachzuweisen. Wir sollten auch zur Kenntnis nehmen, dass künstlerische Bezugnahmen auf Traditionen vor der MeijiZeit höchstwahrscheinlich durch Zwecke und Notwendigkeiten des 20. Jahrhunderts vermittelt sind. Dem Westen ausgesetzt zu sein stellte zum Beispiel Schriftsteller vor das Problem, nun einen Beitrag zur Weltliteratur leisten und dennoch irgendwie, aber auf jeden Fall markant japanisch sein zu müssen. Auf ähnliche Weise gab das Erdbeben von Kanto Filmemachern eine Chance, neu anzufangen und den japanischen Film nach dem Modell Hollywoods und Europas zu modernisieren. Gleichzeitig stellte sich die Frage, wie man vermeiden konnte, einfach zu einer Kopie des Westens zu werden und wie man in modernes Kino eine Ahnung des ‚Japanischen‘ einfließen lassen konnte. Das Japanische wurde während der gesamten Periode der Entwicklung des japanischen Films zu einer Industrie und Kunst neu- und umdefiniert. Das erschwert eine vordergründige Sicht dieses Kinos als Übertragungsform lang zurückreichender Traditionen: Wenn japanische Regisseure von vornherein den Traditionen hätten treu bleiben wollen, hätten sie sofort aus sehr hohen Blickwinkeln filmen können. Sie hätten in dachlosen, nebelumhüllten Gebäuden in extremen Totalen filmen können – im Anschluss an ihre zutiefst traditionalen Konventionen visueller Kunst. Nichts hätte sie daran gehindert. Stattdessen filmten sie ihre Kabuki- und shimpa-Dramen auf eine Weise, die größtenteils dem primitiven westlichen Kino entspricht: in frontal auf die Szene gerichteten Totalen.31 Später, als ihnen mehr technische Ressourcen zur Verfügung standen, hätten sie die westlichen Schnittkonventionen ganz aufgeben können, so wie ihre Samurai-Vorfahren Feuerwaffen aufgaben, und sie hätten alles im ‚Stil der abgenommenen Dächer‘ der e-makimono-Malerei drehen können. Aber wieder verzichteten sie darauf. Was taten die Regisseure? Sie übernahmen in Bausch und Bogen westliche Konventionen des Inszenierens, Schneidens und Erzählens. Dann wandelten sie diese mit Hilfe solcher Stilmittel ab, die nach zeitge30 „Appendix A: The Way of Subjects“, in: Tolischus, Otto D.: Tokyo Record, New York 1943, S. 417. 31 Hiroshi Komatsu beschreibt allerdings eine frühe Verfilmung einer KabukiEpisode, die aus einem hohen Blickwinkel aufgenommen wurde. Doch offensichtlich sollte dies dem Publikum andeuten, dass es sich um eine Bühne handelte; es ging nicht darum, an den erhöhten Blickwinkel der Grafik zu erinnern. Vgl. Komatsu: „Some Characteristics“, S. 235.

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nössischen Vorstellungen die Filme erkennbar japanisch erscheinen ließen. Das heißt, die westlichen Normen stellten einen Rahmen dar, in dem deutlicher japanische Elemente situiert werden konnten. Somit verhielten sich die Filmemacher wie die Maler, die sich darum bemühten, plein-air-Elemente mit ihrer designerischen Tradition zu vermischen, und wie die Romanschriftsteller, die lyrische Abschweifungen in Intrigenplots einbauten. Filmstudios expandierten auf der Basis rationalisierter westlicher Produktionsmethoden und zogen die Maschinerie von Publicity und Stars nach sich. Drehbuchabteilungen wurden eingerichtet, die Angestellte zum Analysieren der neuesten US-Produktionen abstellten. Wichtige Filmgenres entstanden aus der populären Literatur und aus zeitgenössischer Mode: In diesem Kontext erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass die visuellen Konventionen der Filme nicht den Einflüssen der NachMeijizeit und insbesondere der Tokyoter Massenkultur unterworfen gewesen sein sollten.32 Als dann spezifisch japanische Repräsentationsstrategien in Filmen auftauchten, resultierten sie nicht aus einer spontanen, unreflektierten, jahrhundertelangen Tradierung. Diese Strategien funktionierten vielmehr als absichtliche Zitate, die das Produkt als distinkt japanisch auszeichneten und außerdem bestimmte formale und kulturelle Zwecke erfüllten. Viele der auffälligen Stilfiguren, die ich genannt habe, können als Reminiszenzen an einheimische künstlerische Traditionen und als Ausschmückungen der filmbeherrschenden westlicheren Stilprotokolle gesehen werden. Die gelegentlichen Undurchsichtigkeiten in der Kadrierung und das Spiel mit Verdecken und Enthüllen können als Beispiele von inpei (Verbergen oder Verschleiern) gelesen werden, eines ästhetischen Werts, der in der traditionellen Malerei durch Nebel, Paravents und die Winkel von Mauern oder Wänden erreicht wird. Blickführungen durch bildimmanente Rahmungen erinnern möglicherweise absichtlich an ähnliche Strategien in Drucken und Gemälden. Mit knieenden, auf einem erhöhten Podium oder auf dem Boden sitzenden oder stehenden Figuren orientieren sich Bildausschnitte an jener traditionellen Einteilung des Bildformats in niedrigen Vordergrund, erhöhten Mittelgrund und einen

32 Vgl. Bordwell: Ozu and the Poetics of Cinema, S. 143-159. Vgl. auch Keiko McDonalds Überblick „Popular Film“, in: Powers, Richard Gid/Kato, Hidetoshi: Handbook of Japanese Popular Culture, Westport, Conn. 1989, S. 97-126. Dieser Band liefert insgesamt reichhaltige Informationen zu der besonderen Mischung westlicher und japanischer Elemente in der urbanen Kultur dieses Jahrhunderts.

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höchsten, weit entfernten Punkt (Abb. 26).33 Und obwohl die Konvention des ‚abgenommenen Dachs‘ in den Filmen unbekannt ist, scheinen in den jidai-geki des Monumentalstils einige Einstellungen auf Innenhöfe und Paläste bewusst darauf angelegt zu sein, die große Tradition der Bildrollenerzählungen aufzurufen (Abb. 27) – dem Ruf nach einer ‚Rückkehr zu Japan‘ entsprechend, der in den 1930er und 1940er Jahren aus Regierungskreisen kam.

Abb. 26: Einige Einstellungen in ABE ICHIZOKU muss man wie die japanische Grafik von unten nach oben abtasten.

Abb. 27: IEMITSU TO MIKOHoher Blickwinkel, Kirschblüten. ZAEMON:

Meine Überlegungen weichen hier von der gängigen Argumentationsweise ab, Analogien oder Quellen für filmische Elemente innerhalb der japanischen Kunsttradition zu suchen.34 Als angemessene Beschreibungen für einen japanischen Filmstil greifen solche Vergleiche meiner Ansicht nach zu kurz. Der Stil eines Films erzeugt einen systematischen Kontext, der diskrete Elemente schluckt. Allgemeine Charakteristiken japanischer Gestaltung zu isolieren – etwa eine Vorliebe für Diagonalen oder ein Wechselspiel von leerem und gefülltem Raum – und dann solche Charakteristiken in einer Einstellung ausfindig zu machen bedeutet, die weiterreichende Dynamik des Werks zu ignorieren, die solchen Elementen erst ihre spezifische Funktion gibt. Außerdem sind solche allgemeinen Charakteristiken, so bedeutsam sie für die japanische Kunst 33 Hutt, Julia: Understanding Far Eastern Art. A Comparative Guide to the Arts of China, Japan, and Korea, New York 1987, S. 35. 34 Eine interessante Zusammenstellung solcher Bemühungen findet sich in Ehrlich, Linda C./Desser, David (Hrsg.): Cinematic Landscapes: Observations on the Visual Arts and Cinema of China and Japan, Austin 1994, S. 149-321.

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vor dem 20. Jahrhundert sein mögen, zum Verständnis des Kinos nicht unbedingt hilfreich. In Japan und anderswo fungiert es als Erzählmedium, das im Normalfall seinen visuellen Stil den Erfordernissen des Erzählens unterordnet. Wenn Stilanalysen sowohl detailgenaue als auch umfassende Aussagen liefern sollen, dann brauchen wir ein filmisches Formkonzept, das besser auf die historische Entwicklung des Kinos und auf die Kompositionsdynamik von Erzählung und Erzählen zugreift. Anleihen bei traditionellen Praktiken zu entdecken ist dann am aufschlussreichsten, wenn sie innerhalb des Gesamtkontextes eines Films oder Gruppenstils lokalisierbar sind. Dann und in dieser Perspektive können sie als momentane Intensivierungen und bewusste Verzierungen gesehen werden, die einem Film expressive oder dekorative Qualitäten verleihen. Es kommt somit nicht nur vor, dass Ozus Gebrauch von Weitwinkelperspektiven in manchen Einstellungen an Hiroshige erinnert. (Wenn wir eine Stilanalyse durchführen, müssen wir auch die Prinzipien der vielen tausend Einstellungen, in denen das nicht der Fall ist, benennen.) Es kommt auch vor, dass ein Regisseur, der in dem neuen Medium Film arbeitet, bewusst die große Tradition der Holzschnitte aufruft, um das zeitgenössische japanische Stadtleben neu zu definieren.35 Im Extremfall können solche Bilder für das Japanische selbst stehen und kulturelle Distinktionsmerkmale werden. Diese Möglichkeiten bestehen, sobald Bildgestalter wie die japanischen Regisseure der frühen 1920er Jahre auch mit anderen Gestaltungsmethoden vertraut waren.

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Stilistische Entwicklungen

Der japanische Filmstil, so mein Vorschlag, lässt sich am besten sowohl als Assimilation der klassischen, im Westen gebräuchlichen Techniken wie auch als experimenteller und durch ein bewusstes Gefühl für japanische Eigenart vermittelter Impuls ansehen. In diesem Rahmen können auch die lokaleren stilistischen Trends der Periode angesiedelt werden. Obwohl nicht genügend Filme erhalten sind, um gesicherte Aussagen treffen zu können, wird in den 1920er Jahren doch mit hoher Wahrscheinlichkeit und überraschenderweise ausgerechnet der Historienfilm 35 Vgl. Bordwell: Ozu and the Poetics of Cinema, S. 49, und Geist, Kathe: „Playing with Space: Ozu and Three-Dimensional Design in Japan“, in: Ehrlich/Desser: Cinematic Landscapes, S. 284-286.

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zum Hauptträger einer amerikanischen technischen Modernisierung. Obwohl die Reformer der späten 1910er und frühen 1920er Jahre eine Technik, die auf Hollywood gegründet war, vorwiegend für Gegenwartsstoffe verwendet hatten, waren es jidai-geki und besonders Schwertkampffilme, die in Szenen gewalttätiger Aktion die Schuss-Gegenschussdécoupage einsetzten. Außerdem finden sich dort Gewaltausbrüche, die auf die Kamera zulaufen, und beschleunigte Bewegung, die man durch Drehen mit langsamer Geschwindigkeit erreichte. Es gibt ferner rasche, oft aus der Hand gefilmte Kamerabewegungen während der Kampfszenen, aber auch in Gesprächen oder als Überleitung zwischen einzelnen Szenen. Nach den wenigen verfügbaren Filmen zu urteilen, spannten Daisuke Ito und Masahiro Makino, die zwei prominentesten Regisseure des Schwertkampffilms, diese Taktik für narrative und expressive Zwecke ein. Dieser flamboyante Stil setzte sich bis in die 1930er Jahre fort.

Abb. 28, 29: Tachibanas Hieb nach unten mit rechts; Schnitt auf einen linkshändigen Hieb nach unten. Der Effekt ähnelt verblüffend den jump-cuts, die in der Sequenz auf der Treppe von Odessa in BRONENOSEC POTJOMKIN (1925; Panzerkreuzer Potemkin) die Säbelhiebe des Kosaken zeigen. Dass dieser Stil den analytischen Schnitt bis zu einem Grad weitertrieb, der mit dem französischen impressionistischen Kino und dem sowjetischen Montagekino vergleichbar war, zeigt der Film GUNSHIN TACHIBANA CHUSA (1926; Lieutenant-Colonel Tachibana von Genjiro Saegusa). Es gibt zu Beginn eine Kampfszene mit Explosionen, durcheinanderlaufenden Soldaten und wackligen Kadrierungen: man hatte die Kamera dazu auf einen Wagen zwischen Pferden montiert. Innerhalb dieser Szene findet sich eine Serie von Einstellungen, die jeweils zwischen

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zehn und fünfzehn Einzelbildern lang sind. Ein Kendowettkampf ist noch hektischer, mit Einstellungen von einer halben Sekunde oder noch weniger. Die Schlacht, die den Höhepunkt bildet – inklusive auf den Kopf gestellter Bilder – hat ebenfalls Durchschnittswerte von einer halben Sekunde pro Einstellung. Der Höhepunkt schneidet Nahaufnahmen von Tachibanas Angriff unmittelbar vor einer Explosion zusammen (Abb. 28-29), die nicht zueinander passen. Drei Wochen vor Pudovkins MUTTER veröffentlicht, ähnelt GUNSHIN TACHIBANA CHUSA bemerkenswert einem russischen Film aus den späten 1920er Jahren. Der flamboyante Stil beweist außerdem großen Einfallsreichtum in der Inszenierung von Auf- und Abtritten. Wie hektisch dieser Vorgang sein konnte, zeigt ein längerer Schwertkampf in LES VINGT-SIX MARTYRS 36 JAPONAIS (1930; Die 26 japanischen Märtyrer). Tight framing ist beherrschend, die Gegenstände füllen den Kader aus, und Schwertkämpfer stürzen sich selbstvergessen und mit Hochgeschwindigkeit ins Bild hinein und wieder heraus. Der Regisseur beweist besonderes Talent, den unteren Bildrand auszunutzen (Abb 30-36). Filme wie TACHIBANA und VINGT-SIX MARTYRS JAPONAIS schöpfen die Expressivität klassischer Techniken bis an ihre Grenzen aus, und sie wirken noch heute erfrischend – besonders im Vergleich zu den faden Actionfilmen der westlichen Filmindustrien. Eine zeitgenössische Entsprechung haben sie vielleicht in Hongkongs kinästhetischen Krimis, Schwertdramen und martial arts-Filmen, die ihrerseits von den japanischen Nachfolgern der klassischen chambara aus den 1960er Jahren beeinflusst sind. Ito und Makino wüssten es sicherlich zu schätzen, wie Ringo Lam in COVER HARD (1992; Full Contact) in einer Nachtclubszene die Subjektive eines Querschlägergeschosses einbaut.

36 Dieser Film trägt einen französischen Originaltitel, da er von Belgiern finanziert und geschrieben wurde (wahrscheinlich zu christlich-missionarischen Zwecken). Dennoch wurde er von zwei Japanern, T. Ikeda und D. M. Hirayama, bei Nikkatsu gedreht, und die Besetzung ist ausschließlich japanisch. Aufgrund dieser Umstände und wegen der starken Ähnlichkeit dieses Filmes mit dem visuellen Stil japanischer Filme dieser Zeit betrachte ich ihn als japanischen Film. Ich habe allerdings den japanischen Titel noch nicht herausbekommen können.

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Abb. 30-36: Beginn mit dem Bösewicht im Mittelgrund; Auftauchen des Helden am unteren Bildrand; Feind von links; dann von rechts; er greift den ersten Gegner an; Drehung; Angriff auf einen neuen Gegner.

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Die neue Regisseurgeneration, die in den 1920er Jahren heranwuchs, war sich der Dominanz des flamboyanten jidai-geki bewusst und begann alternative stilistische Repertoires zu entdecken. Yoshikata Yoda, Drehbuchautor für Mizoguchi, erinnert sich, dass zu dieser Zeit zwei Trends aufkamen. Einer betonte die Einstellungen und ihre Kombination; ein anderer behandelte die Szene als Einheit.37 Nach dem Kanto-Erdbeben ermunterte das Shochiku-Studio im Tokyoter Vorort Kamata seine Regisseure, für shomin-geki (Dramen und Komödien über zeitgenössische Unter- und Mittelschichtfamilien) amerikanisches continuity editing zu übernehmen.38 Das Shochiku-Studio entwickelte eine schnittbetonte Methode, die ich ‚gestückelte découpage‘ nennen werde. Sie lehnt sich an Charles Chaplins WOMAN OF PARIS (1923; Nächte einer schönen Frau) und Ernst Lubitschs THE MARRIAGE CIRCLE (1924; Die Ehe im Kreise / Rund um die Ehe) an und zerlegt jede Szene in zahlreiche Einstellungen. Zwischentitel und Nahaufnahmen von Gesichtern, Körperteilen und Ausstattungsdetails ermöglichten es dem Publikum, den emotionalen flow des Dramas zu verfolgen. Yasujiro Shimazu, Hiroshi Shimizu, Hiromasa Nomura, Heinosuke Gosho, Yasujiro Ozu und Mikio Naruse zählten zu den berühmtesten Vertretern des Kamata-Stils. ‚Gestückelte découpage‘ erwies sich in den gesamten 1930er Jahren als anschlussfähig und setzte sich in Shochiku-Zugpferden wie ATARASHIKI KAZOKU (Abb.11-12) und SAKURA NO KUNI (1941; Land of Cherry Blossoms, Abb. 37-39) ebenso wie in den Produktionen anderer Studios fort. Naruse behielt ihn bei, als er von Shochiku zu Toho wechselte. Die ‚gestückelte‘ Methode konnte auch Basis dekorativer Ausarbeitung werden. Mikio Naruses KAGIRINAKI HODO (1934; Street without End), ein Melodram um eine arme Frau, die in eine snobistische Familie einheiratet, treibt das Prinzip der unablässigen Zerteilung der Szene ins Extrem: die durchschnittliche Einstellungslänge beträgt weniger als vier Sekunden, und die Vielzahl der Kamera- und Beleuchtungspositionen ist erstaunlich. Der Höhepunkt überrascht sowohl in dramatischer als auch in stilistischer Hinsicht. Sugiko hat in einem Haushalt, der von einer dominanten Mutter und einer Schwester beherrscht wird, um Respekt gekämpft und besucht nun ihren Ehemann im Krankenhaus. „Du bist ein 37 Yoda, Yoshikata: „Souvenirs (2)“, in: Cahiers du cinéma, Nr. 169 (August 1965), S. 34. 38 In den Worten des Produzenten Shiro Kido beobachtete man in diesen Filmen die Mühen einfacher Leute, sich durchzuschlagen, auf ‚warmherzige, anerkennende Weise‘. Vgl. Kido, Shiro: Nihon eiga den: Eiga sesakuska no kiroku [A Japanese Film Biography: Chronicle of a Film Producer], Tokyo 1956, S. 40.

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guter Mann“, sagt sie zu ihm, „aber du bist schwach.“ Sugiko wirft dann ihren Schwiegereltern egoistische Arroganz vor und lässt sie im Stich, als ihr Mann stirbt. Diese zutiefst untraditionelle Szene, die sich über fünfeinhalb Minuten, 84 Einstellungen und 18 Zwischentitel hinzieht, erarbeitet virtuose Variationen der Figurenpositionen (Abb. 40-41).

Abb. 37-39: Nahaufnahme von Papierballons für den Mädchentag, einen japanischen Feiertag; Schnitt auf den Strickkorb. Das Garnknäuel nimmt die Form der Ballons auf. Schnitt auf die Protagonistinnen. Das Knäuel stellt die Verbindung her.

Abb. 40, 41: Veränderte Figurenpositionen im Tiefenraum. Sugiko geht hinaus auf den Krankenhausflur. Dort erfährt sie vom Tod ihres Mannes. Abrupt zeigt Naruse drei Einstellungen mit demselben Muster. Ein leerer Kader erscheint, in den Sugiko eintritt. Sie hält inne; Schnitt auf einen weiteren leeren Kader, in den sie (in eine andere Richtung) eintritt; sie hält inne; Schnitt auf einen weiteren leeren Kader. Sie

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tritt hinein, wieder aus einer anderen Richtung, und hält inne. Die drei Einstellungen lassen die erzählerische Bedeutung völlig in der Schwebe: Kehrt sie in einer abschließenden Liebesgeste zum Totenbett zurück? Entfernt sie sich in einem definitiven Akt der Zurückweisung? Zögert sie? Gleichzeitig sorgen die momentane Desorientierung durch die leeren Kader und die plötzlichen, akzentuierenden Nahaufnahmen für eine dekorative Geometrisierung. Die Kompositionen in der Totenbettszene von KAGIRINAKI HODO zeigen erneut, dass Tiefenrauminszenierung nicht unvereinbar mit einer hohen Schnittfrequenz ist. Anhänger der ‚gestückelten découpage‘ verwendeten manchmal tiefenräumliche Kadrierung und Weitwinkelobjektive. In SAN REN KA (1935; Three Beauties) wird eine andere Hospitalszene in einer Folge robuster, proto-wellesianischer Einstellungen dargestellt (Abb. 42).

Abb. 42: ‚Gestückelte découpage‘ unterstreicht die Dichte der Weitwinkelkomposition in SAN REN KA.

Abb. 43: Ein Vater tadelt seinen Sohn; dann versöhnen sie sich. Eine Serie entfernter, statischer Kadrierungen akzentuiert die Handlung.

Neben dem flamboyanten Stil der chambara-Actionfilme und der feingliedrigen Montage der Kamata-inspirierten Filme gab es einen weiteren Trend, den ich ‚piktorialistischen Ansatz‘ nennen möchte. Hier stützt sich der Regisseur auf bedeutend längere Aufnahmen, distanziertere Kadrierung, weniger Heranschnitte auf Details und ein gemächlicheres Tempo der Bildabtastung. EDO NO ASAGIRI (1935?; Morning Mist in Edo) z.B. lässt einige Dialogszenen in längeren Aufnahmen spielen. Die durchschnittliche Einstellungslänge beträgt 14 Sekunden. In vielen Szenen werden Gespräche in einigen wenigen, recht distanzierten Kadrierungen abgehandelt (Abb. 43). In TSUKIYO KARASU (1939; Crow of the Moonlight Night; durchschnittliche Einstellungslänge: 23 Sekunden) gibt

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es sehr wenige Nahaufnahmen, und establishing shots werden viele Sekunden lang gezeigt. Diese Tendenz entspricht möglicherweise jener Gepflogenheit bei Nikkatsu, die Szene als Grundeinheit des Films zu betrachten.

Abb. 44: Diagonale, Tiefenraum und eine heiter-ruhige Innenaufnahme in MORI NO ISHIMATSU (1937; Ishimatsu of the Forest).

Abb. 45: Monumentalstil im jidaigeki: der Shogun flaniert nachdenklich in seinem Garten (MORI NO ISHIMATSU).

Der piktorialistische Ansatz hebt die einzelne Einstellung als reich ausgestaltetes Design hervor, das Licht, Textur und geometrische Formen zu stabilen, eleganten Kompositionen zusammenfügt. Die Einstellung wird oft streng durch Vektoren aufgeteilt, die entweder durch einen erhöhten Blickwinkel entstehen, der Diagonalen erzeugt (Abb. 44), oder durch horizontale Streifen als Ergebnis einer waagerechten Kameraposition. Deren geometrische Variationen können bemerkenswert dekorativ wirken. Wie diese Beispiele zeigen, findet sich die volle Entfaltung des piktorialistischen Stils im Historienfilm. Hier knien Reihen von Vasallen und Gefolgsleuten in Burgsälen, lange Flure liefern scharfe Diagonalen, welche die Rundungen der menschlichen Gestalt akzentuieren, und Gärten und Innenhöfe liefern malerische Ausblicke (Abb. 45). Aus der düsteren Ruhe, die der piktorialistische Stil verbreitet, baut der ‚monumentale‘ jidai-geki der späten 1930er Jahre Bilder von Standhaftigkeit und majestätischem Leid auf. Kranaufnahmen, die von einer ausbalancierten Totalekomposition zur nächsten überleiten, steigern den gelassenen Ernst der Feudaltradition z.B. in IEMITSU TO MIKOZAEMON (1941; Iemitsu and Mikazaemon) von Masahiro Makino. In ABE ICHIZOKU (1938; The Abe Clan) reihen sich glänzende Kompositionen wie in einer

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Prozession aneinander und verleihen der Geschichte des Ehrverlusts einer Samuraifamilie epische Größe. Die Filme der monumentalen Periode stehen ganz offensichtlich in Beziehung zu einer neuen Definition japanischer Kriegstugenden,39 und sogar bestimmte Heimatfrontfilme wie WAGA AI NO IKI (1941; Diary of Our Love) erhalten durch piktorialistische Zurückhaltung ein würdevolles Pathos. Es gibt Belege dafür, dass diese stilistischen Trends ungefähr in der Reihenfolge beherrschend wurden, in der ich sie thematisiert habe: der flamboyante Stil kam in den mittleren 1920er Jahren auf, ‚gestückelte découpage‘ verbreitete sich am Ende des Jahrzehnts, und Piktorialismus entstand Mitte der 1930er Jahre. Man kann auch nachweisen, dass Regisseure im Laufe der 30er Jahre action langsamer inszenierten und längere Aufnahmen verwendeten. Alle Filme in meiner Auswahl (von 1925 bis 1933) wiesen eine durchschnittliche Einstellungslänge von weniger als 12 Sekunden auf. Während des Übergangs zum Tonfilm zwischen 1934 und 1937 bewegen sich die durchschnittlichen Einstellungslängen in einem größeren Spielraum, wobei im Durchschnitt dreißig Prozent zwölf Sekunden lang oder länger waren. Zwischen 1938 und 1945 wiesen über die Hälfte der 79 Filme, die ich untersucht habe, durchschnittliche Einstellungslängen von zwölf oder mehr Sekunden auf. Dabei waren nur fünf dieser Filme von Mizoguchi!40 Diese Unterscheidungen sollten nicht als Wiederaufnahme der Grabenkämpfe gesehen werden, die in den 1960er Jahren um unterschiedliche Dogmen der Filmkritik ausgefochten wurden: um Schnitt oder plan-séquence, Montage oder mise-en-scène, Eisenstein oder Bazin. Sowohl der flamboyante Stil als auch die gestückelte Methode beruhen auf Inszenierungs- und Schnittstrategien. Und der piktorialistische Stil betont zwar das Einzelbild als integrales Bild, erzielt aber wichtige Effekte durch die zeitliche Platzierung des Schnitts. Wichtiger ist, dass alle drei Tendenzen Varianten der standardisierten continuity sind, jenem allgegenwärtigen Stil, auf dem wahrscheinlich der weltweite Massen39 Vgl. Davis, Darrell: „Back to Japan: Militarism and Monumentalism in Prewar Japanese Cinema“, in: Wide Angle, Bd. 11, Nr. 3 (Juli 1989), S. 16-25, und seine Studie Picturing Japaneseness: Monumental Style, National Identity, Japanese Film, New York 1996. 40 In meinem Korpus hatten 86 % der Filme zwischen 1925 und 1933 durchschnittliche Einstellungslängen von weniger als sechs Sekunden. Da Japan den Tonfilm erst allmählich übernahm, hätte man eine schnelle Schnittfrequenz erwarten können (wegen der Zwischentitel). Auch das Hollywoodkino verlängerte die Einstellungen, als der Tonfilm kam, aber die sehr lange Einstellung wurde dort nicht so sehr normalisiert wie in japanischen Filmen.

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kinomarkt basiert. Die charakteristischeren Qualitäten jedes Stils konturieren sich in Abhebung gegen diese fundamentale und fast alle Szenen beherrschende Stilentscheidung. Man sieht diese drei Ansätze daher selten in Reinform. Der flamboyante Stil und die piktorialistische Methode dominieren selten einen gesamten Film. Ein Schwertkampffilm mag zwar die Zersplitterung von Szenen à la Shochiku verwenden, dann aber Schlachtszenen auf viel dekorativere Weise präsentieren. Meist taucht eine malerische, dekorative oder opake Langeinstellung in einer traditionell analytisch geschnittenen Szene auf. Naruse, Yamanaka, Gosho und andere Regisseure arbeiten im Laufe ihrer Karrieren vergleichsweise eklektisch und erkunden innerhalb der flexiblen Grenzen japanischer Klassik verschiedene stilistische Ansätze. Das vielleicht beeindruckendste Beispiel ist ein junger Regisseur, der seine Karriere am Kriegsende begann: Akira Kurosawa.

Abb. 46: Die Mädchen diskutieren, ob sie durchhalten werden. Kurosawa zeigt ihre unterschiedlichen Reaktionen in einer sorgfältig komponierten Totale.

Abb. 47: Die ‚Rücken-zurKamera-Strategie‘ kommt in ICHIBAN UTSUKUSHIKU immer wieder vor, z.B. als Watanabe sich ganz links vom Betrachter abwendet und ein Mädchen ganz rechts aufgeregt auf vorbeifliegende Flugzeuge zeigt.

Seine Arbeiten aus den Kriegsjahren sind veritable Anthologien der Schnitt- und Inszenierungsexperimente der vorangegangenen zwei Jahrzehnte. Kurosawas Judofilm ZOKU SUGATA SANSHIRO (1945; Sanshiro Sugata II), ganz auf der Basis klassischer continuity gefilmt, präsentiert in die Kamera geschleuderte Körper, rasche ‚konzentrierende Einstellungen‘ und schnell geschnittene Kampfszenen, die mit schwindelerregenden Kranaufnahmen nach unten verziert werden. ICHIBAN UTSUKUSHIKU

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(1944; Am allerschönsten), ein patriotischer Film über Mädchen, die in einer Fabrik für optische Linsen arbeiten, macht sich nicht nur dynamische jump-cuts zunutze, sondern auch einen subtil modulierten Piktorialismus: Köpfe sind quer über extrem detailreiche Kadrierungen aufgereiht, die distanzierte, lakonische Inszenierung lässt die emotionalen Höhepunkte beinahe heiter-gelassen erscheinen (Abb. 46-47). Kurosawas erster Film, SUGATA SANSHIRO (1943; Sanshiro Sugata) weist die typische Erzählstruktur von martial arts-Filmen auf, in denen Anhänger rivalisierender Schulen Wettkämpfe veranstalten, um herauszufinden, welcher Stil überlegen ist. Der alte Meister Yano besiegt die Schüler Monmas, und Yanos Schüler Sanshiro triumphiert bald auch über Monma selbst. Der dekadente, verwestlichte Higaki schlägt Yanos andere Schüler; Sanshiro überwältigt Higakis sensei Murai, bevor er Higaki selbst im Entscheidungskampf des Films aufs Kreuz legt. Bereits der Plot von SUGATA SANSHIRO ist also symmetrisch und kombinatorisch aufgebaut, und Kurosawa behandelt dementsprechend auch jeden Kampf unterschiedlich. Am Hafenkai wirft Yano die ganovenhaften Ju-JitsuSchüler ins Wasser: dieser Vorgang wird in Totalen und mit langsamen Kamerabewegungen gezeigt. Im Gegensatz dazu besiegt Sanshiro Monma bei einem öffentlichen Wettkampf in einem Wirbel von Füßen, greifenden Händen und fliegenden Körpern. Kurosawa macht Anleihen bei der jidai-geki-Tradition und beschleunigt die Schnitte dreier Einstellungen, die Monma durch die Luft fliegend zeigen (erst 27, dann 18, dann 5 Kader; Abb. 48). Dieser rhythmische Ausbruch verlangsamt sich abrupt: man sieht Monma nicht landen. Stattdessen schwenkt die Kamera gravitätisch einmal im Kreis herum an den Zuschauern entlang, bevor sie bei seinem Körper innehält. Dann segelt ein zerbrochenes Fenster in gespenstisch langsamer Zeitlupe herab (Abb. 49). Ein späterer Kampf wird noch elliptischer behandelt. Wir sehen, wie Sanshiro nach einem Wurf die Füße wieder fest aufsetzt (Abb. 50). Im nächsten Augenblick sehen wir seinen Gegner, den alten Murai, gegen die weit entfernte Matte prallen (Abb. 51). Diese Strategie bringt nicht allein übermenschliche Kraft zum Ausdruck, sondern erweckt auch den Eindruck, Sanshiros Kunst sei mit der Kamera nicht einzufangen. Dieser Eindruck verstärkt sich in dem abschließenden Kampf, in dem die entscheidenden Körperbewegungen unsichtbar bleiben. Der Wind tobt über die Wiese, wieder und wieder schwenkt die Kamera herüber, nur um den finsteren Higaki bereits im Augenblick der Niederlage gegen Sanshiro zu erfassen. Somit verringert eine stilistische Progression

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in SUGATA SANSHIRO stetig die Bedeutsamkeit der kampfsportlichen Geschicklichkeit und betont stattdessen den Kampf um Reinheit, der dann zum Entscheidungsmoment führt.41 Indem er ein erzählerisches Kontinuum entwirft, das von der physischen zur spirituellen Seite des Judo führt, kombiniert Kurosawa die technischen Möglichkeiten, die die herrschenden Normen zur Verfügung stellten, zu einem bedeutungsvollen Muster.

Abb. 48-51: SUGATA SANSHIRO. Kurosawa entwickelte den Eklektizismus zu einem formal breit gefächerten Pluralismus weiter. Andere Regisseure schlugen einen engeren Weg ein. Sie formten eigene Stile aus wiedererkennbaren Mainstreamschemata, wendeten diese Schemata aber mit ungewöhnlicher Strenge an. Yasujiro Ozus spezifischer Stil kann beispielsweise als eine einzige fortgesetzte Erkundung der subtilsten Möglichkeiten der ‚gestückelten découpage‘ betrachtet werden. Seit 1927 bei Shochiku, erlegte sich Ozu enge Grenzen, private Regeln gewissermaßen, für das Inszenieren und 41 In den Worten David Dessers: „To be a judo master is to be free of ego, vanity, and the need for glory. The true way of judo is non-violent“. Vgl. Desser, David: The Samurai Films of Akira Kurosawa, Ann Arbor 1983, S. 63.

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Schneiden auf. Er erweiterte, beugte oder reformulierte diese Regeln und schuf dabei einen variationsreichen, spielerischen filmstilistischen Ansatz.42 Zielstrebigkeit bewies auch der schrullige Hiroshi Shimizu. Er hatte 1924 bei Shochiku angefangen, als er 21 war, und hatte zum Zeitpunkt seines Todes 1966 über 150 Filme gedreht. (1927 und 1929 kam er auf einen Durchschnitt von einem Film pro Monat!) Er hatte die Erlaubnis, unterwegs zu filmen und durchwanderte Japan, während er Dramen und Komödien mit fadenscheinigen Plots drehte. Seine Inneninszenierungen basieren auf ‚gestückelter découpage‘, auf den Tiefeneffekten und bildimmanenten Rahmen, die für die Zeit charakteristisch sind (vgl. Abb. 18). Sobald Shimizu aber draußen dreht, ist er geradezu manisch darauf versessen, seine Charaktere nebeneinander zu positionieren. Er behandelt dann ihre gemeinsame Bewegungsrichtung als Achse, entlang derer er filmt. Die Kamera steht somit der Handlung entweder gegenüber oder bringt sie von hinten ins Bild.

Abb. 52: Der endlose Zug der Schüler; Kamerafahrt rückwärts.

Abb. 53: Shimizu wandelt den continuity-Schnitt auf seine Weise ab, indem er die Passagiere nur vom vorderen oder hinteren Teil des Busses aus filmt.

Das läuft oft darauf hinaus, dass Shimizu seine Charaktere in endlosen Fahraufnahmen filmt und sich nur vorwärts oder rückwärts bewegt. Alle Mittel des konventionellen analytischen Schnitts müssen also auf Figuren angewendet werden, die direkt auf die Kamera zu oder von ihr weg gehen, laufen oder fahren. In HANAGATA SENSHU (1937; A Star Athlete) sind für eine Reihe von Oberschülern, die draußen bei militärischen 42 Vgl. Bordwell: Ozu and the Poetics of Cinema, S. 73-142.

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Übungen marschieren, beinahe vierzig aufeinander folgende Fahrten erforderlich (Abb. 52) – inklusive einiger Subjektiven von Menschen, welche die Truppe vorbeiziehen sehen. Der reizende ARIGATO-SAN (1936; Mr. Thank You) ermöglicht es Shimizu, seinen Ansatz zu variieren: er filmt eine lange Busreise, richtet die Kamera aber wieder streng an der Zentralachse aus und schränkt den analytischen Schnitt durch die wenigen rechten Winkel ein, die ins Blickfeld geraten (Abb. 53).43 Kenji Mizoguchi griff ebenfalls gängige Tendenzen auf, um einen strengen und markanten Stil zu formen. Seine Filme vor 1936 mischen verschiedene Optionen auf recht eklektische Weise. TAKI NO SHIRAITO (1933; Die weißen Fäden des Wasserfalls), ORIZURU OSEN (1934; The Downfall of Osen), GUBIJINSO (1935; Mohnblumen), und MARIA NO OYUKI (1935; Oyuki, the Virgin) basieren größtenteils auf westlichen découpage-Prinzipien, das heißt sie verwenden viele Schnitte und extensive Schuss/Gegenschuss-Passagen. Innerhalb der Einstellungen verwenden sie die basalen Hinweise Zentrierung, Fokus und ähnliches, um die wichtigen Aspekte der Handlung hervorzuheben. Aber Mizoguchi verwendet selten die diffizile Technik bildimmanenter Rahmung, um Gesichter oder Dinge durch Öffnungen hindurch zu filmen und wie in einem Setzkasten anzuordnen. Stattdessen bieten seine Bilder meist nur ein oder zwei Bereiche narrativen Interesses an. Der Rest des Kaders wird von Wänden, Decken oder großen Bodenflächen eingenommen – leere Bereiche, deren kompositionelle Richtungen, Texturen und Masse den zentralen Punkten der Aufmerksamkeit Stringenz verleihen. Als Meister der piktorialistischen Methode eignete sich Mizoguchi die lange Einstellung als eine Methode an, um die Konzentration des Publikums auf das Bild zu intensivieren und auszudehnen. Anstatt das Bild mit Information zu überladen, setzt er nuanciertere Taktiken ein, um sich die fortgesetzte Aufmerksamkeit der Zuschauer zu sichern. Vor 1936 zeigt er gelegentlich Einstellungen, die den Blick auf Figuren und insbesondere Gesichter verstellen. Mizoguchi tut dies ohne die oftmals gekünstelten Mittel anderer Regisseure. Eine Szene arrangiert die Figuren manchmal so, dass Kameraentfernung, Haltung, Beleuchtung und architektonische Elemente wie Wände und Türöffnungen zusammenwirken, um distanzierte, opake Kompositionen zu erzielen (Abb. 54).

43 Es gibt so gut wie keine englischsprachigen Auseinandersetzungen mit Shimizus Arbeiten. Burch berücksichtigt (in To the Distant Observer, S. 247-256) HANAGATA SENSHU. Eine kommentierte Bibliographie auf Japanisch erschien in Film Center, Nr. 28 (28. August 1974).

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Abb. 54: In MARIA NO OYUKI positioniert Mizoguchi die Charaktere durch Architektur und Figurenbewegung in vertikalen Raumsegmenten.

Abb. 55: NANIWA EREGJI. Zurückweichen …

Abb. 56

Abb. 57:…vor der Kamera.

Mizoguchis Vorliebe für die lange Einstellung erlaubt es ihm darüber hinaus, in seinen zwei wichtigen Filmen von 1936 der ‚unleserlichen‘ Einstellung größere strukturelle Bedeutung zu geben. Dunkle Flecken, Dezentrierung und distanzierte Kadrierung erzielen in GION NO SHIMAI (1936; Die Schwestern von Gion) durchweg diesen Effekt. Ein Höhepunkt in NANIWA EREGJI (1936; Elegie in Naniwa) zeigt Ayakos beschämtes Geständnis vor Fujino als Serie zurückweichender Bewegungen vor der Kamera, so dass beide Charaktere in einem großen Teil der Szene in einer Totale zu sehen sind und sich vom Zuschauer abwenden (Abb. 55). Als Ayako die Einstellung verlassen hat, schneidet Mizoguchi keinesfalls zu einer enthüllenden Nahaufnahme, sondern bewegt Fujino einfach zum Türrahmen, schneidet auf einen anderen Blickwinkel und

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lässt sie wiederum in den nächsten Raum zurückweichen – wobei er sie tatsächlich bis in die hinterste Ecke des Sets gehen lässt (Abb. 56-57).44 Diese Strategie der Rückenansichten bringt Ayakos Gefühl der Beschämung ungemein intensiv zum Ausdruck. Durch die offene Kadrierung ist das Nichtvorhandensein von Frontalität bei den Figuren außerdem mehr als nur eine vorübergehende, quälende Verbergung, die bald durch einen Schnitt auf einen näheren, deutlicheren Anblick unterbrochen wird. Diese unleserlichen Einstellungen fordern die Wahrnehmung heraus, gerade weil es so wenig zu sehen gibt und weil man auf die rätselhaften Rückenansichten und stimmliche Veränderungen zurückgeworfen ist. Man kann durchaus sagen, dass Mizoguchi, der seine Karriere bei Nikkatsu begonnen hatte, die piktorialistische Methode in neue Extreme getrieben hat, indem er die lange Einstellung, Kamerabewegung, offene Kompositionen und Variationen in der Raumtiefe einsetzte. Ich halte also insgesamt folgendes fest: Wenn Regisseure der 1930er Jahre keine Filme drehen, die stilistisch Hollywoodfilmen gleichen, dann kann man davon sprechen, dass sie die traditionellen continuity-Schemata transformieren. Diese Transformationen laufen in drei Hauptrichtungen, und jede leitet den Strom narrativer Information in neue Kanäle, erhöht seine Expressivität oder ergänzt ihn um Dekorativität.

5.

Der Pazifikkrieg: Rückkehr zur klassischen Methode

Man sollte erwarten, dass die so markanten filmstilistischen Erkundungsbewegungen in den dunklen Jahren zwischen 1937 und 1945, als Japan Krieg in China und im Pazifik führte, einen Höhepunkt erreichen würden. Viele ultranationalistische Schriftsteller forderten, das Kino solle im Krieg das Wesen der Nation zum Ausdruck bringen. Einer von ihnen schreibt: It is unthinkable that we should ever allow our splendid Japaneseness to fall into ruin. On the contrary, this love for things Japanese is destined to well up within [the creative artists among us], taking on marvellous new forms. Seen from this vantage point, the way 44 Zu einer detaillierten Analyse dieser Szenen vgl. meinen Aufsatz „Mizoguchi and the Evolution of Film Language“, in: Heath, Stephen/Mellencamp, Patricia (Hrsg.): Cinema and Language, Los Angeles 1983, S. 107-117, und Donald Kiriharas Kapitel zu NANIWA EREGJI, in: ders.: Patterns of Time: Mizoguchi and the 1930s, Madison 1992, S. 96-115.

