Aeneas als Held und Erzähler: Zur narrativen Gestaltung von Vergils Aeneis [1 ed.] 9783666311475, 9783525311479

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Aeneas als Held und Erzähler: Zur narrativen Gestaltung von Vergils Aeneis [1 ed.]
 9783666311475, 9783525311479

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Ruth Monreal

Aeneas als Held und Erzähler Zur narrativen Gestaltung von Vergils Aeneis

Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Friedemann Buddensiek, Sabine Föllinger, Hans-Joachim Gehrke, Karla Pollmann, Christiane Reitz, Christoph Riedweg, Tanja Scheer, Benedikt Strobel Band 214

Vandenhoeck & Ruprecht

Ruth Monreal

Aeneas als Held und Erzähler Zur narrativen Gestaltung von Vergils Aeneis

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortliche Herausgeberin: Christiane Reitz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Aeneas in Rüstung erzählend bei Dido. Lorenzo Pasinelli, 1629–1700. Sammlung des Nationalmuseums in Warschau © Copyright by Krzysztof Wilczyński/NMW Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-3407 ISBN 978-3-666-31147-5

Inhalt

1 Aeneas auf dem Dach: Eine Ehrenrettung zur Einführung . . . . . . . 9 2 Plan der vorliegenden Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3 Die literarische Eigenständigkeit der Aeneis . . . . . . . . . . . . . . . 27 4 Der Titelheld als erzählerische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . 38 4.1 Die Überzeitlichkeit des vergilischen Aeneas . . . . . . . . . . . . 38 4.2 Pietas als Charakteristikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.3 furor, ira & amens: Aeneas im Kampfmodus . . . . . . . . . . . . 57 5 Zeitliche Dimensionen und Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 5.1 Reale Gegenwart als fiktionale Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . 66 5.2 Herkunft des Helden als Analepse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 5.3 Aeneas’ Bestimmung und Priamus’ Erbe . . . . . . . . . . . . . . 77 5.4 fata: Ein operativer Begriff im Narrativ der Macht . . . . . . . . . 83 6 Erzählter Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 6.1 Welt und Unterwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 6.2 Troias Topographie und der besondere Dreh in Aeneis 2 . . . . . 101 6.3 Suche und Orientierung in Aeneis 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 6.4 Ortsangaben und -beschreibungen in Aeneis 2–3 . . . . . . . . . 116 7 Die Erzählung in Aeneis 2–3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 7.1 Kommunikationssituation und Motivierung der Binnenerzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 7.2 Erzählte Geschichte und interne Adressatin . . . . . . . . . . . . 123 7.3 Die Tempora der Verben in Aeneis 2–3 . . . . . . . . . . . . . . . 130 7.4 Zur narrativen Funktion von ecce . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 7.5 Inhaltliche Gewichtung der vergilischen Iliupersis . . . . . . . . . 145

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Inhalt

8 Der Erzähler Aeneas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 8.1 Zuverlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 8.2 Epistemische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 8.3 Stellung des Erzählers zum erzählten Geschehen . . . . . . . . . . 172 8.4 Vorgriffe, Resümees, Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 9 Figurenrede und szenisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 9.1 Implikationen der Figurenrede und Aeneas’ Erzählung als Figurenrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 9.2 Die dialogischen Szenen in Aeneis 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 9.2.1 Laocoons vergebliche Warnung . . . . . . . . . . . . . . . 207 9.2.2 Sinons Geschichten: ›Operation Hölzernes Pferd‹ . . . . 211 9.2.3 Traum vom toten Hector . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 9.2.4 Lagebericht des Panthus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 9.2.5 Anspornung zum letzten Kampf . . . . . . . . . . . . . . . 231 9.2.6 Irrtum des Androgeos und List des Coroebus . . . . . . . 233 9.2.7 Ungleicher Zweikampf des Priamus gegen Pyrrhus . . . . 237 9.2.8 Intervention der Venus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 9.2.9 Weigerung des Anchises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 9.2.10 Verschwinden der Creusa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 9.2.11 Prophezeiung der Creusa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 10 Gleichnisse: Prägnanz durch Abstraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 10.1 Vergils epische Gleichnisse: Definition und Interpretation . . . . 273 10.2 Tabelle: Das Gleichnis in der Aeneis . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 10.3 Zu Unrecht vernachlässigt: Die Ähnlichkeitsrelation . . . . . . . 292 10.4 Die Gleichnisse in Aeneas’ Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . 305 10.4.1 Brüllen eines beim Opfer verletzten Stiers (2,223 f.) . . . 307 10.4.2 Schwierigkeit, die akustische Wahrnehmung eines gewaltigen Naturereignisses von fern richtig zu deuten (2,304–308) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 10.4.3 Instinktgeleitetes Verhalten hungriger Wölfe (2,355b–358a)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 10.4.4 Erschrecken vor einer versehentlich aufgestörten Schlange (2,379–381) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 10.4.5 Wirbel aus Winden dreier Richtungen (2,416–419) . . . . 326 10.4.6 Angriffslustiges Gebaren einer nach dem Winter zu neuem Leben erwachenden Giftschlange (2,471–475) . . 329 10.4.7 Zerstörerische Kraft reißenden Wassers (2,496–499a)  . . 334

Inhalt

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10.4.8 Verhalten von Tauben bei Unwetter (2,516) . . . . . . . . 335 10.4.9 Unausweichliches Umkippen eines professionell gefällten Baumes (2,626–631) . . . . . . . . . . . . . . . . 338 10.4.10 Anblick großer Bäume vom Meer aus (3,679b–681) . . . 341 11 Krisis ohne Helena und Hilfe durch Venus . . . . . . . . . . . . . . . . 343 11.1 Die Helena-Szene: Servius und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . 350 11.2 Vermeintliche Probleme des überlieferten Textes . . . . . . . . . 363 11.2.1 Das cum inversum (2,589): Glatt, glatter, Glättung . . . . 364 11.2.2 Nennung der Helena in 2,601: Im Kontext des göttlichen Plans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 11.2.3 Dextraque prehensum continuit: Mutter und Sohn . . . . 372 11.2.4 Indomitas iras (2,594) und furis (2,595): Zorn der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 11.3 Venus in der Aeneis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 12 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Indices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Index nominum et rerum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Index locorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422

1 Aeneas auf dem Dach: Eine Ehrenrettung zur Einführung

Das zweite Buch der Aeneis enthält die Schilderung vom Untergang Troias. Sie beginnt mit dem riesenhaften hölzernen Pferd, das die Troianer vor den Toren ihrer Stadt finden, wo noch am Abend zuvor das Heerlager der Griechen gestanden hat. Und sie endet damit, dass Aeneas nach nächtlichen Kämpfen in der Stadt seine Familie aus Troia wegführt und bei Tagesanbruch auf weitere Troianer trifft, die wie er zum Auswandern entschlossen sind. Das dritte Buch schildert die Suche des Aeneas und seines Vaters Anchises nach einer neuen Heimat für die Troianer: wie sie, von Weissagungen geleitet, zu Schiff mehrere Orte ansteuern, bis ihnen deutlich wird, was ihr Ziel ist. Die letzte Station, von der im dritten Buch berichtet wird, ist Drepanum auf Sizilien, wo Anchises stirbt. Innerhalb der Aeneis haben die Bücher 2 und 3 insofern einen besonderen Status, als hier nicht unmittelbar der epische Erzähler spricht, sondern der Held des Epos selbst, Aeneas. Er erzählt beim Festmahl am Hof von Karthago auf Bitten der Königin Dido von Troias Ende und von dem Weg, den er und seine Begleiter seither zurückgelegt haben. Einen dramatischen Höhepunkt der Erzählung bildet die Erstürmung der Burg von Troia im zweiten Buch. Sie findet ihre grausame Vollendung in der Tötung des Königs durch Achills Sohn Pyrrhus-Neoptolemus.1 Wie es dazu kommt, dass Priamus von der Hand des Pyrrhus fällt, ist in den Versen 2,506–553 detailliert ausgeführt: Als der greise König bemerkt, dass die Griechen beginnen, in die Burg einzudringen, legt er seine Rüstung an. Er ist bereit, dem Feind todesmutig entgegen zu treten. Aber seine Frau Hecuba, die zusammen mit den anderen Frauen der Königsfamilie am Hausaltar in einem Innenhof Schutz gesucht hat, hält ihn davon ab. Sie sagt, dass er nichts mehr ausrichten könne, und lässt ihn neben sich am Altar Platz nehmen. Da stürzt einer von Priamus’ Söhnen, Polites, herbei. Er ist auf der Flucht vor Pyrrhus, der ihn verwundet hat und ihm mit erhobener Lanze durch das Gebäude gefolgt ist. Als Polites vor den Augen seiner Eltern stirbt, schmäht Priamus Pyrrhus mit wütenden Worten 1 Heinze 31915, 39: »und nun beginnt der letzte Akt des Dramas: der Fall Trojas gipfelt in Priamos’ Tod. Diese Symbolik der poetischen Architektur scheint uns jetzt so selbstverständlich, daß sie bei Virgil, soviel ich sehe, keinem Interpreten aufgefallen ist; aber auch hier wie so oft ist es nur ein Triumph des Dichters, daß seine Erfindung als selbstverständlich erscheint. Wir wissen von keiner Tradition, die den Tod des Priamos als Abschluß der Iliupersis berichtet hätte.«

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und wirft einen Speer, der allerdings wirkungslos in dessen Schild stecken bleibt. ­Pyrrhus antwortet mit einer Gegen-Schmähung und tötet Priamus mit dem Schwert. In Aeneas’ Erzählung geht dieser Szene ein Abschnitt voraus, der davon handelt, wie er selbst sich auf das Dach der Burg begibt und von dort aus zusammen mit weiteren Troianern versucht, die Griechen am Eindringen in das Gebäude zu hindern. Aeneas erzählt, wie dieser Versuch misslingt: Das Tor wird gewaltsam aufgebrochen, und die griechischen Krieger, allen voran Pyrrhus, stürmen hinein. Da der Erzähler Aeneas am Ende dieses Abschnittes konstatiert, dass er Priamus blutend auf dem Altar liegen gesehen hat, nehmen die Erklärer an, Aeneas habe dessen Tötung, die bei einem Altar in einem Innenhof vor sich geht und von der er Dido anschließend detailliert berichtet, vom Dach aus sozusagen als Zuschauer mitverfolgt. Heinze 31915 stellt sich dies folgendermaßen vor: Die Situation des Aeneas während dieser letzten Szenen ist völlig klar. Der Palast wird von der Stirnseite bestürmt; um sich an der Verteidigung zu beteiligen, muss Aeneas durch eine Hintertür den Aufgang zum Dach gewinnen; aber freilich kann von dort aus nur die zunächst drohende Gefahr, die mit Hilfe einer testudo versuchte Ersteigung der Zinnen, bekämpft werden; als es Neoptolemos gelungen ist, das Tor zu sprengen und in das vestibulum, dann durch dieses hindurch in das atrium einzudringen, ist die Besatzung des Daches zum untätigen Zuschauen gezwungen. Und natürlich sehen sie vom Dache aus alles, was sich im atrium zuträgt: Virgil denkt sich dies mit großer Mittelöffnung, vielleicht auch mehr in Art der griechischen αὐλή, so jedenfalls, daß im Mittelpunkt nudo sub aetheris axe, wie ausdrücklich hervorgehoben wird, der gewaltige Hausaltar mit seinen Penaten stehen kann, zu dem sich die Frauen und Priamos geflüchtet haben.2

Entsprechend schreibt Suerbaum 1999 in einer Inhaltsangabe: Er muß vom Dach des Königspalastes mitansehen, wie Pyrrhus (Neo­ ptolemus), der Sohn Achills, dort eindringt (469–505) und schließlich in einem Innenhof zunächst einen Sohn des Königs Priamus vor den Augen des greisen Vaters und dann auch noch den greisen Vater selber am Altar des eigenen Palastes vor den Augen seiner Gattin Hecuba erschlägt (506–558). Diese Szene erinnert Aeneas an seine eigene Familie (559–566).3

Auch Horsfall geht in seinem 2008 erschienenen Kommentar zum zweiten Buch davon aus, dass Aeneas das Geschehen im Hof vom Dach aus mitansieht, ja es ›unverwandt beobachtet‹ (»has been gazing fixedly at events in the palace courtyard«).4

2 Heinze 31915, 40 f. 3 Suerbaum 1999, 52 f. 4 Horsfall 2008, 426, ad 2,564.

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Die Annahme, dass Aeneas vom Dach aus in den Innenhof hineinblickend Zeuge der in den Versen 2,506–553 dargestellten Vorgänge wird, ist gängig,5 aber durchaus nicht unanstößig. Einerseits zieht sie Fragen praktischer Art nach sich: Wie kann Aeneas vom Dach aus so genau sehen, was im Innenhof geschieht? Wie kann er hören, was dort von Hecuba, Priamus und Pyrrhus im Einzelnen gesprochen wird? Andererseits ist die Situation inhaltlich fragwürdig: Darf ein Held, der seine Vaterstadt verteidigt, tatenlos dabei zusehen, wie der König getötet wird? Müsste er sich nicht, auch ohne jede Aussicht auf Erfolg, vom Dach hinab auf den Angreifer stürzen? Die Beanstandung der praktischen Umstände erscheint weniger schwerwiegend. Es sind architektonische Gegebenheiten vorstellbar, die es erlauben, dass Aeneas von einem Dach aus verfolgen kann, was in einem Innenhof geschieht. Tatsächlich passt die Beschreibung der Örtlichkeiten zu einer solchen Szenerie, denn es heißt, dass die Frauen in das Innere des Palastes geflüchtet sind, und zwar zum Altar der Penaten, neben dem ein alter Lorbeerbaum in den freien Himmel wächst.6 Schwerer wiegt hingegen das anscheinend unheldenhafte, gegen die Gattungskonvention verstoßende Verhalten des Aeneas. Oder, wie Heinze formuliert: Es hat etwas Peinliches, um nicht zu sagen Komisches, sich Aeneas während dieser ganzen tragischen Vorfälle als untätigen Zuschauer auf dem Dache zu denken.7

5 Sie findet sich zum Beispiel auch bei: Blümer 2008, 113; Sklenář 1990, 67. 75; Williams 1983, 250: »His detailed eyewitness account of Priam’s death follows.« 6 2,512–514: aedibus in mediis nudoque sub aetheris axe | ingens ara fuit iuxtaque veterrima laurus | incumbens arae atque umbra complexa penatis. Heyne 41832, vol. 2, 430, führt aus, dass der Dichter ein Gebäude in der Art eines römischen Atriumhauses mit einem Peristyl­ hof vor Augen gehabt haben könne; ähnlich Heinze  31915, 40 f., oben zitiert. Aber man muss Vergil und seinen Rezipienten zutrauen, dass sie sich das Zuhause des troianischen Königs Priamus nicht unbedingt wie ihr eigenes vorstellen. Weitere Angaben im Text über die Architektur des Gebäudes, in dem Priamus wohnt (vgl. die Auflistung in 6.2), legen jedenfalls große Dimensionen und Weitläufigkeit nahe, und der in 2,460–462 beschriebene Aussichtsturm, den Aeneas vom Dach aus auf die anstürmenden Griechen niederkrachen lässt, spricht darüberhinaus für eine gewisse Wehrhaftigkeit der Anlage. Schrijvers 1971, 199 schlägt vor, dass Vergil Aeneas vom Dach eines Torbaus (»poortgebouw«) aus durch das aufgebrochene Palasttor schauen lasse, um dessen Wissen um die Vorgänge im Innern des Palastes wahrscheinlich zu machen. 7 Heinze 31915, 41. Putnam 1995, 142 meint, dass Aeneas absichtlich nicht eingreife und der Tötung des alten Königs als Zeichen von Troias Ende genüsslich zuschaue: »Aeneas seems only a voyeur of this impious sequence of events as Pyrrhus kills first Polites before the eyes of his parents, then Priam himself. He makes no attempt to intervene or avenge the double murder, perhaps because he is meant to appreciate that the death of its aged leader betokens the downfall of Troy.«

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Heinze meint nun, Vergil8 habe, um die Peinlichkeit erträglicher zu machen, einen Bruch der Perspektive in Kauf genommen und ab 2,506, wo die Erzählung mit forsitan et Priami fuerint quae fata requiras neu einsetzt, den Ich-Erzähler hinter dem epischen Erzähler zurücktreten lassen: Virgil hat, um dies zu mildern, zu einem eigentümlichen Mittel gegriffen. Aeneas berichtet zunächst ganz kurz (499–502), er habe mit eigenen Augen gesehen, wie Neopto­ lemos und die Atriden im Palaste wüteten, wie Priamos am Altar fiel: dann brechen die thalami zusammen; wo das Feuer nicht herrscht, steht der Feind. Und nun hebt die Erzählung mit Priamos’ letzten Schicksalen von neuem an, forsitan et Priami ­fuerint quae fata requiras; diese werden aber nunmehr so erzählt, daß der Erzähler selbst dabei ganz aus unserem Gesichtskreis tritt, daß die Empfindung, einen Augenzeugen zu hören, nicht in uns aufkommt: ja wir dürfen billig bezweifeln, ob es Aeneas möglich gewesen wäre, die ganze Entwicklung, wie er sie mit Priamos’ Rüstung, Hekubas Worten usw. gibt, selbst zu beobachten. Also auch hier wieder ein Verzicht auf die strengste Durchführung der Ich-Erzählung der höheren künstlerischen Ökonomie zuliebe.9

Dem folgt Austin 1964 in seinem Kommentar zum zweiten Buch;10 zusätzlich operiert er mit dem Begriff des Botenberichts: But it is also possible to regard the scene as something corresponding to a Messenger’s speech: although in one sense the whole Book has an affinity with  a ›messenger‹ 8 ›Vergil‹ steht hier wie im folgenden für den historischen Autor, den Verfasser der Aeneis (sowie der Eklogen und der Georgica), synonym werden die Ausdrücke ›der Dichter‹ und ›der Autor‹ gebraucht; zur biographischen Überlieferung siehe Brugnoli / Stok 1997; Horsfall 1995,1–25 mit weiterer Literatur. 9 Heinze 31915, 41. Ganz ähnlich äußert auch Sanderlin 1972 Zweifel an Aeneas’ Augenzeugenschaft und meint, dass die Bedeutsamkeit des geschilderten Geschehens die Frage nach der Rolle des Aeneas in den Hintergrund treten lasse: »Indeed, after the transitional forsitan et Priami fuerint quae fata requiras (506) Aeneas becomes simply a reporter relat­ ing objectively the climax of Book II, the death of Priam. We cannot be absolutely sure that he was an eye-witness. But the event is so momentous in itself that we do not think to ask why Aeneas is not found fighting at his lord’s side«, 83. Ingesamt sieht Sanderlin Aeneas in Aeneis 2 mehr als Beobachter: »Virgil’s problem in Book II is that Aeneas cannot win at Troy, yet he must play a pars magna in the events. So Virgil shifts the point of view in such a way as to make Aeneas more of an observer of the Trojan tragedy, which belongs to the past, more of a participant in the aftermath, the flight toward Roman future. Thus Aeneas emerges from the holocaust with his reputation intact  – with weaknesses and underlying strengths which will be further tested«, 84. 10 Austin 1964, 198: »forsitan … requiras: the line is a transition from the brief eyewitness summary in 499 ff. (›vidi ipse … vidi‹) to the detailed story that follows, in which the poet takes full charge. Heinze observes that Virgil must have felt a strangeness of representing Aeneas as helplessly watching all these tragic happenings from the roof, and that he therefore confined the eyewitness narrative to a few lines only, and then, with a fresh beginning here, told the full story in such a way that it hardly appears as a personal narrative. This, I think, is true.«

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narrative (cf. note on 5),11 this scene, the heart of the tragedy, shows the manner in a stricter sense: Aeneas’ personal participation has taken on the objectivity of a mere reporter.12

Bei Sklenář  1990, der die Vorstellung entwickelt, dass Aeneas sich in diesem Abschnitt als Erzähler gegenüber Vergil zu behaupten versuche und selbst zum Dichter werde, sind die Verhältnisse kurioserweise umgekehrt: Throughout the episode, the omniscient Vergil has restricted his perspective to that of the eyewitness, Aeneas; the final image expands Aeneas’ perspective to that of Vergil, the artistic creator. Aeneas, as much as Vergil, is the poet of Priam’s death.13

Horsfall wiederum konstatiert einen Wechsel in der Erzählhaltung in der üblicheren Richtung und beschreibt diesen als eine Art »Wechsel des Tonfalls«: 564 respicio. Aen. has been gazing fixedly at events in the palace courtyard: now at last the all-seeing tragic / historical narrator is reverting to his role as a mere narrating character, Aeneas actually looks away from the courtyard at what is happening around him on the roof.14 Aen. here says he saw Priam’s death, but he does not narrate it as  a witness, thus permitting a change of tone without entirely forfeiting the authority of a witness;15

Casali 2017 schließlich erklärt Heinzes Zweifel an der Vorstellung, dass Aeneas Augen- und Ohrenzeuge der in 2,507–553 geschilderten Vorgänge sei, für haltlos und nennt Aeneas einen »distanzierten Erzähler«: Questo dubbio in realtà non ha ragione di sussistere. Dobbiamo immaginarci Enea sempre testimone  e narratore, anche se narratore ›distaccato‹: cfr. Sklenář  1990, pp.67–68; anche Horsfall, p. 385.16

11 Zu Aeneis 2 als Botenbericht: Ussani 1950. 12 Austin 1964, 198. Ähnliche Beobachtungen wie Heinze und Austin macht auch Ahl 1989: »Aeneas suggests no attempt on his part to intervene. He then recounts Priam’s death again in more detail, from what appears now to be a rooftop position, but this time as a less excited, more passive observer, as a messenger in – even a spectator at – an ancient tragedy (2,506–58)«, 29.  13 Sklenář  1990, 75; und davor: »Vergil, by concluding the scene with an epitaph, sub­ ordinates the relationship of fictitious narrator and fictitious audience to that of author and reader. But Aeneas cannot be deprived of the control of the discourse that he has so far maintained. The image of the dead Priam must, in some measure, belong to ­Aeneas, be struck by him in the minds of his Carthaginian audience. Far from accepting sub­ ordination, Aeneas reaffirms his share of narrative mastery.« Der intradiegetische Erzähler scheint hier ein Eigenleben zu gewinnen. 14 Horsfall 2008, 426. 15 Horsfall 2008, 385. 16 Casali 2017, 257.

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Der Text ruft bei den meisten Erklärern merklich ein gewisses Unbehagen hervor: Wo Heinze von einem eigentümlichen Mittel, spricht, zu dem Vergil gegriffen habe, konstatiert Horsfall, dass der Einsatz von Aeneas auf dem Palast­ dach als Beobachter, der erzählt, was im Palast vorgeht, letztlich nicht völlig überzeugend sei.17 Austin kritisiert gar, dass Aeneas im zweiten Buch zu viel Zeit auf Dächern zubringe.18 Aber: Sind Unbehagen oder Kritik hier am Platz? Zweifellos mutet die Vorstellung, Aeneas verfolge als untätiger Beobachter die Tötung des Königs, seltsam an. Aber wird diese Vorstellung dem Text gerecht? Ich meine, das wird sie nicht. Sie beruht vielmehr auf einem Missverständnis der Erzählhaltung. Um dies zu erweisen, soll der Text im Folgenden daraufhin untersucht werden, welche Art von Aussagen an welcher Stelle getroffen werden und welche Art von Gültigkeit sie haben. Dabei wird zu beschreiben sein, worin genau das ›eigentümliche Mittel‹ besteht, zu dem Vergil gegriffen hat, und es wird sich zeigen, dass es so eigentümlich gar nicht ist. Bei dem Abschnitt, in dem der Tod des Priamus dargestellt ist, handelt es sich um einen Einschub, der vom umgebenden Text deutlich abgegrenzt ist. Klar erkennbar wird in 2,506 mit forsitan et Priami fuerint quae fata requiras ein Neueinsatz markiert.19 Das Ende des Einschubs bildet der sogenannte ›Epitaph auf Priamus‹ in 2,554–558, in dem das Erzählte auf einer abstrahierenden Ebene resümiert wird: haec finis Priami fatorum, hic exitus illum | sorte tulit etc.: Das Thema ›Der Tod des Priamus‹ wird also explizit eingeleitet mit der an Dido gerichteten Frage (»Vielleicht möchtest du auch wissen, wie es Priamus ergangen ist…«) und explizit abgeschlossen mit dem ›Epitaph‹ (»So erfüllte sich Priamus’ Schicksal…«).20 Frage und Epitaph rahmen die Beschreibung des erzählten Geschehens.21 Aber nicht nur von innen her ist der Einschub klar definiert, sondern 17 Horsfall 2008, 423: »Aeneas returns to the action. The use of Aen. on the palace roof as an observer, to narrate what happened within the palace proves in the end not entirely convincing (or at least not so to modern tastes), and the source of a practical problem, in that (cf. 564) Aen. has now, finally (or so we might hope) to be got off the roof or must at least take a more active part in events«, vgl. auch 432: »ineffective hours spent on the palace roof«. 18 Austin 1964, 183: »he has entered by the postern, climbed a stairway, and come out of the roof. summi fastigia culminis is an odd echo of 302 ›summi fastigia tecti‹; and, indeed, one of the very few things in this Book that can be criticized is the amount of time spent by Aeneas on roofs.« 19 Vgl. von Duhn 1952, 75: »erzählt Aeneas mit einem neuen Einsatz vom Ende des ­Priamus, dem er vom Dach des Palastes aus untätig zusehen muss«; Büchner 1955, 331: »das Schicksal des Priamus wird (…) mit neuem Ansatz erzählt.« 20 Zum ›Epitaph auf Priamus‹ (2,554–558) siehe 8.4 [11]. 21 Vgl. Quinn 1963, 229: »The account of the death of King Priam (ii 506–58) stands outside the basic, fast-moving narrative structure of Book II. Within that structure Priam is already dead before our episode begins, his death related with the terse rapidity appropriate to the main structure: (… ) Aeneas now comes back on what he has already told, with

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auch von außen: Vorher steht ein metaphorisches Resümee, das den vorausgehenden Abschnitt abschließt (2,503–505: quinquaginta illi thalami, spes tanta nepotum etc.), und direkt nach dem Einschub findet in 2,559 ein neuer Einsatz statt: At me tum primum saevus circumstetit horror. Nun hat man festgestellt, dass der Text innerhalb des Einschubs irgendwie anders ist als der umgebende Text. Aber worin besteht der Unterschied? Den Erklärern fällt es nicht leicht, ihn zu beschreiben. Heinze spricht beim umgebenden Text von »Ich-Erzählung« und beim Einschub davon, dass »der Erzähler selbst dabei ganz aus unserem Gesichtskreis tritt«. Er stellt weiter fest, innerhalb des Einschubs finde ein »Verzicht auf die strengste Durchführung der Ich-Erzählung« statt.22 Austin belegt den umgebenden Text mit den Ausdrücken »personale Erzählung« und »Augenzeugen-Erzählung« (»personal narrative«, »eyewitness narrative«). Vom Einschub sagt er, dass hier der Dichter die volle Verantwortung übernehme (»the poet takes full charge«). Einer »persönlichen Beteiligung« (»personal participation«) stehe die »Objektivität eines reinen Berichterstatters« (»objectivity of a mere reporter«) gegenüber.23 Sklenář spricht von »Augenzeugen-Erzähler« (»Aeneas in his role as eyewitness narrator«) und »Autorenstimme« (»Aeneas’ arrogation of authorial voice«).24 Bei Horsfall fallen die Ausdrücke »Wechsel im Tonfall« (»change of tone«),25 »erzählende Figur« (»narrating character«) und »alles sehender tragisch-historischer Erzähler« (»all-seeing tragic / historical narrator«).26 Für Casali ist Aeneas »Zeuge und Erzähler, wenngleich ein ›distanzierter‹ Erzähler« (»testimone e narratore, anche se narratore ›distaccato‹«).27 Alle diese Begrifflichkeiten haben gemeinsam, dass sie erstens nicht klar definiert sind und dass sie zweitens nicht hinreichend erklären, worin der Text des Einschubs sich von dem umgebenden Text unterscheidet. Der Unterschied besteht in der Stellung des Erzählers zu dem von ihm erzählten Geschehen, genauer: dem Grad seiner Beteiligung an dem Geschehen. Im umgebenden Text ist Aeneas die Hauptfigur des von ihm selbst erzählten Geschehens: Er berichtet, wie er die Nacht, in der Troia fiel, erlebt hat. Hingegen kommt in dem Geschehen, das im Einschub dargestellt ist, der Erzähler nicht als the words forsitan…« und 238: »the present tense (scil. iacet in 557) brings us back to the point (line 506) where Aeneas broke off, with Priam already dead, to give us this detailed recapitulatory narrative of his death. The return to the main narrative is smoothed by the intervening epitaph scene.« 22 Heinze 31915, 41. 23 Austin 1964, 198, ad 2,506. 24 Sklenář 1990, 67; Sklenář verwendet außerdem die Ausdrücke: »fictitious narrator and fictitious audience«, »author and reader«, »narrative mastery«, »omniscient Virgil«, »artis­ tic creator«, »poet«; 75. 25 Horsfall 2008, 385. 26 Horsfall 2008, 426, ad 2,564. 27 Casali 2017, 257.

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handelnde Figur vor: Aeneas spielt in der Episode vom Tod des Priamus keine Rolle. Der unterschiedliche Grad der Beteiligung des Erzählers am Geschehen bedeutet nun aber nicht, dass man es mit unterschiedlichen Erzählern zu tun hätte, dass etwa Aeneas vom epischen Erzähler abgelöst würde, im Sinne von Austins »the poet takes full charge«. Aeneas mag zwar in der Episode vom Tod des Priamus keine Rolle spielen, aber doch ist es er und kein anderer, der sie erzählt. Es gibt keinerlei Hinweise im Text, dass die Erzählung des Aeneas bei Didos Gastmahl in irgendeiner Weise unterbrochen würde. Im Gegenteil: Zu Beginn der Episode wird Aeneas durch den Rekurs auf die Kommunikationssituation in 2,506 mit der Hinwendung an die Zuhörerin in forsitan et Priami fuerint quae fata requiras als Erzähler in Erinnerung gebracht. Es tritt also gerade nicht der »Erzähler selbst dabei ganz aus unserem Gesichtskreis« (Heinze), sondern eben nur Aeneas als handelnde Figur. Zu fragen ist nunmehr, welche Stellung Aeneas zu dem im Einschub dargestellten Geschehen hat. Ist er tatsächlich der unbeteiligte und untätige Beobachter auf dem Dach? Hier ist zunächst festzuhalten, dass Aeneas die Tötung des Priamus nicht mitverfolgt haben muss, um von ihr erzählen zu können. Zwar schildert er, wenn er vom Untergang Troias erzählt, ein Geschehen, das er selbst miterlebt hat. Aber seine Erzählung muss sich nicht auf die eigenen Erlebnisse oder die eigene Perspektive beschränken:28 Schließlich sind zu der Zeit, da er bei Dido in Karthago weilt und zum Festmahl geladen ist (dem Zeitpunkt des Erzählens), bereits mehrere Jahre seit dem Fall von Troia (der Zeit des erzählten Geschehens) vergangen.29 Inzwischen kann er auch von solchen Ereignissen jener Nacht, an denen er nicht direkt beteiligt war, Kunde erhalten haben. Er hatte z. B. Gelegenheit, von den Troianern, die mit ihm unterwegs sind, deren Geschichten zu hören und auf diese Weise sein Bild der Dinge zu ergänzen. Über die genauen Umstände von Priamus’ Ende kann ihn insbesondere sehr gut Andromache in Buthrotum (3,293b–471) unterrichtet haben. Von ihr ist anzunehmen, dass sie sich in jener letzten Nacht zusammen mit den anderen Schwiegertöchtern bei Hecuba in der Burg aufgehalten hat und zugegen war, als Priamus starb. Auch ist in 3,330–332 innerhalb der Figurenrede der Andromache das gewaltsame Ende des Pyrrhus geschildert. Es ist also nicht unwahrscheinlich, 28 Vgl. Aeneas’ Feststellung in 2,6: quorum pars magna fui. Die persönlichen Erlebnisse des Erzählers Aeneas bilden einen großen Teil der erzählten Ereignisse, aber die Erzählung bleibt nicht auf sie beschränkt. 29 Die Perspektive des im Nachhinein erzählenden und daher mehrwissenden Erzählers zeigt sich gleich zu Anfang seiner Erzählung an der Schilderung der List mit dem hölzernen Pferd und etwa auch an der Charakterisierung des Sinon, vgl. Schrijvers 1971, 198: »In boek II van de Aeneïs heeft de sub-verteller Aeneas een vision par derrière t.a.v. het gebeuren (Troje’s ondergang), zoals al direct blijkt uit zijn beschrijving van het Trojaanse paard (exitiale donum II 31) en uit al het commentaar dat de sub-verteller geeft bij het verhaal van de sub-sub-verteller Sinon.«

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dass Aeneas während seines winterlichen30 Aufenthalts in Buthrotum durch Andromache über Einzelheiten vom Tod des Priamus, die er bis dahin nicht kannte, informiert wird. Aeneas muss also gar nicht Augenzeuge der Tötung des Priamus sein. Im Text gibt es auch keinen Hinweis darauf, dass der Erzähler als Zeuge der in 2,506–553 geschilderten Ereignisse vorzustellen wäre. Vielmehr ist auffällig, dass sowohl vor als auch nach dem Einschub Autopsiebekundungen stehen, nicht jedoch innerhalb desselben: Es heißt vidi ipse in 2,499 sowie vidi in 2,501 und in 2,561. Kein solcher Ausdruck begegnet hingegen innerhalb der Verse 2,506–553. Objekt zu vidi und damit Gegenstand der Autopsiebekundung sind in allen Fällen Personen: Pyrrhus-Neoptolemus (2,500), die Atriden (2,500), Hecuba (2,501a), die Schwiegertöchter (2,501b) und zweimal Priamus (2,501c–502; 2,561 f.). Dies und die Tatsache, dass drei der Personenbezeichnungen durch ein Partizip näher bestimmt sind, lassen den Eindruck entstehen, dass Aeneas weniger Handlungen im Zusammenhang beobachtet hat als vielmehr Personen gewissermaßen in ›Momentaufnahmen‹ gesehen, nämlich: Pyrrhus im Blutrausch, die Atriden auf der Schwelle, Hecuba mit den anderen Frauen und schließlich Priamus. Letzterer wird wahrgenommen per aras | sanguine foedantem quos ipse sacraverat ignis: »wie er mit seinem Blut über den ganzen Altar hin die Opferfeuer, die er selbst geweiht hatte, befleckte.« Aeneas sieht Priamus also blutend auf dem Altar liegen, d. h. er erblickt den König zu einem Zeitpunkt, da diesen der tödliche Schwert­ streich bereits getroffen hat. In derselben Situation, nämlich in Betrachtung des sterbenden Priamus (ut regem aequaevum crudeli vulnere vidi | vitam exhalantem 2,561 f.), befindet sich der erzählte Aeneas in 2,559–563. Auf diese Weise ist markiert, dass in 2,559 mit At me der Erlebnisbericht genau an derjenigen Stelle wiederaufgenommen wird, an der er vor dem Einschub unterbrochen wurde. Beim ersten Mal, da er das Anblicken des sterbenden Priamus erzählt (2,501c–502), lässt der Erzähler einen Kommentar folgen, der die Lage des troianischen Könighauses, wie sie sich zu diesem Zeitpunkt darstellte, resümiert: Mit dem vielversprechenden, an Nachkommen reichen Geschlecht der Priamiden ist es vorbei; die prunkvollen Gemächer sind zerstört; was das Feuer verschonte, haben die Griechen in ihrer Gewalt (2,503–505).31 An dieses Fazit schließt sich die Episode vom Tod des Priamus an. Beim zweiten Mal, da der Erzähler Aeneas das Anblicken des sterbenden Priamus erwähnt (2,561 f.), geschieht dies im Zusammenhang mit der 30 Bei der Ankunft in Buthrotum ist noch nicht lange Winter, denn man ist kurz nach Winteranfang von Actium weggefahren: interea magnum sol circumvolvitur annum | et glacialis hiems Aquilonibus asperat undas (3,284 f.). Die Abreise aus Buthrotum erfolgt nach Winterende: aurae | vela vocant tumidoque inflatur carbasus Austro (3,356 f.). Das Vergehen der Zeit dazwischen wird in iamque dies alterque dies processit (3,356a) summarisch angegeben. 31 Zu 2,503–505 (quinquaginta illi thalami…) siehe 8.4 [10].

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Reaktion des erzählten Aeneas auf den Tod des Priamus: Als er den sterbenden König sieht, packt ihn Entsetzen und er besinnt sich auf seine eigene Familie (2,559–563). Dann sieht er sich nach seinen Mitkämpfern um und muss feststellen, dass er allein übrig geblieben ist (2,564–566). Es wäre nun verfehlt, – und es wird durch nichts im Text nahegelegt –, die Autopsiebekundungen aus 2,499–502 und 2,561 f. auch auf 2,506–553 zu beziehen. Aeneas sagt gerade nicht, dass er mitangesehen habe, wie Priamus den tödlichen Streich empfing. Er sagt, er habe den sterbenden Priamus gesehen. Die Verse 2,499–502 sind weniger erzählend als vielmehr konstatierend: Aeneas zählt auf, was er im Einzelnen gesehen hat. Austin bezeichnet diese Verse treffend als »eyewitness summary«,32 ohne allerdings den richtigen Schluss daraus zu ziehen, nämlich den, dass sie tatsächlich alles das aufzählen, was Aeneas mit eigenen Augen gesehen hat, und dass er alles andere eben gerade nicht gesehen hat. Aeneas bettet die Erzählung von der Tötung des Priamus, deren genauen Hergang er aus einer anderen Quelle kennt, in den Erlebnisbericht, den er sonst von den Ereignissen der Nacht gibt, ein. Aus Selbstaussagen im Erlebnisbericht und aus der natürlichen Reihenfolge der Ereignisse folgt, dass Aeneas sich in der Zeit, da die in 2,506–553 geschilderten Vorgänge stattfinden, auf dem Dach aufhält: Er betritt es in 2,458: evado ad summi fastigia culminis und verlässt es in 2,632: descendo;33 dazwischen dringt Pyrrhus in die Burg ein – Aeneas beteuert, ihn im Blutrausch rasend gesehen zu haben (vidi ipse furentem | caede Neoptolemum 2,499 f.) – und Priamus wird angegriffen  – Aeneas sieht ihn sterbend auf dem Altar liegen (vidi Hecubam centumque nurus Priamumque per aras | sanguine foedantem quos ipse sacraverat ignis 2,501 f. und ut regem aequaevum crudeli vulnere vidi | vitam exhalantem 2,561 f.). Im Erlebnisbericht wird der Standpunkt des erzählten Aeneas auf dem Dach genau berücksichtigt. Hier kommt vor allem vor, was der Ich-Erzähler zum Zeitpunkt des Erlebens von den Ereignissen wahrgenommen hat: Was am Tor vor sich ging (2,469–485; 2,491–495), was er aus dem Innern des Hauses hören konnte (2,486–490; die Erklärung für den Lärm ist ein retrospektiver Kommentar), und was er vom Dach aus im Innenhof sehen konnte (2,499b–502). Die Ereignisse im Einschub überschneiden sich zeitlich mit denen im Erlebnisbericht: Eine gewisse Zeitspanne wird zweimal erzählt. Das bedeutet: Aeneas hält sich gar nicht so lange auf dem Dach auf und sieht von oben die schrecklichen Vorgänge im Innenhof nicht als Zuschauer mit an, sondern es geht alles sehr schnell und einiges simultan vor sich: Während Aeneas auf dem Dach versucht, durch das Hinabstürzen des Turmes die Griechen von der Burg 32 Austin 1964, 198; vgl. auch Salvatore 1983, 68 zu 2,499b–502: »qui il racconto di Enea diventa visione diretta«. 33 So: Austin 1964, 241 ad 2,632 und Horsfall 2008, 557 im Zusammenhang der HelenaEpisode sowie 452, ad 2,632. Anders: Horsfall 2008, 423, ad 2,559–566.

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fernzuhalten, dringt Pyrrhus (als einer der ersten) dennoch ein. Nicht sehr viel später sieht Aeneas im Innenhof Priamus sterbend beim Altar liegen. Die Frage ›Ist Aeneas tatsächlich der unbeteiligte und untätige Beobachter auf dem Dach?‹ muss also verneint werden. Aeneas ist zwar an dem in 2,506–553 geschilderten Geschehen unbeteiligt, aber er ist während der Zeit, da das Geschehen sich abspielt, nicht untätig; er ist zwar auf dem Dach, und als er hinunterblickt, sieht er Priamus sterbend im Innenhof liegen, aber er ist kein Beobachter in dem Sinne, dass er unverwandt die Vorgänge im Innenhof verfolgen würde (wie es Horsfall annimmt: »gazing fixedly at events in the palace courtyard«). Vergil hat mit dieser Darstellungsweise eine Lösung gefunden für die schwierige Konstellation, einen troianischen Flüchtling als Helden für ein römisches Gründungsepos zu haben, der vom Untergang seiner Heimatstadt als intradiegetischer Erzähler selbst berichtet: Aeneas muss einerseits seine Vaterstadt einigermaßen heldenhaft verteidigen, andererseits aber ist sagengeschichtlich vorgegeben, dass er den Untergang des Königs überlebt. Er kann nicht im Innern der Burg kämpfen, denn dort müsste er vor Priamus sterben. Also lässt Vergil ihn auf dem Dach agieren, wo er nah am Geschehen und selbst im Kampfe ist, wo er aber – ohne eigenes Verschulden – die Tötung des Priamus verpassen muss. Aeneas erkennt vom Dach aus, was passiert ist, aber nur im Ergebnis. Die Einzelheiten erfährt er später, z. B. von Andromache in Buthrotum (3,294–505).34 Weil die Episode vom Tod des Priamus für die Geschichte, die er erzählt, von Bedeutung ist, fügt er sie an geeigneter Stelle in den Bericht von seinen eigenen Erlebnissen ein.

34 Siehe La Penna 1987, 99–100, zu vidi als »formula poetica« und vidi in 2,499 als Markierung einer Ennius-Reminiszenz: haec omnia vidi inflammari | Priamo vi vitam evitari | Iovis aram sanguine turpari Enn. trag. XXVII 94 Joc, überliefert in Cic. Tusc. 3,45. Vgl. Salvatore 1983, 68. Wenn diese Verse in Ennius’ Andromacha von der Hauptfigur gesprochen werden (so Jocelyn 1969, 243), bietet sich auch von daher die Vorstellung von Andromache als Informantin des Aeneas an. Im Text der Aeneis ist der konstatierende vidi-Abschnitt der Erzählerstimme zugeordnet und so zu verstehen, dass Aeneas sich als Augenzeuge des Sterbens (nicht aber des Angriffs und der Tötung) präsentiert.

2 Plan der vorliegenden Untersuchung

Die voranstehenden Beobachtungen zur Erzählhaltung in der Schilderung von Priamus’ Tod führten zu einer neuen Erklärung und Bewertung der traditionell viel kritisierten Situation des ›Helden auf dem Dach‹. Sie weisen darauf hin, dass Vergil die Erzählsituation eines rückblickenden Ich-Erzählers, der selbst eine Figur der von ihm erzählten Geschichte ist, souverän beherrscht, dass aber seine Erklärer ihm in dieser Hinsicht bislang nicht gerecht wurden. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist daher darzulegen, wie die Ich-Erzählung in Aeneis 2–3 verwirklicht ist, welche Bedeutung ihr innerhalb der Aeneis zukommt und welche Konsequenzen sich daraus für die Textinterpretation im Einzelnen ergeben.35 Die These lautet: Die erzählerische Gestaltung der Aeneis ist differenzierter als bisher gesehen und lässt in der Ich-Erzählung des Aeneas ein klares Verständnis der Voraussetzungen und Möglichkeiten dieser in der modernen Erzählliteratur sehr wichtigen Form des Erzählens erkennen. In Aeneis 2 trägt die Form der Ich-Erzählung entscheidend dazu bei, eine völlig neuartige, den Erfordernissen des Gesamtkontexts der Aeneis entsprechende Version der altbekannten Geschichte von Troias Untergang zu verwirklichen. Bei der Analyse der Aeneis als Erzähltext können Beschreibungskategorien der Erzählforschung nutzbar gemacht werden.36 Wenn dies im Rahmen der vor35 Suerbaum 1968 bezeichnet im Rahmen seiner Behandlung der Ich-Erzählung des Odysseus in Od. 9–12 eine Untersuchung der Ich-Erzählung in der Aeneis als Desiderat: »Die an der Technik der Odyssee geschulten Ich-Erzählungen des Aeneas im 2. und 3. Buch der Aeneis verdienen trotz der feinen Beobachtungen R. Heinzes, Virgils epische Technik (…), noch eine zusammenfassende Darstellung, die ich bei anderer Gelegenheit zu geben hoffe; das bewunderungswürdige Werk von G. N. Knauer, Die Aeneis und Homer (…), ist in diesem Punkte unbefriedigend«, 153, Anm. 6. Seither ist über ein halbes Jahrhundert vergangen und mehr über Vergils Aeneis geschrieben worden, als ein einzelner Mensch vernünftigerweise lesen oder auch nur überblicken kann (vgl. Freund 2008, 67, Anm. 1: »Die Literatur zum Schluss der Aeneis ist nicht mehr zu überblicken«). Die von Suerbaum anvisierte ›zusammenfassende Darstellung‹ scheint es aber noch nicht zu geben. Tatsächlich sind die Beobachtungen zur Erzählhaltung von Heinze 31915 (11902) in vielem zutreffend und bislang nicht überholt. Bowie 2008 (ein elfseitiger Aufsatz mit dem Titel »Aeneas Narrator«) nimmt Heinze 31915 nicht zur Kenntnis und bleibt erheblich hinter ihm zurück. 36 Die Aeneis als Erzähltext betrachten z. B.: Schrijvers 1971; Bonfanti 1985. Nicht jedoch: Della Corte  1981 (auch wenn der Titel »Spazio / tempo narrativo nell’›Eneide‹« es vermuten lässt); ebensowenig: Mazzarino  1955 (Den Titel »Il racconto di Enea. Per una interpretazione dell’Iliuperside virgiliana« erklärt der Autor in einer Vorbemerkung mit Sabbadinis These, dass Aeneis 3 ursprünglich in der 3. Person konzipiert gewesen sei und

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liegenden Untersuchung geschieht, soll aber wohlgemerkt weder eine bestimmte Literaturtheorie am Text der Aeneis erprobt werden, noch sollen bekannte Sachverhalte durch die Verwendung einer bestimmten literaturtheoretischen Terminologie einfach nur neu formuliert werden.37 Vielmehr erfolgen Texterklärung und Textdeutung auch unter Berücksichtigung von narratologischen Beschreibungskategorien, sofern dies sachdienlich ist: Der Zugriff auf das In­ strumentarium literaturtheoretischer Begrifflichkeit ist pragmatisch, situativ und bewusst eklektisch. Das bevorzugt herangezogene Modell ist dasjenige von Genette, weil es eine terminologisch einheitliche Gesamtsystematik bietet.38 Nur diskutiert und nicht angewandt wird allerdings der ursprünglich von ihm eingeführte und sehr beliebte, aber – gerade auch in der Klassischen Philologie – keineswegs einheitlich verwendete Terminus der ›focalisation‹ / ›Fokalisierung‹.39 Prinzipiell wird auf die Verhältnismäßigkeit von definitorischem Aufwand und jeweiligem Erkenntnisgewinn für die Texterklärung geachtet. Wie Kapitel 1 gezeigt hat, kann bei der Betrachtung von Aeneis 2–3 allein die Berücksichtigung der Umstände, dass ein Erzählverhalten mit Mehrwissen vorliegt und dass die Beteiligung des Erzählers am erzählten Geschehen variieren kann, neues Licht auf den Text werfen. Ebenfalls aufschlussreich ist es, die beiden Perspektiven, die bei ›späterem Erzählen‹ stets vorhanden sind, nämlich die »analytisch-retro-

insofern die Iliupersis in Aeneis 2 die eigentliche ›Erzählung des Aeneas‹ sei; ›racconto di Enea‹ steht in diesem Sinne als Synonym zu ›Buch 2 der Aeneis‹). Bowie 2008, der mit einer ironisch distanzierten Haltung zur Narratologie kokettiert (»We are therefore for the next 50 minutes going to be in the somewhat formal world of narratology«, 41; »If we seek a fancy name for this, they are intradiegetic, rather than extradiegetic«, 46) und sich ausdrücklich zu einem »grosso modo approach« (41) bekennt, lässt eine etwas eigene Auffassung von Narratologie erkennen: »This is where narratology can make a contribution. If we see this as another place where the narrator’s voice breaks in to speak to his learned reader, then we need not consider such passages as vitiosa, nor worry about what Aeneas could or could not have known, nor see anachronisms as problematic, nor create stories about the Aeneid’s composition. The density of things Aeneas cannot have known is very high here: perhaps appropriately, because the narrating voice is about to pass from hero to poet, and so Virgil gradually turns hero into poet through his apparent knowledge of what only a trained Hellenistic poet could know«, 49. 37 Allerdings kann auch dies dem besseren Verständnis dienen, da ungenaue Formulierungen Sachverhalte nur ungenau wiedergeben. Zum Beispiel: Seider 2013, 66: »The Aeneid’s action begins several years after Troy’s destruction«: Beabsichtigt war wohl, eine Aussage zur zeitlichen Organisation der Erzählung zu treffen, was aber nur richtig gelingen kann, wenn die Handlungsebene von der Darstellungsebene getrennt wird. Oder Fowler 1997, 259 (≈ 22019, 400): »The narrator of the poem is a first-century BC Latin poet, whom it is easiest to call ›Virgil‹«: Die Verwendung des Wortes ›narrator‹ ergibt in diesem Satz keinen Sinn. 38 Genette 1972 (Figures III) und Genette 1983 (Nouveau discours du récit). 39 Zu Focalisation / Fokalisierung siehe 8.2; zur Problematik der Anwendung des Begriffs auf Gleichnisse siehe Anm. 860.

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spektive des Erzählers« und die »lebensweltlich-praktische der Protagonisten«,40 zu reflektieren. Diese Konzepte waren R. Heinze noch nicht geläufig: In seinem grundlegenden und – zwar über 100 Jahre alten, aber – immer noch in vielem maßgeblichen Buch über die Aeneis, »Virgils epische Technik«, setzt er einerseits voraus, dass es im antiken Epos keine Erzählung in Figurenperspektive gebe, und zugleich gesteht er dem erzählenden Aeneas keine eigene Erzählerperspektive zu.41 Seither werden für Aeneis 2–3 immer wieder – ohne Not – ›Einschaltungen des epischen Erzählers‹ respektive Inkonsequenzen in der Erzählhaltung angenommen – als dürfe, ja müsse es beim antiken Epos eben so sein, weil es schließlich kein Roman ist. Zudem besteht die Tendenz, die Erzählerkommentare in Aeneis 2–3 nicht dem intradiegetischen Erzähler Aeneas zuzurechnen. Dadurch werden entscheidende Nuancierungen übersehen, und zwar insbesondere, dass hinsichtlich seiner Rolle als Nachfolger des Priamus und hinsichtlich der eigenen Bestimmung eine der Erzählerstimme angemessene Zurückhaltung geübt wird,42 die jedenfalls nicht in dem Sinne missverstanden werden darf, dass sich darin Vorbehalte des historischen Autors gegenüber dem Prinzipat des Augustus oder dem Imperium Romanum ausdrückten. Die Betrachtung der Aeneis als Erzählung kann dazu beitragen, bekannte philologische Probleme neu zu sehen. Insbesondere aber kann gezeigt werden, wie der gezielte Einsatz von epistemischen Differenzen zwischen erzählten Figuren, Erzähler (sowohl ersten als auch zweiten und weiteren Grades) und Rezipienten (sowohl ersten als auch zweiten und weiteren Grades) als wesentliches, aber bisher zu wenig berücksichtigtes Gestaltungsprinzip der Aeneis funktioniert. So ist zum Beispiel für die Einordnung von Aeneas’ Entschluss, sich in der Nacht nach der Auffindung des hölzernen Pferdes an der Verteidigung Troias zu beteiligen, neben anderen Faktoren vor allem auch entscheidend, was er zu welchem Zeitpunkt seines Erlebens der eigenen Geschichte (die er selbst in Karthago rückblickend erzählt) über die eigene Bestimmung wissen kann. In Missachtung der epistemischen Perspektiven der Erzählung setzen manche Interpreten (meist ohne dies zu reflektieren) ihr eigenes Wissen um den Ausgang der Geschichte auch bei dem erlebenden Aeneas voraus. Entsprechend zeihen sie ihn des Ungehorsams gegen die Götter, weil er nicht unverzüglich seiner Bestimmung folge, die – wie sie selbst aus der mythischen Tradition und

40 Martinez / Scheffel 82009, 122; vgl. 8.2. 41 Heinze 31915. Zu Heinzes Annahme, dass es im antiken Epos keine Figurenperspektive gebe, siehe 8.2; Heinzes Annahme vom ›Verzicht auf die strengste Durchführung der IchErzählung‹ wurde in 1 thematisiert. Dennoch beschreibt Heinze die Erzählhaltung – auch ohne die heute gebräuchlichen Begriffe – an vielen Stellen sehr klar (vgl. die Zitate passim, z. B. in Anm. 780) und bleibt darin von vielen späteren unerreicht. 42 Zur Zurückhaltung des Aeneas hinsichtlich seiner Rolle als Fortsetzer der Herrschaft des Priamus über die Troianer siehe 5.3; 8.4.

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aus dem Prooemium der Aeneis wissen – darin besteht, die Troas zu verlassen, sich in Italien anzusiedeln und ein Vorfahr der Römer zu werden. Eine extreme Konsequenz derartiger Missverständnisse ist die Behauptung, dass Aeneas in der Aeneis negativ dargestellt werde und dass dadurch wiederum implizit Kritik an Augustus und seinem Prinzipat geübt werde (so und ähnlich lauten Auffassungen der Vertreter der sogenannten ›Harvard School‹). Zum Vorgehen im Einzelnen: Zunächst wird (in Kapitel 3) die Notwendigkeit einer methodischen Voraussetzung dargelegt, die das Verhältnis der Aeneis zu den homerischen Epen betrifft: Vergils Aeneis wird und wurde schon immer mit ihnen in Zusammenhang gesetzt. Selten wird sie auch nur genannt, ohne dass Ilias und Odyssee miterwähnt würden. Aber so berechtigt die Bezugnahme auf diese beiden (und andere) Prätexte ist, kann sie doch auch den Blick auf die Aeneis als eigenständigen Erzähltext verschleiern: Wenn man den Text immer zuallererst abschnittweise auf Similien, Parallelen und ›Vorbilder‹ hin untersucht, betrachtet man ihn gleichsam durch eine ›Homer-Brille‹. In unserem Zusammenhang soll daher von der Vorgehensweise, die Textbetrachtung vom Vergleich mit den homerischen Epen ausgehen zu lassen, einmal bewusst ab­ gesehen werden. Um die Aeneis als Erzählung zur Kenntnis nehmen zu können, gilt es, diese Erzählung zunächst für sich selbst in ihrem eigenen Zusammenhang zu erklären, also einzelne Junkturen, Verse und Textabschnitte immer zunächst auf den unmittelbaren Kontext und die Erzählung als Ganzes zu beziehen, bevor eventuell andere Texte hinzugezogen werden. Sodann wird (in Kapitel 4) die eponyme Hauptfigur der Aeneis in den Blick genommen. Im Rahmen der Überlegungen zu ›Aeneas auf dem Dach‹ wurde die besondere Konzeption der Aeneasgestalt der Aeneis bereits berührt und auch die Frage, inwiefern sie die Art und Weise, wie die Geschichte vom Untergang Troias in der Aeneis erzählt wird, bedingt.43 Der Held Aeneas muss sich nämlich nicht nur innerhalb der epischen Fiktion bewähren, sondern er muss aufgrund des aitiologischen Charakters der Aeneis zugleich zeitgenössischen römischen Kriterien gerecht werden, um dem augusteischen Publikum als Vorfahr zu taugen: Wie wird angesichts dessen in der Aeneis mit den mythengeschichtlichen Voraussetzungen umgegangen? In diesem Zusammenhang ist auch die pietas als Charakteristikum des vergilischen Helden zu diskutieren sowie die Frage nach deren Verhältnis zu ira und furor. Hier soll die Verwendung der Begriffe pietas, pius und impius in der Aeneis analysiert werden, und zwar sollen dabei nicht lediglich einzeln ausgewählte Beispiele herangezogen, sondern jeweils sämtliche Vorkommen erfasst und kategorisiert werden. 43 Vgl. Heinze 31915, 4: »Nun erzählt bei Vergil kein beliebiger Troer, sondern der Ahnherr des römischen Volks: dadurch wurde das Ethos der Erzählung sofort näher bestimmt, wurden Gesichtspunkte gegeben, die zu dominieren hatten.«

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Der nächste Schritt besteht darin, die Aeneis als Erzählung nach den Kategorien der Zeit (in Kapitel 5) und des Raumes (in Kapitel 6) vorzustellen und auf diese Weise ein literarhistorisch einigermaßen unbefangenes Gesamtbild zu entwickeln, das z. B. ohne Überlegungen zu einem eher ›iliadischen‹ und einem eher ›odysseischen‹ Teil auskommt. Gleichwohl soll nicht versäumt werden, den direkten mythenchronologischen Anschluss an die Ilias, den die Aeneis herstellt, herauszuarbeiten. Weiter wird die erzählte Zeit (vom troianischen Ursprung in mythischer Vorzeit bis zur jüngsten römischen Geschichte) in Relation gesetzt zur augusteischen Gegenwart des historischen Autors und der primären externen Rezipienten und es wird die zeitliche Organisation der Erzählung betrachtet. Einen die Zeit ordnenden Aspekt hat auch der Begriff des fatum / der fata, den es sowohl innerhalb der erzählten Geschichte als auch in seiner Funktion für die Erzählung zu erklären gilt. Bei der fiktionalen Welt der Erzählung, also der erzählten Welt der Aeneis, gebührt besondere Aufmerksamkeit der Unterwelt – Schauplatz von Aeneis 6 – mit ihren vielbesprochenen Toren aus Horn respektive Elfenbein (Somni portae 6,893), weil die Bedingungen von Aeneas’ Aufenthalt dort kontrovers gedeutet werden und weil aus ihnen zuweilen Folgen für den ontologischen Status seiner Figur abgeleitet werden. Was die erzählte Welt der Erzählung des Aeneas in Aeneis 2–3 betrifft, so muss nicht diskutiert werden, dass sie mit der erzählten Welt der Erzählung ersten Grades grundsätzlich identisch ist, weil Aeneas ja seine eigene Vorgeschichte erzählt. Der Blick richtet sich auf die Dimension des Raumes innerhalb dieser Binnenerzählung, also auf das in Aeneis 2 vorgestellte Troia und auf die von den Auswanderern bis Karthago zurückgelegten Etappen in Aeneis 3. Am Schluss des Raumkapitels werden die reinen Ortsbeschreibungen in der Erzählung des Aeneas zusammengestellt. Nachdem die Aeneis als Erzählung in ihren zeitlichen und räumlichen Koor­ dinaten erfasst ist, kann anschließend (in Kapitel 7) untersucht werden, wie die Erzählung des Aeneas in Aeneis 2–3 in die Erzählung ersten Grades eingebettet ist: Wie ist der intradiegetische Erzählakt dargestellt und wie entwickelt er sich aus der Haupterzählung? Wie verhalten sich die Erzählung ersten Gades und die Binnenerzählung thematisch zueinander? Welches Vorwissen wird bei den Adressaten der verschiedenen Ebenen in der Erzählung vorausgesetzt? Zwei Aspekte der formalen Gestaltung verdienen besonderes Interesse: der Tempus­gebrauch und die relative Häufigkeit von ecce in Aeneis 2. In inhaltlicher Hinsicht akzentuiert eine vergleichende Gegenüberstellung der Iliupersis in Aeneis 2 mit der Behandlung desselben Themas durch Triphiodor die Eigenart der vergilischen Version. Als nächstes wird (in Kapitel 8) die Doppelrolle des Aeneas als Held des Epos und als intradiegetischer Erzähler erörtert: Soll seine Erzählung glaubwürdig sein, ist er ein ›zuverlässiger Erzähler‹? Wie wirkt sein Wissen über die eigene Geschichte sich auf seine Erzählweise aus? Welche Stellung hat er zu dem

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erzählten Geschehen? Wie bewertet er das erzählte Geschehen? Bei der Beant­ wortung dieser Fragen ergibt es sich, dass auch einzelne Interpretamente Aeneaskritischer Interpretationen diskutiert werden. Allerdings bleibt festzuhalten, dass prinzipiell die Beweislast bei denjenigen liegt, die eine ›zweite‹ oder ›weitere‹ Stimmen in der Aeneis zu vernehmen glauben, nicht bei denjenigen, die (bis zum Beweis des Gegenteils) annehmen, dass es keine gibt. Ausgehend von generellen Überlegungen zu den Implikationen von Figurenrede im erzählenden Epos wird sodann (in Kapitel 9) ermittelt, welchen Konventionen die direkte Rede in der Aeneis – einschließlich der Erzählung des Aeneas in Aeneis 2–3 – folgt. Hierauf werden die elf dialogischen Partien von Aeneis 2 im Lichte der bisherigen Forschung erörtert mit dem Ziel, die erzähllogische Entwicklung der vergilischen Iliupersis herauszustellen; dabei wird insbesondere auf die unterschiedlichen epistemischen Perspektiven geachtet. Es folgt (in Kapitel 10) eine Betrachtung der Gleichnisse in der Aeneis. Gefragt wird nach ihrer Funktion innerhalb der Erzählung und nach ihrer Bedeutung für den unmittelbaren Kontext. Dazu werden zunächst im Rahmen einer Definition die Bedingungen und Möglichkeiten sowohl des Gebrauchs als auch der Interpretation dieses typischen Gestaltungsmittels epischer Dichtung neu gefasst. Dann werden die Gleichnisse in Aeneis 2–3 analysiert und innerhalb der Erzählung des Aeneas gedeutet. Einige repräsentative, geradezu kanonisch gewordene ihrer bisherigen Interpretationen sind dabei kritisch zu hinterfragen. Abschließend bleibt (in Kapitel 11) zu erwägen, wie – respektive ob – die lediglich sekundär (im Serviuskommentar) überlieferte ›Helena-Szene‹ (*2,567–588) in die Erzählung von Aeneis 2 passt. Dabei gilt es, in Auseinandersetzung mit der Forschungsdiskussion philologische Textkritik und Überlegungen zur erzähllogischen Folgerichtigkeit der vergilischen Iliupersis miteinander zu verbinden. Hieraus ergeben sich Beobachtungen zur Rolle der Venus in der vergilischen Iliupersis und überhaupt in der Aeneis. Zur Textgrundlage: Eine prinzipielle Entscheidung bei der Interpretation der Aeneis betrifft die Frage, wie man die Nachricht von der Unfertigkeit des Epos bei Vergils Tod in die Textdeutung einbezieht. Für die vorliegende Untersuchung gilt: Gegenstand der Betrachtung ist der Text, wie er uns im Wesentlichen seit nunmehr über 1600 Jahren mit den spätantiken Handschriften als frühesten Zeugen vorliegt und Teil der Literaturgeschichte wurde. Es geht darum, wie dieser Text als Erzählung funktioniert. Dabei werden keine Vermutungen darüber angestellt, welche Änderungen der historische Autor, von dem es heißt, er sei vor Vollendung seines Epos gestorben,44 noch vorgenommen hätte. Wenn nicht anders vermerkt, wird der Text von R. A.B. Mynors (Bibliotheca Oxoniensis: 1969) zugrunde gelegt; andere Ausgaben werden stellenweise kon44 Vgl. die Angaben in der Donatvita, Ed. Brugnoli / Stok 1997, 33–37, §§ 35–39.

