Affekt und Ausdruck: Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert

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Affekt und Ausdruck: Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert

Table of contents :
VORWORT
KAPITEL I: LITERATUR-PROGRAMME
A. Kritik des Rhetorischen
1. Bodmer und Gottsched: Spiegelgestalten
2. Drei Beispiele
B. Elemente des Literarischen
1. Zwei Projekte: Kritik und Schreibart, Sprachregel und Redeweise
2. Themen der literarischen Debatte im 17. und frühen 18. Jahrhundert
KAPITEL II: AFFEKT – AUSDRUCK – ZEICHEN
A. Plan der historischen Topik
B. Die historische Topik von Affekt und Ausdruck im 17. und 18. Jahrhundert
TOPOS I: Rhetorische Pathologie und die Entstehung der Kommunikation
TOPOS II: Rhetorische Techniken der Expression und das homogene Medium des Ausdrucks
TOPOS III: Die literarische Konjunktion: rhetorische Poetik und Theorie der Sprache
TOPOS IV: Affektenlehre und Physiognomik: Die Transposition
C. Zusammenfassung: Die vier Topoi des Affektausdrucks
KAPITEL III: THEORIEN UND BEISPIELE DES LITERARISCHEN
A. Die drei Theorien des Literarischen im 18. Jahrhundert: Vollendung oder Ende der Rhetorik – Ursprung der Sprache – Allgemeine Hermeneutik und Sprachtheorie
1. Ende oder Vollendung der Rhetorik
2. Ursprung der Sprache
3. Allgemeine Hermeneutik und Sprachtheorie
B. Drei Beispiele der Rhetoriktilgung: Friedrich Schiller: Laura am Klavier; Friedrich Hölderlin: Abendphantasie; Johann Wolfgang Goethe: Maifest
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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Band

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Rüdiger Campe

Affekt und Ausdruck Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1990

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der V G W O R T

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Campe,

Rüdiger:

Affekt und Ausdruck : zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert / Rüdiger Campe. - Tübingen : Niemeyer, 1990 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 107) NE: GT I S B N 3-484-18107-9

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1990 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

IX

K A P I T E L I : LITERATUR-PROGRAMME

1

A. Kritik des Rhetorischen 1. Bodmer und Gottsched: Spiegelgestalten 2. Drei Beispiele: L o b - Kritik Figuren — Verstehen

3 3 9 12 20

a) Rhetorisch-poetischer K o m m e n t a r b) Figuren des Affekts — Zeichen der Krankheit

20 . . .

Tropen — Denken B. Elemente des Literarischen 1.Zwei Projekte: Kritik und Schreibart, Sprachregel und Redeweise

24

33 54 54

a) Einsatzarten der Kritik

56

b) D i e Schrift, die Stimme

66

2. Themen der literarischen Debatte im 17. und frühen 18. Jahrhundert

74

a) Repräsentation

74

b) Zeichen und F o r m e l

77

c) Reformulierung der Rhetorik: Novellierung der logischen Repräsentation d) Bezeichnung und Bewegung

86 102

K A P I T E L I I : A F F E K T — AUSDRUCK — Z E I C H E N

109

A. Plan der historischen Topik

111

B. Die historische Topik von Affekt und Ausdruck im 17. und 18. Jahrhundert

117

TOPOS I: Rhetorische Pathologie und die Entstehung der K o m munikation 1. Pathologie: N a m e und Wesen; die Metaphern der Bewegung; die drei Wissenschaften vom Affekt

117 119 V

2. Die Auflösung des rhetorischen Wissens vom Affekt

137

a ) D i e moralistische Tilgung: K o m m u n i k a t i o n an der Stelle rhetorischer Selbstaffektion (im 17. Jahrhundert)

137

b) Spuren der neuen Kommunikationserfahrung in der T o p i k der A f f e k t e (im 17. Jahrhundert)

151

c) Integration der neuen Affekttheorie und der moralistischen K o m munikationserfahrung in die Rhetorik (Übergang z u m 18. Jahrhundert)

155

TOPOS II: Rhetorische Techniken der E x p r e s s i o n und das h o m o -

gene Medium des Ausdrucks 1. Die Techniken der Expression bis zum Ende des 17. Jahrhunderts: rhetorische Voraussetzung: Präsentieren, Wiederholen, Manifestieren; logisch-rhetorische Voraussetzung: Angemessenheit und Aussageakt; grammatisch-rhetorische Voraussetzung: der Buchstabenlaut 2. Die Homogenisierung der Expression im Ausdruck Sprache