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forward for Japanese cinema is the bringing to real life of that unique beauty which is native to Japan.45

Als die 1930er Jahre zu Ende gingen, hatte der nationale Film (kokusaku) mit seiner Aufgabe, das Japanische zu preisen, verschiedene Erscheinungsformen angenommen. Was ich monumentalen jidai-geki genannt habe, war nun als rekishi eiga (Historienfilm) bekannt: Samurai- und Clandramen entwickelten sich zu prunkvollen Inszenierungen feudaler Tugenden.46 Gegenwartsfilme porträtierten Bauernhöfe und Dörfer (z.B. Kurosawas UMA, 1941; Pferde), Intrigen in China (SHINA NO YORU, 1940; China Night), häusliche Probleme an der Heimatfront (SHIDO MONOGATARI, 1941; Tale of Guidance; WAGA AI NO IKI) und Kampfgeschichten: von den humanistischen Kriegsfilmen der späten 1930er Jahre bis zu den spektakuläreren Frontsagas.47 Die beherrschende Tendenz in all diesen Genres ist die Betonung einer geistig-spirituellen Dimension (seishinshugi) und damit die Darstellung jener geschätzten Tugenden Geduld, Ausdauer, Mut, Loyalität und Hingabe an Kaiser und Nation. Viele dieser Filme entwickeln die japanische Filmtradition in signifikante Richtungen weiter. Die humanistischen Schlachtfilme über den chinesischen Krieg beispielsweise zeigen das Soldatenhandwerk als zermürbende Routine, die gelegentlich von grimmigen Kämpfen durchbrochen wird. Der berühmteste Film, Tomotaka Tasakas GONIN NO SEKKOHEI (1938; Five Scouts) ist noch immer wegen seiner episodischen Erzählweise und seiner Darstellung gelassener männlicher Kameradschaft bemerkenswert.48 TSUCHI TO HEITAI (1939; Earth and Soldiers) erinnert in seiner Betonung der schieren physischen Erschöpfung, des stundenlangen Sich-Hinschleppens durch Sumpf und Schlamm an ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (1930; Im Westen nichts Neues). Außerdem arbeiten diese Filme nicht so sehr mit den langen erzählerischen 45 Otsuka Kyoichi, zitiert in High, Peter B.: „Japanese Film Theory and the National Policy Film Debate: 1937-1941“, in: International Studies, Bd. 2 (1986), S. 142. 46 Zu den kulturellen Hintergründen dieses Genres vgl. High: „Japanese Film Theory“, S. 142, und Davis: Picturing Japaneseness. 47 Eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesen Genres und ihren Produktionskontexten findet sich in Shimizu, Akira: „War and Cinema in Japan“, in: Nichi-bei eigasan: Paru Haba o 50 shunen. Yamagata Kokusai Dokyumentari Eigasai ‘91, 10-gatsu 7-nichi 10-nichi [Media Wars: Then and Now: Pearl Harbor, 50th anniversary] Yamagata International Documentary Film Festival, Tokyo 1991, S. 5-50. 48 Zu einem exzellenten Kommentar zu GONIN NO SEKKOHEI vgl. High, Peter B.: „A Propaganda of ‚Real Human Emotions‘: The ‚Humanist‘ War Films of 1938-1940“, in: International Studies, Bd. 4 (1987), S. 82-92.

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Spannungsbögen der Hollywood-Kriegsfilme als vielmehr mit einer Ansammlung von Vignetten. Insofern gleichen sie dem berühmtesten Roman über den chinesischen Krieg, Ashihei Hinos Mugi no heitai (1939; Barley and Soldiers), und anderen Reportagen von Schriftstellern, die zur Berichterstattung nach China geschickt worden waren.49 Dass die Filme einen gelassenen Stoizismus predigten, diente einem wichtigen Propagandazweck. Sie brachten einen Sinn für spirituelle Disziplin zum Ausdruck, der für den Sieg in einem Krieg, der sich lange hinzuziehen schien, dringend notwendig war. Dennoch soll das nicht heißen, dass der Krieg als völlig trostlose Angelegenheit dargestellt wurde. Alle Kriegsfilme enthalten aufregende Kampfszenen, die durch dynamische Kamerabewegungen und schnelle Schnitte akzentuiert werden. GONIN NO SEKKOHEI beginnt im heftigen Kampf und lässt den Vorspann über atemlose Fahrten und kurze Aufnahmen von schießenden Männern laufen, als wäre der Angriff so unerwartet, dass der Film keine Zeit mit einem orthodoxen Vorspann verschwenden könnte. Im selben Film folgen spannungsgeladene Kamerafahrten dem Aufklärungstrupp auf der Suche nach Feinden in einen Sumpf. Die Filme zum chinesischen Krieg nehmen auch Konventionen anderer Kriegsfilme auf: die blutige Flagge, der heldenhafte Angriff, der Augenblick, in dem der Soldat Fotos von Frau und Kind betrachtet, und das unvermeidliche Weitergeben einer Zigarette von Mann zu Mann. Wie es im Kriegsfilmgenre so oft geschieht, wird erbitterter Kampf mit lyrischem Detail kombiniert. Als in einem Angriff in TSUCHI TO HEITAI ein Soldat getroffen wird und zu Boden sinkt, verweilt die Kamera bei dem hohen, sich sanft wiegenden Gras, das ihn umschließt. Kritiker haben darauf hingewiesen, dass diese Filme fast nie den Feind zeigen oder auch nur erwähnen. Oft wird eine Schlacht nur von der japanischen Seite aus gefilmt, ohne Gegner zu zeigen. Wenn eine Schlacht gewonnen ist, wird abgeblendet, bevor man die Japaner das Territorium in Besitz und Gefangene nehmen sieht. Sogar in den Filmen über den Pazifikkrieg wird der Gegner selten direkt porträtiert. In TOYO NO GAIKA (1942; Victory Song of the Orient) erscheint Manila als dekadente Stadt voller amerikanischer Plakate und Geschäfte. Am Vorabend des Angriffs auf Pearl Harbor hören Marinesoldaten in HAWAII MAREE OKI KAISEN (1942; The War at Sea from Hawaii to Malaya) nachdenklich eine Tanzmusikübertragung aus einem Nachtclub in Hawaii, wo betrunkene US-Marinesoldaten brüllen: „I’m wide awake and ready to go!“. Selten erhascht man einen kurzen Blick auf einen Feind; in NISHIZUMI 49 Vgl. dazu High, „A Propaganda of ‚Real Human Emotions‘“, S. 82-83.

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SENSHACHODEN (1940; Story of Tank Commander Nishizumi) helfen japanische Soldaten einer chinesischen Frau, ihr Kind zur Welt zur bringen – nur um dann Zeugen zu werden, wie sie es tötet und sich davonstiehlt. John Dower zufolge entspricht die Abwesenheit feindlicher Kräfte einer deutlichen Wendung nach innen, die sich in der Ideologie der Kriegszeit findet. Im Großen und Ganzen präsentierte die Propaganda die Feindseligkeiten als Mittel, um eine verlorene moralische und rassische Reinheit wiederzuerlangen. Nach Dekaden verwestlichter Verweichlichung sollten die Japaner fremde Einflüsse ausmerzen, genügsam leben und sich darauf vorbereiten, für den Kaiser zu sterben.50 In dieser Zeit konnte ein Soldat folgendes haiku auf eine Postkarte nach Hause schreiben: „Schließe ich meine Augen / sehe ich Täler / voll blutroter Ströme“. Der Zensor, der die Karte abfing, verlangte nur, ‚blutrot‘ in ‚reines Blut‘ umzuändern.51 Daher, so Dower, stellten die Filme nicht den Sieg über den Feind in den Vordergrund, sondern den Kampf um ein unverfälschtes Selbst. Der Gegner war nebensächlich, weil der Krieg nicht in erster Linie als Eroberungskrieg oder Resultat konfligierender politischer Interessen dargestellt werden sollte. Es ging um die Frage, wie Japan seinen ererbten geistigen Adel wiederfinden konnte, indem es die Entbehrungen auf geduldige, pflichtbewusste Weise ertrug.52 Daneben kann die Abwesenheit des Gegners eine Reaktion auf die Restriktionen gewesen sein, die das Innenministerium 1937 für filmische Inhalte eingeführt hatte. Eine Vorschrift verlangte, Regisseure sollten darauf verzichten, Kriegsgräuel ‚übermäßig realistisch‘ darzustellen.53 Da Filme, die dagegen verstießen, gekürzt oder verboten werden konnten, versuchten Regisseure vermutlich sofort auf Nummer sicher zu gehen und die Leinwand von Gemetzeln freizuhalten. Eine ähnliche Strategie bestimmt die spektakuläreren Filme über den Pazifikkrieg: Bomber und Luftabwehrgeschütze bringen den Tod – aber aus großer Entfernung; so vermieden Totalen mit Miniaturaufnahmen oder Archivmaterial zu realistische Bilder des Leidens.

50 Vgl. Dower, John: War without Mercy: Race and Power in the Pacific War, New York 1986, S. 203-232. 51 „‚As long as I don’t fight, I’ll make it home‘: Suzuki Murio“, in: Cook, Haruko Taya/Cook, Theodore F.: Japan at War: An Oral History, New York 1992, S. 132 [Übers. aus dem Engl. N.G.]. 52 Dower, John: „Japanese Cinema Goes to War“, in: ders.: Japan in War and Peace: Selected Essays, New York 1993, S. 36-40. 53 Vgl. High: „Propaganda of ‚Real Human Emotions‘“, S. 78.

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Was auch immer die narrativen Strategien waren, die für Propagandazwecke eingesetzt wurden, wir können davon ausgehen, dass sich in ihrem visuellen Stil die Experimentierfreude der 1930er Jahre fortsetzte. Burch ist hier sehr entschieden: The approach to representation already described as dominant in its essential features throughout the 1930s provided the appropriate vehicle for this very specific message of morale-building propaganda. […] The Hollywood codes were still only perfunctorily and superficially assimilated.54

Diese Annahme lässt sich durchaus bezweifeln.55 Die Kriegsfilme, insbesondere aus den Jahren 1941-1945, sind stilistisch sehr orthodox. Meist schienen es im Kontext nationalistischer Zielsetzungen die Erzählungen, Themen und Werte gewesen zu sein, die als genuin japanisch angesehen wurden, nicht aber die Darstellungsweise selbst. Man geht fehl in der Annahme, dass die Kriegsfilme auf den flamboyanten Stil des chambara zurückgegriffen hätten. Die Schnittfrequenz von GUNSHIN TACHIBANA CHUSA (vgl. Abb. 28, 29) und der pulsierende Kampf aus LES VINGT-SIX MARTYRS JAPONAIS (vgl. Abb. 30-36) erschienen möglicherweise zu hektisch und nicht würdevoll genug für Kriegsfilme nach den neuen Richtlinien. Einstellungen wurden zwischen 1941 und 1945 langgezogener und ‚schicklicher‘, und diese längeren Einstellungen sind auch selten komplex inszeniert. Viele Shochiku-Regisseure behielten die ‚gestückelte découpage‘ bei, aber stilistische Spielereien wie in KAGIRINAKI HODO und in den Arbeiten von Shimizu und Ozu wurden selten. Die meisten Regisseure schienen ihre Dialogszenen ängstlich auf standardisierte Weise in Szene gesetzt zu haben. Die Werke Mizoguchis, die aus den Jahren 1942-1945 erhalten geblieben sind, sind weniger gewagt als alle, die unmittelbar zuvor entstanden waren, und Ozus einziger Film aus der Zeit des Pazifikkriegs, CHICHI ARIKI (1942; Es war einmal ein Vater), ist einer seiner stilistisch konservativsten. Kurosawas Judofilme zählen zu den wenigen Kriegsproduktionen, die etwas von der Experimentierfreudigkeit der 1920er und 1930er Jahre hinüberretten. 54 Burch: To the Distant Observer, S. 264. 55 Burch stützt sich hier auf nur zwei Filme, beide von Tomotaka Tasaka, von 1938 und 1939. Sein Argument, sie seien anders als das Hollywoodkino, stützt sich auf – seiner Ansicht nach – unorthodoxe Erzählweisen. Er berücksichtigt nicht die Prinzipien der découpage. In einer Fußnote erwähnt er drei weitere Filme aus dem Krieg. Nur einer davon entstand nach 1940. Vgl. To the Distant Observer, S. 262-269.

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Burch erklärt die Entwicklung des japanischen Filmstils während der 1930er Jahre vor dem Hintergrund des isolationistischen Nationalismus der Periode. Selbst wenn das der Fall war: Wie erklärt sich das fast flächendeckende Bekenntnis zu den üblichen continuity-Standards in den Filmen über den Pazifikkrieg, einer Periode viel stärkerer Isolation und eines verschärften Chauvinismus? Eine andere Erklärung klingt viel plausibler: Die vielfältigen Experimente der 1920er und 1930er Jahre entstanden nicht aus der Isolation, sondern aus einer fruchtbaren Vermischung internationaler Filmstile mit einem zeitgenössischen japanischen Drang zu intensivem, dekorativem und dynamischem visuellem Ausdruck. Mit der nationalen Mobilisierung nach 1937 traten die internationalen découpage-Normen, die japanisches Filmschaffen getragen hatten, in den Vordergrund. Kaum überraschend lagen die Propagandaziele des Krieges quer zu den auffälligen und spielerischen Stilmanipulationen der Regisseure. Höchstwahrscheinlich wurden die continuityNormen weder als westlich noch als östlich empfunden, sondern einfach als die Art und Weise, auf die jeder kompetente Regisseur mit seiner Crew einen Film drehen würde.

5.

Fazit

Während der 1920er und 1930er Jahre entstand in Japan ein ästhetisch innovatives Kino. Die Innovationen stellen, wie ich zu zeigen versucht habe, Erweiterungen und Transformationen von Normen dar, welche die westliche Filmproduktion beherrschten. Um einer gesteigerten Expressivität, Dekorativität und erzählerischen Komplexität willen revidierten japanische Regisseure die Schemata des continuity-Kinos. Innerhalb dieses Prozesses entwickelten die Regisseure unterschiedliche Varianten: den flamboyanten chambara-Stil, den piktorialistischen Ansatz und die ‚gestückelte découpage‘. Jeder dieser Stile ging auf filmstilistische Prinzipien zurück, die im Westen wie im Osten gängig waren, und gestaltete sie um. Diese Revisionen sind mit Sicherheit von japanischen Traditionen in verwandten Künsten geprägt. Dennoch wurden diese Traditionen größtenteils durch Vorstellungen des Japanischen zweiter Ordnung absorbiert, und diese Vorstellungen wiederum wurden innerhalb der zeitgenössischen Kultur und abhängig von den spezifischen Notwendigkeiten filmischen Erzählens neu definiert. Schließlich legt die Rückkehr zu einem betont klassischen Stil während des Pazifikkriegs nahe, dass die Erkundungen des vorhergehenden Jahrzehnts für unorthodox gehalten wurden. Eine Stabilisierung des Stils

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glaubte man möglicherweise zur Übermittlung einer klaren propagandistischen Botschaft zu benötigen. Das goldene Zeitalter der japanischen Nachkriegszeit und der neue Kreativitätsschub, der von der ‚neuen Welle‘ ausging, war – so kann man annehmen – einerseits eine Verstärkung und andererseits eine Ablehnung der aufgezwungenen stilistischen Uniformität im Pazifikkrieg.

Übersetzung: Nicola Glaubitz

YUKO MITSUISHI

DIE EUROPÄISCHEN AVANTGARDEN IN DER JAPANISCHEN KUNST 1876-1925 Die ersten historisch nachweisbaren Berührungen Japans mit der europäischen Kunst fanden bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts durch portugiesische Missionare und portugiesische Handelsschiffe statt, die im Hafen Nagasakis anlegen durften. Doch die europäischen Lithographien und Zeichnungen wurden von den damaligen Japanern zwar als etwas Exotisches und deshalb Interessantes angesehen, fanden aber keine große Resonanz, so dass sie meistens nicht als nachahmenswert galten. Europäische Kunst galt als wissenschaftlich-praktische Technik, wie Medizin, Landvermessung, Naturwissenschaften oder Naturgeschichte. Daher genügte es den Japanern vom 17. bis zum späten 19. Jahrhundert, die europäische Kunst als zweckgebunden zu verstehen und das technische Können zu übernehmen. Ein Grund dafür war auch, dass besonders nach der nationalen Abschließung des Landes (1639) durch das Tokugawa-Shogunat China als geistiges und künstlerisches Vorbild Japans galt. Die Idee der ostasiatischen Tuschmalerei besteht darin, mit einem Pinselstrich alles zum Ausdruck zu bringen, d.h. dem Künstler liegt nicht an der naturgetreuen Wiedergabe des Gegenstandes, sondern vielmehr an der Darstellung der Vereinigung seiner Intention mit dem Gegenstand. Als 1720 das Einfuhrverbot ausschließlich für nicht christlich-religiöse Dinge aufgehoben wurde und Bilder, illustrierte Bücher und Gegenstände aus Europa wieder nach Japan importiert werden durften, bewunderten viele Japaner natürlich deren Technik, besonders die Perspektive, Farbkontraste, Schattierung oder die minuziöse Genauigkeit der Darstellung. Diese Techniken fanden jedoch vorläufig nur in praktischen Bereichen, wie in der Landvermessung, der Katalogisierung, der medizinischen oder naturwissenschaftlichen Illustration eine Anwendung. Relativ früh, aber auch erst um 1740/50, wurde die perspektivische dreidimensionale Raumdarstellung in den ukiyo-e mit Begeisterung übernommen.

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Die aus außenpolitischen Zwängen erfolgte Öffnung der Landesgrenze (1853) und die innenpolitisch veranlasste Meiji-Restauration (1868) bedeutete einen Kulturschock für die japanische Bevölkerung, die auf einmal mit der westlichen Zivilisation konfrontiert wurde. Damit entstand auch ein Bewusstsein für die Problematik der Moderne in Japan, die am Anfang mit Verwestlichung gleichgesetzt wurde. Die westlichen Systeme wurden in politischen, ökonomischen und technischen Bereichen übernommen; diese beeinflussten sowohl das Alltagsleben der Bevölkerung als auch die Kunst- und Kulturszene Japans. Die westliche Kunst und Kultur wurde nun zum neuen Vorbild der japanischen Gesellschaft; gleichzeitig ignorierte man die bis dahin absolut dominierende chinesische Kultur und Kunst. Die westliche Kultur wurde als etwas besonders Fortschrittliches und Modernes aufgefasst. Die erste staatliche ‚Technische Kunstakademie‘ wurde 1876 in Tokyo gegründet. Dort versuchte man unter der Leitung von Antonio Fontanesi (1818-1882), die westliche Ölmalerei, die heute yôga (westliche Malerei) genannt wird, zunächst für technisch orientierte Zwecke zu erlernen. Die naturgetreue Wiedergabe eines Gegenstandes und die Handhabung der neuen Malmaterialien standen im Mittelpunkt der Ausbildung. Doch einige der Studenten erkannten bald, dass auch in der westlichen Malerei mehr dargestellt ist als Natur allein. Sie erkannten etwas, das den realistischen Abbildungen über ihre Wahrhaftigkeit hinaus einen Ausdruck verleiht, eben das, was Kunst ausmacht. Diese Entdeckung brachte ein großes Problem mit sich: Sollte man minuziös und analytisch genau den Gegenstand wiedergeben oder sollte man das Gewicht mehr auf den Charakter des Gegenstandes legen und gegebenenfalls die Genauigkeit vernachlässigen? Takahashi Yuichi (1828-1894) versuchte als einer der ersten Maler, den europäischen Realismus mit der realistischen Darstellungsweise seit der Edo-Ära (1600-1867), die zum Taktilen tendiert, zu vereinen (Abb. 1). Er meinte, dass man mit den materiellen Farben das Dasein des Gegenstandes darstellen soll. Zwischen dem Blick des Malers, der einen Gegenstand betrachtet, und dem Gegenstand, der vom Maler betrachtet wird, entsteht ein Spannungsverhältnis, durch das die Trennung des Subjekts vom Gegenstand vollzogen wird. Dieser Trennungsprozess negiert die herkömmliche Malweise, in der die Intention des Malers bedeutsam war und die harmonische Koexistenz von malendem Subjekt und gemaltem Gegenstand gesucht wurde. Durch diese Betrachtungsweise, die den zu malenden Gegenstand objektiviert auffasst, etablierte sich das Stillleben als Genre in Japan. Selbstverständlich gab es

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auch vor Takahashi Bilder, die die Natur oder Dinge zum Gegenstand hatten; doch es wurde hauptsächlich die lebendige Natur gemalt. Paradoxerweise wurde der Gegenstand, auch wenn er etwas Totes war und realistisch dargestellt war, nicht als nature morte betrachtet, sondern es war gerade die Aufgabe des Malers, dem Gegenstand durch seine Intention neues Leben zu geben. Takahashis Rezeption der europäischen Malerei war zum einen motivisch, indem die Landschaft der Landschaftsmalerei oder ein Gegenstand des Stilllebens als Motiv behandelt wurden; zum anderen bestand diese Rezeption in der technischen, analytisch genauen Wiedergabe des Gegenstandes. Beides führte zu einer kopernikanischen Wende der herkömmlichen Betrachtungsweise und Weltanschauung; insbesondere wurde die Subjekt-Objekt-Beziehung disharmonisch, was auf die Krise des noch instabilen Realismus hindeutete, in der aber auch das Rätsel des ‚Ichs‘ schon eingeschlossen war.

Abb. 1: Takahashi Yuichi, Porträt des Shiba Kokan (1887-89) Dieser Gedanke, den Takahashi als neue Problematik der Malerei aufwarf, führte zur Differenzierung zwischen Handwerk und autonomer Kunst, zwischen Handwerker und Künstler, die dem traditionellen japanischen Bewusstsein ganz fremd und unbekannt war. Es gab verschiedene Richtungen der Kultur, die man mit dô bezeichnete, und ästhetische Haltungen der jeweiligen sozialen Stände, die sich mehr oder weniger voneinander unterschieden, deren Grenzen jedoch sehr unscharf waren. In der späteren Edo-Ära war es z.B. nicht möglich, die Entfaltung der Kultur und der politischen Macht auf einen Nenner zu bringen; kulturelle

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Entfaltung hing eher von der Finanzkraft der Städter, d.h. der Großhändler, ab. Macht war abhängig von der Abstammung der Familie bzw. des Geschlechts und mit Geld nicht käuflich. Es kam häufig vor, dass Samurai auf Grund des innenpolitischen Systems nur noch ihren Titel als Machtsymbol hatten, aber nichts oder nur sehr wenig besaßen und finanziell betrachtet sogar zu den unteren Schichten der Gesellschaft gehörten. Deshalb wurde von ihnen auch eine asketische Attitüde als ästhetische Haltung gepflegt, ebenso das Desinteresse an Pracht und Genuss als Ästhetik der schlichten Einfachheit. Umso mehr interessierten sich die Städter, die nicht von adliger oder Samurai-Herkunft waren, aber große Reichtümer erworben hatten, für die spielerisch-luxuriösen Aspekte der Dinge. Hier florierte der handwerklich fein ausgearbeitete prächtige Geschmack in allen Bereichen. Die Gegenstände, die mit dem Lebensstil der damaligen Japaner eng verbunden waren, wurden ohne speziellen philosophisch-idealistischen Hintergrund einfach interessant und geschmackvoll zum Vergnügen des Benutzers gestaltet, und damals wie auch nach der Meiji-Restauration nie als ‚Kunst‘ im europäischen Sinn aufgefasst, sondern höchstens als Kunsthandwerk betrachtet. Das handwerkliche Spiel mit dem Geschmack, das je nach Stand und finanzieller Lage betrieben wurde und sich nicht als selbstständig diszipliniertes Genre etablierte, wurde seit der Meiji-Restauration von den jungen Künstlern, die sich nach Westen orientierten, als altmodisch verachtet. In der Meiji-Ära (1868-1912) betrieb die japanische Regierung in Sorge vor einer Kolonisierung durch die Großmächte eine Politik, die darin bestand, in wissenschaftlich-technischen Bereichen die westliche Zivilisation aufzunehmen und gleichzeitig den ‚japanischen Geist‘ zu bewahren. Diese widersprüchliche Politik führte zu großen Spannungen in der Gesellschaft Japans. Etwa zehn Jahre nach der restaurativen Wende stabilisierten sich die Militärmacht sowie die ökonomisch-industrielle Entwicklung Japans. Die seit 1879 als Gegenbewegung zur Zerstörung der ostasiatischen Künste durch die ‚verwestlichten‘ Fanatiker entstandene nationalistische Strömung begann die westlich orientierte Kunst zu unterdrücken. Die ‚Renaissance der japanischen Malerei‘ wurde ausgerufen, und 1882 erfolgte die Schließung der Technischen Kunstakademie. Doch auch die japanische Malerei, die ihre Wiedergeburt zelebrierte, konnte ihre Möglichkeiten nur durch den Einfluss der westlichen Malerei erweitern. 1887 wurde erneut eine Kunstschule in Tokyo gegründet, in der zunächst nur traditionelle japanische Malerei unterrichtet wurde; erst ab 1892 wurden auch Kurse für westliche Ölmalerei eingerichtet. Es gab mehrere Diskussionen und Debatten über das Wesen der

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Malerei sowie über den ‚wahren‘ Realismus, hinzu kam noch das neue Thema des Impressionismus, so dass letztendlich nur noch um die Definition von Begriffen debattiert wurde. Die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten und Stilrichtungen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa entstanden – vom Impressionismus, Spätimpressionismus, über Kubismus und Expressionismus bis zu Futurismus, Dadaismus und Surrealismus – wurden durch die Medien und von den jungen Künstlern, die nach der nationalen Öffnung im Ausland studierten, in Japan vorgestellt. Auf diese Weise wurden nicht nur die im Ausland lebenden japanischen Künstler, sondern auch die in Japan gebliebenen von den internationalen Strömungen beeinflusst.

Abb. 2: Kuroda Seiki, Bauernhof (1888) 1896 wurde Kuroda Seiki (1866-1924), der 1893 von einem zehnjährigen Aufenthalt in Frankreich zurückgekommen war, als Dozent an die Kunstschule in Tokyo berufen. Sein an Louis Joseph Raphaël Collin (1850-1916) geschulter Impressionismus, der in Japan zuerst eine antiakademische Position hatte, wurde dadurch zu einem akademischen Stil. Kuroda übte Kritik am Realismus der alten Schule, dem von Takahashi repräsentierten akademischen Stil, mit dem Argument, dass die alte Schule einen Gegenstand nur als Gegenstand darstelle. Die neue Schule aber stelle den inneren Zustand dar, der beim Betrachten eines Gegenstandes entsteht (Abb. 2). Außerdem genügten die wissenschaftlichen Kenntnisse nicht, um die Ausgewogenheit von Farben eines Bildes feststellen zu können, denn dafür brauche man das Genie und den Einfall des Malers. Kurodas Idee war noch nicht ausgereift genug, um zum expressionistischen Ausdruck zu kommen, obwohl sie eine stark subjektive Darstellung der Phänomene beabsichtigte. Auch das japanische Publikum war noch nicht bereit für zu ausdrucksstarke Bilder; schon allein der

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helle Farbton, den Kurodas Werke hatten, war für das Publikum eine große Sensation und Innovation zugleich. Neben der inhaltlichen Arbeit versuchte Kuroda auch den hohen gesellschaftlichen Status, den die Maler in Frankreich zu dieser Zeit hatten, auch in Japan durch Zusammenarbeit mit dem Kultusministerium und mit der Regierung zu verankern. Mit dem Sieg über Russland im Russisch-Japanischen Krieg (19041905) gewann Japan einen internationalen Status, womit die eigentliche Aufgabe der Zivilisierungspolitik der Meiji-Ära beendet war. Die Taisho-Ära (1912-1926) begann mit der Reflexion und Kritik von Intellektuellen an der Meiji-Ära, in der nur die äußeren Formen der westlichen Kultur und Systeme bedingungslos nachgeahmt worden waren. Der Generation der 20-Jährigen um 1910 war durchaus bewusst, dass zwischen westlicher und japanischer Moderne eine unüberbrückbare historisch-kulturelle Kluft bestand. Die reaktionäre absolutistische Machtpolitik verstärkte sich proportional zum allgemeinen materiellen Wohlstand, und die Regierung begann, die Kultur als politisches Mittel zu missbrauchen, was durch die Zentralisierung der Institutionen leicht möglich war. So erteilte z.B. das Kultusministerium den Studenten ein Aufführungsverbot für bestimmte Theaterstücke, ein Leseverbot der Literatur und zensierte in verschiedenen Bereichen; das Innenministerium verbot den kulturellen ‚Import‘. Auf der anderen Seite wurde von der absolutistischen Tenno-Regierung unter dem Motto ‚Zivilisierung der Bevölkerung: Verbreitung der gehobenen Kultur und Niveauerhöhung der niedrigen Kultur‘ eine institutionelle Kulturbewegung organisiert mit der Verleihung von Literaturpreisen, Ausstellungen und Vorträgen in Museen und öffentlichen Gebäuden, Filmvorführungen usw.. Es herrschte eine Spannung zwischen politischer Kultur und freier Kunst. Diese von der Regierung stark manipulierte Kulturbewegung funktionierte als Tarnung der Militärpolitik, welche die Sozial- und Arbeiterbewegungen, die besonders nach dem großen Erdbeben um Tokyo (1923) aktiv wurden, unterdrückte und die dann in der Shôwa-Ära (1926-1989) zum Faschismus Japans führte. In der Gesellschaft jedoch herrschte allgemein eine den außenpolitischen Erfolgen entsprechende optimistische Stimmung. Im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich erreichte der Forschungsstand Japans bereits internationales Niveau. Die zweite Generation nach der Öffnung des Landes war nun mit der verwestlichten Kultur vertraut: sie wurde zur Gewohnheit. Westlich beeinflusste Rationalität beherrschte das Bewusstsein der Gesellschaft auch im alltäglichen Leben, und das

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Verlangen nach einem noch besseren Leben wurde stärker. Es entstand ein neuer Stil des Familienlebens: Nicht nur der pragmatische Lebensstil wurde übernommen, sondern westliche Kunst gehörte jetzt als etwas Selbstverständliches zur Allgemeinbildung; man begann sie auch als gehobene Unterhaltung zu genießen. Diese Veränderung im Alltagsleben trug zur Auflösung des feudalen Großfamilienlebens in den oberen und mittleren Schichten der Großstadt bei, welche auch die Tendenz zum Individualismus im gesellschaftlichen Bewusstsein reflektierte. Unterstützt wurde dieses Phänomen unter anderem auch durch die Massenmedien wie Zeitungen und Zeitschriften, Buchpublikationen oder Film- und Schallplattenproduktionen. Die Tendenz zum Individualismus verstärkte die Frage nach dem Dasein des Ich. Junge Künstler und Schriftsteller, Kritiker des damals herrschenden Naturalismus, die sich fragten, wie das Ich als wichtigstes Ausdruckselement zu begreifen sei und wie man mit diesem Rätsel umgehen sollte, gründeten 1910 die Gruppe Shirakaba (Weiße Birke) und publizierten gemeinsam die gleichnamige Zeitschrift (1910-1923). Die Kritik der Gruppe Shirakaba an den Naturalisten lautete in etwa folgendermaßen: die Naturalisten wollten die Menschen an sich, einschließlich ihrer Lüste und Triebe, affirmativ aufnehmen und könnten nur durch die Beschreibung dieser Triebe das Ich darstellen. Es sei keine Forderung nach der Entwicklung des Ichs und auch keine innere Notwendigkeit des Autors in ihren Werken festzustellen, so dass der größte Teil ihrer Romane die Form einer literarischen Konfession annehmen müsste. Mit dieser Kritik stabilisierte die Gruppe das Künstlerdasein als einen neuen Typus im modernen Sinne, dessen Begriff schon seit Anfang der MeijiÄra bekannt war, der sich aber nach wie vor nicht durchgesetzt hatte. Die Autoren der Gruppe verbreiteten das Image eines modernen Künstlers durch ihre gebrochenen Ich-Romane, die mit optimistisch-elitärem Künstlerbewusstsein durchzogen waren. Diese Romane beeinflussten direkt das Bewusstsein der ‚Handwerker‘ unter den Künstlern wie Maler und Bildhauer – also derjenigen Gruppe, die sich den geistigen Eliten zugehörig fühlte, von ihrer Position her jedoch zu den Handwerkern gezählt werden musste. Es bildete sich eine heroische Protagonistenfigur, die gegen die zur Gewohnheit gewordene Tradition kämpft und dabei selbst die Möglichkeit einer neuen Lebensweise verwirklicht. Diese Vorstellung des geistig elitären, autonomen Künstlers hat ihren Ursprung im Bild des modernen europäischen Malers. Dieses Bild wurde durch die Beiträge in der Zeitschrift Shirakaba, die neben literarischen Werken auch Werke und Künstler aus der europäischen Kunst-

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szene vorstellte, besonders geprägt. Die Zeitschrift berichtete fast zeitgleich über die Entwicklung der Kunstszene Europas, wodurch das japanische Publikum relativ früh Künstler wie Cézanne und Rodin kennenlernte oder auch den Jugendstil. Ab 1914 stellte sie ‚alte Meister‘ wie Dürer, Rembrandt, Michelangelo vor, so dass man einen vielfältigen Eindruck von der europäischen Malerei bekommen konnte. Doch das chronologische Durcheinander, welches die historischen Zusammenhänge, besonders die historische Wandlung der Funktion der Kunst aus den Fugen riss, verursachte beim Lesepublikum unter anderem Verständnisschwierigkeiten aufgrund des anderen historisch-kulturellen Hintergrunds. Man sah die Künstler und Werke einzig als ‚Künstler und dessen Kunst‘, und ihre jeweilige Arbeitsweise wurde lediglich unter dem Aspekt des subjektiven Ausdrucks als Ausdruck eines freien Individualisten betrachtet. Weder mit der historischen Stellung des Künstlers noch mit der ästhetischen Bedeutung des Werkes setzte man sich auseinander. Das Image des Künstlers, das man in biographisch-positivistischer Betrachtungsweise konstruierte, wurde zu einem festen Allgemeinbild und führte nur zu einer Interpretation der Werke. Doch trotz dieser traditionell japanischen literarischen Verfahrensweise war sowohl die Gruppe als auch ihre Zeitschrift ein wichtiges Organ für die Rezeption europäischer Kunst in Japan und Forum für die frühe japanische Avantgarde. In einem Ambivalenzverhältnis zwischen dieser Moderne und der alten Edo-Tradition stand Takamura Kôtaro (1883-1956). Sein Vater Takamura Kôun (1852-1934) war Meister der Holzschnittkunst und ab 1889 Dozent an der Kunstschule Tokyo, weshalb der Sohn in der Atmosphäre einer Handwerker-Werkstatt aufwuchs und sich die alte japanische Tradition tief einprägte. Takamura selbst interessierte sich frühzeitig für europäische Kunst, beschäftigte sich intensiv damit und genoss schließlich einen vierjährigen Aufenthalt (1906-1909) in Amerika und Europa, v.a. in Paris. Als er zurückkam, konnte und wollte er nicht der Erwartung seines Vaters entsprechen und betrachtete sehr kritisch dessen traditionelle Arbeitsweise. Aus finanziellen Gründen war er jedoch einige Zeit auf die Aufträge der Werkstatt seines Vaters angewiesen. Im Jahre 1910 eröffnete er mit seinem jüngeren Bruder die erste private Galerie Rokandô in Tokyo. Bis dahin hatte es in Japan keine Möglichkeit für kleinere Gruppen- oder Einzelausstellungen gegeben und auch kein Forum für bildende Künstler. Anlässlich der Eröffnung der Galerie und als Reaktion auf die Bemerkungen zu seiner Kritik am dritten Bunten (einer staatlich organisierten Ausstellung zeitgenössischer Künstler), die den impressionistischen Ausdruck und die Modernität

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eines Kunstwerks behandelte, verfasste er den Text Midori-iro no taiyô (Die grüne Sonne). Dieser Text wurde in der Literaturzeitschrift Subaru (Die Venus, 1909-1913) veröffentlicht und kann als Manifest für die moderne Kunst betrachtet werden. In seinem Essay bedauert Takamura zunächst die Situation der Kunst in Japan, die krampfhaft japanische (nihonga) und europäische (yôga) Stilrichtungen zu trennen versuchte. Diese Aufspaltung der beiden Mal-Stile schade im Grunde der Entwicklung nur. Takamura fordert die absolute Freiheit in der Kunstszene, d.h. er möchte die Persönlichkeit als Ausgangspunkt für das Betrachten eines Kunstwerkes geschätzt wissen. Er wolle die verschiedenen Betrachtungsweisen und Gemütsstimmung der einzelnen Künstler in einem Werk genießen, und nicht den Lokalkolorit, über den zu der Zeit gesprochen werde und mit dem viele Maler in Japan sich ernsthaft auseinandersetzten. Denn man sei zwar Japaner, doch man denke selten darüber nach. Besonders bei der Arbeit mit Kunst entstehe selten ein solcher Gedanke. Dort gäbe es nur den Menschen, eine Persönlichkeit. Es könne sein, dass jemand später in den Werken etwas ‚Japanisches‘ oder ‚Nicht-Japanisches‘ feststelle, doch das sei für einen Künstler unwichtig, ebenso unwichtig wie der Lokalkolorit in diesem Fall. Viele Leute in der Kunstszene beharrten auf Lokalkolorit und sahen darin die raison d’être der Kunstwerke. Deshalb wagten nur wenige Künstler, ihre eigenen Möglichkeiten zu entdecken. Sie versuchten die feurigen Farben, die sie in sich trugen, und ihren traumhaften Ton zu unterdrücken. Auch wenn jemand eine grüne Sonne malte, wollte Takamura dies nicht wegen der Farbe als Bild verdammen. Er wollte an dem Leben des Bildes das Werk schätzen, und der Persönlichkeit des Malers, der diese Sonne gemalt hatte, absolute Freiheit verleihen. Er registrierte wohl die Existenz des Lokalkolorits, aber nicht dessen Wert als ein Kriterium beim Betrachten eines Werkes. Was mit den Händen eines japanischen Künstlers geschaffen werde, sei in jedem Fall mehr oder minder japanisch, und man könne sich diesem Schicksal nicht entziehen. Was man zum aktuellen Zeitpunkt nicht unter den Lokalkolorit einreihen könne, werde man später retrospektiv betrachtet zum Lokalkolorit der Meiji-Ära zählen. Streng genommen bedeute dieser Begriff eine allgemeine Übereinstimmung, die keine Sache der Künstler sei, sondern den Betrachtern zu genießen erlaube. Takamura möchte, dass die Künstler ihre Nationalität und die Tatsache, dass sie die Natur Japans malen, gänzlich vergessen, und fordert sie auf, frei, zügellos und eigensinnig die Atmosphäre darzustellen, wie man sie in der Natur gesehen zu haben glaubt. Die Künstler in Japan sollten jede mögliche Technik, ohne Scheu

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vor ‚Un-Japanischem‘ ihrem inneren Drang entsprechend anwenden. Er genieße die Schönheit der roten Zäune an den Tempeln, doch im Arbeitsfieber sei er sogar von der Neon-Reklame für Jintan (silberne 2-3 mm kleine Kugeln, die gegen Völlegefühl helfen und für frischen Atem sorgen) entzückt, obwohl ihn normalerweise die Konfusion der Großstadt störe. Auf diese Weise betrachtet, habe alles seine Existenzberechtigung, sei es ‚japanisch‘ oder ‚nicht-japanisch‘, sei es Lokalkolorit oder nicht, sei es schließlich ‚westlich‘ oder ‚nicht-westlich‘. Egal wie eigenwillig man auch sei, nach dem Tod blieben Werke, die nur Japaner hätten schaffen können. Takamuras Kritik an der Einschränkung der Kunst durch Festlegung in Genres und seine Ablehnung des Lokalkolorits, der ortsspezifischen Farbe, welche die Impressionisten mit ihrer Aufnahme des Lichteffektes technisch wie theoretisch widerlegt haben, lassen den Essay zunächst wie ein impressionistisches Manifest wirken. Doch er reklamiert darüber hinaus emphatisch die Individualität der einzelnen Künstler, die Freiheit des Ausdrucks, also die absolute Freiheit der Künstler. Außerdem betont er die Bedeutung des Lebens, welches er weder hier noch später definiert, von dem er aber immer wieder sagt, dass ein Werk nur mit dem Leben seinen Existenzwert habe. Diese Forderung entspricht zwar auch impressionistischen Grundsätzen, doch sie ist viel mehr ein Prinzip der späteren Impressionisten, der Fauvisten, Expressionisten und der Kunst danach und zeigt, dass Takamura dem konventionellen Kunstverständnis des damaligen Japan voraus war. Aber trotz des für die japanische Avantgarde wegweisenden Charakters dieser Proklamation, mit der Takamura viele junge Künstler anregte, konnte er etwas später die Idee der europäischen Avantgarde – wie z.B. der italienischen Futuristen, welche die Auflösung der Materialität forderten – nicht nachvollziehen, sein Verständnisvermögen blieb bei dem modernen Massebegriff. Wenn er auch rückblickend in dem Essay Chichi to no kankei (Die Beziehung zu meinem Vater, 1954) sein Verhältnis zu seinem Vater, der für ihn die Edo-Tradition verkörpert, kritisch beschreibt, so stellen Takamuras Werke trotz seines europäischen Stils und der Theorien eine Ausprägung japanischer Tradition dar und weisen auf eine Stellung zwischen zwei Kulturen hin. Durch die Zeitschrift Shirakaba entwickelte sich eine Synchronizität mit den europäischen Kunstströmungen. Die japanischen Künstler versuchten, dieses breite Spektrum aus einem eigenen Blickwinkel aufzufassen und zu einer selbstständigen Ausdrucksform zu gelangen. Ein Paradebeispiel für die frühe japanische Avantgarde ist die Examensarbeit

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an der Kunstschule von Yorozu Tetsugorô (1885-1927). Auch Yorozu erfuhr hauptsächlich durch die Zeitschrift Shirakaba von den verschiedenen europäischen Kunstströmungen. Seine Sensibilität nahm die Quintessenz des Fauvismus instinktiv auf, und so schuf er einen offensichtlich von Henri Matisse (1869-1954) beeinflussten Mädchenakt als Examensarbeit (1912). Er kommentierte das Bild mit der Feststellung, dass er solche Farben einfach zum Malen benutzen müsse, da er sich sonst bei der Arbeit unwohl fühle. Denn es seien die Farben, die in seinem inneren Leben unablässig vorhanden seien. Sein Bild, welches als das erste fauvistische Bild in Japan gilt, löste einen Schock in der damaligen Kunstszene aus; besonders die Kunstschule, die inzwischen akademisch ‚traditionelle‘ yôga-Malerei lehrte, fühlte sich durch dieses Bild von Yorozu angegriffen und ließ ihn das Examen nur denkbar knapp bestehen (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Yorozu Tetsugoro, Impression des Erdbebens (1924)

Es folgte die Ausschließung der ‚zu modernen Kunst‘ von der BuntenAusstellung. Junge Künstler, die gegen diese institutionell autoritäre Situation protestierten, gründeten 1914 die Ni-ka-kai (Gesellschaft der zweiten Sektion) und veranstalteten ihre erste Ausstellung. Diese basierte auf dem Antiakademismus der Künstler: Die Kunst soll aus den Händen der professionell akademischen Meister befreit und in die Hände der Laien gegeben werden; denn nicht nur die ausgebildeten Meister schaffen Kunst, sondern viele andere auch. Es war daher wichtig für die Ni-

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ka-kai, dass die Kriterien der Auswahl für die Ausstellung auf der Darstellungsweise lagen, nämlich wie der Künstler seine Wahrnehmung der Natur in Form umgearbeitet hat, ungeachtet der akademischen Laufbahn und akademischen Malweise. Inmitten der vielfältigen Kunstströmungen war es die herausfordernde Aufgabe für jeden Künstler, nicht der Mode einer Stilrichtung anheim zu fallen, sondern einen eigenen Stil zu entwickeln.