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sultiert. Essentiell für den Text der Aeneis sind darüber hinaus Kraggerud 2017 (eine Monographie mit textkritischen Einzelbeobachtungen zur Aeneis) und Kraggerud 2010 (ein Aufsatz zum Text von Aeneis 2 in den Textausgaben von Austin 1964 bis Horsfall 2008). Zur Zitierweise: Buch- und Versangaben ohne Autoren- oder Werkkürzel beziehen sich auf Vergil, Aeneis; sonst stehen Autoren- und Werk-Kürzel, in der Regel nach TLL respektive nach Liddell-Scott (A Greek-English Lexicon, compiled by H. G. Liddell and R. Scott, 91940 (1843), XLVI–XLVIII). Bloße Zahlen verweisen auf Kapitel der vorliegenden Studie. Die Übersetzungen sind meine eigenen, wenn nicht anders angegeben. Sekundärliteratur und Textausgaben werden bis auf wenige Ausnahmen mit Namen von Verfasser:in respektive Herausgeber:in und Erscheinungsjahr abgekürzt; die bibliographischen Angaben hierzu stehen im Verzeichnis am Ende.

3 Die literarische Eigenständigkeit der Aeneis

Literaturgeschichtlich betrachtet war die Aeneis ein außerordentlicher Erfolg: Das Epos auf die Römer als Großmacht im Mittelmeerraum wurde bald nach seinem Erscheinen zu einem maßgeblichen Referenztext, stellte frühere Epen vergleichbarer Ausrichtung wie Naevius’ Bellum Poenicum und Ennius’ Annales so sehr in den Schatten, dass diese heute nur fragmentarisch überliefert sind,45 und hat eine über 2000 Jahre ununterbrochen andauernde Wirkungsgeschichte.46 Die Aeneis ist nicht nur ein Meisterwerk der römischen Literatur, sondern zugleich ein Grundpfeiler der europäischen Erzähltradition. Sie war seit der Zeit ihrer Abfassung ohne Unterbrechung in Europa bekannt und galt vielen einflussreichen Autoren als maßgebliches Vorbild. Allerdings kann vom heutigen Standpunkt aus die Einordnung der Aeneis als antikes Epos und, um es überspitzt zu formulieren, als römische Homer-Imitation dazu verleiten, dass ihr wahrer Stellenwert innerhalb der europäischen Erzählliteratur verkannt wird. Das liegt daran, dass wir uns daran gewöhnt haben, Vergils Epos immer zuallererst in Relation zu den homerischen Epen und anderen Prätexten zu betrachten. Wir versäumen darüber, es in angemessener Weise als eigenständigen Erzähltext wahrzunehmen. Ilias und Odyssee haben den besonderen Status, als »Höhe- und Schlußpunkt« einer mündlichen Tradition zu gelten und zugleich am Anfang der schriftlichen Überlieferung der griechischen Literatur zu stehen.47 Da ihre Vorgänger entweder nicht erhalten sind oder aber wie z. B. das Gilgamesch-Epos und ähnliche Texte nicht nur lange unzugänglich waren,48 sondern auch einer anderen Sprachfamilie angehören und somit anderen universitären Disziplinen zufallen, hat man die homerischen Epen traditionell weniger zu möglichen Vorbildern in Beziehung gebracht als vielmehr für sich selbst gesehen. Sie wurden absolut gesetzt, mussten sich an nichts messen und waren sich selbst der Maßstab. Lange 45 Vgl. Suerbaum 2002: »Doch wie die Aeneis den Ruhm der Annales des Ennius verdunkelt hat, so hat sie seit dem Beginn der Kaiserzeit schon gar das Epos des Naevius im Bewußtsein der nicht-philologischen Öffentlichkeit verdrängt«, 118: »Das Erscheinen der Aeneis Vergils verdrängt Ennius aus seiner Position als Nationaldichter, auch wenn Vergil sprachliche, aber auch szenische (gattungsgemäß: anonyme) Anleihen bei ihm macht«, 140. 46 Übersichtlich hierzu: Laird 2010; siehe auch: Farrell / Putnam 2010. Eine Quellensammlung zu den ersten 1500 Jahren: Ziolkowski / Putnam 2008. 47 Vgl. Szlezák 2012, 29–43; »Höhe- und Schlußpunkt«: Degani 1997, 172. 48 1875/6 veröffentliche George Smith erste Übersetzungen babylonischer GilgameschTexte; 1900 erschien eine erste moderne Ausgabe von Peter Jensen.

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bestand die von Quintilian im zehnten Buch seiner Institutio oratoria geäußerte Vorstellung, dass ›Homer‹ nicht nur ein mustergültiges Vorbild in allen Bereichen der Beredsamkeit sei, sondern auch deren Erfinder.49 Die im 18. Jahrhundert aufkommende Frage, ob die Ilias das Werk eines einzelnen Dichters sei oder ob ein Redaktor sie aus ihm vorliegenden Liedern zusammengesetzt habe (die sogenannte ›homerische Frage‹), brachte zwar die Vorstellung von Homer als Schöpfer der europäischen Literatur ins Wanken, löste aber zugleich eine Phase aus, in der die Texte der homerischen Epen vor allem miteinander und mit sich selbst verglichen wurden. So blieben kurioserweise auch und gerade in der ›Homer-Analyse‹ und in den Bestrebungen, die Einheit der Werke zu verteidigen, die homerischen Texte weitgehend sich selbst der Maßstab. Als der Einfluss der Hochkulturen des Orients auf die Alten Griechen zunehmend erkannt wurde, hat sich diese exklusive Betrachtungsweise im Verlauf des 20. Jahrhunderts zwar relativiert.50 Doch kann man nicht behaupten, dass das von Petriconi 1964 aufgestellte Postulat Gültigkeit habe: Die Zeiten einer nur ›klassischen‹ Philologie sind damit vorbei; über die griechische Literatur zu schreiben, ohne etwas von der vorderasiatischen zu wissen, ist ebenso unmöglich geworden, wie etwa ohne die Kenntnis der griechischen die römische zu studieren.51

So konstatiert Szlezák 2012: Nun, seit Petriconis Kraftspruch sind unzählige Homerbücher und -aufsätze erschienen, die den Verbindungen zum Alten Orient keine oder nur wenig Beachtung schenkten. Daß sie deswegen alle wertlos wären, wäre eine absurde Behauptung.52

Weiter führt Szlezák aus, dass das Verhältnis der griechischen Literatur zu derjenigen des Alten Orients sich von dem Verhältnis der römischen Literatur zur griechischen unterscheide, insofern wir von den römischen Autoren wissen, dass sie die griechischen Autoren lesen konnten und sich ausdrücklich an diesen orientierten.53 Demgegenüber weist er in einer ironischen Frage die Vorstellung zurück, dass die griechischen Sänger zwischen ihren Vorträgen KeilschriftTäfelchen studiert hätten. Der Spott ist wohlfeil und in der Beschränkung auf schriftliche Einflussnahme unsachlich. Tatsächlich wissen wir eigentlich nur, dass wir wenig darüber wissen können, auf welche Art und in welchem Grad 49 Quint. 10,1,46: Hic enim, quem admodum ex Oceano dicit ipse amnium fontiumque cursus initium capere, omnibus eloquentiae partibus exemplum et ortum dedit. Hunc nemo in magnis rebus sublimitate, in parvis proprietate superavit. Idem laetus ac pressus, iucundus et gravis, tum copia tum brevitate mirabilis, nec poetica modo sed oratoria virtute eminentissimus. 50 Vgl. Burkert 1992; Penglase 1994; West 1997. 51 Petriconi 1964, 338, Anm. 18. 52 Szlezák 2012, 238. 53 Vgl. Szlezák 2012, 238 f.

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die archaischen Sänger Erzähltraditionen der benachbarten Hochkulturen zur Kenntnis genommen haben. Deshalb ist es auch schwierig, wenn nicht gar unmöglich, das »eigentlich Homerische am Homer«,54 der als historischer Autor nicht fassbar ist,55 mit Sicherheit zu bestimmen. Jedenfalls ist es ungleich schwieriger, als das Vergilische an Vergils Werk zu bestimmen. Denn während wir über die Voraussetzungen der homerischen Epen lediglich mutmaßen können, wissen wir bei Vergils Aeneis nicht nur, dass es sich um ein in hohem Maße voraussetzungsreiches Epos handelt, sondern wir kennen auch einige der wesentlichen vorausgesetzten Texte, wie z. B. eben die homerischen Epen, zahlreiche attische Tragödien oder die Argonautica des Apollonios Rhodios. Auch lässt die bekennend aufgeschlossene Haltung der römischen Autoren gegenüber der griechischen Literatur keinen Zweifel darüber, dass die römische Literatur von Anfang an explizit im nachahmenden und wetteifernden Vergleich (imitatio, aemulatio) mit der griechischen steht.56 Dieser bereits in der Produktion vorhandene und schon den zeitgenössischen literarischen Diskurs bestimmende komparatistische Ansatz macht die römische Literatur zu einem besonders anspruchsvollen und zugleich besonders aufschlussreichen Forschungsgegenstand. Die Aeneis in Vergleich mit oder in Rekurs auf die homerischen Epen zu interpretieren hat fraglos seine Berechtigung und überdies eine lange Tradition.57 Als ein sehr frühes Zeugnis für eine Vergleichung kann die Erwähnung in Properz 2,34 (~26 v. Chr.) gelten: Dort wird die Aeneis als das Werk, an dem Vergil gerade arbeitet, mit Zitaten aus ihrem Proömium umschrieben (qui nunc Aeneae Troiani suscitat arma | iactaque Lavinis moenia litoribus 63–64) und es werden die römischen und griechischen Dichter aufgefordert, Platz zu machen (cedite Romani scriptores, cedite Grai 65), weil etwas im Entstehen begriffen sei, das bedeutender werde als die Ilias (nescioquid maius nascitur Iliade 66).58 Das 54 Szlezák 2012, 238: »Für diese Merkmale – also für das eigentlich Homerische am Homer – bot die altorientalische Literatur keine Vorbilder.« 55 Zur Etymologie des Namens ›Homer‹ und zu dessen Bezeugung als Name des Autors von Ilias und Odyssee sowie weiterer Werke: West 1999. 56 Vgl. Wlosok 1990b, 476 f. 57 Hierzu siehe Knauer 1964, mit früherer Literatur (19–28) und Knauer 1981. Vgl. auch Berres 1993, der die überkommene Vorstellung vom Verhältnis Vergils zu Homer sowie schematische und allzu schlicht angelegte Gegenüberstellungen kritisiert. 58 Im problematischen Properztext scheinen die Verse 2,34,63–66 vergleichsweise unumstritten zu sein; das zweite Distichon wird in der auf Sueton zurückgehenden Vergil-Vita des Aelius Donatus (§ 30 Brugnoli / Stok 1997, 31) und im Codex Salmasianus (Anth. Lat. 258 Sh.B) zitiert. Der Anfang des Satzes in 61 f. nennt Vergil sowie Octavians tapfere Schiffe in der Schlacht von Actium als Thema von dessen Dichtung (Actia Vergiliu custodis litora Phoebi, | Caesaris et fortis dicere posse ratis [Ed. Fedeli] oder Actia Vergilio est custodis litora Phoebi, | Caesaris et fortes dicere posse rates [Ed. Heyworth] oder Actia Vergilio custodis litora Phoebi | Caesaris et fortes dicere posse rates [Butrica, Classical Quarterly 47, 1997, 202]; siehe auch: Fedeli 2005, 987–992. Zu cedere als Spezialausdruck für das Unterliegen im Vergleich: Fedeli 1985, 642 f.

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subjektive Urteil maius59 Iliade wird nicht begründet, und es steht selbst im Kontext eines Vergleichs, insofern im Rahmen einer ›Recusatio‹ die thematische Ausrichtung der eigenen Dichtung den Themen anderer Dichter gegenübergestellt wird. Mehr normativen Anspruch als Properzens Verheißung und tatsächlich eine erhebliche Wirkung auf die Geschichte der Literarkritik hat die Rangfolge, die Quintilian in seiner Institutio Oratoria etabliert: Nachdem er zu Beginn seiner Besprechung der griechischen Autoren Homer als Begründer der Beredsamkeit und unerreichtes Vorbild in allen ihren Bereichen eingeführt hat,60 teilt er zu Beginn seiner Besprechung der römischen Autoren Vergil den zweiten Rang nach Homer zu. Dabei zitiert er einen Ausspruch von Domitius Afer, der auf die Frage, wer am nächsten an Homer heranreiche, geantwortet habe: »Der zweite ist Vergil, und er ist näher am ersten als am dritten.«61 (Ein dritter wird nicht genannt.) Zwar relativiert Quintilian dieses Urteil, indem er anschließend erwägt, dass Vergil vielleicht Homer doch gleichkomme, weil er durch cura und diligentia (Sorgfalt und Genauigkeit in der Ausarbeitung) wettmache, was dieser ihm an natura caelestis atque inmortalis (göttlicher Veranlagung) voraushabe.62 Dennoch hat die aus wissenschaftlicher Sicht eigentlich unsinnige Frage, wer der beste sei oder wer von beiden besser sei, den Vergleich zwischen Homer und Vergil (d. h. eigentlich von Ilias und Odyssee mit der Aeneis) in der Antike und für Jahrhunderte bestimmt. Der Homer-Vergil-Vergleich als solcher wird zum zentralen Bestandteil von Vergil-Kommentaren und Poetiken und bildet einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der modernen theoretischen Auseinandersetzung mit Literatur.63 Dabei wird die kallimacheische Opposition von dichterischer Begabung und poetischer Technik (in Hor. ars 295.323.408–411: ingenium oder natura und ars oder studium), die Quintilian auf Homer und Vergil in den Begriffen natura versus cura et diligentia angewandt hat (s. o.), immer wieder aufs Neue herangezogen und unterschiedlich gewertet – je nach gesellschaftlichem Kontext und vorausgesetztem Dichtungsbegriff. Ähnliches gilt für das Konzept der literarischen Nachahmung (imitatio), zu dem mit der

59 Zur Möglichkeit einer aus kallimacheischer Sicht ironischen Färbung von maius in Prop. 2,34,66: Ziolkowski / Putnam 2008, 10. 60 Quint. 10,1,46, siehe oben mit Anm. 49. 61 Quint. 10,1,85 f.: Idem nobis per Romanos quoque auctores ordo ducendus est. Itaque ut apud illos Homerus, sic apud nos Vergilius auspicatissimum dederit exordium, omnium eius generis poetarum Graecorum nostrorumque haud dubie proximus. Utar enim verbis isdem quae ex Afro Domitio iuvenis excepi, qui mihi interroganti quem Homero crederet maxime accedere »secundus« inquit »est Vergilius, propior tamen primo quam tertio«. 62 Quint. 10,1,86: Et hercule ut illi naturae caelesti atque inmortali cesserimus, ita curae et diligentiae vel ideo in hoc plus est, quod ei fuit magis laborandum, et quantum eminentibus vincimur, fortasse aequalitate pensamus. 63 Zum Homer-Vergil-Vergleich siehe Wlosok 1990b; Vogt-Spira 2000; Rolfes 2001, 169–186; Vogt-Spira 2002; Weiß 2016 (nur Antike).

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Rezeption von Aristoteles’ Poetik das Konzept der μίμησις als Nachahmung oder Darstellung oder Abbildung der Wirklichkeit tritt.64 Bezeichnend für die meisten solcher Vergleichungen ist, dass sie eine nur schlicht gedachte zeitliche Relation zugrunde legen: Im Anfang war Homer und Vergil hat ihn imitiert. Allerdings liegen zwischen der Aeneis und den homerischen Epen immerhin gut 700 Jahre Ereignis- und Literaturgeschichte, von der Sprachverschiedenheit gar nicht zu reden. Zum Vergleich: Eine ähnliche Frist liegt zwischen der Uraufführung von Richard Wagners »Ring des Nibelungen« (1876) und der Endredaktion des »Nibelungenlieds« (1205). Mit der Einsicht in die historische Bedingtheit von Literatur wird der um seiner selbst willen geführte Vergleich von Vergil mit Homer aufgegeben. Grundsätzlich gilt: Je allgemeiner die Aussagen sind, die im Rahmen der Vergleiche getroffen wurden, desto nichtssagender sind sie meistens, und die Rangzuteilungen sind es erst recht.65 Auch mit der Zuordnung der homerischen Epen (oder ›Homers‹) zu ingenium und der Aeneis (oder Vergils) zu ars ist nicht eben viel gesagt. Textwissenschaftlich bedeutsam sind die Vergleiche dann, wenn Beispiele gegeben werden und Erklärungen, die über reine Geschmacksbekundungen hinausgehen. Da kann selbst die Frage nach der Rangstufe der Dichter zuweilen einen Nutzen entfalten: Das Bestreben, ästhetische Urteile zu begründen, fördert das Interesse daran, Kriterien zu entwickeln, was zu prägnanteren Beschreibungen und differenzierteren Beschreibungskategorien führen kann. Der Homer-Vergil-Vergleich als solcher ist zwar Geschichte, aber der ständige Fokus auf die Intertextualität mit den homerischen Epen prägt die AeneisInterpretation bis heute.66 Wann immer von Vergil die Rede ist, kommt sofort ›Homer‹ ins Spiel. Doch so wichtig die Berücksichtigung des Verhältnisses zu den homerischen Epen in der Aeneis-Interpretation ist, darf sie nicht zum Selbstzweck werden. Für das Textverständnis ist es kontraproduktiv, wenn man den ›entsprechenden‹ Homertext konsultiert, bevor man sich eine Meinung über 64 Wlosok 1990b, 491. 65 In der Antike bleibt Homer unangefochten an erster Stelle; diese Rangfolge ergibt auch der Vergleich in den Saturnalien des Macrobius. Marco Girolamo Vida (~1485–1566) spricht in seinem Lehrgedicht über Poetik erstmals Vergil den Vorrang vor Homer zu; 1,170–173. Ihm folgt Julius Caesar Scaliger (1485–1558) in seinen Poetices libri septem. 66 Vgl. die explizite und programmatische methodologische Äußerung in dem (noch immer) einflussreichen Buch von Pöschl 31977, 6 (21964, 14): »Was nun die Methode betrifft, so ist der vorzüglichste Weg zur Erschließung der virgilischen Kunst der Vergleich mit Homer, den der Dichter selbst fast mit jedem Vers herausfordert. Die Gegenüberstellung einander zugeordneter Formen ist ja immer der wichtigste Weg, um geistige Schöpfungen in ihrer Eigenart zu begreifen. Bei der Äneis, in der sich Odyssee und Ilias wiederholen (Donat, Virgilvita: quasi amborum Homeri carminum instar), muß die Konfrontation mit dem griechischen Vorbild geradezu zu einem Angelpunkt der Kritik werden. Von hier aus lassen sich die Prinzipien der virgilischen Kunst am leichtesten fassen.« Kritische Reflexion dieser Methode z. B. bei: Knauer 1964, 36; Glei 1990; Berres 1999; Freund 2013.

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den Vergiltext gebildet hat. Denn so sieht man Vergil gewissermaßen durch die ›Homer-Brille‹, und die Lektüre der Aeneis findet nur vermittelt statt. Es besteht die Gefahr, diese gar nicht mehr als eigenständigen Text zu begreifen. Diese Gefahr besteht umso mehr, da die Wahrnehmung der Aeneis als Rezeptionsliteratur im Verhältnis zu den homerischen Epen auch die Wahrnehmung ihrer Intertextualität mit anderen Werken, wie vor allem denen der attischen Tragiker sowie der hellenistischen und römischen Dichter, bestimmt. Wenn man die philologische Literatur zu Vergils Epos liest, kann der Eindruck entstehen, dass die Aeneis eigentlich mit einem Warnhinweis versehen sein müsste, der etwa lauten könnte: »Achtung! Dieses Werk bleibt Personen unverständlich, die nicht vorher folgende Werke gelesen haben«. Und dann müsste eine lange Liste mit Werken griechischer und römischer Autoren stehen, allen voran natürlich die homerischen Epen. So manchem Vergil-Erklärer ist keine intertextuelle Referenz zu einem noch so schlecht überlieferten Fragment eines noch so wenig bekannten Autors zu weit hergeholt, als dass es nicht als wesentlich für die Erklärung des Aeneis-Textes angesehen würde. Darüberhinaus wird dabei oft vernachlässigt, dass grundsätzlich der lückenhafte Zustand des überlieferten Corpus der antiken Literatur ein erhebliches methodisches Problem darstellt (›availability heuristic‹).67 Auf die intertextuelle Verortung der Aeneis wirkt sich der fast vollständige Verlust von Naevius’ Bellum Poenicum und Ennius’ Annalen besonders nachteilig aus: Es wäre erhellend, wenn wir feststellen könnten, worin die Aeneis ihren beiden großen römischen Vorgängern gleicht und worin sie sich von ihnen abhebt. Aber deren Erhaltungszustand erlaubt allenfalls Vermutungen. Auch das Fehlen der republikanischen Tragödien verdunkelt das Bild, und zwar unabhängig davon, ob man sie für bloße Übersetzungen oder für freiere Nachdichtungen (zum Teil erhaltener) griechischer Tragödien hält. So stehen alle Aussagen zur Intertextualität der Aeneis grundsätzlich unter dem massiven Vorbehalt, dass wesentliche Teile des Gesamtzusammenhangs nicht berücksichtigt werden können. Das ständige Bewusstsein davon, dass wir vieles nicht wissen können und es mit vielen Unbekannten zu tun haben, muss all unsere Überlegungen begleiten. Interpretationen, in denen die Aeneis überwiegend oder gar ausschließlich aus der Intertextualität mit einzelnen erhaltenen Texten erklärt wird, sind einseitig.68 Natürlich steht die Aeneis in einer langen literarischen Tradition, und es ist keine Frage, dass die Kenntnis von Ilias und Odyssee, der attischen Dramen, der 67 Zur lückenhaften Überlieferung als methodischem Problem vgl.: Gärtner 2015, 546–549; bes. 547. 68 So kann der Umstand, dass Lukrezens epikureisches Lehrgedicht uns – anders als die Epen von Naevius und Ennius – vollständig erhalten ist, dazu verleiten, die Intertextualität zwischen Aeneis und De rerum natura zu exklusiv anzusehen; Adler 2003 interpretiert z. B. die Aeneis vor allem als Vergils Fortsetzung und politische Umsetzung von Lukrezens De rerum natura.

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Werke von Apollonios, Kallimachos etc. den Rezipienten weitere Dimensionen des Verständnisses eröffnen kann, aber: Erstens gilt entsprechendes für jegliche Literatur von einer gewissen Qualität und man beschränkt diese deshalb ja auch nicht auf ihre Intertextualität, und zweitens ist die Aeneis, wie die meisten literarischen Werke, auch ohne Kenntnis ihrer literarischen Modelle aus sich selbst heraus verständlich.69 Ich meine: Es lohnt sich, die Homer-Brille einmal abzunehmen, um die Aeneis als den spannenden Erzähltext zu lesen, der sie ist. Denn es zeigt sich, dass der routinemäßige Rekurs auf Homer den Blick für die Feinheiten von Vergils Erzähltechnik verstellen kann, wenn nicht sogar schon das bloße Textverständnis darunter leidet.70 Außerdem bewirkt das stückweise Lesen und Vergleichen, dass der Fluss der Erzählung ständig unterbrochen wird und deren Spannungsbögen nicht zur Geltung kommen.71 Deshalb gehe 69 Ganz ähnlich und vielleicht sogar noch etwas rigoroser: Kraggerud  2017, 215, im Zusammenhang mit Aen. 6,460: invitus, regina, tuo de litore cessi und Catull. 66,39: invita, o regina tuo de vertice cessi: »It is the privilege of the poet to make well-known lines applicable to new situations. The ability to change the core of whatever he owed to his forerunners was part and parcel of Vergil’s imitation. And his best critics were no doubt able to appreciate this side of his epic technique. Instead of looking at Vergil’s text with irrelevant associations from Catullus in mind, they would have recognized and admired the metamorphosis that quotation underwent in Vergil’s hands. The original context if remembered should exert no power to change the meaning of Vergil’s own context. There should not be  a clandestine message comprehensible only to learned readers familiar with the tradition that has gone into Vergil’s poems, whereas readers failing to recognize those sources are seemingly left with a more superficial, incomplete or even misleading message.« 70 Vgl. Stahl 1998, 38: »Occasionally Quellenforschung can even mislead the interpreter. (Es folgt als Beispiel die zu oberflächliche Parallelisierung der Tötung des Patroklos durch Hektor mit der Tötung des Pallas durch Turnus und die daraus abgeleitete Gleichsetzung von Turnus mit Hektor.) Such source-oriented reasoning does not sufficiently account for the changes Vergil has superimposed on his source«, 39; »while observing the changes the author imposes on his sources, our interpretation should above all try to respond to his own plotline and large-scale design. For, when selecting (or rejecting) his source materials, he, in all likelihood, was looking at their potential as constitutive ingredients in his own new design context.« Das Problem ist altbekannt, vgl. Knauer 1964, 36, unter Verweis auf Fowler und Heyne in Anm. 1. Zu dieser Thematik siehe auch Berres 1993, der Knauers Ansatz lobt, aber die Umsetzung kritisiert (345–351). Gegenüberstellungen sind dann aufschlussreich, wenn sie sich nicht auf das Feststellen von Ähnlichkeiten und ›Abweichungen‹ beschränken, sondern die Unterschiede thematisieren und deuten; wenn zum Beispiel Freund 2013 an dem Vergleich der Begegnung von Aeneas und Venus im Wald bei Karthago (1,314–417, hierzu siehe 11.2.3 und 11.3) mit der Begegnung von Odysseus und Nausikaa zeigt, dass der vergilische Aeneas kontrastiv zu Odysseus angelegt ist: »Ein Odysseus, der nicht lügt.« 71 Ganz abgesehen davon, dass die dekontextualisierte Betrachtung einzelner Textabschnitte zu Missdeutungen führen kann; vgl. Stahl 2015, der, solche Missdeutungen kritisierend, u. a. von »extra contextual readings« (13), »counter-contextual reading« (15), »de-contextualizing« (122), »contra-contextual assumption« (124) und »extra-contextual approach« (126) spricht. Stahl unterscheidet (in der Vorrede, X) zwischen »Kurzstrecken-Lesern

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ich hier zunächst vom Text der Aeneis selbst aus und nehme seine erzählerische Gestaltung in den Blick, die beim vers- und abschnittsweisen Gegenüberstellen mit den Prätexten in aller Regel vernachlässigt wird. Es soll also diesmal nicht um die Frage gehen, welchen Vorbildern folgend Vergil die Aeneis verfasst hat und welches dichterische Programm er durch die von ihm getroffene Auswahl und Neugestaltung des Materials vertritt. Die intertextuelle und poetologische Dimension des Textes werden gegenüber seiner narrativen Gestaltung hintangestellt.72 Es wird der Erzähltext als solcher betrachtet und nicht der Beitrag, den er zum literarischen Diskurs leistet. Beim zweiten Buch der Aeneis, das dem seit je und bis heute beliebten TroiaThema gewidmet ist, kann man sich auf eine besonders breite Forschungstradition stützen. Diese ist allerdings in methodischer Hinsicht nicht immer unproblematisch. Denn bei der philologischen Beschäftigung mit den literarischen Darstellungen der Iliupersis wurde traditionell der Frage viel Raum gegeben, wie die einzelnen (erhaltenen sowie nicht erhaltenen) Versionen voneinander ›abhängig‹ seien. Das heißt, es wurde diskutiert, welche Texte ein Autor gekannt haben muss, um den Text, der uns von ihm vorliegt (oder auch nicht!), so schreiben zu können, wie er es tat, oder welche ›gemeinsame Vorlage‹ zwei nicht direkt voneinander abhängige Autoren gehabt haben könnten. Gärtner 2005 bringt diese Herangehensweise zutreffend mit dem textkritischen Verfahren der Stemmatologie in Zusammenhang: Bei vielen in der wissenschaftlichen Diskussion konstruierten Abhängigkeitsverhältnissen fühlt man sich an Stemmata von Codices erinnert. Allerdings ist die – von Paul Maas idealtypisch dargestellte – Methode, mit deren Hilfe man Codices in ein Stemma einordnet, für die Bestimmung des Verhältnisses von Autoren zueinander nur mit Einschränkungen angebracht. Von Kopisten der Texte erwartet man eine möglichst genaue Wiedergabe der Vorlage, ein Autor dagegen gestaltet bei aller imitatio neu.73

Diese von Gärtner formulierte Beobachtung verdient nähere Ausführung und Zuspitzung wegen der methodischen Konsequenzen, die sich aus ihr ergeben. Tatsächlich lässt sich in der Forschungstradition der vergleichenden Iliupersis-Interpretation (wie auch sonst zuweilen in der Klassischen Philologie)  die der Aeneis« (»short distance readers of the Aeneid«), die gestückelt interpretieren (»fragmentary interpreters«) einerseits, und andererseits »Langstrecken-Interpreten« (»long distance interpreters«), die den logischen und rhetorischen Gesamtzusammenhang bei der Interpretation einzelner Passagen stets im Blick behalten. Entsprechend schickt er seiner eigenen Interpretation der Schlußzene der Aeneis (33–107) eine ausführliche Analyse des Erzählzusammenhangs insbesondere der zweiten Aeneishälfte und der Art und Weise, wie Turnus dort charakterisiert ist, voraus (7–32). 72 Die intertextuelle Betrachtung ist der Normalfall; die poetologische Dimension behandeln zum Beispiel: Segal 1981; Conte 1984 (≈ Conte 1986); Deremetz 2001; Kofler 2003. 73 Gärtner 2005, 285.

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Tendenz erkennen, dass bei der Untersuchung von Erzähltexten zuallererst nach motivischen Abhängigkeiten gefragt wird. Dabei werden sowohl die Fragestellung als auch die Methode der Textkritik unreflektiert von den Textzeugen als Exponenten einer Texttradition auf Erzähltexte als Exponenten einer Erzähltradition übertragen.74 Diese Übertragung ist allerdings problematisch, weil die Voraussetzungen unterschiedlich sind. Ein Kopist hat das Ziel, den zu kopierenden Text möglichst fehlerfrei abzuschreiben. Liegen uns mehrere Abschriften desselben Textes vor, betrachten wir sie unter der Prämisse, dass sie grundsätzlich identisch sein sollen und dass wir die Abweichungen, die sie dennoch aufweisen, erklären müssen. Hingegen hat ein Autor, der einen literarischen Text verfasst, nicht das Ziel, einen vorhandenen Text einfach nur zu duplizieren. Er kann Geschichten erzählen, die andere schon erzählt haben, und dabei kann er diesen Vorgängern mehr oder weniger eng folgen. Aber genau dasselbe genau gleich zu erzählen wie ein anderer vor ihm, wird seit dem Bestehen der Möglichkeit, Erzählungen schriftlich zu tradieren, gerade nicht sein Ziel sein. Eher ist damit zu rechnen, dass er versucht, sich durch eine gewisse Variation von anderen abzusetzen. Dies gilt auch und gerade beim Erzählen von Geschichten, die als bekannt vorausgesetzt werden müssen. Hier kann man annehmen, dass jemand eine neue Version bietet, gerade weil er seine Vorgänger genau kennt und weil er dieselbe Vertrautheit mit der Literatur bei seinem Publikum voraussetzt. Während also die Annahme, dass die antiken wie die mittelalterlichen Kopisten prinzipiell die Identität des Wortlautes anstrebten, der Textkritik eine sichere Argumentationsgrundlage bietet, darf eine entsprechende Annahme in einer motivgeschichtlichen Untersuchung nicht zugrunde gelegt werden. Es gibt keine ›richtige Version‹. Auch bietet die ›älteste Version‹, die ohnehin immer nur die ›älteste bekannte Version‹ ist, nicht die ›richtige Geschichte‹, von der spätere Versionen ›abweichen‹. Umgekehrt darf man aber genauso wenig davon ausgehen, dass eine spätere Version stimmiger oder widerspruchsfreier sein müsste als eine frühere, weil ›Fehler‹ in früheren Erzählungen erkannt und korrigiert worden wären,75 gerade so, als sei die Literaturgeschichte eine Entwicklung hin zu den Idealversionen aller möglichen Geschichten.76 Vielmehr schreiben unterschiedliche Autoren zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Erzähltexte, die in unterschiedlichen Zusammenhängen 74 Das macht sich auch in der Terminologie bemerkbar. Nur ein Beispiel: Zintzen 1979, 44: »Für das Verhältnis Vergils wie des QS zu ihrer Vorlage lassen sich an diesem Beispiel drei Möglichkeiten durchspielen. α) Eine gemeinsame hellenistische Vorlage war kontaminiert und bot alternativ beide Versionen, einmal den Tod des Laokoon mit seinen Söhnen, dann nur den Tod der Söhne. In diesem Fall hätte QS die eine und Vergil die andere Version gewählt.« 75 So beispielsweise in der Argumentation von Dubielzig 1996, 22–26, zum Verhältnis von Triphiodor und Vergil. 76 Hierzu vgl. die Bemerkungen von Gärtner 2005, 285 mit Anm. 43.

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stehen. Daher muss angesichts der lückenhaften Überlieferung der antiken Literatur beim Fragen nach Abhängigkeiten und Beeinflussung vieles Vermutung bleiben.77 Eine solch skeptische Haltung mag zwar nicht besonders publikumswirksam sein, ist aber methodisch angemessen.78 Von der antiken Literatur zum troianischen Sagenkreis ist nur ein Teil erhalten,79 und die Überlieferungslage erlaubt es nicht zu bestimmen, welche Werke genau dem Dichter der Aeneis bekannt waren und in welcher Form.80 Unter diesem Vorbehalt sind grundsätzlich alle Äußerungen über das Verhältnis der Aeneis zur erhaltenen Literatur (seien es ganze Werke oder bloße Fragmente) zu sehen.81 Ein erhebliches Problem besteht darin, dass Negativbeweise schwierig zu erbringen sind. So geschieht es, dass gerade singulären Äußerungen unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit zuteil werden kann, wie z. B. einer Behauptung, die Macrobius in seinen Saturnalien den Dialogsprecher Eusthatius in den Raum stellen lässt, welche besagt, dass es sich bei der vergilischen Iliupersis in Aeneis 2 um die beinahe wörtliche lateinische Übersetzung aus dem griechischen Gedicht eines Pisander82 handele (Macr. Sat. 5,2,4): nota sunt (…), vel quod eversionem Troiae cum Sinone suo et equo ligneo ceterisque omnibus quae librum secundum faciunt a Pisandro ad verbum paene transcripserit.

Zwar wird aus dem Zusammenhang deutlich, dass Eusthatius vor Übertreibungen jedenfalls nicht zurückschreckt.83 Auch geraten seine Erklärungen zum Werk des (sonst nicht überlieferten) Dichters Pisander verdächtig ausführlich dafür, dass er angeblich Bekanntes (nota s. o.) vorträgt, das auch Schulkinder schon hersagen können (sed haec et talia a pueris decantata Macr. Sat. 5,2,6). Aber tatsächlich nachzuweisen, dass es kein literarisches Werk gab, das eine Iliupersis enthielt, welche sozusagen das griechische Original von Aeneis 2 darstellt, 77 In Hinsicht auf Vergil und den epischen Kyklos vgl. Gärtner 2015, bes. 547. 78 Beispielhaft vertreten durch Gärtner 2005, die auf der Basis ihrer gründlichen motivgeschichtlichen Untersuchung die Frage, ob Quintus Smyrnaeus die Aeneis kannte, vorsichtig bejaht. 79 Zu den erhaltenen Texten und ihrer Rezeption in der Antike siehe Fantuzzi / Tsagalis 2015. 80 Eine traditionelle Aufzählung der literarischen Vorbilder für Aeneis 2 bietet z. B. Salva­ tore 1983, 34 f., der sein besonderes Verdienst darin sieht, dass er die Georgica in die Betrachtung einbezieht (»Virgilio, fonte di se stesso«). Eine übersichtliche Aufzählung der für Aeneis 2 relevanten Motive in der Ilias Parva des Lesches und in der Iliou Persis des Arktinos bietet z. B. Gransden 1985, 60 f. 81 Vgl. Gärtner 2005, 27: »Angesichts der Unmenge der Literatur, die uns verloren ist, sind Aussagen nur annäherungsweise möglich.« 82 Zu Identifikations- und Erklärungsversuchen siehe Gärtner 2005, 27 f. Für Salvatore 1983, 36 wurde Eusthatius’ Behauptung durch G. Funaioli, D’una pretesa fonte della Iliuperside Virgiliana, in: Atti del Congresso Nazionale di Studi Romani 1931, widerlegt, der gezeigt habe, dass jener Pisander unter Alexander Severus gelebt habe. 83 Vgl. Gärtner 2005, 28.

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ist genaugenommen in Anbetracht der Überlieferungslage nicht möglich. Da allerdings ein solches Original nicht vorliegt und es sich bei Aeneis 2 außerdem um eine klar komponierte, genau in das Gesamtkonzept der Aeneis passende und in sich spannende Erzählung handelt, scheint es nicht nur erlaubt, sondern geboten, die Frage nach einer solchen hypothetischen Abhängigkeit außer Acht zu lassen. Dennoch muss uns stets auch bei der Vergleichung mit sicher vorauszusetzenden, erhaltenen Prätexten, wie Ilias und Odyssee, attischen Tragödien oder den Argonautica des Apollonios Rhodios, bewusst sein, dass wir große Teile der literarischen Tradition nicht kennen. Denn das Verhältnis uns bekannter Texte zueinander kann grundsätzlich immer auch maßgeblich durch Texte bestimmt sein, die wir nicht kennen oder von denen wir nicht einmal wissen. Wenn im Rahmen der vorliegenden Studie die vergilische Iliupersis mit anderen Versionen verglichen wird, bleiben die Abhängigkeitsverhältnisse außer Betracht. Stattdessen werden die unterschiedlichen Texte über den Untergang Troias angesehen als verwirklichte Möglichkeiten, wie man die bekannte Geschichte erzählen kann.84 Dabei werden Versionen, die Vergil beim Verfassen der Aeneis nicht gekannt haben kann, ebenso zum Vergleich herangezogen wie solche, die er kennen konnte. Es geht darum, in welchen Aspekten die einzelnen Erzählungen sich von der Erzählung in Aeneis 2 unterscheiden. Beobachtet wird, wie die Geschichte noch erzählt werden kann, um so zu ermitteln, worin das Eigene an der Erzählung, die in der Aeneis geboten wird, besteht. Ein gleichermaßen offensichtlicher wie wesentlicher Unterschied zwischen der vergilischen Version von Aeneas’ Geschichte und den anderen überlieferten Versionen besteht darin, dass Aeneas in Vergils Darstellung die Hauptfigur des geschilderten Geschehens ist, genaugenommen sogar das Thema des Epos selbst: arma virumque cano (1,1a). Während Aeneas und sein Schicksal sonst innerhalb eines anderen Themenbereichs zur Sprache kommen, sind sie in der Aeneis der Hauptgegenstand der Erzählung. Hinzu kommt als weitere Besonderheit, dass Aeneas den chronologisch ersten Teil der in der Aeneis gebotenen Geschichte – vom Untergang Troias bis zur Ankunft in Karthago – in Aeneis 2–3 selbst erzählt. Es versteht sich, dass sowohl die Wahl der Hauptfigur als auch die Wahl der Ich-Perspektive für Aeneis 2–3 die Art und Weise, wie die Erzählung gestaltet ist, bedingen. Aber auch und gerade die besondere Konzeption der Aeneasgestalt, die eine über die Erzählung hinausgehende historische Bedeutung des Helden voraussetzt, wirkt sich darauf aus, wie einzelne Aspekte des Mythos respektive einzelne traditionelle Motive umgesetzt werden.

84 Diesen Ansatz verfolgt auch Gransden 1985, vgl. explizit 60: »Certain details in Virgil’s narrative imply that he and Quintus knew the same source material, though for my purpose here Quintus is chiefly used to indicate another possible mode of narrative treatment, particularly of the relation between the Sinon and Laocoon stories.«

4 Der Titelheld als erzählerische Herausforderung

4.1 Die Überzeitlichkeit des vergilischen Aeneas Angesichts der herausragenden Bedeutung, die Vergils Aeneis so rasch und so nachhaltig gewann, vergisst man leicht, dass die Entscheidung, ausgerechnet Aeneas zum Helden eines römischen Epos zu machen,85 einige Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Erzählung mit sich brachte. Vom Ergebnis, also dem uns vorliegenden Text her gesehen, kann Aeneas als eine gute Wahl gelten: Mit ihm stand ein mythischer Ahnherr der gens Iulia86 als Wegbereiter der römischen Weltherrschaft im Zentrum des erzählten Geschehens, der zugleich ein gewisses Identifikationspotential für den neuen römischen Alleinherrscher bot.87 Durch die Entscheidung, nicht Augustus88 persönlich zu besingen, war eine Gefahr gebannt, die zeitgeschichtlichen Epen mit direkter Panegyrik innewohnt, nämlich, 85 Vgl. Galinsky 1969, 52: »his choice of Aeneas as the official ancestor of Rome was not, in the first century B. C., the matter of course it has been regarded in retrospect«. Zur Wahl von Aeneas als Hauptfigur eines römischen Epos siehe Wlosok  1985; Galinsky  1969; Suerbaum 1967. 86 Zur Ableitung der Iulier von Venus siehe Weinstock 1971; im Zusammenhang mit A ­ eneas als Protagonist der Aeneis vgl. insbesondere 254: »We have seen that Aeneas was closely connected with Roman origins; that he had had a place in poetry since Naevius and Ennius, and in historiography; and that there are strong traces of an early tradition all over Latium. But we must add again that the Trojan legend was also cultivated by the family of the Iulii; that they worshipped the son of Aeneas as the founder of the family, and particularly Venus, the mother of Aeneas. It is therefore possible to suggest that in spite of all the earlier tradition, literary and religious, the Trojan legend would not have become popular and prominent without the intervention of Caesar. It was he who built a temple for Venus Genetrix, and who made Aeneas, his ancestor, a national hero and a symbol of piety: without his initiative Vergil could not have created his epic about pius Aeneas«; siehe auch: Horsfall 1986, 10 f., der die Rolle der Aeneis für die Wahrnehmung von Aeneas als römischem (und nicht mehr nur iulischem) Helden betont: »Though the patriotic element in the Aeneid is of course in some sense national and not merely courtly, the legend of Aeneas must have seemed, nevertheless, to Virgil a story tightly and visibly bound to for as long as he could remember to the rise of Octavian’s family. It was the Aeneid itself, far more than Caesar or Augustus, who transformed Aeneas into a national hero, though Virgil could never have written an Aeneas-epic without Julius’ previous propaganda initiatives.« 87 Zum Verhältnis von Vergils Aeneas zu Augustus vgl. die typologische Interpretation von Binder 1971, siehe hierzu aber auch: Schauer 2007, 263–279. 88 Der offizielle Name lautet ab 16. Januar 27 v. Chr: Imperator Caesar Divi Filius Augustus, vgl. PIR2 IV 3, Nr. 215, 156.162 f.

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von den Ereignissen überholt, ephemer zu werden.89 In literarischer Hinsicht gab Aeneas als Hauptfigur die Gelegenheit, inhaltlich direkt an den großen Homer anzuschließen und von Troia ausgehend die Geschichte der erzählten Welt auf die römische Gegenwart hin zu entwickeln. Dies wäre z. B. mit Romulus oder Hercules als Titelheld90 nicht möglich gewesen. Aber die überlieferte Aeneasfigur hat einen Makel, der bei der Gestaltung eines Helden von überzeitlicher Geltung ein nicht zu unterschätzendes Problem darstellt. Denn Aeneas ist einer, der seine Vaterstadt aufgibt und anderswo ein neues Leben beginnt.91 So besingt die Aeneis jemanden als Gründungsurahn der Stadt Rom, dem es nicht gelingt, seine eigene Vaterstadt gegen einen äußeren Feind zu verteidigen, und der darüberhinaus den Untergang dieser Stadt überlebt. Es gibt Erzähltraditionen, denen zufolge Aeneas Troia sogar an die Griechen verrät und dafür freien Abzug gewährt bekommt.92 Solche extremen Versionen kann man natürlich in der eigenen Erzählung ignorieren oder implizit korrigieren. Dennoch bleibt die Schwierigkeit, dass ein Aeneas, der nach Latium übersiedeln soll, Troia nicht bis zu seinem eigenen Tod verteidigen und nicht im Kampf für seine Stadt sterben darf. Dieser Umstand ist umso erklärungsbedürftiger, wenn man in Aeneas einen Gründervorfahr des zur Zeit der Abfassung der Aeneis bestehenden Rom sehen will, den Urahn der gens Iulia oder gar eine Präfiguration des Augustus. Anders als bei Achill, Odysseus oder Hektor, deren Persönlichkeit sich im Wesentlichen nur innerhalb des mythischen Erzählzusammenhanges zu beweisen braucht, soll der Aeneas der Aeneis 89 Zu der Schwierigkeit, die für Vergil als Zeitgenossen darin bestand, Augustus’ Bedeutung für Rom zu formulieren, vgl. Schauer  2007, 15–25, bes. 23–25 und entsprechend im Ergebnis, 266 f.: »Die Aeneis spiegelt in der Ausblendung schematischer und starrer Führungskonzepte die unfertige und in ihrem Ergebnis noch offene princeps-Ideologie wieder, sie ist Bestandteil eines Prozesses.« 90 Zu Romulus oder Hercules als möglicher Hauptfigur eines römischen Epos: Wlosok 1985, 218; Schauer 2007, 53 f. 91 Auf frühe Kritik (der sog. obtrectatores Vergilii) an Aeneas als Held schließt Georgii 1891, 46 aus Äußerungen im Serviuskommentar: »Nun finden wir in einer ganzen Reihe von Stellen, dass S und DS eifrigst darauf aufmerksam machen, wie Vergil selbst den Aeneas rechtfertige (excusare), beziehungsweise gegen den Vorwurf schütze, als sei er freiwillig, nicht fato, aus Troia geflohen oder gar infolge eines verräterischen Abkommens mit den Griechen entkommen oder als Besiegter gewichen. Es kann nicht anders angenommen werden, als dass eine grosse Kritik gegen den Charakter des Äneas vorlag, welche es als einen Grundfehler der Äneis bezeichnete, dass Vergil einen Flüchtling, einen Besiegten, ja einen Verräter zum Helden seiner Dichtung mache. Im Hinblick auf diesen Tadel, den sie wohl auch hier in einem quomodo fato profugus? oder ähnlich ausgesprochen fanden, glaubten die Scholiasten, fato verteidigen und profugus abschwächen zu müssen.« (ausgehend von der Kommentierung zu fato profugus in Aen. 1,2); siehe hierzu auch Kofler 2003, 105–108. 92 Zur Tradition von Aeneas als Verräter siehe z. B. Ussani  1947; Galinsky  1969, 46–50; Stahl 1981, 167; Ahl 1989, 24–30; Casali 1999; Scafoglio 2013.

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darüber hinaus in der römischen Wirklichkeit Bestand haben.93 Eine derartig mehrdeutige Hauptfigur muss erzählerisch konsequent angelegt werden, wenn sie wahrscheinlich sein soll. Einerseits darf die Bedeutung, die sie auf anderen Ebenen hat, nicht die Logik des Erzählzusammenhanges stören. Andererseits muss vermieden werden, dass Aeneas innerhalb der Handlung der Aeneis als feige oder auch nur als ›nicht heldenhaft‹ erscheint. Insbesondere muss der Auszug aus Troia innerhalb der Erzählung überzeugend motiviert werden, damit der Held des Epos nicht als Verräter seiner Vaterstadt dasteht.94 Vor dem Hintergrund der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten Fragestellung, ob die Aeneis eine subversive, anti-augusteische Botschaft enthalte oder ob sie eine pessimistische Beurteilung ihrer Entstehungszeit vermittele oder ob sie Derartiges durch Ambivalenz (oder auch Polyvalenz) andeute, sollte an dieser Stelle konstatiert werden: Die bis hierher vorgetragenen Überlegungen zur Konzeption der vergilischen Aeneasgestalt implizieren, dass Aeneas als Held eines Epos, in dem das Werden des römischen Imperium von einem troianischen Ursprung ausgehend bis in die augusteische Gegenwart erklärt wird, grundsätzlich positiv dargestellt wird. Eine insbesondere in der US -amerikanischen sowie zuweilen auch in der italienischen Vergil-Philologie 93 Vgl. Wlosok 1982, 413 [17]: »er hat für den (zeitgenössischen) Leser eine pädagogische Funktion, nämlich die, Leitbild zu sein, Verkörperung bestimmter römischer Grundwerte, Einstellungen und Haltungen. Der erzieherischen Wirkungsabsicht seines Schöpfers entsprechend ist er als literarischer Held darauf angelegt, Bewunderung auszulösen und zur Nachfolge anzuspornen. Er soll ein Vorbild sein, an dem man sich aufrichten kann. Das bedeutet oder scheint zu bedeuten, daß Aeneas sich nicht gehenlassen darf, daß er immer vorbildlich handeln muß oder allenfalls entschuldbar irren darf, daß er mehr Typ als individueller Charakter (Persönlichkeit) ist.« Vgl. hierzu auch Otis 1964, 222: »Yet the distinction between Aeneas and any genuinely Homeric hero is quite fundamental. His ethos is utterly different from that of Achilles, Hector and Odysseus. Aeneas’ goal and object in life is not merely in the near but in the remote future, in Augustan Rome itself.« 94 Zu dieser produktionsästhetischen Überlegung vgl.: Tib. Claudius Donatus, Interpretationes Vergilianae, prooemium: talem enim monstrare Aenean debuit, ut dignus Caesari, in cuius honorem haec scribebantur, parens et auctor generis praeberetur; cumque ipsum secuturae memoriae fuisset traditurus extitisse Romani imperii conditorem, procul dubio, ut fecit, et vacuum omni culpa et magno praeconio praeferendum debuit demonstrare (Ed. Georgii Bd. 1, 2, Z. 20–25). Derartige Darlegungen werden von Georgii 1891 prinzipiell als Reaktionen auf bereits geäußerte Kritik gewertet (vgl. oben Anm. 91). Aber ist denn auszuschließen, dass es sich um theoretische Überlegungen darüber handelt, wie die Komposition der Aeneis solcher Kritik zuvorkommt? So bereits Heinze 31915, 5, Anm. 2: »einer der leider sehr zahlreichen Fälle in Georgiis Buch, wo die Hinweise der Erklärer auf nicht ganz offen zutage liegende Intentionen des Dichters umgedeutet werden in Verteidigungen«. Siehe weiter: Heinze 31915, 5: »Den Gefühlen der Beschämung vorzubeugen, die Troer insgesamt, vor allem aber seinen Helden gegen die Vorwürfe der Feigheit oder Schwäche, der kleinmütigen Verzagtheit und der Untreue gegen die Vaterstadt zu sichern, darauf mußte in erster Linie Vergil sein Augenmerk richten«; ebenso oder ähnlich auch z. B.: Sanderlin 1972; Nisbet 1978/9, 50 f.; Stahl 1981, 167 f.; Horsfall 1986, 16 f.; Glei 1991, 134 f. 142; Gall 1993, 33–38.

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bis heute vertretene oder zumindest nachwirkende gegenteilige Vorstellung besagt, dass Aeneas in der Aeneis durch sein Verhalten ganz oder partiell negativ charakterisiert werde und dass auf diese Weise in der Aeneis implizit Kritik am Prinzipat des Augustus oder am römischen Imperium geäußert werde.95 Aber die Aeneis stellt in zwölf Büchern einen komplex konstruierten myth-historischen Zusammenhang dar, innerhalb dessen die augusteische Gegenwart als fernes, erstrebenswertes Ziel erscheint, auf das die Geschichte seit langem ausgerichtet war und das der Mühen, die seinetwegen vollbracht werden mussten, wert ist. Insofern ist die Aeneis pro-römisch und auch pro Augustus, und sie spielt eine funktionale Rolle in seiner Herrschaftslegitimation als deren Narrativ;96 dass dabei auch negative Aspekte der Entstehung des römischen Weltreiches angedeutet 95 Bereits Sforza 1935 formuliert als Leitfrage seiner Interpretation: »Is there, beyond the face meaning of the Aeneid, a second and hostile meaning«, 97. Beginnend mit der von A. Parry aufgestellten These, dass in der Aeneis neben der offiziellen Stimme des Triumphes zuweilen eine private Stimme des Bedauerns zu vernehmen sei, die negative Aspekte von Roms Aufstieg zum Imperium anklage (Parry 1963), und mit Putnam 1965, der dem vergilischen Aeneas insbesondere dafür, dass er Turnus tötet, moralisches Versagen vorwirft, bildete sich eine Richtung der Aeneisdeutung heraus, deren Ansatz darin besteht, den Text daraufhin zu untersuchen, ob er implizite Kritik am sich zur Entstehungszeit der Aeneis etablierenden Prinzipat des Augustus oder überhaupt am römischen Imperium enthält, oder ob die Aeneis in der Art, wie sie die historische Situation Roms darstellt, eine eher ›pessimistische‹ Weltsicht vermittelt. Für doxographische und forschungshistorische Übersichten siehe Wlosok  1973; Wlosok  1982; Glei  1991, 11–24; Perkell  1999, 14–22; Schmidt 2001; Burkard 2010. Noch Putnam 2011 interpretiert das Ende der Aeneis – Aeneas vollbringe eine Gewalttat, die von Wut und Vergeltungswillen durchdrungen sei – als Warnung für Augustus im Sinne eines Fürstenspiegels (133). Stahl 2015 zeigt methodische Mängel der Interpretationen der sogenannten ›Harvard School‹ auf. 96 Das war vor Sforza (vgl. die voranstehende Anmerkung) die allgemeine Ansicht. Eindeutig und ohne taktische Zugeständnisse an die Gegenseite für diese Ansicht: Stahl 2015. Ein Beispiel für transatlantische Vergil-Diplomatie ist der Versuch von Schmidt 2001, Vergil als gleichermaßen sensiblen wie unparteiischen Beobachter der Zeitläufte zu beschreiben. Er reklamiert für die Aeneis »epische Objektivität« und spricht – in diesem Sinne – von »objektivem Erzählen« (85–87): »Die Aeneis ist nicht dazu da, uns beim Ja oder Nein zum römischen Imperium oder zu Augustus zu beruhigen. Sie ist auch nicht in der Weise offen, daß es uns freistünde, die pro-augusteische oder auch die anti-augusteische Lesung jeweils für uns als die richtige zu erkären. Sie ist diese große Frage selbst: Schrecken des Bürgerkriegs und Bewunderung für die Friedensherrschaft des Augustus, Faszination durch die Zivilisationsleistung von Staat und Weltreich und Betroffensein durch menschliche Opfer in Tod und Schuld. Deshalb bewegt und rührt uns die Aeneis, nicht weil sie bequeme Antworten und Lösungen gäbe zur Etikettierung von Augustus, augusteischem Staat und Weltreichsmission Roms. Die Aeneis ist zugleich die tiefste Darstellung der Romidee und ihre tiefste Problematisierung. Und gerade darin sollten wir sie als augusteisch verstehen«, 86. Schmidts wiederholter Gebrauch des Personalpronomens der 1. Person Plural (›uns‹) lässt die historische Distanz zwischen dem Text und dessen extrem späten Rezipienten, die ›wir‹ (zumindest großenteils: das ›uns‹ inkludiert ja wohl Schmidt selbst und seine Leser) sind, vergessen; die Frage nach der zeitgenössischen politischen Funktion der Aeneis tritt dadurch in den Hintergrund.