163

165

der 190

a) Kontrolle der Gesten und N o t a t i o n der Stimme (frühes 17. Jahrhundert)

191

b) Körper-Ich, Stimmartikulation und Lautzeichen im Innern der Sprache (Ende des 18. Jahrhunderts)

205

c) D i e Frage des Ü b e r g a n g s der Expressionstechniken in den h o m o genen A u s d r u c k der Sprache u m 1700

216

TOPOS I I I : D i e literarische K o n j u n k t i o n : rhetorische Poetik und

Theorie der Sprache 1. Affekt und Zeichen: Die Formel des literarischen Ausdrucks . 2. Die rhetorische Schranke zwischen Affekt und Sprachzeichen (bis zum Ende des 17. Jahrhunderts) a) Affekt/Buchstabenlaut:

Wiederholung

und

b ) A f f e k t / R e d e f i g u r : Beschreibung und Verweis im

Interjektion

221 224 231 232

rhetorischen

Handbuch

3. Umgehung der rhetorischen Schranke in der rhetorischen Poetik (bis zum Ende des 17. Jahrhunderts)

237

246

a) Metapher und Physiognomie (Scaliger)

249

b) D i e O r d n u n g e n der R e d e (früheres 17. Jahrhundert)

253

c) H o m o n y m i e von expressio und elocutio im poetischen A u s d r u c k (Johann Klaj)

4. Die Bahn der literarischen Konjunktion: Spekulationen (im 18. Jahrhundert) a) D i e Konjunktion in der semiotischen Ästhetik, Verweise

VI

259

263 264

b) D i e K o n j u n k t i o n in der Theorie der Sprache : H e r d e r

267

c) D i e Konjunktion in der Psychologie der Sprache : M o r i t z

275

TOPOS I V : Affektenlehre und P h y s i o g n o m i k : D i e T r a n s p o s i t i o n

.

1. Affekt und Zeichen

279

281

a) Medizinische Semiotik

282

b)Semiotike Moralis

292

c) D e r Zusammenhang von Affekt und physiognomischem Körperzeichen

301

2. Analyse der Affekte

304

a) D i e neue Disziplin (im 16. Jahrhundert)

308

b ) V o n der Disziplin zur Heilung des A f f e k t s (spätes 16. Jahrhundert)

323

c) D a s neue Wissen (im 17. Jahrhundert)

331

d ) D i e Ermöglichung der Psychologie: Theorie der Bewegung (Ubergang z u m 18. Jahrhundert)

355

e ) D i e Psychologie als Wissenschaft oder das Gefühl (18. Jahrhundert)

379

3. Konstitution der Zeichendeutung am Körper des Menschen

.

a) D i e Konstitution des Zeichens (im 16. Jahrhundert) b) D i e Konstitution der Systeme der Körperzeichen (um 1600)

401 409

. . .

414

c) A n t h r o p o s k o p i e , Anthropométrie: das E n d e der D e u t u n g der festen Zeichen (um 1650)

420

d ) P h y s i o g n o m i e und Gestus — moralische A u s f o r s c h u n g : auf dem W e g z u m 18. Jahrhundert e) Natürliche Ausdruckserfahrung - literarisches Nachspiel -

423 eine

Wissenschaft vom Ausdrucksverhalten (späteres und spätes 18. Jahrhundert)

4. Die Identifizierung des Affekts in der Sprache (Affektenlehre — Psychologie) und anhand der Rede (Physiognomik — Affektsemiotik)

445

465

C . Zusammenfassung: Die vier Topoi des Affektausdrucks

472

KAPITEL I I I : T H E O R I E N UND BEISPIELE DES LITERARISCHEN

487

A. Die drei Theorien des Literarischen im 18. Jahrhundert: Vollendung oder Ende der Rhetorik — Ursprung der Sprache — Allgemeine Hermeneutik und Sprachtheorie 1. Ende oder Vollendung der Rhetorik 2. Ursprung der Sprache 3. Allgemeine Hermeneutik und Sprachtheorie B. Drei Beispiele der Rhetoriktilgung: Friedrich Schiller: Laura am Klavier; Friedrich Hölderlin: Abendphantasie; Johann Wolfgang Goethe : Maifest