Abb. 4: Tôgô Seiji, Mann mit Hut (1922)

Das Bild Die Dame mit dem Sonnenschirm von Tôgô Seiji (1897-1978), mit dem er eine Auszeichnung bei der Ni-ka-kai-Ausstellung erhielt, gilt als das erste avantgardistische Bild Japans. Es soll, dem Titel entsprechend, eine Dame mit einem Sonnenschirm darstellen, ist aber beeinflusst von Kubismus und Futurismus, nämlich kaleidoskopisch gebrochen und deformiert und repräsentiert damit einen eigenen Stil. Tôgô lenkte die Aufmerksamkeit des Publikums von dem, ‚was auf dem Bild zu sehen ist‘, darauf, ‚wie das Bild gemalt ist‘, und zeigte, dass der Titel nicht den Bildinhalt vermitteln muss (vgl. Abb. 4). 1914 lernte Tôgô den Komponisten Yamada Kôsaku (1886-1965) kennen, der gerade aus Deutschland zurückgekommen war und als Dirigent die neu gegründeten Tokyoter Philharmoniker leitete. Bei ihm bekam der siebzehnjährige Tôgô ein Zimmer, in dem er malen durfte. Yamada machte ihn mit den

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neuesten Kunstbewegungen wie Sturm und Expressionismus bekannt oder auch mit einzelnen Künstlern wie Kokoschka, Kandinsky und Munch und zeigte ihm einige Originale und Bücher. Tôgô las bei Tsuji Jun (1884-1944) ausländische Literatur und Manifeste, die man damals nur in der Originalsprache bekommen konnte, und ließ sich manche Texte von ihm übersetzen. Nachdem Tôgô den Ni-ka-kai-Preis bekommen und auch sein Bild verkauft hatte, reiste er als Repräsentant der japanischen Avantgarde 1921 nach Frankreich und dann nach Italien, um dort Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944), sein künstlerisches Vorbild, aus der Nähe kennenlernen zu können. Doch zu der Zeit hatte sich Marinetti schon der Politik zugewandt, und die Begegnung endete mit einer Enttäuschung auf Seiten Tôgôs. Tôgô blieb bis 1928 in Frankreich und erlebte daher nicht die Ausbreitung der avantgardistischen Welle in der japanischen Kunstszene. Den Beginn der avantgardistischen Welle in Japan könnte man auf die Vorstellung und Übersetzung eines Kapitels des als futuristisches Manifest bekannten Le Futurisme durch Mori Ôgai (1862-1922) festsetzen. Sie erschien 1909 in der Kolumne „Mukudori-Tsûshin“ (Die Korrespondenz eines Stars) der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Subaru, die wenige Monate nach der Veröffentlichung Marinettis am 20. Februar 1909 in Le Figaro erschien. Viele neue Theorien und Bewegungen aus Europa wurden nach wie vor durch Bücher sowie Artikel in Zeitungen und Zeitschriften vorgestellt; es handelt sich deshalb hauptsächlich um eine schriftliche Verbreitung. Daneben fanden einige Ausstellungen statt, in denen das japanische Publikum die authentischen Werke der zeitgenössischen europäischen Künstler sehen konnte und auch die Werke japanischer Künstler, die die aus Europa importierte Kunst auf ihre Weise aufgenommen hatten und zum Ausdruck zu bringen versuchten. 1914 wurde in Hibiya (einem Bezirk Tokyos) eine Sturm-Ausstellung gezeigt, organisiert von dem Komponisten Yamada Kôsaku und von Saitô Kazô (1887-1955), einem Pionier des modernen Designs in Japan. Die beiden hatten sich 1913 zum Musik- und Kunststudium in Berlin aufgehalten und dort auch die Ausstellungen in der Galerie Der Sturm besucht. Von dort brachten sie 66 Werke von 26 Künstlern mit nach Japan, unter anderem zwei figurative Arbeiten von Kandinsky, expressionistische Holzschnitte von Pechstein, Kokoschka und Kirchner sowie Arbeiten von Delaunay und Boccioni. Im selben Jahr gründete Onchi Kôshirô (18911955) die japanische Gesellschaft für kreative Druckgraphik und schuf selbst seine ersten abstrakten Holzschnitte. Im September 1920 gründete Fumon Gyô (1896-1972) die Gesellschaft für futuristische Kunst und

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veranstaltete die erste japanische Futuristenausstellung in Tokyo. Zu Fumons Gruppe stießen 1921 die russischen Künstler David Burljuk (1882-1967) und Victor Pallimov (1888-1929), die ca. 470 Werke russischer Avantgarde-Kunst nach Japan brachten. Dabei waren 150 Arbeiten von Burljuk und 63 von Pallimov selbst, doch auch einige Arbeiten von Malewitsch und Tatlin, die dann in einer 1921 von Fumon organisierten Ausstellung gezeigt wurden. Während der avantgardistischen Welle wurde am 27. Juni 1920 in einem Artikel der Zeitung Yorozu-chohô zum ersten Mal über Dada im Zusammenhang mit der Merz-Kunst Kurt Schwitters’ (1887-1948) berichtet. Am 15. August desselben Jahres erschienen ebenfalls in Yorozuchohô zwei Artikel über Dada: „Kyôraku-shugi no saishin geijutsu, sengo ni kangeisare-tsutsu aru dadaizumu“ (Die neueste Kunst des Hedonismus, der nach dem Krieg jetzt begrüßte Dadaismus) von Shiran und „Dadaizumu ichimen-kan“ (Eine Ansicht über den Dadaismus) von Yôtôsei (beide Autorennamen sind Pseudonyme). In dem Artikel „Die neueste Kunst des Hedonismus“ wird der Dadaismus folgendermaßen kritisch vorgestellt: Er sei die neueste Abart des Futurismus und habe in diesem seinen Ursprung. Den reklamehaft veröffentlichten Manifesten der Dadaisten sei keine tiefgehende ernstzunehmende Aussage zu entnehmen; es habe den Anschein, dass sie nur originell sein wollten. Ein Beleg hierfür sei eine Anzeige von Dadaisten in Je sais tout. Man bekomme den Eindruck, dass sie auf die äußere Form mehr achten als auf den Inhalt des Textes. Die Aussagen der Dadaisten seien an sich schon verrückt und spielerisch, und da sie die Kunst auch als eine Art Spiel betrachteten, könne man davon ausgehen, dass sie Dilettanten seien. Das Wort ‚Dada‘ solle im Bezug auf Kunst ‚nichts‘ bedeuten. In der Tat behaupteten einige aus der Gruppe, sie hätten entdeckt, dass unsere Sensibilität keine wahre Aufzeichnung der kosmischen Außenwelt ist, und dass unser Handeln und unsere Sprache angesichts der Ewigkeit völlig nutzlos sind. Doch das seien keine neuen Entdeckungen, denn in der buddhistischen Lehre werde das unendliche Male wiederholt, und auch Nietzsche erwähne es mehrfach. Tristan Tzara, das Oberhaupt dieser Bewegung, meinte, er nähme den Wahnsinn in Kauf, um alles – die Familie, die Moral, den gesunden Menschenverstand, das Gedächtnis, die Archäologie, die Propheten, die Zukunft – wegwerfen zu können. In diesem Punkt seien die Dadaisten den Futuristen ähnlich, sie unterschieden sich jedoch von diesen, da sie extreme Epikuräer, Egoisten, die radikalsten Individualisten, Nihilisten und Realisten seien. In der Tat hätten sie kein Prinzip für ihre Kunst und wollten letztlich alles – die Liebe, die

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Philosophie, die Psychologie und Literatur – zerstören. Sie seien eine Art wahnsinniger Zerstörer, die nur noch ironischen Spaß und etwas Sensibilität akzeptierten. In dem anderen Feuilletonartikel von Yôtôsei wird nicht nur der Dadaismus ähnlich kritisch wie bei Shiran behandelt, sondern auch die europäische Presse, weil ihr Umgang mit Begriffen unpräzise sei, wodurch ein Chaos der Informationen entstehe. Als Quelle für seinen Artikel nennt Yôtôsei verschiedene europäische Zeitungen und zitiert einen Absatz aus dem „Manifest Dada 1918“ von Tristan Tzara (1896-1963) sowie einen Abschnitt aus dem Manifest „Letzte Lockerung“ von Walter Serner (1889-1942) als Beispiel für die radikalen, aber auch unsinnigen Aussagen der Dadaisten. Als konkretes Beispiel der dadaistischen Unmöglichkeit zitiert er darüber hinaus eine Strophe aus dem Gedicht „Manschette 7“ von Serner sowie eine Strophe aus dem Gedicht „Die phantastischen Gebete“ von Richard Huelsenbeck. Diese zwei Artikel über den Dadaismus nahm Takahashi Shinkichi (1901-1987) mit Begeisterung auf: ‚Ich entdeckte das, wonach ich lange gesucht hatte und das ich nicht hatte finden können. Ich war wie von Viren infiziert, aber bis zum Ausbruch der Krankheit dauerte es noch einige Zeit. Wahnsinn!‘ Seine Begeisterung bezog sich dabei offensichtlich mehr auf die von Yôtôsei zitierten Beispiele und nicht auf die Kritik der beiden Autoren. Takahashi schrieb daraufhin selbst einige Gedichte im dadaistischen Stil, bezeichnete sich als japanischen Dada-Dichter, und besuchte im November 1921 Tsuji Jun in seinem Privathaus in Kawasaki. Dieser hatte die Erste Abhandlung von Max Stirner (1806-1856), Der Einzige und sein Eigentum, übersetzt und bereits 1920 veröffentlicht; zunächst war er misstrauisch gegenüber dem ihm unbekannten Takahashi, fand aber dann schnell Gefallen an ihm und ließ sich mit Dada bekannt machen. Im September 1922 konnte Takahashi den Text „Dagabashi dangen“ (Manifest Dagabashis) in der Zeitschrift Shûkan Nihon publizieren. ‚Dada bejaht und verneint alles‘, leitet er sein Manifest ein, und bringt auf den folgenden ca. vierzig Anfangszeilen definitorische Aussagen über Dada, die diese Kunstrichtung quasi als Allmacht darstellen. Am Ende des Textes, auf den etwa zehn letzten Zeilen, wird dieser Stil nochmals aufgenommen. In vielen Sätzen klingt der Ton Tzaras an, ebenso wie die Aussage von Serner: ‚Weltanschauungen sind Vokabelmischungen‘, die Takahashi aus dem Feuilletonartikel herausgelesen hatte und interpretierte. Der für ein Dada-Manifest charakteristische absurd-paradoxe Ton fällt besonders in herausfordernden Aussagen auf wie ‚Das Universum ist eine Seife. Die Seife ist eine Hose. / Alles ist

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möglich‘ oder auch in einem fiktiven Berichtteil von acht Dadaisten. Obwohl in diesem Manifest durchgehend das ‚Nichts‘ allegorisch dargestellt wird, unterscheidet es sich evident von den europäischen Manifesten, da der Text von Takahashi nur wenig aggressive Radikalität gegenüber der Realität aufweist. Daneben fällt auf, dass die von Takahashi präsentierten Dadaisten eng mit dem Tod verbunden sind. Es entsteht der Eindruck, dass Takahashi den Tod als etwas Besonderes auffasst, als eine Art von furchteinflößendem Unfall, der eigentlich nicht zum Leben gehört. Man kann vermuten, dass dieser Nihilismus bei Takahashi eine negative Reflexion der in der optimistischen Taisho-Ära verbreiteten Idee von Vitalität und unio mystica (die Vereinigung mit dem Geist der Welt) darstellt. Tsuji Jun bezeichnete sich selbst als ersten japanischen Dadaisten, obwohl Takahashi sich ihm als dadaistischer Dichter vorgestellt hatte. Tsuji hatte durch seine Übersetzung von Max Stirner das Individualprinzip entdeckt, war Anarchist geworden und nach der Begegnung mit Takahashi an Dada interessiert, worauf er sich Dadaist nannte. Er selbst schrieb keine literarisch-dadaistischen Texte, veröffentlichte jedoch zahlreiche Essays, hauptsächlich in konventionellem Japanisch verfasst, in denen er sich nicht theoretisch, sondern empirisch mit Dada auseinandersetzte. Dies war eine Reaktion auf die passive Rezeption des Dadaismus, den Tsuji als eine Art von Lebenskunst auffasste. Er hatte vor, einen eigenen japanischen Dadaismus zu initiieren auf der Basis der Erkenntnis, nicht europäisch sein zu können. Das hatte nichts mit nationalistischen Gedanken zu tun, sondern zielte auf eine kosmopolitische Sicht ab, in der die europäische und japanische Kultur (gemeint ist die in der Meiji-Ära kulminierende Edo-Kultur) als parallele Phänomene erschienen. In der Tat präsentierte Tsuji einen sehr eigenen Dadaismus, den er von Anfang an nicht als eine Kunstrichtung auffasste, sondern als dadaistische Inszenierung des eigenen Lebens. So wurde Tsuji selbst eine Figur des dadaistischen Treibens; sein Dada-Spiel war absolut subjektiv. Bezeichnend dafür ist eine Episode bei der Aufführung seiner Operette Toskina (ein Anagramm des Wortes Anarchist auf Japanisch: Anakisto Toskina). Vor der Operette wurde Tsujis Dichtungstheater Nichts aufgeführt. Am Ende des Stückes trat der Autor ganz in Schwarz kostümiert auf die Bühne, schrie: „Alles ist Nichts!“ und genoss die Unruhe des Publikums, während er zu sprechen begann. Diese Performance wurde interessanterweise im Mai 1916 inszeniert, einen Monat vor dem Auftritt Hugo Balls (1886-1927) mit seinem Lautgedicht im Cabaret Voltaire in Zürich.

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Den japanischen Avantgardisten gelang aus verschiedenen Gründen nie eine feste Gruppenbewegung; nicht einmal eine gemeinsame Soirée konnte verwirklicht werden. Lediglich eine einzige Performance fand am 30. Mai 1925 im Kleinen Tsukiji-Theater statt, veranstaltet von Murayama Tomoyoshi (1901-1977) mit den Mitgliedern der Gruppe San-ka (Dritte Sektion; ein Zusammenschluss verschiedener abgespaltener Gruppen von der Ni-ka-kai). Bei dieser Aufführung wurde versucht, alle Grenzen – zwischen einzelnen Genres, Kunst und Nicht-Kunst, Kunst und Politik – aufzulösen und sich mit dem Publikum, abstrakter gesagt mit der Masse, zu vereinen. Das Interesse der Künstler waren die Vitalität und die Körperlichkeit. Besonders für Murayama selbst, der 1923 aus Berlin zurückgekommen war und dort Einflüsse von Kurt Schwitters und dem Neuen Tanz aufgenommen hatte, war die Theatralität, die durch die Körperlichkeit und Verbundenheit der Einzelnen erzielt wird, ein wichtiger Aspekt dieses Experiments. Die japanischen Avantgardisten waren jedoch alle zu sehr auf Individualität fixiert, um ihr Dasein als Künstler objektiv betrachten und damit ein ‚Spiel‘ treiben zu können. In der Performance von Murayama wurde zwar versucht, die Genregrenzen aufzuheben und gegen die Institutionalisierung der Kunst protestiert, aber zu der Idee der Aufhebung des Künstlerseins, zum Inszenieren um des Inszenierens willen – eine Intention, die die europäische Avantgarde hatte konnten sie nicht gelangen. Die Thematik des Lebens und des individuellen Bewusstseins, die während der gesamten Taisho-Ära zentral für viele japanische Intellektuelle und Künstler war, war einfach zu dominant. Weil den Avantgardisten ihr Dasein als Künstler zu bewusst war, kamen sie auf die Idee, dass sie als Künstler den durch das große Erdbeben leidenden Menschen mit ihrer Kunst beistehen und sie unterstützen müssten: Die Kunst sollte im Leben der normalen Bürger ihre Entfaltung finden. Sie wollten nicht etwas durch Kunst ausdrücken, sondern selbst etwas sein, das den Menschen nützte; ihr Denken und Bewusstsein zielte über die Kunst als Gegenstand der Kontemplation hinaus. Als dieser Gedanke mit der proletarischen Bewegung der Linken eine sozialistische Tendenz bekam und die Kunst sich zu einem Instrument der Politik machen ließ, hatte die optimistische Avantgarde in der Taisho-Ära ihr Ende erreicht. (Bei japanischen Namen wurden, dem japanischen Gebrauch entsprechend, die Familiennamen den Vornamen vorangestellt.)

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Literatur Aoki, Shigeru u. Sakai, Tadayasu (Hrsg.): Nihon no kindai bijutsu, Zenei-geijutsu no jikken, Tokyo 1993. Hirai, Yuzuru: Takahashi Shinkichi kenkyû, Tokyo 1993. Iseki, Masaaki: Nihon no kindai bijutsu, nyûmon 1800-1990, Tokyo 1997. Kamiya, Tadataka: Nihon no dada, Sapporo 1987, S. 78-98, 98-119, 208-237. Kitazawa, Noriaki: Kishida Ryûsei to Taishô avangyarudo, Tokyo 1993. Minami, Hiroshi / Shakai-shinri kenkyujo: Taisho-bunka 1905-1927, Tokyo 2001. Omuka, Toshiharu: Taishô-ki shinkô bijutsu undô no kenkyû, Tokyo 1998. Takamura, Kôtarô: Geijutsu-ron shû, midori-iro no taiyô, Tokyo 2002, S. 12-53, 79-87. Tamakawa, Nobuaki: Dadaisuto Tsuji Jun, Tokyo 1984.

Abbildungen Abb 1: In: Remaking Modernism in Japan 1900-2000, Ausstellungskatalog, Museum of Contemporary Art, Tokyo 2004. S. 41; Abb. 2 und 3: ebd., S. 56; Abb. 4: ebd., S. 168.

KANICHIRO OMIYA

BRÜDERLICHKEIT DES 20. JAHRHUNDERTS AUGUST SANDERS FOTOGRAFISCHER MENSCHENKATALOG UND RYUZO TORIIS ETHNO-FOTOGRAFIE 1

„Je voudrais [...] être la matière!“

1.

Technik statt Ästhetik

Als August Sander als Lehrling in einem Fotoatelier zu arbeiten begann, waren die Aufträge zum größten Teil Porträts; Porträts des Hausherrn, des Ehepaars, der Kinder oder der ganzen Familie, alle in einem festlichen Kostüm und vor der Kulisse eines bürgerlichen Interieurs oder einer exotisch-malerischen Bildwand. Nachdem sich Sander ein Atelier in Linz angeschafft hatte und beruflich selbstständig geworden war, produzierte er eine Zeit lang weiter solche pseudo-künstlerischen Bilder. Seine Auftraggeber beschränkten sich dementsprechend auf diejenigen, die sich für fotografische Familienporträts interessierten und sie sich auch wirklich bestellen und leisten konnten. So gehörten die Kunden einer begrenzten sozialen Schicht an. Aber das besagt nicht, dass sie ausschließlich der höheren Klasse angehörten. Bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts zirkulierte das Fotoporträt vor allem als leichteres und günstigeres Surrogat der Bildnismalerei, für die einen Maler zu bestellen viel mehr Aufwand erforderte. Das fotografische Porträt entsprach in seinem Stil auch nicht den ästhetischen Normen jener kulturell hegemonialen Klasse, der das Fotoporträt als geschmacklose und zweitklassige Nachahmung der ,schönen‘ Malerei erschien. Deshalb sind Berufsfotografen wie Sander von vornherein von den bürgerlichen Klubs der künstlerischen Fotografie ausgeschlossen worden. Diese Klubs der 1 Flaubert, Gustave: La Tentation de Saint Antoine, Œuvres Complètes, Bd. 4, Paris 1972, S. 171.

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Amateurfotografen waren es, die gemäß ihrem ,guten Amateurismus‘ die vulgären Berufsfotografen oder Kommerzfotografen ablehnten, indem sie selber gleichzeitig die Verselbstständigung der Fotografie als Kunst und ihre Entwicklung zu fördern versuchten. Was die Fotoamateure seit Ende des 19. Jahrhunderts in ihren jeweiligen Klubs betrieben, war jedoch Austausch und Projektion. Erstens tauschten sie ihre Aufnahmen innerhalb des Klubs untereinander wie Visitenkarten mit Unterschriften aus. Sie taten dies, als handelte es sich um ,Werke‘, d.h. in der Absicht, durch deren Autorschaft die Anerkennung der gleichgesinnten Kunstkenner zu erwerben. Dort liefen die Bilder als Embleme des geschlossenen Kreises oder der distinguierten Klasse um. Sie projizierten zweitens ihre klassenspezifische und gewohnheitsmäßige Ästhetik unverändert auf die Fotografie, so dass der herkömmliche kulturelle und künstlerische Code auch in diesen Bildern aufbewahrt blieb. Diese Differenzierung, die in der Fotografie als einer neuen technischen Gattung von Repräsentation vorging, war schließlich ein vergeblicher Versuch, die obere Schicht der Kunstfotografie vor der Vulgarisierung zu schützen, die mit dem kommerziellen Florieren der Fotografie als eines Gegenstands des massenhaften Genusses einherging. Der Gegensatz von ,E-Kultur‘ und ,U-Kultur‘ wird auch in der Fotografie vom protektionistischen, den Massenkonsum herabsetzenden Willen eingeführt, was aber bei Reproduktionstechniken wie der Fotografie prinzipiell zum Scheitern bestimmt war. Walter Benjamin datiert die Verfallsperiode der Fotografie bereits in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts. Aber die Ursache für einen solchen Verfall sollte nicht in der Vermassung der Fotografie gesucht werden, sondern im Versuch, künstlich der Fotografie einen künstlerischen Anschein zu verleihen: Darum würde es diese Inkunabeln der Photographie missdeuten, wenn in ihnen die ‚künstlerische Vollendung‘ oder der ‚Geschmack‘ betont würde. Diese Bilder sind in Räumen entstanden, in denen jeder Kunde als Angehöriger einer im Aufstieg befindlichen Klasse kenntlich war, mit einer Aura, die bis in die Falten des Bürgerrocks oder der Lavaillère sich eingenistet hatte. Denn das bloße Erzeugnis einer primitiven Kamera ist jene Aura nicht. Vielmehr entsprechen sich in jener Frühzeit Objekt und Technik genau so scharf, wie sie in der anschließenden Verfallsperiode auseinandertreten. Bald nämlich verfügte eine fortgeschrittene Optik über Instrumente, die das Dunkel ganz überwanden und die Erscheinungen spiegelhaft aufzeichneten. Die Aura wurde mit der Verdrängung des Dunkels durch lichtstärkere Objektive aus dem Bilde genau so verdrängt wie durch die zunehmende Entartung des imperialistischen Bürgertums in der Wirklichkeit. Die Photographen jedoch sahen in der Zeit nach 1880 ihre Aufgabe mehr darin,

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diese Aura durch alle Künste der Retusche, insbesondere jedoch durch sogenannte Gummidrucke vorzutäuschen.2

Schon Mitte des 19. Jahrhunderts war die Fotografie nichts Erstaunliches mehr. Auch von der radikalen Reform der menschlichen Wahrnehmung, die man oft schablonenhaft der Fotografie zuschreibt, konnte damals überhaupt keine Rede sein. Vielmehr nahm die Fotografie nur noch den Platz eines Gesellschaftsspielzeugs oder Klassenrequisits ein. Es wird oft gesagt, dass die Erfindung der Fotografie einige impressionistische Maler beeinflusst hat. Die Fotografie als die neue optische Abbildtechnik der Außenwelt löste eine gleichsam ontologische Verselbstständigung der Malerei aus: Die Malerei musste ,die Materialität des Lichts‘ als das ursprüngliche ,Reale‘, wodurch die malerische Repräsentation überhaupt möglich wird, aufs neue entdecken. Folglich wurden sich die Maler dessen bewusst, dass ihr Produkt nicht mehr als manuelles Abbild dem Modell oder dem Phänomen untergeordnet werden muss, sondern als ,Malerei des Lichts‘ eine andere, von der Außenwelt unabhängige Existenz haben kann. All dies bedeutet aber nur, dass die Fotografie als optische Apparatur den Maler zu einer prinzipiellen Reflexion über seinen eigenen Herstellungsakt, der eben auch optisches Handwerk ist, veranlasst hat. Fotografie als Bild neuen Typs, als ein neues optisches Medium, als eine neue Repräsentation oder als das Neue, sogar als das Andere der Repräsentation zu betrachten, unterscheidet sich vom retrospektiven Gestus der Reflexion. Einen anderen Blick auf die Fotografie zu werfen als auf die ihr vorangehenden Apparaturen vermag nur jemand wie August Sander. Denn Sander stammt aus einem vom herkömmlichen ästhetischen Geschmack unabhängigen Milieu und ist darin aufgewachsen. So wuchs Sander als Sohn eines kleinen Bauernhofbesitzers auf, der zugleich Bergzimmermann war, ohne wirkliche Armut erleben zu müssen und ohne eine gewisse autochthone Mentalität des Südwestfalen loswerden zu können. Nach dem fast parvenühaften Erfolg, den er während der Arbeit in einem Fotoatelier geerntet hatte, folgte er eine Zeit lang dem Geschmack des provinziellen Stadtbürgertums in Linz, wo er sein erstes eigenes Atelier hatte. Dort nahm er sogenannte pittoresk-ästhetische Bildnisse auf. Da er mit solchen Bildern Preisträger bei Wettbewerben der künstlerischen Fotografie wurde, begann er sich doch für einen Künstler zu halten und sich selber so zu nennen. Aber später sollte 2 Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie, in: Gesammelte Schriften (GS), Bd. 3, Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann (Hrsg.), Frankfurt/Main 1972-1986, S. 376f.

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er auf diese ästhetischen Bilder immer weniger Wert legen, bis er deren Bedeutung schließlich völlig leugnete, wie dies sein Sammelband Menschen des 20. Jahrhunderts3 deutlich zu erkennen gibt. Als Ursache dieser Abkehr, die vorläufig als Übergang vom ,Manierismus‘ zum ,Realismus‘ zu bezeichnen wäre, lässt sich eins vermuten: der Umzug 1909 von der ordnungsbewussten, konservativen österreichischen Stadt in die Großstadt Köln, wo sich Sander vom letztendlich für ihn ungewohnten Umgang mit dem Provinzbürgertum befreien konnte. In Köln endete wohl auch der Zwang, wegen des gesellschaftlichen Aufstiegs einen notdürftig behelfsmäßigen Bildungsdrang, etwa zum Lesen oder Theaterbesuch, vorzutäuschen. Aber viel wichtiger war wahrscheinlich die Intuition des Technikers, durch die er die Möglichkeiten der Fotografie als eines technischen Apparats wahrnahm. So erschien ihm nun die herkömmlich-künstlerische Fotografie immer unerträglicher und langweiliger. Nichts ist mir verhasster als überzuckerte Photographie mit Mätzchen, Posen und Effekten. / Darum lassen Sie mich in ehrlicher Weise die Wahrheit sagen über unser Zeitalter und seine Menschen.4 Und doch ist, was über die Photographie entscheidet, immer wieder das Verhältnis des Photographen zu seiner Technik.5

Es bedurfte zweier neuer geschichtlicher Faktoren, wodurch die Fotografie erst im 20. Jahrhundert zu einem zeitgenössischen, vom bisherigen ästhetischen Code völlig unabhängigen Medium werden und eine andere ,Wirklichkeit‘ darstellen konnte. Der erste Faktor war das Erscheinen professioneller Ingenieure der Fotografie, der andere die Befreiung der aufzunehmenden Gegenstände vom kulturellen Code sowie das quantitative Wachstum dieser Gegenstände. Zum ersten Faktor: Es ist streng zu unterscheiden zwischen der bloß technischen Gewandtheit (d.h. dem Erlernen der Routine) im Rahmen des vorgegebenen Berufs und dem echt professionellen Ingenieur. Der Alltag eines beruflichen Fotografen unterscheidet sich auch bis heute grundsätzlich nicht von dem eines Metzgers oder eines Maurers. Deshalb gibt es in jeder Stadt und an jedem Ort Fotoateliers, die Bäckereien oder 3 Sander, August: Menschen des 20. Jahrhunderts. Die Photographische Sammlung, SK Stiftung Kultur (Hrsg.), München/Paris/London 2002. 4 Sander, August: Mein Bekenntnis zur Photographie. „Menschen des 20. Jahrhunderts“ (1927). Zit. n. Sander, August: In der Photographie gibt es keine ungeklärten Schatten!, Köln 1994, S. 21. 5 Benjamin: Photographie, S. 377.

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Wäschereien vergleichbar sind. Aber technische Fähigkeiten können auf hohem Niveau die Möglichkeiten einer Hardware bis ins Äußerste zur Erscheinung bringen und eventuell sogar Innovation herbeiführen. Vor allem bei den technisch-maschinellen Apparaturen kann sich diese Tendenz beschleunigen. Im Falle der Fotografie am Beginn des 20. Jahrhunderts sind Innovationen wie die Erhöhung des Auflösungsvermögens, die Verkürzung der Belichtungsdauer oder die Verkleinerung des Kamerakörpers als Beispiele solcher Innovationen zu nennen. Und wer vom jeweiligen Spitzengerät in seiner höchsten Leistung Gebrauch machen will, hat oft die – wohl unbewusste – Einsicht in die geschichtlichen Möglichkeiten eines Mediums. Er hat eine Ahnung davon, was das neue Medium im ganzen Bereich der Gesellschaft vollbringen könnte. Im echten professionellen Ingenieur, der damals allmählich zum Vorschein kam und nachträglich so genannt wurde, wohnen zwei Dinge eng verbunden nebeneinander: das technische Vermögen einerseits, der Sinn für die unvorhersehbaren epochemachenden Effekte der Technologie andererseits, die von der bloßen Benutzung des einen oder anderen Geräts zu unterscheiden sind. In der Tat geschah im Bereich der Fotografie die Polarisierung von Handwerker und Ingenieur, welche später als die von kommerziellem Atelierfotografen und professionellem Fotografen deutlich wird. Dieser Unterschied war jedoch am Anfang des 20. Jahrhunderts noch unklar. Vielmehr mischten sich in einem Fotografen diese zwei Mentalitäten ohne großen Widerspruch. Auch Sander war und blieb, wenn es um seine Lebensbasis ging, lebenslang kommerzieller Auftragsfotograf und beherrschte die ‚Künste der Retusche‘ und der ‚Gummidrucke‘ hervorragend. Aber dies hinderte ihn nicht, seinen tragbaren Apparat mit der kurzen Belichtungsdauer in die Hand zu nehmen und sich ins Freie zu begeben, um unabhängig vom kulturellen Code der Repräsentation unablässig Bildnisse von Menschen ohne Auftrag aufzunehmen. Unabhängig, weil er weder nur Bildnisse der kulturell Distinguierten aufnahm, noch Bilder derjenigen, die aus dem kulturellen Code ausgeschlossen oder ausgestoßen waren. Auch Karikaturen der Barbarei oder Philisterei der gesellschaftlichen Eliten fotografierte er nicht. Er hat nämlich nicht beabsichtigt, mit seinen Bildern die Gesinnungen einer bestimmten Klasse zu vertreten oder die Gesellschaft von einem bestimmten Standpunkt aus zu kritisieren, wie uns ja auch seine Bilder eher wegen der Abwesenheit von Kritik beeindrucken. In diesem Punkt unterscheidet sich Sander von Malern wie Otto Dix oder George Grosz, für deren Werke er sich allerdings interessiert haben soll.

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Sander nahm Bilder auf, ohne sich mit dem kulturellen Code oder mit dem Gegencode zu identifizieren. Er praktizierte vielmehr immer wieder, jenseits bestimmter ästhetischer oder politischer Probleme, die positive Nutzbarmachung der prinzipiellen Unterschiedslosigkeit, die dem Medium Fotografie eigen ist, vielleicht ohne die Bedeutung und die Tragweite seiner Praxis genau bestimmen zu können. Um die Schwierigkeit, aus Sanders Fotografie Gesellschaftskritik herauslesen zu können, weiß wohl auch Roland Barthes, wenn er schreibt: Die Maske ist allerdings der schwierige Bereich der PHOTOGRAPHIE. Wie es scheint, mißtraut die Gesellschaft dem unverstellten Sinn: sie will Sinn, doch will sie gleichzeitig, daß dieser Sinn von einem Rauschen umgeben sei (wie es in der Kybernetik heißt), das ihm etwas von seiner Schärfe nimmt. Daher wird das Photo, dessen Sinn (ich spreche nicht von der Wirkung) zu eindringlich ist, rasch verharmlost; man macht davon einen ästhetischen, nicht politischen Gebrauch. Die PHOTOGRAPHIE der MASKE ist in der Tat hinreichend kritisch, um zu beunruhigen (1934 zensierten die Nazis Sander, weil sein ‚Antlitz der Zeit‘ nicht dem nazistischen Archetyp der Rasse entsprach), doch andererseits ist sie zu diskret (oder zu ‚sublim‘), um tatsächlich zu einer wirksamen Instanz sozialer Kritik zu werden, jedenfalls wenn man militante Forderungen zum Maßstab nehmen will: welche engagierte Wissenschaft würde das Interesse an der Physiognomik anerkennen? Ist nicht die Fähigkeit, den sei’s politischen, sei’s moralischen Sinn eines Gesichts wahrzunehmen, selbst schon eine soziale Abweichung? Und auch das ist noch zuviel gesagt: Sanders Notar ist geprägt vom Gefühl für die eigene Wichtigkeit und von Steifheit, sein Gerichtsvollzieher durchdrungen von Selbstsicherheit und Brutalität; doch nie hätten ein Notar oder ein Gerichtsvollzieher diese Zeichen lesen können. Der soziale Blick, der eine Distanz herstellt, wird hier zwangsläufig durch eine subtile Ästhetik gefiltert und dadurch nichtig: kritisch ist dieser Blick nur bei denen, die bereits zur Kritik fähig sind. Diese Sackgasse ähnelt jener, in der sich Brecht befand.6

Da Barthes bei Sander das sogenannte punctum vermisst, fixiert er sich darauf, Sander neben das studium im Sinne Brechts zu stellen. Es dürfte allerdings umstritten sein, ob die Polarität ,Politik oder Schönheit‘ Sanderschen Fotografien so entspricht wie bei Brecht, der übrigens der Fotografie misstrauisch gegenüberstand. Immerhin könnte man anerkennen, dass Sanders Bildern das punctum fehlt, das Barthes aufgrund seiner eigenen Unterscheidung als die eigentliche Erfahrung der Fotografie hervorhebt: 6 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/Main 1989, S. 44f.

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Das zweite Element durchbricht (oder skandiert) das studium. Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. Ein Wort gibt es im Lateinischen, um diese Verletzung, diesen Stich, dieses Mal zu bezeichnen, das ein spitzes Instrument hinterläßt [...]. Dies zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt — und: Wurf der Würfel. Das punctum der Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).7

Nun eignet diesem Barthesschen Sinn für ,punktuale‘ Kontingenzen heutzutage eine Art Schematismus. Für Barthes ist nämlich die Fotografie eine authentisch-ästhetische, oder vielmehr magisch-emanatorische Erfahrung, die darin besteht, bestochen und durchbohrt zu werden. Jedoch hat Sander seinerseits längst darauf verzichtet, die Fotografie als ästhetisches Kunstwerk auszuarbeiten. Wie die Fotografie für Barthes etwas mehr als die Kunst, nämlich „Magie“8 ist, ist sie für Sander auch etwas anderes als die Kunst. Alfred Döblin bezeichnet dieses Andere als eine mit der Kulturgeschichte oder der Soziologie vergleichbare Schilderung, d.h. Ausdruck einer wissenschaftlichen Tätigkeit, die man auch Studium nennt.9 Wie Barthes erkennt Döblin in Sanders Fotografie also vorzüglich das studium und schätzt sie allein aus dieser Hinsicht. Gewiss hinterließ auch Sander Schriften, in denen er sich über seine Aufnahmetätigkeit, deren Prinzipien und Ziele selbstbewusst äußerte. Aber ein Fotograf muss nicht immer imstande sein, über sich selbst zu reden, huldigt er doch dem simplen Objektivismus oder der Treue gegenüber dem Aussehen des Gegenstands. Auch zu erkennen ist der Einfluss von Spenglers Verfallsgeschichtsschreibung, des ideologisch dubiosen Bauernlobs oder der deutschen Jugendbewegung, die auf die Zusammensetzung der Menschen des 20. Jahrhunderts ihre Schatten werfen. Aber weder lässt sich Sanders ,Berufsporträts‘ eine tendenziöse Zuneigung zu einer bestimmten Klasse noch eine extreme Ästhetisierung derselben entnehmen. Selbst die Bauern sind nicht so schön oder stolz, wie ihre Augen dem sich leicht einfühlenden Betrachter vortäuschen. Vielmehr ist Sander seit einem bestimmten Zeitpunkt in Köln einer Obsession verfallen, einen fotografischen Katalog der menschlichen Gesichter 7 Barthes: Die helle Kammer, S. 35f. 8 Barthes: Die helle Kammer, S. 99. 9 Döblin, Alfred: „Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit“, in Sander, August: Antlitz der Zeit, München 1990, S. 13.

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oder Gestalten herzustellen, der alle Stände, Klassen und Berufe umfassen sollte. Das Wort Katalog findet sich allerdings nicht in Sanders eigenem Vokabular. Aber vom eigentlichen Wortsinn ,kata-legein‘, vollständig aufzählen‘ her ist es eben nichts als eine Katalogisierung, was Sander unternahm. Ferner bedeutet kata-legein auch ,vollständig sagen‘, weswegen es bei der Katalogisierung auf deren Methode und narrativen Aufbau ankommt, wie das da völlig Umfasste aufgezählt und gesagt wird. Charakteristisch ist für Sanders Katalogisierungsversuch der Menschen des vorigen Jahrhunderts erstens, dass er durch physiognomische Gruppierungen zusammengesetzt werden soll. Diese physiognomische Klassifizierung wird außerdem nach der Überzeugung durchgeführt, dass in ihr nicht so etwas wie ,Schicksal und Charakter‘ einzelner Individuen markiert wird, sondern ein noch konkreterer Unterschied von Berufen. Repräsentiert wird im Katalog also nicht die Individualität, sondern eine Art Kollektivität von Menschen. Die gruppierten Kollektive von Menschen bilden jeweils eine Mappe, die nach einer gewissen Gesetzmäßigkeit weiter angeordnet werden. Die so entstandene Reihenfolge der Mappe ist bekanntlich eine andere als die ständisch-hierarchische. Sie ist nämlich weder von oben nach unten angeordnet noch umgekehrt. Zur ursprünglich geplanten Anordnung äußert sich Sander: Das ganze Werk ist eingeteilt in 7 Gruppen der bestehenden Gesellschaftsordnung entsprechend und ergibt ca. 45 Mappen mit je 12 Lichtbildern. Es geht den Weg vom erdgebundenen Menschen bis zur höchsten Spitze der Kultur in den feinsten Gliederungen abwärts bis zum Idioten.10

An der Klassifizierung der Menschen des 20. Jahrhunderts wurden seit dem ersten Entwurf einige Änderungen vorgenommen, so dass der Plan nicht eingehalten werden konnte. Da schließlich ab 1934 die nationalsozialistische Zensur Sander an weiteren Aufnahmen gehindert hat, weswegen die Arbeit unvollendet blieb, ist die heute vorhandene Fassung keine endgültige. Aber überhaupt war eine ,berufsumfassende‘ Klassifizierung, die vor dem ersten Weltkrieg entworfen wurde, von vornherein zum Scheitern bestimmt, wenn man die objektiven Faktoren im 20. Jahrhundert in Betracht zieht, wie zum Beispiel die beschleunigte gesellschaftliche Mobilität und berufliche Verzweigung und Reorganisierung. Eine Dokumentierung von früher existenten kollektivphysiognomischen Charakteren ist die Arbeit auch nicht, weil Sander in seinen Katalog auch 10 Sander: Mein Bekenntnis zur Photographie, S. 36.