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werden, gehört dazu – andernfalls wäre die Erzählung viel zu offensichtlich einseitig. Aber die Vorstellung von einem negativen oder makelhaften Helden läuft einem Epos solcher Ausrichtung zuwider. Tatsächlich sind die Interpretationen, die sie postulieren, dadurch gekennzeichnet, dass auf jeder Ebene des Textverständnisses – Wörter, Junkturen, Bilder, intertextuelle Zusammenhänge – gegen alle Regeln normaler Kommunikation jeweils eine andere als die im gegebenen Kontext nächstliegende Bedeutung gewählt wird.97 So bürsten diese Interpreten die Aeneis gleichsam gegen den Strich. Es ist, als würden sie eine Schallplatte, die keine Rückwärtsbotschaft enthält, rückwärts drehen und aus dem Klanggemisch heraushören, was ihnen interessant erscheint, um dann das, was vorwärts erklingt, im Lichte dessen auszulegen, was sie rückwärts gehört zu haben glauben.98 Ein gravierendes methodisches Problem solcher Interpretationen besteht darin, dass Wortfelder und Wortfrequenzen in der Fremdsprache Latein nicht genügend berücksichtigt werden und dass partielle Bedeutungsüberlappungen mit der eigenen Muttersprache nicht hinreichend reflektiert werden.99 Aeneas wird als Protagonist in der Aeneis positiv charakterisiert und dargestellt – nach zeitgenössischen Maßstäben natürlich. Dies zeigt sich auch und gerade darin, dass die Darstellung der Einnahme und Zerstörung Troias in der Aeneis in einer Weise gestaltet ist, dass der überzeitlichen Geltung der Aeneasgestalt kein Schaden zugefügt wird. Eine grundlegende dramaturgische Entscheidung, die für die Aeneis in diesem Sinne getroffen wurde, besteht darin, Aeneas in der letzten Nacht für Troia kämpfen und den Untergang miterleben zu lassen. Es gibt Sagenversionen, in denen Aeneas ohne letzten Kampf vor der Einnahme Troias aufbricht; so wird es z. B. für die Laokoon-Tragödie des Sophokles100 und die Iliupersis des Arktinos (laut der Chrestomathie des Proklos) angenommen.101 Dieses Motiv impliziert einen Aeneas, der seine umkämpfte 97 Vgl. hierzu die einzelnen Widerlegungen Aeneas-feindlicher Interpretationen des Endes der Aeneis durch Stahl 2015, 62–87. Stahl zeigt, dass diejenigen Interpretationen, die Aeneas moralisches Versagen vorwerfen und Turnus zum wahren Helden der Geschichte machen wollen (von Putnam und anderen Vertretern der sogenannten ›Harvard School‹) oder eine ambilvalente Darstellung konstatieren, auf selektiven, den Kontext nicht berücksichtigenden Beobachtungen zu einzelnen Ausdrücken und daraus willkürlich zusammengesetzten Interpretamenten beruhen und im Widerspruch zum erzähllogischen Gesamtzusammenhang stehen. Zu den Gefahren der Dekontextualisierung siehe auch Anm. 71; vgl. auch das Kapitel über die Gleichnisse (10). 98 Zu Rückwärtsbotschaften auf Schallplatten siehe Grimes 2019, 163–165. 99 Für ein konkretes Beispiel (Putnam über furor und furia) siehe Anm. 158. Eine einzige unsystematische und tendenziöse Begriffs-Schüttelei ist das Kapitel »Anger, Blindness and Insight in Virgil’s Aeneid«; Putnam 1995, 172–200. 100 Vgl. Dion. Hal. 1,48,2: Im Laokoon des Sophokles verlässt Aeneas die Stadt kurz vor der Einnahme auf Geheiß seines Vaters, der den Tod des Laokoon und seiner Söhne als Zeichen des kommenden Verhängnisses begreift. 101 Zu den unterschiedlichen Varianten der Aeneas-Sage siehe Heinze  31915, 28–30; Ussani 1947; Stahl 1981; Horsfall 1987; Gärtner 2005, 133–226; Gärtner 2015.

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Vaterstadt in der Krise verlässt. Im Unterschied dazu verlässt der Aeneas der Aeneis seine Vaterstadt erst, als sie bereits vom Feind eingenommen ist und er alles in seiner Macht Stehende zu ihrer Verteidigung getan hat. Zu den sagenhaften Begründungen für den Auszug des unversehrten Aeneas aus Troia gehören: (A) eine schicksalhafte Bestimmung,102 (B) von den Griechen anerkannte εὐσέβεια103 und (C) die Rettung durch die göttliche Mutter.104 In der Aeneis kommen diese Themen alle vor. Sie erscheinen hier jedoch nicht als direkte Erklärungen für Aeneas’ Auszug aus Troia. Stattdessen sind sie erzählerisch umgesetzt als immer wieder anklingende, auf das ganze Epos bezogene Themen höherer Ordnung. Gewissermaßen leitmotivisch durchziehen sie die Aeneis als (A’) das fatum respektive die fata, als (B’) die pietas des pius Aeneas und (C’) im Handeln der Venus, die Aeneas’ Sache vor Jupiter vertritt und als einzige Göttin direkt mit Aeneas interagiert.105 So stützen die tradierten Erklärungen für Aeneas’ Auszug auf einer übergeordneten Ebene das Handlungsziel der Aeneis. In Hinsicht auf Aeneas’ Auszug aus Troia werden sie auf der Handlungsebene durch zwei Themen ergänzt, die dem übergeordneten Ziel entgegengerichtet sind und dazu dienen, Aeneas als Krieger und Verteidiger Troias zu profilieren, nämlich erstens, dass Aeneas einen heldenhaften letzten Kampf bis zum Ende besteht, und zweitens, dass er die Entscheidung, Troia zu verlassen, nur widerstrebend trifft. Das Thema des heldenhaften Kampfes bis zu Troias Ende betrifft die äußere Handlung: In der vergilischen Iliupersis zeigt Aeneas sich als Held, der ohne Aussicht auf eigenen Vorteil bereit ist, Troia zu verteidigen. Er kämpft für seine Stadt, obwohl die Situation aussichtslos ist und obwohl es für ihn einfach wäre, sofort zu fliehen.106 Hingegen betrifft das Widerstreben des Helden, die umkämpfte Stadt zu verlassen, die innere Haltung des Aeneas. Nimmt man die in Aeneis 2 erzählte Geschichte in ihrer Entwicklung ernst und lässt einmal alles, was andernorts über Aeneas erzählt wird, außer Acht, so muss man konstatieren: Der hier geschilderte Aeneas kommt von selbst überhaupt nicht auf den Gedanken, Troia zu verlassen. Obwohl die Lage aussichts102 Vgl. die Prophezeiung des Poseidon in Il. 20,302–308. 103 Vgl. Lyk. Alex. 1263–1272; Diod. 7,4; zu Versionen, in denen Aeneas mit dem Einverständnis der Griechen aus Troia abzieht (und nicht flieht) siehe Häußler  1976, 306 f. (Exkurs 8); Heinze 31915, 29 mit Anm. 2. 104 Heinze 31915, 29: »von wem diese mythische Version herrührt, wissen wir nicht«. Umgesetzt ist sie jedenfalls bei Triphiodor, hierzu siehe 11.3. Das Motiv des mütterlichen Beistands noch während des Belagerungskrieges begegnet in der Ilias, wo Aineias von Diomedes verwundet (Il. 5,305) und von Aphrodite (Il. 5,312; und Apollon: Il. 5,445) aus der Schlacht gerettet wird. 105 Zu fatum siehe 5.4; zu pietas siehe 4.2; zu Venus als Helferfigur siehe 9.2.8; 11.  106 Für die Schilderung des Kampfes der letzten Nacht von Troia in Aeneis  2 sind zwei (eigens eingeführte) Motive wesentlich: die Umkehrung der traditionellen Bewegungsrichtung des Aeneas: nach Troia hinein statt aus Troia hinaus (hierzu siehe 6.2) und der von ­Coroebus vorgeschlagene Rüstungsraub (hierzu siehe 9.2.6).

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los ist, wählt Aeneas wie selbstverständlich den Kampf und entscheidet sich ausdrücklich für den sicheren Tod (2,317b. 353b). Dass Hector ihm im Traum erscheint und ihn auffordert, mit den Seinen zu fliehen und eine neue Heimat für die Penaten von Troia zu suchen (2,289–295), beeinflusst sein Handeln nicht. Erst als er durch seine Mutter zu der Einsicht gebracht wird, dass die Götter Troia dem Untergang bestimmt haben (2,589–621), gibt er den Kampf für seine Heimatstadt auf. Aber selbst danach noch, als Anchises sich zunächst weigert, Troia zu verlassen, ist Aeneas sofort wieder bereit, den Heldentod zu sterben (2,671 f.). Wohlgemerkt steht ihm da nicht das – strategisch aussichtslose – Ziel vor A ­ ugen, Troia zurückzuerobern. Seine Entscheidung fällt vielmehr zwischen Tod in Troia auf der einen Seite und Flucht und Rettung der eigenen Familie auf der anderen. Hierin besteht die Krise des Helden der vergilischen Iliupersis. Sein Kampf bis zuletzt und sein Widerstreben, Troia zu verlassen, kennzeichnen Aeneas positiv.107 Beide Motive dienen dazu, ihn, der vor der Aeneis vor allem dafür bekannt ist, dass er Troia (zusammen mit den Penaten und seinem Vater, die er ›rettet‹) verlassen hat, dennoch als tapferen Verteidiger seiner Heimatstadt darzustellen. Indem sie dem Hauptmotiv, der Flucht aus Troia mit dem Auftrag, die troianischen Stadtgötter zu retten und ihnen eine neue Heimat zu finden, zuwiderlaufen und dessen Ausführung retardieren, steigern sie die Spannung der Erzählung.108 Neben der individuellen Problematik der tradierten Aeneasfigur wird in der Aeneis auch grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber den Troianern als ›verweichlichten und prunkliebenden Orientalen‹ begegnet, einem römischen Stereotyp, das in der polemischen Auseinandersetzung mit Marcus Antonius und Cleopatra eine besondere Wirksamkeit entfaltet hatte.109 Die gewählte Dis107 Vgl. Glei 1991, 142: »Sein objektiv erfolgloser Kampf ist eine moralische Notwendigkeit, eine Unterlassung wäre schimpfliches Versagen.« Es wird jedoch auch die Auffassung vertreten, dass Aeneas sich dadurch, dass er sich in den Kampf begibt, statt sofort zu fliehen, seinem eigentlichen Auftrag, der ihm durch Hector vermittelt werde, widersetze, vgl. z. B. Knox 1950, 392; Carlson 1972, 140; Lyne 1987, 212. Zentral für die Beurteilung von Aeneas’ Verhalten ist die Interpretation der Traumerscheinung des Hector (2,268–297); hierzu siehe 9.2.3. 108 Vgl. Steiner 1952, 34 f.: »Unverkennbar ist der dramatische Aufbau des II. Buches. Sein Hauptthema ist der Abzug des Aeneas aus der eroberten Vaterstadt und die Rettung der troischen Staatsgötter. Das Gelingen dieses Unternehmens wird wiederholt in Frage gestellt, was die Spannung beim Hörer gewaltig steigert.« 109 Hierzu siehe Nauta 2007; sowie Schmitz 2013, die das Vorhandensein von ›Orientalismus‹ (im Sinne von Edward Said, Orientalism, 1987) als Intertext von Vergils Aeneis untersucht und feststellt, dass in der Aeneis (sowie in der Aeneis-Deutung, vgl. 104–106) zwar eine Tendenz besteht, »den Orient als Einheit zu konzipieren«, dass Vergil aber mit ethnischen Zuschreibungen und Klischees einen reflektierten Umgang pflegt: »An den Stellen, an denen orientalisierende Diffamierungen des Gegners begegnen, geht aber jeweils unmittelbar aus dem Kontext hervor, daß es sich um polemische Konstruktionen handelt, die eher die Sprecher als das geschmähte Objekt charakterisieren. Die Klischees, derer sich die Sprecher bedienen, um ihre Gegner zu schmähen, entstammen dem Re-

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kursstrategie ist hier gleichermaßen einfach wie effektiv: Abwertende Bemerkungen über die phrygische Herkunft des Aeneas werden im Epos ausschließlich von Gegnern geäußert, so von Iarbas über Aeneas (4,215–217), von Numanus Remulus über die Troianer (9,598–620), von Turnus über Aeneas (12,98–100).110 Die stereotype Kritik wird also Stimmen zugeschrieben, die erkennbar nicht objektiv sind. Weil diese Kritik außerdem inhaltlich nicht dazu passt, wie die Troianer und Aeneas sonst geschildert werden,111 wird ihre Einstufung als Vorurteil nahegelegt. Wenn etwa Iarbas oder Turnus über Aeneas sagen, er habe öltriefendes Haar und sei nur ein halber Mann, so handelt es sich um klischeehafte Behauptungen, die vom Rezipienten als beleidigender Jargon verstanden werden, durch den in erster Linie die Sprecher selbst charakterisiert werden.112 Auch die herabsetzenden Worte, die Numanus Remulus, erst seit kurzem Schwager des Turnus (9,593 f.), über die Troianer äußert (9,598–620), bevor Iulus ihn mit einem wohlgesetzten und durch ein Gebet zu Jupiter sanktionierten Pfeilschuss tötet (9,621–637), sind im Kontext für den Rezipienten sogleich als unzutreffend erkennbar.113 Bereits in der ausführlichen Rede-Einleitung werden die Aussagen, die Numanus trifft, von vornherein relativiert, wenn es heißt, dass er aufgeplustert vor der Schlachtreihe einherstolziert, sich als Neu-Rutuler in die Brust wirft und dabei »mehr oder weniger berichtenswerte Dinge« laut von sich gibt (digna atque indigna relatu | vociferans): is primam ante aciem digna atque indigna relatu 9,595 vociferans tumidusque novo praecordia regno 9,596 ibat et ingentem sese clamore ferebat. 9,597 Der schritt, die Brust geschwellt vor Stolz über sein neues Reich, vor der ersten Schlachtreihe einher und plusterte sich lautstark auf, Berichtenswertes und weniger Berichtenswertes äußernd.

pertoire überwiegend literarischer Topoi, die sich bis auf die homerischen Epen (z. B. Phäaken – Topik) zurückführen lassen. Die Instrumentalisierung, geradezu Inszenierung orientalischer Stereotypen in erkennbar polemischer Absicht zeigt den bewussten Umgang des Dichters mit Orientalismen«, 107. 110 Vgl. Klodt 2003, 16; Suerbaum 1967, 198 (der den Unterschied zwischen Erzählerstimme und Figurenrede an erstaunlich später Stelle in seine Darlegung einführt, aber nicht außer Acht lässt). Zu den konkreten Vorurteilen gegenüber den Troianern und möglichen Quellen siehe Dickie 1986. 111 Siehe Suerbaum 1967, 200: »Der Aeneas, der im Epos handelnd vorgeführt wird, ist mithin die personifizierte Widerlegung der Vorwürfe, die gegen die Troer ins Feld geführt werden«; Schmitz 2013, 114: »An Stelle einer Antwort wird Numanus von Ascanius durch einen Pfeilschuss getötet, wodurch der Jüngling gerade seine virtus beweist, während der Repräsentant italischer Härte sich nur als ein Mann von Worten erweist.« 112 Vgl. Schmitz 2013, 131. 113 Vgl. Dickie  1986, 166, mit Ablehnung der Annahme, dass in der Rede des Numanus Remulus indirekt die Römer kritisiert würden, in Anm. 3. Anders: Nauta 2007, 85–87.

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Der Titelheld als erzählerische Herausforderung

Durch eine solche Einleitung wird der Sprecher als eingebildeter Wichtigtuer charakterisiert, der nicht ernst zu nehmen ist. Indem der Erzähler das, was Numanus vorbringt, als digna atque indigna relatu bezeichnet, distanziert er sich zudem ausdrücklich vom Inhalt der wörtlichen Rede. Das Supin relatu (9,595) ist auf den Erzähler und den Akt des Erzählen zu beziehen: digna atque indigna relatu qualifiziert den Inhalt der wörtlichen Rede als berichtenswert (insofern er die Reaktion des Iulus erklärt und für die Geschichte relevant ist) und zugleich als nicht berichtenswert (insofern er als unangemessene Verunglimpfung der Troianer eigentlich keine Wiederholung verdient).114 Numanus beginnt damit, dass er die aktuelle Situation der Troianer verhöhnt, die sich in ihrem Lager verschanzt haben, indem er herausstreicht, dass sie sich in einer ähnlichen Lage befinden wie damals in Troia (9,598 f.). Außerdem stellt er den Sinn und die Berechtigung ihres Aufenthalts in Italien überhaupt in Frage (9,600 f.). Mag man Numanus vielleicht so weit gerade noch folgen, wird das weitere zunehmend fragwürdiger: Er prahlt, dass die Troianer es nun mit anderen Gegnern als den Atriden oder Odysseus zu tun hätten (9,602),115 und er skizziert ein extremes Sittengemälde seines robusten Volkes, das von frühester Jugend an bis ins hohe Alter stark und kriegerisch sei und bei dem bereits die Säuglinge zur Abhärtung in Eiswasser getaucht würden (9,603–613). In scharfem Kontrast dazu steht das Bild, das Numanus anschließend von den Troianern entwirft: Er kritisiert klischeehaft ihren Kleidungsstil,116 nennt sie von Grund auf träge (desidiae cordi 9,615a), Musik und Tanz liebend (iuvat indulgere choreis 9,615b) und wirft ihnen vor, verweichlicht, verweiblicht, unmännlich zu sein: Sie seien keine Phrygier, sondern Phrygierinnen (9,617) oder Eunuchen – hier bringt er seine unzutreffende Vorstellung von ihrer Religion zum Zweck der Beleidigung ins Spiel (9,617b–620a) –, um mit der herablassenden Aufforderung zu schließen, sie sollten die Waffentaten den Männern überlassen (9,620b).117 Die Art und Weise, wie Numanus die Troianer beschreibt, stimmt nicht mit dem Eindruck überein, den die Rezipienten der Aeneis bis dahin (bei der Lektüre von 1–9,589) von Aeneas und seinen Leuten sowie überhaupt von der ›troianischen Kultur‹ einschließlich der Religion gewinnen konnten. Er kann daher die 114 Anders Dickie 1986, 167: »The poet himself says that Remulus’ speech was made up of both, seemly and unseemly utterances«, und er ordnet die Aussagen des Remulus über die Troianer als ›unseemly‹ ein, das Eigenlob der Rutuler hingegen als ›seemly‹. 115 In der Aeneis ist die Vorgeschichte der Troianer in Italien bereits vor ihrer Ankunft bekannt. 116 Numanus Remulus kritisiert die Kleidung der Troianer hinsichtlich der Farben (gold-rot gestickt: vobis picta croco et fulgenti murice vestis 9,614) und hinsichtlich der Form (ihre Gewänder haben Ärmel: tunicae manicas et habent 9,616a), sowie ihren Kopfschmuck (Hauben mit Ketten daran: habent redimicula mitrae 9,616b); zu diesen Klischees siehe Dickie 1986, 170–172; Suerbaum 1967, 196 f. 117 Für eine historische Einordnung der – konventionellen, sexistischen – Beleidigung von Männern als unmännlich und verweiblicht siehe Glei 1991, 345–352.

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Äußerungen des Numanus sofort als Verunglimpfungen entlarven. Das heißt: Die fremdenfeindlichen Stereotypen werden als offensichtlich unzutreffend vorgeführt und derjenige, der sie äußert, wird durch die Art, wie er sie äußert, und durch das absurd überzogene Selbstbild, das er vorträgt, als unzuverlässig gekennzeichnet. Hinzu kommt, dass der Sprecher seine schmähenden Worte nicht lange überlebt.118 Auf solche Weise werden in Rom gängige Vorurteile gegen ›die aus dem Osten‹ in der Aeneis formuliert  – und damit, was die externen Rezipienten betrifft, vorweggenommen  – aber sogleich, jedenfalls, was Aeneas und seine Troianer anbelangt, wirksam entkräftet. Daran ist bemerkenswert, dass Vergil, wenn er in dem Bestreben, seinen Helden gegen Vorurteile gewissermaßen zu immunisieren, die gängigen Stereotypen instrumentalisiert, nicht lediglich die konkreten Stereotypen in Frage stellt,119 sondern eo ipso stereotypisierende Zuschreibungen überhaupt.

4.2 Pietas als Charakteristikum Der Anspruch auf außerliterarische Geltung der Aeneas-Figur ist nicht nur für die Konzeption des zweiten Buches maßgeblich, sondern generell für die Art und Weise, wie Aeneas in der Aeneis charakterisiert ist. Schließlich durfte er, wenn er für das zeitgenössische römische Publikum als ikonischer Held oder Identifikationsfigur taugen sollte, nicht allzu deutlich einer vergangenen, archaischen Welt angehören, in der möglicherweise merklich andere Werte galten. Und wenn Aeneas so angelegt sein sollte, dass in ihm auch der Princeps gesehen werden konnte, verbat es sich, eine Eigenschaft, die dieser offensichtlich nicht besaß, wie etwa körperliche Stärke, als Hauptmerkmal des Aeneas herauszustellen.120 Im Verlauf des ersten Buches erfahren wir über den Protagonisten der Aeneis, dass er ein gerechter Herrscher und ein großer Krieger ist, dazu außerdem ein 118 Vgl. Dickie 1986, 167: »Something of a pattern emerges: those who belittle the manliness of the Trojans are men who are not fully in command of their senses and who may find to their cost that the Trojans are far from being enervated effeminates. There is a good deal that tells against our being meant to accept as true what Remulus says about the Trojans. We have little reason to treat his insults as a diagnosis on Vergil’s part of an inherited rottenness in the Roman character.« 119 Vgl. Schmitz 2013, 107: »Indem ethnische Differenzierungen als Mittel der diffamierenden Beleidigung eines Gegners eingesetzt werden und häufig in Verbindung mit einer rühmenden Gegenüberstellung der Qualitäten des eigenen Volkes begegnen, macht Vergil allein schon durch die einseitige Kontrastierung zugleich die Fragwürdigkeit der Stereotypen deutlich.« 120 In der Ilias und z. B. auch bei Quintus Smyrnaeus zeichnet Aineias sich durch körperliche Stärke aus; Augustus hingegen war eher von schwacher Konstitution: Suet. Aug. 79–82 (tantam infirmitatem 82,2).

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bildschöner Mann, zumal wenn seine göttliche Mutter ein wenig nachhilft.121 Das besondere Charakteristikum aber, das an ihm von Anfang an hervorgehoben wird und das die Nennung seines Namens als stehendes Epitheton begleitet, ist ein anderes. Es betrifft keine körperliche Eigenschaft oder geistige Fähigkeit, sondern ein Ethos, eine moralische Qualität: pietas. Diese Tugend, die Aeneas wohl schon vor der Aeneis zugeschrieben wurde,122 sollte durch die Aeneis so eng mit seiner Person verknüpft werden, dass es angesichts der Bedeutung, welche die Aeneis für die lateinische Literatur und damit für das Corpus der lateinischen Sprache gewonnen hat, unmöglich geworden ist, den Begriff ohne den Aeneas der Aeneis zu denken. Augustus seinerseits hatte aber schon zuvor Wert darauf gelegt, selbst der pietas gerühmt zu werden: Neben iustitia, virtus und clementia gehört pietas erga deos patriamque zu den vier Tugenden, die auf dem goldenen Ehrenschild genannt sind, der ihm 27 v. Chr. von ›Senat und Volk von Rom‹ übergeben wurde, und der seitdem in der Curia Iulia aufgestellt war.123 Indem die Aeneis Aeneas als denjenigen inszeniert, der die Penaten von Troia nach Latium bringt und der sich deshalb durch pietas auszeichnet, macht sie ihn zur Symbolfigur für diese augusteische Herrschertugend.124 Es wäre aber unzutreffend, in pietas an sich etwas genuin Römisches zu sehen, denn sie ist eigentlich nur die römische Ausprägung eines in vielen Kulturen anzutreffenden Konzepts, insofern sie die ›richtige‹ Haltung von Menschen gegenüber Göttern (pietas erga deos) sowie von Kindern gegenüber ihren Eltern, d. h. in der Regel des Sohnes gegenüber seinem Vater (pietas erga parentem) bezeichnet.125 Nüchtern betrachtet handelt es sich also um eine eher unspek121 1,544 f.; 1,588–593. 122 Zur Diskussion, seit wann die pietas mit Aeneas als Sagengestalt verbunden ist, siehe Galinsky  1969, 3–61; als entscheidende Voraussetzung für Vergils pius Aeneas sieht Weinstock 1971, 254, Iulius Caesars Bezug auf Venus als Stammutter der Iulier, hierzu vgl. Anm. 86. 123 Vgl. Zanker 21990, 101. Der Text einer in Arles gefundenen Marmorkopie des Jahres 26 v. Chr. (cos VIII) lautet: Senatus | Populusque Romanus | Imp Caesari Divi F Augusto | cos VIII dedit clupeum | virtutis clementiae | iustitiae pietatis erga | deos patriamque nach: Zanker 21990, Abb. 79. Augustus selbst zitiert die Aufschrift des Schildes in seinem Tatenbericht als Ausweis dafür, dass er die genannten Tugenden besaß: et clupeus aureus in curia Iulia positus, quem mihi senatum populumque Romanum dare virtutis clementiaeque et iustitiae et pietatis caussa testatum est per eius clupei inscriptionem – ὅπλον τε χρυσοῦν ἐν τῶι βουλευτηρίωι ἀνατεθὲν ὑπό τε τῆς συνκλήτου καὶ τοῦ δήμου τῶν Ῥωμαίων διὰ τῆς ἐπιγραφῆς ἀρετὴν καὶ ἐπείκειαν καὶ δικαιοσύνην καὶ εὐσέβειαν ἐμοὶ μαρτυρεῖ Mon. Ancyr. 34. 124 inferretque deos Latio 1,6; »sum pius Aeneas, raptos qui ex hoste penatis | classe veho mecum, fama sub aethera notus; | Italiam quaero patriam« 1,378–380. 125 Vgl. zum Beispiel im Dekalog die Gebote, Gott respektive Vater und Mutter zu ehren. Eine Erweiterung der Verbindlichkeit gegenüber den Eltern auf Nahestehende sowie das ›Vaterland‹ (vgl. oben: erga deos patriamque auf dem Schild des Augustus) ist in Cic.

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takuläre soziale Tugend.126 Wenn aber pietas in der Aeneis als das besondere Charakteristikum des Helden angekündigt wird, impliziert dies, dass er diese Tugend in besonderer Weise verkörpert und dass darin eben doch eine Besonderheit liegt. Und dies gilt umso mehr, als die Aeneis im Grunde behauptet, dass das römische Weltreich letztlich auf die pietas des Aeneas zurückgeht und auf der seiner Nachkommen beruht.127 Schon im Prooemium heißt es, dass Aeneas sich durch pietas auszeichne (insignem pietate virum 1,10). Der Protagonist der Aeneis wird also von der Stimme des extradiegetischen Erzählers gleich zu Beginn des Epos mit dieser Eigenschaft vorgestellt; sie ist sein Wesensmerkmal, und dabei das einzige, das genannt wird; entsprechend wird pius das Epitheton des Helden (zuerst in 1,220). Die Zuschreibung der pietas beschränkt sich aber nicht auf die Darstellungsebene, sondern sie wird von Anfang an auch innerhalb der erzählten Geschichte durch verschiedene Figuren vorgenommen, und zwar sowohl auf der Götterebene als auch auf der Ebene der menschlichen Figuren: Bei den Göttern macht Venus die pietas des Aeneas gegenüber Jupiter geltend (hic pietatis honos 1,253a) und auf der Ebene der menschlichen Figuren nennt Ilioneus sie neben Gerechtigkeit und Kampfesstärke gegenüber Dido als Charakteristikum des Aeneas (rex erat Aeneas nobis, quo iustior alter | nec pietate fuit, nec bello maior in armis 1,544 f.).128 Außerdem identifiziert Aeneas sich selbst als pius, als er sich einer vermeintlich fremden Person (Venus in Gestalt einer Jägerin), in der er eine Gottheit erahnt, mit den Worten vorstellt: »sum pius Aeneas, raptos qui ex hoste penatis | classe veho mecum, fama super aethera notus | Italiam quaero patriam, et genus ab Iove

rep. 6,16 belegt: sed sic Scipio ut avus hic tuus, ut ego qui te genui, iustitiam cole et pietatem, quae cum magna in parentibus et propinquis, tum in patria maxima est. Als Grundlage menschlicher Gemeinschaft erscheint die pietas erga deos in Cic. nat. deor. 1,2: atque haut scio an pietate adversus deos sublata fides etiam et societas generis humani et una excellentissuma virtus iustitia tollatur. 126 »Nobody can prevent the fall of Troy, but a dull, careful person may manage to smuggle out the Lares and Penates – even at the risk of having the epithet pius tacked to his name.« Dieses Verdikt über Aeneas lässt Dorothy L. Sayers ihren Protagonisten Lord Peter Wimsey im Rahmen eines Tischgesprächs äußern, das an einem fiktiven College der Universität Oxford geführt wird: D. L. Sayers, Gaudy Night. A Lord Peter Wimsey Mystery, 1935, Chapter 17, zitiert nach der Taschenbuchausgabe der New English Library, Hodder and Stoughton, 1970, 318. 127 Siehe hierzu: Wlosok 1982, 407 [12]. 128 Die Worte des Ilioneus klingen deshalb wie ein Nachruf, weil er Aeneas zu diesem Zeitpunkt schiffbrüchig verloren glaubt. Aeneas’ eigene Vorstellung gegenüber Dido kurz später im Text fällt eher nüchtern und sachlich aus: »coram, quem quaeritis, adsum | Troius Aeneas, Libycis abreptus ab undis« 1,595 f., vgl. McLeish 1972, 128. Bei den von Ilioneus genannten Tugenden handelt es sich um drei (iustitia, pietas, virtus) der vier (+ clementia), die auf dem Ehrenschild des Augustus von 27 v. Chr. genannt sind, vgl. oben.

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summo« 1,378–380129 Folglich wird die pietas als Charakteristikum des Aeneas im Verlauf des ersten Buches durch eine Reihe von vier Instanzen eingeführt: durch den Erzähler im Prooemium (I), durch eine Gottheit, Venus (II), durch den Protagonisten selbst, Aeneas (III), und durch eine weitere menschliche Figur, Ilioneus (IV). Diese Reihe von Instanzen repräsentiert eine gewisse ontologische Vollständigkeit im Kosmos der Aeneis. Im zweiten Buch tritt dann als eine fünfte Instanz der Erzählung, die dem Protagonisten pietas zuschreibt, noch der Rezipient (V) hinzu.130 Insgesamt betrachtet kann die Verwendung des Wortes pietas in der Aeneis folgendermaßen systematisiert werden:131 Der Gebrauch des Substantivs pietas in der Aeneis (sämtliche Vorkommen) Das Wort pietas kommt in der Aeneis 22 Mal vor, davon 11 Mal mit direktem Bezug auf Aeneas und 1 Mal mit Bezug auf die von ihm abstammenden Römer, gegenüber 6 Malen mit Bezug auf jeweils eine andere Figur und 4 Malen in Gebeten, und zwar 1 Mal mit Rückbezug auf den Sprecher (Anchises) und 3 Mal mit Bezug auf die apo­ strophierte(n) Gottheit(en): Im Prooemium wird dem Aeneas zu Beginn des Epos vom epischen Erzähler programmatisch pietas zugeschrieben (1,10). Daneben wird ihm auf der Geschehensebene von anderen Figuren pietas zuerkannt; insgesamt 8 Mal kommt das Wort zur Kennzeichnung des Aeneas innerhalb von Figurenrede vor: – Venus zu Jupiter (1,253) und zu Neptun (5,783)132 – Ilioneus zu Dido (1,546) – Helenus zu Anchises (3,480) – Die Sibylle von Cumae zu Charon (6,403; 6,405) 129 Ein weiteres Mal bezeichnet Aeneas sich selbst als pius (10,826) in seiner Apostrophe des sterbenden Lausus, dem nach Aeneas’ Worten die eigene pietas seinem Vater Mezentius gegenüber zum Verhängnis wird: fallit te incautum pietas tua 10,812. Näher hierzu: weiter unten im Haupttext. 130 Das Konzept wird dem Rezipienten nahegelegt, ohne dass die Worte pietas oder pius fallen; hierzu siehe 9.2.9. 131 Eine andere Darstellung bietet Binder 2019, Bd. 1, 249–255. 132 In 5,783 f. spricht Venus davon, dass Junos Zorn weder durch die Zeit (longa dies) noch durch pietas besänftigt werde und ebensowenig durch die Weisung Jupiters oder der fata. Gemeint ist hier pietas, welche Juno entgegengebracht wird, und zwar von denjenigen Menschen, die sie mit ihrem Zorn verfolgt, also von Aeneas und den Seinen: Der Zorn, den Juno gegen die Troianer in der Person des Aeneas hegt, wird auch durch dessen pietas nicht gelindert; vgl. die überaus klare Analyse von De la Cerda (Ed. Köln 1628, 1, 587): Dixerat, gravem esse iram Iunonis, ostendit iam a quadruplice capite hanc gravitatem. Diuturnitas temporis omnia consumit, non iram Iunonis, quae duravit ante bellum Troianum, in ipso bello, post bellum. Pietas grata est Dis, et apta ad reconciliationem; illa non lenitur pietate Aeneae, non mitigatur, cum praecesserit in 3 »Iunoni Argivae iussos adolemus honores«. Imperium Iovis potens est in reliquos superos, una Iuno pervicax est. Demum, fata quem non frangunt? illa adhuc infracta est. Anders Binder 2019, Bd. 1, 253, der meint, Venus spräche hier über die mangelnde pietas der Juno: »Iuno fehlt pietas hingegen in den Augen der Venus, weil sie unersättlich in ihrem Zorn ist«.

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– Anchises zu Aeneas (6,688)133 – Diomedes laut Venulus (11,292) 2 Mal erscheint pietas mit Bezug auf Aeneas in den Gedanken einer Figur, nämlich in den Gedanken des Iulus (9,294: pietas des Iulus gegenüber Aeneas) sowie des Aeneas selbst (10,824: pietas des Aeneas gegenüber Anchises). Ganz am Ende des Epos, in der letzten Götterszene, schreibt Jupiter gegenüber Juno dem neuen Volk, das aus den ›Ausoniern‹ einerseits und den troianischen Einwanderern andererseits hervorgehen wird, das heißt: den Römern, pietas zu (12,839). Außer dem Aeneas wird in der Aeneis folgenden 6 Figuren pietas zugeschrieben: – dem Mann, der im Gleichnis eine aufgewühlte Menge besänftigt (1,151), vom epischen Erzähler – Panthus, dem Apollopriester in Troia (2,430), vom Erzähler Aeneas – Aeneas Silvius, dem König von Alba Longa (6,769), vom toten Anchises – Marcellus (6,876), vom toten Anchises – Euryalus (9,491), von seiner Mutter – Lausus (10,812), von Aeneas Darüberhinaus erscheint das Wort pietas 4 Mal in Figurenrede, die an Gottheiten gerichtet ist. Es sprechen jeweils menschliche Figuren, die sich entweder auf die eigene pietas berufen – Anchises in der Bitte um ein Zeichen (2,690) oder aber pietas von Seiten der Götter erflehen oder beschwören: – Priamus in seiner Verfluchung des Pyrrhus (2,536) – Aeneas im Gebet (5,688) – Arruns in der vergeblichen Bitte um Vergebung dafür, dass er Camilla getötet hat (11,787)

Eine besondere Auffälligkeit bei der Verwendung des Wortes pietas in der Aeneis besteht darin, dass es insgesamt nur 4 Mal von der Stimme des epischen Erzählers geäußert wird. Demgegenüber sind 18 Vorkommen anderen Stimmen zugeordnet: Sie stehen innerhalb von Figurenrede.134 Von den 4 Verwendungen durch den epischen Erzähler dienen 2 der direkten Charakterisierung einer Figur, und zwar erstens des Aeneas im Prooemium (1,10) und zweitens des Mannes im Gleichnis, dem es kraft seiner Autorität gelingt, eine aufgewühlte Menge zu beruhigen (1,151). Das Substantiv pietas wird also vom Erzähler lediglich 1 einziges Mal zur Kennzeichnung des Aeneas gebraucht. Allerdings geschieht dies programmatisch im Prooemium und es handelt sich außerdem um die einzige charakterliche Kennzeichnung überhaupt, die der Protagonist des Epos bei seiner Einführung von der Stimme des Erzählers erfährt: Sie gilt und wird nicht durch Wiederholungen (die abschwächend wirken könnten) beteuert. Bei den übrigen 2  Verwendungen des Substantivs im Erzählertext geht es jeweils um die Evokation der eigenen pietas in den Gedanken einer Figur, welche pietas bei einer anderen Figur beobachtet: Iulus muss bei den Worten des 133 Sowie indirekt bei der Erwähnung der pietas des Aeneas Silvius in 6,769. 134 Vgl. die Angaben der Namen der jeweiligen Sprecher in der Übersicht.

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Euryalus, der sich um seine Mutter sorgt, an die eigene pietas zu seinem Vater Aeneas denken (9,294) und Aeneas denkt angesichts dessen, wie Lausus sich in der Schlacht für seinen Vater Mezentius einsetzt, an seine pietas zu seinem eigenen Vater Anchises (10,824). In diesen 4 Fällen, den beobachteten (Euryalus, Lausus) sowie den durch die Beobachtung bei den jeweiligen Beobachtern (Iulus, Aeneas) evozierten, erscheint die pietas jeweils als eine Haltung, die ein Sohn gegenüber einem Elternteil einnimmt. Aeneas ist in den Gedanken des Iulus das Objekt von dessen pietas; in seinen eigenen Gedanken hingegen geht es um seine eigene pietas gegenüber seinem Vater. Wenn auf der Handlungsebene insgesamt 6  Figuren pietas als Eigenschaft des Aeneas erwähnen,135 so wird dadurch die Zuschreibung durch den epischen Erzähler gestützt und verstärkt. Relativiert werden könnte hingegen die pietas des Aeneas, wenn anderen Figuren außer ihm ebenfalls pietas zuerkannt wird. Aber die 6 (wieder sind es 6) Figuren, denen in der Aeneis außer Aeneas pietas zugeschrieben wird, stehen alle nicht in Konkurrenz mit Aeneas und können ihm den Rang nicht streitig machen: Der Mann im Gleichnis (1,151) hat einen abweichenden ontologischen Status: Er gehört nicht der Welt des geschilderten Geschehens an. Auch handelt es sich bei ihm nicht um eine konkrete Person, sondern um einen Typus. Panthus (2,429), Euryalus (9,491) und Lausus (10,812) hingegen sterben innerhalb des erzählten Geschehens und ihre pietas wird entweder im Zusammenhang mit ihrem Tod erwähnt (so bei Panthus und Lausus) oder der Tod erfolgt bald nach der Erwähnung der pietas (so bei Euryalus). Bei Panthus und Lausus ist es außerdem Aeneas selbst, der ihnen pietas zuerkennt, und zwar dem Panthus als Erzähler (in Aeneis  2) und dem Lausus in einem kürzeren Abschnitt von Figurenrede. Bei Euryalus hingegen ist es dessen eigene Mutter in ihrer Klage um den Sohn. Silvius Aeneas (6,769) und Marcellus (6,876) schließlich, denen Anchises in der Unterwelt prophetisch pietas zuschreibt, werden erst nach Aeneas ins Leben treten und außerdem im Sinne der Erzählung als dessen Nachkommen gelten, so dass ihre pietas auch auf ihn zurückfällt oder vielmehr die seine spiegelt, wie dies auch auf ›die Römer‹ (12,839) zutrifft. So gesehen verschiebt sich das oben festgestellte Verhältnis von Nennungen mit Bezug auf Aeneas gegenüber Nennungen mit Bezug auf andere Figuren noch einmal zu Aeneas’ Gunsten: 14 (11 Mal Aeneas + 3 Mal Aeneas’ Nachkommen: Aeneas Silvius, Marcellus, die Römer) zu 4 (einer, der nicht der Welt des Aeneas angehört: die Respektsperson im Gleichnis + einer, den die eigene Mutter in ihrer Klage so nennt: Euryalus + 2, denen Aeneas selbst pietas zuschreibt: Panthus, Lausus). Wie das Substantiv pietas wird auch das zugehörige Adjektiv pius in der Aeneis vor allem für Aeneas verwendet. Tatsächlich ist Aeneas hier die einzige konkret bestimmte menschliche Figur, die mit dem Adjektiv pius bezeichnet 135 Nämlich Venus, Ilioneus, Helenus, die Cumäische Sibylle, Anchises und Diomedes, vgl. die Aufstellung oben.

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wird. Bei der einen weiteren konkret bestimmten Einzelperson, die außer ihm pius genannt wird, handelt es sich um einen Gott, nämlich Apollo, der allerdings an der entsprechenden Stelle nicht bei seinem Namen genannt wird, sondern als arquitenens umschrieben wird (3,75), so dass die Kombination aus Eigennamen und pius in der Aeneis allein Aeneas vorbehalten bleibt. Im Einzelnen werden pius und impius in der Aeneis folgendermaßen verwendet: Der Gebrauch des Adjektivs pius in der Aeneis (sämtliche Vorkommen) Das Wort pius kommt in der Aeneis 37 Mal vor.136 Es wird 25 Mal mit Bezug auf die Person des Aeneas verwendet137 (gegenüber 12 Mal ohne Bezug auf Aeneas). Davon erscheint es 20 Mal in der Junktur pius Aeneas.138 Diese steht mit nur 1 Ausnahme (idque pio sedet Aeneae 5,418a) im Nominativ und nur 2 Mal gesperrt (ebenda: 5,418a und: at pius exsequiis Aeneas 7,5a), so dass die Wortfolge pius Aeneas insgesamt 18 Mal begegnet, davon 2 Mal innerhalb von Figurenrede des Aeneas über sich selbst (»sum pius Aeneas…« 1,378a: zu Venus als Jägerin; »quid pius Aeneas tanta dabit indole dignum?« 10,626: zu Lausus). An 1 Stelle werden die Hände des Aeneas mit dem Adjektiv bezeichnet (pias manus 3,42: Polydorus’ Stimme zu Aeneas). 4 Mal wird das Wort pius für die Troianer einschließlich Aeneas oder als diesem Zugehörige verwendet: 2 Mal direkt (pio generi 1,526: Ilioneus zu Dido; pii Troes 7,21) und 2 Mal subsumiert 136 Nach meiner Zählung. Falsch und eklatant zu hoch ist die Zahl bei Binder 2019, Bd. 1, 252: »In der Aeneis findet sich pietas an 22 Stellen, das Adjektiv pius weit häufiger nämlich 131-mal.« Auf eine solche viel zu hohe Zahl kommt man, wenn man das Textverarbeitungsprogramm im Text der Aeneis nach den einzelnen Formen von pius (pius, pia, pii, piae, pium, piam, pio, pia, piorum, piarum, piis, pios, pias) suchen lässt, ohne die Option ›Nur ganzes Wort suchen‹ zu aktivieren. So scheint Binders Zählung alle Wörter zu enthalten, in denen die entsprechenden Buchstabenfolgen vorkommen, also z. B. für pius neben impius (4) auch saepius (4) und propius (8), wodurch er fälschlich 36 anstatt 20 Vorkommen zählt, und für pia neben piabunt (2), piaret (1), impia (6), piacula (3) auch copia (8), incipiam (1), turpia (1), rapiat (2), eripiat (2), Scipiadas (1), praecipiant (1), praesepia (1), cupiat (1) etc., insgesamt: 42. Tatsächlich erscheint pia in der Aeneis jedoch nur 2 Mal: 1 Mal als Neutrum Plural Nominativ: pia numina in 4,382 und 1 Mal als Femininum Singular Ablativ: pia vitta in 4,637. Unter pio werden die Zahlen für pios (3) und piorum (1) unbemerkt verdoppelt, außerdem werden capio (1), incipio (1), principio (9), corripio (1), propior,-e, -a, -ibus (5) etc. mitgezählt, ingesamt: 34 (statt 6). Bei pium, das in der Aeneis gar nicht vorkommt, werden die zwei Vorkommen von principium (7,219; 9,53) gezählt. Unter piam (0 Mal in der Aeneis) werden die für pia schon einmal fäschlich mitgezählten incipiam (1), eripiam (2) und excipiam (1) ein weiteres Mal fälschlich mitgezählt, und bei pias (tatsächlich nur in 3,42) werden die für pia schon einmal zu Unrecht erfassten incipias (1) und capias (1) ein weiteres Mal dazugezählt. Ein Blick auf den Artikel pius in Merguet 1912, 523 genügt, um zu erkennen, dass Binders »131-mal« nicht stimmen kann. Zu pius in der Aeneis siehe auch: Worstbrock 1963, 190 mit Anm. 42. 137 Vgl. die Angabe bei Galinsky 1969, 4: »in over twenty places in the Aeneid the Trojan is characterized by this epithet pius.« 138 Insgesamt 17 Mal steht das metrisch aequivalente pater Aeneas; hinzu kommt 1 Vorkommen im Genitiv: 5,827. Zu Aeneas als pater siehe Knoche 1956, 97–99; Wlosok 1982, 410 [14 f.].

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innerhalb eines absoluten Ausdrucks im Sinne von ›rechtschaffene Menschen wie wir‹ (1,604: Aeneas zu Dido; 3,266: Anchises zu den Göttern). 2 Mal steht pii substantiviert im Sinne von ›die Seelen der Guten‹ / ›die Seligen‹ im Zusammenhang mit deren Aufenthaltsort im Totenreich (amoena piorum concilia 5,734: Anchises’ Schatten zu Aeneas; secretos pios 8,670). 1 Mal werden speziell apollinische Seher im Totenreich mit dem Adjektiv versehen: pii uates 6,662.139 Darüber hinaus wird pius 1 Mal für Apollo (pius arquitenens 3,75) verwendet und 1 Mal werden die Götter als pia numina beschworen (4,382: Dido zu Aeneas).140 Außerdem kommt pius in der Aeneis 7 Mal in Verbindung mit Substantiven vor, die keine Personen bezeichnen. 4 dieser Verwendungen stehen im Zusammenhang mit religiösen Handlungen (pias manus 4,517: Didos zum Opfer gereinigte Hände; piā vittā 4,636: Dido über eine Opferbinde; farre pio 5,745: Opferbrot; pio ore 6,530: Deiphobus über die eigene Haltung in einer Beschwörung der Götter, ihn an den Griechen zu rächen).141 Die 3 übrigen Verwendungen sind amore pio 5,295: von Nisus’ Liebe zu Euryalus, piis animis 7,402: Amata im Wahn über die Einstellung der Latinischen Mütter ihr gegenüber und pio sanguine 10,617: Juno zu Jupiter vom Blut des Turnus, das dieser den Troianern schulde. Der Gebrauch des Adjektivs impius in der Aeneis (sämtliche Vorkommen) Das Wort impius kommt in der Aeneis 10 Mal vor, und zwar 9 Mal in den Büchern 1–6 und ein Mal in Buch 12; es steht 9 Mal innerhalb von Figurenrede und nur 1 Mal im Text des extradiegetischen Erzählers. Von der Stimme des extradiegetischen Erzählers wird ›Fama‹, die Dido verrät, dass die Troianer sich zur Abfahrt bereit machen, mit dem Adjektiv impia versehen (4,298). Insgesamt 3 Mal wird eine Figur von einer anderen als impius bezeichnet: Venus nennt Pygmalion, den Bruder der Dido, impius, als sie berichtet, wie dieser seinen Schwager Sychaeus an einem Altar ermordet hat (1,349); Sinon nennt Diomedes impius, als er vom Raub des Palladiums erzählt (2,163); Dido nennt Aeneas impius, als sie Anna aufträgt, ihr seine Waffen zu bringen, die er in ihrem Schlafzimmer zurückgelassen hat (4,496). 1 Mal spricht Dido von ihrem eigenen Handeln rückblickend als facta impia (4,596): Sie bezeichnet so den Umstand, dass sie sich mit Aeneas eingelassen hat, obwohl sie gelobt hatte, Sychaeus über dessen Tod hinaus treu zu bleiben.142 2 Mal wird die Junktur impia Tartara gebraucht, um den höllenartigen Bereich der Unterwelt zu bezeichnen: Einmal sagt so der tote Anchises (5,733f), als er Aeneas erscheint und ihn bittet, ihn zu besuchen, wobei er betont, dass er sich eben nicht in diesem Bereich aufhält; 1 Mal nennt die Sibylle (6,543) an einer Weg-Gabelung so

139 Zu pii – ›die Seligen‹ siehe TLL vol. X,1 fasc. XIV, Sp. 2237. Zu pii vates siehe TLL vol. X,1 fasc. XIV, Sp. 2240. 140 Zur Verwendung des Adjektivs pius für Gottheiten siehe TLL vol. X,1 fasc. XV, Sp. 2241. In 3,75–77 geht es darum, dass Apollo die bis dahin schwimmende Insel Delos ›befestigt‹, weil sie einst der Latona Platz bot für seine und Dianas Geburt; hierzu siehe Horsfall 2006, 93. 141 Zu pius in Verbindung mit Opferhandlungen siehe TLL vol. X,1 fasc. XIV, Sp. 2239. 142 Anders: Casali 1999, hierzu siehe 8.1.

Pietas als Charakteristikum

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das Ziel desjenigen Weges, der nicht eingeschlagen wird (der andere Weg führt ins Elysium, wo sie Anchises treffen). 2 Mal steht die Junktur arma impia; hier kennzeichnet das Adjektiv bestimmte Waffentaten / K riege als unrecht. 1 Mal spricht so die Sibylle über die spezifische Verfehlung einer bestimmten Kategorie von Unterweltsbüßern (6,612f), 1 Mal Latinus über seinen Krieg gegen die Troianer (12,31). 1 Mal spricht Jupiter, als er im Rahmen seiner Prophezeiung eine Friedenszeit in Rom ankündigt, von Furor impius, der gefesselt und eingesperrt sitzen werde: Es handelt sich um eine Personifikation des Krieges, eventuell spezifisch Bürgerkrieges (1,294).

Die Verwendungen der Begriffe pius und pietas in der Aeneis lassen sich auf der Handlungsebene prinzipiell alle entweder im Sinne von pietas erga deos oder im Sinne von pietas erga parentes verstehen. Es fällt auf: Stärker als im rein menschlichen Bereich, wo die pietas zumeist der älteren Generation entgegengebracht wird, erscheint die pietas zwischen Menschen und Göttern als ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Prinzip, das eine Verbindlichkeit auch der Götter gegenüber den Menschen bedeutet: Der Mensch beruft sich gegenüber der Gottheit auf seine pietas, um seinerseits die pietas der Gottheit einzufordern.143 Es macht sich hier ein kontraktualistisches Verständnis vom Verhältnis zwischen Mensch und Gott bemerkbar, wie es seit Erfindung der Gnadenlehre aus der Mode gekommen ist. Wenn Aeneas also sich selbst als pius Aeneas vorstellt,144 ist das weder komisch gemeint noch unabsichtlich komisch,145 sondern Ausdruck seines Versuches, zu den ›richtigen‹ Bedingungen mit einer Gottheit zu kommunizieren: Er identifiziert sich selbst als derjenige, der die heimischen Penaten vor dem Feind gerettet hat und eine neue Heimat für sie sucht. Er weiß, dass er dadurch pietas bewiesen hat, und will dies gegenüber seiner Gesprächspartnerin, in der er richtig eine Gottheit vermutet, geltend machen. Vielleicht noch wichtiger ist aber folgendes: Durch die Selbst-Vorstellung der Figur des Aeneas als pius wird früh in der Erzählung etabliert, dass er sich seiner pietas bewusst ist.146 Dadurch wird gewährleistet, dass er nicht als tumber Tor erscheint, der zufällig das Richtige tut, sondern als jemand, der seine Pflicht kennt und erfüllt.

143 Gegenseitigkeit der pietas zwischen Menschen und Göttern: 2,690; 2,536; 5,688; 11,787; vgl. oben die Aufstellung sämtlicher Verwendungen in der Aeneis. Vgl. hierzu: Knoche 1956, 91 mit Anm. 1. 144 Aeneas zu Venus, die ihm in Gestalt einer Jägerin entgegentritt: 1,378a. 145 In diese Richtung geht z. B. Rieks 1983, 149: »grenzt fast an Selbstironie«. Die etwas naive deutsche Übersetzung »Ich bin der fromme Aeneas« (so z. B. Holzberg 2015, 65, allerdings im Versmaß) leistet solchen Interpretationen Vorschub; zielsprachenorientiert und dem Kontext angemessen wäre eine Übersetzung wie: »Ich bin Aeneas, ein gottesfürchtiger Mann, der…« oder »Ich bin ein frommer Mann, Aeneas mit Namen, der…«. 146 Generalisierend Knoche 1956, 94: »Er selbst erkennt also in der pietas den Kern seines Wesens.«

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In diesem Zusammenhang wäre noch anzumerken, dass Aeneas sein Beiwort pius im Sinne der Erzählung verdientermaßen trägt, weil er die Penaten gerettet hat und sich um eine neue Heimstatt für sie kümmert. Es erübrigt sich daher, für jede einzelne Verwendung des Beiworts zu prüfen, inwiefern es gerade situativ passt, dass Aeneas pius genannt wird.147 Und wenn Dido Aeneas in ihrer Wut darüber, dass er sie verlässt, impius nennt (4,496), sagt das weniger über ihn aus als über sie selbst und ihren Gemütszustand sowie auch über ihre Fehleinschätzung des Verhältnisses, das sie zu ihm hat. Grundsätzlich ist zu beachten, dass es sich bei der römischen pietas nicht um eine absolute Haltung handelt, sondern dass sie immer ein Objekt hat (vgl. oben: erga deos, erga parentes, erga deos patriamque), seien dies die Götter (alle), einzelne Gottheiten oder einzelne Menschen oder das ›Vaterland‹.148 So ist die pietas unter Menschen in der Aeneis stets eindeutig personenbezogen. Hierzu zeigt der traurige Fall des Lausus, dass man sich nicht aussuchen kann, wem man pietas schuldet (10,810–832): Aeneas erkennt und anerkennt pietas als positive Eigenschaft bei seinem Feind und wird durch sie an seine eigene pietas gegenüber Anchises erinnert, weshalb er auf die Spolien verzichtet. Fatal für Lausus ist allerdings die Persönlichkeit seines Vaters, des contemptor divum (7,648), den (als Vater zu haben) er nicht verdient hat: dignus patriis qui laetior esset | imperiis et cui pater haud Mezentius esset (7,653 f.). Im Schicksal des Lausus ist ein Wertekonflikt thematisiert, wie er unter Menschen beständig auftritt, nämlich die Frage, ob oder wie weit man sich nahestehenden Personen, die sich normwidrig verhalten, verpflichtet fühlen soll.149 Die Objektreferenz der pietas bringt es aber auch mit sich, dass keineswegs jeder gegenüber jedem zur pietas verpflichtet wäre.150 Pietas richtet sich nicht unbesehen an alle ›Mitmenschen‹ und unterscheidet sich darin fundamental von der ›christlichen Nächstenliebe‹ und erst 147 Vgl. Glei 1991, 219: »Daß Vergil Aeneas mitten im Morden pius nennt (10,591), ist kein Sarkasmus, keine Kritik Vergils an seinem Helden, sondern die Erkenntnis, daß die pietas manchmal auch zu Grausamkeit zwingt.« Die situative Überprüfung hingegen praktiziert z. B. Knoche 1956, 93–95. Tatsächlich aber könnte man sogar umgekehrt sagen, dass in der Aeneis pietas durch das Verhalten des Aeneas definiert wird. Man kann natürlich das Konzept der pietas als solches kritisieren. Aber die Aeneis lädt nicht dazu ein, zu hinterfragen, ob Aeneas sich als pius erweist; dies wird als gegeben vorausgesetzt. 148 Vgl. Binder 2019, Bd. 1, 250. 149 Anders: Putnam 1995, 135 f. Binder 2019, Bd. 1, 253 bezeichnet die pietas des Lausus als »fehlgeleitet«, aber Lausus kann sich seinen Vater, dem er als solchem pietas schuldet, nicht aussuchen. Sein Unglück besteht darin, ein Monster wie Mezentius zum Vater zu haben. Aeneas anerkennt jedoch ausdrücklich die Loyalität, die Lausus seinem Vater entgegenbringt, so schlimm dieser auch ist. 150 Widersprüche (oder »Rätsel«, so: Knoche  1956, 94) ergeben sich nur, wenn man den Begriff der pietas absolut setzt. Mangelnde Berücksichtigung der Objektreferenz der paganen römischen pietas ist in der Aeneis-Deutung ein fundamentales Problem. Es begegnet regelmäßig in den Interpretationen von Putnam, z. B. Putnam 1995, 172–174.

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recht von der ›Feindesliebe‹.151 Wie der Schluss der Aeneis zeigt, kann es im Gegenteil gerade ein Ausdruck von pietas sein, jemanden (Dritten) zu töten.152 Im Bild von Aeneas, der seinen Vater aus Troia trägt, der wiederum die Penaten in Händen hält, treffen pietas erga parentem und pietas erga deos zusammen. In der Aeneis kommen allerdings ausgerechnet bei der Umsetzung dieses Motivs die Begriffe pietas und pius nicht vor: Die Art und Weise, wie die pietas an dieser Schlüsselstelle dennoch evoziert wird, gehört zu den erzählerischen Spezifika der vergilischen Iliupersis.153 Die beiden markanten Manifestationen der pietas des Aeneas, die Rettung sowohl der Penaten als auch des Vaters, werden ein weiteres Mal ohne Nennung der Begriffe pietas oder pius von Dido in ihrem Wahnsinnsmonolog erwähnt.154 Bei den expliziten Nennungen der pietas ist jeweils nur eine der beiden Ausprägungen damit verbunden: Im Prooemium steht pietas ohne nähere Angabe, aber die Leistung des Helden, die Penaten nach Latium gebracht zu haben, wird kurz davor erwähnt: inferretque deos Latio (1,6a). In der SelbstIdentifikation gegenüber Venus bezieht Aeneas sich ebenfalls auf seine pietas als pietas erga deos, die Rettung des Vaters nennt er nicht.155 In der Unterwelt hingegen wird an zwei Stellen die pietas erga patrem betont, und zwar einmal durch die Sibylle gegenüber Charon (6,403–405) und ein weiteres Mal durch den Vater Anchises (6,687 f.), also durch das Objekt der pietas selbst;156 beide beziehen sich allerdings weniger auf die Rettung des Vaters aus Troia, als konkret auf den Umstand, dass Aeneas es unternimmt, seinen Vater in der Unterwelt aufzusuchen.

4.3 furor, ira & amens: Aeneas im Kampfmodus Ein Diskurs über pietas, der in der Aeneis selbst gar nicht vorkommt und der nur in der Sekundärliteratur stattfindet, betrifft ihr Verhältnis zu furor. Weitgehend verselbständigt erscheint er, wenn pietas und furor übergreifend als zwei entgegengesetzte und aufeinander bezogene Prinzipien gesehen werden, die, sei es im Innern des Protagonisten, sei es zwischen dem Protagonisten und seinen 151 So wird pietas erst von Christen in der Spätantike definiert; vgl. Galinsky 1988, 322; hierzu siehe 4.3. 152 Anders Putnam passim, z. B. Putnam 1995, 172–200. 153 Hierzu siehe 9.2.9. 154 »en dextra fidesque, | quem secum patrios aiunt portare penatis, | quem subiisse umeris confectum aetate parentem!« 4,597b–599. 155 »sum pius Aeneas, raptos qui ex hoste Penatis | classe veho mecum, fama super aethera notus | Italiam quaero patriam, et genus ab Iove summo« 1,378–380. 156 »Troius Aeneas, pietate insignis et armis, | ad genitorem imas Erebi descendit ad umbras. | si te nulla movet tantae pietatis imago, | at ramum hunc (aperit ramum qui veste latebat) | agnoscas« 6,403–405; »venisti tandem, tuaque expectata parenti | vicit iter durum pietas?« 6,687 f.