515

LITERATURVERZEICHNIS

555

NACHWEIS DER ABBILDUNGEN

579

REGISTER

581

489 489 497 507

VII

[ \ n c \ s a p

γ [ < χ . η ε ί α τ ψ

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P i T K o i o t i '

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Vorwort

Vorentscheidung Das Vorwort zu einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung gibt darüber Auskunft, ob es um Gegenstände im Innern der Literatur gehen wird oder ob die Suche auch bestimmenden Faktoren außerhalb der Literatur gilt. Vorentschieden wird, ob der literarische Gegenstand als Ausprägung sprachlicher bzw. textueller Beziehungen oder ob er als sprachlich, textuell gefertigte Darstellung anderer Werte interessiert. Doch die Entscheidung ist, jedenfalls hier, nicht einfach. >Literarisch< hießen gerade solche Funktionen, die die (offenen, nicht begrenzbaren) Beziehungen von Zeichen in Texten im Hinblick auf etwas jenseits von Zeichen und Text bestimmen. Die Rhetorik verwendete in diesem Zusammenhang u.a. die kleine Redetypologie: Lehren, Rühren, Bewegen; die Hermeneutik setzte an deren Stelle Zurechnungen auf die innere Welt des Sprechenden. Dabei entstehen ganz unterschiedliche Möglichkeiten, eine bestimmte Beziehung — z . B . die Aposiopese, das Verstummen oder das Abbrechen der syntaktischen Fügung — zu bestimmen : man läßt sie auf eine Typik ihres Vorkommens verweisen — im poetischen Exordium, beim T o p o s der heftigen Verwunderung; oder man gibt ihr eine Adressierung an eine semantische Bedingung ihres Auftretens mit — an die Individualsematik des Unsagbaren. Verweise und Adressierungen dieser Art sind Verfahren des >LiterarischenLiterarischenLiterarischen< begann, zur Schließung von Zeichenbeziehungen das neue Wissen über das Verhältnis von Affekt und Ausdruck genutzt wurde oder wie dieses neue Wissen die Zeichen- und Textbeziehungen für die Formulierung seines Programms benutzte. Wenn man dem durch die verschiedenen Gebiete, Themen und Ebenen hindurch nachgeht, wird man immer wieder auf bestimmte IX

Schwierigkeiten treffen und bestimmte Beschreibungsversuche wiederholen müssen. So ergibt sich beim Fortgang der Arbeit eine Art wiederholter Übungen; in der Übung lernt man das Gegenüber einschätzen. Die Vorentscheidung für eine rein innerliterarische oder eine auch außerliterarische Gegenstandsbestimmung kann nicht immer wieder aufgeschoben werden; aber sie läßt sich hier nicht auf Dauer treffen. Man trifft sie im Gang der Untersuchung öfter. Dem steht nicht entgegen, daß die Beschreibung des >Literarischen< eine stetige Übung ist. Deren Stetigkeit und der Wechsel der Vorentscheidungen machen einen konstanten Unterschied der Untersuchung.

Das Thema Bis weit ins 19. Jahrhundert hört man mit Nachdruck von >Ausdruck der Gemütsbewegungen^ >Sprache der Leidenschaften oder >Semiotik des Affekts< sprechen. Das Interesse am Lachen und Weinen, am Erröten und Erblassen, am Schrei und am Stocken der Zunge hatte sich gegen Ende des 16. und im Laufe des 17. Jahrhunderts in Auflistungen und Erklärungen gesammelt und war zu einem zentralen Thema der Kenntlichkeit des Menschen geworden. Es ging um die an den Körper anschließende Darstellbarkeit des Menschen, um die Manifestation des halb Verborgenen in der Umgebung des Lebewesens und um die Zugänglichkeit des Menschen in einem genauen Augenblick des Lebens. Es ging um das, was sich in der Bewegung schon selbst bezeichnet am Lebewesen; um die unablässige Bewegung einer Selbstbezeichnung an Menschen. Zuerst waren es Rhetoriker, Musiktheoretiker und Maler, Mediziner und Philosophen gewesen, die davon sprachen. Im 19. Jahrhundert legen dann Physiologen und Biologen, Psychologen und Psychiater ihre Gutachten ab. Die Aufzählung der Autorengruppen deutet auf die Verschiebung des Interesses: von der physiognomisch-physiologischen Frage des späteren 17. Jahrhunderts, was und wie der einzelne Ausdruckszug bedeutet, kommt man zu Darwins Frage, welche Rolle die Ausdrucksbewegung von ihrer Bedeutung abgesehen in der Evolution spielt, in welchem Verhältnis sie zu primären und zu angenommenen, später zugeschriebenen Bedeutungen steht. Beides aber hieß: Lesbarkeit des Menschen in seinem Leben. Dem Ausdruck in der Rede fiel in der ersten Hälfte des Bogens, den die Ausdrucksgeschichte in diesen Jahrhunderten beschrieb, eine zunehmend wichtigere Rolle zu. In der klassischen Physiognomik standen lingua und sermo, Zunge und Rede, einfach zwischen den Augen, der Nase und dem gesamten Mienenspiel als Körperteile, an denen sich die Bewegung des Ausdrucks auch findet; im Übergang zum 18. Jahrhundert wird dann die Rede zum bevorzugten Fall des Ausdrucks, der schon Zeichen ist, zum Ausdruckszeichen, das schon Bedeutung hat. In der zweiten Hälfte des Bogens — seit dem Ende des 18. Jahrhunderts — tritt die Rede, die genau durch die X