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relativ neu entstandene Berufsarten mit einbezogen hat, für die lange körperliche Arbeit nicht mehr kennzeichnend ist. Sanders Versuch des berufsphysiognomischen Menschenkatalogs bildet also keine rational umfassende Klassifizierung aller gesellschaftlichen Klassen. Vielmehr ist die Sammlung Menschen des 20. Jahrhunderts durch das Scheitern der Katalogisierung geprägt. Nun gibt es aber doch Gesetzmäßigkeiten, die allmählich sichtbar werden, wenn man gewisse Gegensatzpaare als Betrachtungsschemata einführt. Beispielsweise könnten wir uns, angelehnt an den Gegensatz von ,Natur/Kunst‘, die Bilder anschauen. Dann sehen wir, dass die konkurrierende und prozesshafte Polarität von Natur und Kunst der Zusammensetzung der Mappen des Katalogs einigermaßen entspricht. In diesem Prozess neigen sich die Bilder nach und nach dem letzten Pol zu. Jedoch erscheint in den Bildern die Natur nicht etwa als gewachsene Landschaft oder wildes Wuchern. Natur ist vielmehr etwas, was der Betrachter an den Falten in den Gesichtern, den Flecken auf der Kleidung oder der körperlichen Verfassung erkennen kann. Kunst bedeutet auch nicht, dass künstliche Dinge wie Maschinen, Werkzeuge oder städtische Landschaften auf Bildern zu sehen wären, sondern den Einfluss der gesellschaftlichen Effekte auf Gesichtsausdrücke, Attitüden oder Kleidungen der aufgenommenen Menschen. Deswegen hat das genannte Gegensatzpaar nichts zu tun mit dem Vorurteil, dass die Bauern der Natur viel näher seien, während die Stadtbewohner in einer künstlichen Umgebung wohnten. Zu den natürlichen Kräften gehören beispielsweise das Klima des Wohnorts, das Alter oder die Vererbung, Kräfte also, die den Menschen als biologisches Individuum beeinflussen, während die künstlichen Kräfte diejenigen sind, die in den gesellschaftlichen Verhältnissen auf Menschen als soziale Organe Einfluss ausüben. Die beiden Arten der Kräfte bestimmen, mal gegeneinander, mal miteinander wirkend, die Menschengestalt als Kraftfeld. Aus der Physiognomie aber sollten Sanders eigener Intention zufolge bloß Korrespondenzen mit dem Beruf herausgelesen werden. Trotz des Scheiterns dieses ursprünglichen Plans scheint sich aus den gesammelten Bildern jedoch etwas mehr ergeben zu haben als Sander erwartete. Die Reihenfolge der zusammengesetzten Bilder lässt vermuten, dass in den angespannten Verhältnissen zwischen den beiden Kräften der Vorrang allmählich auf die zweiten, künstlichen Kräfte fallen wird, wobei aber zu beobachten ist, dass in den Bildern ein noch anderer, dritter Faktor in den Vordergrund rückt, wenn der Vorrang der Kunst vor der

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Natur einen gewissen Grad erreicht. Und dieser dritte Faktor ist der entscheidende in Sanders Fotografien. Wir wollen diesen Faktor als ,das Materielle‘ in der menschlichen Existenz bezeichnen. In der Mappe Die letzten Menschen, die als letzte entworfen und heute nur teilweise überliefert ist, kommt diese Materialität stark zum Vorschein. Wenn wir dann auf die erste Mappe Bauern zurückschauen, werden wir unweigerlich darauf aufmerksam gemacht, dass sich dieselbe Materialität auch auf ihren Gesichtern gezeigt hat. Hingegen wird diese Materialität bei den Sichtbarkeiten höherer sozialer Schichten unauffälliger, dies vielleicht deshalb, weil sie in der Lebenserfahrung geübter sind, solch eine Materialität in ihrer eigenen Existenz zu domestizieren. Der Mensch als das Materielle bedeutet aber nicht etwa die ,verdinglichte Existenz‘ der Arbeiter, da Sander mit der materialistischen Lehre von Entfremdung oder Verdinglichung in den 1920er und 1930er Jahren überhaupt nicht vertraut war. Das Materielle bedeutet auch nicht die Todesnotwendigkeit alles Lebendigen wie im Ausdruck ,von der Erde wieder in die Erde‘ oder ,von Asche zu Asche‘. Das Materielle des Menschen kommt vielleicht dem nahe, was Benjamin „die Begegnung von Maschine und Menschen“ nennt: Der Versuch, eine systematische Auseinandersetzung zwischen Kunst und Photographie herbeizuführen, mußte zunächst scheitern. Sie sollte ein Moment in der Auseinandersetzung zwischen Kunst und Technik sein, die die Geschichte vollzog.11 Was die ersten Photographien so unvergleichlich macht, ist vielleicht dies: dass sie das erste Bild der Begegnung von Maschine und Menschen sind.12

Ryuzo Torii war einer der ersten, in Japan eindeutig der erste Ethnograf, der bei Forschungsreisen statt eines Malers die Kamera mitnahm, um bildliche Materialien zu körperlichen und kulturellen Eigenschaften von Naturvölkern zu sammeln.13 Schon 1896, als er zum ersten Mal über die Urbevölkerungen auf Formosa (d.h. Taiwan) Recherchen anstellte, die vor allem entlang der Ostküste und in den Gebirgen wohnten, nahm er trotz aller Hindernisse einen Fotoapparat mit. Das Gerät war damals mit 11 Benjamin: Das Passagen-Werk, GS Bd. V, S. 828. 12 Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 832. 13 Über Toriis ethno- und fotografische Tätigkeiten, vgl. Torii, Ryuzo: Lost Worlds on a Dry Plate: Torii Ryuzo's Asia, Arbeitskomitee der Sonderausstellung des Allgemeinen Forschungsarchivs der Universität Tokyo (Hrsg.), Tokyo 1991. Vgl. dasselbe (Hrsg.): The Torii Ryuzo Photographic Record of East Asian Ethnography, Tokyo 1990.

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seinen über dreißig Kilogramm Gewicht und den lichtempfindlichen Glasplatten nur schwer transportabel. Während seiner insgesamt viermaligen Recherchen (1896, 1897, 1898 und 1900) auf Formosa hat Torii fast die gesamte Urbevölkerung untersucht. Er nahm beinahe 1000 Bilder auf, und 834 von ihnen sind 1991 vom Museum der Universität Tokyo wiederhergestellt und mit den Bildern aus seinen anderen Forschungsreisen veröffentlicht worden. Süd- und Nordchina, Korea, Okinawa (die südlichen Inseln in Japan, wo bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine unabhängige autochthone Dynastie namens Ryukyu herrschte) und Hokkaido (die Nordinsel von Japan, wo das Naturvolk der Ainu wohnte und jetzt noch in Überresten unter Schutzgesetzen wohnt) waren die Ziele dieser Reisen. Diese Naturvölker kannten damals die Kamera nicht. Es war für sie die erste Begegnung mit der Maschine, als Torii sie mitbrachte. Sie sollen deshalb manchmal einen enormen Widerstand gezeigt haben, wenn sie vor die Kamera geholt wurden. Da sie nicht aus dem Haus herauskommen wollten, musste Torii entweder die Menschen mit Gewalt vor die Kamera schleppen lassen oder sich mit dem Apparat hinter einem Busch verstecken und mit verschiedenen Tricks Fernaufnahmen erzwingen. Es war aber wohl nicht abergläubische Furcht, welche die Menschen ängstigte, so etwa, als nähme ihnen die Kamera die Seele, oder als ob sie ihnen Unglück brächte. Hinter solch einem irrationalen Vorwand empfanden sie vielmehr intuitiv den unheimisch-unheimlichen Blick des ihnen unbekannten technischen Apparats und fanden es unerträglich, diesem Blick ausgesetzt zu werden. Im Vergleich dazu ist auch das Ungleichgewicht der makropolitischen Machtverhältnisse zwischen dem Kolonialisierten und dem Kolonialisten, von dem sich Torii als Japaner nicht ausschließt, weniger problematisch. Denn die Naturvölker lebten entweder von der Mehrheit der Bevölkerung mehr oder weniger ausgestoßen und diskriminiert oder wurden von dieser Bevölkerung durch Blutsvermischung integriert. Die ungleichen Machtverhältnisse entstehen eher aus dem unterschiedlichen Stand des jeweiligen Verhältnisses zur Technik in der mikroskopischen Szene, mit der die Fotografie als Technik auf die aufzunehmenden Leute den Blick wirft. Die Weigerungen richteten sich weder gegen den Forscher aus dem kolonialistischen Japan noch gegen den Fotografen als Herrenmenschen, sondern schlicht gegen die Kamera, die aus ihnen Bilder machte. Und eben hier liegt das entscheidende Thema des fotografischen Blicks.

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2.

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Der kulturelle Effekt der fotografischen Repräsentation

Rein quantitativ betrachtet sehen wir heutzutage wahrscheinlich mehr Menschengestalten durch technische, etwa fotografische Bilder als durch bloße Augen. Dies besagt oder fordert aber nicht, dass die technischen Bilder so fein sind, dass durch sie das optische Auflösungsvermögen der menschlichen Augen ersetzt werden könnte oder sollte. Der Blick des Fotoapparats besitzt bloß eine andere Feinheit als unsere Augen, so dass die beiden nicht dieselbe Funktion haben. Aber trotzdem oder gerade deswegen hat die Fotografie unzählige barbarische Blicke auf die Menschenkörper freigesetzt. Vielen der Bildnisfotografen vor Sander war jene Bescheidenheit zu zögern noch nicht verlorengegangen, den ersten Schritt in die unartige Barbarei des Blicks zu tun. Sander hingegen hat die letzte Schranke der Diskretion bereits übertreten, weswegen er die Bezeichnung ,Bildnisfotograf des 20. Jahrhunderts‘ tatsächlich verdient. Auch ist der Vorwurf gegen Toriis Respektlosigkeit und wissenschaftliche Arroganz nicht ohne Grund, da er die Naturvölker wider deren Willen vor den technisch-wissenschaftlichen Blick der Kamera stellte. So fehlt bei Bildern Sanders und Toriis gleichermaßen dem Blick auf die Gegenstände das Maß: die zu Gegenständen gemachten Körper sind wehrlos denen ausgesetzt, die auf sie den Blick werfen. Der Blick der Kamera dringt gleichsam wie ,das Messer eines Chirurgen‘ in den Gegenstand ein. Die Bildnisse von Sander sind in ihrer Katalogisierung auch wenig zurückhaltend. Was da zu sehen ist, sind die vergesellschafteten Körper mit entsprechenden klassen- bzw. standeseigenen Kennzeichen wie Kleidungen, Berufsuniformen oder anderen Requisiten. Den Betrachtenden, die solch einen Körper einen nach dem anderen gemäß der angegebenen Ordnung mit den Augen erfassen, könnte im Laufe des Umblätterns allmählich das Deutungsschema dieser Ordnung beigebracht werden. Aber weil das Schema weder die gesellschaftliche Wirklichkeit widerspiegelt noch ihr entsprechend entstanden ist, sondern ein imaginiertes Schema ist, gewinnen die Betrachtenden schließlich auch nur undeutliche Ahnungen: einerseits, dass es irgendwo in jedem Körper so etwas gibt wie unüberwindbare klassen- bzw. berufseigene Prägungen, zugleich aber den vagen psychischen Widerstand gegen solche Überzeugungen auf der anderen Seite. John Berger hat in About Looking den Prozess der allmählichen Zähmung durch den kulturellen Code, der z.B. bei

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der Aufnahme Jungbauern zu sehen ist, als den entscheidenden Faktor Sanderscher Bilder hervorgehoben.14 Auch Toriis Bilder zeigen uns die körperlichen Eigenschaften verschiedener Naturvölker genauso wie ein Präparat es tut. Er hat ihre Körper auch gemessen, untersucht und die Ergebnisse statistisch bearbeitet. Aber zugleich hat Torii ihre Wohnungen, ihre Kleidungen, verschiedene Rituale und nicht zuletzt ihre Mythologie sehr ausführlich beschrieben. Auch hat er den Grundwortschatz einiger Völker verglichen. Wie die Ethnologie (oder natural anthropology) fernerhin die Basis für die Ethnografie bzw. die Kulturanthropologie war, umfasste Toriis Forschung stets sowohl naturwissenschaftliche Messverfahren als auch humanwissenschaftliche Beschreibungen. Er ist als Forscher immer der Grenzlinie zwischen Natur und Kultur auf der Spur gewesen. Auf ethnografische Kulturbeschreibungen hat er genauso großen Wert gelegt wie auf die Messung. Bereits bei der ursprünglichen Absicht seiner Forschung, welche die genetische Herkunft ostasiatischer Völker erklären sollte, war Torii klar, dass dies nur vollziehbar ist, wenn jene Forschung nicht nur physio-morphologisch betrieben, sondern auch durch eine Beschreibung der Lebensformen bzw. der Sittlichkeit gegenwärtiger Menschen ergänzt würde, die nach und nach vom Aussterben bedroht sind. Deshalb nahm Torii genauso viele Bilder von den Häusern, Werkstätten, Werkzeugen oder Gräbern auf wie von den Leuten selbst. Auch die Erklärungen zu den Menschenbildern werden ausführlicher, wenn es um ihre Sitten geht, etwa ihre Haarformen, Kleidungen, Tätowierungen, während zu den Bildern, die körperliche Eigenschaften darstellen sollten, bloß Hinweise wie ‚Vorne‘ und ‚Seite‘ stehen. Aber als Ethnograf naturwissenschaftlicher Herkunft hatte Torii selber anscheinend keine Bedenken, dass seine fotografische Tätigkeit, wenn sie auch rein wissenschaftlich beabsichtigt war und ihm damit eine objektive Beobachtung zu erlauben schien, doch nur noch eine veränderte Gestalt der Naturvölker wiedergeben konnte. Noch einmal Barthes: Die PHOTOGRAPHIE ist gewaltsam, nicht weil sie Gewalttaten zeigt, sondern weil sie bei jeder Betrachtung den Blick mit Gewalt ausfüllt und weil nichts in ihr sich verweigern noch sich umwandeln kann (daß man sie manchmal zart nennen kann, widerspricht nicht ihrer Gewaltsamkeit; viele sagen, Zucker sei süß; ich hingegen finde Zucker gewaltsam).15

14 Berger, John: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin 1989, S. 36-44. 15 Barthes: Die helle Kammer, S. 102.

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Das erinnert uns teilweise daran, dass auch Sander den ‚gewaltsamen Zucker‘ von der Fotografie entfernen wollte: „Nichts ist mir verhasster als überzuckerte Photographie mit Mätzchen, Posen und Effekten.“16 Stattdessen hat sich Sander erlaubt, durch die Fotografie die ‚Wahrheit‘ der Menschen des 20. Jahrhunderts zu zeigen. Von der Wahrheit der Fotografie kann jedoch nicht die Rede sein ohne die Gewalt des Blicks, so auch bei Torii. Einerseits war er sich jener ,süßen Gewalt‘ der Fotografie überhaupt nicht bewusst. Für ihn war die Fotografie eine bloße Wiedergabe der Tatsachen oder die Entsprechung der Tatsachen und durfte nichts anderes sein. Je wehrloser die Gegenstände dargestellt werden, desto objektiver, d.h. besser werden die Bilder als Forschungsmaterialien. Er will nichts davon wissen, dass er mit der Kamera in die Naturbevölkerung den ‚vergewaltigenden‘ Blick der Technik eingeschmuggelt hat. Infolgedessen existieren die Leute auf Toriis Bildern schlicht als ‚Materien‘, die ferner der ethnologisch-ethnografischen Forschung als objektive ‚Materialien‘ dienen sollen. Wegen der fotografischen Materialien hat Torii den Naturvölkern, die er erforschte, trotzdem kein einziges Stück von ihren Relikten oder Reliquien geraubt. Außer Bildern und Wissen hat er nichts nach Tokyo mitgebracht. Was wir die Wehrlosigkeit der Gegenstände Sanderscher Bilder nennen, heißt nicht etwa, dass in Bildnissen die ganze berufliche Eignung der aufgenommenen Person oder sogar das Arkanum dieses oder jenes Berufs entblößt und ans Licht gebracht worden wäre. Gewiss erhalten wir Eindrücke, dass dieser z.B. ein ziemlich frivoler Spießer, jener ein Gauner sei, oder dass die Ackerbauern wahrlich einen robusten Körperbau hätten. Auch von Toriis Bildern erhalten wir gewiss kostbare Informationen über die Naturvölker, und sie lassen uns verschiedene Ähnlichkeiten oder sogar Verwandtschaften zwischen Völkern vermuten, die zu Toriis Zeit voneinander schon weit entfernt wohnten. Aber solche Eindrücke gehören eher zum Nebensächlichen angesichts dessen, was in Sanders und Toriis Bildern als das Entscheidende geschieht. Die körperliche Repräsentation durch die Fotografie wirkt nicht nur auf die Betrachtenden, sondern auch auf die durch die Bilder Betrachteten. Selbst bei den Aufnahmen zu privaten Gelegenheiten wie Familienporträts müssen die Aufgenommenen als virtuelle Tatsache hinnehmen, dass auf sie hinter dem Fotoapparat unbestimmte und unzählige Blicke geworfen werden können. Heutzutage lernen wir einen Unbekannten sehr oft zuerst nur durch sein Bild kennen. Das Bild ist in solchen Fällen das erste sinnliche Verhältnis zum Menschen. Der menschliche Körper fängt 16 Vgl. Sander: Mein Bekenntnis zur Photographie, S. 21.

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an zu existieren als Fotobild. Vor allem kennen wir namhafte und prominente Personen fast nur durch Bilder. Diese sind natürlich Teile von ihnen, die raumzeitlich abgeschnitten und aus einer bestimmten und beschränkten Perspektive betrachtet werden, aber die Erfahrung, auf den (sei es eigenen, sei es fremden) Körper zu starren, fällt uns durch die Fotografie zumindest leichter denn je. Umgekehrt bedeutet dies, dass wir, wenn wir fotografisch aufgenommen werden, die Möglichkeit akzeptieren, uns von jedem Beliebigen anstarren zu lassen. Deshalb kann die Fotoaufnahme für manchen beängstigend und abscheulich sein. In der Tat wäre es für viele unerträglich, wenn jemand anderer ihren Körper unmittelbar so anstarren würde, wie er das Bild anstarrt. Aber wenn dieses anstarrende Beobachten dauerhaft durchgeführt wird, wird unser Körper wahrscheinlich den Blick als eine unwiderstehliche soziale Macht, d.h. als zweite Natur, annehmen und sich die Disziplin aneignen, sich auf Befehl des Blicks der anderen zu organisieren und zu verhalten, wie es dem Blick gefällt und erwünscht ist. Dies stellt eine Weiterentwicklung des Panoptikum-Effekts dar. Erst der neuesten Zeit blieb es [...] aufbehalten, mit der umfassenderen Lenkung des Staates, und dessen stets tieferem Eindringen in die Zustände und Verhältnisse des bürgerlichen Lebens, zu den Hülfsmitteln der Vervollständigung jener, auch schon die, auf Ueberschauung berechnete Bauart und Einrichtung, für eine zahlreiche Menschenmenge bestimmter Wohn- oder Aufenthaltsorte, mitwirkend herbeizuziehen, und in Anspruch zu nehmen. Bei keiner Art von Bauwerken hat sich aber die Nützlichkeit dieses, einer noch bei weitem größeren Entwickelung fähigen Grundgedankens, schneller und erfolgreicher bewährt, als bei den Gefängnissen.17

Als Praktiker der Benthamschen Idee des Panoptikums erwähnt Michel Foucault diesen hegelianischen Strafrechtswissenschaftler in seinem Buch Überwachen und Strafen18 und außerdem im Vortrag „Die Wahrheit und die juristischen Formen“.19 Da die Fotografie eine Reproduktionstechnik ist und eine prinzipiell beliebige Vervielfachung erlaubt, kann man den Effekt der Fotografie auch als raumzeitliche Verbreitung 17 Julius, Nicolaus Heinrich: Vorlesungen über die Gefängniß-Kunde oder über die Verbesserung der Gefängnisse und sittliche Besserung der Gefangenen, entlassenen Sträflinge u.s.w., Berlin 1828, S. 108f. 18 Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main 1977, S. 277f. 19 Vgl. Foucault, Michel: „Die Wahrheit und die juristischen Formen“, in: Defert, Daniel/Ewald, François (Hrsg.): Schriften in vier Bänden. Dits et écrits, Bd. II 1970-1975, Frankfurt/Main 2002, S. 669-792, hier S. 750f.

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und Zerstreuung der Macht der Panoptikum-Apparatur bezeichnen. Der Ort der Macht ist nämlich bei der Fotografie bereits derart dezentriert worden, dass jeder jederzeit sowohl virtuelles (Schein-)Subjekt der Machtausübung sein kann als auch deren virtuelles Objekt: Jeder kann andere auf dem Bild sehen und von anderen gesehen werden. Durch die Fotografie wird die Sphäre der anonymen und zugleich allgegenwärtigen Macht gebildet. Dort gehören wir, wenn wir als aufgenommene Personen gesehen werden, zur Minderheit, die mit den Blicken der Mehrheit durchbohrt wird. Es ist eine virtuelle Mehrheit, zu der wir uns auch dann zählen, wenn wir Bilder sehen, d.h. wenn wir – meistens ohne zu wissen – den Blick der Macht auf sie werfen. Gesehen werden wir zwar als Minderheit, aber nicht als Besitzer des auserwählten oder erhabenen Körpers, mit dem einst der Körper des Königs die Souveränität im sinnlichen Bereich repräsentierte. Als fotografisch aufgenommener ist unser Körper ein machtloser, verletzlicher. Nicht ständig werden wir betrachtet, aber im Moment, in dem wir aufgenommen werden, sind wir nicht mehr imstande, uns zu weigern, dass die eigene Gestalt durch Tausende von Blicken durchbohrt wird. Die Macht ist auf der Seite der ungezählten, ja unzählbaren Blicke. Die aufgenommenen Körper, die von den fast konformen Blicken der Macht selber nach und nach konform gemacht werden, nehmen allmählich den Willen der Macht vorweg und werden sich von sich aus entsprechend verhalten. Diese aktive Vorwegnahme des Blicks der Macht bedeutet, sich die natürliche Einstellung bei der Aufnahme anzueignen und sich daran zu gewöhnen. Fotogene Menschen haben die Gewohnheit verinnerlicht, von der Maschine betrachtet und damit durch die Maschine von der Macht betrachtet zu werden. Wir sind nicht nur daran gewöhnt, sondern leben von Geburt an in dieser Gewohnheit, aufzunehmen und aufgenommen zu werden. Dies ist die Sackgasse der Naturvölker, in die sie hineingetrieben werden, wenn sie einmal dem ethno-fotografischen Blick der technisch implementierten modernen Wissenschaft ausgesetzt worden sind. Entweder können sie wie ein Museumsobjekt überleben und werden in ihrer theatralischen Existenz vom Rest der Welt anerkannt; oder aber sie finden in jenem „Es-ist-so-gewesen“, das der nekrophile Barthes „das Noema der PHOTOGRAPHIE“20 nennt, ihre endgültige Grabstätte. Japaner selbst haben dieser Sackgasse nur dadurch entkommen können, dass sie sich – statt dauernd gesehen zu werden – den panoptischen Blick der Macht aneigneten. Gegenüber dem imaginären Blick aus dem Westen ist

20 Barthes: Die helle Kammer, S. 86f.

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nur noch das ‚Es-ist-ungefähr-so-gewesen‘ der Samurai- und Geishawelt als Bühnenspektakel oder in den Filmen aufbewahrt. Je weiter wir in Sanders Menschenkatalog vorwärts blättern, desto mehr Personen kommen vor, die sich solche ,Natürlichkeit‘ angeeignet haben und vor der Kamera als Wirkung der ,zweiten Natur‘ zeigen können. Sie steigert bei den Menschen den Stellenwert jener Sinneswahrnehmung der Materialität menschlichen Daseins. Diese Menschen nehmen bereits den ,eigenen‘ Platz in der sogenannten fotografischen Machtsphäre ein und kennen kein fremdes Gefühl mehr, wenn sie aufgenommen werden. Foucault hat einmal gesagt, die diskursive Macht sei dort zugange, wo es scheinbar ,natürlich‘ oder ,privatpersönlich‘ aussieht. Die meisten der ,natürlich‘ wirkenden Bilder Sanders sind Innenaufnahmen. Aber diese Natürlichkeit geht bei den Stadtvagabunden oder den letzten Menschen allmählich verloren. Offensichtlich und unverkennbar wird dort das Unbehagen der Aufgenommenen, wenn man nicht schon von ihrem Widerwillen gegen das Gesehenwerden sprechen will. Dieses Unbehagen ist auch der Grund dafür, dass das scheinbare und vorläufig erhaltene Gleichgewicht zwischen dem Aufgenommenen und dem Betrachtenden erschüttert wird und verlorengeht. Beispielsweise dokumentiert die Bildergruppe Die Blinden die paradoxe Begegnung zwischen dem Fotoapparat und den Leuten, die ständig gesehen werden, ohne selber sehen zu können. Das Paradox in den Bildern würde heißen, dass die Blinden auch einen Blick haben, den Blick nämlich, der noch härter und starrer ist als jener der Fotogenen. Wir sind versucht, mit Benjamin die Intensität dieser Begegnung als die der Begegnung von Maschine und Mensch zu bezeichnen. Werfen wir erneut einen Blick auf die erste Mappe von Sanders Bauern. Wahrscheinlich sind es nicht innere Regungen wie Erschrecken, Stolz oder Verworrenheit, die uns ihre Gestalt während der Fotoaufnahme zeigt. Gewiss gibt es im ganzen Band Leute, die eine innere Tiefe oder einen komplizierten Seelenvorgang, die es in Wirklichkeit gar nicht gab, inszenieren wollen; aber solch ein Wille, sich darzustellen, ist bei den Bauern nicht zu finden. Der Kamera gegenüber reagieren sie vielmehr mit einem starren Gesicht und einem harten Blick ohne Tiefe. Es ist bekannt, dass Sander die Bildergruppe der Bauern ‚Stamm-Mappe‘ nannte und sie an den Anfang der Menschen des 20. Jahrhunderts setzte. Aber es wäre ideologisch verkehrt, wenn man aus diesem Aufbau des Buches so etwas wie Sanders Vorliebe für das schlichte Leben der Bauern und ihre Gutmütigkeit herauslesen wollte. Vielmehr liegt es daran, dass die Mappe der Bauern uns den Prozess am deutlichsten zeigt, in

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dem sich die fotografisch Aufgenommenen in etwas Anderes verwandeln als organische und lebendige Körper. Auch die Menschen auf Toriis Bildern existieren nicht in einem organischen Zusammenhang, sondern als vereinzelt in die Hand genommene ethnofotografische Materialien. Der Abstand zwischen den Aufgenommenen und dem Fotografen hat weder Sander noch Torii bekümmert. Vielmehr liegt die Bedeutung ihrer Fotografien darin, dass sie – statt einer unmöglichen Bemühung, diesen Abstand zu überbrücken – auf der anderen Seite dieser Grenzlinie stehend die Menschen aufgenommen haben, mit denen sie deshalb nie verschmelzen können, weil das wirklich Neue der Fotografie weit jenseits der organischen menschlichen Beziehung anfängt. Zu erinnern ist daran, dass August Sander als Fotograf der Menschen des 20. Jahrhunderts vor allem Ingenieur und Techniker war. Die Begegnung von Maschine und Mensch ist ein materielles Ereignis oder ein Ereignis des Materiellen. Es ist der Zwischenfall oder die harte Fügung zwischen Menschen und Maschine, den die Fotografie als Medium überliefert. Entwickelt wird auf den Bildern die Szene der Neuerscheinung einer anderen Materie als der organischen des menschlichen Körpers. Dieser fotografische Körper oder der Körper der Fotografie fängt an zu existieren als gegen die Kamera stehender Gegenstand. Die Intensität dieses neu erschienenen Körpers scheint in der Reihenfolge des Bandes einmal sich zu vermindern und dann wieder anzusteigen. Was an der Daguerreotypie als das Unmenschliche und Tödliche mußte empfunden werden, war das (übrigens anhaltende) Hereinblicken in den Apparat, da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben. Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird [...], da fällt ihm die Erwartung der Aura in ihrer Fülle zu. [...] Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.21 Es ist entscheidender Wert auf Baudelaires Bemühung zu legen, desjenigen Blicks habhaft zu werden, in dem der Zauber der Ferne erloschen ist. (Vgl. L’amour du mensonge) Hierzu meine Defini-

21 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, GS Bd. I, S. 646f.

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tion der Aura als der Ferne des im Angeblickten erwachenden Blicks.22

Baudelaire zeigte sich gegenüber der Fotografie zwar feindselig, aber hinterließ doch einige Gedichte, die den Blick der Lüge preisen, „in dem der Zauber der Ferne erloschen ist“, und der damit dem Blick der Fotografie zum Verwechseln ähnlich ist. Statt der auratischen „Ferne des im Angeblickten erwachenden Blicks“ erhalten wir nun vom Gegenstand der Fotografie den fernlosen, distanzlosen Blick, der noch „leerer und tiefer ist als der Himmel selber“. Tiefe heißt hier deshalb nicht etwa unausschöpfliche, innere Tiefsinnigkeit, sondern einfach Nichtsein dessen, was zu deuten bliebe. In den scheinbar äußerst melancholischtiefsinnigen Augen ist kein Stück kostbaren Geheimnisses versteckt. Baudelaire hat durch seine Darstellung der blicklosen Augen das tiefste Geheimnis der Fotografie verraten, dass es nämlich kein Geheimnis gibt. Weil Sander – wahrscheinlich mit Absicht – auch bei Aufnahmen im Freien nicht vom Apparat mit der damals kürzesten Belichtungsdauer Gebrauch machte, mussten seine Gegenstände, d.h. die Dargestellten, dementsprechend tatsächlich in die Kamera ‚anhaltend hereinblicken‘ bzw. hineinblicken. Sie gehörten davor zu den Betrachtenden, die allenfalls eine dunkle Ahnung davon hatten, dauerhaft und für immer nur betrachtet zu werden. Sie blicken in die Kamera herein bzw. hinein. Auch wenn ihr Blick vom Apparat abweicht, ist ihre Aufmerksamkeit immer auf die Kamera gerichtet. Aber die Kamera selbst gibt ihnen keinen Blick zurück. Eben dort geschieht etwas Unmenschliches, Tödliches. Jacques Lacans Patient petit Jean hat sich einst am unmenschlich-tödlichen Ge-

22 Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 396. Vgl.: „Je sais qu’il est des yeux, des plus mélancoliques, / Qui ne recèlent point de secrets précieux; / Beaux écrins sans joyaux, médaillons sans reliques, / Plus vides, plus profonds que vous-mêmes, ô Cieux! Mais ne suffit-il pas que tu sois l’apparence, / Pour réjouir un cœur qui fuit la vérité? Qu’importe ta bêtise ou ton indifférence? / Masque ou décor, salut! J’adore ta beauté.“ (Baudelaire, Charles: „L’amour du mensonge“, Œuvres Complètes Bd. I, Paris 1930, S.171 ff.). Übersetzt als: „Ich kenne Augen, die voll dunkler Schwermut scheinen, / Doch kein Geheimnis ruht in ihren Tiefen mehr; / Juwelen ohne Glanz, gleich leeren Heil'genschreinen, / Sind sie, ihr Himmel, wie ihr selber tot und leer! / Allein genügt es nicht als Scheinbild nur zu leben, / Wenn du ein Herz beglückst, dem Wahrheit nur ein Wahn? / Was kümmert mich, ob du der Torheit dich ergeben? / Ob Maske oder Zier! Die Schönheit bet ich an.“ (Aus: „Die Liebe zur Lüge“, in: Die Blumen des Bösen, München 1979, S. 323. Weitere Zitate basieren auf dieser Fassung.)

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heimnis dieser ‚dunklen Büchse‘ belustigt: „Siehst Du die Büchse? Siehst Du sie? Sie, sie sieht Dich nicht!“23 Beim Betrachten der Bilder setzen wir unseren Blick mit dem Objektiv der Kamera aus technischen Gründen unvermeidbar gleich und begegnen denen auf den Bildern zuerst mit der Imagination, als würden wir von ihnen persönlich betrachtet. Es sind die Gegenstände der Kamera, die in dieser falschen Imagination uns „mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen“. Unser Blick erwacht nur als Reaktion auf den blicklosen Blick der aufgenommenen Gegenstände, die ihrerseits aber unseren Blick nicht gewahr werden können. Hier beim Betrachten der Bilder geschieht auch etwas Unmenschlich-Tödliches, und dieses ist eben die eigentliche Erfahrung der Fotografie, die mit einer auratischen keineswegs zu verwechseln ist. Sanders Physiognomik basiert auf Differenzen unter den Kollektiven. Diese Differenzen sind deshalb in ihren Blicken zu suchen. Aus diesen unterschiedlichen Blicken könnte vielleicht eine neue oder andere Ordnung entstehen als die der fotografischen Machtsphäre. Deshalb sollten wir, obwohl wir nicht selber ihren Blick unmittelbar empfangen können, dennoch unseren eigenen Blick den Menschen des 20. Jahrhunderts zurückgeben.

3.

Brüderlichkeit des 20. Jahrhunderts

Benjamins letzte Definition der Aura aus dem Jahre 1940 lautet: „Ferne des im Angeblickten erwachenden Blicks“. Die Erfahrung der Aura definiert er als: die Erscheinung „mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.“24 Wenn wir bei diesen Definitionen bleiben, erkennen wir, dass die Erfahrung der Aura auf dem je plötzlichen Innewerden einer eigenen aktiven Kraft des Sehens beruht, die beim Gesehenen den darauf erwidernden Blick wecken kann. Hier liegt also der Verdacht nahe, dass Benjamins Idee der Aura, von der man bisher zuviel Aufhebens gemacht hat, doch nur ein anderer Name für das wäre, was man anderswo als Erfahrung der ursprünglichen Reversibilität zwischenmenschlicher Körperlichkeit oder der phänomenologischen Interkorporalität zu beschreiben versucht. Aber all dies sei, Benjamins vorangegan23 Lacan, Jacques: Das Seminar. Buch XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Textherstellung J.A. Miller, Weinheim/Berlin 1987, S. 101. 24 Vgl. Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 646 f. und Das Passagen-Werk, S. 396.

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gener Aussage zufolge, eine „in der menschlichen Gesellschaft geläufige [...] Reaktionsform“ (Hervorhebung K.O.). Hingegen kann die Aura überhaupt nur dort bestehen, wo diese geläufige zwischenmenschliche Form „auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen“ übertragen wird. Es ist auch daran zu erinnern, dass Benjamin vorzüglich von der „toten Natur“ sprach. Mit anderen Worten: Die Aura kann nirgendwo sein als in jener ungewissen und unbestimmten Zone des Übergangs, die sich zwischen dem Lebendig-Organischen und dem UnbelebtAnorganischen erstreckt. Sander hat mit der Aufnahme des Profils einer Toten den ganzen Katalog der Menschen des 20. Jahrhunderts beendet. Beim frühen Plan nannte er das Bild Die Materie. Gewiss bilden das Verflossensein des Lebens und die Eigentümlichkeit und Singularität des Todes eine conditio sine qua non für die Erfahrung der Aura. So ist die Leiche stets als Vorbild des auratischen Gegenstandes angesehen worden. Wer ins Antlitz eines oder einer Toten blickt, dem könnte in der Tat eine solche Erfahrung glücken. Aber es wäre zu schön und erdichtet, wenn man annähme, dass Sander seinen Katalog der Menschen mit einer derart auratischen Aufnahme abschließen wollte. Das bewegungslose Gesicht der alten Dame erinnert uns wegen seiner Anständigkeit und Ruhe allzu sehr an ein Kunstwerk, und wir können nicht umhin, für einen Augenblick zu vergessen, dass die Fotografie doch Reproduktion und Technik ist. Es haftet an unserer Einstellung beim Betrachten der Fotografie hartnäckig etwas Unreines, das wir wegen unserer Sehgewohnheiten selbst dann nicht völlig los werden, wenn wir die Fotografie als ein neues Medium bestimmen, das von uns eine andere Art des Wahrnehmens einschließlich des Sehens verlangt. Wir können diese gewöhnliche Art des Sehens als Spur der zwischenmenschlich-organischen Körperlichkeit bezeichnen. Von dieser Körperlichkeit kann bei der Fotografie bereits nicht mehr die Rede sein, wenn wir die historischen Möglichkeiten der Fotografie als Medium ernstnehmen. Zu erinnern ist auch daran, dass Benjamin Anfang der 1930er Jahre den geschichtlichen Prozess der Zertrümmerung der Aura ohne Ironie als durchaus positives Ereignis betrachtet hat. Wenn wir überhaupt imstande sind, über den Körper der Fotografie wesensmäßig zu sprechen, sollten wir uns auch von der herkömmlichen, organischen Körpervorstellung abwenden. Die Fotografie hat bereits einen anderen Körper oder ein Anderes des Körpers generiert. Die Fotografie ist keine Fortsetzung der Malerei. Der Malerei wurde – ganz allgemein gesagt – der Vorstellung anvertraut, die zwischenmenschliche, organische Körperlichkeit zu schaffen und die ihr

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gemäße Körpervorstellung zu veralltäglichen und zu verbreiten, um darauf aufbauend eine körperlich disziplinierte gesellschaftliche Bindung zu institutionalisieren. Dies ist der Effekt der Repräsentation, den Foucault aus Velazquez’ Las Meniñas herauslas. Auch Lacan hat in seinem Seminar von der Blickzähmung als Funktion der Malerei gesprochen.25 Natürlich muss der Körper der Fotografie gleichfalls von der Vorstellung alltäglich-geläufiger, organischer Zwischenkörperlichkeit begleitet werden. Dies ist unvermeidbar, weil die Fotografie doch als Bild und Abbild von etwas nicht ganz aus dem klassischen Raum der Repräsentation befreit ist. Deshalb kann so etwas wie die fotografische Machtsphäre entstehen, wie wir im 2. Abschnitt gesehen haben. Aber dennoch könnte in der Fotografie eine andere Körperlichkeit vorgestellt werden, in der auch eine andere Ordnung, wenn auch keimhaft, aufbewahrt wäre. Und dieser Keim der anderen Ordnung könnte vielleicht von sehr lange her überliefert worden sein. Die Körperlichkeit hat nämlich eine viel längere Tradition als die kleine Geschichte der Fotografie, jedoch ohne deshalb eine große Geschichte konstituieren zu können. Um dieser schwachen und gebrechlichen Geschichte auf die Spur zu kommen, wollen wir uns nun bei einem sehr alten Text Rat holen. Niemals, wenn ich Mutter von Kindern geworden wäre, / noch wenn ein Gatte mir sterbend dahinschmolz, / hätte ich gegen die Bürger dieses Mühsal unternommen. / Welchem Gesetz zuliebe sage ich dies? / Einen anderen Gatten bekäme ich, wenn er sterben, / und ein Kind von einem andern Mann, wenn ich es verlieren würde. / Nachdem aber Mutter und Vater in Hades geborgen sind, / gibt es keinen Bruder, der da nachwachsen könnte. / Nach diesem Naturgesetz habe ich dir Ehre erwiesen / und in Kreons Augen dieses falsch gemacht / und Ungeheueres gewagt, o brüderliches Haupt.26

Nicht von ungefähr ziehen wir dieses alte Werk heran, wenn wir uns auf Foucault stützen, der ja nicht so sehr als Epistemologe wie als Historiker der politischen Macht eine Archäologie des abendländischen Rechtssystems verfasste und uns dessen ödipalen Ursprung zurückrief. Wenn der Ödipus-Mythos wie andere Mythen Darstellung der Auflösung einer gesellschaftlichen Krise ist, stiftet er aufgrund des einmaligen Verstoßes gegen das Inzestverbot ein Gesellschaftssystem, das zugleich von einem patriarchalischen Rechtssystem begleitet wird. In der Inszenierung und 25 Lacan: Das Seminar XI, S. 116. 26 Sophokles: Antigone, Stuttgart 1981, 4. Auftritt, Abgesang, V. 905-915.

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Akzentverschiebung in Sophokles’ Tragödie haben die Geschlechter von Ödipus jedoch andere Züge als den sogenannten Ödipuskomplex als mythische Basis der Herrschaft. Sie werden nämlich von der Gesellschaft, zu der sie einmal zählten, ausgestoßen und geächtet. Als solche sind sie – Ödipus, Polyneikes und nicht zuletzt Antigone – eigentliche Helden der Tragödie. Ihre Tragödien werfen viel mehr Schatten auf den Ödipus-Mythos als Licht. Der Körper als Gegenstand der Fotografie steht uns gegenüber, wie die Leiche Polyneikes’ Antigone gegenübersteht oder liegt. Der Tote muss normalerweise deshalb begraben werden, weil er noch als Toter einen Blick hat. Der biologische Tod beraubt den Toten noch nicht des Blicks. Erst durch den zweiten symbolischen Tod wird der Blick des Toten etwa in Form des Grabsteins oder des Denkmals sublimiert und verharmlost. Den toten Blick muss man also verschleiern und ihm entkommen, indem man ihn begräbt. Durch das Begräbnis als gesellschaftliche Feier wird der Tote wiederum in seinem Nachleben als Mitglied der Gesellschaft angesehen. Denn die erste Folge des Todes ist die Freisetzung eines vagen und bedrohlichen Wesens [...], das mit dem Aussehen des Verstorbenen dessen bewohnte Orte heimsucht und weder der Welt der Toten noch der Welt der Lebenden angehört. Der Zweck der Bestattungsriten besteht darin, die Verwandlung dieses unbequemen und ungewissen Wesens in einen wohlmeinenden und mächtigen Vorfahren zu garantieren, der dann endgültig zur Totenwelt gehört und mit dem man rituell definierte Verbindungen pflegt.27

Nun will Kreons Anweisung, den Staatsverräter Polyneikes „weder mit einem Grab / zu beehren noch ihn zu beklagen, / sondern ihn unbestattet zu lassen, den Vögeln / und Hunden ein Frass, und als geschändet anzusehen“,28 die gesellschaftliche Existenz dieses einstigen Königssohns verneinen oder ihn eben als homo sacer bestimmen. Seine Leiche muss so betrachtet werden, wie man verendetes Getier oder verfaultes Gewächs betrachtet. Außerdem sollen die thebanischen Bürger den Toten als solchen betrachten, der auf sie keinen Blick zurückwerfen kann, weil er als gefallener Verräter keinen Blick auf die Stadt Theben mehr haben darf. Eben dort erhebt sich Antigone, um diese souveräne Staatsgründung zu behindern. Sie stellt eine höhere Ethik dar als die der Souveränität, ohne sich in jenem politisch-theologischen Schema zu verfangen. 27 Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/Main 2002, S. 107f. 28 Sophokles: Antigone, 1. Auftritt, V. 202f.