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Gegenspielern (vor allem Dido und Turnus) ihre Kräfte entfalten.157 Je stärker allerdings eine solche Beziehung von pietas und furor generalisiert wird, desto größer ist die Gefahr, dass sie mehr an den Text herangetragen wird, als dass sie aus ihm abgeleitet werden könnte. Das Wort furor hat auch in der Aeneis ein zu weites Bedeutungsspektrum, als dass ein Gegensatz zu pietas allgemein postuliert werden und in sämtliche Verwendungen hineininterpretiert werden dürfte. Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass die einzelnen Wortfelder in unterschiedlichen Sprachen unterschiedlich gegliedert sind und daher zwischen zwei verschiedenen Sprachen immer nur Teilentsprechungen möglich sind. Wenn man also furor durchgehend in derselben Bedeutung versteht und zum Beispiel jedes Mal mit ›fury‹ übersetzt, bedeutet dies eine Dekontextualisierung, aus der sich in der Übersetzung ominöse Zwischentöne ergeben können, die im Original nicht vorhanden sind.158 Wenn furor für die Verzückung der Sibylle, ihren ›Enthousiasmos‹, verwendet wird (6,112), ist ein Gegensatz zu pietas völlig ausgeschlossen. Auch wenn Aeneas von den Troianern sagt, dass sie caeci furore (»in blindem Wahn«, »blind vor Begeisterung« 2,244)159 das hölzerne Pferd in die Stadt hinein schaffen, 157 Vgl. Otis 1964, 223, der zur Beschreibung der Aeneis die Metapher einer Schlacht zwischen pietas und furor verwendet: »The battle between pietas and furor, between pious acceptance, impious rebellion against fate, had to be fought out inside the hero as well as between the hero and his impious opponents.« Problematisch an dieser Formulierung ist allein schon, dass keiner von Aeneas’ Gegnern in der Aeneis als impius bezeichnet wird; vgl. oben die Aufstellung sämtlicher Vorkommen von impius in der Aeneis. Siles Ruiz 2016 sieht gar ein dialektisches Verhältnis zwischen furor und pietas (er spricht von »tensión dialéctica«, 57), wie sie zwischen Politik (näher beim furor) und Dichtung (näher bei der pietas), jeweils vertreten durch Augustus und Vergil, bestehe, und in der Aeneis ihren intentional ambivalenten Ausdruck finde (80). 158 Viel zu undifferenziert (nicht nur in dieser Hinsicht) ist z. B. Putnam 1995, 2: »My own view complicates matters and attempts to observe how Virgil regulary creates friction between what we might call loyalist and subversive ways of understanding its meaning. Let me look briefly at the first two examples I noted, where Virgil turns to the Augustan aurea saecula. In the first we learn from the mouth of the king of the gods that, under Augustus, Rome will enter an age where hoary Fides (Faith) and Vesta will join Remus and the deified Romulus in giving laws together, this in spite of the rewriting of Roman history that such twin rulership implies. We hear also that now Furor impius will be enchained, in the face of the revisions of nature this demands and in the context of a poem that begins with furious winds and water, initiates its second half with the goddess Juno and her Fury stimulating to madness the world around them, including mothers become furiis accensas, and ends with his hero, furiis accensus, killing his victim.« 159 Hier ›blind vor Zorn‹ oder ›in blinder Wut‹ zu übersetzen, passt nicht in den Kontext: Worüber und auf wen wären die Troianer zu diesem Zeitpunkt der Geschichte wütend oder zornig? Sie sind froh, dass der Krieg vorbei ist und vermeinen das Richtige zu tun, indem sie das hölzerne Pferd einholen. Putnam 1995, 190 übersetzt »blind with fury«; im Lemma furor des OLD erscheint caeci furore in der Rubrik 2a: »a frenzied or distraught state of mind, frenzy, madness«.

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trifft er damit keine negative Aussage über deren pietas: Handeln sie doch in dem guten Glauben, einem Kultobjekt die angemessene Verehrung zuteil werden zu lassen. Sie sind töricht, aber nicht impii, und es gibt für den rückblickend erzählenden Aeneas auch keinen Grund, sie an dieser Stelle implizit so zu nennen.160 Am Anfang von Aeneis 4 bezeichnen furor und furere die Verliebtheit der Dido (4,65; 4,69; 4,91; 4,101) und es ist hier tatsächlich einfach diese aus der elegischen Dichtung hinreichend bekannte Bedeutungsnuance gemeint, ohne dass zugleich eine Bewertung von Dido als impia mitgemeint sein müsste, zumal in 4,101, wo Juno spricht, die Dido – im Gespräch mit Venus – sicher nicht als impia charakterisieren will. Erst später schlägt Didos Liebesfuror in Zornesfuror um, nämlich in Wut darüber, dass sie verlassen wird: Dann bezeichnet furor keine bloße Verliebtheit mehr, sondern eine Wut aus enttäuschter Liebe, die schließlich zum Wahnsinn wird und sich gegen Dido selbst richtet.161 Wer jedoch von vornherein Didos furor vor allem generalisierend als Gegenprinzip zur allgemeinen pietas des Aeneas betrachtet, nivelliert die differenzierte Entwicklung des erzählten Geschehens. Eine gewisse, wenn auch keine direkte Opposition von furor und pietas ergibt sich hingegen, wenn es im Gleichnis vom Staatsmann, der einen Aufruhr durch sein bloßes Auftreten kraft seiner pietas (1,151) beruhigt, von der kämpferischen Menge heißt furor arma ministrat (1,150b). Am eindeutigsten lässt sich ein Gegensatz zwischen pietas und furor in der Personifikation vom Furor impius feststellen (1,294), des zu Friedenszeiten gefesselten und eingeschlossenen Furor, der in der Jupiter-Prophezeiung als Metapher für Krieg (oder spezifisch Bürgerkrieg162) steht. Dieser furor wird aber ausdrücklich impius genannt. Vor dem Hintergrund der voranstehenden Beobachtungen zur Verwendung von furor ohne Bezug zu pietas in der Aeneis kann dies als weiteres Anzeichen dafür gewertet werden, dass nicht jeder furor automatisch impius ist.163 160 Ähnliches gilt, wenn Aeneas Andromache als furens bezeichnet (furenti 3,313), weil sie ihn für eine Erscheinung aus dem Jenseits hält und ihn nach Hector fragt: Sie befindet sich in einer Art religiösem Wahn oder gibt sich einer Illusion hin, aber sie ist weder wütend noch zornig und ganz sicher ist sie nicht impia. 161 Zu dieser Entwicklung vgl. Rieks 1983, 154–156. 162 Es liegt nahe anzunehmen, dass mit furor impius eher innerrömische Konflikte als römische Expansionskriege gemeint sind. Konkrete historische Situation: nach Actium; siehe Glei 1991, 123–127. Das metaphorische Bild vom gefesselten Bürgerkriegsfuror hat den rhetorischen Zweck, dass keine Seiten oder Namen genannt werden müssen; nicht ›der Gegner ist besiegt‹, sondern ›der schreckliche Krieg ist beendet und wird jetzt in Schach gehalten‹, so lautet die versöhnlichere Formel. 163 Ein Rückverweis auf den Furor impius der Jupiter-Prophezeiung wird in der Wiederaufnahme der Junktur fremit ore cruento (aus 1,296b: fremet horridus ore cruento) in 12,8 gesehen; vgl. Glei 1991, 224; Pöschl  21964, 198–200 (≈ 31977, 141 f.). Dort wird Turnus mit einem Löwen verglichen, der von Jägern schwer verletzt noch zum Angriff übergeht (movet arma »die Waffen rührt«), seine Mähne schüttelt, unerschrocken das Geschoss, das ihn traf, zerbricht und brüllend das blutrünstige Maul aufreißt. Für Pöschl »besteht ein inniger Zusammenhang zwischen der Turnusgestalt und dem Furor impius der Jupiterrede und seiner Bändigung durch den Kaiser«, (Pöschl21964, 177), und er sieht in Turnus »die Personifizierung des Furor impius« (Pöschl21964, 199) – also genau genommen die Personifizierung einer Personifikation, was jedenfalls schief ist. In dem

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Das Verhältnis von pietas zu furor (und ira) wird auch im Zusammenhang mit der Frage diskutiert, ob der in der Aeneis präsentierte Aeneas einer bestimmten philosophischen Richtung (Kriterium ist jeweils die Affektenlehre) zuzuordnen sein soll, und ob in der Aeneis die Weltsicht einer bestimmten philosophischen Richtung vertreten wird, deren Normen die Figur des Aeneas dann entweder gerecht wird oder auch nicht. Einmal davon abgesehen, ob eine solche Einordnung sinnvoll möglich ist,164 hat diese Diskussion sich unter nicht immer hinreichend reflektierten Prämissen entwickelt. So setzt die öfter gemachte als begründete Annahme, dass es erklärungsbedürftig sei, wenn der pius Aeneas der Aeneis auch in Zorn und Wut (ira, furor) handelt, entweder die stoische Affektenlehre, nach der jeglicher Zorn negativ ist, oder eine christliche Definition von pietas im Sinne von Nächsten- und Feindesliebe165 voraus.166 Akademiker, Peripatetiker und Epikureer hingegen kennen auch positive Ausprägungen des Zorns, dessen Definitionen zu Zorn und Wut des Aeneas der Aeneis passen.167 Diese Übereinstimmungen müssen nun aber nicht bedeuten, dass Aeneas (oder Vergil) einer dieser Philosophenschulen zuzurechnen wäre.168 Sie können auch einfach nur ein Hinweis darauf sein, dass in den entsprechenden Begriffsauslegungen Gleichnis (12,4b-9) geht es an sich gar nicht um furor, sondern um violentia (Wildheit, Ungestüm, eventuell: Aggressivität), die sich bei Turnus wie bei einem verletzten Löwen manifestiert: haud secus accenso gliscit violentia Turno 12,9. Dies ist insofern bemerkenswert, als es sich bei violentia um eine spezifische Eigenschaft des Turnus handelt: An allen vier Stellen, an denen der Begriff in der Aeneis verwendet wird, bezieht er sich auf Turnus, und zwar beim ersten Mal ohne Namensnennung, aber klar andeutend in der Rede des Drances: nec te ullius violentia vincat 11,354b, darauf in der Reaktion des Turnus auf diese Rede: talibus exarsit dictis violentia Turni 11,376, sodann an unserer Stelle 12,9 und wenig später das vierte Mal zur Bekräftigung: haudquaquam dictis violentia Turni | flectitur 12,45b–46a. Von den nur zwei Verwendungen des zugehörigen Adjektivs betrifft die eine ebenfalls Turnus: violentaque pectora Turni 10,151b in dem Sinne, dass man über ihn wissen muss, dass er von stürmischer Disposition ist; die zweite Verwendung betrifft den Südwind Notus, der den Steuermann Palinurus drei Tage lang der Küste zutreibt 6,356. Abschließend bleibt anzumerken, dass der Vergleich mit dem unerschrocken (impavidus 12,8) angreifenden Löwen keineswegs in allen seinen Aspekten unschmeichelhaft ist. 164 Galinsky 1988, 328. 337, nennt Vergil eklektisch. Braund 22019 betont den Vorrang der politischen gegenüber einer philosophischen Ausrichtung der Aeneis. 165 Vgl. Lact. inst. 5,10,10: quae ergo aut ubi aut qualis est pietas? nimirum apud eos, qui bella nesciunt, qui concordiam cum omnibus servant, qui amici sunt etiam inimicis, qui omnes homines pro fratribus diligunt, qui cohibere iram sciunt omnemque animi furorem tranquilla moderatione lenire. 166 Vgl. hierzu Galinsky 1988, 337–339. 167 Im Einzelnen hierzu: Galinsky 1988; Erler 1992. 168 Es stellte sich ja auch die Frage, welche spezielle Zuordnung zu treffen wäre, vgl. Galinsky 1988, 339, bezogen auf das Ende der Aeneis: »In sum, so far from finding Aeneas’ anger repugnant, most of the ancient ethical tradition would find it entirely appropriate and even praiseworthy.« Hierzu siehe auch Braund 22019.

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bestimmte Aspekte menschlichen Verhaltens zutreffend beschrieben sind, und dass die jeweils damit verbundenen moralischen Bewertungen dieses Verhaltens allgemein nachvollziehbar sind. In der Geschichte der Aeneis-Interpretation erwies sich die Prämisse, dass furor und ira negativ zu bewerten sind, als sehr wirkmächtig, weil zwei Spezialfälle, für die sie Gültigkeit beanspruchen kann, einflussreich waren: die Stoa und das Christentum (das seinerseits stoische Aspekte in sich trägt). Dafür kann zum Teil sicher die zumindest kulturelle christliche Sozialisation der historisch allermeisten Interpreten verantwortlich gemacht werden, durch welche gleichermaßen unbewusst wie ahistorisch negative Bewertungen begünstigt werden. Von dieser in methodischer Hinsicht bedenklichen Disposition profitiert auch die stoische Aeneis-Interpretation, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Richard Heinze einschlägig vertreten wird.169 Er ist der Ansicht, dass in der Aeneis eine stoische Weltsicht Abbildung findet, und beurteilt unter anderem das von den Affekten ira und furor bestimmte Verhalten des Protagonisten während der letzten Nacht von Troia negativ. Weil er nun aber weder dem Dichter noch dessen Figur einen ›Fehler‹ anlasten will, postuliert er, dass der Aeneas der Aeneis eine Charakterentwicklung durchmache, und dass er erst im Laufe der in der Aeneis erzählten Geschichte zu einem idealen stoischen Helden werde:170 »Betrachten wir denn einmal Aeneas nicht als ein von Anfang an fertiges Ideal, sondern als einen in der Schule des Schicksals werdenden Helden.«171 Denjenigen Interpreten, die darauf abzielen, negative Aspekte am Protagonisten des augusteischen Epos zu finden, kommt die im Rahmen stoischer AeneisDeutungen vorausgesetzte, negative Bewertung von furor und ira und damit des Verhaltens von Aeneas im Kampf (vor allem in Aeneis 2 und Aeneis 10 sowie am Ende von Aeneis 12) zupass. Da diese Interpreten aber anders als Heinze keinen positiven Helden voraussetzen, erübrigt sich für sie die Annahme einer Entwicklung zum Positiven. Im Gegenteil sehen manche gerade in der Schlussszene den moralischen Tiefpunkt des Aeneas.172 Wie eingangs bereits konstatiert, werden in der Aeneis selbst keine Aussagen darüber getroffen, wie die pietas des Helden sich zu seinem Zorn (furor und ira) verhält. Jedoch muss allein die Tatsache, dass der Protagonist sowohl ausdrücklich als pius bezeichnet wird als auch als jemand gezeigt wird, der im Zorn handelt, zunächst einmal als Anzeichen dafür verstanden werden, dass

169 Heinze 31915, 301 f.; vgl. hierzu 5.4. 170 Heinze 31915, 272 f.; Zur ›Charakterentwicklung‹ siehe auch 8.2. 171 Heinze 31915, 273. In anderen Formulierungen schreibt Heinze dem Aeneas der Aeneis eine Entwicklung zum Typus eines Römers »augusteischer Zeit und stoischer Observanz« (271) zu und nennt ihn einen »werdenden Helden« vom »Typus des ›Fortschreitenden‹, wie ihn die Stoa geprägt hat«, 278. 172 Vgl. 4.1 mit Anm. 95.

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hier kein grundsätzlicher Widerspruch besteht.173 Tatsächlich ist Zorn, wenn er in der Aeneis bei Aeneas auftritt, so spezifisch motiviert, dass er sowohl ohne alle moralphilosophischen Voraussetzungen als auch unter den Voraussetzungen der bekannten zeitgenössischen Philosophenschulen (mit Ausnahme einer rigiden, wohl eher rein theoretischen stoischen Auffassung)174 plausibel nachvollzogen werden kann. Der Zorn des Protagonisten der Aeneis ist jeweils auf eine bestimmte Situation bezogen, bleibt auf diese begrenzt und wird durch sie hinreichend gerechtfertigt.175 Dabei handelt es sich um Situationen, in denen physische Gewalt zur Selbstbehauptung notwendig wird; die gegebenen äußeren Bedingungen hierfür sind, dass im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen Kämpfe stattfinden.176 Eine prominente Gelegenheit für einen derartigen Zorn bietet die Situation in der letzten Nacht von Troia: Aeneas stellt mitten in der Nacht plötzlich fest, dass die Griechen, von denen er geglaubt hat, dass sie in der vorausgehenden Nacht fortgesegelt seien, nun dabei sind, die Stadt, die er zehn Jahre lang als Krieger verteidigt hat, von innen heraus anzugreifen. Diese äußeren Umstände allein erklären und rechtfertigen eine heftige Empfindung; dazu kommt noch die Erkenntnis, zusammen mit den anderen Troianern überlistet worden zu sein. arma amens capio, nec sat rationis in armis 2,314 sed glomerare manum bello et concurrere in arcem 2,315 cum sociis ardent animi. furor iraque mentem 2,316 praecipitat, pulchrumque mori succurrit in armis. 2,317 Ohne zu überlegen, ergreife ich meine Waffen, und ich habe zwar keine ausreichende Strategie, aber das brennende Verlangen, einen Trupp zum Kampf zu sammeln und gemeinsam mit Kampfgefährten zum befestigten Teil der Stadt zu stürmen. Wut und Zorn bemächtigen sich meiner, und es kommt mir schön vor, kämpfend zu sterben.

Die Wut und der Zorn,177 die Aeneas befallen (furor iraque mentem | praecipitat 2,316 f.), sind situativ motiviert und objektiv begründet. Seine Reaktion, 173 ›Pessimistische‹ Aeneis-Deuter postulieren, dass in der Aeneis ein solcher Widerspruch implizit ausgedrückt werden soll. 174 Vgl. hierzu Galinsky  1988, 337 f., der Cicero als Zeugen dafür anführt, dass rigider Stoizismus nicht zur römischen Lebenswirklichkeit passt und in Rom eher in philosophischen Debatten diskutiert wurde, als dass er für wirklich praktikabel gehalten worden wäre. Zur Schlußszene der Aeneis in stoischer Deutung siehe Galinsky 1988, 339. 175 Vgl. hierzu Erler 1992, der auf Philodems De ira als möglichen theoretischen Hintergrund für ein solches Konzept von situativ angemessenem und dann eben nicht negativ besetztem Zorn verweist. 176 Zum Verhalten von Aeneas im Krieg siehe Glei 1991, 218–222. Vgl. auch den Begriff der ›Kampfeswut‹ bei Steiner 1952, z. B. 33 f. 177 Oder auch als Hendiadyoin, in der Übersetzung z. B. aufgelöst als ›heftiger Zorn‹. Grundsätzlich eher θυμός (Il. 1,192) und μένος (Il. 1,207) als χόλος (Il. 1,192; und 224) und μῆνις (Il. 1,1).

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ohne Nachdenken nach den Waffen zu greifen (arma amens capio 2,314a) und kämpfen zu wollen, auch wenn es für eine richtige Strategie nicht reicht (nec sat rationis in armis 2,314b), und zwar bis in den Tod (pulchrumque mori succurrit in armis 2,317b), ist ihm als Krieger angemessen.178 Denselben Kampfgeist auch in den Männern anzustacheln, die sich ihm anschließen (sic animis iuvenum furor additus 2,355a),179 gehört sich für ihn als ihr Anführer. Im zitierten Abschnitt analysiert der erzählende Aeneas rückblickend seine Verfassung zum Zeitpunkt des Erlebens.180 Es handelt sich um eine der seltenen Stellen, an denen der Erzähler Aeneas explizit Einblick in das Innere des erzählten Aeneas gewährt: Er spricht über seine mens (2,314. 316) und seine animi (2,316) zum Zeitpunkt des Erlebens, und zwar ist die mens von furor und ira besetzt, während die animi ›brennen‹ und sein Handeln bestimmen. Es wäre aber undifferenziert, dieses Handeln einfach affektisch zu nennen.181 Vielmehr scheint die Unterscheidung zwischen mens und animi als zwei unterschiedlich funktionierenden Operationsmodi des menschlichen Geistes hier einer Unterscheidung zu entsprechen, die auch in der modernen Psychologie noch getroffen wird und dort Gegenstand der Forschung ist. Die Begrifflichkeiten variieren; ein verbreitetes Begriffspaar ist ›System 1‹ (entspricht Vergils animus) und ›System 2‹ (entspricht Vergils mens). In D. Kahnemanns populärem Buch Thinking Fast and Slow werden u. a. folgende Eigenschaften von System 1 aufgezählt:182 − operates automatically and quickly, with little or no effort, and no sense of voluntary control − executes skilled responses and generates skilled intuitions, after adequate training − neglects ambiguity and suppresses doubt − represents sets by norms and prototypes, does not integrate − overweights low probabilities − responds more strongly to losses than to gains (loss aversion) − frames decision problems narrowly, in isolation from one another

Diese Merkmale treffen nicht nur auf Aeneas’ Verhalten ab 2,314 und bis 2,502 zu, sondern lassen sich auch allgemein auf das literarische Konzept von ›Heldentum‹ beziehen. Aeneas’ Entscheidung für den Kampf in Troia wird von einer 178 Vgl. Glei 1991, 142: »Der Kriegsfuror des Aeneas ist kein furor impius, sondern im Gegenteil eine legitime und notwendige Reaktion auf den furor der Griechen«. 179 So die Selbst-Kommentierung seiner cohortatio in 2,348b–354; vgl. 9.2.5. Als Anführer erscheint Aeneas unvermittelt und selbstverständlich, vgl. 5.3. 180 Zu diesem Abschnitt als vorangestellter Zusammenfassung vgl. 8.4 [3]. 181 So Kühn 1971, 44 f.: »Rasender Zorn wütet unter den Troern und gibt das Leitmotiv«; ähnlich auch andere; Holzberg 2015, 109, übersetzt furor iraque ebenfalls mit »rasender Zorn«. 182 Kahnemann 2012, 19–105; Kahnemann übernimmt die Terminologie ›System 1‹ / ›System 2‹ von Keith Stanovich und Richard West.

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Der Titelheld als erzählerische Herausforderung

Instanz getroffen, die sofort reagiert und eingeübte Handlungsmuster abruft, welche kein Nachdenken erfordern.183 Dass Aeneas diese Reflexe hat, kennzeichnet ihn als Krieger positiv, und zwar von Anfang an. In der Schilderung des rückblickend erzählenden Aeneas wird also ein Protagonist präsentiert, der ohne Plan handeln muss. Seine kriegerische Aktion ist notgedrungen weniger von Überlegung geleitet, als dass sie einem instinktiven Drang folgt und reflexartig abläuft. Aeneas qualifiziert das eigene Verhalten rückblickend als amens (2,314), also als »nicht von Vernunft geleitet« oder »ohne den kalkulierenden Verstand«. Den kurz später hinzueilenden Priester Panthus bezeichnet er ebenfalls als amens (2,321). Dies bedeutet aber nicht, dass er ihnen beiden Wahnsinn oder Irrationalität zuschriebe, sondern nur, dass die Situation sie in dem Moment überfordert: Sie müssen auf ein Ereignis schneller reagieren als sie es rational in seinen Einzelheiten erfassen können. Wenn für Reflexion keine Zeit ist, stellen sich Reflexe ein. Horsfall  2008 fasst dies so, dass Aeneas und Panthus ohne Rücksicht auf ihre Familien oder die Götter wild zum Kampf entschlossen seien, und fragt provokant, ob es sich um kollektiven Wahnsinn oder ein homerisches Heldenideal handelt.184 Aber ehe vorgeformte Konzepte von außen an die Erzählung herangetragen werden, ist ein pragmatischer Blick auf die erzählte Situation angebracht: Angesichts der Umstände – ihre Stadt ist umkämpft und steht in Flammen, aus einem vermeintlichen Kultgegenstand sind nachts feindliche Krieger gekrochen und die dem Anschein nach abgesegelten Griechen sind in die Stadt eingedrungen – ist eine gewisse Planlosigkeit im Handeln der Protagonisten objektiv nachvollziehbar. Der Mangel an rationaler Überlegung, der ja von Aeneas im Nachhinein selbst eingestanden und ausdrücklich benannt wird, ist situativ bedingt und vorübergehend. Aeneas bezeichnet das eigene Verhalten in dieser Situation als ›nicht von Überlegung geleitet‹. Er sagt aber keineswegs, dass er selbst verrückt oder wahnsinnig gewesen sei, sondern nur, dass es eigent-

183 Das Intuitive, Reflexartige, Instinktive im Handeln des Aeneas kommt auch in dem auf die cohortatio an die Gefährten folgenden Gleichnis zum Ausdruck (2,355b–360a), in dem Aeneas die Stimmung, in der er und seine Kampfgefährten sich befinden, als sie sich zum Kampf nach Troia hinein begeben, mit dem instinktgeleiteten Verhalten hungriger Wölfe vergleicht; hierzu siehe 10.4.3. Seneca, De ira 1,9 meint im Widerspruch zu Aristoteles, dass Zorn auch für den Krieger nicht nützlich sei, weil dieser dann weder durch sich selbst noch durch einen Anführer lenkbar sei. Kahnemann 2012 hingegen beschreibt einen Handlungsmodus, der ohne bewusstes Denken funktioniert und gerade auch in Situationen nützlich sein kann, in denen akute Lebensgefahr (für die eigene Person oder für andere) besteht. 184 Horsfall 2008, 274: »yet another Trojan, this time a priest and a grandfather, is portrayed as wildly determined to fight, whatever the demands of god and familiy. Collective insanity, or just a natural reaction for [Homeric] heroes?«. Putnam 1995, 141 übersetzt amens 2,314 mit »in madness«.

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lich unvernünftig war, in dieser Situation noch kämpfen zu wollen – wie er im Nachhinein weiß. Auch ein homerisches Heldenideal braucht man zur Erklärung von Aeneas’ Verhalten nicht zu bemühen, wenn man in Betracht zieht, dass die troianischen Krieger seit zehn Jahren ihre Stadt verteidigen, wie es ihre Pflicht gegenüber Familien und Göttern – an die Horsfall ja erinnert – verlangt. Die Entscheidung, ihre Stadt in jener Nacht gegen die bereits eingedrungenen Feinde zu verteidigen, ist ein Reflex, wie er grundsätzlich von einem Krieger erwartet wird, selbst wenn die Lage aussichtslos zu sein scheint.185 Jede negative Beurteilung von Aeneas’ Verhalten während der letzten Nacht von Troia erübrigt sich, wenn man hypothetisch Troia durch Rom oder eine andere römische Stadt ersetzt. Auch sollte man nicht übersehen, dass die geschilderte Situation als solche (einige wenige Männer begeben sich von außen in ihre von Feinden wimmelnde Stadt) grundsätzlich das Potential zu einer Heldentat hat: Gerade die geringen Erfolgsaussichten sind eigentlich ein wesentliches Charakteristikum einer ›Heldentat‹. Der Unterschied zwischen ›Heldentat‹ und ›Himmelfahrtskommando‹ liegt nämlich vor allem im Ausgang der Unternehmung. Dass dieser in unserem Fall den Rezipienten von vornherein bekannt ist, erklärt die harschen Urteile mancher Rezipienten über das Verhalten des Protagonisten, die allerdings der Sachlage nicht angemessen sind.186 Vergils Entscheidung, Aeneas in der letzten Nacht von Troia kämpfen zu lassen, bringt es mit sich, dass dieser in seinem ›Kampfmodus‹ gezeigt werden muss. Dabei wird sein Verhalten in Aeneis  2 so entwickelt, dass es objektiv nachvollziehbar ist und bei einem zeitgenössischen Römer Zustimmung finden konnte. Insgesamt gesehen erweist sich der in der Aeneis präsentierte Aeneas als pius gegenüber den Göttern und gegenüber seinem Vater.187 Zugleich ist er ein Krieger, der sich dem Kampf stellt und mit einer angemessenen Härte gegen den Feind vorgeht, wenn die Umstände es erfordern. Wenn Turnus ihn zu Beginn des letzten Buches der Aeneis desertor Asiae (12,15: gegenüber Latinus) nennt, so kommt darin vor allem dessen Verblendung zum Ausdruck.188 Die Verunglimpfung aus unberufenem Munde ist leicht als solche zu dechiffrieren und kann Aeneas nichts anhaben, weil er in der Erzählung als tapferer Verteidiger Troias etabliert ist. 185 Vgl. Glei 1991, 142: »Daher ist der Kriegsfuror des Aeneas nicht nur verständlich und berechtigt, sondern sogar sittlich geboten. Sein objektiv erfolgloser Kampf ist eine moralische Notwendigkeit, eine Unterlassung wäre schimpfliches Versagen.« 186 Schon Heinze 31915, 272, s. o. und viele andere, vgl. Anm. 107; extrem: Fish 2004, 123: »In fact, Aeneas’ attempt to kill Helen is the last of a series of foolish actions that he undertook the night Troia was falling.« Zu den unterschiedlichen epistemischen Perspektiven vgl. 8.2; 9.2.3. 187 Zur Schlüsselstelle für die pietas des Aeneas in Aeneis 2 siehe 9.2.9. 188 An diesem Punkt der Erzählung steht außer Frage, dass Turnus nicht als jemand gesehen werden soll, der in der Lage wäre, Aeneas angemessen zu beurteilen.

5 Zeitliche Dimensionen und Relationen

5.1 Reale Gegenwart als fiktionale Zukunft   Ein wesentliches Prinzip der erzählerischen Gestaltung der Aeneis besteht darin, dass die in ferner Vorzeit angesiedelte Handlung teleologisch auf die Gegenwart des Erzählers und der zeitgenössischen externen Rezipienten zuzulaufen scheint. Dies wird insbesondere durch den Einsatz von Vorausdeutungen (oder: Prolepsen) bewirkt,189 deren Inhalte für die Rezipienten historisch sind. Die ­Aeneis ist Ursprungssage und Prophezeiung zugleich: Sie erzählt von einer fernen Vergangenheit, in der wiederholt eine große Zukunft beschworen wird, die zum Zeitpunkt des Erzählens Gegenwart ist. So spannt das Epos einen weiten Bogen vom Untergang Troias in mythischer Vorzeit bis zum augusteischen Rom. Das Hauptgeschehen spielt ungefähr im selben Zeitraum wie die homerische Odyssee. Es umfasst einige Jahre im Leben des Aeneas und reicht von Troias letzter Nacht bis zum Tod von Aeneas’ Gegner Turnus in Latium. Diesen zeitlichen Rahmen transzendieren Prolepsen, die über das Hauptgeschehen hinausreichen und deren Reichweite sich bis zur Gegenwart des Erzählers erstreckt, die für die erzählten Figuren in ferner Zukunft liegt. Die drei ausführlichen Vorausdeutungen dieser Art / externen Prolepsen sind die Prophezeiung Jupiters (1,261–296), die sogenannte Heldenschau (6,760–853) und die Schildbeschreibung (8,626–728).190 Sie sind alle drei nicht unmittelbar 189 Den Ausdruck ›Prolepse‹ verwendet Genette 1972, 78–89 allgemein dafür, dass ein späteres Geschehen in der Erzählung vorweggenommen wird. Nachdem er ›anticipation‹ und ›rétrospection‹ verworfen hat, definiert er: »désignant par prolepse toute manœuvre narrative consistant à raconter ou évoquer d’avance une événement ultérieur, et par analepse après coup d’un événement antérieur au point de l’histoire où l’on se trouve« (82). Lämmert 1955 verwendet das Begriffspaar ›Vorausdeutung‹ (139–194) und ›Rückwendung‹ (100–139). Genette 1983, 21 f., erkennt die Ähnlichkeit seiner Einteilung mit derjenigen von Lämmert 1955 an, will aber unterschieden wissen zwischen dessen pragmatischer Begriffsbildung (nach Funktionen der Rückwendungen und Vorausdeutungen) und seiner eigenen analytischen Begriffsbildung. 190 Büchner 1955 spricht von »Vorblicke(n), die das mythische Geschehen mit der Geschichte und der Gegenwart verknüpfen« (320); Pollmann 1993 spricht von »Durchblicken« (247– 251); Suerbaum 1999 spricht u. a. von »historischen Ausblicken« (303) und »historischen Prophezeiungen« (315). Genette 1972 bezeichnet Prolepsen, die sich auf eine Zeit nach dem Hauptgeschehen beziehen, als ›externe Prolepsen‹ (106–108); in dieser Terminologie handelt es sich bei den drei großen Vorausdeutungen in der Aeneis um externe Prolepsen. Lämmert 1955 unterscheidet zwischen ›zukunftsgewissen Vorausdeutungen‹ (143–175), die auf der Erzählebene angesiedelt sind, und ›zukunftsungewissen Vorausdeutungen‹

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der Stimme des Erzählers zugeordnet, sondern in das erzählte Geschehen integriert, und zwar erstens in Form von Figurenrede im Rahmen des Gespräches zwischen Jupiter und Venus, zweitens in Form einer Reihe von Begegnungen mit noch ungeborenen Persönlichkeiten, die in Figurenrede erläutert werden, bei Anchises in der Unterwelt, und drittens in Form einer Ekphrasis bei den Darstellungen auf dem von Vulcanus gefertigten Schild. In allen drei Fällen werden Personen und Ereignisse, die für den externen Rezipienten historisch sind, als in der Sicht der erzählten mythischen Figuren zukünftig präsentiert. Auf diese Weise wird eine Verbindung zwischen der erzählten Welt und der Lebenswirklichkeit der augusteischen Rezipienten hergestellt, für die Aeneas’ Zukunft Geschichte ist. Von den Rezipienten werden Vorausdeutungen, insoweit sie als zutreffend erkannt werden, ex eventu als zukunftsgewiss aufgefasst.191 Dadurch erhalten die Instanzen, von denen sie ausgehen – Jupiter, Anchises in der Unterwelt und Vulcanus192  – prophetische Autorität. Zugleich wird der Eindruck erweckt, dass die historische Entwicklung vorherbestimmt und auf den gegenwärtigen Zustand hin ausgerichtet sei. Dieser Eindruck der Vorbestimmtheit wird durch eine externe Analepse verstärkt: Die Erfüllung von Aeneas’ Schicksal wird – auf der Götterebene – als Einlösung eines Versprechens gesehen, das Jupiter Venus einst (zu einem unbestimmten Zeitpunkt vor der geschilderten Zeit) gegeben hat (1,234–237. 257–260; 10,18–62).193 In diesem Framing erscheint die in der Aeneis erzählte Geschichte für die externen Rezipienten, nicht aber für die am erzählten Geschehen beteiligten menschlichen Figuren. Denn die drei großen externen Prolepsen sind zwar auf der Geschehensebene angesiedelt, sie richten sich aber dennoch vor allem an den externen Rezipienten.194 Zwei von ihnen sind von vornherein so angelegt, dass sie sich den menschlichen Figuren gar nicht erschließen: Das programmatische Gespräch zwischen Venus und Jupiter (1,223–296), innerhalb dessen der oberste Gott seine verheißungsvolle Ankündigung macht (1,261–296), wird auf der Götterebene geführt, so dass die menschlichen Figuren nichts davon mitbekommen, und bei dem neuen Schild, den Vulcanus mit Szenen aus der römischen (175–189), die als Teil des Geschehens präsentiert werden. Die drei großen Vorausdeutungen der Aeneis wären demnach ›zukunftsungewiss‹. Allerdings haben sie die Besonderheit, dass ihre Inhalte für den Rezipienten (zumindest großenteils) historisch sind. Daher können diese Vorausdeutungen von den Rezipienten als zukunftsgewiss eingeordnet werden. 191 Eine solche außerfiktionale Beglaubigung kommt bei Lämmert  1955 im Kapitel über »Die Beglaubigung ungewisser Vorausdeutungen« (179–189) nicht vor. 192 Vulcanus äußert sich nicht in Worten, sondern in Bildern, mit denen er den neuen Schild für Aeneas verziert. Zu ihm als weissagender Instanz erfolgt eine ausdrückliche Erläuterung: haud vatum ignarus venturique inscius aevi | fecerat ignipotens 8,627 f. 193 Zu ästhetischer Kritik an den Vorausdeutungen in der Aeneis von W. H. Auden siehe Holt 1982, 305, und von J. Brodsky siehe Suerbaum 1999, 315. 194 Vgl. Holt 1982.

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Geschichte verziert hat (8,626–728), wird ausdrücklich gesagt, dass Aeneas das Bild schön findet, aber nicht versteht (8,729–731). Allein bei der dritten großen Prolepse, der Heldenschau, wird Aeneas als interner Rezipient vorausgesetzt: Von der Cumaeischen Sibylle geleitet trifft er in der Unterwelt neben anderen auf seinen verstorbenen Vater, der ihm die noch ungeborenen Nachkommen zeigt und von deren künftigen Taten erzählt (6,679–892). Der Umstand, dass Aeneas in Aeneis  7–12 kein konkretes Wissen um die ihm in der Heldenschau vermittelten Informationen erkennen lässt,195 und insbesondere, dass er die Bilder auf seinem neuen Schild nicht deuten kann, wurde dahingehend interpretiert, dass er den Aufenthalt in der Unterwelt ›vergesse‹196 oder dass dieser ›aus seinem Bewusstsein gelöscht‹ werde.197 Allerdings steht von einem Vergessen nichts im Text. Außerdem ist fraglich, wie Aeneas auf die Prophezeiung einer solch fernen Zukunft überhaupt reagieren kann. Denn gerade wenn er sie für wahr hält, muss er doch annehmen, dass er selbst wenig Einfluss darauf hat, ob sie sich erfüllen wird oder nicht.198 Überhaupt ist es aufschlussreich, die Figurenperspektive stärker in Betracht zu nehmen:199 Während der externe Rezipient, der die römische Geschichte kennt, in der Heldenschau auf ihm Bekanntes trifft und hinreichend Anhaltspunkte dafür hat, die Rede des Anchises für zukunftsgewiss zu halten, stellt sich dies für Aeneas nicht so eindeutig dar.200 Für ihn handelt es sich nicht um das Wiedererkennen von Bekanntem, sondern ihm werden unter mysteriösen Umständen Personen gezeigt, 195 Vgl. Horsfall 2013, 615: »Non-recollection. Aen. also has a short memory: he is presented as displaying no knowledge, in the narrative, of what he saw in the Underworld.« 196 So Herzog 1993, 91 mit Anm. 61 sowie 114 f. Herzog schreibt dem Vergessen selbst Bedeutung zu. Vgl. auch Walde 2001, 297: »Der Besuch in der Unterwelt ist ein Geschehen gleich einem Traum, den Aeneas im Gegensatz zum Rezipienten mit dem Aufwachen vergißt«, und: »Die Botschaft der traumartigen Unterweltsschau richtet sich hingegen in erster Linie an den Leser, der sie entschlüsseln kann, und erst in zweiter Hinsicht an Aeneas, der nur Medium ist. Aber nur mit ihm ist die Heldenschau vollständig.« 197 So Pollmann 1993. Sie nimmt an, dass Aeneas die Bilder auf dem Schild im Lichte von Anchises’ Prophezeiung, falls er sich an diese erinnern könnte, »wenigstens teilweise verstehen« müsste (250). 198 Anders Pollmann  1993, 250 mit Anm. 65: »Wenn Aeneas eine klare Vorstellung von dem, was sein Vater ihm verkündet hatte, behielte, wäre die Verschmelzung der beiden Erzählebenen vollzogen, und der Held müßte seine weiteren Handlungen in irgendeiner Weise nach den Prophetien ausrichten, diese (sozusagen ›umgekehrt typologisch‹) auf sich selbst zurückbeziehen und deuten« (249). 199 Vgl. Holt 1982, der in den prophetischen Partien eine »dual perspective« ausmacht (er konstatiert also den Unterschied zwischen Figurenperspektive und Erzählerperspektive, allerdings nur für diese Partien) und der die Auffassung vertritt, dass Aeneas im Unterschied zu den augusteischen (und den gelehrten späteren) Rezipienten der Aeneis von der Heldenschau nur die wesentliche Botschaft verstehe, nicht aber die Einzelheiten. 200 Auch wenn man für die Prophezeiung des Anchises als Toten eine gattungsbedingte Zukunftsgewissheit postuliert, wie Lämmert  1955, 179 f., sie »in manchen Bereichen erzählender Dichtkunst« ausmacht, und wenn man annimmt, dass diese auch den Fi-

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die ihm bis dahin gänzlich unbekannt sind, und er erhält sehr detaillierte Informationen über eine ferne Zukunft, die er selbst nicht mehr erleben wird. Dabei kommt es für ihn vor allem auf die wesentliche Botschaft an. Die Einzelheiten mögen ihn im Augenblick zwar interessieren, sie dienen aber vor allem dazu, zusammengenommen die Hauptaussage zu bilden: Deine Nachfahren werden an dem Ort, an dem du dich mit deinen Troianern ansiedelst, eine bedeutende Zivilisation errichten. Während der externe Rezipient Namen und Daten in seinem Gedächtnis abruft und sich seiner Gelehrsamkeit freut, erhält Aeneas sehr viel neue Information, die für ihn keinen direkten Nutzen hat. Man darf nicht vergessen: Aeneas ist der Gründungsheros, der Rom ermöglicht, und er ist nicht Roms erster (prospektiver) Historiker. Für den Schild gilt: Um die Bilder zu verstehen, müsste Aeneas einzelne von den Personen, die er in der Unterwelt bei der Heldenschau gesehen hat, wiedererkennen und sich an die Erläuterungen, die ihm Anchises zu ihnen gegeben hat, erinnern.201 Dabei kommt für ihn erschwerend hinzu, dass er – anders als die Rezipienten der Aeneis – nur den Schild selbst vor sich hat und nicht dessen Ekphrasis, in der die dargestellten Szenen nicht nur beschrieben, sondern zugleich gedeutet sind, wodurch das Verständnis – für die externen Rezipienten – erheblich erleichtert wird. Insofern wird die Kontinuität der Erzählung nicht gestört, wenn Aeneas die auf seinem Schild dargestellten historischen Figuren und Szenen nicht deuten kann und rerum ignarus (8,730) bleibt.202 Er weiß, dass er am Anfang von etwas Großem steht, aber die Einzelheiten braucht er nicht zu kennen.203 Die relative Unbestimmtheit, die Aeneas’ eigenes Bewusstsein von seiner Rolle im römischen Schicksalsplan umgibt, steht im Kontrast zur Informiertheit des externen Rezipienten, der gegenüber dem Protagonisten zu jedem Zeitpunkt über ein erhebliches Mehrwissen verfügt, was das große Ganze betrifft. Die Präsentation bekannter römischer Geschichte als Prophezeiung macht jeden einzelnen Rezipienten überdies zu jemandem, der die Zukunft und das Ziel der Geschichte (im vorliegenden Fall sowohl im Sinne von ›past‹ als auch ›story‹) kennt. Aus dieser epistemischen Überlegenheit heraus ist er geneigt, sich mit dem dargestellten Ziel, das er aus seiner Perspektive als faktisch Gewordenes guren bekannt ist, besteht dennoch der Unterschied, dass Aeneas, anders als der externe Rezipient, keine Bestätigung dafür hat, dass die Rede seines Vaters zukunftsgewiss ist. 201 Die Darstellungen an Didos Juno-Tempel versteht er, weil er seine eigene Vergangenheit kennt (1,450–493), aber Bilder von der Zukunft, wie sie auf dem Schild zu sehen sind, kann er nicht deuten (8,617–731). 202 rerum ignarus steht als direkte Charakterisierung im Text. Daran muss vorbei, wer Aeneas wissend will. Eine Prämisse wie die von Herzog  1993,  86: »Aeneas weiß alles, was Dichter und Leser über die Erfüllung der römischen Geschichte an den Text herantragen und erinnern sollen« macht die Interpretation beliebig und  – in letzter Konsequenz – belanglos. 203 Vgl. Kopff / Kopff 1976, 249, Anm. 7: »Aeneas is ignorant of the details on the shield, not of the future greatness of Rome.«

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anerkennen muss, zu identifizieren, zumal, wenn er als Zeitgenosse selbst Teil davon ist.204 Der Einsatz von Prolepsen in unterschiedlichen epistemischen Perspektiven, der die erzählerische Gestaltung der Aeneis kennzeichnet, bewirkt daher durch die intellektuelle Vereinnahmung der externen Rezipienten, dass die Gegenwart als positives Ziel einer vorbestimmten Entwicklung wahrgenommen wird, und dient so auch der Rechtfertigung des Prinzipats des Augustus. Die literarische Technik, eine in der Vergangenheit spielende Geschichte von einem noch weiter in Vergangenheit liegenden Erzählerstandpunkt aus als Prophezeiung zu präsentieren, findet sich vergleichbar bereits in der Alexandra des Lykophron, wo der Sturz Troias und das Geschehen danach im Rahmen einer Prophezeiung als externe Prolepse geboten werden.205 Im Grunde handelt es sich um eine detaillierte und weit über die Eroberung Troias hinausreichende Fassung von Kassandras topischer Weissagung, der niemand Glauben schenkt. Als klassisches vaticinium ex eventu wird die Prophezeiung vom Rezipienten, der den Verlauf des erzählten Geschehens kennt, als zukunftsgewiss wahrgenommen. Neben den Nostoi der griechischen Troia-Heimkehrer erscheinen auch die Abenteuer des Aineias in dieser Perspektive: Seine Suche nach dem richtigen Ort samt Tisch- und Sauprodigium sowie verschiedenen Gründungen unterwegs (Lyk. Alex. 1226–1280),206 also in etwa der Abschnitt der Geschichte, der in der Aeneis im dritten Buch (hier retrospektiv und aus der Perspektive des Helden selbst) geschildert wird.

In der Aeneis gibt es neben Prolepsen, die über das Hauptgeschehen hinausreichen und innerhalb der Erzählung nicht aufgelöst werden, auch solche Prolepsen, die sich auf die von der Erzählung umfasste Zeitspanne beziehen. Hierzu gehören die Voraussage der entrückten Creusa (2,776–789), die von der Harpyie Celaeno vorgetragene rätselhafte Bedingung, welche besagt, dass die Troianer keine Stadt gründen, ehe sie nicht ihre Tische verzehrt hätten (3,254–257),207 Helenus’ Beschwichtigung über diesen seltsamen Spruch (3,394 f.) und das Zeichen von der Auffindung einer weißen Sau mit Frischlingen, das sowohl durch Helenus (3,389–393) als durch Tiberinus (8,42–45) angekündigt wird. Von solchen

204 Vgl. Schmidt 2001, 81. 205 Lyk. Alex. 31–1460: Die Binnenerzählung, also der Inhalt der Prophezeiung, ist hier die Haupterzählung. Es handelt sich um einen Fall von ›Erzählen im Voraus‹ (›narration antérieure‹, Genette 1972, 228–238; siehe Anm. 502); hier kommt das Futur als Erzähltempus vor. 206 Lyk. Alex. 1226–1280: Zu diesem Abschnitt, dessen Zugehörigkeit zum ursprünglichen Text in der Antike schon umstritten war und der bei der Datierung der Alexandra eine entscheidende Rolle spielt, siehe Hornblower 2018, 112–122; McNelis / Sens 2016, 201–217; Hornblower 2015, 436–451; Hurst 2008, xiii–xxv; Horsfall 2005; v. Holzinger 1895, 45. 51–53. 207 Zum ›Tischprodigium‹ der Celaeno (3,245–258) und seiner Auflösung (7,107–134) siehe Horsfall 2000, 110–113; Horsfall 2006, 202 f.; Hornblower 2018, 113; Glei 1991, 312–316; Grassmann-Fischer 1966, 39–53.

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Voraus­deutungen sind Weissagungen zu unterscheiden, die nicht so beschaffen sind, dass sie später eintretende Ereignisse enthüllen, sondern so, dass sie Informationen über den gegenwärtigen Zustand zum Inhalt haben, die dem direkten Adressaten der Weissagung noch nicht bekannt sind. Dies ist bei Hectors Traumerscheinung (2,281–286) der Fall sowie bei Venus’ Erscheinung auf dem Palastdach (2,594–620) und auch bei dem weissagenden Gleichnis, mit welchem sie ihrem Sohn nach dem Schiffbruch vor Karthago andeutet, dass mehr Schiffe seiner Flotte unversehrt geblieben sind als er denkt (1,393–401). Hier handelt es sich nicht um Prolepsen, da Aussagen über die Gegenwart getroffen werden; die Aufforderungen in der Figurenrede von Hector und von Venus sind zwar in die Zukunft gerichtet, aber es wird kein späteres Geschehen vorausgesagt. Die Äußerungen der weissagenden Instanzen in der Aeneis erweisen sich letztlich alle als zutreffend. Allerdings sind sie teilweise unverständlich, missverständlich oder auch rätselhaft formuliert: Creusa verwendet Namen, die Aeneas nicht kennt (2,776–789), das delische Orakel lässt genügend Interpretationsspielraum für eine Fehldeutung (3,85–89) und Celaenos scheinbares Adynaton (3,247–257) beruht auf einer ambivalenten Begriffsauslegung (7,107–134).208 208 Inhaltlich ist der Spruch eine Weissagung über zwei in der Zukunft liegende Geschehnisse (1: Ankunft in Italien, 2: Stadtgründung), von denen das zweite an eine unerfüllbar scheinende Bedingung geknüpft wird (non ante – quam). Die Bedingung »Tische aufgegessen haben«, ist einigermaßen sonderbar und auch als Hyperbole (›so großen Hunger haben, dass man den Tisch isst‹) wirkt der Ausdruck eigenartig. Unter der Prämisse, dass Tische nicht essbar sind, muss man die im Spruch der Celaeno genannte Bedingung für die Stadtgründung eigentlich als Adynaton verstehen, das diese Bedingung unerfüllbar macht; die Folgerung wäre dann, dass eine Stadtgründung nicht stattfinden kann. Insofern widerspräche der Spruch der Celaeno dem Orakelspruch des delischen Apollo. Aeneas lässt eine gewisse Beunruhigung über die seltsame Rede der Harpyie erkennen, als er sich in Buthrotum bei Helenus erkundigt, was davon zu halten sei (3,365–367); er spricht in diesem Zusammenhang von einem Vorzeichen (prodigium), das sie verkündet habe. Der Seher erklärt ihm, dass man das »in die Tische Beißen« nicht fürchten müsse, es werde sich alles regeln und bei Bedarf werde Apollo helfen (nec tu mensarum morsus horresce futuros | fata viam invenient aderitque vocatus Apollo 3,394 f.). Später wird die rätselhafte Weissagung überraschend harmlos aufgelöst, als Aeneas und einige Anführer sowie Iulus nach der Ankunft in Latium Früchte auf einer Brotunterlage mitsamt dieser Unterlage verzehren, und Iulus scherzhaft bemerkt, dass sie ja ihre »Tische« aufäßen (»heus etiam mensas consumimus« inquit Iulus 7,116). Je nach dem, wie man ›Tische‹ definiert, sind sie eben doch essbar, und was unmöglich schien, wird Wirklichkeit. Die Bedingung aus Celaenos Spruch scheint sich mühelos zu erfüllen; der angekündigte Hunger wäre dann weniger als Hungersnot denn als starker Appetit zu deuten. Von den Figuren selbst wird das Ereignis allerdings nicht mit dem Spruch der Celaenao in Zusammenhang gebracht. Vielmehr schließt Aeneas aus dem erfolgten Verzehr der ›Tische‹, dass man am richtigen Ort angelangt ist, und erzählt seinem Sohn von einem Geheimnis der fata, das er, wie er sich erinnert (nunc repeto 7,123), von Anchises empfangen habe; hierzu siehe Anm. 215. Es besagt, dass Aeneas dann wisse, dass er am rechten Ort angelangt sei, wenn er an ihm unbekannter Küste vor lauter Hunger nicht nur die Speisen, sondern auch die Tische verzehrt haben werde (7,107–134).

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Oder sie sind mit (inhaltlich erklärten) Beschränkungen versehen: Der Umstand, dass Helenus nicht alles weiß und / oder sagen darf, wird auf der Handlungsebene von ihm selbst in seiner Rede mit einem Verbot der Juno und / oder der Parzen begründet (3,379 f.). Oder die Umstände, unter denen die Prophezeiungen stattfinden, rücken diese in zweifelhaftes Licht, so dass die Autorität der weissagenden Instanz von den Figuren nicht erfasst wird: Als Hector im Traum erscheint, hat Aeneas keine realistische Vorstellung von dessen Status.209 Auf diese Weise wird künftiges Geschehen für den Rezipienten erkennbar angedeutet, bleibt aber zugleich für die Figuren so weit im Dunkeln, dass deren Handlungen nicht zwangsläufig werden und die Erzählung trotz ihrer finalen Motivation spannend bleibt. Außer den Prolepsen auf der Ebene des Geschehens gibt es in der Aeneis auch Prolepsen auf der Ebene des Erzählens.210 Auch durch sie wird bewirkt, dass der Rezipient gegenüber den handelnden Figuren über ein Mehrwissen verfügt oder an sein Mehrwissen erinnert wird. Durch die erzählerischen Vorverweise wird der Rezipient gewissermaßen über den Kopf der Figuren hinweg in den Fortgang von deren Geschichte eingeweiht.211 In der Aeneis geschieht dies zuallererst und in extremer Form im Prooemium (1,1–33),212 in dem der Ausgang der zu erzählenden Geschichte bereits enthalten ist: Aeneas’ mühsamer Weg von Troia nach Italien wird zusammengefasst und mit der Bemerkung versehen, dass die Gründung des römischen Geschlechts mit großer Mühe verbunden war (tantae molis erat Romanam condere gentem 1,33). Wer das Prooemium kennt, weiß, dass Aeneas nicht dauerhaft auf Kreta bleibt, dass er nicht in Junos Seesturm stirbt, dass er kein Karthager wird und dass er nicht von Turnus aus Italien vertrieben wird. Den bisher betrachteten Prolepsen ist gemeinsam, dass sie tendenziell ein Mehrwissen der Rezipienten gegenüber den Protagonisten bewirken oder evozieren. In der Aeneis begegnet aber auch der umgekehrte Fall, dass nämlich eine Prolepse so angelegt ist, dass ein Protagonist in ihr Informationen über künftige Ereignisse erhält, die den Rezipienten vorenthalten bleiben. Eine solche Prolepse stellt derjenige Teil von Anchises’ Prophezeiung dar, der Aeneas selbst persönlich betrifft: 209 Ausführlich zur Erscheinung des Hector siehe 9.2.3. 210 Siehe die ›zukunftsgewissen Vorausdeutungen‹ bei Lämmert  1955, 143–175. Bei Genette 1972, 78–89, fallen sie unter den Begriff der Prolepse. In der Klassischen Philologie wird oft der Begriff ›foreshadowing‹ verwendet (und zwar gerade auch im Deutschen). 211 Vgl. Lämmert 1955, 142: »Der Erzähler erhebt den Leser über den sukzessiven Ereignisfluß, indem er ihn zum Mitwisser der Zukunft macht. Er gibt ihm die Möglichkeit eigenen überlegenen Urteils über die Personen und den Gang der Handlung.« 212 Vgl. Lämmert 1955, 143–150, der im Zusammenhang mit ›Titel und Vorwort‹ das Prooemium als »einführende Vorausdeutung« behandelt, die er als eine Untergruppe der ›zukunftsgewissen Vorausdeutungen‹ auffasst.

Reale Gegenwart als fiktionale Zukunft   

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quae postquam Anchises natum per singula duxit 6,888 incenditque animum famae venientis amore, 6,889 exim bella viro memorat quae deinde gerenda, 6,890 Laurentisque docet populos urbemque Latini, 6,891 et quo quemque modo fugiat feratque laborem. 6,892 Nachdem Anchises seinen Sohn durch diese einzelnen Bereiche geführt und in ihm die Liebe zur künftigen Geschichte entfacht hatte, legte er ihm darauf die Kriege dar, die zu führen sein würden, und beschrieb ihm die Menschen von Laurentum und die Stadt des Latinus und auf welche Weise er welche Schwierigkeiten würde umgehen oder meistern können.

Der kurze Abschnitt steht in berichteter Rede und ist so allgemein formuliert, dass zwar im Prinzip das ganze in Aeneis 7–12 erzählte Geschehen gemeint sein kann, dass aber die externen Rezipienten daraus kaum Schlüsse über den weiteren Verlauf des Geschehens ziehen können.213 Sie erfahren nur, dass der Protagonist Informationen erhält und worüber, aber nicht was für welche. Aeneas verfügt also nach seinem Unterweltsaufenthalt gegenüber den Rezipienten über ein Mehrwissen.214 Anders als in der Heldenschau haben die Informationen, die Anchises seinem Sohn zum Schluss gibt, für diesen direkten praktischen Nutzen und bieten Handlungsorientierung. Die Funktion dieser internen Prolepse besteht darin, Aeneas’ zielgerichtetes Handeln in Italien, einer ihm fremden Gegend, plausibel zu machen, ohne dass für den Rezipienten der Erzählung späteres Geschehen vorweggenommen würde. Dabei wird die Kontinuität der Erzählung gewahrt: Potentiell kann alles, was Aeneas in Aeneis 7–12 tut, damit erklärt werden, dass er auf der Basis seiner Vorinformiertheit handelt.215

213 Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Vorausdeutung, die dem Rezipienten nicht erschlossen werden soll, nicht inhaltlich ausgeführt sein kann. 214 Vgl. Fowler 1997, 261: »we are also told that he instructed Aeneas in detail about what was to happen in Books 8–12 (6.890–2), but the narrator does not share this information with us, and Aeneas shows little sign of remembering it.« 215 In diesem Sinn ist auch Aeneas’ Erklärung des Tisch-Prodigiums in 7,120–129 (vgl. Anm. 208) zu verstehen: Das wörtliche Zitat dessen, was Anchises zu ihm gesagt hat (7,124–127), kann sinnvoll damit erklärt werden, dass es sich um einen Rückverweis auf die in 6,890–892 nur summarisch angedeuteten Vorankündigungen handelt. Es spricht nichts dagegen anzunehmen, dass Anchises seinen Sohn in diesem Kontext unter anderem darüber aufklärt, wie der Spruch der Celaeno (3,255–257) sich auflösen wird, nachdem Helenus Aeneas nur allgemein beruhigt hat, dass er den Spruch nicht fürchten muss (3,394 f.).