Überlagerung mit dem Affekt-Ausdruck-Verhältnis ganz in die Region der Bedeutung eingewandert war, gerade darum aus der Sichtbarkeit expressiver Zeichen wieder heraus. Eine Immanenz der Bedeutung entfaltet neben einer Selbstgenügsamkeit des expressiven Mechanismus und scharf von ihm getrennt die eigene Regionalität. Man kann sagen, daß vom späten 16. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert das Affekt-Ausdruck-Verhältnis mit der Signifikanz des Ausdrucks der Rede koordiniert war. Diese Koordination realisierte sich in verschiedenen Abstufungen des Dissonanten und Konsonanten. Zentral waren Versprechen oder Unterstellen einer Gleichheit. Das Literarische ist mit diesem Versprechen, dieser Unterstellung verknüpft. Schon in der Rhetorikkritik des Reformhumanismus im 16. Jahrhundert und noch in der Allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers funktioniert die Koordination, hört man schon das Versprechen und noch die Unterstellung einer letzten Gleichheit. Die engere Debatte der Ausdrucksbedeutung — die Debatte um Wort und Zeichen — ist der weiteren Debatte um Ausdruck und Merkmal des Affekts äußerlich; und doch stellte man sie für eine bestimmte Zeit in ihr Zentrum. Die weitere Debatte — die der Lesbarkeit und Schreibbarkeit der Zeichen an Menschen — gehört in den großen Prozeß der Anthropologisierung des Menschen. Lesen und Schreiben eines Inneren am Menschen hieß das, seitdem der Buchdruck den schon älteren Holzschnitt mit den Effekten seiner Visualisierung des Wissens zu verknüpfen wußte (das ist für die Köpfe bei della Porta und verschiedene tabulatorische Aufstellungen in Physiognomiken des 16. Jahrhunderts wichtig) und bevor im 19. Jahrhundert andere Aufzeichnungsarten (wie die Fotographie und die zahlreichen Registrationsapparaturen für die Stimme, den Atem usw.) erfunden wurden. Die Debatte der Seelenbewegungssemiotik ist derjenige Teil dieses Prozesses, der den Schreibund Lesetechniken dieser Zeit des Buchdrucks 1 erreichbar war. Die engere Debatte — die um Wort und Zeichen — spielte dabei zwischen dem Wissen über die Bewegungen, die das Wort auslöst und die die Verschiebungen in der Rede auslösen, einerseits und der Identifizierung, der Lektüre eines minimalen Textes als Merkmal und Zeichen andererseits. Diese Debatte ist unter dem N a m e n einer systematischen Frage bekannt: als Frage der Übergängigkeit von Rhetorik und Hermeneutik. 2

1

2

Zur mediengeschichtlichen Abgrenzung: William M. Ivins, Jr., Prints and Visual Communication, Cambridge (Mass.), London 1953; und: Walter J . O n g , Ramus. Method and the Decay of Dialogue. From the Art of Discourse to the Art of Reason, Cambridge (Mass.) 1958. Herausragend ist Marc Fumarolis Darstellung der Differenz von rhetorischer und hermeneutischer Kultur im Vorwort seines Buchs: L ' A g e de l'éloquence. Rhétorique et >res litteraria< de la Renaissance au seuil de l'èpoche classique (Paris 1976).