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Polyneikes hat einen verbotenen Blick. Diesen hat er vielleicht – allerdings erst als Toter – von seinem Vater mit dessen Verfluchung geerbt, der ja nach Hölderlin auch ein Auge zuviel hatte, das verbotene nämlich.29 Antigone hat aber diesen verbotenen anderen Blick empfangen müssen. Polyneikes’ toter Blick hat sie unwiderstehlich durchbohrt und ihr eine zweifache Aufgabe gebracht: erstens den Blick des VerrätersBruders zu begraben, den sie allerdings nur verschütten konnte, und zweitens damit gegen das Gesetz des Staates zu verstoßen. Antigone ist wohlbekannt durch eine eigentümliche Geburt, weswegen sie sich selber verbieten muss, über den eigenen Vater und die eigene Mutter zu sprechen. Sie begleitete den blind gewordenen Vater, der sich selbst des Sehvermögens beraubte, und diente ihm als sein Auge. Sie sieht, was der Vater sehen sollte. Auf den Vater selbst wird also ihr Blick nicht gerichtet. Sie ist dem Vater treu gewesen, der sich verbietet, Familienvater zu sein. Deshalb ist Antigone nicht ,ödipal‘ zu fassen. Sie ist und bleibt familienlose Existenz. In der zitierten Stelle zieht sie auch aus der Tatsache, dass ihre beiden Eltern gestorben sind, nur die allgemein genealogische Konsequenz, dass keine Geschwister mehr geboren werden. Was sie ‚Naturgesetz‘ nennt, ist deshalb bloß ein logisches Gesetz, das mit der Elternliebe oder den Familienbanden nichts zu tun hat. Ein Bruder ist Antigone nicht deshalb unersetzbar, weil er von denselben Eltern geboren und blutsverwandt ist, sondern deshalb, weil die Eltern fehlen. Die Verbindung, die auch dort entsteht, wo von der Beziehung zu den Eltern abstrahiert wird, heißt Brüderlichkeit oder Fraternität.30 Das 29 Vgl. Hölderlin, Friedrich: In lieblicher Bläue. Sämtliche Werke, Beissner. F. (Hrsg.), Bd. 2, Stuttgart 1951, S. 373. 30 Wir wissen, dass das deutsche Wort Brüderlichkeit als Neologismus aus dem Jahre 1790 von Joachim Heinrich Campe stammt, der angesichts der Französischen Revolution für deren dritten Slogan fraternité eine deutsche Entsprechung suchte und nur darin fand. Auch wissen wir, dass der Begriff im Laufe des 19. Jahrhunderts von verschiedenen politischen Parteien – seien es revolutionäre, seien es konservativ-reaktionäre – zugunsten ihrer jeweiligen Interessen vereinnahmt wurde. Hier geht es allerdings nicht darum, damit ein politisch-kämpferisches Programm aufs Neue auszuarbeiten. Aber der moderne emanzipatorische Begriff der Brüderlichkeit, der sowohl von der leiblichen Bruderschaft befreit worden ist als auch von der institutionellen Bruderschaft wie dem kirchlichen fraternitas-Verbund oder der ständischen Bruderschaft, eignet sich vielleicht doch zur – wohl nachträglichen – Charakterisierung derer, die sonst allenfalls wegen ihrer Einzigartigkeit als je vereinzelte Ausnahmen betrachtet werden müssten. Vgl. Schieder, Wolfgang: „Brüderlichkeit“, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches

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Gesetz, dem Antigone folgt, wäre dem Gesetz des Staates deshalb entgegengesetzt, weil es schon die Grenze zu jenem Bereich überschritten hat, wohin weder väterliche noch königliche Mächte reichen. Es sind nur diejenigen, die von denselben Mächten ausgestoßen sind, die noch in familienlose, schwache Beziehungen gebracht und durch elternlose Brüderlichkeit verbunden werden können. „Denn nun nicht jetzt und gestern, sondern irgendwie immer / lebt das, und keiner weiß, wann es erschien.“31 Dass ihr Gesetz weder aus Zeus noch Dike stammt und so alt ist, dass niemand weiß, woher es stammt, besagt – gegen Hegel –, dass es weder Gesetz des Staates noch der Familie ist, sondern das Gesetz der Gleichheit und Brüderlichkeit der Gebrüder und Geschwister ohne Anspruch auf Blutsverwandtschaft. Und der Blick der Brüderlichkeit geht von einer unbeweglichen Leiche aus, die sich ins Anorganische verwandelt. Sowohl der Sendende als auch die Empfangende dieser Gabe bzw. Aufgabe des Blicks sind von ähnlicher Geburt, die gegen das Gesetz der Familie verstößt. Sie werden weiter durch das Gesetz des Staates als Geächtete (abbandono) verbannt: der Bruder wegen seines Hochverrats und die Schwester wegen ihres gesetzwidrigen Aktes der Trauer um den Verräter. Gewiss sind sie nicht einmal Verbrecher, die sanktionierbar sind. Aber wer sie in Acht und Bann stellt, der muss auch untergehen, anstatt Souverän zu bleiben. Antigone, die sich lebend zum Hades begibt, wirft nun eben den Blick auf die thebanischen Bürger, den einst der tote Polyneikes auf sie warf. „Seht mich, meines Vaterlandes Bürger, / den letzten Weg / gehen, das letzte Licht der / Sonne sehen / und nie wieder.“32 „Seht mich“ – so spricht vielleicht auch der harte Blick der Menschen des 20. Jahrhunderts. Es ist ein Blick, der als solcher Blickaufforderung ist, dem aber kaum jemand entsprechen könnte. Statt „Berührt mich“ oder „Liebt mich“ oder aber „Rettet mich“ sagt der Blick bloß einfach „Seht mich“, ohne sich an bestimmte Personen zu richten. Unabhängig davon, was für ein Leben die Menschen in Wirklichkeit führen, scheinen sie, die auf den Bildern als Gegenstände in die Kamera hineinblicken, ein schwaches Band der Brüderlichkeit geknüpft zu haben. Dieses Band wäre aber keineswegs ein emotionales. Anders gesagt, gibt es überhaupt nichts, wodurch sich solche Bande knüpfen, bis auf den Blick, den sie einmal gleichermaßen auf den fotografischen ApLexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1 (A-D), Stuttgart 1972, S. 552-581. 31 Sophokles: Antigone, 2. Auftritt, V. 456f. 32 Sophokles: Antigone, 4. Auftritt, Klagelied, Strophe 1, V. 806f.

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parat geworfen hatten. Das einzige Band, das sie miteinander verbindet, ist nichts als die Tatsache, dass jeder von ihnen vereinzelter Mensch des 20. Jahrhunderts war. Sie waren in jenem Zeitalter ohne Brüderlichkeit durch den Apparat der Brüderlichkeit miteinander verbunden, wie die Namen in Leporellos Katalog, trotz aller Unterschiede zwischen Don Giovanni, wo es die Frau im Singular nicht gibt, und Sanders Katalog, wo der Mensch im Singular nicht vorkommt.33 Wenn man sich die Frage stellt, ob Sanders Gegenstände es vermögen, den Blick hinter der Kamera zu wecken, so sollte man daran denken, dass dadurch die Erfahrung der Aura umgekehrt wird. Aber wenn man ferner die Tatsache in Betracht zieht, dass es nicht Menschen sind, auf die ihr Blick gerichtet ist, sondern ein anorganisches Ding namens Fotoapparat, muss man feststellen, dass dort keine zwischenkörperliche Erfahrung, die wir beim unmittelbaren Kontakt mit den Menschen erwarten, entstehen kann. Dann rückt die nüchterne und beim Betrachten oft vergessene Tatsache in den Vordergrund, dass wir für die Menschen auf den Bildern nicht existieren, es sei denn als der Blick der Maschine selber. Der Blick der Dargestellten ist keineswegs auf ein bestimmtes ,Ich‘ gerichtet, das es vermöchte, einen eigenen Blick auf sie zurückzuwerfen, sondern er schickt indifferent und gleichmachend jedem Betrachtenden die Gabe der Brüderlichkeit. Um diese Gabe empfangen zu können, müssen wir nur sehen, wie die anorganische, leblose Maschine es tut. Das ist die Voraussetzung dafür, dass die Schnittstelle des Sehens und des Gesehenwerdens sich in den ortlosen Ort oder in den raumlosen Raum der Brüderlichkeit verwandeln kann. Die Fotografie ist eben das technische Medium, wo diese nicht gemeinschaftliche und nicht gemeinschaftsstiftende oder -erhaltende Brüderlichkeit im Schatten der fotografischen Machtsphäre und jenseits der Familienliebe und des Patriotismus entstehen und überliefert werden kann. Mit einem dunklen Unbehagen spürt er die unerklärliche Leere, die dadurch entsteht, dass sein Körper zur Ausfallserscheinung wird, dass er sich verflüchtigt und seiner Realität, seines Lebens, seiner Stimme und der Geräusche, die er verursacht, indem er sich rührt, beraubt wird, um sich in ein stummes Bild zu verwandeln, das einen Augenblick auf der Leinwand zittert und sodann in der Stille verschwindet.34

33 Vgl. Lacan: Encore. Das Seminar. Buch XX. Textherstellung J.A. Miller, Weinheim/Berlin 1986, S. 79f. 34 Pirandello, Luigi: On tourne. Zit. n. Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ 3. Fassung, in: GS, Bd. I, S. 489.

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Dadurch, dass wir den Blick auf die Bilder zurückwerfen, schließen wir uns an diese Reproduktionstechnik der Brüderlichkeit an, nämlich an dieses technische Medium der Gleichheit und Gleich-Gültigkeit. Wenn wir uns dessen bewusst wären, dass dort bereits eine nichtauratische Körperlichkeit generiert worden ist, könnte sich auch die Machtsphäre der Fotografie in eine andere, nicht machtorientierte und nicht-ödipale Sphäre verwandeln, nämlich in die ephemere Sphäre der Brüderlichkeit oder der Familie der Familienlosen. Diese Sphäre zittert, um es frei nach Pirandello zu sagen, einen Augenblick am Rande der Schnittstelle namens Fotografie, um sodann in der Stille zu verschwinden. Es ist wiederum Lacan, der darauf aufmerksam macht, dass Antigone an ihrem Tatort von der Wacht derart erwischt wurde, dass sie aus dem die ganze Luft verfinsternden Staub, der durch den gewaltigen Sandsturm entstand, erscheint.35 Ihr Bild ist gleichsam in der Dunkelkammer entwickelt worden. [...]; und da hob plötzlich von der Erde / ein Wirbelsturm Staub in die Höhe, ein Not des Himmels, / und fegte über die Ebene, brachte das ganze Laub / des Waldtales durcheinander, voll davon war der große / Luftraum; wir schlossen die Augen und nahmen die göttliche Heimsuchung hin. / Und als diese sich nach langer Zeit entfernt hatte, / wird das Mädchen gesehen, und es jammert laut / im schrillen Ton eines Vogels, wie er klagt, wenn er des leeren / Nestes Unterschlupf sieht, von den Jungen verwaist.36

Wir sollten Sanders Fotografie deshalb nicht aus der Hand lassen, weil sie uns überliefert, wie schwierig es ist, ohne Einfühlung und ohne Identifizierung bloß mit dem Blick der Macht den Blick auf diejenigen zurückzuwerfen, die von der Erhabenheit, der Schönheit oder der Größe nichts wissen, diejenigen, die nicht einmal da sind. Sanders Menschen des 20. Jahrhunderts fordern uns zur Schulung dieser zugleich einfachen und doch schwierigen Art des Sehens auf. Diese andere Art des Sehens, die die eigentliche Gabe der Fotografie an uns ist, hat Sander übrigens später dazu gebracht, menschenleere Landschaften, verschiedene Mineralien und Pflanzen, oder sogar Teile von Menschenkörpern als Gegenstände aufzunehmen. Bei den Bildern werfen wir mit Sander unvermeidlich den Blick auf die zergliederten und zerstückelten Teile, die uns nicht erlauben, uns deren totale Gestalt oder organische Einheit vorzustellen.

35 Lacan, Jacques: Das Seminar. Buch VII. Die Ethik der Psychoanalyse, Textherstellung J.A. Miller, Weinheim/Berlin 1996, S. 318. 36 Sophokles: Antigone, V. 417-425.

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KANICHIRO OMIYA

Sie sind einfach als Chance da, um in uns, statt des Blicks der Macht, den Blick der Brüderlichkeit zu wecken. Es ist gewiss dieselbe Chance für eine Ethik der Brüderlichkeit, die noch weiter „au delà de la société / jenseits der Gesellschaft“ anfängt, von wo Lévi-Strauss am Ende der Tristes Tropiques (Traurigen Tropen) ˀ allerdings etwas zu schön ˀ spricht. […] jene lebenswichtige Chance, sich zu entspannen, loszulösen, das heißt die Chance, die darin besteht – lebt wohl, Wilde! lebt wohl, Reisen! –, in den kurzen Augenblicken, in denen es die menschliche Gattung erträgt, ihr bienenfleißiges Treiben zu unterbrechen, das Wesen dessen zu erfassen, was sie war und noch immer ist, diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: zum Beispiel bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist als alle unsere Werke; im Duft einer Lilie, der weiser ist als unsere Bücher; oder in dem Blick – schwer von Geduld, Heiterkeit und gegenseitigem Verzeihen –, den ein unwillkürliches Einverständnis zuweilen auszutauschen gestattet mit einer Katze.37

Steine, Pflanzen und Tiere – diese Reihenfolge ist auch keine zufällige. Die Ethik der namenlosen Brüderlichkeit oder der Brüderlichkeit von Namenlosen, die zugleich die Ethik der Fotografie ist, reicht weit über die Menschen oder sogar über das organische Wesen an sich hinaus, bis ins Anorganische, genauso wie die Technik über die Menschheit hinausreicht. Ob Torii Ryuzo als Ethnograf um 1900 dieselbe Chance wahrgenommen oder vielmehr versäumt hat, können wir nicht eindeutig beurteilen. Einzig klar bleibt die Tatsache, dass er zumindest zahlreiche Bilder von Menschen aufgenommen hat, die im Laufe des 20. Jahrhunderts zum größten Teil aufhörten, als Individuen oder als Völker zu existieren. Jenseits der Gesellschaft gibt es auch Menschen, allerdings genauso wie es dort auch Tiere, Pflanzen oder Steine gibt: dies wäre die schlichteste Botschaft der Fotografie, die sich als technisches Medium versteht.

37 Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen, Frankfurt/Main 1978, S. 412f.

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VON DER EINSTELLUNG ZUR EINSTELLUNG. FILMTECHNIK UND DISKURSFORMATION 1. Parallel zur Durchsetzungsphase der neuen Medien Film, Rundfunk und Phonographie im Medienumbruch um 1900 entstehen Filmtheorien, die einen Diskurs inaugurieren, welcher die Geschichte des klassischen Kinos reflektierend und kommentierend begleitet.1 Mit Blick auf den stummen Film bringt diese Theorie den Film auch erst zur Sprache, entsprechend der Tatsache, dass gerade der Film die semiotische und symbolische Ordnung dadurch transformiert, dass er visuelle, akustische und sprachliche Zeichenformen voneinander isoliert und abstrahiert. Diese Trennung der Elemente wird zu einem philosophischen Skandal, insofern die Sprache ihre universelle Vorrangstellung verliert. Strukturalismus und linguistic turn reagieren auf diese Veränderung durch eine Abspaltung sprachlicher Kompetenz von medialer Performanz. Wichtige Beiträger zum Diskurs über den Film wie Siegfried Kracauer oder Gilles Deleuze haben das dadurch entstehende besondere Verhältnis zwischen Film und Begriff, Medium und Diskurs gesehen und programmatisch ihren Werken vorangestellt. „Wir verzichten auf Abbildungen zur Illustration unseres Texts. Vielmehr ist es unser Text, der nichts sein möchte als eine Illustration der großen Filme, mit denen jeder von uns, in geringerem oder höherem Maße, eine Erinnerung, ein Gefühl oder eine Vorstellung verbindet.“2 Der Text über den Film erhält so einen eigenständigen Status, der es ermöglicht, formale Besonderheiten zu beschreiben, 1 Material für eine Theoriegeschichte des Films als Diskursgeschichte der Filmtheorie stellen bereit Kümmel, Albert/Löffler, Petra (Hrsg.): Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare, Frankfurt/Main 2002; Diederichs, Helmut H. (Hrsg.): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Meliès bis Arnheim, Frankfurt/Main 2004. 2 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main 1998, S. 12.

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Filmtheorie als Diskurs und dementsprechend diskursanalytisch zu behandeln. Impliziert die Rede vom Diskurs immer auch die gesellschaftliche Macht, die sich in ihm vergegenständlicht und von ihm ausgeht, so hat Bertolt Brecht im Dreigroschenprozeß diese institutionellen Folgen der semiotischen Trennung durch ihre Anbindung an den juristischen Prozess um die Verfilmung der Dreigroschenoper bekräftigt: „Auf die Sprache kommt es gar nicht an, sie ist zu trennen von der Gestik und Mimik, auf welche es ankommt.“3 Die Zeichenformen der Gestik und Mimik haben im visuellen Medium des Films ihre dominante Gültigkeit; diese Dominanz ist Produkt eines ‚revolutionären‘ Medienumbruchs, der auch Institutionen wie die Justiz tangiert, die von der Sprache der Gesetzestexte beherrscht ist. Insofern kollidieren und separieren sich nicht nur zwei Zeichensysteme visuell-körperlicher und sprachlich-textueller Art, sondern auch die Macht der Diskurse, die hinter diesen filmischen und sprachlichen Medien stehen, eine Auseinandersetzung, die der Dreigroschenprozeß dokumentieren soll. Deleuze notiert ein Generationsproblem; denn die Eigenständigkeit des Textes über den Film sei an eine bestimmte generationsgebundene Gruppe der ‚Großen Filme‘ gekoppelt, zu denen selbstverständlich auch das Werk Akira Kurosawas gehört. Allerdings sind die diskursiven Eigentümlichkeiten, die es im folgenden zu beschreiben gilt, sowohl auf diese klassischen Filme wie auf die die klassische Moderne begleitende Filmtheorie bezogen, aber auch beschränkt. Hat der zweite Medienumbruch um 2000 durch Digitalisierung das Ende dieser klassischen Kinomoderne herbeigeführt, so sind die von der parallelen Filmtheorie bereitgestellten Kategorien in ihrer analytischen und deskriptiven Angemessenheit begrenzt, durch den Epochenbruch allerdings auch erst analysierbar geworden. Im Zentrum dieser Konstellation von Film und Filmtheorie steht das Begriffspaar von Einstellung und Montage. Sind die großen Filme, also auch diejenigen Kurosawas, filmtechnisch durch Einstellung und Montage zentral zu kennzeichnen, so soll es hier um die semantischen Ausdehnungen gehen, die diese Begriffe im filmtheoretischen Diskurs erhalten, eine historische Semantik, die diesen Diskurs seinerseits transzendiert, so dass aus Einstellung eine philosophische, aus Montage eine texttheoretische Kategorie wird. 3 Brecht, Bertolt: Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment, Gesammelte Werke, Bd. 18: Schriften zur Literatur und Kunst 1, Frankfurt/Main 1967, S. 139-209, S. 181.

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Bereits Béla Balázs hat diese Überschreitung des Films gesehen, die aus Einstellung und Montage eine Denkfigur mit weiter Ausdehnung (gemeint als Spanne von sozialer Verhaltensweise bis zu textueller Darstellungsweise) macht, und sie so als gesellschaftliche und epochale Sehweise ausweist: „Kameraeinstellung und Montagetechnik haben solche Gestaltungskraft erreicht, dass sie an den Rohstoff des Lebens, an die Tatsachenwirklichkeit unmittelbar herangehen können und sie nicht erst literarisch vorgebildet in einer Erzählung vorgeformt zu suchen brauchen. Die bloße Erscheinung wird im Bild so bedeutsam, daß die Wirklichkeit keiner poetischen Gestaltung bedarf.“4 Betont wird die aus der Autonomie bewegter Bilder hervorgehende Inkompatibilität des filmischen Mediums mit sprachlich-literarischen Medien, eine semiotische Eigenständigkeit, die mit der Sehweise auch Denk- und Verhaltensweisen revolutioniert. Im folgenden Beitrag geht es um diese semantischen Steigerungen, die die filmtechnische Revolution des Schnitts, der Einstellung erfährt, und die Rudolf Arnheim als in dieser Technik liegende Revolution des ersten Medienumbruchs bestimmt hat: „Daß man durch Ausschnitte gestalten könne, bedeutete eine Revolution.“5 Ausschnitte von Gesichtern oder Fragmente von Naturgegenständen zu zeigen und nicht deren organische Ganzheit, ist eine neue, verfremdende Sehweise der klassischen Avantgarde, die die Denkweise verändert. Auch Kracauer bemerkt die Epochenabhängigkeit des Films, damit seine filmtheoretische und epistemologisch distinkte Beschränkung: „Es ist in der Tat meine Überzeugung, dass der Film, unser Zeitgenosse, eine definitive Beziehung zu der Epoche hat, in die er hineingeboren ist; dass er unseren innersten Bedürfnissen genau dadurch Rechnung trägt, dass er – zum ersten Mal – die Außenwelt exponiert [...].“6 Die sichtbare Außenwelt als Thema und Inhalt des Films stellt die eine Argumentationsweise der Theorie des Films dar; dabei handelt es sich um eine „materiale Ästhetik“, die mit der ausgesprochenen Affinität des Films „zur sichtbaren

4 Balázs, Béla: Der Geist des Films (1930), Frankfurt/Main 2001, S. 85, vgl. zur Montage Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart/Weimar 2000, S. 51-103. 5 Arnheim, Rudolf: Film als Kunst, Frankfurt/Main 1979, S. 100. Ganz ähnlich Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Gesammelte Schriften Bd. I. 2. (Werkausgabe Bd. 2), Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann (Hrsg.), Frankfurt/Main 1980, S. 435-469; zur neuartigen, wirklichkeitsverändernden Technik von filmischem Schnitt und Einstellung, S. 457, 458. 6 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (1960), Frankfurt/Main 1985, S. 14.

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Welt“ zu tun habe, „vorübergleitendes materielles Leben festzuhalten“.7 Zum zweiten aber führt der Weg vom „Körperlichen“ als Inhalt des Films zum „Spirituellen“; diese Bewegung von „unten“ nach „oben“ ist als zweite Argumentationsweise identisch mit dem Übergang von der materialen Filmtechnik, die auch bei Kracauer zentral diejenige von Einstellung und Montage ist, zum filmtheoretischen Diskurs als Mehrwert einer reflektierten Darstellungsweise. Gerade weil der Film mit der Darstellung der sichtbaren „Außenwelt“, der „Oberfläche der Dinge“ eine „unleugbare Vorliebe fürs Äußerliche“ hat, ergänzt ihn die Filmtheorie um eine Semantik, die „weit über den Film“ hinausgeht, indem die Filmtheorie einer „Verhaltensweise zur Welt, einer Form menschlicher Existenz“ zur Sprache verhilft.8 Einstellung (auch Haltung und Verhalten) wird seit der Durchsetzungsphase des ersten Medienumbruchs in den zwanziger Jahren zum Begriff mit philosophischer und soziologischer Dignität und lässt sich dergestalt metaphorologisch, begriffshistorisch nachweisen.9 Es handelt sich nicht um einen lediglich formalen Medienwechsel, sondern die Differenz oder Zäsur von Film und Filmtheorie ist semantisch aufgeladen, so dass filmische und diskursive Einstellung sich in einem ergänzenden, aber auch konträren Verhältnis zueinander befinden. Dies entspricht neueren medientheoretischen Einsichten, die in der Differenz der Medien ein Reflexionspotential sehen, das als „Störung“ die Epistemologie und Entwicklung der Medien bestimmt.10 Angesichts anwachsender medialer Hybridisierung und Entdifferenzierung ermöglicht die Reflexion auf Einstellung als Schnitt, als für das Sehen notwendiges „Schneiden“11, eine analytische, begriffshistorische Mediendifferenzierung.

7 Kracauer: Theorie des Films, S. 11. 8 Kracauer: Theorie des Films, S. 13, 14. 9 Vgl. Käuser, Andreas: „Haltung und Habitus als geistes- und medienwissenschaftliche Grundbegriffe“, in: Bolik, Sibylle/Kammer, Manfred/Kind, Thomas/Pütz, Susanne (Hrsg.): Medienfiktionen: Illusion – Inszenierung – Simulation (FS Helmut Schanze), Frankfurt/Main u.a. 1999, S. 35-47. 10 Kümmel, Albert/Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Signale der Störung, München 2003, S. 10. 11 Soeffner, Hans-Georg/Raab, Jürgen: „Sehtechniken. Die Medialisierung des Sehens: Schnitt und Montage als Ästhetisierungsmittel medialer Kommunikation“, in: Rammert, Werner (Hrsg.): Technik und Sozialtheorie, Frankfurt/Main/New York 1998, S. 121-148, S. 131. Obwohl mein Aufsatz sich auf diesen Aufsatz stützt, wird die Beziehung von anthropologischem Diskurs, Wahrnehmungsweise und Medientechnik hier um eine weitere Variante ergänzt.

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Béla Balázs’ Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films von 1924 hat dementsprechend eine Textualität von eigentümlicher Signifikanz. Zum einen entspringt Balázs Filmtheorie dem Feuilleton, der Filmkritik,12 zum anderen stellt sie sich explizit in die Tradition der anthropologischen Theorie der Physiognomik,13 an deren Diskurs sie anknüpft, um ihn palimpsestartig weiterzuschreiben zum medienanthropologischen Traktat. Balázs setzt soziologisch an; er bemerkt Veränderungen der sozialen Lebenswelt, durch die er – wie bereits sein Lehrer Georg Simmel – eine Abspaltung der visuellen Körper(-kultur) von der hörbaren und schriftlichen Kultur des Textes beobachtet.14 Der Stummfilm ist somit Symptom und Motor einer umfassenderen Veränderung der sozialen Lebenswelt, welche das Textparadigma der Schriftkultur überwindet zugunsten des Körperparadigmas der Filmkultur: Die Erfindung der Buchdruckerkunst hat mit der Zeit das Gesicht der Menschen unleserlich gemacht [...]. So wurde aus dem sichtbaren Geist ein lesbarer Geist und aus der visuellen Kultur eine begriffliche. [...] Daß diese Wandlung das Gesicht des Lebens im allgemeinen sehr verändert hat, ist allbekannt. [...] Nun ist eine andere Maschine an der Arbeit, der Kultur eine neue Wendung zum Visuellen und dem Menschen ein neues Gesicht zu geben. Sie heißt Kinematograph.15

Ein Medienumbruch wird konstatiert, der zugleich ein anthropologischer und epistemologischer Umbruch ist. Denn der medientechnische Übergang vom Buchdruck zum Kinematographen verursacht und impliziert den kulturellen Wandel von der Schriftkultur zur Körperkultur, die bisher in fälschlicher Weise assimiliert worden waren und so die Authentizität ihrer Form verloren hatten. 12 Vgl. das Vorwort von Helmut H. Diederichs, in: Balázs, Béla: Schriften zum Film 1, Der sichtbare Mensch. Kritiken und Aufsätze 1922-1926, Diederichs, Helmut H./Gersch, Wolfgang/Nagy, Magda (Hrsg.), München/ Budapest 1982. 13 Hierzu Locatelli, Massimo: Béla Balázs, die Physiognomik des Films, Berlin 1999 (Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft, Bd. 54). Kabatek, Wolfgang: Imagerie des Anderen im Weimarer Kino, Bielefeld 2002. 14 Dieser Vorgang ist als performative Wende in jüngster Zeit umfassend untersucht worden unter Leitbegriffen wie Performanz, Verkörperung, Inszenierung und Aufführung, die das Paradigma des Textes, der Repräsentation seit 1900 ablösen; vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2004. Hier geht es eher um die Reinstallierung von Texten als filmtheoretischer Diskurs, der diesen Übergang zur Performanzkultur kommentierend und kritisch verarbeitet und dabei eigenständige Lösungen hervorbringt. 15 Balázs: Der sichtbare Mensch, S. 51, 52.

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Diesem Vorgang korrespondiert eine Umwandlung der Lebenswelt, die als visuelle Kultur mit dem Bild des Menschen und seiner Umwelt auch die Weise seiner Erkenntnis und deren Darstellung verändert. Entscheidend für den Vorgang ist die Trennung der zwei Kulturen und ihrer Sphären, die semiotisch einen Übersetzungsvorgang zwischen visueller Gebärde, filmischem Gesicht und Sprache, Text und Schrift erforderlich macht. Denn der Mensch der visuellen Kultur ersetzt mit seinen Gebärden nicht Worte wie etwa die Taubstummen mit ihrer Zeichensprache. Er denkt keine Worte, deren Silben er mit Morsezeichen in die Luft schreibt. Seine Gebärden bedeuten überhaupt keine Begriffe, sondern unmittelbar sein irrationales Selbst, und was sich auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ausdrückt, kommt von einer Schicht der Seele, die Worte niemals ans Licht fördern können. Hier wird der Geist unmittelbar zum Körper, wortelos, sichtbar.16

Die Schrift hat den Menschen und seinen Ausdruck verfälscht und verstellt, so dass das alte anthropologische Ideal des ganzen Menschen, der Identität von Körper und Seele nicht realisiert wurde, weil dem Körper durch Verschriftlichung der Seele seine unmittelbare Lesbarkeit und Ausdruckshaftigkeit genommen wurde: „In das Wort hat sich die Seele gesammelt und kristallisiert […] Doch in der Kultur der Worte ist die Seele (seitdem sie so gut hörbar wurde) fast unsichtbar geworden. Das hat die Buchpresse gemacht.“17 Der Diskurs der Anthropologie wird von Balázs in semantisch signifikanter Weise benutzt, so dass diese anthropologische Theorieform medientheoretisch erweitert bzw. angewendet wird. Der Körper, der in den neuen Medien Film und Foto eine angemessene Sichtweise erhält, verändert dadurch anthropologische Grundsätze, indem er deren verschüttete Basis aufdeckt: Nun, der Film ist dabei, der Kultur wieder eine so radikale Wendung zu geben. […] Die Kultur der Worte ist eine entmaterialisierte, abstrakte, verintellektualisierte Kultur, die den menschlichen Körper zu einem bloßen biologischen Organismus degradiert hat. […] Der Film ist es, der den unter Begriffen und Worten verschütteten Menschen wieder zu unmittelbarer Sichtbarkeit hervorheben wird. Das bewusste Wissen wird zu unbewusster Sensibilität: es materialisiert sich zur Kultur im Körper.18

16 Balázs: Der sichtbare Mensch, S. 52. 17 Balázs: Der sichtbare Mensch, S. 52, 53. 18 Balázs: Der sichtbare Mensch, S. 53, 54, 56.

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Der epochale Umbruch der Medien, der zugleich einen epistemologischen Umbruch der Anthropologie darstellt, erfährt eine Steigerung dann, wenn der Stummfilm als Trägermedium dieser Veränderung zur Körperkultur 1928 um den Ton ergänzt wird. Diesen Vorgang würdigt Balázs durch einen weiteren filmtheoretischen Versuch, der durch diese Erweiterung zum Tonfilm eine andere konzeptionelle Struktur erhält, in der ‚Einstellung‘ zum zentralen Begriff wird. Hatte Balázs im Sichtbaren Mensch von 1924 das zentrale filmische Verfahren von Schnitt, Einstellung und Montage noch nicht berücksichtigt, so rückt es in der Schrift von 1930 in den Mittelpunkt der Untersuchung. Die Signifikanz dieses Vorgangs unterstreicht ein „legendärer Streit mit Sergej Eisenstein“19 um den Begriff der Einstellung, der 1926 im Anschluss an einen Vortrag von Balázs stattfindet und Niederschlag im Geist des Films findet. Dieser Streit macht deutlich, dass Einstellung nicht nur filmtechnisches Verfahren, sondern intellektuelle Denkfigur im Zuge einer Medialisierung der Anthropologie und Lebenswelt ist. Der Übergang besteht in der Semantisierung der filmtechnischen Einstellung zum philosophischen Begriff der Einstellung: Also auf die Physiognomie kommt es an. Aber es gibt keine ‚Physiognomien an sich‘. Es gibt nur solche, die wir sehen. Und diese ändern sich je nach dem, von wo wir schauen. Die Physiognomie hängt mit vom Blickpunkt ab, d.h. von der Einstellung. Physiognomie ist nicht nur eine objektive Gegebenheit, sondern zugleich unsere Beziehung zu ihr. Eine Synthese.20

Einstellung bewirkt eine Perspektivierung und Rahmung visueller Wahrnehmung. Durch die Beschleunigung der Wahrnehmung sowohl im Film wie in der Lebenswelt benötigt diese gesteigerte Beweglichkeit und Flüchtigkeit von Blick und wahrgenommenem Gegenstand stabilisierende und habitualisierende Haltungen des Blicks. Dadurch bekommt Einstellung eine philosophische Dignität, die auch begrifflich und semantisch im Sprachgebrauch zutage tritt: Wir sehen im Bilde zugleich unsere Stellung, d.h. unsere Beziehung zum Gegenstand. Darum weckt die Wiederholung derselben Einstellung immer auch die Erinnerung an dieselbe Situation. […]. In der gleichen [filmischen] Einstellung geistert Erinnerung an eine gleiche Situation. Jedes Bild meint eine Einstellung, jede Einstellung meint Beziehung, und nicht nur eine räumliche. Jede An19 So Loewy, Hanno: „Die Geister des Films. Balázs’ Berliner Aufbrüche im Kontext“, Nachwort zu Balázs, Béla: Der Geist des Films, Frankfurt/Main 2001, S. 171. 20 Balázs: Film, S. 30.

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Die Rahmung und Perspektivierung der Wahrnehmung sowie die weltanschauliche Einstellung, die darin zugleich enthalten ist, sind als Körperausdrucksphänomene zunächst von der gleichen Sprachlosigkeit betroffen oder aber Vorstufen für diese Versprachlichung. Wird im Traktat über den Tonfilm diese Theorie der Einstellung entworfen, so hängt diese Reoralisierung und Tonalisierung des Films mit der Frage der Einstellung auch im Sinne von deren Versprachlichung zusammen. Einstellungen sind philosophisch auch deswegen, weil ihre Darstellung zwar im Film visuell realisiert wird, ihre Versprachlichung aber im theoretischen Text stattfindet. Der filmtheoretische Essay von Balázs ist in seiner reflektierenden und montierten Form die adäquate Weise der Versprachlichung medial-körperlicher Einstellung. Vertextung als Vernetzung erreichen der Film wie der theoretische Text durch Montage. Die visuellkörperhafte Einstellung bekommt durch Montage und „Schnitt Sinn und Inhalt“22 erhält eine „Bedeutungstendenz“,23 ist primär „Gedankenmontage“,24 „montierte Essays“.25 Ist die Montagestruktur des Films gedanklich bildlich-visuelle „Assoziation“,26 so hat die Montagestruktur des die Einstellung darstellenden und reflektierenden Essays einen musikanalogen „Rhythmus“,27 wird „rhythmische Wissenschaft“.28 Der theoretische Text über den Film besitzt so eine eigentümliche musikanaloge Textualität.

2. Robert Musil bemerkt in einer Rezension und Abhandlung, dass Balázs „als erster Anatom und Biologe“29 des Kinos Filmtheorie als eigenes Textgenre generiere: „Die Fähigkeit aber, das Erlebnis nicht nur scharf, sondern auch zärtlich zu beobachten, die geistreiche Darstellung, welche 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Balázs: Film, S. 30 Balázs: Film, S. 43. Balázs: Film, S. 42. Balázs: Film, S. 47. Balázs: Film, S. 48. Balázs: Film, S. 46. Balázs: Film, S. 49-50. Balázs: Film, S. 48. Musil, Robert: „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“ (1925), in: Frisé, Adolf (Hrsg.): Musil. Gesammelte Werke, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1137-1154, S. 1138.

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als gut leitende Atmosphäre sofort jeden Eindruck in Beziehung zu vielen anderen setzt, vor allem aber die klare, tiefe, geordnete Schichtung dieser Atmosphäre sind persönliche Eigenschaften des Dichters Balázs.“30 Gilt sein Buch als erste Filmtheorie, so schafft sie damit eine neue Textgattung, „ein unerwartetes Paradigma auch für die Kritik der Literatur“. Denn indem Balázs den Beweis antritt, dass der Film „eine selbständige Kunst sei“, trennt er sie von den literarischen Verschriftlichungsweisen, die bisher etwa als Roman die „Volkskunst“ beherrscht haben. Zugleich entsteht aus dieser „Abspaltung“31 das eigentümliche Textgenre der Filmtheorie, das durch das „immer gleichzeitig im Erlebnis und in der Reflexion“32 stattfindende Verfahren gekennzeichnet ist. Zweierlei steht im Zentrum von Musils Aufsatz: Zum einen versucht er die ästhetischen Eigentümlichkeiten der Filmkunst als spezifisch moderner und eigenständiger Kunstform zu bestimmen und aufzuwerten; zum anderen geht er den sozialen Folgen und psychologisch-anthropologischen Symptomen dieser sezessionistischen Etablierung nach. Steht im Zentrum von jener Frage die körpersprachliche Nonverbalität des (stummen) Films, so verlängert und ergänzt Musil sozialanthropologisch, dass mit dem Film neue Weisen des „Verhaltens“, der Haltung einer „Kultur des anderen Zustands“ entstehen. Sieht Balázs aus der filmischen Einstellung das philosophische Thema der Einstellung hervorgehen, so dass die medientechnische Innovation des Films philosophische Neukonzeptionen notwendig macht, so ergänzt Musil, dass die neue Filmkultur andere Verhaltensweisen im „Gegensatz zur normalen Welthaltung“33 entstehen lässt. Ist der Schnitt Grundlage von Einstellung und Montage, so verfahren die Essays von Musil und Balázs durch ein analoges Prinzip der Trennung und Spaltung als den zentralen ästhetischen Verfahren moderner, avantgardistischer Kunst und Ästhetik. Abspaltung prägt darüber hinaus „die geistige Haltung des Menschen unserer Zivilisation“. Die Grundlage avantgardistischer Kunst, ästhetische und kulturelle „Trennung der Elemente“ (Brecht/Wittgenstein), macht eine Übersetzung und Ersetzung der getrennten Kunstformen und Lebenskulturen erforderlich. Kunstformen haben „Selbständigkeit“ sowie eine „unersetzbare Ausdrucksmöglichkeit“, ihren jeweiligen „Ausdrucksmitteln“ ist „Inkommensurabilität“ eigentümlich: „sie müssen deshalb auch irgendwie ineinander übersetzbar und durcheinander ersetzbar sein.“34 Für den Film 30 31 32 33 34

Musil: „Ästhetik“, S. 1138. Musil: „Ästhetik“, S. 1139. Musil: „Ästhetik“, S. 1138. Musil: „Ästhetik“, S. 1141. Musil: „Ästhetik“, S. 1149.

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sieht Musil mit Balázs in der physiognomischen Symbolik des Gestenund Körperausdrucks diese mit anderen Kunstformen inkommensurable und inkompatible Ausdrucksweise, die „eine andere Innerlichkeit, eine Welt ohne Worte, eine unbegriffliche Kultur und Seele“ errichtet. Die Abspaltung von der bisher herrschenden Schriftkultur stellt dabei eine „Abgespaltenheit“ dar, die mit „Einseitigkeit“ „auf die sinnliche Oberfläche des Lebens beschränkt“ bleibt, gefasst im Begriff der „Abstraktion“, durch den eben „jene Farb-, Flächen-, Klang-, Rhythmus- usw. Beziehungen“ entstehen.35 „Treten die formalen Beziehungen einer Kunst plötzlich isoliert hervor, so entsteht [...] jenes schreckhafte Staunen vor einer irrsinnigen Welt“,36 welches den anderen Zustand als Verhaltensweise, Kunst- und Lebenserfahrung kennzeichnet. Diese stumme Ausdruckskunst erfordert zum einen ein anderes Verhalten als „Erlebnis“ im „anderen Zustand“, „daß man tanzend, filmend oder wie immer kunstgebärdend und ‚expressiv‘ ein von Grund aus anderer Mensch wird als durch die Druckerschwärze.“37 Durch „Einmaligkeit und Augenblicklichkeit“ erstreckt es sich „in einer anderen Dimension: der Tanzende oder Hörende, der sich an den Augenblick der Musik hingibt, der Schauende, der Ergriffene ist aus allem Vorher und Nachher gelöst;“ sie gehen im anderen Verhalten des Erlebnisses auf. Obgleich dieses Verhalten ekstatisch und wortlos ist, so dass „jedes Kunstwerk nicht nur ein unmittelbares, sondern geradezu ein niemals gänzlich wiederholbares, nicht fixierbares, individuelles, ja anarchisches Erlebnis darbietet“,38 ist es doch an Intellektualität gekoppelt. Zum einen, weil „auch schon unsere Sinne ‚intellektuell‘ sind“,39 zum anderen, weil diese „Intellektualisierung“40 etwa in Gestalt von Medientheorien, die auf diese „sinnliche Kultur“ des „Films“41 supplementär bezogen sind, den ebenso notwendigen und integrierenden Bezug des „anderen“ zum „normalen Zustand“ des rationalen Verhaltens bewirkt: „der Rückübersetzung, der Berührungsfläche mit dem Normalzustand und dem Übergang in diesen“, so dass „zwischen der Erfahrung, die man macht, und den Begriffen, mit deren Hilfe man sie macht, [...] ein eigentümliches labiles Verhältnis besteht“42 und die Kunst „den Anschluß an das gewöhnliche 35 36 37 38 39 40 41 42

Musil: „Ästhetik“, S. 1139, 1140. Musil: „Ästhetik“, S. 1140. Musil: „Ästhetik“, S. 1148. Musil: „Ästhetik“, S. 1151. Musil: „Ästhetik“, S. 1146. Musil: „Ästhetik“, S. 1152. Musil: „Ästhetik“, S. 1148. Musil: „Ästhetik“, S. 1151.

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Verhalten nie ganz verliert.“43 Im Ergänzungsverhältnis von Filmmedium und Filmtheorie verschafft sich der normalisierende Effekt und die wirklichkeitsprägende Macht von Diskursen Geltung. Die eigentümliche Wiederaufnahme der Physiognomik, die in medientheoretischer Anwendung den Film textualisiert und verbegrifflicht, erfährt bei Musil eine präzisierende Würdigung. Die „Dinge in der optischen Einsamkeit“ des Films44 spalten sich ab von anderen Semiotisierungs- und Semantisierungsweisen und werden in dieser autarken und autonomen Visualität abstrakt, weil die herkömmlichen Weisen der Bedeutungszuschreibung durch die Trennung von Schrift, Text, und damit Sinn, Bedeutung unmöglich geworden sind. Diese „Abstraktion und Abspaltung“45 als formales und methodisches Grundprinzip isoliert die erscheinenden Teile in schockhafter Weise, erzeugt das „schreckhafte Staunen vor einer irrsinnigen Welt.“46 Musil bestätigt das schockhafte Staunen als Grunderfahrung moderner Kunst, welches Walter Benjamin im Film, bei Kafka und bei Brecht ebenso herrschen sah. Die Vereinzelung der Teile durch ihre Lösung aus gewohnten, normalen Zusammenhängen der Sinnkonstitution, wie etwa Text, Hermeneutik, Philosophie, Religion, Naturnachahmung, oder auch nur gewohnten Zusammenhängen des Vorkommens abstrahiert und isoliert die Teile: „sobald sie sich aus ihrer gewohnten Umrahmung lösen, deutet es die Vermutung eines anderen, apokryphen Zusammenhangs an, in den sie eintreten“47 und macht eine neue Bedeutungszuweisung erforderlich durch die „Zusammenfassung zu einem neuen Zusammenhang“.48 Diese Isolierung der visuellen Teile der Einstellungen und ihre neue Zusammenfügung durch die Montage ist das Grundprinzip des Films. Montage stellt dann als Zusammenfügung der Einzelteile diese in den sinnvollen Zusammenhang einer Geschichte, einer Handlung, eines Plots. Dadurch aber können nach Balázs „alle Dinge im Film eine symbolische Bedeutung haben [...] alle Dinge [sind] notwendigerweise symbolisch. Denn alle Dinge machen auf uns, ob es uns bewußt wird oder nicht, einen physiognomischen Eindruck. [...] das Physiognomische [haftet] jeder Erscheinung an. Es ist eine notwendige Kategorie unserer Wahrnehmung.“49

43 44 45 46 47 48 49

Musil: „Ästhetik“, S. 1154. Musil: „Ästhetik“, S. 1142. Musil: „Ästhetik“, S. 1142. Musil: „Ästhetik“, S. 1140. Musil: „Ästhetik“, S. 1142. Musil: „Ästhetik“, S. 1139. Musil: „Ästhetik“, S. 1142.