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5.2 Herkunft des Helden als Analepse Während die großen Vorausdeutungen in der Aeneis den Bezug zur Gegenwart des Erzählens herstellen, dient umgekehrt eine umfangreiche Rückwendung dazu, Aeneas’ Herkunft aus Troia und die Ableitung der gens Iulia von Venus zu präsentieren. In Aeneis  1 beginnt die Schilderung des Geschehens damit, dass die Troianer von Sizilien ablegen (1,34 f.), in den von Juno verursachten Seesturm geraten (1,87–123) und schließlich an der afrikanischen Küste landen (1,157–173). Im weiteren Verlauf der Handlung von Aeneis 1 werden die Troianer und Dido miteinander bekannt, sie gewährt den Schiffbrüchigen Aufnahme und veranstaltet ein Gastmahl. Anschließend steht in Aeneis 2–3 Aeneas’ Erzählung vom Untergang Troias und von den Erlebnissen der Troianer um Aeneas auf dem bisher zurückgelegten Weg. So werden in Aeneis 2–3 Geschehnisse geschildert, die zeitlich vor den in Aeneis 1 geschilderten Geschehnissen zu denken sind. In Genettes Terminologie: Die Erzählung des Aeneas in Aeneis 2–3 stellt eine Analepse dar.216 Der Umfang dieser Analepse, d. h. die von ihr erfasste erzählte Zeit, verteilt sich ungleichmäßig auf die beiden Bücher: Aeneis 2 beginnt mit der in starker Raffung erzählten Vorgeschichte (2,13b–24) über den Bau des hölzernes Pferdes und den Rückzug der Griechen nach Tenedos. Die dann ausführlich erzählten Ereignisse erstrecken sich von dem Morgen, an dem die Troianer den Strand verlassen vorfinden, bis zum Tagesanbruch des nächsten Tages: Die erzählte Zeit beträgt also, von der Vorgeschichte abgesehen, ziemlich genau einen Tag und eine Nacht.217 Aeneis 3 hingegen beschreibt die Ereignisse eines Zeitraums von mehreren Jahren, nämlich von der Abfahrt aus Kleinasien bis zur Ankunft in Afrika. Als Dido Aeneas zum Erzählen auffordert, erwähnt sie, dass er schon das siebte Jahr unterwegs sei (1,755 f.).218 Diese Zeitangabe (nam te iam septima portat | … aestas; 1,755 f.) und ihr Verhältnis zu der Zeitangabe in der Rede der Iris / Beroe (septima post Troiae excidium iam uertitur aestas; 5,626 wurde bereits in der Antike diskutiert. Der Serviuskommentar stellt zwischen beiden einen Widerspruch fest, der zu jenen unauflösbaren Widersprüchen gehöre, die Vergil noch ausgebessert haben würde: ergo constat quaestionem hanc unam esse de insolubilibus, quas non dubium est emendaturum fuisse Vergilium (ad 5,626). In der Folge hat die vermeintliche Unvereinbarkeit der beiden Zeit­a ngaben 216 Zur Terminologie siehe Genette 1972, 78–89, vgl. Anm. 189; Genette 1983, 21 klassifiziert konkret Aeneis 2–3 als metadiegetische Analepse. 217 So die Zeitangaben: 2,250–252a: Es ist Nacht. Die Troianer liegen in weinseligem Schlaf. 2,268 f.: Es ist Schlafenszeit. Aeneas schläft zu Hause. 2,801 f.: Es ist Morgen. 218 Einschlägig: Kraggerud 1968, 106–117. Deremetz 2001, 157 versteht die Zeitangabe als Hinweis auf Od. 7,259 und 261.

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viele Interpreten beschäftigt.219 Bei genauerem Hinsehen fällt allerdings zunächst ein gewisser Widerspruch im Serviuskommentar selbst auf: Bei Iris’/Beroes Zeitangabe wird mit aestas im Sinne von ›Sommer‹ argumentiert (ad 5,626), während aestas bei Didos Zeitangabe als ›Jahr‹ verstanden werden soll: Septima aestas per ­aestates annos intellege (ad 1,755). Warum dieselbe Junktur (septima aestas) im selben Zusammenhang (das Unterwegssein des Aeneas und seiner Leute nach dem Untergang Troias) eine unterschiedliche Bedeutung (siebtes Jahr / siebter Sommer) haben soll, erklärt der Serviuskommentar nicht; an der zweiten Stelle wird nur der Text der ersten Stelle berücksichtigt, jedoch nicht der eigene Kommentar dazu. Unberücksichtigt bleibt auch der Unterschied in der Formulierung: Te iam septima portat aestas ist eine Äußerung, die während des Verlaufs des siebten Jahres sinnvoll ist, während septima post Troiae excidium iam uertitur aestas den Verlauf oder Ablauf des siebten Jahres beschreibt. Die ›märchenhafte‹, ›vollkommene‹, ›magische‹ Siebenzahl als solche ist einigermaßen frei gewählt; sie kann es widerspruchsfrei sein, da für die Ansiedelung auf Kreta kein Zeitraum angegeben ist. Aber ein Widerspruch zwischen den beiden Zeitangaben ist eher nicht anzunehmen. Kraggerud erklärt die beiden Verwendungen von septima aestas überzeugend und weist die Vereinbarkeit der Zeitangaben nach. Liest man mit ihm aestas in beiden Fällen im Sinne von ›Jahr‹ oder, wenn man das lieber möchte, als ›schifffahrtsrelevanter Teil des Jahres‹, so ergibt sich aus den Zeitangaben im Text sinnvoll folgendes: Zwischen dem ersten Aufenthalt in Drepanum (Anchises’ Tod) und dem zweiten Aufenthalt dort (Leichenspiele zu seinen Ehren) liegt ein Jahr (cf. 5,46–48). Aeneas kommt nach dem Tod des Anchises und während des siebten Jahres seiner Reise bei Dido an: Sie konstatiert, dass er das siebte Jahr unterwegs sei. Aeneas bleibt bis in den Winter (dieses siebten Jahres) bei ihr (cf. das Gerücht, das dem Iarbas zu Ohren kommt: nunc hiemem inter se luxu, quam longa, fovere 4,193). Aber Aeneas verbringt nicht den ganzen Winter in Karthago. Als nämlich Dido die heimlichen Abreise-Vorbereitungen bemerkt und ihn zur Rede stellt, empört sie sich besonders auch darüber, dass er im Winter und bei ungünstiger Witterung in See stechen will: quin etiam hiberno moliri sidere classem | et mediis properas Aquilonibus ire per altum | crudelis? (4,309–311a). Mit hiberno sidere ist die Jahreszeit eindeutig bestimmt: Die Abreise der Troianer aus Karthago erfolgt noch im Winter. Während des zweiten Aufenthalts in Drepanum konstatiert Iris / Beroe den Ablauf des siebten Jahres im Sinne von ›nach dem Untergang Troias läuft jetzt schon das 7. Jahr‹ – was keinen Widerspruch zu Didos Zeitangabe (»du bist jetzt schon das siebte Jahr unterwegs«) am Anfang von Aeneas’ Aufenthalt in Karthago darstellt. Eine weitere Zeitangabe stützt diese Art der Berechnung: Aeneas gibt an, die Troas verlassen zu haben, als der Anfang des Sommerhalbjahres (prima aestas) kaum begonnen hatte: vix prima inceperat aestas | et pater Anchises dare fatis uela iubebat,| litora cum patriae lacrimans portusque relinquo | et campos ubi Troia fuit. (3,8b–11a). Aeneas und seine Gefährten beginnen ihre Fahrt prima aestate, also mit Beginn des Sommerhalbjahres als der für die Schifffahrt (wie auch für Feldzüge) geeigneten Zeit des Jahres. Iris / Beroe macht folglich gegen Ende des siebten Winters sieben volle Jahre (oder gleichbedeutend sieben schifffahrtstaugliche aestates) des Unterwegsseins geltend.220 219 Für eine Doxographie siehe Kraggerud 1968. 220 Kraggerud 1968, 112 f., datiert die Überfahrt von Karthago nach Drepanum in die »launische Grenzzeit zwischen Winter und Frühling«. Er begründet dies mit der Nennung

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Die zeitliche Distanz zwischen dem Akt von Aeneas’ Erzählen und dem von ihm erzählten Geschehen, also die Reichweite der Analepse, beträgt in Buch 2 mehrere Jahre und verringert sich im Laufe des Erzählens bis zum Ende von Buch 2 nur um den einen Tag, der geschildert wird. Zu Beginn von Buch 3 beträgt die zeitliche Distanz zwischen der Erzählung und dem erzählten Geschehen zu Beginn immer noch diese mehrere Jahre und verringert sich im Verlauf von Buch 3 bis fast zur Gleichzeitigkeit mit der Gegenwart des Erzählens. Aeneas’ Erzählung selbst ist in sich aufs Ganze gesehen chronologisch angeordnet, enthält aber – zumeist innerhalb von Figurenrede – sowohl Analepsen als auch Prolepsen.221 Analepsen ergeben sich, wenn Aeneas Erlebnisse anderer Figuren wiedergibt, sei es in zitierter oder in berichteter Rede. Letzteres ist bei Polydorus der Fall, dessen Schicksal er (für Dido) zusammenfasst (3,49–56a), nachdem er geschildert hat, wie dieser ihn als unbestatteter Toter am Ort seiner Ermordung angesprochen hat (3,22–48), und bevor er dessen ordnungsgemäße Bestattung schildert (3,57b–68). Von eigenen Erlebnissen selbst erzählen innerhalb von zitierter Personenrede Andromache (3,325–336) und Achaemenides (3,613–638); sie werden insofern zu Erzählern dritten Grades.222 Beide tragen berühmte Motive der Troia-Sage, die Aeneas selbst nicht aus eigenem Erleben kennen kann, zu seiner Erzählung bei: Andromache erwähnt die Schicksale der Polyxena, des Pyrrhus-Neoptolemus und, beim Abschied, auch des Astyanax (3,486–491).223 Achaemenides erzählt eines der Bravour-Stücke des Odysseus, die Blendung des Kyklopen Polyphem, aus der Perspektive eines beteiligten Beobachters.224

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bestimmter Winde und setzt die Leichenspiele für Anchises mit dem Termin der römischen Parentalia (13.–21. Februar) in Zusammenhang. Darüberhinaus führt er das altrömische Kalenderjahr mit Jahresbeginn im März an. Der Kuriosität wegen sei noch erwähnt, wie De la Cerda Vergil oder auch Aeneas verteidigt (Ed. Köln 1628, 1, 568): Er versteht aestas strikt als ›Sommer‹ oder ›Sommerhalbjahr‹ und postuliert, dass Aeneas zu Sommeranfang nach Karthago komme und am Ende desselben Sommers wieder abfahre. Dass Aeneas den Winter bei Dido verbringe (4,191–194), komme aus dem Munde der Fama, die nicht nur Wahres, sondern auch Erfundenes künde. Sie habe in Africa das falsche Gerücht gestreut, Aeneas sei ein ganzes Jahr mit Dido zusammen gewesen: dissipavit rumorem falsum in Africa, Aeneam fuisse integrum annum cum Didone. Die Jahresfrist zwischen Anchises’ Tod und den Spielen zu seinen Ehren erklärt De la Cerda so, dass Aeneas nach dem Tod seines Vaters zunächst auf Sizilien überwintere, bevor er zu Anfang des siebten Sommers im Begriff sei, nach Italien überzusetzen, als er vom Seesturm nach Afrika verschlagen werde. Vgl. Bowie 2008, 45: »As a narrator, Aeneas in general does not engage in complex use of anachrony, usually recounting events in the order they happened, and where he does look to the past, it is usually in a formalised way through speeches by others rather than simple analepses in his own words or in words reported from others.« In Genettes Terminologie: ›metadiegetische Erzähler‹. Vgl. Heinze 31915, 108 f.: »Wie an des Astyanax Tod erinnert wird, so gedenkt Andromache der Opferung der Polyxena: so werden zwei der wichtigsten Iliupersisepisoden, die Aeneas selbst nicht als Augenzeuge berichten konnte, gewissermaßen nachgetragen.« Siehe auch 8.3 zu Achaemenides als Informant des Erzählers Aeneas.

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Prolepsen innerhalb der Analepse von Aeneis 2–3 liegen vor, wenn Aeneas zitierte Personenrede wiedergibt, innerhalb derer Aussagen über die Zukunft getroffen werden. In Buch 2 ist dies bei Creusa der Fall (2,776–789), in Buch 3 bei vier Redebeiträgen, denen gemeinsam ist, dass sie mit Apollo in Verbindung gebracht werden: beim delischen Orakel (3,96 f.), bei der Penatenerscheinung (3,158 f.), beim Spruch der Celaeno (3,254–257) sowie bei der Prophezeiung des Helenus (3,347–462).

5.3 Aeneas’ Bestimmung und Priamus’ Erbe Insofern das in der Aeneis geschilderte Geschehen das in der Ilias geschilderte Geschehen voraussetzt, schließt die mythische Erzählung der Aeneis an diejenige der Ilias an. Von der Ilias aus betrachtet, kann die Aeneis als Fortsetzung oder ›spin off‹ gesehen werden.225 Umgekehrt bietet die Ilias im Wesentlichen die Vorgeschichte zur Aeneis. Die Aeneasgestalt der Aeneis ist so angelegt, dass sie mit der Aineiasgestalt der Ilias vereinbar ist. Mehr noch: Die Aeneis übernimmt den Aineias der Ilias und erzählt dessen Geschichte weiter. Es handelt sich um dieselbe mythische Figur. Identität und Kontinuität dieser mythischen Figur in Ilias und Aeneis werden gleich zu Beginn der Aeneis ausdrücklich deklariert. Denn bei seinem ersten Auftritt und in seiner ersten wörtlichen Rede setzt Aeneas den in Il. 5,166–346 geschilderten Zweikampf mit Diomedes voraus, als er beteuert, dass er bedauere, nicht von der Hand des Diomedes gefallen zu sein (Aen. 1,96 f.).226 Dieser beim ersten Auftritt des Aeneas hergestellte Bezug zum Aineias der Ilias bedeutet auch einen direkten Anschluss in dem Sinne, dass seine Geschichte an der Stelle wieder aufgenommen wird, wo sie in der Ilias aufhört. Dadurch ist impliziert, dass andere, inzwischen erzählte Geschichten, die den Auszug des Aeneas aus Troia erzählen, durch die aktuell erzählte Version ersetzt werden. Der Aineias der Ilias ist der Sohn der Aphrodite und des Anchises (Il. 5,247 f. und öfter); über seinen Vater gehört er dem troianischem Königsgeschlecht an (Il. 20,215– 240). Er figuriert als militärischer Anführer der Dardaner oder Troer (Il. 2,819 f. 5,180. 225 In ihrer Eigenschaft als Fortsetzung der Ilias stellt die Aeneis eine römische Variante der Odyssee dar. Aber Aeneas als Hauptfigur ist weniger ein zweiter Odysseus als vielmehr vor allem anders als dieser, vgl. Thome 1986, 284; Ganiban 2008b; Freund 2013. 226 Diese Beteuerung weist Aeneas von Anfang an als (homerischen) Helden aus, siehe hierzu: Stahl 1981, 161–163. Dazu, dass in ihr die Übernahme der Aineias-Figur aus der Ilias markiert ist, vgl. Thome 1986, 305: »Auf die iliadische Szene der Rettung durch die Mutter vor dem anstürmenden Diomedes hatte Aeneas gleich zu Beginn des Epos in seinem Verzweiflungsmonolog selbst angespielt (1,96 ff.). Damit wurde von vornherein die auf Homer fußende Tradition zur Aineias-Gestalt miteingebracht und für den Rezipienten als Hintergrund zugelassen.«

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217). Beim Sturm auf das Schiffslager befehligt er die vierte von fünf troischen Einheiten neben Hektor, Paris, Helenos und Sarpedon (Il. 12,86–104). Er lenkt besondere Pferde, die er von seinem Vater hat (Il.  5,222.265.323; 8,106; 13,291), und bewährt sich als starker und fähiger Kämpfer (Il. 6,77; 11,58; 12,100b; 13,482; 16,620). Als er im Zweikampf mit Diomedes verwundet wird, kommt ihm zunächst seine Mutter zu Hilfe und, als Diomedes diese ebenfalls verletzt, trägt Apollon ihn aus dem Kampfgeschehen (Il. 5,166–346). Aineias tötet den Aphareus (Il. 13,541–544) und schirmt Hektor (Il. 14,425); er ist zusammen mit Hektor am Kampf um den Leichnam des Patroklos gegen Menelaos und die beiden Aias beteiligt (Il. 17,752–761).

Insgesamt charakterisieren die in der Ilias von Aineias geschilderten Handlungen ihn als fähigen Krieger, der gehörigen Anteil an Troias Verteidigung hat.227 Allerdings heißt es an einer Stelle, dass er Priamos zürne, weil er sich von diesem nicht angemessen geschätzt fühle (Il. 13,460 f.).228 In eine ähnliche Richtung geht eine Bemerkung des Achilleus, die besagt, dass Aineias sich keine Hoffnung machen könne, jemals in Troia zu herrschen, weil Priamos genügend Söhne habe (Il.  20,179b–182). Solchen Mutmaßungen über Aineias’ Ambitionen auf Einfluss in Troia steht auf der Götterebene die Gewissheit von Troias Untergang gegenüber und insbesondere die von Poseidon im Kreise der Götter vorgetragene Schicksalsbestimmung, dass Dardanos’ Herrschaft einst auf Aineias und dessen Kindeskinder übergehen werde (Il.  20,302b–308). Innerhalb des Geschehens steht diese Äußerung im Zusammenhang des Zweikampfs zwischen Aineias und Achilleus. Im Zweikampf gegen den besten Mann vor Troia zeigen Aineias’ kriegerische Qualitäten und seine Bedeutung für Troia sich in aller Deutlichkeit (Il. 20,158b–350). Achilleus schätzt ihn zunächst gering (Il. 20,179b–196b), revidiert aber seine Meinung ausdrücklich (Il. 20,347 f.), so dass Aineias letztlich als würdiger Gegner des Achilleus aus dem Treffen hervorgeht.229 Der Umstand, 227 Zu den kriegerischen Qualitäten des Aineias der Ilias vgl.: Galinsky  1969, 11–14; Powell 2011, 189; Scafoglio 2013, 5. 228 Hierzu siehe Scafoglio 2013, der das Motiv des Verrats zwar der ältesten Tradition zuschreibt (13 f.), aber gleichwohl konstatiert, dass diese Bemerkung über Aineias zu seiner Charakterisierung in der Ilias sonst nicht passe (8 f.); er schlägt vor, dass sie als nachträglicher Einfall hineingeraten sein könne (»infiltration«, 9; »may have penetrated the poem as an afterthought«, 14). 229 Achill versucht, Aineias zu schmähen, indem er Mutmaßungen über dessen geringe Bedeutung innerhalb des troianischen Herrscherhauses äußert und an eine frühere Begegnung mit ihm selbst erinnert, die zur Zerstörung der Stadt Lyrnessos geführt habe und für Aineias nur mit Hilfe der Götter glimpflich ausgegangen sei (Il. 20,187 f., vgl. 20,90). Deren Beistand könne Aineias, so meint Achill, kein weiteres Mal erhoffen. Aineias kontert, indem er in seiner Antwort die Gattung der Schmährede als solche thematisiert und sich dadurch über sie erhebt (Il. 20,200–202. 246–258). Außerdem legt er seine Abstammung und seinen Platz im troianischen Herrschergeschlecht ausführlich dar (Il. 20,208–241). Im Kampf kommt es nach den Lanzenwürfen zu der Situation, dass Aineias im Begriff ist, einen riesigen Felsstein auf Achill fallen zu lassen, und gleichzeitig Achill sich anschickt, Aineias mit dem Schwert zu töten (Il. 20,288–290). Da wird Aineias

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dass Poseidon Aineias dem Zweikampf vor der Entscheidung entzieht, entspricht einem Beschluss auf der Götterebene. In diesem Rahmen bringt Poseidon für die Rettung des Aineias zwei Begründungen vor: Aineias habe sich den Göttern gegenüber stets korrekt verhalten (Il. 20,297–299) und Zeus wolle, da Priamos ihm verhasst sei, in Aineias das Geschlecht seines Sohnes Dardanos fortleben lassen (Il. 20,302b–308). Die Eigenschaften, die Aineias in der Ilias zugeschrieben werden, kennzeichnen den vergilischen Aeneas ebenfalls. Dies gilt auch und gerade für sein kriegerisches Heldentum, und zwar vom Beginn der in der Aeneis erzählten Geschichte an. In Aeneis  2 setzt Aeneas sein Werk als Verteidiger Troias, als den ihn bereits die Ilias schildert, selbstverständlich fort. Unter ungünstigsten Bedingungen kämpft er in jener letzten Nacht für seine Stadt, bis er durch seine göttliche Mutter davon abgehalten wird, kämpfend zu sterben. In Anbetracht der strategischen Situation Troias und in Anbetracht des Umstandes, dass ­Aeneas den ungleichen Kampf zwischen den Belagerern, die durch eine List in die Stadt eingedrungen sind, und der im Schlaf überraschten Stadtbevölkerung als Besiegter überleben soll, war es eine besondere erzählerische Herausforderung, seine kriegerische Leistung als untadelig darzustellen. In Aeneis 2 dient unter anderem die Gestaltungsform der Ich-Erzählung dazu, das Geschehen auch in der Perspektive des erlebenden Aeneas zu zeigen und auf diese Weise sein Handeln nachvollziehbar erscheinen zu lassen. Sie mildert in der vergilischen Iliupersis die Widersprüchlichkeit, dass Aeneas einerseits tapfer bis zum Ende kämpft und andererseits (zuletzt mit Hilfe seiner Mutter) unversehrt davonkommt. Die Darstellungsform der Ich-Erzählung trägt außerdem dazu bei, seinem Führungsanspruch eine ereignishafte Selbstverständlichkeit zu verleihen, so dass dieser nicht eigens expliziert werden muss. Der Umstand, dass Aeneas zum Anführer ›der Troianer‹ wird230 scheint sich in der Schilderung aus seiner eigenen Perspektive zwangsläufig aus den Ereignissen zu ergeben, ohne dass er eigens den Entschluss fassen müsste, das Kommando zu übernehmen. Es kommt von selbst so, wie es kommen muss. An zwei Stellen der Erzählung tauchen aus dem Nichts Leute auf, die sich ihm von selbst unterordnen: vor dem nächtlichen Kampf in der Stadt (2,339–346) und nach dem Verlassen der Stadt frühmorgens am Fuße des Ida (2,796–800). Beide Gruppen haben offensichtlich jeweils zum Zeitpunkt ihres Auftauchen dasselbe Ziel wie Aeneas (nämlich für Troia zu sterben respektive die Troas für immer zu verlassen), ohne dass jedoch näher erklärt würde, durch Poseidon dem Kampf entzogen, weil es ihm bestimmt ist, dass sein Geschlecht nach dem Untergang des Priamos und seiner Söhne über die Troer herrschen soll; er erhält die Anweisung, sich künftig von Achill fernzuhalten. Achill seinerseits erkennt die göttliche Erwähltheit des Aineias. Auf diesen Zusammenhang bezieht sich Neptun in Aen. 5,804–811, wodurch erneut die erzählerischen Prämissen der Ilias beschworen werden. 230 Zu »Aeneas Dux«: Schauer 2007.

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wie sie dazu kommen und was genau sie motiviert. Der Aeneas der Aeneis hat von Anfang an eine Autorität, die er weder erlangen noch durchsetzen muss: Sie wird einfach vorausgesetzt; er wird von den anderen als Anführer gesehen. Poseidons Prophezeiung in Il.  20,302b–308 enthält das für die Aeneis wesentliche und in Aeneis 2 ausgeführte Motiv, dass Aeneas den Untergang des Priamos und seiner Herrschaft überlebt. Dass er selbst die Herrschaft über die Troianer gewinnen soll, lässt sich im Hinblick auf die Aeneis so deuten, dass er der selbstverständliche und unangefochtene Anführer derjenigen Troianer ist, welche die Einnahme ihrer Stadt durch die Griechen überleben und aus der Troas fliehen.231 Eine Verlagerung der Herrschaft von der Troas nach Latium, wie sie der Konzeption der Aeneis zugrunde liegt, erwähnt Poseidons Prophezeiung in der Ilias allerdings nicht. Insofern wird in der Aeneis dieser für ihre Erzählung wesentliche Punkt anders gefasst als in dem prominenten Prätext.232 Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Erzählungen besteht darin, dass in der Aeneis das Motiv, dass Aineias sich durch Priamos zurückgesetzt fühlt (Il. 13,460 f.), nicht vorkommt. Es passt nicht zu der in der Aeneis erzählten Geschichte, denn es würde den Eindruck erwecken, dass Aeneas im Untergang Troias einen persönlichen Vorteil sehen könnte. Diesen Eindruck vermeidet die Aeneis jedoch auf der Ebene der menschlichen Protagonisten konsequent.233 Entsprechend behutsam ist auch der in Poseidons Prophezeiung angekündigte dynastische Wechsel vom Familienzweig des Priamos (der über Laomedon und Ilos von Tros abstammt) auf den Zweig des Anchises (der über Kapys und Assarakos von Tros abstammt) in der Aeneis umgesetzt. Er vollzieht sich in Aeneis 2–3 in der Weise, dass Aeneas nicht nur Priamos selbst, sondern auch dessen männliche Nachfahren entweder überlebt oder von ihnen als Anführer der Troianer anerkannt wird.234 Dabei heißt es nun aber nirgends explizit und generell, dass 231 Zum Apollo-Orakel in Aen.  3,94–98 als Anpassung der Prophezeiung des Poseidon (Il. 20,307 f.), siehe McNelis / Sens 2016, 210 f.; Galinsky 1969, 27 f. 232 Die Widerspruchsfreiheit des Geschehens in der Aeneis zur Prophezeiung des Poseidon in der Ilias bleibt gewahrt, wenn man davon ausgeht, dass in der Prophezeiung nicht von einer Herrschaft des Aineias ›in Troia‹ die Rede ist, sondern von seiner Herrschaft über »die Troianer«: νῦν δὲ δὴ Αἰνείαο βίη Τρώεσσιν ἀνάξει, Il. 20,307. Zu unterschiedlichen Interpretationen dieser Formulierung siehe Mc Nelis / Sens 2016, 203 f. und 211 f.; Cancik 2004, 307–309. 233 Vgl. Gall  1993, 35: »Auch hier ›belehrt Vergil den Leser eines Besseren‹: Sein Aeneas spekuliert nicht ehrgeizig darauf, das Erbe fremder Macht antreten zu dürfen. In tiefer Erschütterung erlebt er den Tod des Priamus mit, für dessen Stadt er bis zum Tode zu kämpfen bereit ist.« 234 Vgl. Stahl 1998, 43: »But the addition of the Polydorus-story also does something most important for Vergil’s hero: it underlines Aeneas’ legitimacy. Aeneas is, from Book 1 on, called king by the Trojan survivors (rex erat nobis says Ilioneus before Dido, 1.544), but we never hear how he acquired this title. If he acquired his position by default, it is highly desirable that the death of king Priam’s last surviving son is confirmed, of the son whom the king of Troy had spirited away when the city’s situation began to turn hopeless.«

Aeneas’ Bestimmung und Priamus’ Erbe  

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zur Zeit des in der Aeneis geschilderten Geschehens keiner der Priamussöhne mehr den Anspruch erhebt, die Troianer anzuführen. Statt dessen werden in der Erzählung aus der Perspektive des Aeneas in Aeneis 2–3 an verschiedenen Stellen die Schicksale der wichtigen Söhne des Priamus erwähnt, und zwar in einer Weise, die erkennen lässt, dass keiner von ihnen Aeneas den Rang streitig macht. So legitimiert Aeneas sich in seiner Erzählung unaufdringlich selbst als Nachfolger des Priamus in der Rolle als Anführer der Troianer. Er sagt nicht »Priamus und seine Söhnen starben, und daher wurde ich Anführer der Troianer«, sondern er stellt im Rahmen seiner Erzählung dar, wie dies sich einfach von selbst ergab. Zu diesem Eindruck trägt auch bei, dass die Erwähnungen der einzelnen Priamussöhne im Text weit voneinander entfernt stehen und nicht zueinander in Beziehung gesetzt werden; eine Auflistung findet nicht statt.235 Von den fünf Anführern der troianischen Streitkräfte beim Angriff auf das Lager der Griechen in Il. 12,86–104 sind nach Troias Untergang in der Aeneis nur Helenus und Aeneas noch am Leben; die beiden anderen Priamussöhne Hector und Paris sind tot, und tot ist im übrigen auch Sarpedon (Aen. 1,99 f.). Im einzelnen: In der Aeneis erscheint als einziger Sohn des Priamus, der den Untergang Troias überlebt, der Apollo-Priester Helenus, der sich bei Buthrotum mit einem Troia-Nachbau angesiedelt hat (Aen. 3,345–481). Er lässt Aeneas bei sich Station machen und weissagt ihm beim Abschied den weiteren Weg. Auch übergibt er ihm reichliche Gastgeschenke, darunter die Rüstung des Pyrrhus-Neoptolemus, Pferde und sogar Leute. Wenn er Aeneas am Ende seiner Weissagung auffordert, durch seine Taten das mächtige Troia zum Himmel zu heben (vade age et ingentem factis fer ad aethera Troiam 3,462), so spricht daraus die Vorstellung, dass Aeneas für Troias (!) künftigen Ruhm verantwortlich ist. Helenus erkennt also Aeneas als Fortsetzer der troianischen Herrschaft an. In ähnlicher Weise respektiert der tote Priamussohn Deiphobus den Status des Aeneas, wenn er diesen bei ihrer Begegnung in der Unterwelt (6,494–546), als decus nostrum 235 Ein Gegenbeispiel ist die Art und Weise, wie das Ende der Dynastie durch Quintus Smyrnaeus im 13. Buch der Posthomerica dargestellt ist: Hier tötet der Sohn des Achilleus den Pammon, den Polites und den Tisiphonos, von denen zusammenfassend eigens gesagt wird, dass sie Söhne des Priamos sind (13,213–216a). Nur drei Verse später im Text folgt die Tötung des Priamos am Altar des Zeus Herkeios (13,220b–250). Unmittelbar danach steht die Schilderung, wie Astyanax getötet wird (13,251–257), daran anschließend Klage (und Todeswunsch) der Andromache sowie die Erwähnung ihrer Gefangennahme (13,258–13,290). Hierauf folgen zwei Verse über andere Männer, die in ihren Häusern sterben (13,291 f.), und dann sieben Verse über das Ausnahmeschicksal des Antenor (13,293–299), bevor ausführlich auf Aineias eingegangen wird, der sich, nachdem er die ›Priamosstadt‹ untadelig verteidigt hat, angesichts der nunmehr hoffnungslosen Lage zur Flucht entschließt, die auf Geheiß des Kalchas (der auf Aineias’ Bestimmung hinweist und an ihm preist, dass er nicht materiellen Besitz, sondern Vater und Sohn aus der brennenden Stadt zu retten sich anschickt) von den Griechen absichtlich nicht verhindert wird (13,300–352a).

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apostrophiert und ihm ein besseres (im Vergleich zu dem eigenen) Schicksal wünscht (i decus, i nostrum, melioribus utere fatis 6,546). Aeneas hat also den Segen nicht nur des Helenus, sondern auch des toten Deiphobus. Die Geschichte vom Tod des Deiphobus durch Helenas Verrat setzt wiederum den Tod des Paris, eines weiteren wichtigen Priamus-Sohnes voraus. Neben Paris und Deiphobus werden in der Aeneis auch Hector, Polydorus (3,13–68)236 und Astyanax als tot erwähnt. Der wichtigste, Hector, wird gleich zu Beginn des Epos in der ersten Figurenrede des Aeneas glücklich gepriesen, weil es ihm vergönnt gewesen sei, in Troia zu sterben (1,99a). In der Traumerscheinung konstatiert Hector, dass Troia dem Untergang geweiht ist, und empfiehlt die Penaten Aeneas’ Obhut (2,289–295). Mit dieser Übergabe der Verantwortung für die Stadtgötter proklamiert er den dynastischen Übergang, der durch den Apollopriester Panthus und die Übergabe der Stadtgötter kurz später vollzogen wird.237 Den Tod des jüngsten Priamiden Astyanax erwähnt dessen Mutter Andromache (3,482–491). Sie spricht bezeichnenderweise zu Ascanius-Iulus, also zu dem Vertreter der entsprechenden Generation vom anderen Zweig der Familie, und setzt die beiden zueinander in Beziehung. Dabei überreicht sie ihm ein phrygisches Gewand, das ihn an seine troianische Verwandtschaft erinnern soll. So kleidet Andromache anstelle ihres toten Sohnes Astyanax den Sohn des Aeneas troianisch ein. Auch hierin drückt sich der dynastische Wechsel aus. Die Zurückhaltung, die hinsichtlich der Herrschaftsübernahme des Aeneas in der Aeneis – zumal aus seiner eigenen Perspektive in Aeneis 2–3 – geübt wird, äußert sich auch darin, dass die beiden Erzählerkommentare, die in Aeneis 2 das Ende des Priamus und seines Geschlechts thematisieren, abstrakt und bildhaft formuliert sind.238 In starkem Kontrast zur relativen Unwissenheit des Aeneas als Protagonist und zu seiner Zurückhaltung als Erzähler steht in der Aeneis die Art und Weise, wie seine Mutter auf der Götterebene für ihn interveniert. Venus setzt hier eine Bestimmung des Aeneas voraus, die über Poseidons Prophezeiung in 236 Stahl 1998, 43 f. 237 Vgl. Stahl 2015, 133: »it is Panthus, who, in the night of Troy’s fall, carries the holy objects and the defeated gods (sacra…victosque deos 2.320) to Aeneas (i. e. the sacra and penates of Troy which Hector’s ghost had spiritually entrusted to Aeneas before, 293); so Panthus’ action legitimizes Aeneas as the rightful heir to the kingship of Troy.«; Heinze konstatiert den Übergang der »priesterlichen Pflicht« von Panthus auf Aeneas bei Panthus’ Tod: Heinze 31915, 35: »Somit geht dann auf Aeneas die priesterliche Pflicht über.« Zur Legitimierung des Aeneas vgl. auch: Nisbet 1978/9, 51: »Thirdly Virgil must confirm the legitimacy of Aeneas’s imperium; he cannot like de Gaulle appoint himself. In the Iliad Achilles had taunted Aeneas with wishing to succeed Priam, an ambition that seemed absurd as long as the king was in good health and had living sons (20.180 ff.). Now the changed situation must be formally recognised. Aeneas is entrusted with the Penates by Hector’s ghost (293 ff.), and they are brought to him by Panthus to the house of Anchises (320 f.), who carries them from the fallen city (717).« 238 Hierzu siehe 8.4.

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Il. 20,302b–308 weit hinausgeht. Gleich bei ihrem ersten Auftreten, als sie sich bei Jupiter angesichts des Seesturms beschwert, den Juno verursacht hat, fordert sie von ihrem Vater die Einlösung eines Versprechens (Aen. 1,227–253): Sie erinnert ihn daran, dass er ihr zugesagt habe, dass Aeneas und seine Troianer nach Italien gelangen und aus ihnen einst die weltbeherrschenden Römer hervorgehen sollen: quid meus Aeneas in te comittere tantum, 1,231 quid Troes potuere, quibus tot funera passis 1,232 cunctus ob Italiam terrarum clauditur orbis? 1,233 certe hinc Romanos olim volventibus annis, 1,234 hinc fore ductores, revocato a sanguine Teucri, 1,235 qui mare qui terras omnis dicione tenerent, 1,236 pollicitus 1,237

Die Bestimmung des Aeneas im Sinne von ›das für ihn vorgesehene Schicksal‹ wird also in der Aeneis eingeführt als ein Versprechen auf der Götterebene, das bereits vor dem erzählten Geschehen gegeben worden ist und weit über das erzählte Geschehen hinausreicht.239 Auf der Handlungsebene erhält sie Geltung dadurch, dass Jupiter sie in seiner Antwort bestätigt und detaillierend ausführt (1,254–296: ›Jupiter-Prophezeiung‹), und darüberhinaus eine direkte Maßnahme veranlasst, die Aeneas helfen soll: Mercur wird geschickt, um Dido auf Aeneas vorzubereiten, damit sie ihn nach dem Seesturm freundlich aufnimmt (1,297–304). Für die Rezipienten der Aeneis scheint die Existenz der Römer und ihres Reiches die Bestimmung des Aeneas zu bestätigen. In der Aeneis ist diese scheinbare, externe Beglaubigung bereits die zweite ihrer Art. Die erste findet sich zusammen mit einem Hinweis auf die Bestimmung des Aeneas gleich zu Beginn des Epos, als Juno direkt nach der Vorstellung des Helden als seine göttliche Gegenspielerin eingeführt wird, die ihn am Erreichen seines Ziels zu hindern versucht (1,12–32). Ihr Bestreben, Aeneas aufzuhalten, wird unter anderem damit begründet, dass sie gehört hat, ihr Lieblingskultort Karthago werde einst durch Nachfahren der Troianer zerstört werden (1,12–22). Hieraus ergibt sich für die Rezipienten der Aeneis, für die der Untergang Karthagos historisch ist, indirekt ein scheinbarer Beleg für die Ableitung der Römer aus Troia.

5.4 fata: Ein operativer Begriff im Narrativ der Macht In der Ilias deutet die Prophezeiung des Poseidon (Il. 20,302b–308) vage eine Zukunft für Aineias und die Troianer nach dem Untergang der Priamiden an. In der Aeneis wird daraus eine Bestimmung des Aeneas, und diese dient als übergeordnete Erklärung für alles, was geschieht. Der ständige Bezug auf die 239 In Form einer externen Analepse, die eine externe Prolepse enthält.

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Schicksalhaftigkeit des Geschehens ist hier nämlich ein wesentliches Prinzip der literarischen Gestaltung. In ihm findet das teleologische Geschichtsbild der Aeneis Ausdruck. Es basiert auf der Annahme oder vielmehr: der Behauptung, dass die römische Gegenwart nicht etwa ein mehr oder weniger zufälliges Ergebnis kontingenter Ereignisse sei, sondern das Ziel einer gerichteten Entwicklung: Das, was ist, sei geworden, weil es werden sollte, und es sei so, wie es werden sollte.240 fatum respektive im Plural fata lautet der Begriff, der in diesem Zusammenhang verwendet wird.241 Dem Namen nach handelt es sich bei den fata um »Sprüche« (< fari), aber wer sie wann gesprochen hat, wird in der Aeneis nicht gesagt. Es gibt keine Instanz, von der sie ausgehen; sie sind einfach da. Auch wird das Verhältnis der Götter und insbesondere des obersten Gottes Jupiter zu den fata nicht näher bestimmt.242 Wenn aber Venus am Anfang des Epos vor Jupiter klagt, dass sie sich vor dem Seesturm damit trösten konnte, fata und entgegen gerichtete fata gegeneinander abzuwägen (fatis contraria fata rependens 1,239), und Jupiter ihr in seiner Antwort zusichert, dass die fata der Ihrigen unangetastet bleiben (manent immota tuorum | fata tibi 2,257 f.), entsteht der Eindruck, dass Jupiter fata ändern kann, wenn er will. Und wenn in der Götterversammlung zu Beginn des zehnten Buches Venus und Juno ihre Positionen vortragen, wirkt dies, als ob die fata zu einem gewissen Grade verhandelbar seien. Das letzte Wort hat wiederum Jupiter, der die Entscheidung trifft, dass die fata ihren Lauf nehmen sollen (10,104–113a) – was im Übrigen selbstverständlich wäre, wenn es selbstverständlich wäre. Entgegen seiner eigenen Ankündigung erlaubt er später Juno, 240 Vgl. Nimis 1987, 133: »The victory of Aeneas (scil. am Ende der Aeneis) is a historical fact ; however, it cannot be represented as a mere contingency; it must be both a discrete historical event and at the same time it must be structurally determined as the only possible result. The notion of fate, something ›spoken‹ beforehand but only recognized retrospectively, fulfills this role of simultaneously affirming and denying history. In the context of a historical project such as the Aeneid, fate is nothing but the metaleptic representation of history. Things fell out that way: therefore, from the winner’s standpoint, they were meant to fall out that way«, und: »The Aeneid announces its theme to be the great struggle which produced the Roman present (tantae molis erat Romanam condere gentem), but the Aeneid is really the production of the past which reflects the present.« 241 Das Wort kommt in der Aeneis mindestens 147 mal vor, wenn man die Nennungen des Adjektivs fatalis (12) sowie der Zusammensetzungen wie fatifer (2) und fatidicus (3) mitzählt; das Substantiv selbst erscheint insgesamt 16 Mal im Singular und 114 Mal im Plural. In der Zählung von Binder 2019, Bd. 1, 169 fehlen 10 Vorkommen; dies ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass bei der digitalen Suche versäumt wurde, die Formen von fatum mit enklitischem -que und -ne aufzurufen, von denen in der Aeneis nach meiner Zählung gerade 10 begegnen: fatoque (1 Mal: 2,652); fataque (1 Mal: 6,683); fatisque (7 Mal: 2,13; 2,256; 4,225; 5,656; 5,784; 7,80; 12,793); fatone (1 Mal: 2,737). 242 Vgl. hierzu: »Für das homerische Epos ist das Verhältnis der Götter, bes. von Zeus, dem Lenker der jetzigen Weltordnung, zum Schicksal ambivalent: Die Götter können dem Schicksal unter- oder übergeordnet sein«, F. Graf, Prädestinationslehre, Der Neue Pauly 10, 2001, 238 f.

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dass sie Turnus der Schlacht entzieht und den unmittelbaren fata entreißt (tolle fuga Turnum atque instantibus eripe fatis 10,624). Die fata repräsentieren also einerseits eine Art göttlichen Plan, nach dem das Geschehen abläuft. Andererseits sind Abweichungen und Neujustierungen nicht ausgeschlossen. Man kann nun versuchen, das fatum respektive die fata in der Aeneis in ihrem Verhältnis zu den Göttern und Menschen religions- oder geschichts­ philosophisch auszulegen.243 Je nach eigener Disposition und gewählter Per­ spektive wird man dabei angesichts der in der Aeneis gebotenen, viele Bereiche menschlichen Seins berührenden Weltschilderung auf die ganz großen Themen der Menschheit stoßen: Die Frage nach Willensfreiheit oder Determination, nach der Prädestination und der Theodizee. Ist doch fatum als Übersetzung von εἱμαρμένη244 auch ein zentraler Begriff insbesondere der stoischen Schicksalslehre, wo es »eine die ganze Welt gestaltende, geistig-physikalische Kraft« bezeichnet.245 So sieht Heinze in der Aeneis das Weltbild der Stoa vorausgesetzt: Virgil gibt dagegen auf die Frage quid est boni viri? ganz die gleiche Antwort wie Seneca: praebere se fato (dial. I 5,8); die stoische und römischer Sinnesweise so gemäße Forderung des sequi deum tritt als die wesentlichste, um nicht zu sagen einzige Pflicht anschaulich zutage. Aeneas’ Größe liegt freilich auch in seiner Tapferkeit, aber vornehmlich auch in seiner pietas, und diese zeigt sich am deutlichsten, wo sie zur Ergebung in den göttlichen Willen wird, also wo er in den Untergang Trojas, in den Verlust der Creusa, in die Trennung von Dido sich fügt, weil er das als der Götter Willen erkannt hat. Er ist, wie wir oben sahen, keineswegs ein Glaubensheld ohne Furcht und Tadel; er hat Zeiten der Schwäche und Verzagtheit; aber er überwindet sie, fügt sich dem Fatum und trägt den Lohn davon, die Latiner widerstreben und erdulden die Strafe: volentem fata ducunt, nolentem trahunt.246

Aber liegt der Aeneis überhaupt eine einheitliche Definition von fatum zugrunde? Horsfall 1995 vertritt die Ansicht, dass es nicht förderlich sei, bei der Aeneis eine allgemeingültige Definition des Begriffs vorauszusetzen. Er meint, dass dieser jeweils in seinem Kontext einen eigenen rhetorischen Zweck erfülle, und warnt davor, die Aeneis als »theologische Abhandlung« zu lesen.247 Offen243 Zum fatum und zu den Göttern in der Aeneis siehe z. B.: Büchner  1946; Otis  1964, 225–227; Burck 1979, 99–111; Schmidt 2001; Schauer 2007, 102 f.; 274–276 mit weiterer Literatur in Anm. 250 (Götterapparat) und 262 (fata); Erler 2009. 244 Cic. div.  1,125: fatum id appello, quod Graeci εἱμαρμένην, id est ordinem seriemque ­causarum, cum causae causa nexa rem ex se gignat; vgl. TLL vol. VI, I fasc. II, 355. 245 Vgl. Frede 2001. Ausführlich zu fatum auch: H. O. Schröder, Fatum (Heimarmene), RAC, 7, 1969, 524–636 (hier zu Vergil: 526; 529). 246 Heinze 31915, 301 f. 247 Horsfall 1995, 142 f.: »It is not helpful to read the Aeneid as a theological treatise, far less as a guide to Virgil’s own beliefs; it is not even prudent to look for coherence or consistency. Even the great ›theological statement‹ of 10,112 f. has a significant rhetorical purpose and context: it is not doctrine, but bluff. Virgil’s deities react kindly to patient

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sichtlich handelt es sich bei der Aeneis nicht um eine theoretische (theologische oder philosophische) Schrift. Tatsächlich ist aber auch fraglich, ob es angemessen ist, sie in Bezug auf fata und Götter so zu lesen, als wäre sie das heilige Buch einer Offenbarungsreligion.248 Wenn man hingegen mit Horsfall annimmt, dass in der Aeneis keine einheitliche Definition der fata vorauszusetzen ist, oder zumindest, dass diese Möglichkeit besteht, dann lautet die an den Text zu stellende Frage nicht, welche Vorstellung von fata der Aeneis zugrunde liegt, in ihr dargestellt wird oder ›gilt‹. Stattdessen kann man fragen, ob die Rede von den fata im Erzählzusammenhang der Aeneis eine bestimmte Funktion erfüllt. Man findet, dass dies der Fall ist, dass aber diese Funktion, die innerhalb des Epos durchaus einheitlich ist, gerade auf einer begrifflichen Unschärfe basiert. Als fatum respektive fata wird in der Aeneis das bezeichnet, was geschieht, weil es vorausgesagt ist, oder produktionsästhetisch betrachtet: fata sind das, was in der Erzählung vorausgesagt wird und geschehen soll, weil es in der Realität bereits geschehen ist oder in der Sage als geschehen gilt. Hierdurch wird bewirkt, dass das, was ist, also die Lebenswirklichkeit der primären externen Rezipienten, den Anschein erhält, als solle es so sein. Auf diese Weise werden die bestehenden Verhältnisse im augusteischen Rom als Erfüllung eines lange angelegten Schicksalsplans dargestellt. In einer gänzlich von den fata determinierten erzählten Welt bliebe allerdings für die Protagonisten nur wenig Handlungsfreiheit, und es wäre schwierig, in der Erzählung Spannung zu erzeugen. Vor dem Hintergrund, dass die Geschichte von Aeneas prinzipiell als Teil oder Ausdruck der fata präsentiert wird, lassen sich in der Aeneis einige Faktoren ausmachen, die dem Eindruck einer Zwangläufigkeit des erzählten Geschehens entgegenwirken. Zunächst ist wesentlich, dass die fata den Protagonisten in der Regel gar nicht und wenn ausnahmsweise doch, dann nur unvollkommen offenbart werden. So haben diese und hat allen voran Aeneas bei aller Schicksalhaftigkeit des Geschehens dennoch subjektiv die Möglichkeit, eigenständig zu handeln und sich  – im Sinne der erzählten Geschichte – zu bewähren. Hinzu kommt, dass die fata auch auf der Götterebene, wo offen über sie gesprochen wird, von erzählerisch kalkulierten Unbestimmtheiten und Unwägbarkeiten umgeben sind. Dies zeigt sich sehr deutlich gleich zu Beginn des Epos, wenn die Schilderung der Handlung mit einem Regelverstoß einsetzt, der and dispassionate analysis; perhaps more than any other aspect of the epic, they turn to clay, or lead, or concrete in the hands of those who approach them with convictions or preconceptions or with a single ›global‹ theory.« 248 Dies tut man, wenn man nicht nur ein kohärentes Glaubenssystem oder Weltbild voraussetzt, sondern versucht, aus den Äußerungen, die in der Aeneis über die fata und die Götter getroffen werden, ein Glaubenssystem oder Weltbild abzuleiten. Dieser Eindruck entsteht, zumindest der Diktion nach, in manchen Interpretationen, z. B. bei Schmidt 2001; Erler 2009.

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zu einer Störung im göttlichen Machtgefüge führt: Juno überschreitet ihre Kompetenz, indem sie Aeolus dazu bringt, einen Seesturm zu verursachen (1,50–70), der Aeneas vom Weg nach Italien abbringt und in Karthago stranden lässt.249 Auch Aeolus verhält sich dadurch, dass er Junos Auftrag (gegen Bestechung: Deiopea 1,71–75) ausführt, regelwidrig, denn auf dem Meer hat eigentlich Neptun das Sagen, wie dieser den Winden nachdrücklich einbläut, als er dem Spuk ein Ende bereitet (1,132–141). Schließlich schießt Venus aus Sorge um ihren Sohn mit ihrem Eingreifen über das Ziel hinaus, wenn sie Dido in Aeneas verliebt macht, indem sie ihm göttergleiche Schönheit verleiht (1,588–593) und Ascanius gegen Amor austauscht (1,657–696). Aus dieser Folge von nicht miteinander abgestimmten Aktionen einzelner Gottheiten ergibt sich für Aeneas ein Aufenthalt in Karthago, der so nicht vorgesehen war – oder doch? Was den Anschein erweckt, eine Abweichung vom Plan der fata zu sein, kann keine sein, wenn die fata absolut gesetzt sind. Die hier zu konstatierende Unaufgelöstheit, mit der die Aeneis beginnt, nimmt den fata von vornherein ihre Eindeutigkeit und der erzählten Geschichte ihre Vorhersagbarkeit. Die gewünschte Unbestimmtheit wird erreicht durch den Einsatz einer göttlichen Gegenspielerin, die sich nicht an die Regeln hält (Juno), sowie einer göttlichen Helferfigur, die es etwas zu gut meint und überkompensiert (Venus). Die scheinbare Einigung der beiden in 4,90–128, auf die Venus mit (nicht näher ausgeführten) Hintergedanken (dolis risit Cytherea repertis 4,128) eingeht,250 verunklart die Situation weiter und verlagert die Unschärfe darüberhinaus auch noch in die menschliche Sphäre: Die von Juno eingefädelte und von Venus zugelassene erotische Verbindung von Aeneas und Dido schafft dadurch, dass ihre Verbindlichkeit von den beiden menschlichen Protagonisten unterschiedlich eingeschätzt wird, zusätzlich eine moralische Ambivalenz.

249 Zum Seesturm in Aen. 1,81–123 im Vergleich zu demjenigen in Od.  5,278–399 siehe Gíslason 1937, 1–7. 250 Zu Venus als Juno überlegener Intrigantin siehe Thome 1986, bes. 287–297; speziell zu diesem hintergründigen Lächeln der Venus: 293; Thome sieht in Didos Tod ein von Venus in ihre List einkalkuliertes Opfer, Anm. 65. Im Gegensatz zu Wlosok 1967, die in der Venus der Aeneis vor allem die Stamm-Mutter der Römer sieht, findet Thome an der Venus, die in Aeneis 1 den Aufenthalt des Aeneas in Karthago regelt, Züge einer (auch zerstörerischen) Liebes-Göttin. Den Unterschied zur Venus in Aeneis 8 erklärt Thome mit einer »persönlichen Entwicklung hin zur besseren (…) Möglichkeit des eigenen Ichs«, die sie für Venus (wie alle Figuren der Aeneis!) postuliert: »Und zugleich vollzieht sich in Gestalt und Wesen der Venus dieselbe Bewegung, die für das ganze vergilische Epos, für alle Gestalten bestimmend ist, der Weg vom mehr oder weniger hemmungs- und bindungslosen Ausleben der eigenen Person, vom eigensüchtigen, blinden Planen und Wollen, das die fata in diese Rechnung nur entweder als steuerbare Variable oder als persönliche Trumpfkarte einbezieht, zur Einbindung in eine höhere Ordnung, auf ein überpersönliches Ziel hin«, 307.

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Während die Motivation des Karthago-Aufenthaltes durch ein komplexes Zusammenspiel göttlicher Kräfte verunklart wird, liegt die Unbestimmtheit in Aeneis 10 ganz einfach in der Inkonsequenz Jupiters. Seine Neujustierungen der fata sind auf der Geschehensebene willkürlich.251 Außerdem sind sie, und darauf kommt es vor allem an, für die Rezipienten der Aeneis nicht vorhersehbar. Die kalkulierte Unbestimmtheit des Verhältnisses von fata und göttlicher Intervention in der Aeneis bietet die Möglichkeit, das erzählte Geschehen als schicksalhaft auszugeben, ihm aber doch die eine oder andere unerwartete Wendung zu geben. Ähnliches gilt auch für das seherische respektive göttliche Potential der beiden Helferfiguren Helenus und Venus, das zugunsten der Möglichkeit des Spannungsaufbaus in der Erzählung und insbesondere zugunsten der Selbständigkeit des Helden eingeschränkt ist.252 Der Umstand, dass Helenus nicht alles vorhersagen darf, was er weiß,253 macht Aeneas zu einem selbständigeren und somit interessanteren Protagonisten. Auch dass die Bedingungen, unter denen Aeneas Hilfe von seiner Mutter erf ährt, unklar bleiben,254 dient demselben Zweck: Das Handeln einer göttlichen Mutter, die immer prompt zur Stelle wäre, wenn der Held in schwierige Situationen gerät, wäre vorhersehbar und daher langweilig. Die fata in der Aeneis geben keine Antwort auf die Frage nach der Theodizee. Allenfalls thematisieren sie diese Frage. Vor allem aber sind sie Teil der Behauptung, dass die (römische) Geschichte einen Sinn hat, und sie fungieren als leitmotivisch evozierte Chiffre für die Normativität des Faktischen im Narrativ der Macht (sowohl Roms als auch des Princeps). So gesehen ist es nicht nötig, nach

251 Zu ihrer Funktion auf der Darstellungsebene vgl.: Stahl 2015, 141: »Vergil uses Turnus’ absence for another climax in Aeneas’ aristeia that the figure of less-than-heroic Turnus could not provide.« 252 Weil sie in der Erzählung offensichtlich als Helferfiguren ›mit beschränkter Wirkung‹ eingesetzt sind, ist es nur bedingt sinnvoll, aus ihrem Wissen oder Handeln in der Aeneis direkte Rückschlüsse auf römische Religiosität oder Gottesvorstellungen zu ziehen. So hat z. B. auch bei der Tötung des Laocoon die narrative Funktion Vorrang vor eventuell abzuleitenden religionswissenschaftlichen Aussagen. Die Auffassung, dass es sich beim Angriff der Meeresschlangen auf Laocoon und seine Söhne um eine Bestrafung (durch die Götter) handele, wird in der Aeneis ausschließlich den getäuschten Troianern zugeschrieben. Ihre Erklärung für diese vermeintliche Strafe, nämlich dass er das hölzerne Pferd angegriffen habe, trifft offensichtlich nicht in dem Sinne zu, in dem die erzählten Troianer dies annehmen. In der Logik der Erzählung lässt sein Tod ihn als Warner verstummen und verleiht den Lügen des Sinon Nachdruck. Ob Laocoon sich darüber hinaus etwas gegen die Götter zuschulden hat kommen lassen, womit er den Angriff der Schlangen als Strafe verdient hätte, davon wird in der Aeneis nichts erzählt. 253 Aen. 3,377–380: pauca tibi e multis, quo tutior hospita lustres | aequora et Ausonio possis considere portu, | expediam dictis; prohibent nam cetera Parcae | scire Helenum farique vetat Saturnia Iuno. 254 Hierzu siehe 11.3.

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der »Theologie der Aeneis«255 zu suchen. Den Anspruch, Kontingenz zu ordnen, stellt und erfüllt die Aeneis auf ihre Art und für sich selbst als literarisches Narrativ. Das Verhältnis der fata zu Jupiter als oberster göttlicher Instanz ist in ihr absichtlich unbestimmt gehalten, weil so eine Uneindeutigkeit entsteht, die nicht falsifiziert werden kann. Dadurch wird eine Widerlegung der in der Aeneis getroffenen Aussage über den Sinn der römischen Geschichte erschwert. Dass die Behauptung einer Zielgerichtetheit der Geschichte den ›Gewinnern‹, also den historisch Erfolgreichen als Begründung ihrer Überlegenheit zupass kommt und gefällt, liegt auf der Hand. Aber wer umgekehrt den Protagonisten des in der Aeneis geschilderten ›römischen‹ Erfolgs mit Heinze als stoischen Weisen interpretiert, der sich seinem Schicksal fügt und deshalb zum Ziel gelangt (»fügt sich dem Fatum und trägt den Lohn davon«),256 lässt sich durch diese narrative Strategie täuschen.

255 »Theologie der Aeneis«: Büchner 1955, 321 f.; Schmidt 2001, 71–73. 256 Heinze 31915, 302, das Zitat oben im Haupttext zu Anm. 246.

6 Erzählter Raum

6.1 Welt und Unterwelt   Der in der Aeneis erzählten Geschichte liegt überwiegend die Geographie der Wirklichkeit zugrunde: Das fiktionale Geschehen ereignet sich an Orten, die prinzipiell in der Erfahrungswelt lokalisierbar sein sollen.257 Die einzige Ausnahme hierzu bildet – neben den weitgehend unbestimmt bleibenden Aufenthaltsorten der Götter – der im sechsten Buch geschilderte Gang durch die mythische Unterwelt (6,268–899), deren Zugang aber in der realen Welt lokalisiert wird (6,236–263), so dass eine räumliche Verbindung zwischen der Erfahrungswelt und dem mythischen Totenreich besteht.258 Die Geschichte spielt also im Wesentlichen ›in unserer Welt‹. Doch spielt sie in einer fernen Vergangenheit, so dass bereits für die zeitgenössischen Rezipienten (und für die späteren erst recht) gewisse zeitlich bedingte, in der Regel auf menschengemachten Veränderungen beruhende Unterschiede zu ihrer gegenwärtigen Erfahrungswelt vorauszusetzen sind. Explizit vorgeführt wird die zeitliche Differenz am selben Ort, wenn Aeneas zusammen mit Euander die Gegend des späteren Rom abschreitet (8,337–341),259 angedeutet wird sie, wenn Aeneas bei Actium sein Verlassen des griechischen Einflussbereiches mit Spielen feiert und dort einen Schild weiht (3,278–288).260 Die erzählte Welt der Aeneis entspricht dem mythischen Mittelmeerraum der vorgeschichtlichen Zeit beim Untergang Troias und in den Jahren danach. Sie ist bevölkert von vielen auch sonst bekannten Sagengestalten wie Priamus, Hecuba, Cassandra, Agamemnon, Pyrrhus-Neoptolemus, Anchises, Aeneas etc. und von vielen außerhalb der Aeneis weniger oder auch gar nicht bekannten Gestalten wie Latinus, Lavinia, Euander, Pallas, Turnus, Camilla, Nisus, Euryalus etc. Die Handlung spielt im sagenhaften Troia (Aeneis 2), auf dem Weg von Troia nach Karthago (Aeneis 3), in Karthago (Aeneis 1 und 4), in Drepanum auf Sizilien

257 Wie realistisch Ortbeschreibungen sind und ob sie etwa auf der Autopsie des historischen Autors beruhen, ist eine andere Frage. Zu einigen Ortsbeschreibungen und Ortsangaben in der Aeneis, v. a. in Aeneis 3 siehe Wellesley 1980; Stahl 1998. Zu Troia als Reiseziel und zu Troia-Besuchen von C. Iulius Caesar sowie Augustus und seiner Familie siehe Brena 2004. 258 Zur Lokalisation der ›Höhle der Sibylle‹ in der Nähe des Apollotempels in Cumae und ihrer Identifikation als ein in den Tuffstein gehauener Gang siehe Austin 1977, 48–58. 259 Zum ›Rom-Spaziergang‹ siehe Binder 1971, 114–149; Klodt 2001, 11–19. 260 Zur ›Schildweihe‹ siehe Stahl 1998, 59–74.