XI

Es handelt sich dabei aber nicht nur um eine systematische Konfrontation. In der Epoche der rhetorisch-poetischen >KritikKritik< eigentümlich war, es sei zu wissen, was der Verwendung einer Metapher oder Ironie im Geist des Poeten entsprochen habe, oder es gebe eine allgemeine Sprache der Seelenbewegungen in den Bewegungen des Körpers, im Mienenspiel und — gleichermaßen oder im besonderen — in den »Reden und Sprüchen«. In dieser einfachen Behauptung — dieser Hermeneutik als Rhetorik, Rhetorik als Hemeneutik — ist das Programm des Literarischen um 1700 positiv gewesen. Thema dieses Buches ist: die alternative Beziehung von Rhetorik und Hermeneutik in den Augenblicken ihrer historischen Entscheidung, die innerhalb des prominenten Prozesses der Lese-Schreibbarkeiten an Menschen getroffen wurde. Das heißt nicht, daß das Interesse an den rhetorischen Regeln und den Regeln des Verstehens von einem anderen, einem in irgendeiner Weise übergreifenden Interesse beherrscht wäre. Erst indem man sich darauf einstellt, daß es um die Alternative im Prozeß der Kenntlichkeit von Menschen geht, wird die Alternative von Rhetorik und Hermeneutik selbst beschreibbar. Daß zwischen Wort und Zeichen eine schwierige Sachrelation waltet, heißt wieder nicht, diese Relation sei eigengesetzlich aufzufassen. Die ausschließliche Beschäftigung mit Wörtern und Zeichen sagt nicht schon, es könne eine Philosophie der Zeichen oder eine allgemeine Theorie des Texts geben. Das >Literarische< bezeichnet die Offenheit der Rhetorik-Hermeneutik-Ubergängigkeit für die Intervention des Affekt-Ausdruck-Verhältnisses: darum ist es untrennbar das, was Rhetoren, Poeten und Dichter, wie das, was Rhetoriker, Poetiker, Hermeneuten taten. Es wird also darum gehen, das Verhältnis von Rhetorik und Hermeneutik sachlich analysierend, aber auch historisch datierend zu beschreiben; die Bezugsmöglichkeit beider Vorgehensweisen ist weder vorausgesetzt, noch in einer Methode begründet, sondern gerade in der Beschreibung des l i t e r a r i schem Gegenstand dieser Untersuchung. N u r insofern das Affekt-AusdruckVerhältnis die Übergängigkeit von Rhetorik und Hermeneutik in ihrem Ubergang interpretierte, sind beide Vorgehensweisen möglich; diese Uberlagerung war aber der Fall. Hermeneuten haben seit Schleiermacher die Verfahren der Rhetorik als die andere Seite des Verstehens begriffen. Inbegriff von Rhetorik war für sie ein Herstellen, das die Vorgängigkeit des Verstehens in der Zweckausrichtung der Verständigung als seinen blinden Fleck hat. Das ist die Rhetorik der Hermeneuten. So kann man verstehen, was Rhetorik in einer Kultur ausmachte. Man kann so aber nicht zugleich auch sehen, wie Rhetorik in dieser Bedeutung funktioniert. Man sieht nicht, wie in der Rhetorik funktionierte, XII