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Physiognomik hatte sich immer schon mit dem Verhältnis von Teil und Ganzem beschäftigt, indem einzelne Körperteile insbesondere durch Verschriftlichung und Bezeichnung eine Bedeutung erhalten, die sie einem Ganzen zuweisen, vor allem der Semantik der Ganzheit des Menschen, der Identität von Körper (Teil) und Seele (Ganzem), etwa als Charakter. Mehrfach übernimmt Musil in seinem Essay die Begriffsopposition von Teil und Ganzem,50 weil er mit Balázs annimmt, dass die Veränderung des Verhältnisses von Teil und Ganzem die entscheidende Modernisierung des Films, damit das zentrale Problem seiner Theorie darstellt. Denn dieses Verhältnis ist modernistisch in Unordnung geraten, weil die herkömmlichen Zuschreibungen von Teil und Ganzem im Sinne der älteren Physiognomik und Anthropologie nicht mehr sinnvoll sind als Semantisierung von Körper und Seele sowie als Semiotisierung bzw. Symbolisierung von Zeichen und Bedeutung, Teil und Ganzem, Bild und Text. Denn der visuelle „physiognomische Eindruck, dieses ‚symbolische Gesicht‘ der Dinge“51 ist im stummen Film getrennt von den semiotischen Bezeichnungen der Sprache, des Textes, der Schrift wie auch von den semantischen Zuschreibungen der Ganzheit und Identität des Menschen. Der stumme Film wie aber auch die filmischen, photographischen Bildeinstellungen sind text- und schriftlos und erzeugen gerade dadurch die Aura, Magie und „Mystik“52 des anderen Zustands. Die durch Einstellungen hervorgehobenen isolierten Körperteile, Gesten und Gesichtszüge lassen dabei die Semantik der Identität des Menschen hinter sich.53 50 Musil: „Ästhetik“, S. 1139: „ein einzelnes Bild (Teil) als Repräsentant eines Komplexes auftritt und mit dem unerklärlich hohen Affektwert des Ganzen geladen erscheint (Magische Rolle von Haaren, Fingernägeln, Schatten, Spiegelbild u. dgl.).“ Auch Deleuze (Kino 1, S. 27) definiert Einstellung, Kadrierung zentral über den Terminus der „Teile“, aus denen sich das „Bildfeld“ des Ensembles zusammensetzt. 51 Musil: „Ästhetik“, S. 1142. 52 Musil: „Ästhetik“, S. 1144. 53 Diese Zerteilung des Menschen ist als mediale Anatomisierung und Amputierung sowie prothesenhafte Ersetzung der Körperteile umfassend von Stefan Rieger untersucht worden. Insofern Zerteilung auch Individuierung des Menschen meint, bedeutet diese Medialisierung zugleich Individualisierung. Medien zerlegen und zerteilen ganzheitliche (organische) Entitäten und Identitäten, um diese (Körper-)Teile technisch ersetzen zu können; vgl. Rieger, Stefan: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt/Main 2000; vgl. Rieger, Stefan: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt/Main 2002. Musil stellt ganz ähnlich fest, dass es sich um eine „Gleichgewichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins“ handelt, „welche jedes

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Balázs selbst hat im „Märchen“,54 im Imaginären der Phantasieproduktion eine angemessene Zusammenhangserstellung gesehen, die ebenfalls über eine eigentümliche Textualität verfügt. Musil hingegen fügt eine andere Möglichkeit, der modernen Sinnkrise durch bedeutungslos gewordene Bilder von Körpern und Dingen beizukommen, hinzu – „den Teil zu einem neuen Ganzen, das Abnorme zur neuen Norm, das gestörte zu einem andren Seelengleichgewicht [zu] ergänzen“.55 Der Sinn- und Erläuterungszusammenhang des theoretischen Textes über Filme stellt ein ergänzendes Supplement dar, „also eine ‚Störung‘, bei der Elemente der Wirklichkeit zu einem unwirklichen Ganzen ergänzt werden, das Wirklichkeitswert usurpiert.“56 Als Ergänzung, Supplement genügt diese Lösung den Bedingungen der zwei Kulturen, wonach die sprachlos-körperliche Sinnes- und Filmkultur und die schriftlich-intellektuelle Theoriekultur zwar notwendig aufeinander bezogen sind, jedoch nicht eine gegen- und wechselseitige Erläuterung im Sinne der älteren symbolischphysiognomischen Text-Bild-Relation leisten und ermöglichen. Der medientheoretische Text teilt nicht die Bedeutung der Filmgesten mit, er verleiht ihnen auch keine analoge Bezeichnung und Versprachlichung etwa als synchrone Vertonung oder allegorische subscriptio, sondern er stellt eine reflektierte Form des Redens und Schreibens über den Film dar, als notwendige intellektuelle Ergänzung zur modernen Medienkultur der Sinne und des Körpers und in Abspaltung vom normalen Lebenszustand. Die „Physiognomik der Dinge“, die notwendig wird, weil das „isolierte optische Erlebnis“ „zu einem wortlosen Erlebnis“ wird und „Beschreibungen vom symbolischen Gesicht der Dinge“ herausfordert, befindet sich damit im Bereich des „anderen Zustandes“ als einer „Sprengung des normalen Totalerlebnisses“.57 Dass der „absolute Film“58 doch eines Textes bedarf und nicht in seiner reinen Visualität existieren kann, hat demnach zu tun mit Verstehens- und Verhaltensmöglichkeiten. Die moderne Ästhetik wird so notwendigerweise Rezeptionsästhetik sein müssen, insofern sowohl der wahrnehmende wie auch der verstehende Akt der Rezeption der Steuerung und Anleitung bedarf, soll der Zuschauer nicht im schockierten Staunen über die selbst-

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Kunstwerk bedeutet“ und durch das „Staunen“ vor ihm bezeugt, welches dadurch entsteht, dass die „amputierten Beziehungen [...] den Teil zu einem neuen Ganzen. [...] ergänzen.“ (Musil: „Ästhetik“, S. 1140) Loewy, Hanno: Béla Balázs – Märchen, Ritual und Film, Berlin 2003. Musil: „Ästhetik“, S. 1140. Musil: „Ästhetik“, S. 1140. Musil: „Ästhetik“, S. 1144, 1145. Loewy: Nachwort, S. 204-206.

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genügsamen Bilder, die seinen normalen Blick auf die Realität verfremden, allein gelassen werden. Nach Erwin Panofsky ist Bewegung das zentrale Kennzeichen der ‚Movies‘, der bewegten Bilder; Bewegung kennzeichnet darüber hinaus die avantgardistische Modernität des Films: „Substanz des Films bleibt die Reihung von Bildfolgen, die ein unmittelbarer Fluß von Bewegung im Raum zusammenhält, abgesehen natürlich von Einschnitten, die dieselbe Funktion haben wie Pausen in der Musik. Und nicht eine zusammenhängende menschliche Charakter- oder Schicksalsstudie, die in wirkungsvoller oder bloß ‚schöner‘ Form mitgeteilt wird.“59 Die durch die Einstellung hervorgebrachten Einschnitte erfüllen demgegenüber die Funktion von Pausen, sistieren und fixieren die Bewegung. Der Diskurs über den Film verlässt durch diese sistierende und fixierende Funktion von Schnitt und Einstellung in einer konservierenden, stabilisierenden Weise avantgardistische Filmprinzipien und wendet sich der Fotografie zu. Denn durch die „Einstellungen“60 und „Ausschnitte“61 entsteht innerhalb der filmischen Bewegung das fotografische Einzelbild als elementare semiotische Einheit des Films, wie es noch Kracauer unter Rückbezug aufs ebenfalls traditionelle ‚Buch der Natur‘ bemüht. Durch diese Rückwendung und Orientierung am Leitmedium des 19. Jahrhunderts unterbricht der Filmdiskurs nicht nur die avantgardistische Modernität der filmischen Bewegung, sondern etabliert als Diskurs eine eigenständige Reflexion über das Medium, die dessen Eigentümlichkeit signifikant konterkariert. Für Rudolf Harms, den ersten Interpreten von Balázs, sind „Fixierungsmittel“62 notwendig, die die flüchtige Dynamik des Films als still, als stehendes Bild beruhigen und verlangsamen. Balázs wie Harms erzeugen damit in ihren Arbeiten einen Bruch, der bei jenem zwischen dem Erstling von 1924 und Der Geist des Films von 1930 zu markieren ist und bei Harms als Widerspruch den Text 59 Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film, Frankfurt/Main 1999, S. 27. Der Briefwechsel zwischen Panofsky und Kracauer dokumentiert, dass die im Bewegungscharakter sich manifestierende Modernität des Films einen explorativen Diskurs installiert. Die avantgardistische Filmtechnik provoziert neue und andere Denkstile, etwa als Entstehen von Filmtheorie im Briefwechsel oder im Feuilleton. Insbesondere die Kunstwissenschaft wird durch filmische Prinzipien in Form einer „filmpoetischen Analogie“ etwa in Gestalt der Technik und Denkfigur von Einstellung und Montage beeinflusst. Vgl. Breidecker, Volker (Hrsg.): Siegfried Kracauer – Erwin Panofsky: Briefwechsel 1941 – 1966, Frankfurt/Main 1996, S. 204. 60 Harms, Rudolf: Philosophie des Films, Leipzig 1926, S. 51. 61 Harms: Philosophie des Films, S. 47, 48. 62 Harms: Philosophie des Films, S. 169.

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durchzieht. Beide benutzen zunächst den physiognomischen Diskurs, der Gesicht und vor allem Gebärde des filmisch dargestellten Körpers resymbolisieren soll, indem das Teil zum Ganzen semantisiert wird. Insbesondere Balázs bemerkt den Bruch, den diese Anwendung einer physiognomischen Hermeneutik kennzeichnet, einen Widerstand zwischen traditionellem anthropologischem Diskurs und modernem Medium. Denn die Prädominanz des Visuellen im ‚absoluten Film‘ erzeugt eine nur noch durch Sichtbarkeit der flüchtigen Bewegung konstruierte Bedeutung. Diese Dominanz des Visuellen vereitelt aber insbesondere sprachlich-textuelle Semantisierungsweisen, die dieser rigorosen Bildlichkeit nicht angemessen sind: Die schönen Wirklichkeitsfilme des Holländers Ivens vermitteln uns keine Realitäten mehr. Sie weisen nicht auf ein Objekt hin, das man auch selbst sehen könnte. Denn nur auf den dargestellten optischen Eindruck, nicht auf die Tatsache kommt es hier an. Das Ding wird wesenlos, weil seine Erscheinung so wesentlich wird. Das Bild selbst ist die erlebte Wirklichkeit. Und die nur visuell erlebte Wirklichkeit, das ist der absolute Film.63

Ersetzt wird die physiognomische Symbolisierung der Substitution des Körperteils durch das Ganze einer Bedeutung, die sprachlich und referentiell auf einen Gegenstand bezogen ist, durch den Perspektivenwechsel der Einstellung innerhalb einer Wahrnehmungsanordnung, eines Verhaltensdispositivs: „Die Physiognomie hängt mit vom Blickpunkt ab, d.h. von der Einstellung. Physiognomie ist nicht nur eine objektive Gegebenheit, sondern zugleich unsere Beziehung zu ihr.“64

3. Die Begriffsdifferenz von Physiognomie und Einstellung, Semantik und Verhalten, Symbol und Symptom, Ausdruck und Anzeichen lässt sich mit Blick auf die Durchsetzungsphase des Films in den 1920er Jahren epochal verallgemeinern. Intellektuelle wie Helmuth Plessner oder Karl Bühler vollziehen in ihren Schriften entschieden den Übergang von der 63 Balázs: Film, S. 86. 64 Balázs: Film, S. 30. Die durch die Beweglichkeit und Flüchtigkeit des filmischen Gesichts obsolet gewordenen physiognomischen Lesbarkeits- und Deutungsweisen sowie die gleichzeitig medial etablierte Macht des facialen Schemas und Möglichkeiten der Entmachtung seiner hierdurch installierten Normalisierung sind Thema des Bandes von Löffler, Petra/Scholz, Leander (Hrsg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation (Mediologie Bd. 10), Köln 2004.

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Krise der Psychologie (Bühler 1933) der Innerlichkeit zur Verhaltenslehre der Beobachtung und ‚Außenlenkung‘ des ‚außengeleiteten Charakters‘.65 Wie Balázs nur mit Mühe das ältere physiognomische Paradigma einer Entsprechung und Lesbarkeit von Innen und Außen, Seele und Körper bei den Körperdarstellungen des stummen Films anwenden konnte, so erleidet die Kategorie des Ausdrucks generell eine Abwertung66 und wird durch die Begriffe der Haltung oder der Einstellung ersetzt.67 Während für den Ausdruck das ruhende bewegungslose Gesicht zentral war, setzt die fixierende Haltung die Beweglichkeit der Geste voraus. An die Stelle einer substantialistischen Auffassung vom Gesicht als Identitätsgarant der Person tritt die medial verformbare und der Verstellung fähige, also bewegliche Maske, so etwa bei Plessner unter Betonung des Schauspielerparadigmas im Zuge einer Theatralisierung zur Körperkultur der Performance. Georg Lukács, Freund von Balázs und wie dieser Schüler Georg Simmels, konstatiert das Phantastische als „neuer Aspekt“ des Lebens, der im Kino realisiert wird, als „ein Leben ohne Seele, aus reiner Oberfläche [...] ein Leben ohne Hintergründe und Perspektiven, ohne Unterschiede der Gewichte und Qualitäten.“ Das Kino ist „stumm“, „jedes Sprechen wäre eine störende Tautologie“, so dass „durch Geschehnisse und Gebärden restlos ausgedrückt“ wird, was an den „dargestellten Ereignissen von Belang ist“.68 In einer seiner wenigen filmtheoretischen Schriften, dem Dreigroschenprozeß, deckt Brecht eine Implikation dieses Vorgangs auf, 65 So die Formel von David Riesman, vgl. zum Gesamtkontext, Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/Main 1994, bes. S. 235-243. 66 Lethen: Verhaltenslehren, S. 102. Diese intellektuelle Umbruchsituation als Neuordnung des Diskurses bestätigt Kracauer, wenn er in Übereinstimmung mit Adorno und Panofsky und gegen Balázs und Cassirer die „Zurückweisung der universellen Geltungsansprüche des Symbolbegriffs“ (S. 201) vornimmt; „anti-symbolisch“ ist der Film, wie in unserem Kontext ergänzt werden kann, weil er sich der Semantik des Ausdrucks von Innen und Außen verweigert. Dementsprechend ist die „photographische Einstellung“ (nur ungenau übersetzt mit „photographic approach“) die Leitidee von Kracauers Filmtheorie; diesen Begriff entwickelt er in Abgrenzung zur symbolfähigen Malerei als bestimmte Perspektive, konkretes Verhalten gegenüber der Objekt- und Materialwelt, die sich ergeben aus „Ausschnitt, Distanz, Aufnahmerichtung, Schärfe und Beleuchtung.“ (Kracauer/ Panofsky: Briefwechsel, S. 168). 67 Lethen: Verhaltenslehren, S. 236, 238. 68 Lukács, Georg: „Gedanken zu einer Ästhetik des ‚Kinos‘“, in: Schweinitz, Jörg (Hrsg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909 – 1914, Leipzig 1992, S. 300-305, S. 302-304.

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nämlich die semiotische „Trennung der Elemente, also des Bildes vom Wort und der Wörter von der Musik“.69 Auch für Balázs, den Brecht kritisch erwähnt70, war ja die sprachlose Visualität des stummen Films dessen avantgardistisches Faszinosum gewesen, das indessen auch Fragen der angemessenen theoretischen Versprachlichung aufwarf. Dass diese Dominanz der stummen Visualität zugleich die Semantik des Ausdrucks als Identität von Innerem und Äußerem zersetzt und durch die Beobachtung des äußeren Verhaltens ersetzt, hebt Brecht hervor. Statt ein Werk oder eine Person „auszudrücken“71, „verwendet [der Film] zur Verlebendigung seiner Personen, die nur nach Funktionen eingesetzt sind, einfach bereitstehende Typen, die in bestimmte Situationen kommen und in ihnen bestimmte Haltungen einnehmen können. Jede Motivierung aus dem Charakter unterbleibt, das Innenleben der Personen gibt niemals die Hauptursache und ist selten das hauptsächliche Resultat der Handlung, die Person wird von außen gesehen.“72 Als Gliederungsprinzip dieses behavioristischen Grundsatzes, der im Film verkörpert wird, sieht auch Brecht – fast gleichlautend mit Panofsky und Balázs – das Prinzip von Einstellung und Montage an, das er als genuin eigenes Gesetz des Films begreift. Wie für Kracauer ist die Grammatik und Syntax von Einstellung und Montage indessen nicht allein optischer Art, sondern transzendiert diese semantisch als Verhaltensmodell und Denkfigur, indem Einstellung und Montage „Wesen und Inhalt des Dargestellten ergreifen und bestimmen“: „Das Wesen ist das Auflösen des dramatischen Vorgangs in Einzelbilder, wie es sich aus dem Wegfall des Wortes und dem Zusammendrängen auf kurze einzelne Bildszenen ergibt. Deren Reihenfolge und Verbindung, Ausgestaltung und Glaubhaftmachung sind in der Filmurschrift nur im Keim enthalten.“73 Interessant ist, dass Brecht eine Differenz von Einstellung und Montage feststellt; während jene das visuell-filmische Material strukturiert und gliedert, ist diese das Mittel der Zusammenhangserstellung und Kohärenzbildung der Einzelbilder. Die im Film durch Schnitt und Einstellung unter „Wegfall des Wortes“ bewirkte Auflösung in Einzelbilder 69 Brecht, Dreigroschenprozeß, S. 132. Dazu unter kritischer Berücksichtigung der Thematik des Medienwandels, Simon, Ralf: „Medienwechsel der Theatralität? Zu Brechts Dreigroschenprojekt (Oper, Roman, Film, Prozeß)“, in: Fischer-Lichte, Erika (Hrsg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation (DFG-Symposion 22, 1999), Stuttgart/Weimar 2001, S. 252-280. 70 Brecht: Dreigroschenprozeß, S. 185. 71 Brecht: Dreigroschenprozeß, S. 157. 72 Brecht: Dreigroschenprozeß, S. 158. 73 Brecht: Dreigroschenprozeß, S. 189.

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erfordert eine auf anderer Stufe angesiedelte Erstellung von Reihenfolge und Verbindung. In genau dem gleichen Verhältnis befindet sich die Praxis der Filmtechnik zur Diskursformation, denn wie die Montage erstellt auch der Diskurs einen Zusammenhang der Einzelbilder als intellektuelle Maßnahme. Der Dreigroschenprozeß als „soziologisches Experiment“ betreibt auch die Diskurswerdung des Films, im juristischen und soziologischen Sinn des Wortes. Genese von Filmtheorie meint exakt diese Diskursivierung, die den Film nicht mehr nur als medientechnische Strukturierung von visuellen Einzelbildern begreift, sondern als umfassendere Denk-, Verhaltens- und Darstellungsweise. Kennzeichnend für diese Unterscheidung ist die Differenz des visuellen Mediums Film vom textuellen Medium Theorie, eine semiotische und diskursive Trennung, welche (medien-) anthropologische Divergenzen manifestiert. Zur visuell dominierten und durch Schnitt und Einstellung fragmentierten Filmkultur, die eine visuelle Körperkultur der Gesellschaft widerspiegelt, ergänzt der Text der Theorie ein reflexives Potential, das die soziale, lebensweltliche Relevanz, für die der Film steht, dokumentiert: „Wir sprachen von einem ‚soziologischen Experiment‘, wenn durch geeignete Maßnahmen (geeignetes Verhalten) die der Gesellschaft immanenten Widersprüche provoziert und wahrnehmbar gemacht werden. Ein solches soziologisches Experiment ist gleichzeitig der Versuch, das Funktionieren der ‚Kultur‘ zu begreifen. Öffentliches Denken wird entfesselt und findet mit verteilten Rollen statt. Es handelt sich beinahe im Wortsinn um einen Denkprozeß.“74 Spielerisches, theatrales Denken als performativer Akt wird ergänzt um Theorie als Verhaltenslehre: „Denn wir brauchen von allem Wissen eigentlich nur Fingerzeige für unser Verhalten und Aufschlüsse über das vermutliche des Gegners.“75 Bereits Brecht stellt die intermediale Differenz der Medien als zentrales Instrument dieser kritischen Reflexion heraus: Das Verunglücken der Übertragung berühmter Romane ins Filmische zeigt, wie ganz andere Funktionen der Film tatsächlich schon versorgt. Er zerstört und entlarvt die Romane, nicht der Film zeigt sein Debakel, sondern der Roman. Mit den alten Begriffen arbeitend, arbeitet man mit höchst unpraktischen Begriffen.76

Einstellung und Haltung sind dann diejenigen Metaphern, die die Übertragung zwischen Filmtechnik und Diskursformation leisten, um das kritische Reflexionspotential zu generieren, welches die rein visuelle Ober74 Brecht: Dreigroschenprozeß, S. 205. 75 Brecht: Dreigroschenprozeß, S. 206. 76 Brecht: Dreigroschenprozeß, S. 207.

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flächenkunst des Films allein nicht mehr zu leisten imstande ist. Filmtheorie ist notwendige Ergänzung, Supplement, das dem Medium mit der ihm fehlenden Sprache und Begrifflichkeit auch das Moment des Räsonnierens und Diskursiven hinzufügt. Insofern Einstellung auf soziales Verhalten und Wahrnehmen zielt und nicht so sehr auf Bedeutung, Semantik und Symbolik, stellt die Theorie der Einstellung ein Regelungs- und Lenkungsinstrument für diese Verhaltensweisen bereit. Dieser Zusammenhang ist kennzeichnend für die Medientheorie Vilém Flussers. Ausgehend von der semiotischen Trennung zwischen Bild und Text, die den ersten Medienumbruch kennzeichnet, bedarf die Vorherrschaft der Bilder der Reflexion, welche Begriffe für Bilder bereitstellt, was die Begrifflichkeit der Fotografie, ihr Angewiesensein auf Begriffe herausstellt. Die Fotografie hat auch für Flusser weniger einen symbolischen Wert, sondern einen des Verhaltens, sei es als Symptom, sei es als Verhaltensanleitung und -lenkung etwa durch mimetisches Verhalten. Die Fotografie hat weniger eine semiotische, vielmehr eine performative Qualität. Der Fotograf muss demnach den Apparat ‚einstellen‘, und das ist eine technische Geste, genauer: eine begriffliche Geste. [...] um den Apparat für künstlerische, wissenschaftliche und politische Bilder einstellen zu können, muss der Fotograf Begriffe von Kunst, Wissenschaft und Politik haben: wie anders sollte er sie sonst ins Bild übersetzen können? Es gibt kein naives, unbegriffenes Fotografieren. Die Fotografie ist ein Bild von Begriffen.77

Bild und Fotografie/Film, Begriff und Philosophie sowie Geste/Einstellung und Handeln/Verhalten gehen eine für die Moderne charakteristische Medienkonstellation ein, im Sinne einer für jedwedes Verhalten und Handeln notwendigen medialen Einstellung und deren begrifflich-reflexiver Steuerung und Kontrolle, einer Disziplinierung der Einstellung zur Haltung.78 Groß ist dabei die Übereinstimmung zwischen Flusser und Balázs 1929: Es wurde schon gesagt, dass jede Anschauung der Welt eine Weltanschauung enthalte, dass jede Einstellung der Kamera eine Einstellung des Menschen bedeute und dass es demgemäß nichts Subjektiveres gäbe als das Objektiv. Es gibt also eigentlich gar keine objektive Photographie, keine, die nur das Bild zeigen und nicht 77 Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1983, S. 27. 78 Plessner, Helmuth: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: Gesammelte Schriften, Bd. III: Anthropologie der Sinne, Dux, Günter/Marquard, Odo/Ströker, Elisabeth (Hrsg.), Frankfurt/ Main 1980, S. 96.

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ANDREAS KÄUSER zugleich etwas vom Auge mitteilen würde, das es sah. Denn die ‚Objektivität‘ und ‚Sachlichkeit‘, die sich im Bild etwa ausdrückt, ist auch eine innere Attitüde des Betrachtens, ein besonderes Sichverhalten dem Gegenstand gegenüber. Auch Sachlichkeit ist ein bestimmter Gemütszustand. […] Wenn jede Einstellung etwas bedeuten kann, dann hat eigentlich jede Einstellung etwas zu bedeuten.79

Mediale Einstellung als Geste erhält bei Flusser einen zentralen Stellenwert,80 gerade in Hinsicht auf den zweiten Medienumbruch. Fotografien sind dementsprechend keine „objektiven Beschreibungen“, sondern werden durch den Fotografen „eingestellt“,81 der einen „Standort“, eine „Intention“, eine „bewegliche Situation“82 und kein wahres, objektives Sehen mehr meint. Insbesondere durch Distanz zum Gegenstand, zum eigenen Standpunkt und Personsein wird eine mediale Differenz errichtet, die Reflexion ermöglicht, Philosophie notwendig macht: „Seitdem die Fotografie erfunden wurde, ist es möglich geworden, nicht bloß im Medium der Wörter, sondern auch der Fotografien zu philosophieren. [...]“83 Womit gesagt sein soll, „daß Fotografieren eine Geste ist, die philosophische Einstellungen in einen neuen Kontext übersetzt … [als] Suche nach einem Standort.“84 Diese Philosophie der medialen Einstellung impliziert, dass Medientheorien nicht mehr ontologisch verfahren können, unter der Voraussetzung, dass Medien eine stabile mimetische Referenz zum Gegenstand haben. Die nachgezeichnete Debatte um den Begriff der Einstellung hat ihre diskursive Funktion in der Zurückweisung symbolischer Bedeutungszuweisungen und Bezeichnungsweisen der Repräsentation, die von einem geregelten Verhältnis von Zeichen und Bedeutung ausgehen, was ontologische, objekt- und gegenstandsfixierte, realistische Medientheorien ermöglicht. Im Unterschied hierzu anerkennen neuere Theorien die Hybridität des Gegenstandes Medien. Genau diese falsche Gegenstandsfixierung von Fotografien will Flusser durch den Nachweis der Abhängigkeit der Fotografie von Begriffen und Einstellungen kritisieren, um durch solche „Fotokritik“ auch das mime-

79 Balázs, Bela: „Einstellung zur Einstellung“ (1929), in: Diederichs, Helmut H./Gersch, Wolfgang (Hrsg.): Balázs. Schriften zum Film, Bd. 2, Budapest 1984, S. 239. 80 Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf 1993. 81 Flusser: Gesten, S. 103. 82 Flusser: Gesten, S. 104. 83 Flusser: Gesten, S. 105, 106. 84 Flusser: Gesten, S. 108.

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tische Verhalten der Gesellschaft, welches „magisch im Interesse der Apparate“ 85 programmiert ist, kritisch zu hinterfragen. Eine kritische Diskursanalyse und Theoriegeschichte von Medientheorien könnte und müsste diese Aufdeckung der hinter den Einstellungen verborgenen Begriffe leisten, um nicht auf die realistischen Suggestionen von analogen Medien hereinzufallen, sondern deren Medialität zu reflektieren. Wie dieses Programm in der Nachfolge von Adornos und Horkheimers Projekt einer Kritik der Kulturindustrie aussehen könnte, hat Heinz Steinert dargelegt. „Analyse der Beziehungen“, die durch rekonstruierbare „Kamera-Einstellungen“ zustande kommen, erreichen eine Haltung, die Einsichtnahme ermöglicht von „verschiedenen perspektivischen Bildern“ und dabei die eigene Beobachterposition in der Wahrnehmungsanordnung mitreflektiert, „also reflexiv die eigene Stelle in der Konstellation“86 sichtbar und distinkt macht. Die Konstellation medialer Einstellungen in ihrer Diversität lässt ein „Arbeitsbündnis“ als „Haltung“ entstehen, welches eine Spannung von Kulturindustrie und Medientheorie errichtet. Entfremdung, Distanz sind notwendig, um reflexionsfähig zu bleiben, um den von Medien suggerierten „naiven Realismus“ zu durchschauen und stattdessen die Konstruiertheit und Perspektivierung aller medialen Erzeugnisse zu erkennen.87 Eine solche kritische Einstellung zur Medienkulturindustrie bedarf alternativer Medien, Darstellungsweisen, die auch bereits in ihrer Form einen solchen reflexiven Gestus ermöglichen und präsentieren, wie etwa der theoretische Text in seiner besonderen Montageleistung und -form. Die Ideologie der Sachlichkeit, die dadurch zustande kommt, dass sich Medien zwischen die Interaktion der Personen schieben und so deren Beziehungen versachlichen, andererseits diese Medien vollgesogen sind mit subjektiven, emotiven Gehalten, gerade auch in der Internet- und chat-Kultur, wäre ein Beispiel für den Nachweis einer Einstellung, die aus der Spannung der begrifflichen Differenzierung von subjektiv/objektiv und medialem Schein hervorgeht. Einstellung war zunächst ein Begriff, der sich auf den durch den Film beweglich gewordenen sichtbaren Körper bezog, als Gegenstand der auf die Oberfläche des sichtbaren Äußeren eingeschränkten visuellen Medien, insbesondere des stummen Films und der Fotografie. Gezeigt werden konnte die Diskurs- und Begriffswerdung von ‚Einstellung‘, die ein supplementäres Verhältnis zwischen Körper und Theorie, Medium 85 Flusser: Fotografie, S. 34. 86 Steinert, Heinz: Kulturindustrie, Münster 1998, S. 52. 87 Steinert: Kulturindustrie, S. 58-62.

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und Begriff etablierte. Die ephemere, bewegliche, standortgebundene, den Blick rahmende und perspektivierende Einstellung, die so eine Anordnung der Wahrnehmung, ein Dispositiv installiert, verändert zum einen die Semiotik des Körpers im Sinne einer Ablösung von der Repräsentation, einer Hinwendung zur Performanz. Insofern Einstellung selbst beweglich ist, wird damit auch das symbolfähige und bedeutungslastige Gesicht der Physiognomik, des Porträts reduziert zur beweglichen Geste, der individuellen Zerlegung in Teile, die keine Ganzheit mehr erschließen lassen, sondern transitorisch und ephemer sind. Zwar transzendiert der Begriff der Einstellung und Haltung bewusst den medienkulturellen Schein, um den bewegten Bildern ein kontrastives Reflexionspotential zuzuordnen; doch behält selbst der philosophische Begriff eine Affinität zu seinen körpersprachlichen Ursprüngen, im Sinne eines performativen Aktes, wodurch Einstellung zur medientauglichen Analysekategorie wird. Diskurshistorisch ist dieser Vorgang deswegen von Bedeutung, weil phänomenologische Versuche zwar dem Begriff der Einstellung als mediengerechtes „Verhalten“ der „Orientierung“ aufgrund der „exzentrischen Positionalität“ (Plessner) des Menschen zentralen Stellenwert zubilligen,88 doch in einem interessanten konservierenden Traditionalismus die Rückbindung dieser Einstellung an den ganzheitlichen Leib sowie die objektivistische richtige Einstellung vertreten. Die diskursive Einstellung unterscheidet sich von der filmischen durch ihre konservierende Stillstellung filmischer Bewegung, als fotografische Rückwendung Kracauers, als Resymbolisierung von Gesicht und Geste bei Balázs, als leibhaftganzheitliche Orientierung der Phänomenologie, schließlich als kontinuierliches, habitualisiertes Verhalten. Medien-Anthropologie markiert so den dissoziierenden Prozess zwischen medialer Beschleunigung und anthropologischer Beruhigung. Phänomenologische Ansätze honorieren zwar den lebenskulturellen Wert von medialer Einstellung, versuchen ihn aber aufzuheben oder zu transzendieren in einer „Philosophie der Orientierung“.89 Das supplementäre Verhältnis der Ergänzung von medialer 88 Orth, Ernst Wolfgang: „Zur Medialität der menschlichen Orientierung“, in: ders.: Was ist und was heißt ‚Kultur‘? Dimensionen der Kultur und Medialität der menschlichen Orientierung, Würzburg 2000, S. 13-29, S. 20/21. 89 Orth: „Medialität“, S. 23 in Abgrenzung zur medial gesteuerten Bedeutungsgenerierung durch das „lebendige Eingestelltsein einer Subjektivität, die das Medium zum Medium macht.“; zu Husserl, der „natürliche Einstellung“ von „phänomenologischer Einstellung“ unterscheidet, vgl. Artikel „Einstellung“, in: Ritter, J. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel 1972, Sp. 417-422, Sp. 421f., oder die Plessnersche Differenz einer methodischen Disziplinierung entweder durch die irratio-

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und theoretischer Einstellung zeigt sich indessen auch hierbei. Die Orientierung des Verhaltens durch Medien bedarf als reale Einstellung der Deutungs- und Steuerungsmechanismen theoretischer Texte, die eine gleichsam zweite Einstellung installieren in einer nicht mehr visuellmedialen Anordnung, sondern einer medienanthropologischen Darstellungsweise. Die Bedeutung des Werks von Akira Kurosawa liegt sicher auch darin, dass er am Medienumbruch des 20. Jahrhunderts nicht allein durch Anwendung innovativer Filmtechnik wie Einstellung und Montage partizipiert. Darüber hinaus stellen Kurosawas Filme, wie die anderer Regisseure der klassischen Kinomoderne, die epistemologische und kulturelle Umbruchsituation dar, für die die Filmtechnik von Einstellung und Montage Mittel der Darstellung ist. Ambivalenz der Moderne in der Divergenz und gleichzeitigen filmischen Assimilation der traditionellen und fremden Kultur Japans kennzeichnen mentale, semantische und kulturelle Umbrüche, die in der Filmtechnik von Einstellung und Schnitt ihre Darstellungsform finden. Zugleich prägt der Film mit dieser Technik ein Verhaltensmodell aus, welches aus der Kollision von traditionellen und modernen Zeichen und Bedeutungen praktische Folgen zieht. Denn im Diskurs über den Film wird aus der revolutionären Filmtechnik der Einstellung, der Schnitte, der fragmentierten, beweglichen Teile die konservative philosophische Einstellung der Beruhigung, Fixierung und Stabilisierung. Das alte Medium des Textes konterkariert das neue Medium des Films, auch durch die von der Theorie betriebene Reorientierung an der bewegungslosen Fotografie. Einstellung als Fixierung, Haltung als Stillstellung der bewegten Bilder, ihrer avantgardistischen Rasanz findet eine Entsprechung im Konservativismus sowohl der Anthropologie wie der Kultur und Geschichte Japans, denen Kurosawas œuvre zu einem gewichtigen Teil gewidmet ist. In diesem Sinne einer Konservierung und Stabilisierung könnte der Nachweis einer Anthropologisierung der frühen deutschen Medientheorie gelesen werden. Die Diskrepanz von Gesicht und Geste, Ganzem und Teil, körperlicher Einstellung und symbolischer Bedeutung wird in Kurosawas Filmen gezeigt, eingespannt in die polare Spannung von filmischer Inszenierung als technischer Modernisierung und historischer Andersheit Japans als Sujet. Während die dargestellte Welt (etwa der Samurai) im Sinne von Kracauers materialer Inhaltsästhetik den historischen Kontext der vergangenen Kultur historistisch nachstellt und moranale „Einheit der Haltung“ oder die rationale „Einheit des Begriffs“ (Plessner: Die Einheit der Sinne, S. 96).

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lische, ethische und soziale Kategorien von Gut/Böse, Freund/Feind etc. aufruft, konterkariert die formale Filmtechnik diese symbolische Ganzheit einer Ordnung der Welt durch das Prinzip moderner Körpereinstellung, das insbesondere in den Choreographien der gewalttätigen Kämpfe hervortritt.90

90 Vgl. Fischer, Ralf Michael: „Der doppelte Blick des tenno. Filmische Bildschöpfungen im Spannungsfeld japanischer und westlicher Darstellungstradition“, in: Deutsches Filmmuseum Frankfurt/Main (Hrsg.): Akira Kurosawa, Kinematograph Nr. 18 /2003 (Ausstellungskatalog), Frankfurt/ Main 2003, S. 12-30. Fischer stellt eine interkulturell verursachte Film- und Bildästhetik Kurosawas fest, die traditionelle japanische Bildformen mit modernen westlichen Filmformen kongenial kombiniere. Kurosawas spezifisches Filmbild entstehe dabei aus der Polarität von Ausschnitthaftigkeit und Flächigkeit, die sowohl dem filmisch bewegten Prinzip von Einstellung und Montage sich verdanke wie den malerisch statischen Prinzipien japanischer Bildästhetik.

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FILME AUSSTELLEN – AUSSTELLBARKEIT VON FILMEN? 1. Die Pariser Weltausstellung von 1937 veranlasst Siegfried Kracauer zu einer Rezension, in der er einen „neuen Typus von Ausstellung“ vorstellt, der im wesentlichen auf die Intermedialität des Ausgestellten zurück zu führen ist.1 Am Beispiel einer auf der Weltausstellung inszenierten Sub-Ausstellung über Vincent van Gogh (La vie et l’œuvre de van Gogh) sowie einer Literaturausstellung, die Flaubert, Baudelaire und Proust gewidmet ist (Ebauche et premiers éléments de la littérature française), resümiert Kracauer die zentralen Aspekte jenes neuen Ausstellungsprinzips, das ursprünglich aus dem Bereich der Technik stammt und nun verstärkt auch für die „Werke des Geistes“ Anwendung findet. Bei diesem Prinzip handelt es sich um eine Ausstellungsgeste, die darauf abhebt, das jeweilige Ausstellungsobjekt, Kracauer spricht von „Kunstwerken“, nicht wie bislang isoliert zu präsentieren, sondern es in die jeweiligen Zusammenhänge einzuordnen, aus denen es erwachsen ist. Diese Form der Kontextualisierung zielt darauf ab, das Prozesshafte, die Strukturen und Entstehungsphasen eines Objekts aufzuzeigen, „um sich dem Leben des Geistes anzunähern und der Gehalte seiner Schöpfungen inne zu werden.“ Zwei Fotografien, die dieser Rezension beigefügt sind, visualisieren das beschriebene Prinzip. Sie zeigen die Ausstellungsräume und geben den Blick frei auf die Gestaltung der Wände. In Anwendung des museal erprobten Konzepts der sogenannten dichten Hängung sind Bilder und Texte, Porträts, Landschaften und Stadtansichten, Kunstwerke, Fotografien und Filme, Originale und Reproduktionen, biografische und historische Längs- und Querschnitte tableauartig als wandfül1 Kracauer, Siegfried: „Ein neuer Typus von Ausstellungen“, in: Bund Schweizer Architekten, (1938), S. 19-21. Die folgenden Zitate Kracauers sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, dieser Rezension entnommen.

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lende Montage zu identifizieren. Führen die im oberen Wandbereich zusätzlich auf die Wand angebrachten Zitate in großen Lettern thematisch in die initiierte Raumerzählung ein, so bilden die aufgestellten Vitrinen vor den Wänden einen gleichsam kompakten, d.h. thematischen unteren Abschluss. Die Inszenierung macht außerdem deutlich, dass die neuen Medien, Fotografie und Film, in direkter Nachbarschaft zueinander präsentiert wurden, womit an die Ausstellungskultur der 1920er Jahre, und dabei insbesondere an die in Stuttgart gezeigte Internationale Ausstellung des Deutschen Werkbunds Film und Foto (1929) angeknüpft wird.2 Das auf diese Weise im Ausstellungskontext realisierte „sinnreich komponierte Miteinander“, das – aus kuratorischer Perspektive – Takt und Kennerschaft voraussetzt, um nicht in Unverbindlichkeit zu verfallen, besitzt neben diesem Schaueffekt außerdem eine hochgradig didaktische Funktion. So zielen die unterschiedlichen Medien, die sich – trotz ihrer Heterogenität – immer wieder zu einem Leitfaden verdichten, weniger auf Vermittlung von Fakten und Kenntnissen ab. Diese Form der Ausstellungsästhetik, so Kracauer, beinhalte vielmehr etwas Körperhaftes, wodurch sich zwischen der Ausstellungsinszenierung und dem Ausstellungsbesucher ein Dialog entwickelt. Durch die kontextuale Inszenierung treten die Objekte und Medien in neue Nachbarschaften und bilden ein assoziatives Verweissystem aus, das in seiner Gesamtstruktur als organisch bezeichnet werden kann. Der Ausstellungsbesucher wird aufgrund der Fragmentarik des einzelnen Objekts und durch die montagehafte Präsentation zugleich sinnlich und intellektuell angesprochen und zu eigenen Kombinationen und Deutungsversuchen motiviert. Analog zur Ausstellungsgeste, die an der Fragmentarik der Objekte ansetzt und diese in ein gleichsam körperhaftes Ausstellungsbild überführt, sind Sinn und Bedeutung dieser Inszenierung nur durch den gezielten Körpereinsatz des Ausstellungsbesuchers erschließbar. Folgende Aspekte erscheinen mit Blick auf die Rezension von Siegfried Kracauer von besonderer Bedeutung: Da sind die 30er Jahre, in denen die Weltausstellung in Paris vom 25. Mai bis 25. November 1937 auf dem Champ de Mars, dem Trocadéro und am Seineufer unter der Thematik Kunst und Technik im modernen Leben präsentiert wurde. Die „Atmosphäre des progressiven Optimismus“, die mit dieser Weltausstellung rückblickend assoziiert wird, korrespondierte mit einer politisch 2 Vgl. Katalog Internationale Ausstellung des Deutschen Werkbunds, Film und Foto, 1929. Reprint mit einem Vorwort von Steinroth, Karl (Hrsg.), Stuttgart 1979; Katalog Film und Foto der 20er Jahre. Eskildsen, Ute/Horak, Jan-Christopher (Hrsg.), Stuttgart 1979.