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(Aeneis 5), beim Apollo-Heiligtum von Cumae und in der Unterwelt (Aeneis 6) sowie in Latium und Umgebung (Aeneis  7–12). Es kommen Sagenwesen vor: Aeolus,261 zwei riesige Meeresungeheuer, die Harpyie Celaeno nebst weiteren Harpyien, der Kyklop Polyphem nebst weiteren Kyklopen, die Sibylle von Cumae, Nymphen, die Furie Allecto. Auch die olympischen Götter und einige italische Gottheiten gehören zur erzählten Welt.262 Sie bleiben aber in der Regel von den menschlichen Protagonisten getrennt; Begegnungen finden nur gelegentlich und in aller Regel einzeln statt. Als Vermittler zwischen Göttern und Menschen erscheinen der Götterbote Mercur und die Götterbotin Iris. Grundsätzlich ist die fiktionale Welt der Aeneis in allen Büchern des Epos dieselbe, d. h. sie ist in der Binnenerzählung des Aeneas in den Büchern 2 und 3 keine andere als in den umgebenden Büchern 1 und 4–12. Worin Aeneas’ Erzählung in Aeneis 2–3 sich von den übrigen Büchern der Aeneis unterscheidet, ist das Verhältnis des jeweiligen Erzählers zur erzählten Welt:263 In Aeneis 1 und 4–12 vernehmen wir die Stimme eines Erzählers, der selbst nicht Teil der erzählten Welt und der Erzählung ist; mit Genette gesprochen ist die Erzählung in diesen Büchern heterodiegetisch.264 In den Büchern 2–3 hingegen ist die Erzählung homodiegetisch: Der Erzähler Aeneas gehört nicht nur selbst zur erzählten Welt, er ist eine Figur der erzählten Geschichte. Daher ist davon auszugehen, dass das, was er in Aeneis 2–3 erzählt, nicht über den kognitiven Horizont seiner Figur innerhalb der erzählten Welt hinausgeht.265 Letzteres macht sich hinsichtlich des Göttergeschehens deutlich bemerkbar: Während in Aeneis 1 und 4–12 Götter auch in reinen Götter-Szenen auftreten (z. B. Jupiter-Venus, Juno-Venus, Venus-Vulcan, Götterversammlung),266 kommen in Aeneis 2–3 Götter als handelnde Figuren nur in Interaktion mit Aeneas selbst vor. Außer in Form von Erscheinungen oder Zeichen hat Aeneas als menschlicher Protagonist keinen Einblick in das Göttergeschehen; die Götterwelt liegt außerhalb des kognitiven Horizonts seiner Figur. Daher wird aus Aeneas’ Perspektive keine reine Götterhandlung geschildert.267

261 Aeolus ist der ›Herrscher über die Winde‹ (kein Gott), vgl. Janni 2004, 9–35. 262 Zu den Göttern in der Aeneis: Kühn 1971; zu Venus: Wlosok 1967; Thome 1986. 263 Undifferenziert Williams 1983, 246: »The character of the narrator. Aeneas, unlike Virgil, was a man of the twelfth century and, also unlike Virgil, had both lived through and played an active role in the events that led to Troy’s destruction.« 264 Genette 1972, 254–259. 265 Bowie 2008 stellt in Aeneis 2–3 hellenistische Gelehrsamkeit (47–49) und historische Anspielungen (50 f.) im Erzählertext fest, die er dem übergeordneten Erzähler zuschreibt. Aber die Fiktion von Aeneas als Erzähler bleibt durchgehend gewahrt; hierzu siehe 8.3; 8.4. 266 Zu den Götterszenen in der Aeneis siehe Kühn 1971. 267 Vgl. Williams 1962, 19: »Aeneas cannot report the debates and actions of the Olympian gods as Virgil can in the other books; reference to them can come only in oracles and prophecies, or through their personal appeareance (a device which obviously must be used sparingly).«

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Aeneas weiß auch nichts vom Groll der Juno und dass sie versucht, ihn von seinem Ziel fernzuhalten (1,12–86 und öfter).268 Betrachtet man das in Aeneis 2–3 geschilderte Geschehen daraufhin, welches Verhältnis es zur Wirklichkeit haben soll, so ist festzuhalten, dass es vom Erzähler Aeneas für wirklich gehalten wird. Dies gilt auch für diejenigen Elemente der erzählten Welt, die nicht der ›Realität des Lebens‹ angehören (übernatürliche Phänomene), wie sie, abgesehen von den verschiedenen Erscheinungen (Hector: 2,270–297, Venus: 2,589–623a, Creusa: 2,775–794, Penaten: 3,147–178a) in sechs verschiedenen Zusammenhängen auftreten: 1. Zwei riesige, schlangenartige Ungeheuer kommen aus dem Meer, greifen zielgerichtet Laocoon und seine Söhne an, töten diese drei Menschen und begeben sich dann, ohne weiteren Schaden anzurichten, zu einer Götterstaue, um sich unter deren Schild niederzulassen (2,199–227). 2. Flammen züngeln um die Stirn des Ascanius, ohne ihn zu verbrennen. Donner und Blitz ›antworten‹269 Anchises (2,679–698). 3. Zweige bluten beim Abbrechen und die Stimme des ermordeten und unbestatteten Polydorus spricht aus dem Gebüsch (3,22–46). 4. Harpyien, Mischwesen aus Frauen und Greifvögeln, besudeln gezielt und wiederholt die Speisen der Troianer und eine von ihnen, Celaeno, spricht und fliegt dann davon (3,210b–258). 5. Vor Sizilien ertönen Geräusche, die Anchises unter Verweis auf Helenus der Charybdis zuordnet (3,555–604). 6. Der blinde Kyklop Polyphem, von dessen Blendung durch Odysseus Achaemenides kurz zuvor erzählt hat (3,613–654), nähert sich dem Ufer; weitere Kyklopen stehen in einer Gruppe und schauen über die Bucht (3,655–681).

Diese übernatürlichen Phänomene sind Teil der fiktionalen Welt von Aeneas’ Erzählung. Darin, dass derartige Phänomene auftreten, unterscheidet die fiktionale Welt der Bücher 2–3 sich nicht von derjenigen der umgebenden Bücher 1 und 4–12,270 man denke nur an die Flammen um Lavinias Kopf (7,71–80), die Waffenzeichen am Himmel (8,520–536), die Verwandlung der Schiffe in Nymphen (9,80–122) und die Weissagung durch eben diese Nymphen (10,215–249a), sowie daran, dass in 6,263–899 ein Aufenthalt in der Unterwelt geschildert ist, bei dem nicht nur Begegnungen mit übernatürlichen Wesen wie Charon und Cerberus

268 Vgl. Büchner 1946, 6: »Äneas und die Seinen ahnen von Junos Ränken nichts.« Unzutreffend Binder 1971, 189 f.: »Aeneas kennt Iuno seit dem Auszug der Troianer aus Troia als erbitterte Feindin der Troianer; er tut alles, um ihren Zorn zu beschwichtigen.« 269 Nach Art eines römischen augurium impetrativum, hierzu siehe Heinze 31915, 55–57; Binder 1988, 270–272; zum Flammenwunder siehe auch: Grassmann-Fischer 1966, 9–28; Binder 1971, 226–230. 270 Für die Odyssee stellt Suerbaum 1968 fest, dass die fabelhaften Elemente auf die IchErzählung des Odysseus konzentriert sind.

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stattfinden, sondern auch Gespräche mit Toten geführt und zukünftige, noch ungeborene Römer geschaut werden. Von den Interpreten der Aeneis werden die übernatürlichen Phänomene seit jeher bevorzugt als Prodigien im Sinne römischer Religionsvorstellung interpretiert.271 In einigen Fällen wird auch auf der Handlungsebene von den Figuren eine religiöse Erklärung angenommen, d. h. es wird ein Bezug zu hinweisgebenden oder strafenden Gottheiten hergestellt. In jedem Fall wird aber das Übernatürliche innerhalb der Fiktion von den Figuren als wirklich wahrgenommen. Dies ist auch bei der in Aeneis 6 geschilderten Unterwelt der Fall, die als wirklicher Ort vorzustellen ist, wie entsprechende Sagen ihn voraussetzen. Die ausdrückliche Erwähnung von Helden, die vor Aeneas dort waren (6,106–123, s. u.), evoziert eben solche Sagen und verleiht dadurch der Unterwelt im Rahmen der Fiktion eine nicht zu hinterfragende, selbstverständliche Existenz. Dass die Unterwelt in der Erzählung als wirklicher Ort vorzustellen ist, zeigen auch die ausdrücklichen Erwähnungen der praktischen Umstände des Aufenthaltes (goldener Zweig als Voraussetzung für den Einlass, Charons für Tote ausgerichteter Kahn trägt das Gewicht des lebendigen Aeneas nur gerade so, Elfenbeintor als Ausgang) sowie der Sachverhalt, dass die Zeit weiterläuft und das normale Zeitbewusstsein evoziert werden kann, wie aus der wiederholten Mahnung der Sibylle zur Eile hervorgeht (6,539. 630).272 Ein weiteres Anzeichen dafür, dass das übernatürliche Geschehen im Rahmen der erzählten Geschichte für wirklich gelten soll, ist der Umstand, dass Aeneas’ Gang in die Unterwelt von den Figuren selbst als etwas Außergewöhnliches angesehen wird: Als Aeneas die Sibylle darum bittet, seinen Vater in der Unterwelt besuchen zu dürfen,273 nennt er Orpheus, die Dioskuren, Theseus und Hercules als Präzedenzfälle für lebende Personen, die der Unterwelt einen Besuch abgestattet haben (6,106–123). Laut der Sibylle handelt es sich um ein schwieriges Vorhaben, das nur wenigen Göttersöhnen gelingen kann, und sie erklärt Aeneas genau, welche Vorkehrungen er treffen muss (6,126b–130a). Auch an Charons anfänglichem Unwillen, Aeneas überzusetzen, lässt sich ablesen, dass eine Ausnahme gemacht wird (6,388–397). Die Schilderung des Aufenthaltes in der Unterwelt nimmt gut zwei Drittel des sechsten Buches ein (6,268–899). Gliederndes Prinzip der Darstellung ist 271 Zum Angriff der Schlangen auf Laocoon als Prodigium: Kleinknecht 1944; siehe auch Erler 2009; zu den anderen Prodigien siehe Grassmann-Fischer 1966. 272 Diese Motive sprechen im übrigen auch gegen die Analogisierung des Gangs in die Unterwelt mit einem Traum, wie sie von einigen, z. B. Walde 2001, 295–297. 308, vorgenommen wird. Für die von Walde als ein sekundäres Charakteristikum von Träumen angeführte »Dezentrierung des Ich« (295) gibt es im Text keine Anzeichen: Aeneas’ Bewusstsein ist in der Unterwelt genauso dargestellt wie sonst. 273 Aeneas folgt der Aufforderung, die Anchises ihm im Rahmen seiner Erscheinung (5,722–724) gibt.

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das Durchschreiten des Raumes: Es wird der Weg geschildert, den Aeneas und die Sibylle zurücklegen. Dabei wechseln Orts- und Personenbeschreibungen mit Dialogpartien; die beiden sprechen sowohl miteinander als auch mit einzelnen Toten, denen sie begegnen.274 Die Zusammenkunft mit Anchises, die Aeneas mit seinem Gang in die Unterwelt beabsichtigt, bildet den Ziel- und Höhepunkt des Ganzen, mit der ›Heldenschau‹ als einer der drei großen externen Prolepsen der Aeneis.275 Danach stellt sich der Ausgang zur Oberwelt – gegenüber dem ausführlich geschilderten, langen und abwechslungsreichen Hinweg – kurz und unkompliziert dar: Anchises verabschiedet seinen Sohn und die Sibylle einfach durch ein Tor, von dem aus Aeneas direkten Weges zu seinen Gefährten und den Schiffen gelangt (6,899).276 Allerdings heißt es im Text, dass es sich um eines von zwei möglichen Toren handelt, und zwar nicht um dasjenige aus Horn, dem die verae umbrae entweichen, sondern um dasjenige aus Elfenbein: sunt geminae Somni portae, quarum altera fertur cornea, qua veris facilis datur exitus umbris, altera candenti perfecta nitens elephanto, sed falsa ad caelum mittunt insomnia Manes. his ibi tum natum Anchises unaque Sibyllam prosequitur dictis portaque emittit eburna, ille viam secat ad navis sociosque revisit.

6,893 6,894 6,895 6,896 6,897 6,898 6,899

Diese Angaben werden sehr unterschiedlich interpretiert und es gibt viele verschiedene Ansichten darüber, welche Folgerungen sich aus der Wahl des elfenbeinernen Tores für die Bedeutung des Unterweltsbesuchs des Aeneas und der Prophezeiung des Anchises ergeben.277 Sie reichen von der Annahme, dass es sich um eine reine Zeitbestimmung handle, weil vor Mitternacht das Elfenbeintor geöffnet sei und nach Mitternacht dasjenige aus Horn,278 bis zu Spekulationen 274 Aeneas und die Sibylle sprechen mit dem unbestatteten Palinurus (6,337–383), mit Deiphobus (6,494–547), mit Musaeus (6,666–678) und mit Anchises (6,679–892). Aeneas spricht außerdem zu Dido (6,450–476). 275 Zu den drei großen externen Prolepsen siehe 5.1. 276 Über die Länge dieses Weges und über die Zeit, die Aeneas braucht, um ihn zurück­ zulegen, wird allerdings nichts gesagt; die Sibylle verschwindet ohne weitere Erwähnung aus der Erzählung. 277 Zum Motiv der zwei Tore aus Horn respektive Elfenbein und seiner Deutungstradition siehe Horsfall 2013, 612–618, mit weiterer Literatur; v. Möllendorff 2000 mit Forschungsgeschichte: 49–54; Pollmann 1993, vom Serviuskommentar ausgehend; Austin  1977, 274–278; Heyne 41832, Bd. 2, Ad librum VI Excursus XV (Portae Somni), 1041–1044. 278 Everett 1900 sieht im Ausgang durch das Elfenbeintor eine bloße Zeitbestimmung (»an indication of time – no more and no less, meaning that Aeneas terminates his stay in the world of the departed before midnight« 153): Weil nach verbreitetem Glauben vor Mitternacht die unwahren Träume aufträten (so wie nach Mitternacht die wahren), verlasse Aeneas die Unterwelt, wenn er durch das Tor der unwahren Träume gehe, durch das vor Mitternacht offene Tor. Ihm folgen einige, auch Norden 31926 (41957), 348 f., der weiter als

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darüber, dass Aeneas, wenn er als ›falscher Traum‹ aus der Unterwelt komme, die Falschheit des ›römischen Traums‹ versinnbildliche.279 Es wird auch die Ansicht vertreten, dass die Erwähnung der beiden Tore eine rationalistische Distanzierung des Dichters von der Unterweltsschilderung sei280 oder dass durch sie die Gültigkeit der Prophezeiung des Anchises in Frage gestellt werde.281 Andere Gesetzmäßigkeit der Geisterstunde ausführt: »vor Mitternacht, d. h. der Stunde, zu der die Toten die Oberwelt besuchen dürfen (vgl. 5,719–39), muß die ἀνάβασις der Lebenden vollzogen sein« (348). 279 Vgl. Putnam 1970, 428 f.: »By the end of Book VI, through the intellectual guidance of his father, Aeneas has become the incorporation of the dream of Rome, the embodied founder of a myth. Yet Virgil, by having him exit through the gate of falsa insomnia, allies him with the Somnia vana and other monsters, the centaurs, gorgons and chimaeras that cluster around Hell’s gate. In Book VII the creatures seem to be at large in the persons of Aeneas’ opponents. Aeneas does ›suffer‹ them ultimately. He sets them free. During the course of the last books, and especially at the conclusions of Books X and XII, Aeneas undergoes a similar metamorphosis. From pius, faithful to his fathers’s words, he becomes forgetful. Circe, the beast-maker, and Juno, the arouser of Hell’s fury, have the final say. The dream is proved false by the hero’s actions. He becomes as much the representative of life’s irrationality as Allecto, with her Gorgo’s locks, or Turnus with a Chimaera for crest.« Parry 1963, 78: »The sixth book sets the seal on Aeneas’ renunciation of himself. (…) Aeneas has not only gone into the underworld: he has in some way himself died. (…) When he emerges, so strangely through the ivory gate of false dreams, he is no longer a living man, but one who has at last understood his mission, and become identified with it. Peace and order are to be had, but Aeneas will not enjoy them, for their price is life itself.«; Knight 1936, 274 f.: »At Cumae the greater initiation comes. Whether Aeneas fully lives through the experience, or dies is a question to be asked, but not with any attempt to answer it. (…) And Aeneas comes out of the cave by the gate of false dreams. Strangely, that old bewilderment was not used in an attempt to show that Vergil hates Augustus and his rule, though it might be interpreted to mean that all the glory of Rome prophesied by Anchises was a lie. Vergil has left it, carrying that meaning as much as it may; but to Vergil truth is not truth while only one side of it is seen. Perhaps Aeneas, coming through the gate of false dreams, is a false dream too and never came through the gate, a living man, at all.« Über solche Auffassungen siehe auch: Kopff / Kopff 1976, 247 mit Anm. 9. 280 Z. B. Steiner 1952, 95: »Unverhüllt auszusprechen, daß Aeneas bloß im Traum die Unterwelt besucht und von Anchises Belehrung erfahren habe, würde zwar übereinstimmen mit der Art, in der Scipio im Somnium Scipionis in die Fixsternwelt entrückt und von seinen beiden Ahnen über die letzten Dinge belehrt wird; ebenfalls mit der Art, in der Ennius von seinen geistigen Ahnen, Homer und Epicharm (hier gleichfalls in der Unterwelt), Belehrung empfängt. Doch wäre ein solch unmittelbares Abrücken in das Zwielicht eines Traumes dem epischen Stil eines Vergil nicht gemäß: es würde den heldenhaften Abstieg in die Unterwelt entwerten. So gibt der Dichter erst am Schluß durch die Erwähnung der beiden Traumtore dem ›aufgeklärten‹ Leser die Möglichkeit, die ganze Wanderung durch die Unterwelt, inbesondere die Heldenschau im Elysium, als ein Traumerlebnis zu deuten«, unter Hinweis auf frührere Literatur in Anm. 3. 281 Schon im Serviuskommentar zu 6,893: et poetice apertus est sensus: vult autem intellegi falsa esse omnia quae dixit (Ed. Thilo / Hagen, vol. 2, 122); vgl. Horsfall 2013, 616 f. (9) und 615: »V.’ educated readers may have wished to take comfort in the employment of the gate of ivory to distance the myths related by V. from their sophisticated outlook or as learned doubt expressed towards the account given of the souls of the death, but

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Interpretationen bringen das Motiv des Elfenbeintores mit dem Interpretament, dass Aeneas seine Erlebnisse in der Unterwelt vergesse oder nicht erinnere, in Zusammenhang.282 Außerdem gibt es den Vorschlag, den Vers 6,896 mit der Beschreibung der Bestimmung des elfenbeinernen Tores zu athetieren.283 Die Verwendung der portae Somni als Ausgang aus der Unterwelt stellt an sich eine überzeugende Lösung für ein erzählerisches Problem dar. Bereits Heyne betrachtet die produktionsästhetische Seite: Weil Vergil seinen Helden nicht denselben Weg zurückgehen lassen könne, den er ihn herkommen lasse, verfalle er genialerweise auf die Tore der Träume, wie Penelope sie in Od. 19,562–567 beschreibe.284 Tatsächlich findet der Aufenthalt in der Unterwelt mit der NenCaesar, Pompey and Marcellus are no myths and V. offers his readers (interpreted) familiar historical (and legendary) facts.«; Christmann 1976 entwickelt im Rahmen der Überlieferung zu Aeneas’ Tod einerseits und intertextueller Beziehungen andererseits die These, dass mit dem elfenbeinernen Tor darauf hingewiesen werden solle, dass nicht alles an der Prophezeiung des Anchises wahr sein müsse; unwahr (da von der sonstigen Überlieferung abweichend) seien insbesondere diejenigen Partien der Prophezeiung, die sich auf das persönliche Schicksal des Aeneas beziehen. Wie Horsfall richtig andeutet, ist die Infragestellung der Prophezeiung widersinnig: Soweit sie historische Personen und Ereignisse zum Inhalt hat, muss sie dem externen Rezipienten als zukunftsgewiss gelten, und es widerspräche der Logik der Fiktion, die Beglaubigung einzelner Teile der Prophezeiung nicht auf die Prophezeiung als ganze auszudehnen. Andersherum gesagt: Die Annahme, dass die ganze Unterweltsschilderung durch die Wahl des Elfenbein-Tores in Frage gestellt werden soll, widerspricht der Logik der erzählten Geschichte. Der Inhalt der Anchises-Prophezeiung ist im Sinne der in der Aeneis erzählten Geschichte wahr und wird auch von den Rezipienten, und zwar nicht nur von den zeitgenössischen, sondern auch von den modernen, historisch-kritisch eingestellten Rezipienten in wesentlichen Stücken als zutreffend anerkannt. 282 Vgl. Horsfall 2013, 615, 2b; Pollmann 1993 schreibt der Verwendung des Motivs vom Elfenbeintor die erzählerische Funktion zu, plausibel zu machen, dass Aeneas auch nach der Heldenschau weiter über sein Schicksal im Unklaren bleibe. Es diene dazu, »als eine Art Schleuse einerseits einen logischen, kontinuierlichen Erzählgang zu garantieren, andererseits ein inhaltlich unbefriedigendes Aufeinanderprallen der beiden Erzählebenen zu verhindern« (247–251). Zum Interpretament des Nicht-Erinnerns oder Vergessens: siehe 5.1. 283 Kraggerud 2002 hält Vers 6,896: sed falsa ad caelum mittunt insomnia Manes für eine Interpolation. Er vertritt die Auffassung, dass der Interpolator den Text um eine gegenüber dem homerischen Modell ausgelassene Erklärung zur Bestimmung des Elfenbeintores ergänze, weil er die die subtile Abweichung vom homerischen Modell nicht verstanden habe. Wenn Kraggerud konstatiert, dass der inkriminierte Vers nicht glatt zur umgebenden Syntax passt (»lack of integration«, 135), kann dies aber auch gegen die Annahme sprechen, dass ein Interpolator am Werk war, weil dieser die syntaktische Unebenheit gerade vermieden hätte. Zu Zweifeln an der Stelle mit den portae somni insgesamt (also den vier Versen 6,893–896) vgl. Steiner 1952, 95 mit Anm. 3. 284 Heyne  41832, vol. 2, Ad librum VI Excursus XV (Portae Somni),1041: Cum non facile eadem via, qua ad inferos deduxerat, reducere Aeneam posset, ingeniose satis exitum reperit per portas Somni, hoc est Somniorum in noto loco Homeri Odyss. t, 562 sqq.; 1043: Educendus erat Aeneas ex locis inferis per aliam portam quam qua subierat. Incidit poeta in portas Somni; ähnlich: Reed 1973, 315.

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nung der beiden Tore ein elegantes Ende, das einerseits keinen Widerspruch zum detaillierten Hinweg entstehen lässt und andererseits die Schilderung direkt nach dem Gespräch mit Anchises abschließt.285 In der Erzählung wird der übernatürliche Ausgang von Anfang an inhaltlich vorbereitet, insofern von den Figuren selbst deutlich gemacht wird, dass es eine Ausnahme darstellt, wenn ein Lebender die Toten in der Unterwelt besucht (s. o.), und insofern die Sibylle explizit sagt, dass die Schwierigkeit bei diesem Unterfangen nicht der Eingang sei, sondern der Ausgang (6,128–131a). Damit ist nicht etwa die Beschwerlichkeit des Rückweges gemeint,286 sondern die Unmöglichkeit, vom Tod zum Leben zu gehen. In der Unterwelt ist ein Ausgang für lebendige Menschen nicht vorgesehen. Die portae Somni bieten einen eigentlich metaphysischen Ausgang, der im Fall von Aeneas ausnahmsweise von einem lebendigen Menschen benutzt wird. Bei der Frage nach der Bedeutung des Elfenbein-Tores bestimmen zwei Faktoren die Diskussion: das Verhältnis zu Od. 19,562–567287 und, damit zusammenhängend, die Bedeutung des Begriffspaares verus  – falsus.288 Die Zweizahl der Tore und ihre Materialien sind in Aen. 6,893–898 dieselben wie in Od.  19,562–567. Während aber dort ausschließlich Träume die beiden »Tore der Träume« (πύλαι ὀνείρων) passieren,289 ist hier von zwei portae Somni (6,893 »Toren des Schlummers«)290 die Rede. Das eine besteht aus Horn und es gehen umbrae (6,894 »Schatten«) hindurch. Das andere besteht aus Elfenbein und es gehen insomnia (6,896 »Träume«) hindurch.291 Hier stehen also drei 285 Siehe Horsfall 2013, 612 (2b). 286 Putnam 1970, 408 meint, die Sibylle spräche von der Beschwerlichkeit des Rückweges, und schreibt wegen deren späterem Ausbleiben ihren Worten eine symbolische Bedeutung für die folgenden Bücher zu: »The way down is easy, the Sibyl predicted, but suffering and trial await the moment of departure. That there is no apparent labor in Aeneas’ withdrawal adds to the effect of Virgil’s words and forces the reader to ponder their symbolism for the books which follow.« Putnam schließt hier aus dem Fehlen von etwas, das er aufgrund seines mangelnden Textverständnisses zu Unrecht erwartet, auf eine symbolische Bedeutung, die über den unmittelbaren Kontext hinausgehehen soll. Das ist extrem irreführend. 287 Kraggerud 2002, 129–132; den wesentlichen Unterschied benennt Walde 2001, 297, siehe Anm. 300. 288 Siehe Horsfall 2013, 614, (6); Kopff / Kopff 1976, 249 f.; Reed 1973, 314 f. 289 In Od. 19,562–567 sind die beiden »Tore der Träume« (πύλαι ὀνείρων) für zwei verschiedene Arten von Träumen bestimmt; die Unterschiede zwischen Toren und Träumen werden jeweils in einer zwei Verse umfassenden Beschreibung ausgedrückt (οἳ μέν κ’ ἔλθουςι … 19,564 f., οἳ δὲ… 19,566 f.). 290 Ich verstehe somni in Analogie zu 6,390: umbrarum hic locus est, somni noctisque soporae als Genitiv von somnus; vgl. Kraggerud 2002, 136 f. 291 Genaugenommen bewirkt die unebene Syntax in 6,896 (siehe Anm. 283) eine Lücke: Knight 1936 (21967, 280, Anm. 87) macht die Beobachtung, dass eigentlich gar nicht gesagt wird, dass die insomnia falsa durch das Elfenbeintor gehen: »Vergil does not exactly say that false dreams are sent through the ivory gate. He says that the second gate is of ivory, finished gleaming ›but false dreams the good spirits send to the sky‹ (Verg, Aen.

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verschiedene Substantive. Diejenigen Interpretationen, die in Analogie zu der Homerstelle von ›wahren und trügerischen Träumen‹ sprechen,292 setzen voraus, dass es sich bei somnus, umbra und insomnium um Variation im Ausdruck handelt, und dass der Unterschied zwischen den beiden letzteren allein durch die Adjektive verus (6,894) und falsus (6,896) ausgedrückt wird.293 Nimmt man aber an, dass die Ausdrücke umbra und insomnium Unterschiedliches bezeichnen, dann betrifft die Gegenüberstellung den gesamten Ausdruck und nicht nur die Attribute:294 Es werden dann nicht wahre und trügerische Träume einander gegenübergestellt, sondern umbrae, die mit dem Adjektiv verae beschrieben werden, und insomnia, die das Adjektiv falsa kennzeichnet. (Man vergleiche die Gegenüberstellung von süßen und sauren Äpfeln mit der Gegenüberstellung von süßen Bananen und sauren Zitronen.) In der analog zur Odyssee-Stelle vorgenommenen Gegenüberstellung von wahren und trügerischen Träumen erhalten die lateinischen Adjektive verus und falsus eine zusätzliche, aktive Bedeutungsnuance im Sinne von veridicus respektive falsidicus: wahre Träume künden Wahres, trügerische Träume können auch Unwahres enthalten. Zudem werden oft die wahren Träume positiv konnotiert, die trügerischen Träume hingegen negativ.295 Diese Konnotationen werden in der Interpretation gewöhnlich auf der Basis des homerischen ›Vorbilds‹ für die Gegenüberstellung von umbrae verae und insomnia falsa angenommen,296 und in diesem Punkt setzt dann die Kritik an der Wahl des Elfenbeintores an: Wie kann Vergil Aeneas und die Sibylle durch das negativ konnotierte Tor der trügerischen Träume schicken? VI, 896), with no indication, that the dreams come through the gate, though that seems an obvious supposition. This is enough for Vergil’s subtlety, and it enables him to mean two things equally.« 292 Dabei wäre die Formulierung der vergilischen Adaption stark verkürzend: aus οἳ ῥ’ ἐλεφαίρονται ἔπε’ ἀκράαντα φέροντες Od.  19,565 würde falsus und aus οἳ ῥ’ ἔτυμα κραίνουσι, βροτῶν ὅτε κέν τις ἴδηται Od. 19,567 würde verus. 293 Unhinterfragt bleibt die Annahme, dass es sich um eine Gegenüberstellung von ›wahren‹ und ›falschen‹ Träumen handelt, z. B. bei: Everett  1900; Norden  31926 (41957), 348 f.; Pollmann 1993. 294 Die herkömmliche Gegenüberstellung hinterfragen z. B. Reed 1973, 314 f.; Kopff / ​Kopff 1976, 249 f.; Steiner 1952, 88–96; Walde 2001, 296 f.; Kraggerud 2002, 130–133. 295 Unzutreffend und irreführend ist die Verwendung des Begriffes ›nightmares‹ für falsa insomnia durch Putnam 1970, 408 u. ö., denn die Frage, ob ein Traum für den Träumenden angenehm ist oder nicht, ist eine andere als diejenige nach der ›Wahrheit‹ eines Traums. Putnam bringt außerdem die falsa insomnia mit den somnia vana in 6,282–284 in Zusammenhang (410; 428), die an den Blättern einer Ulme im Eingangsbereich der Unterwelt hängen, und mit den anschließend aufgezählten, körperlosen Ungeheuern (6,285–294), vgl. das Zitat in Anm. 279. 296 Everett 1900, 154: »After midnight, the gate of horn is open for true dreams, or rather in Virgil’s words, ›true telling shades‹; before midnight, therefore only the ivory gate, through which deceitful dreams pass«; Extrem: Putnam  1970, 408: »falsa insomnia, treacherous, misleading nightmares«.

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Wenn aber mit umbrae etwas anderes als ›Träume‹ gemeint ist, kann das Adjektiv falsa, das dem Gegenbegriff insomnia beigefügt ist, auch einfach eine Eigenschaft bezeichnen, welche die insomnia im Gegensatz zu den umbrae kennzeichnet. Da die insomnia – anders als die umbrae – der Wortbedeutung nach etwas mit ›Traum‹ zu tun haben, ist es naheliegend anzunehmen, dass falsa ihre Unwirklichkeit bezeichnet. Das Wort beschreibt den Status der insomnia als unwirklich, nicht ihren Inhalt, und es enthält erst recht keine Wertung. Für umbrae gibt es den Vorschlag, darunter die von Anchises zuvor beschriebenen Seelen Verstorbener zu verstehen, die nach langer Läuterung und ohne Erinnerung an ihre früheren Leben in neuen Körpern wieder zur Welt kommen (6,713–751).297 Aber dagegen spricht der Wortgebrauch: Diese Seelen Verstorbener werden im Text animae (6,713. 720) genannt, nicht umbrae. Überhaupt fällt der Begriff umbra in der Schilderung des Bereiches der Unterwelt, in dem die glücklichen Toten sich aufhalten und wo die Heldenschau stattfindet, kein einziges Mal in diesem Sinn.298 Hingegen wird das Wort umbra in der Aeneis außer für Schatten und Dunkel (im Bedeutungszusammenhang ›Lichtverhältnisse‹) vor allem für die Toten, deren Geister und andere Geister verwendet; ihr Kennzeichen ist ihre Körperlosigkeit.299 In der Terminologie der Aeneis also stehen als Nutzer der beiden Toren ›echte Tote‹ oder ›echte Geister‹ (umbrae verae) ›unwirklichen Traumgestalten‹ (insomnia falsa) gegenüber.300 Dass die umbrae in der Aeneis nicht unbedingt positiv konnotiert sind, zeigt die Verwendung des Begriffes in Didos Verfluchung des Aeneas: Sie droht, ihn nach ihrem Tod als umbra (4,386) strafend zu verfolgen.301 Im Gegensatz dazu erscheinen die falsa insomnia an unserer Stelle eher positiv, denn es wird von ihnen in 6,896 gesagt, dass die Manen, also an sich gute Totengeister, nämlich die verstorbenen Vorfahren, sie

297 Vgl. Kopff / Kopff 1976, 248; Fletcher 21948, 102 laut Kraggerud 2002, 130 Anm. 9. 298 Insgesamt findet sich umbra in 6,637–892 nur 2 Mal: 6,772: umbratus im Sinne von ›bekränzt‹; 6,866: umbra als unheilvoller ›Schatten‹, den Aeneas um das Haupt des Marcellus wahrnimmt. 299 Zur Verwendung von umbra in der Aeneis: Wo nicht Schatten (im Wald o.ä.) oder kosmisches Dunkel (am Himmel) gemeint ist, bezeichnet das Wort in der Regel Verstorbene oder deren Erscheinung. Andere körperlose Geister bezeichnet es in 6,285–294 (Kentauren, Skyllen, Gorgonen, Harpyien u. ä. in der Unterwelt). Davon abzugrenzen sind die vana somnia, die an den Blättern der Ulme kleben, welche im Eingangsbereich der Unterwelt steht, wo die negativen Triebkräfte menschlichen Handelns wohnen 6,273–284. 300 So auch: Walde 2001, 297: »Der Gegensatz besteht an dieser Textstelle nicht wie in der Odyssee zwischen wahren (= sich erfüllenden) und trügerischen Träumen, sondern aus dem zwischen wahren (= echten) Schatten von Toten (Wiedergängern also) und falschen (= virtuellen) Traumbildern (solchen etwa, wie sie in der Ulme hängen).« Vgl. auch Steiner 1952, 90 f., Reed 1973 und Kopff / Kopff 1976, 249 f. 301 Aen. 4,385–387: et, cum frigida mors anima seduxerit artus,| omnibus umbra locis adero. dabis, improbe, poenas. | audiam et haec Manis veniet mihi fama sub imos.

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zur Oberwelt (ad caelum) schicken (mittunt).302 Dazu passt, dass Anchises, Aeneas’ verstorbener Vater, die Sibylle und Aeneas durch das Elfenbeintor schickt (emittit 6,898).303 In diesem Sinne sendet Anchises (als einer der Manen) seinen Sohn mit der Verheißung von Rom an die Oberwelt.304 Man sollte vielleicht hinzufügen ›wie die Manen Traumgestalten senden‹ und wohlgemerkt nicht ›als eine Traumgestalt‹.305 (Aus dem Umstand, dass jemand ein Theater durch den Künstlereingang verlässt, folgt ja auch nicht, dass es sich bei der Person um einen Künstler oder eine Künstlerin handelt).306 Dass Aeneas die Unterwelt weder als Schatten noch als Traum verlässt, ergibt sich auch aus Charons Definition der Unterwelt als Ort der Schatten, des Schlummers und der schlafbringenden Nacht (umbrarum hic locus est somni noctisque soporae 6,390) und dem direkt anschließenden Hinweis, dass er lebendige Körper in seinem Nachen eigentlich nicht befördern darf (corpora viva nefas Stygis vectare carina 6,391):307 Aeneas fällt als lebendiger Mensch in keine der zuvor genannten Kategorien. Er bringt den goldenen Zweig mit, der die Ausnahme ermöglicht, die seinetwegen gemacht wird.308 Wenn Anchises ihn durch das Elfenbeintor schickt, kommt er aus der Unterwelt als der lebendige Mensch heraus, als der er hineinging.309 Mit dem Gang in die Unterwelt schildert Aeneis  6 ein als wirklich vorzu­ stellendes Geschehen, dessen Schauplatz außerhalb der realen Erfahrungswelt liegt. Es entsteht eine Zwischenzone: Aeneas steht kurz vor dem Erreichen des Zielortes, als er bei Cumae in die Unterwelt hinabsteigt. In der Erzählung be302 Ebenfalls positiv für somnus: Creusa (als Entrückte) und Anchises (als Bewohner des angenehmen Teils des Totenreiches) begegnen Aeneas als ›luftiges, traumähnliches‹ Abbild (imago | par levibus ventis volucrique simillima somno 2,793 f. 6,701 f.), das er vergebens zu umarmen versucht; 2,792–794 = 6,700–702. 303 Vgl.: Steiner 1952, 92; »Aeneas und die Sibylle sind zwar keine ›falsa insomnia‹ so wenig sie ›verae umbrae‹ sind; doch wie die Manen die trügerischen Träume zur Oberwelt senden (mittunt), so entsendet Anchises, einer der Manen, seinen Sohn und die Sibylle durch die Elfenbeinpforte (emittit).«; siehe auch: Kopff / Kopff 1976, 249. 304 Vgl. Kopff / Kopff 1976, 250. 305 Vgl. Horsfall 1995, 147: »We need to distinguish the Gate’s normal traffic… from Aeneas«; Austin 1977, 276: »Even the meaning of falsa insomnia is uncertain and it must be emphasized that these only provide the route, and that no direct equation is made between such users of the Ivory Gate and the travellers who are now sent out by it. The matter remains a Virgilian enigma (and non the worse for that).« 306 Erst recht abwegig wäre die Annahme, dass Aeneas dadurch, dass er durch das Elfenbeintor der unwirklichen Träume geht, selbst zum ›unwirklichen Traum‹ werde. (Wenn jemand das Theater durch den Künstlereingang betritt, wird er dadurch ja auch nicht in einen Künstler oder eine Künstlerin verwandelt.) Die Vorstellung, dass ein Tor die Personen, die durch es hindurch gehen, verändert, ist mir in der antiken Mythologie und Literatur noch nicht begegnet und im Text steht auch nichts, was in diese Richtung deuten würde. 307 Zu diesem Argument vgl. Kraggerud 2002, 132. 308 Vgl. 6,136–147.183–211. 405–407a. 636. 309 Vgl. Walde 2001, 296 f.

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finden wir uns zwischen dem ersten Teil des Epos, in dem der Verlust der alten Heimat und die mühsame Annäherung an die neue Siedlungstätte geschildert werden (Aeneis 1–5), und dem zweiten Teil, in dem es um die Inbesitznahme des neuen Gebietes geht (Aeneis 7–12).

6.2 Troias Topographie und der besondere Dreh in Aeneis 2 Das in Aeneis 2 geschilderte Geschehen spielt vor allem in Troia und vor den Stadtmauern von Troia. Daneben sind zwei weitere Orte in der näheren Umgebung für die Geschichte, wie sie erzählt wird, von Bedeutung: die Insel Tenedos, wo die Griechen sich den Tag über versteckt halten (2,21–24. 254–256a), um nachts unerwartet zurückzukehren (2,256b–267), und ein außerhalb der Stadt gelegener Hügel mit einem alten Tempel310 und einer Zypresse daneben, wo die Troianer sich gegen Morgen treffen (2,713–716. 742–744). Für Troia selbst als Schauplatz gibt es in der Erzählung von Aeneis 2 drei räumliche Referenzpunkte, nämlich erstens die arx, zweitens das Haus des Anchises und drittens die Stadtmauern und deren Tore. Markanterweise sind es auch diese drei Referenzpunkte, die Aeneas bei seiner Suche nach Creusa wieder berührt: Die Schilderung seines letzten Weges in Troia hat drei Teile (principio 2,752, inde 2,756, procedo et … reviso 2,760), in denen nacheinander Stadtmauer und Stadttor (2,752–755), Anchises’ Haus (2,256–259) und Priamus’ Palast (2,260–267) erreicht werden. Als arx wird in Aeneis 2 das Zentrum von Troia bezeichnet, zu dem vor allem der Tempel der Pallas (Tritonidis arcem 2,226.  a templo…adytisque Minerva 2,404) und der ›Königspalast‹ (Priamique arx alta 2,56, sedes Priami 2,437. 760) gehören.311 Von der arx kommt Laocoon herbei (2,41), innerhalb der arx stellen die Troianer das hölzerne Pferd auf (2,245) und in Richtung arx machen Aeneas und seine Gefährten sich auf, als sie nachts in den Kampf ziehen (2,315. 322). Auf dem Weg zur arx ereignen sich die Begegnung mit dem Trupp des Androgeos und die anschließende Jagd auf Griechen im Gassengewirr (2,370–401). Im Bereich der arx, nämlich beim Minervatempel, findet das unübersichtliche Scharmützel um Cassandra statt, in dem Troianer, Griechen und die um Aeneas kämpfenden, mit griechischen Spolien maskierten Troianer aufeinander treffen (2,403–430). Schließlich begibt Aeneas sich zusammen mit den beiden ihm noch verbliebenen Gefährten zum Sitz des Königs und dort auf das Dach, von wo aus 310 templumque vetustum | desertae Cereris 2,713b–714a: Zur Bedeutung von desertae gibt es unterschiedliche Vorschläge, vgl. Casali 2017, 318 (ad 714): Entweder wird das Heiligtum als »verlassen« bezeichnet, weil es während der zehnjährigen Belagerung nicht erreichbar war oder vom Priester verlassen wurde, oder sein Standort ist »abgelegen« oder aber die Gottheit selbst, Ceres, wird wegen Proserpina »verlassen« genannt. 311 Zum Begriff der arx, der »innerhalb der Laokoongeschichte und darüber hinaus fast wie ein durchgehendes Leitmotiv« wirke: Kleinknecht 1944, 78, Anm. 2.

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er vergeblich versucht, die Griechen am Eindringen zu hindern (2,435–633). Von der Architektur des ›Königspalastes‹312 werden erwähnt:313 − ein Hintereingang, über den Aeneas auf das Dach gelangt (limen erat caecaeque f­ ores et pervius usus | tectorum inter se Priami postesque relicti | a tergo 2,453–454a)314 − ein aus dem Dach herausgebauter Aussichtsturm, den Aeneas vom Dach aus auf die anstürmenden Griechen krachen lässt (turrim in praecipiti stantem summisque sub astra | eductam tectis, unde omnis Troia videri | et Danaum solitae naves et Achaica castra 2,460–462) − Türen oder Türpfosten, welche die Frauen küssen, als sie verängstigt im großen Gebäude315 herumrennen (2,489 f.) − zahlreiche (wörtlich: 50 quinquaginta) Gemächer der Nachkommen des Priamus (quinquaginta illi thalami 2,503a), deren Türen oder Türpfosten reichlich mit Gold und anderer Kriegsbeute verziert sind (barbarico postes auro spoliisque superbi) 2,504 f.)316 − ein Eingangsbereich, gegen den die Griechen, allen voran Pyrrhus, anrennen (vestibulum 2,469) − eine von Pyrrhus gebrochene Öffnung 2,479–482, durch die das Innere von außen sichtbar wird (2,483–485)317 − das Tor und sein Riegel, die dem Eroberungsgerät der Griechen nicht standhalten (labat ariete crebro | ianua, emoti procumbunt cardine posti 2,492 f.) − ein Innenhof, in dem der Hausaltar unter einem Lorbeerbaum steht, wo die Frauen und Priamus sich aufhalten (aedibus in mediis nudoque sub aetheris axe | ingens ara fuit iuxtaque veterrima laurus | incumbens arae atque umbra complexa penatis 2,512–514. vidi… Priamumque per aras | sanguine foedantem quos ipse sacraverat ignis 2,501 f.) − lange Säulengänge (porticibus longis 2,528) − Räume (atria 2,528), durch die Polites vor Pyrrhus flieht318 312 Der Ausdruck ›Palast‹ wird hier und passim (ungeachtet seiner Etymologie) für das Haus des Priamus verwendet (wie auch D. Scagliarini Corlàita, Enciclopedia Virgiliana (1984) s.v. casa, I, 686 vom »Palazzo di Priamo« spricht), da ›Burg‹ im Deutschen eher arx oder ›Oberstadt‹ konnotiert; mit der Wortwahl soll bewusst keine Aussage über Grabungsbefunde in der Troas getroffen werden. 313 Siehe hierzu: Casali 2017, 240; Heinze 31915, 63 f. D. Scagliarini Corlàita, Enciclopedia Virgiliana (1984) s.v. casa, I, 686: »È l’edificio più ampiamente descritto nel poema, anche se, come di consueto, solo in relazione alla dinamica dell’azione.« 314 Zur Interpunktion ohne Komma hinter Priami siehe Kraggerud 2010,133 f. 315 Wenn man tectis ingentibus als poetischen Plural versteht, so Horsfall 2008, 27: »through the great building«, sonst: große Räume, so Holzberg 2015, 121: »in den riesigen Räumen«. 316 Zur möglichen Verwendung von barbaricus für ›troianisch‹ hier und in Enn. trag. XXVII 89 Joc ope barbarica siehe Horsfall 2008, 387. Dagegen spricht spoliis (cf. Casali 2017, 256) und außerdem der Umstand, dass hier der Troianer Aeneas über den Palast seines Königs spricht; vgl. Anm. 574. 317 Zu der Schwierigkeit, wer Subjekt zu vident in 2,485 ist, siehe Casali 2017, 252; Salvatore 1983, 67 Anm. 66. Für videt (das der Veronensis xl 38 bietet): Geymonat 1965, 88 f.; Horsfall 2008, 373; Kraggerud 2010, 134 f., der vorschlägt, 2,483 f. in Parenthese zu setzen. 318 Zur Dramaturgie der Flucht des Polites vor Pyrrhus siehe 9.2.7.

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Der zweite räumliche Fixpunkt in Aeneis 2, das Haus von Anchises, ist ein klar definierter Schauplatz, an dem zwei Abschnitte der Erzählung spielen: Hier schläft Aeneas, als ihn mitten in der Nacht der aus der Innenstadt kommende Lärm der Eroberung weckt (2,268–335), und hier holt er gegen Morgen seine Familie ab, um mit ihr aus der Stadt zu fliehen (2,634–725a). Das Haus des Anchises befindet sich innerhalb der Stadtmauern von Troia, aber außerhalb der arx. Es steht etwas abgeschieden unter Bäumen (quamquam secreta parentis | Anchisae domus arboribusque obtecta recessit 2,299 f.).319 Dass Aeneas mit seiner Frau und seinem Sohn im Haus seines Vaters wohnt, wird vorausgesetzt und nicht eigens erwähnt.320 Vom Dach des Hauses aus kann Aeneas den Lärm aus dem Stadtinnern deutlich vernehmen, und er sieht die brennenden Nachbarhäuser und den Widerschein von Feuer in der Bucht von Troia (2,310b–312). Als Panthus herbeieilt, heißt es ad limina tendit (2,321); aus dem Kontext geht hervor, dass er auf das Haus oder das Anwesen des Anchises zustrebt. Es wird nicht erwähnt, ergibt sich aber aus dem Verlauf der Geschichte, dass er die Penaten, die er bei sich hat, im Haus des Anchises zurücklässt, als er sich zusammen mit Aeneas zurück in die Innenstadt begibt; Aeneas (genauer gesagt Anchises, der sie anfassen darf, weil seine Hände nicht blutig sind 2,717) nimmt sie von hier später mit auf die Flucht. Die Figur des Priesters Panthus leistet also den Transport der Penaten vom Tempel in der arx zu Anchises’ Haus.321 Dies hilft zu erklären, wie ein Aeneas, der ursprünglich nicht plant, Troia zu verlassen, dennoch in der Lage ist, die Stadtgötter zu retten. Außerdem ist auf diese Weise Aeneas’ Entscheidung, in den Kampf zu ziehen, von der praktischen Erwägung, dass er die Penaten aus dem Tempel holen müsste, wenn er Hectors Worten folgen wollte, unabhängig. Die dritte wesentliche räumliche Markierung neben der arx und dem Haus des Anchises bilden die Stadtmauern und deren Tore als Grenze der Stadt. Diese Grenze wird in der Erzählung zweimal signifikant überschritten: einmal von 319 Vgl. Grillone 1967, 40: »abitava in un quartiere piuttosto appartato«. 320 Dass Aeneas bei seinem Vater wohnt, passt auch zu Überlieferungen, nach denen er von außerhalb zur Unterstützung nach Troia kam. Anders Gransden 1985, 68: »Awakening from his dream of Hector, Aeneas goes to his father’s house, where he ascends the roof and sees Deiphobus’ house in ruins«; aber woher Grandsen »goes to his father’s house« nimmt, bleibt unklar. 321 Aeneas rettet die Penaten seiner Vaterstadt, die troianischen Penaten, die Panthus als städtischer Priester ihm bringt. Abwegig ist die Annahme, die Fratantuono 2007 macht, dass es sich bei den Penaten, die Aeneas auf seine Flucht mitnimmt, um die Hausgötter eines bestimmten troianischen Haushaltes handele, vgl. 50: »The poet has made this a very Roman altar ; we might pause to ask just what households gods Aeneas is supposed to carry out from Troy, just as we did when Panthus appeared at Aeneas’ home carrying Penates earlier. Has Priam’s altar already been stripped of its Penates in face of invasion (highly unlikly, given the present text)? Which Penates did Panthus have with him when he arrived at Aeneas’ house (his own?) Does Aeneas end up taking the Penates of his own house alone (I suspect so)?«

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außen nach innen beim Einholen des hölzernen Pferdes (2,234–245), und einmal von innen nach außen bei der Flucht des Aeneas mit seiner Familie (2,730). Darüberhinaus geht Aeneas auf der Suche nach Creusa jeweils ein weiteres Mal in die Stadt hinein (2,752–754) und aus der Stadt hinaus (2,795). Außerdem wird ein wichtiger Schauplatz durch die Stadtmauern definiert: Die Geschichte vom Ende Troias, wie Aeneas sie erzählt, beginnt vor den Toren der Stadt, an einem Ort außerhalb der Stadtmauer, wo das Lager der Griechen an jenem schicksalhaften Morgen überraschend nicht mehr steht (2,27 f.) und wo die Troianer statt dessen das hölzerne Pferd vorfinden. Hier ist es, wo Laocoon, von der arx her dazukommend, seine Warnung äußert und einen Speer gegen die ominöse Holzkonstruktion schleudert. Es wird allgemein angenommen, dass auch der ausführliche Dialog mit Sinon (2,57–194) und der Angriff der Riesenschlangen auf Laocoon und seine Söhne (2,199–227) hier stattfinden, dass also das in 2,27–233 geschilderte Geschehen durchweg in der Nähe des hölzernen Pferdes vorzustellen ist. Aber weder für die Sinon-Szene noch für den Angriff der Schlangen stehen explizite Ortsangaben im Text. Wohl aus ihrem Fehlen schließt man, dass kein Ortswechsel stattfindet. Bei Sinons Auftritt heißt es lediglich, dass Hirten ihn gefesselt vor den König bringen (2,58). Traditionell wird angenommen, dass Priamus sich bei der Menge am hölzernen Pferd befindet. Möglich ist allerdings auch, dass es sich bei ad regem trahebant (2,58) um eine Ortsangabe handelt, die so zu verstehen wäre, dass Sinon zu Priamus in die Stadt hinein oder auch zur arx hinauf gebracht wird. Dafür spricht, dass ausdrücklich davon die Rede ist, dass sich um ihn eine Ansammlung der Troiana iuventus bildet, die »von überallher« (undique) zusammenströmt (2,63 f.). Nimmt man an, dass die Szene beim hölzernen Pferd spielt, wo eine ähnliche Ansammlung bereits besteht, wäre diese Angabe unpassend. Weiter könnte die Angabe, dass die Hirten mit ihrem Gefangenen lautstark auf sich aufmerksam machen (magno clamore 2,58), ein Hinweis darauf sein, dass die Menge, die sich beim hölzernen Pferd aufhält, Geschrei hört, sich dem Zug zum König anschließt,322 und der Ort der Handlung sich verlagert. (Wenn ich Aeneis 2 verfilmen sollte, würde ich jedenfalls diese Version wählen.) Gegen die übliche Annahme, dass Priamus sich beim hölzernen Pferd befindet, spricht, dass sein Bruder Laocoon einen großen Auftritt hat (magna comitante caterva 2,40), während die Anwesenheit des Königs selbst nicht einmal erwähnt wäre. Zum Opfer, das Laocoon zu vollziehen im Begriff ist, als er stirbt, sind dann alle (d. h. viele Troianer) am Altar versammelt, der an einem Ort steht, wo die Riesenschlangen ihn vom Meer aus und für die Versammelten sichtbar erreichen. Auf die Schilderung von Sinons Auftritt folgt ein kommentierender Abschnitt, welcher der Perspektive des erzählenden Aeneas zuzurechnen ist: Er 322 Ähnlich wie in 2,434b–437: divellimur inde, | Iphitus et Pelias mecum…| protinus ad sedes Priami clamore vocati.

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beendet die Sinon-Szene resümierend mit der Feststellung, dass die List mit dem hölzernen Pferd und die Lügenkunst des Sinon, von denen er soeben berichtet hat, es waren, die Troia zu Fall brachten, und nicht die Überlegenheit der griechischen Krieger (2,195–198). Auf derselben kommentierenden Ebene steht die Überleitung zur anschließenden Schilderung von Laocoons Tod als eines weiteren, noch furchtbareren Ereignisses, das die Troianer zusätzlich verwirrt habe (2,199 f.). Das hic, das die beiden Themen verbindet, drückt kein konkretes räumliches oder zeitliches Verhältnis aus,323 sondern es stellt dem Auftritt des Sinon den Tod des Laocoon an die Seite als ein Ereignis, das für die Troianer Sinons Rede zu bestätigen scheint, und so den Ausschlag dafür gibt, dass das hölzerne Pferd in die Stadt gezogen wird: Da die Troianer in Laocoons Tod die Bestrafung für seinen Lanzenwurf gegen das hölzerne Pferd sehen, wird dieses für sie zum Anlass, das hölzerne Pferd in die Stadt zu holen (2,228–234). Wir entnehmen dem Text, dass Sinons Auftritt Laocoons Tod vorausgeht, aber eine genaue zeitliche Relation ist nicht gegeben. Es ist nicht gesagt, dass Laocoons Tod unmittelbar nach dem Auftritt des Sinon und am selben Ort (s. o.) erfolgt.324 Zum Ort und zum Zeitpunkt von Laocoons Tod erfahren wir aus dem Text genau genommen lediglich folgendes: Der Angriff der Schlangen auf Laocoons Söhne und ihn selbst findet statt, während er dabei ist, ein Opfer zu vollziehen,325 und die Riesenschlangen bewegen sich vom Meer herkommend zielstrebig auf ihn zu (agmine certo 2,212). Die Troianer, von denen anzunehmen ist, dass sie sich zur Opferfeier versammelt haben, beobachten die Annäherung der Riesenschlangen und weichen vor ihnen zurück (diffugimus visu exsangues 2,212). Die geschilderte Situation passt zu der Annahme, dass das Opferritual 323 Gegen Horsfall 2008, 185: »hic Temporal, as often«, und Casali 2017, 168: »hic: temporale«, unter Verweis auf andere Stellen in Aeneis 2 (2,122, 2,199, 2,386, 2,410, 2,438, 2,533, 2,699) und OLD s.v. hic2 6. Dass die abstrahierend kommentierende Perspektive von 2,195–198 in 2,199 f. fortgeführt und mit hic angeschlossenen wird, entgeht auch Heinze 31915, 17–20, der kritisiert: »Die Motivierung des einzelnen, namentlich der Übergang, ist nicht einwandfrei«. Er ist der Ansicht, dass »Virgil der technischen Schwierigkeiten nicht völlig Herr geworden« sei, in die er geraten sei »weil er die erste Laokoonszene von der zweiten getrennt« habe. 324 Zur Möglichkeit der Abwesenheit des Laocoon bei Sinons Auftritt vgl. Austin 1964, 101: »We cannot tell how Virgil had concieved of Laocoon’s actions since the flinging of the spear. Had Laocoon stayed listening to all Sinon’s tale? Or had he, in a last desperate effort to save the Trojans from the fate that they seemed bent on meeting, gone off to his official priestly duty? The latter would seem more in character: action, not talk.«; hierzu auch: Horsfall 2008, 188. 189. 325 Horsfall 2008, 188 f. versteht das Imperfekt mactabat 2,202 als Indiz dafür, dass Laocoon bei Sinons Auftritt nicht zugegen ist: Er sei zu dieser Zeit bereits mit dem Opfer beschäftigt. Aber das Imperfekt ist hinreichend damit erklärt, dass Laocoon zu dem Zeitpunkt, da die Schlangen erscheinen, mit dem Opfer beschäftigt ist. Das Tempus kennzeichnet die unabgeschlossene Hintergrundhandlung im selben Handlungszusammenhang und verweist nicht auf einen anderen Abschnitt der Erzählung.