daß Verstehen in sie eingestellt war. Man versteht Rhetorik als das Andere der Hermeneutik nur, indem man das Überreden als Äußerlichkeit in den Vordergrund treten läßt. Man kommt nicht an den Punkt, an dem die Sachanalyse zur historischen Funktionsbeschreibung wird. — Hans-Georg Gadamer hat darüber hinaus einen historischen Anknüpfungspunkt der Hermeneutik auf dem Terrain der Rhetorik namhaft gemacht: die ars legendi, Kunst des Lesens, die wirklich — besonders in der Humanistenpädagogik — eine hermeneutische Vorübung im Ausgang der rhetorischen Regelbeherrschung war. Das ist der hermeneutische Blick auf ein Stück Leseübung in bzw. vor der Rhetorik, auf das Stück einer Vorgabe, das die rhetorische Regelbeherrschung — für den Hermeneuten — erst trägt und nach Gadamers Annahme im Laufe einer geschichtlichen Entwicklung überflüssig machte und auflöste. Gadamer schließt den Hiat zwischen rhetorischer Regel und hermeneutischem Kanon mit dem Ubergang von mündlicher zu schriftlicher Kultur zusammen. Es handelt sich bei der im Laufe der Zeit übermächtig werdenden Hermeneutik in der Rhetorik um das Moment der Schriftlichkeit — Schriftlichkeit des Gelesenen — in der Übung der Mündlichkeit — Mündlichkeit des Sprechens. So fügte Gadamer dem Sachargument eine historische These hinzu, die nicht zu bestreiten ist. Aber Sachargumente und historische These sind bei Gadamer nicht auf gleicher Problemhöhe. Die historische These bezieht sich auf weitere und gröbere Kategorien als das Sachargument. 3 Andererseits haben Rhetorikforscher die Macht der hermeneutischen Regeln in ihrer romantischen Ausprägung als Datum der Rhetorikzerstörung aufgestellt. Die Kategorie des Ausdrucks, die Konzentration auf den Autor als Individuum, die Wendung zur Einmaligkeit des Werks — das schienen Akte der Usurpation rhetorischen Territoriums durch hermeneutische Gewalt. Das ist die Hermeneutik der Rhetoriker. Es geht vor allem um die Enteignung der Tropen und Figuren — die dabei auf vorgebliches Traditionswissen der Rhetorik über die Emotionalität des Menschen bezogen werden — durch den usurpatorischen Akt des Geistes. Wirklich kann man so gut erkennen, wie Hermeneutik am Anfang des 19. Jahrhunderts besonders im deutschsprachigen Raum daran beteiligt war, den Herrschaftsbezirk der Geisteswissenschaften zu errichten. Es handelt sich um eine Art Kulturkritik der Wissenschaftsgeschichte. — In einer manches Mal eigenartigen Wendung konnten die Rhetorikforscher aber auch (und zugleich) zeigen, wie wenig verbogen sich manche Grundsätze der romantischen Hermeneutik aus den figuralen Verfahren der Rhetorik herleiten, wie unschwer sich viele Leitbe-

3

Zu dieser Skizze vgl.: Friedrich D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Einleitung 1—4, zit. nach: Sch., Hermeneutik und Kritik, hrsg. u. eingel. v. M. Frank, Frankfurt 1977, S . 7 5 - 7 7 ; und: Hans-Georg Gadamer, Rhetorik und Hermeneutik, Göttingen 1976. XIII

griffe des Verstehens an alte rhetorische Sätze anschließen lassen. Das gilt für Kategorien des Stils, für Teile aus der Rede vom Genie und dem Vokabular des Originalen. Man kann sich also daran machen, eine Begriffs- und Wirkungsgeschichte rhetorischer Formeln und Termini in der Hermeneutik zu schreiben, in deren wissenschaftsgeschichtlichem Triumph sie das Dasein des Verborgenen und Verdrängten führen. Das ist die rhetorische Suche nach dem Rhetorischen in der Hermeneutik. Man gab der Verdrängung und Verdeckung eine Reihe von Ausdeutungen: an die Tradition des taciteischen >Dialogus< anschließend konnte man vom Verfall der res publica erzählen, man konnte den Bruch einer humanistischen Kultur diagnostizieren, man konnte zuletzt an die Verluste beim Aufstieg des Bürgertums erinnern. Die Verdrängung einer einfachen Erfahrung führte Interpreten darauf, den Hiat zwischen Rhetorik und Hermeneutik mit gesellschaftlichen, politischen oder sozialen Ubergängen zusammenzustellen.4 Es geht also darum, die Ubergängigkeit als Ubergang selbst zu beschreiben, und dazu einen Term anzusetzen, der nicht bereits von Anfangs- oder Endposition — Rhetorik oder Hermeneutik — bestimmt ist. Dieser Term ist der der reinen (praktischen wie theoretischen) Bestimmung der Sprach- bzw. Textbeziehungen. Im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Literaturbegriffs im 18. Jahrhundert ist das >Literarische< dafür geeignet. Vom literarischem wird hier in nicht sogleich zu reduzierender Mehrfachbedeutung gesprochen: Das >Literarische< bezeichnet einmal das Sachverhältnis der Ubergängigkeit der rhetorischen Regeln und des hermeneutischen Kanons. Dies läßt sich nur erörtern, wenn man bedenkt, in welchem Verhältnis Rhetorik und Hermeneutik je zur Grammatik, zum Regelwerk oder zum Strukturfond Sprache standen. Man kann Rhetorik und Hermeneutik angemessen nicht als zwei Seiten einer gleichen in Grammatik niedergelegten Invarianz auffassen (wie es Hermeneuten der Rhetorik und rhetorische Hermeneutikkritiker allemal tun); man muß Rhetorik und Hermeneutik vielmehr als zwei verschiedene Arten in den Blick nehmen, Struktur und Aktualität, Sprache und Sprechen ins Verhältnis zu setzen. Beim Versuch, die Ubergängigkeit dieser beiden Verhältnis-Setzungen zu beschreiben, ist man ins Reich der Paradoxien unterwegs. In der Ubergängigkeit von Rhetorik und Hermeneutik zerfällt nämlich die Einheit der Grammatik. Die Ubergängigkeit war aber auch positives Programm des Ubergangs. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts — in Deutschland: bei den >kritischen< Poetologen, die sich an Wolff und bei Baumgarten schulten - kann man eine sehr