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äußerst angespannten und destabilen Situation: In dieser Zeit bedrohten drei Diktaturen den Weltfrieden, die zugleich auf dieser Weltausstellung mit monumentalen „pompös einschüchternden Pavillons“ positioniert waren.3 Die unterschiedlichen ideologischen und nationalen Interessen wurden auf dieser Ausstellung primär auf stilistischer Ebene, d.h. auf der Ebene der Gestaltung und Formgebung ausgetragen. Die Architektur des Außen- und Innenraums der 1937er Jahre-Ausstellung symbolisiert, wie Erik Mattie es formuliert, den „Klassenkampf zwischen Nationalismus und Internationalismus, zwischen Konservatismus und Progressivität“.4 Ungeachtet der jeweiligen nationalen Interessen, Stilvorlieben und Geschmacksbildungen sowie architektonischer Eigentümlichkeiten ist eine unverkennbare Annäherung in der Ausstellungsinszenierung aller Länder insbesondere in diesem Zeitraum zu erkennen. Dies betrifft genau jene intermediale Inszenierung, die Kracauer als „neuen Typus“ in der Ausstellungsgeschichte hervorhebt. Während das Prinzip der medialen Kombinationen und der Montage im nationalsozialistischen Deutschland in der Propaganda-Ausstellung Große Deutsche Kunstausstellung (München, Haus der Kunst, 1937) und Entartete Kunst (München, Räume der Gipsabgusssammlung des Archäologischen Instituts, 1937) als systematische Diffamierungskampagne gegen die moderne Kunst eingesetzt wurde, erscheint es parallel dazu im Französischen Pavillon als künstlerisches Paradigma für eine neue Ausstellungsinszenierung.5 Verfolgt man die Ausstellungsgeschichte, so lassen sich analoge Gestaltungsprinzipien bereits in den frühen Ausstellungen der künstlerischen Avantgarden erkennen, so etwa auf der Ersten Internationalen Dada-Messe in Berlin (1920).6 Diese Analogien und Korrespondenzen innerhalb der

3 Vgl. hierzu ausführlicher Mattie, Erik: Weltausstellungen, Stuttgart/Zürich 1998, bes. S. 179f. 4 Mattie: Weltausstellungen, S. 179. 5 Aus der Fülle an der inzwischen erschienenen Literatur zum Thema s. stellvertretend Schuster, Klaus-Peter (Hrsg.): Die ‚Kunststadt‘. München 1937. Nationalsozialismus und ‚Entartete Kunst‘, München 1987. Schuster weist wie auch andere Autoren stets auf die seit 1929 von verschiedenen Ortsgruppen des Kampfbundes für deutsche Kultur organisierten Diffamierungen hin, die dann in das gezielt „inszenierte Bilderchaos“ (v. Lüttichau) als Ausdruck von ‚Entartung‘ in die Ausstellungen von 1937 mündeten. Zentral zu dieser Thematik: Zuschlag, Christoph: Entartete Kunst. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland, Worms 1995. 6 Zu den Details im historischen Kontext der Ausstellung s. Stoelting, Christina: Inszenierung von Kunst. Die Emanzipation der Ausstellung zum Kunstwerk, Weimar 2000, bes. S. 56-70; Hegewisch, Katharina/Klüser, Bernd (Hrsg.): Die Kunst der Ausstellung, Frankfurt/Main 1991. Sinnreich,

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Ausstellungsinszenierung werfen die Frage nach den gestalterischen, künstlerischen und medialen Kontinuitäten in der Ausstellungsinszenierung insbesondere in historischen und politischen Umbruchsituationen auf. Wird mit dem Prinzip der medialen Kombinationen ein Ausstellungsmodell entworfen und begründet, das aufgrund seines ephemeren und flüchtigen und zugleich konzeptionell-systematischen Charakters, seines fragmentarischen und ganzheitlichen Anspruchs sowie populären und künstlerischen Ausdrucks eine spezifische Universalität und Egalisierung in der Ausstellungssprache hervorruft und dadurch eine Spannbreite an Wahrnehmungen und Deutungen zulässt? Welcher besondere Anteil kommt den neuen Medien, insbesondere dem Film und damit den bewegten Bildern, in diesem Ausstellungskonzept zu, das für sich bereits eine enorme Transitorik und Szenografie beansprucht bzw. erkennen lässt? Zwingt der Film aufgrund seiner spezifischen Gesetzmäßigkeiten letztlich zu einer intermedialen Ausstellungsinszenierung?

2. Seit den 1980er Jahren ist eine intensive Ausstellungstätigkeit im In- und Ausland rund um den Film zu beobachten. Die Filmmuseen, die insbesondere in diesem Zeitraum neu gegründet werden oder aus bestehenden Instituten bzw. Sammlungen und Archiven hervorgehen, sind signifikant für die Aufbruchstimmung dieses „musealen Jahrzehnts“. Mit dieser Gründungswelle korrespondieren außerdem ein im deutschsprachigen Raum einsetzender reflektierter Gebrauch des filmischen Mediums im Ausstellungskontext sowie eine zu beobachtende Historisierung des Films. Trotz dieser allgemeinen Aufbruchstimmung und der damit verbundenen vielfältigen institutionellen Bemühungen um den Film nimmt das Exponieren von Filmen im musealen Kanon dennoch eine sekundäre Rolle ein.7 Ausstellungen bilden daher Subbereiche innerhalb des Aufgabenspektrums der Filmmuseen, deren Arbeit sich primär auf das Sammeln und Dokumentieren, das Archivieren und Restaurieren von Filmen konzentriert.

Ursula: „Vom Salon in den Alltag. Wie Ausstellungen den Blick verändern“, in: Du. Zeitschrift für Kultur, Nr. 5 (2004), S. 44-48. 7 Eine Ausnahme bilden die unter der Leitung von G. Fliedl herausgegebenen Studien der Reihe Museum zum Quadrat. Eberl, Hans-Christian/Friehs, Julia/Kastner, Günther (Hrsg.): Museum und Film. [Museum zum Quadrat 14], Wien 2003.

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Kennzeichnend für die Ausstellungsinszenierungen in Filmmuseen ist die häufige Parallelität von zwei Ausstellungstypen (d.h. Dauer- und Sonderausstellungen). Der Besucher wird dabei in Form eines nach chronologischen oder thematischen Gesichtspunkten gegliederten Rundgangs in Geschichte, Ästhetik und Technik des Films eingeführt. Filmplakate, Drehbücher, Aufzeichnungen, Anleitungen und Filmskizzen, Objekte und Requisiten, technische Apparate und Kulissen sind überwiegend in Vitrinen platziert oder werden in Form von Dioramen und Panoramen raumgreifend inszeniert. Trick- und Filmstudios tragen zusätzlich zu einer „Werkstatt-Atmosphäre“ bei, mit dem Ziel, den Besucher mit „Licht und Schatten, Animation und Klängen“ in ein „Wechselbad von Täuschung und Aufklärung“ zu versetzen.8 Als „Schule des Sehens“ konzipiert, stehen Erlebnis, Spiel und Schaulust im Mittelpunkt aller didaktischer Bemühungen, wobei das Filmmuseum Potsdam hinsichtlich seiner Besucherklientel durch den gezielten Ausweis eines „Familienmuseums“ außerdem auch eine klare soziale Determinierung vornimmt.9 So wie im Filmmuseum in Berlin am Potsdamer Platz bilden ferner Video-Terminals und Multimedia-Stationen, in denen weitere filmrelevante Stichworte bzw. filmografische Angaben abrufbar sind, neben den integrierten Kinoräumen eigene Präsentationsforen. Wird der Film in den Stationen der Ausstellungen der Filmmuseen überwiegend durch filmergänzende und -erläuternde Materialien, d.h. durch schriftliche und bildliche Quellen und Objekte inszeniert, präsentiert und erläutert, wodurch die Ausstellungen einen gleichsam paratextuellen Charakter erhalten, bildet sich in den zumeist integrierten Kinoräumen eine eigene, ‚authentisch‘-filmische Atmosphäre aus, die im wesentlichen durch den Aufführungscharakter hervorgerufen wird. Der Kinoraum, als eine weitere Station des Rundgangs in der Ausstellung, initiiert neben der körperlichen auch eine visuelle und akustische Erfahrung zwischen Medium und Besucher. Er organisiert und strukturiert außerdem Bewegung und Wahrnehmung, die in dem „atmosphärischen Raum“ des Kinos zudem ein spezifisches Wirkpotential entfaltet.10 Während der Ausstellungsraum den Besucher zu körperlicher Bewegung und Erkundung der Inhalte motiviert, kommt diese Bewegung im verdunkelten Kinoraum zunächst zum Stillstand. Die Konzentration auf das Gehen und Sehen wird im Kinoraum in eine Zentrierung auf visuelle und akustische Wahrneh8 Zit. nach Filmmuseum Düsseldorf, Begleitmaterial (2004). 9 www.filmmuseum-potsdam.de/ausstellungen 17.1.2005. 10 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik der Performanz, Frankfurt/Main 2004, bes. S. 188ff.

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mungen ohne weitere körperliche Partizipation transformiert. Ausstellungsraum und Kinoraum beanspruchen in ihrer Räumlichkeit unterschiedliche Ausstellungsgesten, die wiederum mit unterschiedlichen Zuschauerführungen und -erfahrungen korrespondieren. Bemerkenswert ist, dass die Ausstellungsinszenierungen in den Filmmuseen weniger an den Eigengesetzlichkeiten des Films anknüpfen. So ist allgemein zu beobachten, dass der Film vielmehr durch den Einsatz von zusätzlichen Quellen (Objekte, Fotografien und Texte) sowie durch ausstellungsbegleitende Materialien (Führer, Kataloge) kommentiert und präsentiert wird und dadurch ein Substitut innerhalb einer insgesamt dokumentierenden und informierenden Präsentationsform repräsentiert. Diese Form der ‚Rhetorisierung‘ des Films in der Inszenierungspraxis der Filmmuseen korrespondiert zugleich mit einer Separierung von Ausstellungsraum und Kinoraum, wodurch das Spektrum der Erfahrbarkeit und des Erlebnisses des Mediums Film letztlich einer genauen Abfolge, Ordnung und Logik unterliegt. Kann die skizzierte Form der Inszenierung von Filmen im musealen Kontext als paradigmatisch innerhalb der Ausstellungskultur betrachtet werden, so lässt sich neuerdings ein modifizierter Umgang mit Filmen in Ausstellungen erkennen, für den die Ausstellung Kubrick ausstellen als beispielhaft gelten kann. Die Ausstellung, die in Kooperation zwischen dem Deutschen Filmmuseum und dem Deutschen Architektur Museum (Frankfurt/Main) entstanden ist und im Frühjahr 2004 präsentiert wurde, basiert auf Teilen des umfassenden Nachlasses des Regisseurs.11 Dieser Nachlass scheint mit Blick auf die Konzipierung der Ausstellung und deren kuratorische Umsetzung von besonderer Bedeutung zu sein. So wurden Kubricks Filme, ferner die zahlreich überlieferten Manuskripte, Fotos, Bildkonvolute, Skizzen, Zeichnungen, Plakate, Texte, Kostüme etc. nicht nur als filmerläuterndes und -dokumentierendes Material verwendet, sondern der Nachlass von Kubrick ist als das verstanden und produktiv genutzt worden, was er repräsentiert: nämlich als Sammlung bzw. als Archiv. In dieser Weise gibt der Kubrick-Nachlass nicht nur Auskunft über die mannigfaltige Vielfalt des Quellenmaterials, die der Regisseur eigens zu den einzelnen filmischen Projekten 11 Die Ausstellung wurde vom 30. März bis 4. Juli 2004 präsentiert. Näheres unter www.deutsches-filmmuseum.de, 13. 5. 2004; s. auch Kubrick, Christiane: Stanley Kubrick – A Life in Pictures, London 2002; Deutsches Filmmuseum Frankfurt/Main (Hrsg.): Stanley Kubrick. Kinematograph, Nr. 19/2004 (Ausstellungskatalog). Lüttiken, Sven: „Liebe, Arbeit, Kino. Unvollendetes, Offenes. Stanley Kubrick im Filmmuseum Frankfurt/Main“, in: Texte zur Kunst, Jg. 14, Heft 55 (2004), S. 128-133.

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recherchiert, zusammengetragen und entsprechend geordnet hat. Der Nachlass symbolisiert vielmehr ein biografisches Projekt, in dem Filmgeschichte und Lebensgeschichte, filmische Einstellung und persönliche Haltung aufs engste mit einander verwoben sind. Die Ausstellung, die im Konzept der ‚Landkarte‘ bzw. als ‚Labyrinth‘ angelegt wurde, verzichtet daher auf die bislang übliche Trennung von filmdokumentierenden und -erläuternden Quellen, von Ausstellungsraum auf der einen Seite und Kinoraum auf der anderen Seite, indem für die Inszenierung ein synästhetisches Konzept reaktiviert wird. Obwohl die Kuratoren der Ausstellung (Hans-Peter Reichmann, Bettina Rudhof und Falk Horn) traditionell das Prinzip des Rundgangs (Parcours) aufgegriffen haben, ist dieser dennoch so konzipiert, dass das Zusammenspiel von Originalen und räumlichen Inszenierungen, in denen Atmosphären aus Kubricks Filmen versinnbildlicht werden, transparent wird.12 Der rein faktenorientierte, dokumentierende Charakter der Ausstellung, der im wesentlichen durch die Präsentation von Primärmaterialien aus dem Nachlass des Regisseurs hervorgerufen wird, erhält durch die Verdichtung multimedialer und szenischer Installationen aus Film, Ton, Licht und Musik eine neue Gewichtung. Ausstellungsraum und Kinoraum treten in dieser Ausstellungsinszenierung in eine neue Konstellation zueinander und bilden dadurch ein eigenes performatives Potential sowie eine spezifische Räumlichkeit aus. Diese Transitorik führt inszenatorisch zu einem Nebeneinander unterschiedlicher Medien, was wiederum eine Zirkulation von unterschiedlichen Raumerfahrungen bzw. Erfahrungsräumen im Ausstellungskontext bewirkt. „In ihrem Raum und mit ihren Bauten schafft die Ausstellung damit ihre eigenen Bildwelten. Diese Installationen erheben allerdings einen reflexiven und keinen künstlerischen Anspruch, wollen Zugänge öffnen in die Bildwelten Stanley Kubricks. Sie kombinieren ausgewählte Requisiten mit einprägsamen Fotografien und verdichten Situationen aus Kubricks Werken, die so zum pars pro toto des jeweiligen Films werden sollen.“13 Dieser Sachverhalt wiederum kann mit dem Begriff des sogenannten ‚Zwischenraums‘ umschrieben werden, für den eine Überlagerung bzw. ‚Überblendung‘ von realen und imaginierten Räumen sowie von Medien und Kunstwerken 12 Voraus geschickt sei die Anmerkung, dass der Beitrag zur Ausstellungsplanung und -inszenierung in dem bereits zitierten Katalog Stanley Kubrick im Vergleich zu den übrigen Beiträgen sich auf vier Seiten erstreckt. Horn, Falk/Rudhof, Bettina: „Bilder ins Hirn. Kubrick ausstellen“, in: Deutsches Filmmuseum Frankfurt/Main (Hrsg.): Stanley Kubrick. Kinematograph, Nr. 19/2004 (Ausstellungskatalog), S. 14-17. 13 Deutsches Filmmuseum Frankfurt/Main (Hrsg.): Stanley Kubrick, S. 15.

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kennzeichnend ist.14 Beispielhaft für die angesprochenen medialen Überlagerungen ist die in der Ausstellung präsentierte Installation zu BARRY LYNDON, einem 1975 entstandenen Film Kubricks, der zur Zeit der Französischen Revolution spielt. Mit den filmisch dargestellten Schlachtenordnungen zitiert Kubrick malerische Darstellungen von Krieg und Angriff aus dem 18. Jahrhundert und übersetzt dadurch den filmischen Inhalt in einen neuen Bildraum.15 In der Ausstellungsinstallation greifen die verantwortlichen Kuratoren das Vorbild des Malerischen auf und inszenieren den Raum durch Film- und Videoprojektionen wie ein gerahmtes Ölgemälde.16 Der Bezug zur Malerei bzw. das Aufgreifen formaler und inhaltlicher bildnerischer Elemente findet sich ferner auch in der für Film und Ausstellung gleichermaßen gewählten Form des Triptychons (so etwa die 1929 entstandene Arbeit Der Krieg von Otto Dix). Das innovative Potential der in Frankfurt gezeigten Filmausstellung ist insbesondere im Verzicht auf eine umfassende, dokumentarische Präsentation und in einer gezielten Konzentration auf solche Motive und Leitaspekte zu sehen, die für die Biographie und für das Filmwerk Kubricks gleichermaßen kennzeichnend sind. Dadurch erhält die Ausstellung eine konzeptionelle Geschlossenheit, ohne jedoch geschlossen bzw. abgeschlossen zu wirken. Am Beispiel des Archivgedankens lässt sich dieses Moment verdeutlichen: Kubricks Leidenschaft für das Recherchieren, Sammeln, Ordnen und Registrieren von Materialien steht stellvertretend für seinen Perfektionismus und symbolisiert zugleich eine spezifische Form des Umgangs mit Geschichte. Das Anlegen von handgeschriebenen 14 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit Fischer-Lichte: Ästhetik der Performanz, bes. S. 199f. 15 Auf diesen Sachverhalt des Vor- und Nachbildes bezieht sich u.a. auch Götz Großklaus. So setzt er eine Landschaftsszene aus IM LAUF DER ZEIT (1976) von Wim Wenders in direkte Beziehung zu Caspar David Friedrichs Landschaftsbild Das Eismeer (1823/24), wobei sich der damit angesprochene symbolische Gehalt des Eis-Topos als Ausdruck für die gesellschaftliche Hoffnungslosigkeit in einer Reihe von Filmen aus der Zeit nachweisen lässt. Großklaus, Götz: Medien-Zeit. Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt/Main 1995, bes. S. 178f. Vgl. dazu auch Texte zur Kunst. Was will die Kunst vom Film, Jg. 11, Heft 43 (2001). 16 „Im Spiel von Schein und Wirklichkeit reflektiert die Installation die bildlichen Mittel des Films, der seine Handlung den Zuschauern umso mehr entrückt, als er sich um vollständige Authentizität bemüht. Je weiter die Erzählung in die filmische Rekonstruktion ihrer historisch gewordenen Welt zurückgenommen wird, desto mehr treten einzelne Bilder hervor, die den Abstand der Zeit überbrücken“. Zit. n. Horn/Rudhof: Bilder ins Hirn, S. 17.

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Karteikarten, wie z.B. für das gescheiterte ‚Napoleon-Projekt‘, auf denen Kubrick jeden einzelnen Tag aus dem Leben Napoleons dokumentierte, gleicht einem wissenschaftlichen Verfahren. Die Karteikästen, die einen ganzen Raum ausfüllen, besitzen zur digitalen Form der Archivierung, wie etwa durch den Film, einen geradezu archaischen Charakter, der durch das Prinzip von Reihung und Serie auf der einen Seite und einer spezifischen Räumlichkeit auf der anderen Seite zusätzlich potenziert wird. Mit den Karteikästen etabliert Kubrick zugleich eine spezifische Form von Datenraum, d.h. eine gleichsam stabile Architektur aus Informationen, in der die Karteikarten ein materiell fassbares und ortsgebundenes Ordnungssystem ausbilden, das auf dem Gestus des Sammelns, Beschriftens, Kommentierens und Einlagerns basiert. Demgegenüber stellt der Film eine Aufbewahrungsform dar, die sich aufgrund der Medialisierung einer solchen Anschaulichkeit entzieht. Der Film repräsentiert einen transportablen digitalen Gedächtnisspeicher, in dem die gespeicherten Bilder ein architektonisches Bildsystem entfalten.17 Der besondere Wert dieser Ausstellung ist daher insbesondere auf die Umschichtung von konventionellen Elementen zurückzuführen, die im Gesamtarrangement eine Neukonfiguration des Ausgestellten bewirken. Das Dispositiv der Ausstellung führt biografische und filmästhetische Aspekte zusammen und rückt vor allem mnemotechnische Verfahren in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wodurch der Schauwert der Inszenierung und der Erlebniswert des Besuchers reguliert und gesteuert werden.

3. Die Beziehung zwischen Ausstellung und Film, die ebenso wie die zwischen Ausstellung und Fotografie bislang kaum oder gar nicht Gegenstand kunst- oder medienwissenschaftlicher Disziplinen ist,18 lässt sich innerhalb des expositionellen Spektrums auf unterschiedlichen Ebenen diskutieren: Neben der Präsentation von Filmen im musealen Kon17 Kilb, Andreas: „Die Schatzkammern des Kinogenerals“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 78, 1. April 2004, S. 37. 18 Was macht das Foto im Museum? – mit dieser Frage rückt z.B. Cornelia Brink polemisch das Verhältnis zwischen der Fotografie und der Ausstellung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung und zeigt, dass der jeweilige Ausstellungskontext über die Form der Diskursivität und Lesbarkeit fotografischer Bilder mit entscheidend ist. Brink, Cornelia: „Bilder einer Ausstellung. Einige Fragen zu Fotografien im Museum“, in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 93 (1997), S. 217-233.

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text in einer Dauerausstellung (z.B. Filmmuseum) oder in Sonder- und Wechselausstellungen (Filmausstellungen) entwickelt sich mit dem verstärkten Einsatz des bewegten Bildes (Künstlerfilme, Videokunst) in Relation zu klassischen künstlerischen Ausdrucksformen ein neues autonomes Forum, das sogenannte Medienmuseum. Mit dieser Institution findet zugleich eine Neubestimmung des Museums, der Ausstellung und des Ausstellens auf der einen Seite sowie eine interdisziplinäre Beschäftigung und Reflexion mit dem filmischen Medium auf der anderen Seite statt. Einen weiteren, in diesem Zusammenhang bislang ebenfalls nur marginal behandelten Bereich stellt die Filmarchitektur dar,19 die mit Mitteln und Techniken der angewandten und darstellenden Künste operiert und in ihrer Szenografie wiederum eigene inszenatorische Qualitäten im Medium Film ausbildet.20 Darüber hinaus lassen sich expositionelle bzw. museale Formen auch an das filmische Medium zurück binden, d.h. Motive von Sammlung und Archiv, Geschichte und Zeit, Erinnerung und Wahrnehmung in filmischen Werken analysieren, wie sie z.B. auch für das Filmschaffen und das Filmwerk Akira Kurosawas signifikant sind.21 Die Diskussion der indexikalischen Beziehung zwischen Ausstellung und Film bedarf selbstverständlich einer differenzierteren Genretheorie, als es in diesem Zusammenhang zu leisten ist. So wäre sicherlich eine genauere Unterscheidung zwischen Erzähl-, Avantgarde- und Doku19 Ein bemerkenswertes Beispiel ist der Filmarchitekt Ken Adams, der für die gebauten Architekturen in den James-Bond-Filmen sowie in einigen Filmen von Stanley Kubrick verantwortlich war. Für den Film über den Komponisten und Dirigenten Wilhelm Furtwängler von István Szabó ließ Adams sogar im Bode-Museum in Berlin drehen und setzte hier die Museumsarchitektur im Film ein. Für die Millenniums-Ausstellung Sieben Hügel (Martin-Gropius-Bau, Berlin 1999) wurde Ken Adams für die Ausstellungsarchitektur engagiert, die unverkennbar seinen monumentalen Stil erkennen lässt. 20 In seinen Kommentaren zu zeitgenössischen Abhandlungen, vor allem mit Blick auf eine Studie von Herbert Tannenbaum zur Filmästhetik von 1912, spricht Jörg Schweinitz von unterschiedlichen, im Film angelegten Stilisierungsebenen. Neben Handlung und Mimik stellt er die szenische Anordnung vor, womit die Komposition der Filmbilder gemeint ist. Kulisse, Aufbau, Bildstil und Motive der Bilder, so Schweinitz, lassen außerdem Anleihen in der Bildenden Kunst erkennen. Begleiteten Maler oder Zeichner die frühen filmischen Arbeiten, so waren es in der Folgezeit die Filmarchitekten, die diese gestalterischen Aufgaben übernahmen. Zit. nach Schweinitz, Jörg (Hrsg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 19091914, Leipzig 1992, bes. S. 293f. 21 Deutsches Filmmuseum Frankfurt/Main (Hrsg.): Akira Kurosawa. Kinematograph, Nr. 18/2003 (Ausstellungskatalog).

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mentarfilm bzw. Künstlerfilmen und -videos angebracht, wie sie z.B. Mark Nash für die Darlegung seiner Argumentation vornimmt. 22 Seine Ausführungen können stellvertretend für eine Reihe neuerer Arbeiten betrachtet werden, die den Einsatz von bewegten Bildern im Ausstellungskontext mit Blick auf die Interventionen neuerer Technologien diskutieren und dabei den besonderen Einfluss des Kinos, respektive der bewegten Bilder auf künstlerische Strategien der Gegenwart hervorheben.23 Ist mit den Begriffen Inszenierung, Montage, Installation, Wirklichkeitskonstruktion, Schauwert usw. ein vorläufiges Spektrum an strukturellen Motiven und Gemeinsamkeiten zwischen Ausstellung und Film angerissen, so lässt sich die Beziehung insbesondere hinsichtlich neuerer medientheoretischer und -anthropologischer Ansätze sowie der These des Medienumbruchs weitaus effektiver beleuchten. Am Beispiel von Kinoraum und Ausstellungsraum, von Betrachter- und Bildbewegung soll abschließend vor dem Hintergrund spezifischer wahrnehmungsrelevanter Konsequenzen zugleich der mediale Mehrwert einer intermedialen Ausstellungsinszenierung reflektiert werden.24

4. Der gegenwärtige Diskurs über Museum und Ausstellung besitzt immer noch den Duktus einer insgesamt skeptischen bis krisenhaften Bewertung von bewegten Bildern im Ausstellungsraum. Insbesondere die medienkünstlerischen Praktiken, die mit neuen zeitlichen, räumlichen und visuellen Strategien operieren, haben vor allem das Museum zu einer Überprüfung seines traditionellen institutionellen Selbstverständnisses herausgefordert. Die vielfach diagnostizierte ‚Museumskrise‘ infolge der Verlagerung von bewegten, also alltäglichen und damit auch öffentlichen Bildern in das Museum habe, so der Grundtenor der Kritik, nicht nur zu einer Konkurrenz gegenüber den avancierten Künsten und damit zu einer Demokratisierung der Institution, sondern auch zu einem Verlust von 22 Nash, Mark: „Bildende Kunst und Kino. Einige kritische Betrachtungen“, in: documenta 11_Plattform 5: Ausstellung. Katalog, documenta/Museum Fridericianum (Hrsg.), Ostfildern-Ruit 2002, S. 128-136. 23 Vgl. auch Jenkins, Bruce: „The Machine in the Museum or the Seventh Art in Search of Authorization“, in: Witte de With, Centre for Contemporary Art, Rotterdam/Düsseldorf 1995. 24 Diese Beziehungskonstellation beleuchtet Boris Groys mit Blick auf die Konsequenzen des Einsatzes bewegter Bilder auf die museale Institution. Groys, Boris: „Medienkunst im Museum“, in: ders.: Topologie der Kunst, München/Wien 2003, S. 59-76 und S. 175f.

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Kontemplation und Muse geführt. So fordern Video- oder Kinoinstallationen im Museum ein Sehen, Handeln und eine Bewegung ein, die den Praktiken unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit entsprechen. Der traditionelle auratisch-kontemplativ geprägte Kunstkonsum, der mit dem Ort des Museums und dem Tafelbild aufs engste verbunden ist bzw. war, muss angesichts der Dynamik der bewegten, insbesondere der digital erzeugten Bilder, ihrer Hybridität, Zeitlosigkeit, Omnipotenz und Diskursferne sowie ihrer installativen Präsentation in verdunkelten Ausstellungsräumen neu organisiert werden. Dieser Wandel manifestierte sich bereits in den 1990er Jahren in einer verstärkten Diskussion um die Technologie des Digitalen und die Eroberung des Körpers. Im musealen Bereich lässt sich gegenwärtig eine verstärkte Thematisierung konzeptioneller Ansätze und kuratorischer Praktiken sowie ein Rückgriff auf historische Ausstellungsmodelle beobachten, womit zugleich eine terminologische Unschärfe korrespondiert.25 Konnte der Museumsbesucher Zeit und Rhythmus im Museum bislang autonom bestimmen und damit auch Zeit und Gesten seiner Aufmerksamkeit eigenständig organisieren und verwalten, so setzt, wie Boris Groys dies treffend analysiert, mit den neuen medialen Kunstformen ein Autonomieverlust ein, d.h. die bewegten Bilder diktieren dem Museumsbesucher die Zeit der Betrachtung. Wenn wir während eines Museumsbesuchs die Kontemplation einer Video- oder Kinoarbeit abbrechen, um später zu ihr zurückzukehren, überkommt uns unausweichlich das Gefühl, etwas Entscheidendes versäumt zu haben und nicht mehr zu wissen, was in dieser Installation eigentlich vor sich geht. [...] Eine Video- oder Kinoinstallation im Museum hebt also das Bewegungsverbot, das die Betrachtung dieser Bilder im Kino bestimmt, radikal auf – Bilder und Zuschauer erhalten die Erlaubnis, sich gleichzeitig zu bewegen. Offensichtlich entsteht dadurch eine Lage, in der die kontradiktorischen Erwartungen eines Kinobesuchs und eines Museumsbesuchs in einen deutlichen Konflikt geraten – und den Be25 Vgl. zusammenfassend Hemken, Kai-Uwe (Hrsg.): Bilder in Bewegung. Traditionen digitaler Ästhetik, Köln 2000. Beispielhaft für die angesprochene terminologische Indifferenz ist der aus der Institutionskritik durch künstlerische Positionen und Arbeiten abgeleitete Begriff „Arena“. Demzufolge erweist sich das Museum als sowohl Macht ausübende wie auch wechselnden Machtverhältnissen unterworfene Institution, „in der sich jeweils spezifische gesellschaftliche Widersprüche abbilden“. Das Museum kann daher nicht mehr als „Muse“, sondern gegenwärtig als „Arena“ verstanden werden. Kravagna, Christian/Kunsthaus Bregenz (Hrsg.): Das Museum als Arena. Institutionskritische Texte von KünstlerInnen, Köln 2001, bes. S. 7-9.

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sucher der Installation in den Zustand des Zweifels und der Ratlosigkeit versetzen.26

Während der Kinoraum im klassischen Sinne durch die Mobilität der Bilder auf der Leinwand gekennzeichnet ist, die mit einer Immobilität des Betrachters korrespondiert, der dadurch wiederum eine Verwandlung in einen „geistigen Automaten“ vollzieht,27 kehrt sich dieses Verhältnis im Ausstellungsraum um: Die vielfach auf unterschiedlichen Monitoren im Raum verteilte Medieninstallation, die sich aus fragmentierten, sich permanent wiederholenden Bildsequenzen zu einem Rhizom zusammenfügt und eine narrative Struktur ausbildet, setzt auf eine Parallelität von Bild- und Betrachterbewegung.28 Der dynamische, installative Charakter der Medienkunst, insbesondere die enge Verflechtung zwischen TechnikRaum-Betrachter, zwingt den Ausstellungsbesucher dazu, seinen Standort im Raum permanent zu wechseln. Der Betrachter, so Groys, lerne auf diese Weise die variablen Parameter der Medienbilder kennen und beginne dadurch auch letztlich den Film auf eine mehrdimensionale, analytischere und letztlich auch kritischere Weise zu konsumieren. Bereits Georg Lukács bezieht sich in seinem kanonischen Aufsatz von 1911 auf das Wesen des Kinos, das er in der Bewegung, in der Veränderung und Veränderlichkeit, d.h. im „nie ruhenden Wechsel der Dinge“ im Bild sieht.29 Die Bilder repräsentieren auf der Filmleinwand ein „anderes Leben“, das durch das Fehlen von Kausalitäten, Hintergründen und Perspektiven gekennzeichnet ist und dadurch letztlich, so Lukács, seelenlos sei. Auch Walter Benjamin nimmt am Beispiel des Wechsels der Einstellungen im Film Bezug zu den beweglichen Bildern und spezifiziert am Beispiel der Veränderungen in Bewusstsein und Wahrnehmung seine These vom choc.30 Die Übertragung filmimmanenter Eigengesetzlichkeiten auf das Medium der Ausstellung erscheint insbesondere vor dem Hintergrund des Moments der Bewegung von Relevanz. Dieses Moment ist allerdings 26 Groys: „Medienkunst im Museum“, S. 61f. 27 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 2, Frankfurt/Main 1991, bes. S. 205f. 28 Zum Aspekt des Erzählens in unterschiedlichen Medien s. Stories. Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst (Ausstellung im Haus der Kunst München, 28. März bis 23. Juni 2002), Rosenthal, Stephanie (Hrsg.), Köln 2002. 29 Lukács, Georg: „Gedanken zu einer Ästhetik des ‚Kino‘“ (Fassung 1911), in: Schweinitz: Prolog vor dem Film, S. 300-305. 30 Benjamin, Walter: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt/Main 1977, S. 164f.

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SABIENE AUTSCH

nicht nur auf die Präsenz von bewegten Bildern in einer Film- bzw. Videoinstallation sowie einer damit korrespondierenden Zuschauerhaltung bzw. körperlichen Bewegung im Ausstellungskontext zurück zu führen, wie z.B. Boris Groys es idealtypisch benennt. Bereits der eingangs skizzierte Ausstellungstypus von 1937, der seine Qualität vor allem daraus bezieht, dass traditionelle und neue Medien unter Einbeziehung des Betrachters in neue Konfigurationen treten bzw. neue Konfigurationen mobilisiert werden, entfaltet als Wand- bzw. Raummontage ein hochgradig dynamisches Potential. Eine in der Gestalt intermedial ausgerichtete Ausstellungsinszenierung bildet eigene diskursive Strukturen aus, die mediale Innovationen zugleich aber auch an tradierte Konzepte und Ästhetiken rückbindet, so dass Text und Bild, Handlung und Geschichte, Ereignis und Erinnerung, Raum und Körper in neue Konstellationen zueinander treten. Diese Form der Neukonfiguration bedingt außerdem ein intensives Nachdenken über konzeptionelle Ansätze und fordert ein neues Verständnis kuratorischer Praktiken ein, die, wie Mark Nash mit Blick auf die documenta 11 betont, an den jeweiligen diskursiven Schnittstellen ansetzen und dadurch über den eigentlichen Museumsbzw. Ausstellungskontext hinausweisen müssen. Kuratoren und Künstler, denen es um die Dekonstruktion und Rekonstruktion der Zuschauerhaltung ging, waren daher genötigt, Ansätze zu finden, die sich nicht auf das Architektonische beschränken. Die Konstruktion und Problematisierung des Subjekts erfordern eine Reihe diskursiver Schnittstellen, wobei die kuratorische Praxis eine wesentliche Rolle gespielt hat bei der Erschließung der Bedeutung einzelner Werke im Rahmen komplexer diskursiver Systeme, die unausweichlich auch über den Ausstellungskontext hinausgehen.31

Ein zentraler Faktor für die Ausweitung des Ausstellungsformats ist vor allem in jenen künstlerischen Strategien und medialen Ausdrucksformen zu sehen, die sich im Umfeld der Foto-, Film- und Videokunst entwickelt und durch ihren installativ- räumlichen Charakter ein neues Verständnis von Raum, Bild und Bildlichkeit bewirkt haben. Ausstellungsort und Ausstellungsraum verlieren mit dem Einzug neuer Technologien in museale Kontexte an topografischer Prägnanz und räumlicher Kontur, durchlaufen gleichzeitig durch sie eine Transformation dahingehend, dass z.B. der Ausstellungsraum nicht schlichtweg aufgelöst wird, sondern gegenwärtig durch die Einbeziehung des Betrachters und des jeweiligen urbanen Umfeldes als „sozialer Raum“ (Möntmann) bzw. als 31 Nash: „Bildende Kunst und Kino“, S. 131.

FILME AUSSTELLEN

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flexibler und situativ veränderbarer „Handlungsraum“ (v. Bismarck) verstanden wird.32 Beispielhaft für die Notwendigkeit der Ausweitung des Ausstellungsformats infolge medientechnischer Entwicklungen und -künstlerischer Strategien ist die von Okwui Enwezor und seinem Kuratorenteam konzipierte documenta 11, die in Form von Plattformen angelegt war und darin „eine Konstellation disziplinärer Modelle [repräsentiert], die fortlaufende historische Prozesse und radikale Veränderungen, räumliche und zeitliche Dynamiken, Aktionsfelder und Denkbereiche sowie Interpretations- und Produktionssysteme zu erklären und zu hinterfragen versuchen [...].“33 Der Medienwandel und die damit verbundenen neuen Medienkonstellationen, die auf der Großausstellung der d11 in der Durchquerung von Kontinenten und Städten, Standorten, Disziplinen und Medien zudem eine „dialektische Interaktion mit heterogenen, transnationalen Publikumskreisen schafft“, definieren zugleich den Horizont einer Ausstellung neu. Neue und alte Medien, Originale und Reproduktionen treten ebenso wie Außen- und Innenraum in neue Beziehungen zueinander und bilden in und durch die Inszenierung eigene, paritätische Konfigurationen und Lesarten aus. Die Ausstellung scheint gerade wegen ihrer historischen Anschlussfähigkeit, ihrer zeit- und raumkonzentrierenden Qualität sowie aufgrund ihres inszenatorischen Charakters ein besonders gut geeignetes Medium für die Intermedialität von alt und neu zu sein, auch deswegen, weil diese Differenz zugleich eine mediale Selbstreflexion aktiviert, die wiederum für Medienumbrüche kennzeichnend ist. Das für Ausstellungen gegenwärtig repräsentative Denkgebäude der Konstellation, der Passage oder Landkarte schreibt in wesentlichen Teilen den von Kracauer vorgestellten Ausstellungstypus räumlich und ästhetisch weiter fort und macht dadurch letztlich auch die Notwendigkeit einer intermedialen Ausstellungsinszenierung besonders für das filmische Medium deutlich.

32 S. hierzu Möntmann, Nina: Kunst als sozialer Raum. Andrea Fraser, Martha Rosler, Rirkrit Tiravanija, Renée Green (Kunstwissenschaftliche Bibliothek, Band 18), Köln 2002. 33 Enwezor, Okwui: „Die Black Box“, in: documenta 11_Plattform 5, S. 4255.

„EINE KUNST DER ZEIT – WIE DIE MUSIK.“ EIN GESPRÄCH KUROSAWAS1

MIT

MITARBEITERN AKIRA

Yoshiro Muraki (Ausstattung) Masanobu Deme (Regie) Teruyo Nogami (Script) Tadao Sato (Filmkritiker) Prof. Masato Izumi, Keio-Universität, Tokyo (Moderation)

Izumi: Sie alle haben in verschiedenen Phasen mit Kurosawa gearbeitet. Wann haben Sie mit ihm zusammen gearbeitet? Muraki: Als Assistent habe ich seit YOIDORE TENSHI (1948; Engel der Verlorenen), als Ausstattungsleiter ab IKIMONO NO KIROKU (1955; Ein Leben in Furcht) bis zu seinem letzten Film MADADAYO (1993; Madadayo – Noch nicht) in über 15 Filmen mit Kurosawa zusammengearbeitet. Ich habe aber bei den Filmen, die Kurosawa nicht bei der Produktionsfirma Toho gedreht hat, wie z.B. RASHOMON (1950; Rashomon – Das Lustwäldchen), HAKUCHI (1951; Der Idiot) oder DERSU UZALA (1975; Uzala, der Kirgise), nicht mitgewirkt. Deme: Ich habe als Regieassistent in der mittleren Schaffensphase Kurosawas mitgearbeitet, also bei den vier Filmen YOJIMBO (1961; Yojimbo – 1 Das Gespräch wurde am 21.11.2003 während der Tagung „Akira Kurosawa und seine Zeit“ an der Universität Siegen (19.-21.11.2003) für diesen Band aufgezeichnet.

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der Leibwächter), TSUBAKI SANJURO (1962; Sanjuro), TENGOKU TO (1963; Zwischen Himmel und Hölle) und AKAHIGE (1965; Rotbart). Bei Kurosawas Dreharbeiten gab es normalerweise vier Regieassistenten, und ich war meistens zweiter oder dritter Regieassistent. Meine Aufgabe war z.B., die Klappe zu schlagen und dann schnell zu verschwinden, untergeordnete Arbeiten also.

JIGOKU

Nogami: Ich habe früher als sogenannter ‚Scripter‘ gearbeitet. Ich habe bei RASHOMON im Kyoto-Daiei-Filmverleih angefangen; dann war ich bis zu MADADAYO immer dabei (außer bei HAKUCHI, der bei Shochiku produziert wurde, und TORA! TORA! TORA!, 1970). Bei RASHOMON war ich noch Anfängerin und hatte überhaupt keine Ahnung und Erfahrung. Dementsprechend war ich ein wenig nutzlos. Izumi: Frau Nogami, Sie haben bei RASHOMON mitgearbeitet. Was war Ihr Eindruck? Nogami: Mein erster Eindruck von Akira Kurosawa: Er war gerade 40 und ich war 23 Jahre alt, er war ein richtig schicker Typ aus Tokyo und sah auch sehr attraktiv aus. Aber am Ende machte er einem nur noch Angst. Ich kann über technische Sachen nur wenig sagen. Aber bei RASHOMON hatte ich den Eindruck, dass Licht und Schatten ihn völlig in Anspruch genommen haben. Der Film wurde im Jahre 1950, nur fünf Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, gedreht, und so gab es nur wenig zu essen. Ich lernte zum ersten Mal ein ‚dry curry‘ (Reispfanne mit Curry) kennen. In der unmittelbaren Umgebung von Kurosawa wurde relativ üppig gegessen, aber für uns war schon die Verpflegung während der Dreharbeiten eine richtig gute Mahlzeit, auf die wir uns freuten. Um Licht- und Schatteneffekte zu erzielen, setzte Kurosawa mehrere Spiegel ein. Sämtliche Schatten wurden künstlich erzeugt. In der Sequenz am Anfang, in der Takashi Shimura als Holzfäller immer tiefer in den Wald marschiert, wurden Blätter und Zweige ganz nah an ihn herangehalten, weil natürliche Schatten im Film nicht gut herauskommen. Über die ganze Strecke wurde ein Netz gespannt, und darauf wurden zusätzliche Blätter und Zweige gelegt. In der wichtigen Sequenz, in der Toshiro Mifune (Tajumaru) zum ersten Mal Frau Kyô sieht („hätte der Wind doch nicht geweht“), hebt sich ihr Schleier leicht im Wind, und der Schatten von Blättern auf dem Gesicht Mifunes bewegt sich mit der Musik. Das erzeugt einen sinnlich eindrucksvollen Effekt.