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in Küstennähe (am Strand?) stattfindet. Eventuell könnte auch die Erwähnung, dass Laocoon als Neptunpriester fungiert (ductus Neptuno sorte sacerdos 2,201), eine Ortsangabe implizieren, denn für Griechenland sind Opfer für Poseidon in der Nähe des Meeres belegt. Wenn man diesen Zusammenhang beim römischen Rezipienten nicht voraussetzen möchte, so kann man zumindest zugestehen, dass der Name Neptun jedenfalls das Meer evoziert und insofern den Ort der Handlung andeuten könnte. Weil Laocoon außerhalb der Aeneis in der Regel als Apollo-Priester gilt, gibt es über Laocoon als »dem Neptun zugelosten Priester« allerhand Diskussion; auch wird in Betracht gezogen, dass der Altar, der für das Opfer benutzt wird (sollemnis … ad aras 2,202), außerhalb der Stadtmauern steht und in den Jahren der Belagerung für die Troianer unzugänglich gewesen sei; weiter wird gefragt, um was für ein Opfer es sich handelt, ein jährlich stattfindendes oder ein eigens anberaumtes, etwa ein feierliches Dankesopfer an den Stadtgott Neptun.326 Über all dies macht der Text keine Angaben, und es ist für die erzählte Geschichte in ihrem Ablauf auch nicht von Bedeutung. Eine spezifische Besonderheit der vergilischen Iliupersis liegt in der Bewegung des Protagonisten innerhalb des geschilderten Raums. Beobachtet man, wo der Protagonist sich im Verlauf des Geschehens aufhält, fällt nämlich auf, dass Aeneas sich genau entgegengesetzt zu der erwarteten, traditionell für seine Figur vorgesehenen Richtung bewegt. In der vergilischen Iliupersis zeigt Aeneas sich als Held, der ohne Aussicht auf eigenen Vorteil bereit ist, Troia zu verteidigen. Er kämpft für seine Stadt, obwohl die Situation aussichtslos ist und obwohl es für ihn einfach wäre, sofort zu fliehen. Im einzelnen: Die strategische Lage einer Stadt kann schlimmer kaum sein als die von Troia im zweiten Buch der Aeneis: Die Stadtmauer ist durch das Einholen des hölzernen Pferdes beschädigt (2,234). Ein Teil der Feinde befindet sich im Innern der Stadt und agiert von dort aus (2,266 f.), während weitere Angreifer von außen hinzukommen (2,330b–334a). Die Troianer werden von dieser ungünstigen Situation im Schlaf überrascht, und sie sind zusätzlich geschwächt durch den Alkoholgenuss beim ausgelassenen Feiern aus Freude über den vermeintlichen Abzug der Griechen (2,252 f. 265). Aeneas aber befindet sich, als er die Gefahr erkennt, in der seine Stadt schwebt, außerhalb der eigentlichen Gefahrenzone, nämlich auf dem Dach des abseits gelegenen Hauses seines Vaters (2,299 f.). Die Penaten, die Hector ihm in einer Traumerscheinung anvertraut (2,293), werden ihm kurz darauf von Panthus gebracht (2,320a), der ihn auch über die Aussichtslosigkeit der Lage aufklärt (2,324–335). Im Sinne der bekannten Sage wäre es nun folgerichtig, dass Aeneas die Penaten packte und zusammen mit seiner Familie das Weite suchte. Dennoch begibt Aeneas sich in das Innere der umkämpften Stadt und zur Burg. Er legt seine Rüstung an und stürzt zusammen

326 Hierzu siehe Horsfall 2008, 78 f.; Heinze 31915, 18 mit Anm. 1 f.

Suche und Orientierung in Aeneis 3  

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mit einigen wenigen Gefährten in den Kampf.327 Aeneas begibt sich also nach Troia hinein. Dies ist insofern bemerkenswert, als damit die grundsätzliche Bewegungsrichtung des Aeneas umgekehrt wird. Denn sonst ist die Bewegung des Aeneas ja aus Troia hinaus gerichtet. Einerseits ist, vom Ergebnis her betrachtet, klar, dass Aeneas Troia schließlich verlassen haben wird; der erzählende Aeneas ist der Aeneas, der Troia verlassen hat. Damit zusammenhängend, aber darüber hinausgehend ist andererseits die Bewegungsrichtung aus Troia hinaus eng mit der Figur des Aeneas verknüpft: Es ist ein Charakteristikum des Aeneas, die Stadt verlassen zu haben. So kennt man ihn in der Bildkunst328 und auch in der Literatur. In Vergils Darstellung der entscheidenden Nacht jedoch begibt Aeneas sich von außerhalb ins Innere der Stadt. Diese Bewegung auf den Konflikt zu statt vom Konflikt weg wiederholt sich, als die meisten aus Aeneas’ Schar bei dem Gefecht um Cassandra getötet worden sind und Aeneas, statt sich zurückzuziehen, dem Kriegslärm folgend zur Burg des Priamus zieht (2,437). Und sie wiederholt sich ein weiteres Mal, als Aeneas bemerkt, dass Creusa fehlt, und er noch einmal in die Stadt zurückgeht, um sie zu suchen (2,749). Dreimal329 wählt Vergils Aeneas den Weg in die Stadt hinein, anstatt den für ihn vorgesehenen Weg aus der Stadt hinaus einzuschlagen.330

6.3 Suche und Orientierung in Aeneis 3 Im dritten Buch sind Fortbewegung und Aufenthalt im Raum die wesentlichen Bestandteile der äußeren Handlung, insofern es, räumlich betrachtet, von dem Weg handelt, den Aeneas von der Troas bis Karthago zurücklegt.331 Dieser Weg führt zu Schiff über das Mittelmeer und reicht von Westasien über zehn Stationen in Südeuropa bis nach Nordafrika. In Aeneas’ chronologischer Schilderung alternieren Beschreibungen dessen, was die Troianer an den unterschiedlichen 327 Dieses Verhalten bezeichnet er im Rückblick als amens (2,314), d. h. nicht von der Vernunft geleitet. Aber er sagt nicht, dass es falsch gewesen sei, in den Kampf zu ziehen, oder dass er es bereue, in den Kampf gezogen zu sein. Zu amens / ira / f uror siehe 4.3. 328 Zu den bildlichen Darstellungen der Flucht des Aeneas siehe 9.2.9. 329 Damit ist gerade wettgemacht, dass Aineias in der Ilias dreimal von Göttern aus dem Kampf gerettet wird: I Als Diomedes ihn verwundet (Il. 5,305), wird Aineias von Aphrodite (Il.  5,312) und Apollon gerettet (Il.  5,445) und von Artemis und Leto gepflegt (Il.  5,447). II Aus dem Zweikampf mit Achilleus (Il.  20,161–290) wird Aineias von Poseidon gerettet (Il.  20,291–340). III Davor wird Aineias einmal von Achill verfolgt und durch Zeus vor ihm gerettet (Il. 20,89–93. 187–193). 330 Die wesentlichen Richtungsänderungen entgehen Büchner 1955, 336: »bei reicher Bewegungsphantasie, erst zentrifugale, dann zentripetale Bewegung«. 331 Zu den geographischen Einzelheiten in Aeneis 3 siehe v. a.: Horsfall 2006, mit einer Liste von Gesamtdarstellungen des 3. Buches (XIII); Williams  1962; Heinze  31915, 82–114; Stahl 1998.

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Orten, an denen sie haltmachen, erleben, mit Beschreibungen ihrer Fahrten zu Schiff auf dem Meer von einem Ort zum nächsten; dadurch ergibt sich eine episodische Gliederung der Erzählung. Insgesamt sind es 13 Stationen (S1–S13):332 S 1 Antandros in der Troas S 2 Aenus in Thrakien S 3 Delos S 4 Pergama auf Kreta S 5 Strophadeninsel S 6 Apollotempel bei Actium ~ Nikopolis S 7 Buthrotum S 8 Ceraunia (Abfahrt für kürzeste Route) S 9 Castra Minervae S 10 ›Kyklopenland‹ auf Sizilien S 11 Plemyrium vor Syrakus S 12 Drepanum auf Sizilien S 13 Karthago

3,6 3,13–68 3,73–123 3,132–189 3,209–267 3,278–288 3,291–505 3,508–519a 3,533–550 3,568–681 3, 692–697a 3,708b–714 3,715

Abfahrt Polydorus Anius, Apollo Seuche, Penaten Harpyien, Celaeno Spiele, Schildweihe Andromache, Helenus Navigation Opfer Achaemenides Opfer333 Tod des Anchises Landung im Seesturm

Dazwischen liegen 12 Fahrtstrecken (F1–F12): F1 F2 F3 F4 F5 F6 F7 F8 F9 F10 F11 F12

Antandros / Troas → Aenus / Thrakien Aenus / Thrakien → Delos Delos → Pergama / K reta Pergama / K reta → Strophadeninsel Strophadeninsel → Nikopolis bei Actium Nikopolis bei Actium → Buthrotum Buthrotum → Ceraunia Ceraunia → Castra Minervae Castra Minervae → ›Kyklopenland‹ ›Kyklopenland‹ → Plemyrium vor Syrakus Plemyrium vor Syrakus → Drepanum Drepanum → Karthago

3,8a–12 3,69–72 3,124–131 3,190–208 3,268–277 3,289–290 3,506–507 3,519b–532 3,551–567 3,682–689 3,697b–708a 3,715

an Inseln entlang 3 Tage Seesturm an Inseln entlang Sichtung Italiens Scylla & Charybdis Flucht vor Kyklopen Siziliens Südküste334 Seesturm: Aen. 1

Die einzelnen Aufenthalte variieren stark in ihrer Dauer. An der Kyklopenküste am Fuße des Aetna (S10) zum Beispiel bleiben die Troianer nur eine Nacht, und als sie am nächsten Tag auf Achaemenides stoßen, veranlasst dessen Erzählung von Polyphem sie sofort zur Abfahrt. Auf Kreta (S4) hingegen siedeln sie sich 332 Wenn man alle erwähnten Landgänge (S2–S12) sowie die Abfahrt aus der Troas (S1) und die Landung bei Karthago (S13) mitzählt. Worstbrock 1963, 73, zählt neun Stationen. 333 Ich nehme an, dass mit iussi numina magna loci veneramur 3,697a das Verrichten eines Opfers an Land gemeint ist. 334 Die Schilderung der Fahrt entlang der Südküste Siziliens speist sich aus der Ortskenntnis des Achaemenides, vgl. 3,690 f. Zu Achaemenides als Informant siehe 8.3. Fasst man linquo in 3,705 konkret, ergibt sich eine weitere Station in Selinunt; man kann es aber auch im Sinne von ›auslassen‹ verstehen, inhaltlich analog zu radimus in 3,700.

Suche und Orientierung in Aeneis 3  

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für länger an: Aeneas lässt Mauern errichten, gibt der Stadt zur Freude der Troianer den Namen Pergama, eine Burg wird befestigt, die Schiffe werden an Land gezogen, es werden Felder bestellt, Ehen geschlossen, und Aeneas agiert als Oberhaupt eines Gemeinwesens, indem er Gesetze erlässt und Häuser zuweist.335 Erst als in einem todbringenden Jahr eine Seuche ausbricht336 und die Penaten-Erscheinung Aeneas Italien als sein wahres Ziel offenbart, brechen die Troianer erneut auf. Aber die Schilderung des relativ kurzen Aufenthalts im Kyklopenland beansprucht erheblich mehr Raum in der Erzählung als die Schilderung der Ansiedelung auf Kreta. Erzählzeit und erzählte Zeit dieser beiden Aufenthalte stehen in umgekehrtem Verhältnis zueinander. Eine solche Varianz in der Ausführlichkeit der Darstellung kennzeichnet Aeneis 3 insgesamt.337 Sie verstärkt die Episodenhaftigkeit der Erzählung. Zugleich trägt sie zur Abwechslung bei, die auch in inhaltlicher Hinsicht gegeben ist:338 Auf der Route variieren feindliche Gegenden, wo die Troianer Ablehnung erfahren, und freundliche Gegenden, wo sie Rat und Hilfe (auch materieller Art) erhalten, ruhige Fahrt bei klarer Sicht und orientierungsloses Treiben auf dem Meer, absichtliche und unabsichtliche Landungen, kurze Zwischenhalte und Versuche, sich für länger anzusiedeln. Die Auswahl der Orte, die Aeneas auf seinem Weg berührt, entspricht den Erfordernissen der zu erzählenden Geschichte.339 Anspielungen auf

335 Schauer 2007, 207 erkennt hier eine Skizze dessen, was später am richtigen Ort geschehen soll: »Die wenigen Verse lassen die in der Aeneis nicht mehr erzählte Zukunft in Latium erahnen.« Diese Vorwegnahme ist erzählerisch brillant, denn wie unspektakulär wäre der Schluss der Aeneis, wenn dort ein solches idyllisches Bild (das übrigens der ›Stadt im Frieden‹ in der Schildbeschreibung der Ilias ähnelt) stünde! 336 Bei der Bestimmung der Dauer, welche die Troianer von der Troas bis nach Karthago unterwegs sind, stellt der Aufenthalt in Kreta die nicht definierte Zeitspanne mit dem größten Ausdehnungspotential dar, vgl. hierzu die Diskussion zu septima aestas oben (5.2). Die Beschreibung der Ansiedlung und Siedlung steht als Hintergrundhandlung im imperfektischen Hauptsatz, die Schilderung des Ausbruchs der Seuche wird durch ein cum-Inversum (verstärkt durch subito) eingeleitet; der Ausdruck letifer annus…vēnit (3,139) deutet an, dass eine unbestimmte Anzahl ›normaler‹, d. h. nicht seuchenbringender Jahre vorausgegangen ist. 337 Zum Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit sowie Dehnung und Raffung siehe auch: Quinn 1968, 88 f. 338 Vgl. Suerbaum 1999, 172: »Zwar zeigen die Fahrtstationen des Aeneas mehr oder weniger vergleichbare, sozusagen naturgemäße Typik von Fahrt – Ankunft – Geschehenisse im Lande – Entschluß zur Abfahrt, aber die Begebenheiten an den einzelnen Etappenorten sind variiert. Jeweils sind es andere Motivationen, die die Aeneaden zum Weiterfahren veranlassen.« 339 Suerbaum 1999, 172: »Er hat nicht alles aufgenommen, was die Überlieferung bot, sondern aus wenigen ausgewählten Stätten eine plausible und abwechslungsreiche Route zusammengestellt.« Für eine übersichtliche Gegenüberstellung der Stationen bei Vergil mit den Stationen bei Dionysius von Halikarnass siehe Williams 1962, 8–12; zur Auswahl der Stationen siehe auch: Horsfall 1986, 15 f.

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die augusteische Gegenwart, die Teil dieser Geschichte sind,340 stellen sich für den intradiegetischen Erzähler als Teil des Geschehens dar. Aeneas’ Weg von Troia nach Latium wird im Epos selbst wiederholt als Irrfahrt bezeichnet (z. B.: multosque per annos | errabant acti fatis maria omnia circum 1,31 f.; erroresque tuos 1,755). Dies bedeutet aber nicht, dass die Fahrt planlos verliefe. Auch darf man die Fahrt des Aeneas nicht als ›Entdeckungsfahrt‹ in unbekannte Gegenden missverstehen, denn die in der Aeneis vorausgesetzten mythischen Troianer sind, den Griechen vergleichbar, prinzipiell als versierte Seefahrer vorzustellen, die den Mittelmeerraum kennen und Verbindungen zu anderen Küstenanrainern haben.341 Vielmehr hat jede einzelne Etappe ihr Ziel. Es besteht nur am Anfang Unklarheit darüber, dass es ein übergeordnetes, schicksalhaft vorgesehenes Ziel gibt, und dann besteht eine Zeit lang Unklarheit darüber, wo dieses vorgesehene Ziel liegt. Die Abfolge der einzelnen Station entwickelt sich folgerichtig aus dem jeweils erreichten Informationsstand der Protagonisten.342 Die erste Station in Thrakien repräsentiert den ersten Schritt zur Orientierung auf ein Ziel hin: Aus der Begegnung mit Polydorus wird deutlich, dass Aeneas nicht einfach irgendwo siedeln kann. Deshalb steuert er als nächstes Delos an und befragt dort das Orakel. Ab hier weiß er zwar, dass er ein bestimmtes Ziel hat, aber noch nicht genau, wo dieses sich befindet: Die Fehldeutung des Orakelspruchs durch Anchises bringt die Troianer zunächst nach Kreta, bis der Ausbruch einer Seuche sie erkennen lässt, dass sie am falschen Ort sind, und eine Erscheinung der Penaten Aeneas über die wahre Bedeutung des delischen Orakelspruchs aufklärt. Ab diesem Punkt in der Geschichte kennt Aeneas

340 Zu aitiologischen Implikationen einzelner Stationen siehe Binder 1988, 272–276; Stahl 1998. 341 Vgl. Schauer 2007, 59: »Die Welt ist ihm nicht fremd, er weiß von den Orten und kennt auch die Geschichten, die mit ihnen verbunden sind. Außerdem hat er ererbte Kontakte zu Fürsten, die ihn gastlich aufnehmen, andere gewinnt er rasch zu Freunden oder Partnern«, näher hierzu siehe auch: Schauer 2007, 93–95 über »Trojas diplomatisches Netz«. Auch die Kenntnis der Küste Siziliens, welche der Fahrtschilderung in 3,692–708a zugrundeliegt und die zuweilen für eine ›Unstimmigkeit‹ gehalten wird, ist prinzipiell so erklärlich; hinzu kommt, dass Achaemenides als Informant fungiert; hierzu siehe 8.3. Anders: Bowie 2008, bes. 48 f., der bei den geographischen Details am Ende von Buch 3 Einmischungen des extradiegetischen Erzählers annimmt (»into which the narrator’s voice intrudes«), hierzu siehe 8.3. Wohlgemerkt geht es hier nicht darum, welche geographischen Kenntnisse bei historischen Troianern vom Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. realistisch angenommen werden sollen, sondern darum, dass die Troianer im Rahmen des Fiktionalitätspaktes der Aeneis als kundige Seefahrer auftreten; schon der Raub der Helena, der ja als Anlass für den troianischen Krieg gilt, erfordert Schiff-Fahrt auf dem Mittelmeer. 342 Tatsächlich legen die Troianer im Ergebnis insgesamt eine für die antike Seefahrt sinnvolle Route zurück, vgl. Schauer 2007, 260, sowie die Karte in: Williams 1962, 9. 

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sein Ziel und weiß auch in etwa, wo es liegt. Eine Wegbeschreibung, wie er am besten dorthin gelangen soll, erhält er allerdings erst zwei Stationen später vom Apollopriester Helenus in Buthrotum, also kurz bevor er vom griechischen Festland nach Italien übersetzen muss. Helenus’ Angaben folgend strebt Aeneas die Westküste Italiens an,343 meidet sowohl die Bereiche griechischer Siedlungen in Italien als auch die Meerenge von Messina und umsegelt Sizilien, aber abgesehen davon legt er im Ganzen von der Troas bis zu Junos Seesturm, der ihn nach Karthago verschlägt, eine einigermaßen direkte Route zurück. Zweimal hat er vor Junos Seesturm Schwierigkeiten zu See: zuerst nach der Abfahrt von Kreta, als ein dreitägiger Sturm die Flotte auf der Strophadeninsel der Harpyien landen lässt, und ein weiteres Mal, als es gilt, Charybdis auszuweichen, die Troianer die Orientierung verlieren und im Kyklopenland übernachten, ohne zu wissen, wo genau sie sich befinden, bis Achaemenides ihnen weiterhilft.344 Im Verlauf von Aeneis 2–3 erhält der erzählte Aeneas also eine Reihe von Hinweisen, die ihn schrittweise darüber aufklären, dass ihm ein Ziel bestimmt ist, wo es liegt und wie er dorthin gelangen kann.345 Diese Hinweise haben eine klare Abfolge und bauen aufeinander auf. Um sie richtig einordnen zu können, muss man berücksichtigen, was der Protagonist selbst zu dem Zeitpunkt, da er einen Hinweis erhält, damit anzufangen weiß. Der im Nachhinein erzählende Aeneas, der selbst am Ende desjenigen Erkenntnisprozesses steht, den er schildert, weiß inzwischen natürlich mehr als zu dem Zeitpunkt, von dem er erzählt, und die Rezipienten der Aeneis wissen erst recht mehr.346 Aber diese beiden letzteren Perspektiven spielen für das Verhalten des Protagonisten keine Rolle. Berücksichtigt man konsequent die Perspektive des erlebenden Aeneas, kann man den Text von Aeneis 3 im Sinne der erzählten Geschichte eigentlich widerspruchsfrei lesen. Traditionell werden für Aeneis 3 Unstimmigkeiten (›inconsistencies‹, ›pecularities‹) konstatiert. Man erklärt sie mit einer mangelhaften Integration dieses Buches in den Kontext, die darauf beruhen soll, dass der Text des dritten Buches entweder vergleichsweise früh347 oder vergleichsweise spät (so v. a. Heinze)348 verfasst und der Zusammenhang nicht vollständig angepasst worden sei. Zu dieser Diskussion vgl. die Ausführungen von Horsfall in der Einleitung seines Kommentars zu Aeneis 3 mit dem

343 Helenus lenkt Aeneas an die Westküste Italiens: vgl. Büchner 1955, 337. 344 ignarique viae Cyclopum adlabimur oris 3,569. Zu Achaemenides als Informant siehe 8.3. 345 Vgl. Heinze 31915, 83: »Vergil machte zum leitenden Faden die allmähliche, stufenweis fortschreitende Aufhellung des Fahrtziels«; Williams 1962, 1; Worstbrock 1963, 47. 78; Büchner 1955, 229. 336 u. ö.; Lana 1983, 107. Die ersten, noch unklaren, für ihn erst im Nachhinein zu verstehenden Hinweise erhält Aeneas bereits in Troia (Aeneis 2). 346 Wenn Worstbrock 1963, 73 von einer »Abfolge retardierender Stationen« spricht, ist dies von dem ihm wie allen Rezipienten bekannten Ziel her gedacht. 347 Vgl. hierzu Williams 1962, 22 f.; auch zu Fragen der Erzählperspektive im 3. Buch: Williams 1983, 262–278. 348 Für eine späte Abfassung von Aeneis 3: Heinze 31915, 85–96.

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Titel »Virgil’s stylistic development«, in der die vermeintlichen erzähllogischen Unstimmigkeiten im Rahmen stilistischer und metrischer Beobachtungen abgehandelt werden.349 Williams 1962 ist auf dem richtigen Weg: »But the importance of the dis­ crepancies has been exaggerated. Some of them vanish when we take into account the fact that the book is in the words of Aeneas, not in the reported narrative of Virgil.«350

Wenn wir also zum Beispiel lesen, wie Hector Aeneas im Traum erscheint, so wissen wir, dass er zutreffende Angaben macht und dass die Aufforderung, Troia zu verlassen, Aeneas’ Bestimmung entspricht. Aber für den träumenden Aeneas, der noch nichts von seiner Bestimmung weiß, stellt sich dies anders dar: Er hat einen schweren Albtraum, währenddessen er sich nicht einmal erinnert, dass Hector bereits tot ist. Die Aufforderung »fahre über das Meer und finde den Göttern von Troia eine neue Stadt«351 ist nicht besonders klar: Wo genau soll er denn hinfahren?352 Und sie kommt überdies von einer Quelle, deren Autorität nicht ohne weiteres postuliert werden kann.353 Ähnlich dürfen wir bei Creusas Prophezeiung nicht annehmen, Aeneas wisse mit den geographischen Bezeichnungen, die in ihr genannt sind, etwas anzufangen.354 Die Ortsangaben in 2,781 f. sind Teil einer Prophezeiung und keine Wegweisung: Der erzählte Aeneas hört hier zum ersten Mal von dem Land Hesperia und dem Fluss Thybris. Er hat keine Vorstellung davon, wo sie liegen könnten. Darin, dass die Prophezeiung der Creusa Hesperien mit dem Tiber als Ziel nennt, und dem Umstand, dass die Troianer zu Beginn von Aeneis 3 nicht wissen, wo sie hinfahren sollen, wird zuweilen eine Unstimmigkeit gesehen.355 Aber die Annahme, Aeneas müsse nach Creusas Prophezeiung sein Ziel kennen, trifft nicht zu. Klarheit in dieser Angelegenheit schafft für ihn erst der zweite Orakelspruch des Apollo, den die Penaten Aeneas auf Kreta überbringen.356 Eine eindeutige Ekphrasis (3,163–166) erklärt wie ein

349 Horsfall 2006, XXVIII–XL. 350 Williams 1962, 19. 351 his moenia quaere | magna pererrato statues quae denique ponto 2,294 f. 352 Anders Fenik 1959, 6: »Hector is perfectly specific in his instructions.« 353 Außerdem stellt die Aufforderung, Troia zu verlassen, sein bisheriges Dasein als Krieger, der seine Heimatstadt verteidigt, plötzlich in Frage; hierzu siehe 9.2.3. 354 Vgl. Saunders 1925, 85: »Hesperia was only a ›westward land‹ to him and, in such a connexion, Lydius Thybris must have greatly perplexed him. At the time of the Trojan War the phrase is an anachronism and it could hardly have meant anything but ›Trojan Tiber‹ to Aeneas«; ihr zustimmend: Akbar Khan 2001, 907 f. 355 So z. B. Williams 1983, 270; Williams 1962, 20 sowie 53 ad 3,7 und 74 ad 3,88. Zu der Annahme, dass Hesperia und Thybris für Aeneas zum Zeitpunkt von Creusas Prophezeiung bloße Namen seien und er Land und Fluß (noch) nicht geographisch verorten könne, konzediert Williams 1962 lediglich, dass diese Annahme die Ungereimtheit etwas mildere. 356 Die Penatenerscheinung bestätigt Hector, erklärt Creusa, korrigiert Anchises: Smith 2005, 66. Zur Penatenerscheinung als Traum oder Wachtraum: Grillone 1967, 44–49; Walde 2001, 275–278.

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Glossar den in Creusas Prophezeiung verwendeten Eigennamen Hesperia, und die Penaten selbst identifizieren dieses Land als ihre wahre Heimat. Creusa prophezeit: et terram Hesperiam invenies, ubi Lydius arva inter opima virum leni fluit agmine Thybris

2,781 2,782

Die Penaten erklären: est locus, Hesperiam Grai cognomine dicunt, terra antiqua, potens armis atque ubere glaebae; Oenotrii coluere viri; nunc fama minores Italiam dixisse ducis de nomine gentem. hae nobis propriae sedes …

3,163 3,164 3,165 3,166 3,167

Daraus, dass die Penaten diese Definition von Hesperien geben, geht hervor, dass Creusas Prophezeiung von Aeneas nicht in dem Sinne verstanden werden soll, dass er damit über sein Ziel informiert sei. Es wird deutlich, dass es einer Klärung der Begriffe bedarf. Wenn Aeneas später gegenüber Helenus und ein weiteres Mal im Gebet zu seinem toten Vater vom Thybris spricht,357 obwohl dieser in der Erklärung der Penaten nicht genannt ist und obwohl er auch in Helenus’ Figurenrede nicht erwähnt ist, stört dies die Kontinuität der Erzählung nicht, weil Creusas Worte, an die Aeneas sich erinnert – sonst wären sie nicht Bestandteil seiner Erzählung – genau diese Angabe machen, dass der Thybris ein Fluss ist, der in Hesperien fließt.358 Der Tiber ist von Bedeutung als dasjenige geographische Detail, auf das es im letzten Teil der Fahrt vor allem ankommt: Wenn die Troianer die Westküste Italiens in Richtung Norden entlang fahren, ist es entscheidend, ihn richtig zu identifizieren. Nach der Erklärung der Penaten weiß Aeneas, dass die Stadt auf Kreta nicht der richtige Ort ist und Anchises, der seinen Irrtum erkennt, bringt die neue Information mit alten Weissagungen der Cassandra in Zusammenhang (­ 3,180–189).359 Jetzt kennen sie ›Italia‹ als den aktuell gebräuchlichen Namen 357 Aeneas erwähnt den Tiber gegenüber Helenus: si quando Thybrim vicinaque Thybridis arva | intraro gentique meae data moenia cernam 3,500 f. und im Gebet zu seinem toten Vater: nec tecum Ausonium, quicumque est, quaerere Thybrim 5,83. Quicumque est drückt aus, dass Aeneas vom Tiber gehört hat und dessen zentrale Bedeutung für die Lokalisation seines Ziels kennt, aber eben noch nicht genau weiß, wo er ihn finden wird: »noch , dass ich mit dir diesen ominösen Ausonischen Tiber suche«. 358 Anders Heinze 31915, 88: »Ich kann in der Nennung des Thybris v. 500 nur ein Versehen des Dichters erblicken«. 359 Als Aeneas seinen Traum Anchises erzählt, antwortet dieser, dass auch Cassandra bereits dasselbe prophezeit habe. Heinze  31915, 312 nimmt an, Cassandra werde erwähnt, um deutlich zu machen, dass Anchises der Priamustochter keinen Glauben schenkt, wohl aber einem von Apollo gesandten Traum.

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für ›Hesperia‹, das Land das ihnen bestimmt ist (vgl. 3,165 f.), und es wird vorausgesetzt, dass sie eine Vorstellung davon haben, wo dieses Italien liegt, denn sie stechen in See. Der Seesturm, der die Flotte auf die Strophadeninsel mit den Harpyien verschlägt, macht zwar sogleich jegliche Orientierung zunichte,360 bringt aber gleichwohl die Schiffe in die richtige Richtung. Anders als Junos Seesturm treibt dieser Seesturm die Troianer nicht vom Kurs ab. Er dient vielmehr dazu, die Landung auf den Strophaden zu motivieren, sowie dazu, den Umstand zu erklären, dass die Troianer dort Rinder und Ziegen schlachten, nämlich als Dankopfer. Hierdurch wiederum werden der Angriff der Harpyien und schließlich der rätselhafte Spruch der Celaeno361 motiviert. Danach weht günstigerweise Südwind und der Steuermann gibt den entsprechenden Kurs vor (3,269). Die Inseln um Ithaka werden als Odysseus’ Reich erkannt und umfahren. Der nächste Halt, der Apollo-Tempel bei Actium, erscheint als angestrebte Station und ebenso Buthrotum. Hier hört Aeneas davon, dass Helenus und Andromache inzwischen in der Gegend wohnen (3,294–297), und sucht die Begegnung mit ihnen. In dem Apollo-Priester Helenus trifft er auf eine Helferfigur, die ihm eine ausführliche Wegweisung erteilt. So steht ab hier die Route fest. Dies zeigt sich auch darin, dass Palinurus vor der Überfahrt von Acroceraunia nach Italien navigiert (3,513–517). Im weiteren Verlauf der Fahrt kennen die Troianer ihr Ziel und nehmen den von Helenus gewiesenen Kurs. In Vergils Version erhält die alte Sage von Aeneas, der aus der Troas nach Westen zieht,362 eine einzigartig neue Gestaltung dadurch, dass Aeneas selbst als Erzähler fungiert, der eine durchgehende, chronologische Beschreibung des gesamten zurückgelegten Weges bietet. Dazu gehören, äußerlich betrachtet, die Fahrtschilderungen (F1–F12): Anstatt dass die einzelnen Stationen (S1–S13) lediglich aneinanderreihend aufgezählt werden, wird jeweils dazwischen berichtet, wie die Exiltroianer zu Schiff von einem Ort zum nächsten gelangen. Der so erreichten äußeren Kontinuität entspricht eine innere Kontinuität, die dadurch entsteht, dass die einzelnen Ziele motiviert werden: Aeneas berichtet, was ihn zum jeweiligen Zeitpunkt bewogen hat, welchen Kurs einzuschlagen. Dabei hält er in seiner Erzählung ganz überwiegend die Perspektive des ›erlebenden Ich‹ ein.363 So lässt sich aus seiner Sicht nachvollziehen, wie ihm Etappe für Etappe seine Bestimmung deutlicher wird.364

360 ipse diem noctemque negat discernere caelo | nec meminisse viae media Palinurus in unda (3,201 f.). 361 Woher Aeneas ihren Namen kennt, geht aus dem Text nicht hervor. 362 Für die literarische Überlieferung verweist Dionysius v. Halikarnass auf Hellanikos (Dion. Hal. 1,48,1) und auf Sophokles, vgl. Williams 1962, 7 f. 363 Gegen Effe 1975, 144; hierzu siehe auch 8.2. 364 Büchner 1955, 336, sieht im 3. Buch als dem Buch der Suche ein Symbol für das Bestimmtwerden des Menschen mit historischer Aufgabe.

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Neben der kontinuierlichen Darstellung besteht eine weitere Besonderheit der Erzählung in Aeneis 3 in dem Motiv der vorübergehenden Ansiedlung der Troianer auf Kreta (3,103–191). Es ist vor Vergil nicht literarisch belegt,365 bestimmt aber in seiner Version den Gang des Geschehens und die Route des Aeneas entscheidend. Durch die konsequente Beschränkung auf die Figurenperspektive entsteht Spannung, wenn Kreta den Troianern aufgrund der Fehldeutung des Anchises zunächst als das von Apollo gewiesene Ziel erscheint. Die Rezipienten erfahren das Geschehen in derselben Reihenfolge wie die Protagonisten, kennen aber – anders als diese – das wahre Ziel des Aeneas. Daher werden sie (zumindest als Erstleser) in ihrer Erwartung getäuscht, wenn die Troianer nach Anchises’ Interpretation des Orakelspruchs tatsächlich Kurs auf Kreta nehmen und sich dort ansiedeln. Anders als die erzählten Troianer wissen sie von vornherein, dass diese Ansiedlung nicht von Dauer sein kann. Außer dem ihnen bekannten Ausgang der Suche des Aeneas nach einer neuen Heimat für die Penaten von Troia spricht dagegen auch die literarische Tradition, nach der Orakelsprüche in der Regel von denjenigen, die sie einholen, missverstanden werden: So verfügen die Rezipienten über einen weiteren Hinweis auf einer Metaebene. Entsprechend überraschen Seuche und Missernte als Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt, die Rezipienten weniger als die Protagonisten. Überraschend, da in hohem Maße außergewöhnlich, ist dann aber wiederum die Korrektur der Fehldeutung durch die Penaten-Erscheinung, die erfolgt, nachdem Aeneas den Entschluss gefasst hat, das Delische Orakel erneut aufzusuchen. Aeneas wird durch sie davor bewahrt, umzukehren und eine bereits gefahrene Strecke seines Weges erneut zurückzulegen. Geographisch betrachtet ergibt sich aus der Station auf Kreta der Vorteil, dass die Peloponnes weiträumig umfahren werden kann und so Treffen mit griechischen Troia-Heimkehrern, die nicht vorkommen sollen, unwahrscheinlicher werden, als es bei einer dem Küstenverlauf folgenden Route der Fall wäre.366 Ein praktisches Detail des Kreta-Motives besteht darin, dass die Troianer Kenntnis davon haben, dass Idomeneus seine Stadt an der Küste Kretas verlassen hat.367 Deshalb steuern sie von Delos aus auf diese Gegend zu, um sich dort niederzulassen. Als falscher Ort, an dem Aeneas eine entscheidende Information über den richtigen Ort erhält, nimmt Kreta eine Schlüsselstelle in der Entwicklung des Geschehens ein. Die Station durch die Fehldeutung des Anchises zu motivieren, war das eine, die Fehldeutung dann wiederum durch eine Seuche und den besonderen Service der Penaten, Erklärungen zum Orakel nachzureichen, zu korrigieren, war das zweite. 365 Vgl. Horsfall 2006, 124. 366 Vgl. Schauer 2007, 106. Zum »Hintergrund einer feindlichen griechischen Welt« und zum Motiv einer »Ablösung von den Griechen« in Aeneis 3 siehe Worstbrock 1963, 74–76. 367 Fama volat pulsum regnis cessisse paternis | Idomenea ducem, desertaque litora Cretae, | hoste vacare domum sedesque astare relictas 3,121–123.

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Erzählter Raum

6.4 Ortsangaben und -beschreibungen in Aeneis 2–3 In Aeneis 2–3 stehen insgesamt vierzehn reine Ortsbeschreibungen, wenn man so Textabschnitte nennt, die ausschließlich einen Ort nennen oder beschreiben und keine syntaktische Verbindung zur Schilderung des Geschehens aufweisen. Der Zusammenhang wird regelmäßig durch einen Rückverweis im ersten Satz der darauffolgenden Handlungsschilderung hergestellt. In den meisten Fällen geschieht dies durch Pronominaladverbien des Demonstrativpronomens hic, nämlich: huc (2,24. 3,16. 3,78. 3,219), hic (2,515. 3,537) und hinc (3,111. 3,707). In der Rede der Penaten bildet hae sedes als Wiederaufnahme der Ortsbeschreibung die Verknüpfung, und an zwei weiteren Stellen erfüllt ein Verb der Bewegung diesen Zweck (evado 2,458. accessi 3,24), einmal ist ein Verb der Bewegung mit einem Ortsadverb verbunden (inde exsupero 3,697 f.). Bei der Beschreibung des Kyklopenlandes erklärt die Sage von Enceladus Geräusche aus dem Innern des Aetna und die Verbindung mit dem Geschehen ergibt sich inhaltlich: Es heißt, dass die orientierungslos gelandeten Troianer in der Nacht, die sie dort zubringen, diese Vulkangeräusche wahrnehmen, jedoch ohne sie deuten zu können. Die Ortsangaben und -beschreibungen in Aeneis 2–3 umfassen zusammen 72,5 Verse. Im Einzelnen: 2,21–23 2,453–457 2,512–514 2,713–715 3,13–16a 3,22 f. 3,73–77 3,104–110 3,163–166 3,210b–218a 3,533–536 3,570–582 3,692–696 3,697b–706

Die Insel Tenedos [Anschluss: huc 2,24] Der Seiteneingang zum Palast [Anschluss: evado 2,458] Der Altar im Innenhof [Anschluss: hic 2,515] Altes Ceres-Heiligtum [Anschluss: hanc sedem 2,716] Thrakien [Anschluss: huc 3,16] Der Hügel, wo Polydorus ermordet liegt [Anschluss: accessi 3,24] Die Insel Delos [Anschluss: huc 3,78] Kreta (Figurenrede: Anchises) [Anschluss: hinc 3,111] Latium (Figurenrede: Penaten) [Anschluss: hae sedes 3,167] Die Strophadeninsel der Harpyien [Anschluss: huc 3,219] Der Hafen von Castra Minervae [Anschluss: hic 3,537] Das ›Kyklopenland‹ am Fuß des Aetna [Anschluss: sonitum 3,584] Plemyrium, Vorgebirge von Syrakus [Anschluss: inde exsupero 3,697 f.] An Siziliens Südküste entlang [Anschluss: hinc 3,707]

Es liegt in der Natur der Sache, dass in den Ortsangaben, die außerhalb von Figurenrede (zweiten Grades) stehen, die Stimme des intradiegetischen Erzählers besonders hervortritt. Auch können sie, wenn sie einer Episode vorangestellt werden, erzählerische Vorausdeutungen enthalten, wodurch ebenfalls der Erzähler stärker hervortritt. Wenn zuweilen die Vermutung geäußert wird, dass Aeneis 3 zunächst nicht als Teil der Erzählung des Aeneas konzipiert war und die erhaltene Fassung noch Spuren einer in der 3. Person erzählten Vorgängerfassung aufweise, könnten es gerade auch die Ortsbeschreibungen sein, die zu diesem Eindruck beitragen.

7 Die Erzählung in Aeneis 2–3

7.1 Kommunikationssituation und Motivierung der Binnenerzählung Innerhalb des in der Aeneis erzählten Geschehens werden die äußeren Rahmenbedingungen für die Erzählung des Aeneas in 1,748–756 etabliert: Das Gastmahl, zu dem Dido die in Karthago gestrandeten Troianer geladen hat, die Trankopfer­ rituale und der Vortrag des professionellen Sängers sind vorbei.368 Aber Dido ist von Amor, der während des Essens in Gestalt des Ascanius auf ihrem Schoß saß, in Aeneas verliebt gemacht worden (1,715–722) und versucht, den Abend durch Reden in die Länge zu ziehen, um den – nunmehr geliebten – Gast dazubehalten. Damit er bleibt, hält sie das Gespräch aufrecht, stellt ihm Fragen und fordert ihn schließlich auf zu erzählen. So ist Didos Verlangen, Aeneas erzählen zu hören, stark durch ihre Verliebtheit motiviert: Wenn er nur da ist und sie ihm zuhören und ihn ansehen kann!369 In der Schilderung dieser Szene wird der Übergang vom extradiegetischen Erzähler zur erzählenden Hauptfigur als intradiegetischem Erzähler vorbereitet.370 Dies geschieht in der Weise, dass die gesprochene Rede schrittweise direkter dargestellt wird.371 Es findet ein Übergang vom ›narrativen Modus‹ zum ›dramatischen Modus‹ statt, das heißt, die Darstellung der Rede nimmt an Un-

368 Zum Vergleich mit der Situation in Od. 9 siehe Ganiban 2008b, 57–59. 369 Vgl. Harrison 1980, 360: »She flits from one question to another in her desperate determination to keep Aeneas talking for as long as she possibly can. Her deep draughts of love stand in strong contrast to the mere sip that sufficed when she put her lips to the wine-cup a few moments earlier«; Büchner 1955, 325: »Die Königin unterhält sich und saugt in tiefen Zügen die Liebe ein.« Am Text vorbei geht Stöckinger 2016, 99: »Dido hat durch die Erzählung keinen direkt identifizierbaren Vorteil. Die soziale Position, aus der heraus Aeneas agieren kann, wird hingegen durch die Erzählung gestärkt.« Dies mag irgendeiner strukturell zugrunde gelegten Situation ›Fremder identifiziert und legitimert sich durch eine Erzählung‹ entsprechen, aber auf die Situation, die in der Aeneis geschildert ist, trifft sie nicht zu. Aeneas ist bereits vor seiner Erzählung für Dido ein hochwillkommener Gast, zu dessen Ehren sie ein Festmahl veranstalten lässt; dafür, dass seine soziale Position sich durch die Erzählung verändert, gibt es keinerlei Anzeichen im Text. 370 Das Begriffspaar extradiegetisch – intradiegetisch beschreibt das Verhältnis der Erzählebenen zueinander: Genette  1972, 255 f.; die Binnenerzählung als solche bezeichnet Genette 1972, 241–243 als ›récit métadiégétique‹; vgl. auch Martinez / Scheffel 82009, 76. 371 Hierzu siehe auch: Laird 1999, 199–204.

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Die Erzählung in Aeneis 2–3

mittelbarkeit zu: Zuerst steht ›erzählte Rede‹, sodann folgt ›transponierte Rede‹ und schließlich ›zitierte Rede‹:372 nec non et vario noctem sermone trahebat 1,748 infelix Dido longumque bibebat amorem, 1,749 multa super Priamo rogitans, super Hectore multa, 1,750 nunc quibus Aurorae venisset filius armis, 1,751 nunc quales Diomedis equi, nunc quantus Achilles. 1,752 »immo age et a prima dic, hospes, origine nobis 1,753 insidias« inquit »Danaum casusque tuorum 1,754 erroresque tuos, nam te iam septima portat 1,755 omnibus errantem terris et fluctibus aestas.« 1,756 Außerdem dehnte die unglückliche Dido auch mit abwechslungsreichem Gespräch die Nachtstunden aus und schlürfte in langem Zuge die Liebe, unermüdlich vieles fragend über Priamus, vieles über Hector, dann, mit was für Waffen der Sohn der Aurora gekommen sei, dann, wie die Pferde des Diomedes beschaffen seien, dann, wie gewaltig Achilles sei. »Aber nun, lieber Gast«, sagte sie, »sei so gut und schildere von Anfang an das Schicksal der Troianer und deine Fahrten, denn es ist ja schon der siebte Sommer, der dich hierherbringt, der du überall umherschweifst zu Wasser und zu Land.«

Das erste Wort, das eine Sprechhandlung bezeichnet, ist das Abstraktum sermo in 1,748.373 Dido spricht hier zwar, aber das Verb, das ihre Handlung beschreibt, ist kein Verb des Sprechens. Die Sprechhandlung erscheint vielmehr als das Mittel, mit dem sie das Beisammensein mit Aeneas zu verlängern sucht: vario noctem sermone trahebat (1,748). Erst in 1,750 wird Didos Sprechhandlung mit rogitans konkret benannt. Rogitare, das Intensivum zu rogare, drückt die Wiederholung aus: Dido fragt wieder und wieder, stellt Fragen über Fragen nach Einzelheiten.374 Der Inhalt ihrer Rede, also das, wonach sie fragt, erscheint zuerst in Form von Akkusativobjekten (1,750), dann in Form von indirekten Fragen (1,751 f.). Auch hierin manifestiert sich ein Schritt der Konkretisierung: Während die Formulierung mit Objekt eine bloße Nennung des Inhalts der Rede bedeutet, bildet die indirekte Frage die syntaktische Struktur der dahinterstehenden direkten Rede ab (transponierte Rede). Von den drei indirekten Fragen hat nur die erste ein Verb, die beiden übrigen sind elliptisch. Antworten auf diese Fragen gibt Aeneas übrigens nicht. In ihrer Nicht-Beantwortung zeigt sich die Andersartigkeit der Erzählung des Aeneas: Solche Fragen würde vielleicht ein Epos wie die Ilias

372 Begriffe nach Martinez / Scheffel 82009, 51–63. Laird 1999, 87–115 unterscheidet ›direct discourse‹ (DD), ›indirect discourse‹ (ID) und ›records of speech acts‹ (RSA), sowie außerdem ›angled narration of dialogue‹ (AND), ›free indirect discourse‹ (FID) und ›mimetic indirect discourse‹ (MID). 373 Harrison 1980, 360 sieht in sermone den Schlüsselbegriff für den Übergang von Buch 1 zu Buch 2.  374 Ähnlich sind die Fragen des Alkinoos in Od. 8,572–586; vgl. Austin 1971, 225 f.

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beantworten, aber wenn Aeneas seine Geschichte erzählt haben wird, werden solche Fragen nicht mehr von Bedeutung sein.375 Auf die in indirekter Rede formulierten Fragen der Dido folgt schließlich ihre direkte Rede, durch ein zwischengeschobenes inquit (1,754) als solche markiert. An dieser Stelle ist der Erzählertext mit dem von der Figur gesprochenen Text der Fiktion nach identisch und wir sind bei der konkretest möglichen Form der Darstellung von Sprechen angelangt (direkte Rede). Der Inhalt dieses Sprechens ist wiederum eine Aufforderung zum Sprechen: Dido fordert Aeneas auf, seine Geschichte von Anfang an zu erzählen.376 Wenn mit Didos direkter Rede das erste Buch endet, so geht damit keine Unterbrechung des erzählten Geschehens einher. Der erste Vers des zweiten Buches schildert das Verhalten der Anwesenden, die auf das von Dido Gesagte unmittelbar reagieren, indem sie sich bereit machen, Aeneas zuzuhören: conticuere omnes intentique ora tenebant (2,1). Die sich anschließende direkte Rede des Aeneas beginnt mit 2,3 und endet mit 3,715. Insgesamt umfasst sie ca. 1500 Verse.377 Sie wird durch eine Rede-Einleitung in 2,1 f. und eine Rede-Ausleitung in 3,716–718 gerahmt. Aeneas spricht durchgehend. Er wird nicht unterbrochen und unterbricht sich auch nicht selbst. Aber es kommt vor, dass er innerhalb seiner Erzählung auf den Akt des Erzählens als solchen rekurriert. Dies geschieht im zweiten Buch mehrmals ([1]–[5]), im dritten Buch hingegen nur einmal am Anfang und ein weiteres Mal am Ende ([6], [7]): [1] Der ausführlichste Rekurs auf den Erzählvorgang erfolgt ganz am Anfang von Aeneas’ wörtlicher Rede in seiner Antwort auf die kurz zuvor von Dido an ihn gerichtete Aufforderung, seine Geschichte vorzutragen. Aeneas bekundet hier sein Widerstreben gegen das Erzählen und erklärt, es nur auf Didos ausdrückliche Bitte hin zu tun (2,3–13a). Dafür, dass er eigentlich lieber nicht erzählen möchte, führt er zwei Gründe an, einen inneren und einen äußeren. Als inneren Grund nennt er seine eigene Beteiligung am zu erzählenden Geschehen: Es sei äußerst schmerzlich, die Einnahme Troias zu schildern, wenn man selbst dabei war (2,3–8a). Diese Äußerung wird verstärkt durch die Beteuerung (in Form einer rhetorischen Frage), dass es bei dem Thema selbst griechischen Kriegern unmöglich wäre, die Tränen zurückzuhalten (2,6a–8a). Der äußere Grund betrifft die aktuelle Kommunikationssituation: Die Nacht sei bereits 375 Harrison 1980, 361 sieht sie der Vorstellungskraft des Rezipienten überlassen; Laird 1999, 201: »Dido is asking Aeneas to relate events that are more ›Iliadic‹ than those which we are to hear in Books 2 and 3«. 376 Für Ausführungen zum ›metalinguistischen Charakter‹ von 2,1–13 siehe Gasti 2006. 377 Wenn wenn man die Helena-Szene mitrechnet (hierzu siehe 11), stehen im zweiten Buch 801 Verse direkte Rede des Aeneas (2,3–804; es gibt keinen Vers 2,76), ohne die HelenaSzene sind es 779 Verse. Im dritten Buch sind es 715 Verse direkte Rede des Aeneas (3,1–715). Das ergibt in Aeneis 2–3 ingesamt 1494 Verse direkte Rede des Aeneas (mit Helena-Szene wären es 1516 Verse).

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fortgeschritten und es sei Schlafenszeit (2,8b–9). Den angeführten Gegengründen zum Trotz entschließt Aeneas sich zu erzählen, um dem Verlangen seiner Gastgeberin zu entsprechen (incipiam 2,13).378 Dabei hält er sich genau an deren thematische Vorgaben aus 1,753–756. Sie möchte hören von der List der Griechen (insidiae Danaum), dem Schicksal der Troianer (casus tuorum 1,754) und von den jahrelangen Irrfahrten des Aeneas (errores tuos 1,755). Dementsprechend berichtet der Gast zunächst von der List der Griechen (in 2,13b–310a), sodann vom Schicksal der Troianer (in 2,310b–804) und schließlich von seiner Irrfahrt (in Aeneis 3). [2] Ein zweiter Rekurs auf den Erzählakt bezieht sich ein weiteres Mal auf Didos direkte Rede. Ihrem immo age et a prima dic, hospes, origine nobis | insidias … Danaum (1,753 f.) antwortet Aeneas, die eigentliche Erzählung unterbrechend, mit accipe nunc Danaum insidias et crimine ab uno | disce omnis (2,65 f.). Damit kündigt er die Wiedergabe der Lügenreden des Sinon an, die exemplarisch für alle Listen der Griechen stehen sollen. Aeneas’ Antwort ist der Frage in Syntax (zwei durch et verbundene Imperative) und Wortlaut (insidiae Danaum) angepasst, so dass der Bezug unmissverständlich deutlich ist. Durch den Rekurs auf die Kommunikationssituation wird diese dem externen Rezipienten erneut ins Bewusstsein gebracht. [3] Im dritten Rekurs auf den Erzählakt, horresco referens (2,204), kommt die emotionale Beteiligung des Erzählers am Erzählten zum Ausdruck. Die Formulierung steht vor der Schilderung, wie die Seeungeheuer, denen Laocoon und seine Söhne zum Opfer fallen werden, sich dem Strand nähern. Sie beschreibt den Schauder, der den Erzähler bei der bloßen Erinnerung an die grausige Erscheinung befällt: Auch jetzt noch, da ich davon berichte, sträuben sich mir die Haare! [4] Die rhetorische Frage quis cladem illius noctis, quis funera fando | explicet aut possit lacrimis aequare labores? (2,361 f.), mit der die Schilderung von Troias Schicksalsnacht eingeleitet wird, thematisiert den aktuellen Erzählvorgang nicht unmittelbar, sondern in allgemeinerer Form, insofern sie die generelle Schwierigkeit benennt, das traurige Geschehen angemessen sprachlich wiederzugeben. Diese Schwierigkeit stellt sich dem Erzähler Aeneas genauso wie anderen Erzählern, z. B. dem extradiegetischen Erzähler, auch. [5] Direkt auf die aktuelle Kommunikationssituation rekurriert hinwiederum die Formulierung forsitan et Priami fuerint quae fata requiras (2,506), mit der die Episode über den Tod des Priamus eingeleitet wird.379 Wie bei den insidiae Danaum bezieht sich Aeneas auch hier auf Dido, allerdings diesmal nicht auf 378 incipiam kündigt in der direkten Rede des Aeneas den Beginn der zu erzählenden Geschichte an, vgl. Adema 2019, 2: »His public will interpret his next sentence as the first sentence of a story, since Aeneas has, by means of incipiam, transformed himself from Dido’s conversational partner into a story teller.« 379 Siehe 1 (»Aeneas auf dem Dach«).

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ihre direkte Rede, sondern auf die dieser vorausgehenden eindringlichen Fragen nach einzelnen Personen, hier speziell nach Priamus: multa super Priamo rogitans (1,705).380 Auf der Ebene der Erzählung bedeutet dies: Aeneas erinnert sich daran, dass Dido nach Priamus gefragt hatte, und äußert die Vermutung, dass es sie interessieren könnte, wie er starb. Anschließend erzählt er die Geschichte von Priamus’ Ende. Wie eingangs im ersten Kapitel gesehen, nimmt der Rekurs auf die Kommunikationssituation hier eine Scharnierfunktion ein und markiert einen Wechsel in der Erzählhaltung. Nach fünf Rekursen auf den Akt des Erzählens im zweiten Buch ist das weitgehende Fehlen von solchen Rekursen im dritten Buch auffällig.381 Es kann aber, zumindest ansatzweise, damit erklärt werden, dass keine direkten inhaltlichen Bezüge zu einem Vorwissen der Dido hergestellt werden können: Sie weiß schlicht zu wenig über die auf dem Mittelmeer herumfahrenden Aeneaden, als dass sie genauer nachfragen könnte. Sie hat wohl von Aeneas als Person gehört und weiß, dass er schon jahrelang unterwegs ist, aber Einzelheiten seiner Irrfahrt kann sie nicht kennen. Entsprechend hatte sie am Ende des ersten Buches detailliert nach einzelnen Kämpfern vor Troia gefragt, das Thema der Irrfahrten aber nur pauschal benannt (errores tuos 1,755). Der Erzähler Aeneas kann mithin nicht so spezifisch an die Fragen seiner Adressatin Dido anknüpfen, wie er dies im zweiten Buch getan hatte.382 Ein weiterer Grund dafür, dass im dritten Buch nicht auf den Erzählakt rekurriert wird, könnte mit der Erzählhaltung zusammenhängen: Während im zweiten Buch, wie noch zu zeigen sein wird, unterschiedliche Ausprägungen von Beteiligung des Erzählers am erzählten Geschehen vorliegen,383 ist der Erzähler im dritten Buch grundsätzlich die Hauptfigur der von ihm geschilderten Handlung. Das durchgängige Sprechen in der ersten Person hält die Kommunikationssituation präsent, so dass diese nicht eigens in Erinnerung gerufen werden muss. Im zweiten Buch hingegen tragen die Rekurse auf den Erzählakt zur Kohärenz der Erzählung bei. [6] Die erste Referenz auf den Erzählvorgang in Aeneis 3 markiert wie horresco referens in 2,204 (s. o. [3]) die Unheimlichkeit des erzählten Geschehens: Aeneas schickt seiner Schilderung von dem Ertönen der Stimme des Polydorus eine rhetorische Frage voraus: eloquar an sileam? 3,39 (»soll ich wirklich davon berichten?«). Dieser Ausdruck dient der Beglaubigung, insofern er impliziert, dass etwas tatsächlich Geschehenes berichtet wird, von dem man reden oder

380 Vgl. La Cerda (Ed. Köln 1628, 1, 226) zu 2,506: Iecerat iam semen sermonis huius in calce libri primi, ubi Dido rogitat de Priamo. 381 Dass die Rekurse auf den Erzählakt im dritten Buch spärlicher sind als im zweiten, könnte dazu beigetragen haben, dass manche Erklärer das dritte Buch als der Erzählung des Aeneas nicht wirklich zugehörig empfunden haben; hierzu siehe Anm. 347 und 348. 382 Zu Dido als mit bestimmtem Vorwissen ausgestatteter interner Rezipientin siehe 7.2. 383 Zur Stellung des Erzählers Aeneas zum erzählten Geschehens siehe 8.3.

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Die Erzählung in Aeneis 2–3

schweigen kann. So wird die Möglichkeit, dass durch das Reden erst etwas geschaffen wird, also Fiktion vorliegen könnte, implizit ausgeschlossen. Der subtile Wahrheitsanspruch begegnet prophylaktisch potentiellem Mißtrauen der Rezipienten gegenüber dem übernatürlichen Phänomen. [7] Im folgenden wird die Kommunikationssituation erst ganz am Ende, im letzten Vers der Erzählung des Aeneas wieder sachte evoziert, und zwar durch die Verwendung eines Possessivpronomens der zweiten Person, das sich auf die Zuhörer bezieht: hinc me digressum vestris deus appulit oris (3,715). In diesen Worten wird deutlich, dass die erzählte Handlung an dem Ort angelangt ist, wo die Erzählung stattfindet: an den Küsten derer, die zum Zeitpunkt des Erzählens als Zuhörer anwesend sind. Die Anrede im Plural mag sich auf Dido allein oder auf sie und weitere anwesende Karthager beziehen. Die sich anschließende Rede-Ausleitung umfasst drei Verse (3,716–718). In ihr wird die Rede-Einleitung (2,1 f.) vom Anfang des zweiten Buches zitiert, so dass die Erzählung des Aeneas eine symmetrische Rahmung erhält:384 conticuere omnes intentique ora tenebant. inde toro pater Aeneas sic orsus ab alto: »Infandum, regina, iubes renovare dolorem … sic pater Aeneas intentis omnibus unus fata renarrabat divum cursusque docebat. conticuit tandem factoque hic fine quievit.

2,1 2,2 2,3 3,716 3,717 3,718

Die Zitierung bewirkt, dass nach der langen, im dritten Buch fast ohne Rekurse auf die Kommunikationssituation durchgehenden Erzählung die Kommunikationssituation wieder deutlich in Erinnerung gebracht wird. Es handelt sich bei den zitierten Ausdrücken um solche, welche Konstituenten der Redesituation benennen: pater Aeneas (2,2; 3,716) ist der Erzähler, omnes intenti (2,1; 3,716) sind die aufmerksamen Zuhörer und das Verb conticescere (2,1; 3,718) bezeichnet beim ersten Mal das Ruhigwerden der Zuhörer als praktische Voraussetzung für den Erzählvorgang und beim zweiten Mal das Verstummen des Erzählers, als er am Ende angelangt ist. Mit sic (2,2; 3,716) wird beide Male auf die Erzählung selbst verwiesen; beim ersten Mal weist das Adverb nach vorne, beim zweiten Mal zurück. Als Gegensatz entspricht das facto fine (3,718) dem orsus (2,2) aus der Einleitung. Anfang und Ende von Aeneas’ Erzählung sind auf diese Weise klar definiert. 384 Vgl.: Williams 1962: »The closing lines bear symmetrical similarity to those with which Aeneas’ story is introduced in Book II«; Putnam  1995, 65 f.; zu den Formulierungen renarrare und renovare siehe Fernandelli 1999. Fernandelli sieht einen weiteren Bezug zu casus renovare omnis in 2,750, das die Rückkehr in den Bereich innerhalb der Stadtmauern auf der Suche nach Creusa beschreibt.

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Das Ende wird insofern noch deutlicher markiert, als insgesamt dreimal ausgedrückt wird, dass Aeneas zu sprechen aufhört: Neben finem facere stehen conticescere und quiescere. Außerdem enthält die Rede-Ausleitung eine resümierende Beschreibung des gesamten Erzählvorgangs: fata renarrabat divum cursusque docebat (3,717). Hierin wird das vom intradiegetischen Erzähler erzählte Geschehen durch den extradiegetischen Erzähler als schicksalhaft und göttergewollt qualifiziert. Durch die Berufung auf die übergeordneten Instanzen (Schicksal, Götter) bestätigt dieser die Zuverlässigkeit des von ihm eingeführten intradiegetischen Erzählers. Das Imperfekt385 berücksichtigt die Zeitdauer, die das Erzählen in Anspruch genommen hat (die Erzählzeit).

7.2 Erzählte Geschichte386 und interne Adressatin Die wörtliche Rede des intradiegetischen Erzählers in Aeneis  2–3 geht ohne Unterbrechung über die Buchgrenze hinweg. Die in ihr wiedergegebene Erzählung ist insgesamt betrachtet chronologisch.387 Sie gliedert sich in zwei etwa gleich lange, der Bucheinteilung entsprechenden Teile, die sich in einigen die Erzählung als solche betreffenden Aspekten voneinander unterscheiden. Ein erster Unterschied zwischen Aeneis 2 und Aeneis 3 besteht hinsichtlich der Abgeschlossenheit des in ihnen geschilderten Geschehens. Während das in Aeneis 2 erzählte Geschehen – der Untergang Troias – zum Zeitpunkt der Erzählung vollendet ist, trifft dies auf das in Aeneis 3 erzählte Geschehen nur insofern zu, als Aeneas hier den Weg schildert, den er seither von Troia bis nach Karthago als seinem aktuellen Aufenthaltsort zurückgelegt hat. Insofern jedoch Aeneas’ Weg ein bestimmtes Ziel hat, das zum Zeitpunkt des Erzählens bekannt ist388 und dessen Erreichen angestrebt wird, das aber noch nicht erreicht ist, bleibt der eigentliche Ausgang des Geschehens in Aeneas’ Erzählung offen. Es wird erst in Aen. 7,29–36 mit der Schilderung der Einfahrt in die Tibermündung durch die übergeordnete Erzählinstanz des epischen Erzählers zum Abschluss gebracht.

385 Hierzu äußert sich auch: Adema 2019, 150 f. 386 ›Geschichte‹: mit Genette (›histoire‹), in Abgrenzung zu ›Erzählung‹ (›récit‹) und ›Erzählen‹ (›narration‹); anders als Lämmert 1955, der von ›Fabel‹ spricht und mit ›Geschichte‹ bezeichnet, was sonst auch ›Geschehen‹ oder ›Handlung‹ genannt wird. 387 Vgl. Deremetz 2001, 155 f. 165. 388 Seit der Erscheinung der Penaten auf Kreta weiß Aeneas, dass sein Ziel Italien ist, und seit dem Aufenthalt in Buthrotum weiß er von Helenus, dass er die Westküste anstreben muss. Der Schatten der Creusa spricht zwar bereits von Hesperia und von der Mündung des Thybris (2,781 f.), aber dies sind für Aeneas zunächst bloße Namen. Wo diese Gegend liegt, die er aufsuchen soll, erfährt er erst aus der ausdrücklichen Ekphrasis der Penaten (3,163–171); hierzu s. o. 6.3.