4

Ich verweise hier nur auf: Klaus Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Bad H o m b u r g , Berlin, Zürich 1968; und auf: Gert Ueding, Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition, Tübingen 1971.

XIV

gelehrte, sehr zähe und nicht immer über sich selbst ganz klare Arbeit der Umwendung, der Uminterpretation, der Umwendung durch Interpretation beobachten. Allgemeine Semiotik, Unterscheidung von empirischer und rationaler Psychologie, Thematisierung der sinnlichen Erkenntnis: all das bot Begriffe und Beschreibungsweisen für das Programm an, durch das der Ubergang von dritten Positionen aus ins Werk gesetzt und bis zu einem bestimmten Punkt verstanden werden konnte. Darum haftet den Dokumenten des Ubergangs auch der Charakter einer Ablenkung, eines Umwegs an: die Übergängigkeit, die als Verhältnis von Rhetorik und Hermeneutik die Paradoxic wahrt, entschied sich im historischen Übergang nur in Hinsicht auf andere Fragen, andere Positionen (Frage des Zeichens, Position der Erkenntnis). Zu dieser historischen Bewegung liegen wichtige Untersuchungen vor: im Anschluß an die Geistes- und Philosophiegeschichte, wenn man sich fragte, wie Baumgarten ein ästhetisches Lehrwerk konzipierte und dabei doch noch rhetorische Termini benützte; in jüngerer Zeit im Anschluß an Semiotikgeschichte, wenn man zeigte, daß Wolffs Begriff der Repräsentation des Zeichens durchaus Anwendungen auf Rhetorik und Anregungen aus der Rhetorik nahelegt. 5 Diese Arbeiten werden hier aufgegriffen, um das historische Faktum und die Art der Ablenkung in der Lösung der Probleme ins Licht zu rücken. Man muß sich aber klarmachen, daß es in der semiotischen und in der ästhetischen Debatte nichtrhetorische und nichthermeneutische Instrumente waren, die die literarische Umwandlung der rhetorischen Tradition ins Werk setzten. Zugespitzt: nichtliterarische Faktoren literarisierten die Rhetorik im Übergang. So erweitert man die Paradoxie der Übergängigkeit um eine Beschreibung des Paradoxen. Analysearten, die sich mit dem Diskurs Literatur beschäftigen, können es damit bewenden lassen, das Paradoxe und die Paradoxie aufzuweisen, darzustellen und zu durchdenken. Die Analyse, die sich mit der Bestimmung des Diskurses Literatur unter den Diskursen beschäftigt, muß im Gegenteil der Beobachtung nachgehen, daß das Programm des Übergangs durch Hinweise auf andere Bereiche, Ausweichen in andere Themen formiert wurde. 6 Man gelangt so zur dritten Bedeutung des >LiterarischenLiterarischen< sich abzeichnen. D a s KAPITEL I und das KAPITEL III sprechen v o m Ubergang von Rhetorik und Hermeneutik und verfahren nach Maßgabe ihrer paradoxen U b e r gängigkeit. KAPITEL I nimmt den A u s g a n g von der Interpretation rhetorischer Tradition bei B o d m e r und Gottsched, der rhetorisch-poetologischen >KritikTopik< trägt es dem Versuch Rechnung, das Literarische als diskursiven Kreuzungspunkt sichtbar werden zu lassen. D i e große, im Rückblick sich aufdrängende Zweiteilung in Innerliterarisches einerseits, Psychologie b z w . Anthropologie andererseits ist vermieden, weil sie selbst erst um 1700 entstand. Vielmehr sollen vier >Topoi