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Was die Kussszene zwischen Mifune und Frau Kyô (Abb. 1) betrifft: Für das japanische Publikum war eine Kussszene damals sehr aufregend. Schon wenn das japanische Wort für Kuss auf dem Titel des Films auftauchte, strömten die Leute ins Kino, auch wenn der Film an sich gar nicht so gut war. Diese Sequenz ist auch deswegen bekannt, weil man zum ersten Mal eine Kamera gegen die Sonne gehalten hat. Diesen Kamerawinkel konnte man nur in Untersicht erzielen. So baute man ein erhöhtes Gerüst, auf dem die beiden Schauspieler dann standen. Mifune war schon am Abend vorher aufgeregt und meinte: „Heute esse ich keinen Knoblauch und trinke nicht!“

Abb. 1

Abb. 2

Izumi: Der Film ist bekannt geworden, weil er zeigte, dass die Wahrheit nicht eindeutig bestimmt werden kann. Doch er kam zunächst in Japan nicht gut an. Nogami: Der Film wurde mit etwas Befremdung aufgenommen, das war alles. Izumi: Aber dann erhielt Kurosawa den Filmpreis der Biennale von Venedig. Hat sich dadurch seine Position in Japan geändert? Nogami: Nicht nur seine Position, sondern die Position des japanischen Films insgesamt! Unglücklicherweise hatte Kurosawa mit RASHOMON keinen großen Erfolg, und sein nächster Film HAKUCHI, den er bei Shochiku gedreht hat, bekam sehr schlechte Kritiken und hatte wenig Erfolg. Andere Filmprojekte wurden abgelehnt. Er war sehr niedergeschlagen, und diese Preisverleihung kam dann wie von einer Glücksgöttin. Das war eine große Wende für Kurosawa, und danach bekam er Aufträge von mehreren Studios.

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Izumi: RASHOMON ist ein Meisterwerk. Aber die Hälfte dieser Leistung ist sicher Herrn Matsuyama, dem Lehrmeister von Herrn Muraki, und seinen Kulissen zu verdanken. Wie kommt es, dass das Tor in RASHOMON (Abb. 2) so verfallen aussieht, Frau Nogami? Nogami: Es sollte ein altes Tor sein. Das eigentliche Problem war aber die Höhe. Das Tor war 33 Meter breit, 22 Meter tief und 20 Meter hoch. Es wäre umgekippt, wenn der obere Teil zu schwer geworden wäre, und deshalb hat man ihn so verfallen aussehen lassen. Izumi: Da wir gerade bei der Ausstattung sind: Wie war es bei IKIRU, Herr Muraki? Haben Sie alle Sets gebaut? Hatten Sie für die Gasthausszene ein Modell, oder war es ganz Ihre eigene Idee? Muraki: Ich war damals noch Ausstattungsassistent. Es gab ein Gebäude in Shinbashi, einem Bezirk von Tokyo, das ich als Modell genommen und nachgebaut habe. Prof. Kozo Hirao (aus dem Publikum): Man merkt an Filmen wie KUMONOSU-JO (1957; Das Schloss im Spinnwebwald) oder RAN (1985; Ran), dass Kurosawa eine enge Beziehung zu Shakespeare hatte – und auch zur russischen Literatur, wie seine Verfilmung von Dostojewskis Der Idiot zeigt. Zur deutschen Literatur scheint Kurosawa keine Verbindung gehabt zu haben. Aber die Sequenz in dem Vergnügungsviertel hat mich an die Walpurgisnacht in Faust erinnert. In IKIRU taucht an dieser Stelle ein schwarzer Hund auf; darauf sagt Yunosuke Itô „ich übernehme die Rolle des Mephistopheles“. Der Name ‚Mephistopheles‘ wird in der japanischen Version tatsächlich ausgesprochen. Auch das Bild ganz am Anfang, als wir den kleinen Beamten Kanjirô Watanabe in staubigen Akten vergraben sehen, ohne jegliches Lebensziel, erinnert mich stark an Faust in seinem Studienzimmer. Es gibt also doch verbindende Elemente Kurosawas zur deutschen Literatur. Deme: Dazu möchte ich noch etwas ergänzen. Als Kurosawa noch als Regieassistent tätig war, schrieb er ein sehr gutes Drehbuch, das nicht verfilmt wurde. Es ging darin um den deutschen Architekten Bruno Taut und dessen Erfahrung in und mit Japan. Aber dazu weiß Tadao Sato sicherlich mehr. Sato: Bruno Taut war jüdischer Abstammung, konnte deshalb nicht in Deutschland bleiben und ist durch die Welt gereist. Unter anderem war

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er auch einige Jahre lang in Japan. Er erkannte den Wert der alten japanischen Architektur, die damals von Japanern verkannt wurde. Daher nahm er eine wichtige Position in der japanischen Architekturgeschichte ein. Kurosawa unterlag allerdings einem kleinen Missverständnis. Er stellte Taut quasi als Symbol der deutsch-japanischen Freundschaft dar, weil zwischen Deutschland und Japan während des zweiten Weltkrieges eine Allianz bestand. Aber Taut ist vor den Nazis geflohen und war als Emigrant nach Japan gekommen. In diesem Sinne hat das Drehbuch eine ironische Pointe. Nogami: Das Drehbuch trägt den Titel Ein Deutscher im DarumaTempel. Izumi: Herr Deme, welche Stelle aus IKIRU ist für Sie die eindrucksvollste? Deme: Unter einem guten Film verstehe ich einen Film, der etwas an der Denkweise oder der Wahrnehmung des einzelnen verändert. Wenn jemand ins Kino geht und nach der Vorführung mit einer veränderten sinnlichen Wahrnehmung herauskommt, dann ist das für mich ein Kunstwerk, ein Film von hoher Qualität. Der Film IKIRU vermittelt eine solche Erfahrung. Nogami: Ich möchte noch etwas zur Musik sagen. Während der Totenwache für Watanabe kommen vierzehn Rückblenden mit Takashi Shimura (Watanabe) vor. Zuerst wurden zu allen diesen Szenen Musikstücke von Fumio Hayakawa komponiert und eingespielt. Aber bei der Probeaufführung gefielen diese Stellen Kurosawa nicht. Er meinte, die Musik zerstreue den Effekt eher als ihn zu konzentrieren, und wollte die Musik ganz weglassen. Es gab also nur den Effektton. Die Arbeit war aufwändig gewesen, und Hayakawa war so enttäuscht, dass er zwei, drei Tage lang keinen Schritt vor die Tür tat. Aber als er den Film dann selbst sah, meinte er, Kurosawa habe eine richtige Entscheidung gefällt. Izumi: Seinen nächsten Film SHICHININ NO SAMURAI (1954; Die sieben Samurai) hat Kurosawa mit 43 Jahren gedreht, in seiner kreativsten künstlerischen Phase. Am eindrucksvollsten in diesem Film ist der Regen. Warum wurde eigentlich die letzte Kampfszene im Regen gedreht?

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Nogami: Kurosawa sagte: Wenn wir uns am amerikanischen Western orientieren, können wir dem Western keine Konkurrenz machen. In den Hollywoodwestern aber gibt es selten Regen. Also drehen wir im Regen und gewinnen das Spiel. Das war seine Strategie. Sie hatte allerdings große Auswirkungen auf unsere Zeitplanung. Zuerst wollte Kurosawa die Sequenzen mit schönem Wetter an sonnigen Tagen und die Regensequenzen bei schlechtem Wetter drehen. Um möglichst wenig Zeit zu verlieren, planten wir für jedes Wetter. Aber da am Drehort früher Reisfelder waren, wurde es sehr schlammig. Selbst wenn nach einem Regentag die Sonne wieder schien, konnte man nicht drehen. Das verdoppelte letztendlich die Zeit der Dreharbeiten.

Abb. 3 Muraki: Deswegen haben wir auch nicht alles an einem Ort gedreht. Diese Bilder z.B. wurden in der Nähe des Toho-Studios aufgenommen. Die Schauspieler sind tatsächlich in den Schlamm eingesackt und ausgerutscht. Izumi: Sie haben alle Ausstattungen gebaut, Herr Muraki? Muraki: Nicht ganz. Ich war erster Assistent des Ausstattungsleiters, Herr Matsuyama. Die Gebäude oder Häuser, die wir in SHICHININ NO SAMURAI als Modell nehmen wollten, standen in verschiedenen Dörfern oder Städten. Deshalb war es schwierig, einen Überblick zu bekommen. Wir hatten anfangs gehofft, irgendwo ein ganzes, intaktes Dorf zu finden, aber es gab keines. Ich habe für das Dorfzentrum drei Häuser gebaut und noch einige andere, drei weitere sind von Matsuyama. Izumi: Sind die traditionellen Bauernhäuser im Film originalgetreu nachgebaut?

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Muraki: Ja. Wir haben vor allem ein Bauernhaus aus Takayama in Hida als Modell verwendet. Izumi: Herr Deme, Sie waren Regieassistent bei YOJIMBO. Könnten Sie etwas über die Anfangssequenz sagen? Deme: Ich war zehn Jahre lang Regieassistent. Seit ich YOIDORE TENSHI gesehen hatte, wollte ich mit Kurosawa zusammenarbeiten. Ich wurde glücklicherweise bei Toho eingestellt, wo auch Kurosawa arbeitete. Als ich fünf Jahre dort war, fiel zufällig im Team Kurosawas jemand aus, und ich konnte als untergeordneter Regieassistent bei YOJIMBO mitarbeiten. Die Bauten entstanden unter der Leitung von Yoshiro Muraki und waren wirklich einmalig! Muraki: Damals veränderte sich das Filmen durch die Einführung des Breitwandformats. Die Straßen des Ortes, in dem YOJIMBO spielt, wurden sehr breit gebaut, damit die Kampfszenen zwischen zwei Banden gut zur Geltung kamen. Die meisten Samurai-Filme wurden damals in Kyoto gedreht und die Kulissen richteten sich nach dem Baustil Kyotos. Hier aber bauten wir zum ersten Mal eine Stadt im ostjapanischen KantôStil. Deme: Im Studio gab es einen Raum für die Mitarbeiter, und etwa hundert Meter entfernt wurde diese Stadt errichtet. Als sie fertig war, sagte Yoshiro Muraki zu Kurosawa, er möge kommen und die Bauten überprüfen. Kurosawa und wir Assistenten stiegen also ins Auto und fuhren dorthin. Als ich Murakis Bauten sah, war ich sehr beeindruckt. Dennoch stand Kurosawa mit geneigtem Kopf mitten auf der Straße und meinte, hier stimme etwas nicht. „Was für ein anspruchsvoller Mann ist dieser Mensch!“, habe ich mir damals gedacht. Ihm gefiel die Glätte der Straßen nicht. Die Straßen aus der Zeit, in der die Handlung des Films spielt, hätten auf keinen Fall so eben gewesen sein können, sagte er; der Regen, der von den Dächern fiel, hätte die Straße an den Rändern vertieft, und zur Straßenmitte hin hätte sie sich wölben müssen. Außerdem hätte man kleine und größere Steine sehen müssen. Muraki und Kurosawa beratschlagten dann; es wurden drei Feuerwehrautos gerufen und Kurosawa ließ es im hellen Sonnenschein von morgens bis abends über die Häuser regnen. Die Feuerwehrmänner fragten uns natürlich, was das Ganze sollte. Jedenfalls kamen nach etwa 24 Stunden ununterbrochenen Regens die Wölbung und die Steine zum Vorschein, und die Straße be-

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kam die von Kurosawa gewünschte Wirkung. Das ist meiner Meinung nach ein Beispiel für den malerischen Instinkt und die gute Beobachtungsgabe Kurosawas. Für die Sequenz, in der Sanjuro zum ersten Mal den Ort mit der Poststation betritt, wurden als erstes Probeaufnahmen gemacht. Als Kurosawa und wir diese Probeaufnahmen gesehen hatten, sagte er: „Da fehlt aber noch etwas.“ Er fragte alle Regieassistenten nach einer Idee. Er wollte in dem Augenblick, in dem Sanjuro seinen Fuß in die Stadt setzt, ein Symbol für die bedrohliche Situation setzen und die Atmosphäre verdichten. Die erfahrenen Mitarbeiter taten so, als überlegten sie angestrengt, sagten aber nichts. Sie hatten Angst, Kurosawa mit ihren Vorschlägen zu verärgern. Ich war erst seit drei Tagen in dem Team und dachte, ich müsste etwas sagen. Ich schlug vor: An der Kreuzung der Straße liegen aufgehäufte Leichen, die ganz schwarz sind und in Wirklichkeit Krähen sind. Wenn Sanjuro in das Dorf kommt, fliegen sie plötzlich auf. Kurosawa dachte tatsächlich über meinen Vorschlag nach, und das hat mir schon völlig genügt. Mein Vorschlag wurde mit dem Kurosawa-typischen Argument abgelehnt, die Idee sei zu literarisch. Er suche etwas filmisch Handfestes, etwas, das die Zuschauer sofort packe. Film ist eine Kunst der Zeit wie Musik, sagte er, und da man nicht zurückschauen könne, müsse schon der Filmanfang das Herz des Publikums erobern. Das trifft nicht nur auf YOJIMBO, sondern auf alle seine Filme zu. Ich denke, das ist sein Verständnis von Film. Im Film selbst sieht man nun, wie ein Hund mit einer menschlichen Hand im Maul an Sanjuro vorbeiläuft. Und das soll nicht literarisch sein! Die Szene kam so zustande: Nachdem mein ‚zu literarischer‘ Vorschlag abgelehnt worden war, ging Kurosawa durch die Außenbauten. Da kam der Wind auf, wirbelte die Erde hoch, und zwischen dem Laub kam eine Hand zum Vorschein. Ganz erschrocken schaute er näher hin: es war ein Handschuh vom Beleuchtungsteam. Er dachte, „das ist es!“ und die Idee wurde sofort in die Tat umgesetzt. Nogami: Diese Sequenz wurde international sehr bewundert, weil er in einem Bild sowohl Symbolisches als auch Konkretes zum Ausdruck gebracht hat. Irgendein Kritiker aus dem Ausland hat gemeint, selbst Dalì wäre nicht auf eine solche Idee gekommen! Viele meinten, es müsse ziemlich kompliziert gewesen sein, mit dem Hund zu drehen – aber das war es nicht. Die Requisitengruppe hatte den Hund von einer Dame geliehen, die gerade in der Nähe spazieren gegangen war. Es war also ein ganz gewöhnlicher Hund.

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Izumi: Was waren eigentlich die Aufgaben der Regieassistenten, Herr Deme? Deme: Die Regieassistenten waren für alles zuständig. Unsere wichtigste Aufgabe war, Kurosawas Absichten unmissverständlich den Schauspielern und Mitarbeitern zu vermitteln. Es hört sich harmlos an, aber in Wirklichkeit haben wir ständig irgendwo gesäubert, gekehrt, den Fußboden poliert und so weiter. Das Charakteristische in Kurosawas Filmen ist, dass immer Naturphänomene wie Regen oder Wind auftauchen. In YOJIMBO spielen Staubwolken eine wichtige Rolle, und sie richtig zu erzeugen, ist technisch gar nicht so einfach. Für den Wind wurde an den beiden Straßenrändern jeweils ein Cessna-Flugzeugpropeller angebracht und auf Hochtouren laufen gelassen. Vor dem Propeller war ein großes Sieb mit aufgehäuftem Staub, der im richtigen Moment aufwirbeln sollte. Schwierig war dabei, dass die Staubwolke entweder genau vor oder hinter Sanjuro erscheinen musste. Sanjuro hätte sonst Staub in die Augen bekommen und hätte nicht weiterspielen können. Diese Arbeit war eigentlich die Aufgabe der Assistenten der Requisite, aber da Kurosawa sie ständig beschimpft hatte, waren sie alle nach und nach verschwunden und es blieben nur noch die Regieassistenten übrig. Ich war also bei der Aufnahme ganz allein mit dem riesigen Sieb. Als wir drehten, ging zuerst der ohrenbetäubende Propeller los. Ganz einsam und verlassen begann ich das Sieb zu heben. Aber da die Probe vorher sehr lang gewesen war, bekam ich plötzlich einen Krampf im Arm, und das Sieb fiel mir an der entscheidenden Stelle aus der Hand. Staub ist ja sehr leicht und eine riesige Wolke wehte davon. Doch ich hörte keinen ‚cut‘-Ruf von Kurosawa. Ich dachte mir: auch ein internationaler Künstler übersieht einmal etwas. Zwei Tage nach der Aufnahme war die Probeaufführung. Natürlich schauten wir alle mit zu. Ich saß weiter vorne und fürchtete die ganze Zeit, Kurosawa würde mich anschreien. Irgendwann kam die Stelle mit dem Staub. Meine misslungene Riesenstaubwolke schwebte hinter dem Schauspieler. Natürlich kicherten alle. Doch da rief Kurosawa, der in der hintersten Reihe saß: „Gut gelungen!“, und ich war erleichtert. Ich habe mir alle Filme von Kurosawa angeschaut und zu diesem Zeitpunkt erstmals als Regieassistent bei ihm gearbeitet. So konnte ich direkte Erfahrungen sammeln. Durch diese etwas peinliche und lustige Episode lernte ich etwas über Kurosawas Filmästhetik: Jeder Ausdruck hat ein genaues Maß. Bei Kurosawa ist jedoch das dreifache Maß genau

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richtig. Wenn man bei anderen japanischen Filmregisseuren, wie z.B. Yasujiro Ozu oder Mikio Naruse derart übertrieben hätte, wäre man sofort entlassen worden. Izumi: Die Sake-Fässer in der Brauerei in YOJIMBO sind ungewöhnlich groß. Ist das ein Beispiel für Kurosawas ‚Ästhetik der Übertreibung‘, die Masanobu Deme gerade erwähnt hat? Muraki: Das Haus war ursprünglich für einen Reishändler geplant, und dementsprechend war auch die Innenarchitektur. Während der Arbeit dachte ich, dass eine Sake-Brauerei bildlich interessanter sein könnte, und schlug die Idee Kurosawa vor. So wurde das Haus zu einer SakeBrauerei umgebaut. Normale Sake-Fässer haben etwa ein Drittel dieser Größe. Man benutzt für solche Fässer normalerweise die längsten Segmente von Bambusstäben. Ich habe es anders gemacht und konnte somit diese Größe erreichen. Izumi: Sergio Leones Film PER UN PUGNO DI DOLLARI (1964; Für eine Handvoll Dollar) ist ein Plagiat von Kurosawas YOJIMBO. Wurde das Problem eigentlich geklärt? Nogami: Es begann damit, dass die kleine italienische Filmfirma Jolly Film PER UN PUGNO DI DOLLARI produzierte, ein Western, der in Mexiko spielt. Ein Agent der Zweigstelle von Toho in Rom hat diesen Film gesehen und benachrichtigte den Hauptsitz in Tokyo. Der nichtsahnende italienische Filmvertreter kam nach Japan, wollte den Film verkaufen und machte bei Toho eine Probevorführung. Sofort wurde PER UN PUGNO DI DOLLARI als Plagiat beanstandet; er glich YOJIMBO bis in die Schnittfolgen. Die italienische Seite hat das zugegeben. Da der Film in Italien sehr erfolgreich war und viel Geld eingespielt hatte, einigte man sich folgendermaßen: Kurosawa und Kikushima, die das Urheberrecht hatten, bekamen jeweils 100.000 $ als Entschädigung und 15 % der internationalen Einspielergebnisse. Toho brachte das interessante Argument vor, die Italiener hätten nicht das Buch, sondern den Film plagiiert, und Toho habe demzufolge das Urheberrecht. In Japan war das Urheberrecht damals noch nicht geregelt und es gab ein großes Hin und Her. Herr Kawakita, der Präsident von Toho-Towa, machte schließlich einen Vorschlag: Anstatt wie geplant zu Neujahr AFRICA ADDIO von Jacopetti herauszubringen, sollte Leones Film mit dem neuen Titel YOJIMBO IN DER WILDNIS vorgeführt werden, und der Gewinn sollte der Kurosawa-Pro-

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duktion zugute kommen. Die Angelegenheit brachte sowohl Kurosawa als auch Toho viel Gewinn. Das Plagiat ist eigentlich nicht schlecht gemacht, aber natürlich ist das Original viel besser. Izumi: Können Sie uns etwas zu der Aufnahme im Kodama-Express in TENGOKU TO JIGOKU sagen? Deme: Unser Zeitplan damals war sehr eng. Die damalige japanische Bahn hatte Kurosawa den damals noch ganz neuen Kodama-Expresszug geliehen. Aber wir mussten den Höhepunkt des Films (die Geldübergabe) tatsächlich auf der Bahnstrecke zwischen Shinagawa und Atami drehen. Die Fahrt dauerte etwa zweieinhalb Stunden. Es wurden acht Kameras eingesetzt, jeweils mit den besten Kameramännern, die Toho damals hatte. Im Film gibt es die Stelle, an welcher der Drogenabhängige das entführte Kind zeigt und die Tasche mit dem Geld aus dem Zug geworfen wird. Wir konnten natürlich nicht einfach drauflos drehen. Die Regieassistenten machten mit den Schauspielern eine Woche vorher eine Probeaufnahme. Die Aufnahme aus dem fahrenden Zug bei der Eisenbahnbrücke mit der subjektiven Kamera sollte besonders gut herauskommen. Die Regieassistenten haben die Strecke mit einem 16 mm-Film aufgenommen, und davon wurde zu jedem einzelnen Kader ein Standbild hergestellt. Wir brachten den dicken Stapel Standbilder zu Kurosawa, der in einem Set probte. Kurosawa schaute sich ein Bild nach dem anderen an. Vor der Eisenbahnbrücke gab es einen Sandberg, auf dem der Entführer mit dem Kind stehen sollte, um ihre Gesichter gut zur Geltung zu bringen. Als Kurosawa etwa in der Mitte des Stapels angelangt war, hörte seine Hand plötzlich auf zu blättern. Alle schauten ganz angespannt hin: An der wichtigsten Stelle des Films war ein Dach im Weg. Kurosawa hatte die gute Eigenschaft, nicht einfach „weg damit!“ zu sagen. Er fragte uns Mitarbeiter: „Was nun?“ Das hieß natürlich doch, dass wir das störende Dach entfernen sollten. Sofort begann der Produktionsleiter mit der Familie zu verhandeln, zwei Tage vor der Aufnahme. In dem Haus wohnten eine Dame und ihr Sohn, ihr Mann lag gerade im Krankenhaus. Das war für uns vielleicht sogar günstig. Wir bekamen ihre Erlaubnis, den ersten Stock abzureißen, nachdem wir versprochen hatten, ihn nach den Dreharbeiten wieder aufzubauen. Die Hausbewohner wurden in einem Hotel untergebracht. Das war so üblich. Doch bei TENGOKU TO JIGOKU wurde für den Wiederaufbau sogar der Zimmermann geholt, der das Haus gebaut hatte, und die Familie war durchaus zufrieden damit.

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Izumi: Frau Nogami, könnten Sie uns etwas über den Chauffeur erzählen? Nogami: Yutaka Sada, der den Chauffeur spielte, war eigentlich als Statist beschäftigt. Er bekam plötzlich eine bedeutende Rolle und war sehr aufgeregt zwischen so vielen berühmten Schauspielern. Das hat genau zu seiner Rolle gepasst. Aber er konnte nicht Auto fahren. Für diese Rolle hat er zum ersten Mal Fahrstunden genommen und fuhr im Film einen Mercedes-Benz. In der Fahrschule gab es natürlich keinen Mercedes. Da er auf seinem Rücksitz ein Kind sitzen hatte, war er noch nervöser. Jedes Mal, wenn er bremste, hüpfte das Kind. Die Mitarbeiter holten sicherheitshalber einen professionellen Fahrer, der zu Füßen von Yutaka Sada auf dem Boden versteckt lag. Für Yutaka Sada war dies natürlich sehr irritierend. Izumi: Ganz kurz noch zu der letzten Szene im Gefängnis, besonders zu der Spiegelung in der Trennscheibe. Diese Ausstattung haben Sie gebaut, Herr Muraki. Muraki: Das Sprechzimmer des Gefängnisses ist nicht originalgetreu. Normalerweise gibt es dort nur eine Zwischenwand aus Glas. Ich habe die Zwischenwand aber aus einer Acrylplatte mit einem Sprechfenster gemacht. Der Effekt der Reflexion, durch den die beiden Gesichter der Sprechenden übereinander gespiegelt erscheinen, entstand ganz zufällig durch die Verwendung der Acrylplatte. Izumi: In der Szene, in der der Täter gefasst wird, trägt er eine verspiegelte Sonnenbrille. Welche Bedeutung hatte diese Spiegelung Ihrer Meinung nach für Kurosawa? Deme: Eines Morgens, kurz bevor wir zur Außenaufnahme gingen, rief Kurosawa uns Regieassistenten an und gab die Anweisung, eine verspiegelte Sonnenbrille mitzubringen. Am Drehort ließ er Yamazaki diese Brille tragen. Was es zu bedeuten hat, kann jeder für sich interpretieren; Kurosawa mochte immer schon solche Spiegelungen. Diese Brillen fallen sehr stark auf, und in der Szene setzt die Musik – „O sole mio“ – deshalb genau an dieser Stelle ein. Kurosawa montiert hier in seiner typischen Kontrapunkt-Technik eine sehr tragische Szene mit fröhlicher Musik.

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Izumi: Wie kam es dazu, dass Toshiro Mifune die Kurosawa-Gruppe verließ? Nogami: Der Film AKAHIGE war die letzte Zusammenarbeit zwischen Kurosawa und Mifune. Das wurde weltweit bedauert, und auch ich fand es sehr schade. Meiner Einschätzung nach stellte Mifune den ‚Rotbart‘ als einen sehr viel besseren Menschen dar, als er Kurosawa vorgeschwebt hatte. Kurosawa hatte sich Rotbart viel banaler und menschlicher vorgestellt. Vorher hatte Kurosawa Mifune so gut wie nie schauspielerische Anweisungen gegeben. Mifune spielte Kurosawa gewöhnlich einige Versionen vor, und Kurosawa sagte „ja, so ist gut“ oder „ja, so in dieser Art“ und war damit zufrieden. Bei AKAHIGE war Mifune schon ein international anerkannter Schauspieler, und Kurosawa konnte ihm keine Anweisungen geben. Mifune selbst empfand es eigentlich anders, aber meiner Meinung nach nahm Kurosawa sehr starke Rücksicht auf Mifunes Gefühle, und das belastete ihn vermutlich. In DERSU UZALA sollte ursprünglich Mifune den Uzala spielen, aber der Plan wurde geändert. Vor seinem Tod sagte Kurosawa, er hätte Mifune gern noch einmal gesehen. Ich bedaure, dass ich Mifune das nicht selbst mitteilen konnte.

Fragen aus dem Publikum Inwieweit hat Kurosawa auch jenseits der Regie Einfluss ausgeübt? Hat er auch den Rohschnitt und den Endschnitt durchgeführt, oder war er dabei anwesend? Nogami: Kurosawa pflegte immer zu sagen: ich drehe Material für den Schnitt. In der letzten Arbeitsphase, nämlich beim Schnitt, vollendet sich mein Werk. Damit er sich beim Schneiden die besten Stellen aussuchen konnte, sollte viel gutes Material gedreht werden. Deswegen wurden auch immer mehrere Kameras verwendet. Ich denke, er machte den besten Schnitt der Welt. Seine Schnittmethode war ziemlich primitiv. Heutzutage schneidet man am Computer, aber Kurosawa benutzte eine uralte Moviola, ein Gerät, bei dem man den Film unter die Linse spannt und mit einem Fußpedal weitertransportiert. Als wir in der damaligen Sowjetunion gearbeitet haben, hat man sogar dort schon das neuere Modell (ein Steinbeck) benutzt. Kurosawa wollte nicht an diesem Gerät arbeiten. Wir fragten die Moskwa-Produktionsgesellschaft, ob sie nicht vielleicht doch noch eine Moviola hätten, und sie rückten ein völlig ver-

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staubtes Gerät heraus. Da Kurosawa jahrelang an diesem Gerät gearbeitet hat, war er damit sehr schnell und gut. Übrigens arbeitete er nur mit Positiven. Welche Stellen in Akira Kurosawas Filmen sind besonders japanisch? Sato: Es ist sinnlos, Japaner zu fragen, was ‚das Japanische‘ ist. Japaner fühlen sich als ganz gewöhnliche Menschen und wissen nicht unbedingt, inwiefern sie sich von den anderen Menschen der Welt unterscheiden. Immer wieder hört man die Frage, was eigentlich ‚die‘ Tradition Japans sei. Es gibt natürlich viele Traditionen. Historisch gesehen gab es eine Tradition der Samurai, und Kurosawa sagt selbst in der Dokumentation2 dass er diese Samurai-Tradition in sich trage. Er sagte auch, als Kind einer Samuraifamilie könne er keine Stadtleute darstellen. Konkret ist mit ‚Stadtleuten‘ die Welt gemeint, die Kenji Mizoguchi dargestellt hat. Deshalb repräsentieren Mizoguchi und Kurosawa zwei völlig verschiedene Traditionen. Der Anteil der Samurai an der damaligen Gesamtbevölkerung Japans betrug etwa 5 %, der der Stadtleute betrug etwa 15-16 % und die restlichen 80 % waren Bauern. Die Tradition der Bauern ist ganz anders und wurde besonders von Shohei Imamura und Kaneto Shindo dargestellt. Sie haben die Mentalität der japanischen Bauern zum Ausdruck gebracht. Yasujiro Ozu stelte wiederum die alte Bürgerschicht bis zur heutigen höheren Mittelschicht dar, also gleichsam die Tradition der modernen Bürger. Kurosawa hat sich häufig am Nô-Theater orientiert, insbesondere in KUMONOSU-JO. Die Tradition des Nô ist eng mit der Samuraitradition verbunden. Kurosawa verachtete jedoch das Kabukitheater und etablierte seinen eigenen Stil. Die japanischen mainstream-Historienfilme (jidaigeki) griffen direkt auf den Stil des Kabuki zurück, aber sie haben so gut wie keine internationale Verbreitung gefunden. Der Stil des Nô ist sehr stoisch, fast minimalistisch – Elemente, die auch zur Samurai-Tradition gehören. Das Kabuki dagegen ist pompös, von barocker Pracht. Kurosawa behauptet zwar, dass er das Kabuki ablehne, aber meiner Ansicht nach ist das selbst im Sinne des Kabuki gemeint. Das heißt, es ist selbst den Japanern nicht immer klar, zu welcher Tradition sie eigentlich gehören.

2 Vor der Diskussion wurden Ausschnitte aus KUROSAWA. A DOCUMENTARY ON THE ACCLAIMED DIRECTOR (2000; Regie: Adam Low) gezeigt.

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Es wird oft gesagt, dass Akira Kurosawa zunächst in Japan nicht gut ankam. Kann das an seiner Offenheit für den avantgardistischen Film liegen, Herr Sato? Sato: Es ist ein Missverständnis, dass Kurosawa in Japan angeblich nicht beliebt gewesen sei. Er galt von seinem ersten Werk an als Hoffnungsträger. Er debütierte im Jahre 1943 mit einem anderen jungen Regisseur, Keisuke Kinoshita, und von beiden wurde übereinstimmend gesagt, ihnen würde die Zukunft des japanischen Films gehören. Natürlich gab es noch große Meister wie Ozu oder Mizoguchi, aber die jungen Leute hielten sie trotz ihrer überragenden Qualitäten schon damals für altmodisch. Ich denke, dieses Missverständnis geht auf RASHOMONs relativ geringen Erfolg in Japan zurück. Der Film wurde in einer damals populären Kinozeitschrift nur auf den vierten Platz einer Rangliste platziert. Das heißt nun keineswegs, dass der Film missachtet wurde. Er wurde auch als Film von hohem Niveau anerkannt. Aus heutiger Sicht betrachtet, herrschte allerdings damals eine inhaltsorientierte Kritik vor; ein Film mit Antikriegsthematik wurde z.B. gleich viel höher gewertet. In RASHOMON nun findet man keine einfachen Wahrheiten. Man kann also schon sagen, dass das wirklich Innovative dieses Films einfach nicht verstanden wurde. Andererseits muss man betonen, dass Kurosawa in Japan nie unbeliebt war. Nur in seiner späteren Phase konnte er keine teuren Ausstattungsfilme mehr drehen, weil die japanische Wirtschaft eine Flaute erlebte. Viele japanische Geldgeber gingen Kurosawa aus dem Weg, wenn sie von ihm angesprochen wurden, denn in seine Filme zu investieren, war sehr riskant. So kam es, dass Amerikaner Kurosawas Filme finanzierten oder die französische Regierung ihm entgegenkam, und so verbreitete sich das böse Gerücht, dass Japan ein kulturell schwach entwickeltes Land sei. Herr Sato, Sie haben vorhin das Nô-Theater im Zusammenhang mit der Samuraitradition erwähnt. Betrifft das nicht eigentlich nur die Samurai in der Edo-Ära, und hatte das Nô-Theater eigentlich keine Relevanz für die Samurai des Kriegszeitalters? Ist also nicht der Einfluss der amerikanischen Westernfilme auf Kurosawa viel wichtiger? Sato: Als Kurosawa den Film SHICHININ NO SAMURAI drehte, sagte er, dass er einen Western auf japanische Art mache. Daher ist gesichert, dass der Western einigen Einfluss auf ihn hatte. Er mochte darüber hinaus John Ford sehr. Aber natürlich hat man nie nur ein einziges Vorbild.

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Falls die japanische Kultur eine Besonderheit haben sollte, dann besteht sie darin, dass alle Schulen und Traditionen verschiedener Kunstrichtungen, alte wie neue, erhalten geblieben sind. Das ist das Einzigartige an der japanischen Kultur. Auch wenn griechische Theaterstücke heutzutage noch aufgeführt werden, so waren sie doch lange Zeit in Vergessenheit und wurden erst wieder neu entdeckt. Die Stücke des Nô-Theaters dagegen werden seit 700 Jahren ununterbrochen aufgeführt. Natürlich weiß man nicht, ob das heutige Nô genau dem Nô von vor 700 Jahren entspricht. Meiner Ansicht nach vollziehen sich Herrschaftswechsel immer auf ähnliche Weise, ob nun in Europa oder Asien: Wenn sich eine neue Herrschaft etabliert, zerstört sie meist die vorhergehende Kultur. In Japan jedoch war das nicht der Fall. Die Kultur z.B. der aristokratischen Herrscher blieb auch nach der Machtübernahme der Samurai erhalten. Ebenso wurde nach der Beendigung der Samurai-Herrschaft deren Kultur bewahrt. Unabhängig davon haben die Bauern nach wie vor ihre eigene, animistisch geprägte Kultur. Auch wenn durch einen Klassenkampf die herrschende Klasse wechselt, wurde die Kultur der vorher dominierenden Klasse beibehalten. Dasselbe gilt für die Kulturen, die nach Japan importiert wurden. Japanische Filme wurden zum Beispiel nicht nur von Hollywoodfilmen, sondern auch von deutschen Filmen, etwa von Friedrich Murnau oder Georg Wilhelm Pabst beeinflusst. In UGETSU MONOGATARI (1956; Erzählungen unter dem Regenmond) von Kenji Mizoguchi findet sich ein starker Einfluss von Murnau. Die groteske Darstellung der Wirklichkeit kommt von Pabst. Ich weiß nicht, ob Kurosawa sich ebenso stark an diesen Vorbildern orientierte. Die grotesken Elemente in TENGOKU TO JIGOKU könnten durchaus von Pabst stammen, aber das ist nur eine Möglichkeit unter vielen anderen – wie in der japanischen Kultur, die sich eben dadurch auszeichnet, die verschiedensten Kulturen der Welt in sich aufgenommen zu haben. Wird die Schrift auf dem Vor- und Nachspann von einem Kalligraphen geschrieben? In SHICHININ NO SAMURAI scheinen die Schauspieler selbst etwas zu schreiben. War das tatsächlich so? Nogami: Als SHICHININ NO SAMURAI gedreht wurde, war bei Toho ein spezieller Kalligraph tätig, der den Vor- und Nachspann zeichnete. In Kurosawas Filmen wurden die Kalligraphen immer sehr sorgfältig ausgewählt; man fragte meist mehrere und wählte einen aus, dessen Schrift

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Kurosawa gut gefiel. Kurosawa ließ dann verschiedene Versionen zu jedem Schriftstück schreiben, und er wählte die endgültige Version aus. Dasselbe gilt auch für die Requisiten; die Schauspieler haben nie selbst etwas geschrieben. Wann und wofür wurden die Storyboards gezeichnet? Nogami: Es gibt verschiedene Arten, grob gesagt zwei. Einmal gibt es Zeichnungen, die den Mitarbeitern eine Idee veranschaulichen sollten. Kurosawa sammelte die Mitarbeiter in einem Raum, und während er erklärte, wie die Szene aussehen sollte, zeichnete er ganz flink mit einem Bleistift die entsprechenden Kamerafahrten und -bewegungen auf einem herumliegenden Blatt auf. Es gibt aber auch noch farbige, sorgfältig ausgearbeitete Zeichnungen, die er vor Beginn der Dreharbeit für potentielle Geldgeber seiner Filme anfertigte. Damit begann er erst seit KAGEMUSHA. Welche Bedeutung hatte für Kurosawas Filmsprache Authentizität? War Authentizität aufgrund seiner künstlerischen Überzeugung wichtig für ihn, oder war sie eher von anderen Umständen, wie z.B. finanziellen Problemen, bedingt? Nogami: Alles war absichtlich. Alle Effekte, die er suchte, wollte er so haben und auf diese bestimmte Weise erzielen. Einen Lichteffekt wie in TENGOKU TO JIGOKU zum Beispiel kann man mit einer Studioaufnahme nie erzielen. Ich möchte zu dieser Frage wiederholen, was Kurosawa häufig auf solche Fragen zu antworten pflegte: „Ich male ein Bild mit roter Farbe. Da kommt jemand und fragt mich, warum ich das Bild nicht in Blau male. Ich nehme Rot, weil ich es in Rot haben will.“ Welche Rolle spielt Humanität in seinen Filmen? Sato: Kurosawa wird heutzutage als großer Künstler anerkannt, aber ‚groß‘ bedeutet hier nicht, dass er schwer verständliche oder besonders avantgardistische Filme gemacht hätte. Vielmehr produzierte er ganz normale Filme, mit denen er auch Geld verdienen konnte. In solchen Filmen ist das Thema der Humanität ganz selbstverständlich. Man hat Kurosawa immer wieder vorgeworfen, dass seine Filme großartig seien, dass aber ihre Humanität konventionell und banal wirke. Das typischste Beispiel ist die Szene am Schluss von RASHOMON, die sich nicht in

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Akutagawas Vorlage findet: Warum wird das Baby am Ende gerettet? Kurosawa meinte, dass sei am natürlichsten, und er habe nicht beabsichtigt, einen hoffnungslosen Film zu machen. Wenn ein Kritiker dazu anmerkte, eine solche Humanität sei übermäßig optimistisch, antwortete er: „Ich bin ein Sentimentalist.“ Das war natürlich scherzhaft gemeint. Aber ich denke, wenn man sich seine Filme genau anschaut, findet man in seinen Bildern unter der konventionellen Humanität sehr viel tiefere und ernstere Dimensionen. Übersetzung aus dem Japanischen: Yuko Mitsuishi

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN Autsch, Sabiene (Dr.) Kunst- und Kulturwissenschaftlerin, DFG-Forschungsprojekt „Expositionen“, Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Praxis der Ausstellung, Film und Fotografie, Gegenwartskunst. Bordwell, David (Dr.) Jacques Ledoux Professor of Film Studies (Emeritus), University of Wisconsin, Madison. Forschungsschwerpunkte: Filmtheorie, Filmgeschichte. Deme, Masanobu Regisseur und ehemaliger Regieassistent Kurosawas. Glaubitz, Nicola (Dr.) Literaturwissenschaftlerin (Anglistik), Forschungskolleg „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Mediengeschichte (18. Jahrhundert), Gegenwartsliteratur. Izumi, Masato Professor für Germanistik an der Keio-Universität Tokyo. Käuser, Andreas (PD Dr.) Literatur- und Medienwissenschaftler, Forschungskolleg „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Medienanthropologie, Körper- und Musikdiskurse; Medien- und Literaturgeschichte. Lee, Hyunseon (Dr.) Medien- und Kulturwissenschaftlerin, Forschungskolleg „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Kulturvergleich Europa-Ostasien, Medienanthropologie u. -avantgarden, Kino u. Oper um 1900/2000, japanischer u. koreanischer Film. Mitsuishi, Yuko Lehrbeauftragte an der Keio-Universität, Tokyo u.a. Forschungsschwerpunkte: Paul Celan, literarische Moderne, japanischer Avantgardismus in den 1960er Jahren. Muraki, Yoshiro Kostümbildner und Designer für Bühnenbau.

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Nogami, Teruyo Produktionsassistentin Kurosawas. Omiya, Kanichiro Professor für Germanistik an der Keio-Universität Tokyo. Forschungsschwerpunkte: Politik und Ästhetik um 1800/1900, Philosophie und Psychoanalyse, alte und neue Medien um 1900. Pfeiffer, K. Ludwig (Dr.) Professor für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: kulturelle und mediale Konfigurationen (Shakespearezeit, 19. Jahrhundert, Körperinszenierung). Sato, Tadao Filmkritiker und Direktor der Japan Academy of Moving Images. Schnell, Ralf (Dr.) Professor für Germanistik / Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Neuere und neueste deutsche Literaturgeschichte; Theorie und Praxis audiovisueller Medien. Schröter, Jens (Dr.) Kunst- und Medienwissenschaftler, Forschungskolleg „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Theorie, Geschichte und Ästhetik digitaler Medien und Bilder. Shikina, Akiyoshi Professor für Deutsch, Germanistik und Kulturwissenschaft an der KeioUniversität Tokyo (Faculty of Business and Commerce). Forschungsschwerpunkte: E.T.A. Hoffmann, Technologie und Literatur, Theorie der Science Fiction.

Die Titel dieser Reihe:

Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Die grausamen Spiele des »Minotaure« Intermediale Analyse einer surrealistischen Zeitschrift Mai 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-345-3

Walburga Hülk, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) (Post-)Gender Choreographien / Schnitte April 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,00 €, ISBN: 3-89942-277-5

Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Spannungswechsel Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000 März 2005, 220 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-278-3

Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hg.) Akira Kurosawa und seine Zeit

Ralf Schnell (Hg.) Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik Neurobiologie und Medienwissenschaften März 2005, ca. 200 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN: 3-89942-347-X

Ralf Schnell, Georg Stanitzek (Hg.) Ephemeres Mediale Innovationen 1900/2000 März 2005, ca. 200 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN: 3-89942-346-1

Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Problemaufriss – Forschungsstand – Bibliographie März 2005, 546 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-280-5

März 2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-341-0

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Die Titel dieser Reihe: Marijana Erstic, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) Avantgarde – Medien – Performativität Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts 2004, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-182-5

Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (Hg.) Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft 2004, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-276-7

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus

Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-183-3

Jens Schröter, Alexander Böhnke (Hg.) Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung 2004, 438 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-254-6

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film 2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-181-7

2004, 334 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-279-1

Uta Felten, Volker Roloff (Hg.) Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus 2004, 364 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-184-1

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de