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Die Erzählung in Aeneis 2–3

Ein weiterer Unterschied zwischen Aeneis 2 und 3 besteht darin, dass die Erzählung in Buch 2 thematisch bedingt einheitlicher ist als in Buch 3. Während man von Aeneis 2 sagen könnte, dass gewissermaßen die dramatischen Einheiten von Ort (Troia), Zeit (ein Tag und die darauffolgende Nacht) und Personen (Aeneas) gewahrt sind,389 gestaltet sich die Schilderung der einzelnen Etappen des Weges von Troia nach Karthago inhaltlich bedingt episodisch: Bei der sich über mehrere Jahre hinziehenden Annäherung an Italien trifft Aeneas an immer neuen Orten auf immer neue Situationen.390 Die beiden Bücher der Ich-Erzählung unterscheiden sich außerdem hinsichtlich des Bekanntheitsgrads, der jeweils für ihr Thema bei der internen Adressatin vorausgesetzt wird. Wenn Aeneas Dido von der Eroberung Troias erzählt, weiß er, dass er bei ihr thematisches Vorwissen voraussetzen kann. Denn Dido nennt ihm bereits bei der Begrüßung, als sie zu erkennen gibt, dass sie weiß, wer er ist (1,615–618), einen Gewährsmann für ihr Wissen um das Geschehen in Troia:391 Teucer – der Sohn des Telamon und Stiefbruder des Aiax aus Salamis – sei, als er nach seiner Rückkehr aus Troia von seinem Vater verstoßen wurde, nach Sidon gekommen und habe ihren Vater Belus392 um Hilfe gebeten, der damals gerade Zypern unter seine Herrschaft gebracht hatte. Schon seit dieser Zeit kenne sie Troias Schicksal, Aeneas’ Namen und die griechischen Anführer: »atque equidem Teucrum memini Sidona venire finibus expulsum patriis, nova regna petentem auxilio Beli; genitor tum Belus opimam vastabat Cyprum et victor dicione tenebat. tempore iam ex illo casus mihi cognitus urbis Troianae nomenque tuum regesque Pelasgi.«

1,619 1,620 1,621 1,622 1,623 1,624

So wird durch die Erwähnung der Figur des Teucer393 und seines Zusammentreffens mit Dido in Sidon explizit erklärt, auf welche Weise Dido an ihr Wissen über 389 Vgl. De Witt 1925, 482: »It confims to the standard unity of time, for the action is bounded by the space of a day and a night«, 482; De Witt interpretiert Aeneis 2 als ›Drama‹, wobei die Gattungsbezeichnungen begrifflich changieren (z. B. »It is tragedy merging into apocalypse«, 480; »This is epic drama«, 483; »This is not merely dramatic. Free from the conventions and limitations of the stage, it overflows the theatre«, 482). Sicher zutreffend: »It might also with a minimum of adaptation be thrown upon the screen as a moving picture drama«, 484. 390 Da eine ähnliche Verschiedenheit zwischen Ilias und Odyssee besteht, wurden in ­Aeneis 2 und Aeneis 3 auch Ilias und Odyssee en miniature gesehen. 391 Vgl. Fernandelli 1999, 109, Anm. 39; Deremetz 2001, 158. 392 Didos Vater trägt hier den Namen ›Belus‹; der Serviuskommentar nennt ›Methres‹ als eigentlichen Namen, der aus Gründen der Metrik oder des Wohlklangs ersetzt worden sei; Servius ad 1,343 (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 121). 393 Eine Tragödie des Pacuvius mit dem Titel Teucer wird in Cic. de orat. 1,246 zusammen mit dem sprichwörtlichen ubi bene, ibi patria genannt; mit Teucer haben sowohl Dido als auch Aeneas gemeinsam, dass sie Migranten sind.

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den Troianischen Krieg gelangt ist.394 Dass die Erklärung dafür, dass Dido über das Schicksal des Aeneas und seiner Leute im voraus informiert ist, ihr selbst in den Mund gelegt ist und also auf der Ebene des Geschehens Aeneas gegenüber thematisiert wird, lässt diese weniger konstruiert erscheinen, als wenn sie von der Stimme des epischen Erzählers explikativ vorgetragen würde. Die Einführung von Teucer als Didos Informant plausibilisiert im übrigen auch den Umstand, dass Aeneas wenige Jahre nach dem Untergang Troias in einer noch im Bau befindlichen nordafrikanischen Stadt einen Tempel mit detaillierten Bildern vom Troianischen Krieg vorfindet, auf denen sogar er selbst zu sehen ist (1,466–493).395 In der Ekphrasis der Tempeldarstellungen, die Aeneas staunend betrachtet (1,453–493), wird die Vorgeschichte der Aeneis auf subtile Art und Weise fast unmerklich eingeführt.396 Dabei wird auf der Ebene des epischen Erzählers ein Neuheitsanspruch in Bezug auf den Gegenstand nicht nur nicht erhoben, sondern in gewissem Sinne sogar negiert, wenn das am Tempel dargestellte Kriegsgeschehen, das Aeneas betrachtet, als »schon im gesamten Erdkreis bekannt« bezeichnet wird: bellaque iam fama totum vulgata per orbem (1,457).397 Derselbe Ausdruck iam vulgata bezeichnet in der berühmten Recusa­ tio am Anfang des dritten Buches der Georgica398 eine Reihe von Themen als zu weit verbreitet, als dass sie für ein neues Gedicht in Frage kämen; sie seien schon abgedroschen, eventuell auch altmodisch.399 394 Vgl. Powell 2011, 191; vgl. auch den Serviuskommentar zu 1,755 (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 210): septem autem annos esse Dido cognovit ex Teucro. Ähnlich sorgfältig wird übrigens später der Umstand etabliert, dass man auch in Italien von den Troianern und ihrem Schicksal Kenntnis hat: Latinus nennt sie gleich beim ersten Treffen mit Namen und bemerkt ausdrücklich, dass sie ihm »nicht unbekannt« seien: dicite, Dardanidae, (neque enim nescimus et urbem | et genus, auditique advertitis aequore cursum), | quid petitis? 7,195 f. Auch Turnus weiß von Priamus und Achill (9,742). 395 Die Funktion des Teucer als Informant der Dido wird zuweilen übersehen, z. B.: Clausen 1987, 16: »he sees in the portico a series of murals depicting incidents of the Trojan War, already known by report throughout the world«, oder auch Glei 1991, 130: »Geschmückt ist er mit Bildern vom troianischen Krieg. Diese (chronologisch unmögliche) Fiktion…«. Das Motiv, dass Teucer in Sidon Dido von Troia erzählt hat, hat offensichtlich die narrative Funktion, ihr Vorwissen und ihren Tempelschmuck zu erklären; die Wahrscheinlichkeit, dass es eigens dafür erfunden wurde, ist hoch. 396 Und zwar in einer neutralen, wenn nicht sogar troia-freundlichen (so z. B. Glei  1991, 131 f.) Version. Im Rahmen von Aeneas-kritischen Interpretationen wird die Ekphrasis zuweilen so interpretiert, dass Aeneas an den Bildern erkenne, dass er in Karthago als Überläufer bekannt sei; hierzu siehe 8.1. 397 1,456b–458: videt Iliacas ex ordine pugnas | bellaque iam fama totum vulgata per orbem, | Atridas Priamumque et saevum ambobus Achillem. 398 georg. 3,3–9: cetera, quae vacuas tenuissent carmine mentes, | omnia iam vulgata: quis aut Eurysthea durum | aut inlaudati nescit Busiridis aras? | cui non dictus Hylas puer et Latonia Delos | Hippodameque umeroque Pelops insignis eburno, | acer equis? temptanda via est qua me quoque possim | tollere humo victorque virum volitare per ora. 399 Altmodisch: Kraggerud 1998, 3–8.

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Wenn bereits der Tempelschmuck ein gewisses Vorwissen Didos über den Troianischen Krieg voraussetzt, so lässt ihre nach dem Gastmahl an Aeneas gerichtete Aufforderung, von den insidiae Danaum zu berichten (1,754), ein darüber hinausgehendes, dem Gast entgegenkommendes, parteiisches Interesse erkennen.400 Außerdem berücksichtigen die unterschiedlichen Formulierungen von Didos Fragen den Umstand, dass sie über die Troianer weniger weiß als über manche nicht-troianischen Kriegsteilnehmer: Wie bereits gesehen, sind von rogitans in 1,750 unterschiedliche Konstruktionen abhängig, und zwar einerseits Objekte und andererseits indirekte Fragen. Die Akkusativobjekte, zwei an der Zahl, werden jeweils durch multa und ein daran angeschlossenes Präpositionalobjekt mit super401 gebildet: multa super Priamo rogitans, super Hectore multa (1,750).402 Danach stehen die indirekten Fragen, es sind deren drei. Wie von den Objekten jedes einen Personennamen enthält, enthält auch jede der indirekten Fragen einen Personennamen. Hier ist nun folgendes bemerkenswert: Während die in den Akkusativobjekten genannten Personen Troianer sind, nämlich Priamus und Hector, handeln die indirekten Fragen von Personen, die keine Troianer sind, nämlich von Memnon, dem Sohn der Aurora, von Diomedes und von Achill. Über die beiden Troianer fragt Dido »vieles«, zu den NichtTroianern hingegen fragt sie nach spezifischen Details: »Mit welchen Waffen kam der Sohn der ­Aurora? Was für Pferde sind es, die Diomedes hat? Wie gewaltig ist Achilles?« An dieser Unterscheidung wird kenntlich, dass Dido über die Troianer, die in ihrer eigenen, fernen Heimat besiegt wurden, weniger weiß als über diejenigen Krieger, die von anderswo nach Troia gezogen sind, sei es, um den Troianern beizustehen wie der Ägypterkönig Memnon, sei es, um die griechische Seite zu vertreten wie Diomedes und Achill. An der unterschiedlichen Differenziertheit von Didos Fragen lässt sich erkennen, inwiefern die Erzählung von Aeneas interessant zu werden verspricht: Sie bietet eine neue Perspektive. Die bekannte Geschichte vom Ende des Troianischen Krieges wird aus einer bislang unbekannten Perspektive erzählt, nämlich aus derjenigen eines besiegten

400 Der Serviuskommentar beurteilt die Wahl der Bezeichnung insidiae für die Taktik der Griechen aus Didos Mund als Parteinahme für die Troianer (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 210): hoc ad Troianorum favorem, ne videantur superati esse virtute  – sei es, dass die Parteinahme echt ist, sei es, dass sie höflich vorgetäuscht wird, um Aeneas zum Erzählen zu bewegen. In Anbetracht von Didos Verliebtheit liegt es nahe anzunehmen, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits die troianische Seite eingenommen hat und parteiisch an der Erzählung Anteil nehmen wird. 401 Austin 1971, 225, ad 1,750: »super: ›concerning‹ for de: this is familiar in origin, and is common in Plautus (see LHS, p. 287)«. 402 Die Teile im Vers sind achsensymmetrisch angeordnet: Wenn man die Präposition super und den jeweiligen Eigennamen als zu einem Wortbild gehörig auffasst, liegt eine sogenannte ›golden line‹ vor.

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Troianers.403 Das Thema mag zwar im ganzen Weltkreis bekannt sein. Aber die Art, wie es erzählt wird, ist neu, und das macht die Erzählung nicht nur für Dido, sondern auch für die externen Rezipienten interessant. Bei der vergilischen Iliupersis ist also die allgemeine Bekanntheit des Themas dadurch berücksichtigt, dass sie innerhalb einer intradiegetischen Erzählung geboten wird, die an eine vorinformierte Adressatin gerichtet ist. Die Figur der Dido als interne Adressatin mit einem Vorwissen über den Troianischen Krieg auszustatten, ist eine erzählerische Entscheidung, die dem Umstand Rechnung trägt, dass bei den externen Rezipienten der Aeneis ebenfalls einige Kenntnis dieses Themas vorauszusetzen war. So ist die interne Kommunikationssituation der externen Erzählsituation angenähert. Darüberhinaus erlaubt Didos Informiertheit auch, zu Beginn von Aeneis 2 auf ausführliche Erklärungen darüber, wie es zu dem Krieg kam, von dem nur das Ende erzählt wird, zu verzichten und statt dessen direkt mit dem hölzernen Pferd zu beginnen. Die Beschreibung des Bildschmucks im Tempel evoziert das Thema des Troianischen Krieges als Hintergrund, vor dem Aeneas Dido seine persönliche Version vom Untergang Troias erzählen kann. So ist Aeneas’ Erzählung in Aeneis 2 der Bericht eines Kriegers, der für seine Stadt, die nach zehnjähriger Belagerung durch eine List der Feinde eingenommen und in Brand gesteckt wird, kämpft und erst davon ablässt, als ihm seine göttliche Mutter erscheint und ihn heißt, seine Familie zu retten. Wir erfahren aus dem Bericht, wie Troia in der letzten Nacht nicht nur besiegt, sondern auch zerstört wird und wie der König von Troia stirbt. Vor allem aber erfahren wir aus Aeneas’ Perspektive, wie er selbst die letzten Stunden seiner Heimatstadt erlebt: Wie er gemeinsam mit den anderen Troianern eines Morgens davon überrascht wird, dass die Griechen ihr Lager abgebrochen und ein riesiges hölzernes Pferd zurückgelassen haben, wie der Priester Laocoon vor diesem Pferd warnt und nicht viel später von zwei Seeungeheuern getötet wird, wie der vermeintliche Überläufer Sinon eine herzzerreißende Geschichte erzählt und die Troianer daraufhin das Holzpferd in die Stadt hinaufziehen, wie sie den Abzug der Griechen feiern, wie Aeneas später zu Hause im Schlaf aufschreckt und feststellt, dass die Griechen zurückgekehrt sind und in der Stadt wüten, wie er sich zusammen mit einigen Troianern ins Stadtzentrum begibt und sie vergeblich versuchen, den Palast zu halten, wie ihm auf dem Palastdach seine Mutter Venus erscheint und ihm zeigt, dass die Zerstörung Troias dem Willen der Götter entspricht, wie 403 Vgl. Heinze 31915, 4 f.; zu den Persern des Aischylos als Vorbild für Wahrnehmung des Geschehens aus der Perspektive der Besiegten siehe Ussani 1950. Diese Perspektive des Besiegten erfährt in der Aeneis noch eine Steigerung: Der Bericht des Deiphobus, der Aeneas in der Unterwelt erzählt, wie er in der letzten Nacht von Troia den Tod fand (6,511–529a), erfolgt aus der Perspektive eines besiegten Toten; zu Deiphobus siehe Kraggerud 1968, 81–87.

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Aeneas nach Hause geht und seinen widerstrebenden Vater davon überzeugt, Troia mit ihm zu verlassen, wie er, den Vater auf den Schultern und den Sohn an der Hand, zu einem mit anderen vereinbarten Treffpunkt außerhalb der Stadt gelangt, wie er dort feststellt, dass er seine Frau Creusa aus den Augen verloren hat, wie er deswegen noch einmal zurück ins Stadtinnere geht, um sie zu suchen, wie sie ihm erscheint und ihn auffordert, ohne sie eine neue Heimat zu finden, und wie er schließlich wieder zu seinen Leuten stößt. Anders als bei der Iliupersis hat die interne Adressatin über das in Aeneis 3 erzählte Geschehen kein Vorwissen. Dido kann zur Fahrt des Aeneas und seiner Leute keine informierten Fragen stellen und ihre Aufforderung, davon zu erzählen, ist so gut wie voraussetzungslos. Sie weiß lediglich, dass Aeneas seit der Eroberung Troias schon einige Jahre zu Wasser und zu Land unterwegs gewesen sein muss.404 Inhaltlich schließt Aeneis 3 direkt an Aeneis 2 an. Das Buch beginnt mit einem Temporalsatz, der das Geschehen von Aeneis  2 als Vorgeschichte für Aeneis  3 noch einmal zusammenfasst.405 Aeneas erzählt in Aeneis  3 der Reihe nach, was er seit seiner Abfahrt aus der Troas (von Antandros aus 3,6) bis zur unsanften Landung im Seesturm vor Karthago (3,715) erlebt hat. Aus der chronologischen Anordnung seiner Abenteuer ergibt sich im Ganzen betrachtet die Schilderung einer langen Schiffsreise, die an insgesamt zehn Orten durch unterschiedlich lange Landaufenthalte unterbrochen wird.406 Sie beginnt in der Troas und führt über Thrakien, Delos, Kreta, eine Strophadeninsel, die Gegend von Actium, Buthrotum, Acroceraunia, Castra Minervae, das Kyklopenland unterhalb des Aetna und schließlich Drepanum nach Karthago. Zwei Versuche der Troianer, sich an einem Ort anzusiedeln, misslingen: zunächst in Thrakien, mit dem Troia einst freundschaftlich verbunden war, das sich aber inzwischen als feindlich erweist; von hier schickt der Geist des ermordeten Priamussohnes Polydorus die Troianer wieder fort. Auch Aeneas’ zweite Ansiedlung, Pergama auf Kreta, scheitert; sie beruht auf der Fehldeutung eines Orakels, das nach dem Misserfolg in Thrakien beim delischen Apollo eingeholt wird. Zum Glück verschafft eine Erscheinung der troianischen Penaten Klarheit über das wahre Ziel: Hesperien, auch Italia genannt. Auf dem Weg dorthin gerät die Flotte des Aeneas dreimal in schwere See: Beim ersten Mal gelangt sie durch einen drei Tage andauernden Sturm auf eine Strophadeninsel, wo die Harpyien wüten, beim zweiten Mal landet sie beim Ausweichen vor Charybdis orientierungslos (ignari viae 3,569) an Siziliens Küste unterhalb des Aetna im Lande der Kyklo-

404 1,755 f.: (dic …) erroresque tuos; nam te iam septima portat | omnibus errantem terris et fluctibus aestas. Ausführlich zur Zeitangabe septima aestas: siehe 5.2. 405 3,1–3: Postquam res Asiae Priamique evertere gentem | immeritam visum superis, ceciditque superbum | Ilium et omnis humo fumat Neptunia Troia… 406 Vgl. 6.3.

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pen, und beim dritten Mal wird sie durch den von Juno entfesselten Seesturm nach der Umrundung Siziliens kurz vor Erreichen der Westküste Italiens nach Karthago verschlagen.407 Ansonsten verläuft Aeneas’ Fahrt von Kreta aus zielgerichtet nach Italien; eine Präzisierung des Zieles (Westküste) sowie eine Wegweisung (Vermeiden der Meerenge von Messina, Umsegelung Siziliens) erhalten die Troianer bei ihrem Aufenthalt in Buthrotum von dem Priamussohn und Apollopriester Helenus. Weitere ortskundige Informationen rund um Sizilien gibt ihnen Achaemenides, ein versehentlich bei den Kyklopen zurückgelassener Gefährte des Odysseus, den sie mit an Bord nehmen.408 Eine bedeutende Rolle in Aeneas’ Erzählung fällt seinem Vater Anchises zu, der ihm durchweg als ratgebende Autorität zur Seite steht, Opfer vollzieht und einige Male auch das Kommando zur See führt. Von den übrigen Troianern hingegen ist selten die Rede; sie sind allenfalls in Aeneas’ Handlungen miteinbezogen, wenn er zuweilen im Plural spricht. Nur selten sind die Gefährten Subjekt von Handlungen: einmal, als sie einander zur Fahrt nach Kreta ermuntern (3,128 f.), ein weiteres Mal, als sie schreckhaft auf Celaeno reagieren (3,261), und die Frauen, als sie mit aufgelöstem Haar der Bestattung des Polydorus beiwohnen (3,65). In Thrakien berät Aeneas sich mit einigen Anführern (delectos populi ac proceres 3,58) und auf Kreta verheiratet er junge Leute (iuventus 3,136). Als Einzelperson genannt werden Achates und viermal der Steuermann Palinurus: Achates, der »Italien« ruft (3,528), und Palinurus, der nach der Abfahrt von Kreta in einem Seesturm die Orientierung verliert (3,201 f.), bei der Abfahrt von der Strophadeninsel den Kurs angibt (3,268 f.: mit dem Südwind nach Norden), die Überfahrt von Acroceraunia nach Italien navigiert (3,513–519a) und angesichts der Charybdis hart nach links abdreht (3,561b–562). Im Laufe der immer wieder unterbrochenen Fahrt schildert Aeneis  3 eine Reihe von Begegnungen der Troianer mit anderen Menschen und auch solche mit nichtmenschlichen Wesen. Freundlich verlaufen die Treffen mit dem Apollopriester Anius auf Delos sowie der Aufenthalt bei Andromache und dem Apollopriester Helenus in Buthrotum und auch die Interaktion mit dem auf Sizilien im Land der Kyklopen gestrandeten Griechen Achaemenides, der den Troianern Odysseus’ Polyphem-Abenteuer aus seiner Sicht erzählt. Unheimlich hingegen gestalten sich die Begegnungen mit dem im Gebüsch eingewachsenen toten Polydorus in Thrakien, mit den Harpyien auf der Strophadeninsel und mit den Kyklopen auf Sizilien, drei Episoden, die wegen des Vorkommens von

407 Aeneas erzählt hier eine komprimierte Kurzfassung in nur einem Vers: 3,715; die ausführliche Fassung steht in 1,35–161; eine weitere Version enthält die Rede des Ilioneus: 1,535–538. 408 Zu Achaemenides als Informant siehe 8.3.

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nicht-natürlichen, phantastischen Wesen aus heutiger Sicht am ehesten dem Genre der Fantasy-Literatur zuzuordnen wären.409

7.3 Die Tempora der Verben in Aeneis 2–3 Wenn bei der Betrachtung des Tempusgebrauchs in der lateinischen erzählenden Literatur (also in Epos und ›Roman‹, aber zum Beispiel auch in entsprechenden Abschnitten bei Caesar oder Cicero) vorausgesetzt wird, dass beim Erzählen Vergangenheitstempora die Norm seien, erscheint das Vorkommen des sogenannten ›historischen Präsens‹ (eine nicht sehr treffende konventionelle Benennung) erklärungsbedürftig zu sein, etwa in dem Sinne, dass es zur Lebendigkeit der Darstellung beitrage oder Spannung erzeuge.410 Aber was für die Literaturen vieler europäischer Sprachen gelten mag, trifft für die lateinische Literatur nicht zu. Denn »hier ist das Präsens das eigentliche Tempus der Erzählung«.411 So wird in der Aeneis großenteils im Präsens erzählt,412 und dies gilt auch für die 409 Dass der Serviuskommentar sich an der Geschichte vom unbestatteten Polydorus stört, könnte vielleicht einfach daran liegen, dass diese Geschichte vorher unbekannt ist. Wenn Schilderungen übernatürlicher Vorgänge von den Interpreten unterschiedlich beurteilt werden, je nachdem, ob eine entsprechende literarische Tradition bekannt ist oder nicht, so könnte dies psychologisch damit erklärt werden, dass Menschen dazu neigen, Dinge aufgrund ihrer bloßen Vertrautheit positiv zu bewerten (›mere exposure effect‹), sowie auch dazu, bereits gehörte Äußerungen (auch ohne sich bewusst daran zu erinnern, sie gehört zu haben) ungeachtet ihrer tatsächlichen Gültigkeit für wahr zu halten (›Illusion of truth effect‹). Die mythisch respektive literarisch etablierten (gewissermaßen ›legitimierten‹) übernatürlichen Geschichten werden aufgrund der Vertrautheit intuitiv weniger hinterfragt als neue. 410 Wie unzutreffend die landläufige, pauschale Interpretation der Verwendung des historischen Präsens als Dramatisierung oder Spannungssteigerung sein kann, zeigt Serbat 1975, 388 (~ Serbat 1976, 218) überzeugend an Beispielen aus dem ersten Buch von Caesars Bellum Civile. 411 So R. Kühner / C . Stegmann, Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache, Zweiter Teil: Satzlehre, Erster Band, 21914, 116, über die Verwendung des Präsens in der latei­ nischen Dichtung (»Ungleich häufiger ist das historische Präsens in der Dichtersprache. Denn hier ist das Präsens das eigentliche Tempus der Erzählung, weil seine kurzen und einfachen Formen sich dem daktylischen Metrum weit leichter fügen als die schwerfälligen und oft geradezu unmöglichen Formen des Perfekts.«). Vgl. auch Quinn 1968, 89: »the historic present is easily the commonest in the Aeneid, as it is in most types of narrative in Latin«; v. Albrecht 1970, 225: »weil im römischen Epos geradezu die Praesentia die Regel, die Perfekta die Ausnahme sind«; Pinkster 1999, 705: »The use of the historic present is normal in stories in comedy, in the fragments of preclassical historians such as Claudius Quadrigarius and in the pseudo-Ceasarian works. In longer narrative sections in Caesar and Cicero it is the most frequent narrative tense.« 412 Für Zahlen siehe Adema 2019, 46: »The present tense is, by far, the most frequent tense in the Aeneid. My analysis of the tenses in the Aeneid includes 5794 indicative tense forms and (historical) infinitives, and 3559 of these tense forms are present (61 %).«

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Erzählung des Aeneas: Über weite Strecken steht der Erzählertext im Präsens. Allerdings sind die Anfänge der einzelnen Abschnitte und Neuansätze, z. B. wenn die Schilderung sich neuen Personen zuwendet, in der Regel in Vergangenheitstempora gehalten. Das Präsens steht also nicht für sich, sondern wird durch diese anderen Tempora gewissermaßen datiert und erscheint auf diese Weise unter dem Vorzeichen der Vergangenheit.413 Außer nicht-präsentischen Verbformen haben auch Zeit- und Ortsadverbien sowie ausführlichere Zeitangaben eine solche datierende Wirkung. Neben den Anfängen werden oft auch die Abschlüsse von Sinnzusammenhängen durch Perfekta gebildet; nach direkter Rede ist dies ebenso regelmäßig der Fall.414 Insgesamt ist die Erzählung vom ständigen Wechsel von Vergangenheitstempus zu Präsens und umgekehrt geprägt, so dass die Tempuswechsel zu ihrer Strukturierung und Rhythmisierung beitragen. Am ersten Abschnitt von Aeneas’ Erzählung, Laocoons Warnung vor dem hölzernen Pferd (2,13b–53), lässt der Tempusgebrauch sich exemplarisch nachvollziehen: Nach der expliziten Erklärung des Sprechers Aeneas, mit der Erzählung anzufangen (incipiam 2,13a), beginnt die Schilderung der Vorgänge in Troia Zum Präsens in der Aeneis: Quinn 1968, 89; v. Albrecht 1970; v. Albrecht 1999, 134–141; Pinkster 1999; Adema 2019, 43–86. Allgemein zum lateinischen Indikativ Präsens siehe Serbat 1975, 367–390 (~ Serbat 1976). 413 Serbat 1975, 388 f. (~ Serbat 1976, 218 f.), spricht von ›paragraphmarkers‹, die den seiner Ansicht nach prinzipiell zeitlich neutralen lateinischen Indikativ Präsens in die Vergangenheit ›datieren‹. Adema 2019, 45 f. lehnt die Vorstellung ab, dass das lateinische Präsens keine temporale Bedeutung habe. Sie folgt der Ansicht, dass das Präsens »Gleichzeitigkeit mit dem Bezugspunkt des Sprechers« ausdrücke: »the Latin present denotes that a state of affairs is contemporaneous with the base of the speaker« (45). Zum praesens historicum als einem ›achronistischen‹ Gebrauch des Präsens vgl. Bennett 1910, 12. Nicht ganz zutreffend ist die Auffassung, das historische Präsens müsse durch Perfekta umrahmt werden, so Weinrich  21971 [1964], 294 (im ungenauen Anschluss an Bennett 1910, 14): »Bennett selber macht darauf aufmerksam, daß das Praesens historicum schon im Altlateinischen an gewisse Kontextbedingungen geknüpft ist. Es tritt gewöhnlich nur in Umrahmung durch Perfecta auf. So ist es auch noch in der klassischen Sprache.« Tatsächlich nennt Bennett mehrere verschiedene Kombinationsmöglichkeiten (a–h), und die Umrahmung durch Perfekta als eine, die im Rahmen der Kombination von historischem Präsens und Perfekt »oft« (Weinrich: »gewöhnlich«) auftrete: »As a matter of fact the historical present seldom or never occurs alone, but only in connection with the imperfect, perfect, historical infinitive, or pluperfect. (…) a) The historical present varies with the historical perfect. In combinations of this kind the perfect is often used to introduce the narration and to close it, the presents being placed in between.« Weinrich hält im übrigen das historische Präsens für ein ›Stilisticum‹ und meint es in seinem Tempussystem nicht eigens berücksichtigen zu müssen, d. h. er gibt ihm keinen Platz unter den ›erzählenden Tempora‹. Während ihm das historische Präsens also als ›nicht selbständig‹ gilt, ordnet er das Präsens insgesamt als ›besprechendes Tempus‹ ein. 414 Vgl. Quinn 1968, 92: »A common pattern is a sentence in perfects after an exciting or dramatic passage in direct speech, expressing a character’s reaction to that speech or an action taken by him at its conclusion. Usually the narrative resumes at once in the historic present«, mit Beispielen in Anm. 1.

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mit der griechischen Seite. Der Einführung des Subjekts ductores Danaum in 2,14 dienen zwei Partizipien des Perfekt (fracti, repulsi 2,13), die den mentalen Zustand der Griechen und die Einschätzung ihrer strategischen Lage als Voraussetzung für ihr im Folgenden geschildertes Handeln wiedergeben. Das Handeln selbst ist in sechs Präsentia (aedificant 2,16, intexunt 2,16, simulant 2,17, includunt 2,19 und complent 2,20 sowie condunt 2,24) ausgedrückt.415 Zwei knappe Sätze gelten dem Umstand, dass der Bau des Riesenpferdes von den Griechen als Weihehandlung ausgegeben wird (simulant 2,17), durch die sie eine sichere Heimkehr begünstigen wollen, und dass dieses Element der Desinformation die Troianer tatsächlich erreicht (fama vagatur 2,17). Eingeschoben in die Beschreibung des Vorgehens der Griechen ist die Ekphrasis der Insel Tenedos als eines relevanten Ortes (2,21 f.); sie steht im Präsens (est 2,21),416 aber ein Imperfekt (manebant 2,22) erscheint bei der Erwähnung des einstigen Reichtums dieser Insel in der Zeitangabe: während der Herrschaft des Priamus, die vom Standpunkt des Erzählers aus in der Vergangenheit liegt. Anschließend wendet die Schilderung sich mit nos als Subjekt am Versanfang in 2,25 der troianischen Seite zu.417 Als erstes steht die Annahme, dass die Griechen abgesegelt seien; sie ist in Perfektformen ausgedrückt (rati mit den dazu vorzeitigen Infinitiven abiisse und petiisse 2,25). Die Reaktion der Troianer auf die vermeintliche Abreise ist dann in drei Sätzen mit präsentischen Prädikaten (solvit 2,26, panduntur, iuvat 2,27) eher unpersönlich formuliert, so dass die Troianer als Subjekt, das sie dem Sinn nach sind, nicht genannt werden: Ganz Teucrien löst sich von der langen Niedergeschlagenheit, die während der Belagerung herrschte, die Stadttore stehen offen und es bereitet Vergnügen, das verlassene Gelände zu betreten und zu betrachten. Einzelne Orte (von Lagern, Schiffen, Kämpfen) werden rückblickend bestimmt, wobei die Verbindung aus dem Ortsadverb hic mit zwei Imperfekta (tendebat 2,29, solebant 2,30) den räumlich-zeitlichen Zusammenhang zum Ausdruck bringt: Wie schon bei der 415 Zu den Tempora am Anfang von Aeneas’ Erzählung äußert sich auch: Adema 2019, 1–2. 12.  416 In dieser Ekphrasis steht Präsens, weil die Insel Tenedos zum Zeitpunkt des Erzählens noch besteht; vgl. im Kontrast dazu die Verwendung des Imperfekts in Bezug auf den Palast des Priamus (limen erat… 2,453–457) und des Perfekts in Bezug auf den Altar und den Lorbeerbaum im Innenhof des Palastes (2,512–514). Auch den Hügel, in dessen Gestrüpp der Leichnam des Polydorus liegt, gibt es nach der ordnungsgemäßen Bestattung nicht mehr in derselben Form (forte fuit iuxta… 3,22 f.), wohingegen geographische Gegebenheiten wie die Strophaden und ihre grausigen Bewohner (Strophades Graio stant nomine dictae… 3,210–218a), der Hafen von Castra Minervae (3,533–536), sowie die Küste unterhalb des Ätna (3,570–582) in der Fiktion zum Zeitpunkt des Erzählens (und darüber hinaus) Bestand haben. (Die Varianz von Imperfekt und Perfekt bei esse in diesen Ekphraseis würde ich mit den prosodischen Erfordernissen erklären: erat steht nach Konsonant und fuit nach Vokal.) 417 Vgl. Otis 1964, 43: »The Virgilian narrative shifts the sentence subject as little as possible.«

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Ekphrasis der Insel Tenedos ergibt sich eine zeitliche Differenz am selben Ort; bei Tenedos besteht die Differenz zwischen der Zeit der geschilderten Vorgänge und der Zeit der Erzählung; bei dem Gelände vor den Stadttoren besteht die Differenz zwischen dem Auffinden des leeren Geländes durch die Troianer und dem der beschriebenen Situation vorausgehenden Belagerungszustand.418 Mit Ausnahme dieser beiden Erwähnungen vergangener Zustände im Imperfekt und der jeweils die Schilderung einer jeden Seite einleitenden, Voraussetzungen für ihr Handeln bezeichnenden Perfekta steht die Erzählung durchgängig im Präsens. Dies wird für die Schilderung der Diskussion der Troianer über das hölzerne Pferd und den Auftritt des Laocoon weiter beibehalten (stupet 2,31, mirantur 2,32, hortatur 2,33, iubent 2,37, scinditur 2,39, decurrit 2,41). Lediglich die Äußerung einer Vermutung über den Grund für den Vorschlag des Capys, das Pferd in der arx aufzustellen, die der Perspektive des erzählenden Aeneas entspricht, erscheint im Imperfekt (ferebant 2,34). Nach Laocoons wörtlicher Rede allerdings wird die bis dahin im Präsens geschilderte Szene im Perfekt zu Ende geführt (fatus 2,50, contorsit, stetit 2,52, dedere 2,53). Die Verwendung der Tempora in dem betrachteten Abschnitt ist typisch für die gesamte Erzählung des Aeneas: Zur Einführung der Ausgangssituationen dienen Vergangenheitstempora, die Schilderung des eigentlichen Geschehens erfolgt im Präsens, wird aber im Perfekt zum Abschluss gebracht. Insgesamt stellt sich der Tempusgebrauch in Aeneis 2–3 empirisch betrachtet419 folgendermaßen dar: 418 Im zweiten Fall (Erwähnung von Dingen, die nicht mehr vorhanden sind) drückt das Imperfekt einen vergangenen Zustand aus; das Konzept der ›Gleichzeitigkeit‹ (zum Ausdruck von Gleichzeitigkeit durch das Imperfekt vgl. v. Albrecht 1999, 138) spielt hier keine Rolle. Vgl. die Definition des Imperfekt von Quinn 1968, 93, der den durativen Aspekt betont: »The force of the Latin imperfect is more easily defined. This tense is used of a past action the duration of which is regarded as significant by the speaker; where the duration of the event is not regarded as significant, the perfect is used.« 419 Hierauf wird sich beschränkt und bewusst kein Modell des lateinischen Tempussystems entworfen. Zu dieser Methode vgl. v. Albrecht 1970, der konstatiert, dass der Tempusgebrauch sehr frei sei, und so weit geht, dafür zu plädieren, der »Textinterpretation den Vorrang vor fertigen Klischeevorstellungen« zu geben und »bei jedem Autor (…) das Tempussystem werkimmanent zu analysieren«, 224 f.; siehe auch: v. Albrecht 1999, 134–141. Einen terminologisch aufwendigen Versuch einer Beschreibung des Tempusgebrauchs in der (gesamten) Aeneis unternimmt Adema 2019: Sie unterscheidet zwei zeitliche Bezugspunkte (›base in time of narration‹ und ›base in reference time‹: 9–22), vier verschiedene Diskursmodi (›narrative mode‹, ›description mode‹, ›report mode‹, ›information mode‹: 22–34) sowie eine nicht näher bestimmte Anzahl von ›types of state of affairs‹ (z. B. ›event‹, ›event anterior to reference time‹, ›situation‹, ›frame‹, ›start of situation‹, ›situation anterior to reference time‹, 20) und appliziert dieses terminologische Instrumentarium anhand von Textbeispielen aus der Aeneis auf die lateinischen Tempora. In methodischer Hinsicht problematisch ist daran, dass für die Zuordnung eines Textabschnittes oder auch einer einzelnen Verbform aus der Aeneis sowohl zu einem der vier Diskursmodi als auch zu einem der ›types of state of affairs‹ keine hinreichenden

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Das Präsens ist für große Teile des Erzählertexts420 das Haupttempus der Erzählung in dem Sinne, dass das Hauptgeschehen überwiegend in Präsensformen wiedergegeben ist. In Relation dazu oder besser: im Zusammenspiel damit werden folgende Tempora wie folgt verwendet: 1. Zum Hauptgeschehen vorzeitige, abgeschlossene Ereignisse oder Handlungen werden durch Perfekta ausgedrückt. Solche Perfekta finden sich regelmäßig am Beginn von Abschnitten, wo einleitend über Vorausgehendes informiert wird.421 Oft erscheinen sie als Partizipien oder sie bilden in finiten Formen die Prädikate von mit ut,422 ubi,423 cum424 oder postquam425 eingeleiteten Temporalsätzen; häufig stehen in solchen Einleitungen mehrere Perfekta, bevor zum Präsens übergegangen wird. 2. Sinnzusammenhänge werden abschnittsweise regelmäßig im Perfekt zu Ende geführt. Dieses abschließende Perfekt steht auch häufig nach Abschnitten in direkter Rede. Wendepunkte im Geschehen können ebenfalls durch Perfekta markiert werden.426 Kriterien etabliert werden: Sie ist weitgehend Auslegungssache. So wird z. B. die Schilderung der Tätigkeiten verschiedener Gruppen von Tyrern beim Bau ihrer neuen Stadt (1,421–429) als ›description‹ gehandelt, weil eine Abfolge ausschließlich räumlich aufeinander bezogener Situationen vorliege. Die entsprechende ›Definition‹ lautet: »When a sequence consists exclusively of situations that are presented as having spacial relation, this sequence is presented in the description mode«, 65. Folglich handelt es sich bei den Diskursmodi und den ›types of state of affairs‹ nicht um objektive Beschreibungkategorien. Dennoch geht bei Adema die Zuordnung nicht nur weitgehend unhinterfragt und unbegründet vonstatten, sondern eben auch durch die Verwendung der Terminologie der Textanalyse voraus. Dadurch entsteht ein falscher Eindruck von Objektivität. Kategoriale Unschärfe ergibt sich auch, wenn einerseits der ›narrative mode‹ auf einer Ebene mit den drei übrigen Diskursmodi (›description mode‹, ›report mode‹, ›information mode‹) angeordnet wird, andererseits aber ›narrative text‹ und ›narrative style‹ dem übergeordnet werden – hier wäre zu klären gewesen, was unter ›narrative‹ (jeweils) zu verstehen sein soll. 420 Figurenrede bezieht sich auf den erzählten Zeitpunkt des Sprechens und folgt der Consecutio temporum. 421 Vgl. v. Albrecht 1999, 138. 422 ut mit Perfekt: 2,67; 2,519; 2,531; 2,561; 3,53; 3,306. 423 ubi mit Perfekt: 2,347; 2,471 (im Gleichnis); 2,634; 2,790; 3,238; 3,596. 424 cum mit Perfekt: 2,223 (im Gleichnis); 2,496 (im Gleichnis); 2,589; 2,731; 3,137; 3,679 (im Gleichnis). 425 postquam mit Perfekt: 3,1; 3,57; 3,192; 3,213 (in Ekphrasis); 3,463, 3,662. 426 Die Schilderung von Sinons Auftritt (2,57–198) wird durch ein Imperfekt (trahebant 2,58) mit einem dazu vorzeitigen Plusquamperfekt (obtulerat 2,61) eingeleitet und hat einen markanten Abschluss in konstatierendem Perfekt (credita, capti, domuere 2,195–198). Sieht man von den Abschnitten in Personenrede ab, steht sonst durchgehend Präsens, mit nur einer, allerdings markanten Ausnahme: Diese Ausnahme markiert den entscheidenden Punkt der Entwickung des Geschehens kurz vor seinem Abschluss: nämlich nach der einzigen direkten Rede des Priamus und vor der letzten, inhaltlich entscheidenden direkten Rede des Sinon: Hier wird die Rede des Priamus mit Plusquamperfekt abge-

Die Tempora der Verben in Aeneis 2–3  

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3. Imperfekt steht, wenn vorzeitig zum Hauptgeschehen begonnene Vorgänge oder Handlungen geschildert werden, die entweder fortdauern oder aber (abrupt) durch das Hauptgeschehen unterbrochen werden.427 So können umfänglichere Hintergrundszenarien entworfen428 oder reliefierende Feinabstimmungen vorgenommen werden.429 In diese Kategorie fällt auch der Gebrauch des Imperfekts in Zeitangaben sowie in den Beschreibungen kosmischer Vorgänge.430 4. Imperfekt wird außerdem verwendet, um Zustände zu beschreiben, die aus Figuren- oder Erzählerperspektive nicht mehr bestehen und also der Vergangenheit angehören; auch in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum oder wiederholt ausgeübte Tätigkeiten konstituieren solche ›ehemaligen Zustände‹.431 schlossen (dixerat 2,152) und Sinons emphatische, seine Rede begleitende Geste (er hebt seine nicht mehr gefesselten Hände im Schwur zum Himmel) steht im Perfekt (sustulit 2,153). 427 Imperfekt zur Bezeichnung einer Handlung, die vorzeitig begonnen wurde und durch eine andere Handlung (cum mit Perfekt oder Präsens) abrupt unterbrochen wird: trahebant 2,58; mactabat 2,202; ibat 2,254; ferebat 2,344; trahebatur 2,403; iactabant 2,459; sedebant 2,517; optabam, petebam 2,636; propinquabam, videbar 2,730; iubebat 3,9; ferebam 3,19; mactabam 3,21; dabam 3,137 (→ cum vēnit); vocabat 3,269; libabat, vocabat 3,303; fundebat, ciebat 3,344 (→ cum sese affert); iubebat 3,472; haerebat 3,608. 428 Hintergrundszenario im Imperfekt: 2,672–679 (insertabam 2,672, ferebam 2,672, haerebat, tendebat 2,674, replebat 2,674); es folgt cum subitum mit Präsens (oritur 2,680). 2,801–803 (surgebat 2,801, ducebat, tenebant 2,802, dabatur 2,803); es folgt ein Abschluss im Perfekt (cessi, petivi 2,804). 3,140–142 (linquebant 3,140, trahebant 3,140, arebant 3,142, negabat 3,142). 429 Eine perspektivische Feinabstimmung entsteht z. B. durch den Gebrauch von zwei Imperfekten beim Angriff der Seeungeheuer: Die Verben, in denen ihr Erscheinen beschrieben wird, stehen zunächst im Präsens (2,203–209a: incumbunt, tendunt, superant, legit, sinuat, fit); dann folgen in 2,209 und 2,211 zwei Imperfektformen (tenebant, lambebant) für das Verhalten der Seeungeheuer als ›Hintergrund‹ für das Weglaufen der Troianer, das wieder im Präsens ausgedrückt ist (2,212: diffugimus). 430 Imperfekt in Zeitangaben und zur Beschreibung kosmischer Gegebenheiten: nox erat et terris animalia somnus habebat 3,147; fundebat luna 3,152; necdum orbem medium Nox Horis acta subibat 3,512; et lunam in nimbo nox intempesta tenebat 3,587; postera iamque dies primo surgebat Eoo 3,588. 431 Imperfekt zur Beschreibung eines Zustands, der aus der Erzählerperspektive der Vergangenheit angehört: manebant 2,22: Reichtum der Insel Tenedos zur Zeit der Herrschaft des Priamus; ferebant 2,34: mögliches Wirken des Schicksals; erat, manebant, solebat, trahebat 2,453–457: Der besondere Zugang zum Priamus-Palast; erat, videbar, manabat 3,173–175: Reaktion auf die Penatenerscheinung; accipiebat, libabant, tenebant 3,353–355: Gastliche Aufnahme der Troianer durch Helenus. Imperfekt zur Beschreibung eines Zustands, der aus der Figurenperspektive der Vergangenheit angehört: tendebat 2,29: Örtlichkeiten im Griechenlager; solebant 2,30: Schauplatz der Schlachten; movebant 2,726: Unerschrockenheit des Aeneas, solange allein unterwegs; 3,140–146: linquebant, trahebant, arebant, negabat: Die Auswirkungen der Seuche auf Kreta; monstrabat 3,690: Wegweisung durch Achaemenides.

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5. Vorzeitigkeit zu Perfekt oder Imperfekt wird durch Plusquamperfekt ausgedrückt. 6. Rede-Einleitungen stehen in der Regel im Präsens, Redeausleitungen hingegen in einem Vergangenheitstempus.432 Eine nur scheinbare Abweichung von dem skizzierten Tempusgebrauch stellt der Abschnitt über den Tod des Priamus (2,507–553) dar, bei dem das Perfekt als Grundtempus verwendet ist. Der besondere Status dieses Abschnittes als Einschub wurde bereits im einleitenden Kapitel aufgezeigt. In Übereinstimmung mit dem skizzierten Tempusgebrauch kann der Einschub aber auch insgesamt als erzählerischer Abschluss einer größeren Sinneinheit verstanden werden: Innerhalb von Aeneas’ Erzählung bringt er das Thema ›Letzter Kampf um Troia‹ (und damit sogar das übergeordnete, ganz große Thema ›Krieg um Troia‹) zum Abschluss. Grundsätzlich betrachtet passt dazu, dass Vergangenheitstempora eine Instanz voraussetzen, die eine zeitliche Distanz zwischen der unter Verwendung dieser Vergangenheitstempora gemachten Äußerung und der darin berichteten Verbalhandlung wahrnimmt und ausdrückt. In narrativen Zusammenhängen implizieren sie also einen Erzähler und den Umstand, dass erzählt wird.433 Wenn in der Aeneis präsentische Abschnitte durch Vergangenheitstempora eingeleitet und zusammengefasst werden (s. o.) wird dadurch vor allem der Bericht als Bericht oder die Erzählung als Erzählung markiert. Unweigerlich entsprechen in der Erzählung des Aeneas die Perfektformen stärker der retrospektiven Erzählerperspektive, weil sich in ihnen eine zeitliche Distanz zwischen der Zeit des Erzählens und dem erzählten Geschehen ausdrückt. Bei den Präsensformen fehlt diese Distanz; sie sind insofern dem Geschehen in der Figurenperspektive näher.434 Eine derartige Differenzierung zeigt sich zum Beispiel in der Schilderung der Ereignisse um das Entschwinden der Creusa: Hier stehen die Überlegungen darüber, was mit ihr geschehen sein könnte, im Perfekt (2,736–746: Reflexion

432 Quinn 1963, 232, Anm. 1; Adema 2019, 49: »At the end of direct speech, the perfect tense is preferred to the present tense to indicate that the speech is finished, even when other states of affairs in its environment are presented by present tense forms.« Zu Rede-Einleitungen und Rede-Ausleitungen siehe auch: 9.1. Wenn eine Rede sowohl eine Rede-Einleitung (im Präsens) als auch eine Rede-Ausleitung (in einem Vergangenheitstempus) hat, scheint mir im einleitenden Präsens die Sprechhandlung als Teil des Geschehens betont zu werden, während das ausleitende Vergangenheitstempus die wörtliche Rede und das in ihr Gesagte innerhalb der Erzählung formal abschließend und retrospektiv einordnet. 433 Vgl. die berühmte Apposition im Vorsatz zu Thomas Mann, Der Zauberberg: »den Erzähler, den raunenden Beschwörer des Imperfekts«. 434 Diese Beobachtung scheint mir den Tempusgebrauch in Aeneis 2–3 besser zu erklären als das System von Adema 2019 mit dem Konzept der Pseudo-Gleichzeitigkeit, z. B. im Kapitel »pseudo-simultaneous narrative«, 54–64.

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in der Erzählerperspektive), die Schilderung der Suche nach ihr im Präsens (2,747–767a Figurenperspektive)  und die Schilderung ihrer Erscheinung, die ihre wörtliche Rede (2,776–789) rahmt, den erzählerischen Zusammenhang abschließend, im Perfekt.435 Eine perspektivische Differenzierung durch den Tempusgebrauch lässt sich auch innerhalb des Abschnitts über den Tod des Priamus beobachten. Von dem Grundtempus Perfekt heben sich hier diejenigen Verben ab, die das plötzliche, mit ecce eingeleitete Erscheinen von Polites und seine Tötung durch Pyrrhus schildern: Sie stehen im Präsens (2,526–530). Damit werden gerade die besonderen Voraussetzungen der vergilischen Version für den Tod des Priamus in der Figurenperspektive eingeführt.436 Das heißt: Ausgerechnet hinsichtlich der in der Überlieferung sonst nicht belegten Umstände der Tötung des Priamus lässt der Wechsel zu den präsentischen Verben den Erzähler zurücktreten. Ohne vermittelnde Instanz werden sie präsentiert als diejenige Situation, in der die Figuren sich plötzlich befinden. Genau so unvermittelt wird diese Situation den Rezipienten als gegeben präsentiert.

7.4 Zur narrativen Funktion von ecce Die Erzählung in Aeneis  2–3 ist auf vielerlei Weise in kleinere Einheiten gegliedert und dadurch strukturiert. Zunächst bewirkt jede Unterbrechung der Schilderung von Geschehen einen Einschnitt, so bei Rekursen auf den Erzählvorgang, bei ausführlicheren Zeit- und Ortsangaben, bei Erzählerkommentaren und bei Figurenrede (mit Ein- und Ausleitung). Oft werden Neueinsätze auch durch rückweisende Demonstrativa (wie z. B. his lacrimis 2,145, talibus insidiis 2,195) markiert oder durch einen Subjektwechsel unter pronominaler Nennung des neuen Subjekts (wie z. B. nos 2,25, ille 2,220, illa 2,240). Als weiteres Mittel der sprachlichen Gliederung dienen Adverbien, durch welche die geschilderten Vorgänge zueinander in ein bestimmtes semantisches Verhältnis gesetzt werden (wie z. B. huc 2,24, ibi 2,40, ecce 2,57, tum vero 2,105).437 Bei der vergilischen Iliupersis sticht vor allem die Verwendung von ecce hervor. In Aeneis  2 fällt nämlich auf, dass ecce vergleichsweise häufig steht, und zwar durchschnittlich alle 100,5 Verse. Mit acht Stellen ist das Vorkommen hier deutlich höher als in den übrigen Büchern: fünf Mal in Buch 10, je vier Mal in den Büchern 5 und 6, je drei Mal in den Büchern 3, 11 und 12, je zwei Mal in

435 Vgl. 9.2.10–11. 436 Hierzu siehe auch: 9.2.7. 437 Verwendet werden insbesondere die Zeitadverbien tum, tunc, iam, interea, vix sowie die Ortsadverbien ecce, hic.

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den Büchern 7 und 8, ein Mal in Buch 9 und kein Mal in Buch 1.438 Im Mittel kommt ecce in der Aeneis pro Buch 3,08 Mal vor. In den Büchern, in denen der extradiegetische Erzähler spricht (Aeneis 1 und 4–12), liegt das mittlere Vorkommen pro Buch bei 2,6. Demgegenüber liegt in den Büchern, in denen der intradiegetische Erzähler Aeneas spricht (Aeneis 2–3), das mittlere Vorkommen pro Buch deutlich höher, nämlich bei 5,5. Hierzu trägt natürlich insbesondere die hohe Zahl von acht Verwendungen von ecce im zweiten Buch bei. Aber auch die Frequenz von drei Mal ecce im dritten Buch liegt über dem Mittel der Bücher außerhalb der Erzählung des Aeneas. Berücksichtigt man ferner, dass die Bücher, in denen Aeneas erzählt (Aeneis 2–3), mit 750439 Versen im Mittel gegenüber 839,4 Versen im Mittel der übrigen Bücher (Aeneis 1 und 4–12) zu den kürzeren Büchern der Aeneis gehören, wird der Unterschied noch beträchtlicher. Während ecce im Text des intradiegetischen Erzählers Aeneas durchschnittlich alle 136,36 Verse vorkommt440, steht es im übrigen Text nur alle 322,84 Verse. Wenn man also den Stil des Erzählers Aeneas mit demjenigen des epischen Erzählers vergleicht, so kann man die Vorliebe für ecce als Charakteristikum des ersteren ausmachen. Aber was bedeutet ecce eigentlich? Und was bedeutet das vergleichsweise häufige Vorkommen von ecce im zweiten Buch? Schulmäßig wird ecce441 mit ›sieh da!‹ oder ›da ist‹ ins Deutsche übersetzt.442 Das sprichwörtlich gewordene ecce homo des Pilatus aus dem Johannesevangelium der Vulgata (Joh. 19,5)443 ist klassisch konstruiert: ecce mit Nominativ, wie es seit Cicero üblich ist.444 Es steht hier ohne Verb, als ›deiktische Interjektion‹.445 Übersetzungen mit ›siehe‹ oder ›schau‹ sind traditionell. Sie sind offensichtlich von der Gleichsetzung mit dem in der Septuaginta sehr häufig vorkommenden griechischen Adverb ἰδού sowie etymologischen Überlegungen, welche dieses mit ἰδοῦ, dem Imperativ Aorist Medium zu *εἴδω, in Verbindung bringen, beeinflusst.446 Bei der Übersetzung

438 1: –; 2: 8× [2,57. 2, 203. 2,270. 2,318. 2,403. 2,526. 2,673. 2,682]; 3: 3× [3,219. 3,477. 3,687]; 4: 2× [4,152. 4,576]; 5: 4× [5,167. 5,324. 5,793. 5,854]; 6: 4× [6,46. 6,255. 6,337. 6,656]; 7: 2× [7,286. 7,706]; 8: 2× [8,81. 8,228]; 9: 1× [9,417]; 10: 5× [10,133. 10,219. 10,322. 10,377. 10,570]; 11: 3× [11,226. 11,448. 11,547], 12: 3× [12,319. 12,650. 12, 672]; Aeneis ingesamt: 37×. 439 Gezählt ohne Helena-Szene, zur Aussonderung siehe 11. (Mit Helena-Szene, in der ecce nicht vorkommt, wären es gemittelt 761 Verse.) 440 Aeneis 2: ecce alle 97,5 Verse; Aeneis 3: ecce alle 239,33 Verse. 441 Die Etymologie ist umstritten, vgl. Walde-Hofmann 41965, 390. 442 So findet es sich z. B. in: R. Vischer, Lateinische Wortkunde, Stuttgart: 21989, s.v. 443 Joh. 19,5: ἰδοὺ ὁ ἄνθρωπος. 444 Bis Terenz ist ecce mit dem Akkusativ belegt, vgl. OLD, s.v. 445 Vgl. H. Menge, Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik, Völlig neu bearbeitet von Th. Burkard und M. Schauer, Darmstadt 2000, 299. 446 Dionisotti 2007, 78. 83.

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von ecce ins Deutsche ist aber ein Verb des Sehens zumeist entbehrlich: Es reicht ›da‹, allenfalls ergänzt um eine Form der dritten Person von einem Verb wie ›sein‹, ›kommen‹ oder ›erscheinen‹. Außer als deiktische Interjektion kann ecce auch als Adverb verwendet werden, das in narrativen Zusammenhängen ein neues Ereignis einführt. Es entspricht dann im Deutschen am ehesten einem ›da‹ oder ›schon‹. (Die hier ebenfalls anzutreffenden Übersetzungen mit ›siehe da‹ blähen die Sätze, die ja vollständig sind und eines zusätzlichen Verbs nicht bedürfen, unnötig auf. Dennoch scheinen sie zur deutschen Übersetzungstradition zu gehören.) Laut TLL steht ecce, wie auch die Junktur ecce autem, in dieser Verwendung am Satzanfang und begegnet vor allem in epischer Erzählung.447 Auch das OLD, das ecce als Interjektion bezeichnet, kennt den adverbiellen Gebrauch von ecce: in lebhafter Erzählung, ein neues, in der Regel plötzliches oder überraschendes Ereignis einführend.448 Im ›Georges‹ wird ecce zwar als Adverb gekennzeichnet, die meisten Beispiele betreffen aber ecce als Interjektion, ohne Verb.449 Der Gebrauch von ecce in narrativem Kontext wird nicht eigens erfasst. Allerdings wird ecce tibi exortus est Isocrates (Cic. de orat. 2,94) mit »da trat plötzlich Isokrates auf« wiedergegeben. Das nächste Beispiel, ecce trahebatur Priameia virgo (Aen. 2,403), bleibt unübersetzt und soll wohl analog verstanden werden. Die unterschiedliche Einordung von ecce hinsichtlich der Wortart in OLD (»interj.«) und ›Georges‹ (»Adv.«) erstaunt, zumal die Gewichtung der Beispiele in beiden Fällen gerade die jeweils andere Einordnung nahezulegen scheint. Wenn man grundsätzlich zwischen der Verwendung in einem Satz ohne Verb (als deiktische Interjektion) und der Verwendung in einem Satz mit Verb (als Adverb mit der Funktion einer adverbialen Bestimmung) unterscheidet, so stellt man fest, dass in der Aeneis beides begegnet, ecce als deiktische Interjektion und ecce als Adverb, dass aber die adverbielle Verwendung bei weitem überwiegt. 447 TLL V,2, fasc.1, Sp. 29: »-e, (e. autem) in initio sententiae positum per se novam partem incipit (maxime in narratione epica)«; zur Junktur ecce autem nochmal: Sp. 31. Dieser klaren Anwendungsbeschreibung nicht achtend Dionisotti 2007, 75: »the TLL… is so interested in its (d. i. des Wortes ecce) paternity…that its role in the Latin literary language seems to be a non issue.« 448 OLD, s.v., no 4: »(in a vivid narrative, also ~ autem, introducing a new event, usu a sudden or suprising one) Lo and behold!« Die Übersetzung ›Lo and behold!‹ scheint etwas überkandidelt. Cf. die Beobachtung von Dionisotti 2007, 83, dass die traditionelle Übersetzung ins Englische ›See! etc.‹ laute, weil dem Englischen ein Wort wie dt. ›da‹, ital. ›ecco‹, frz. ›voici / voilà‹, die als Entsprechungen für ecce taugen, fehle. Hierzu ist allerdings anzumerken, dass frz. ›voici / voilà‹ von ›voyer‹ (> voyer: vois-ci/-la) auch nichts anderes als ein ›See!‹ darstellt. 449 Georges, Lateinisch-Deutsch / Deutsch-Lateinisch, 31959 (vgl. Georges-LDHW Bd. 1, 2328 f.). Die Neuauflage des ›Georges‹ unterscheidet sich von der herkömmlichen Version lediglich dadurch, dass die Bedeutungen ›da‹, ›siehe da‹, ›gib Acht da‹ durch Fettdruck hervorgehoben ins Auge springen.

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Die Erzählung in Aeneis 2–3

Sie liegt in 33 von insgesamt 37 Fällen vor. Von den vier Fällen, in denen ecce in Sätzen ohne Verb erscheint, stehen zwei innerhalb von Katalogen (7,706. 10,133) und zwei innerhalb von kürzerer (nicht erzählender) Figurenrede (3,477. 6,46). Von den 33 Verwendungen von ecce in Sätzen mit einem Prädikat stehen zehn innerhalb der Erzählung des Aeneas, und zwar acht in Buch 2 und zwei in Buch 3. Besonders an den Vorkommen von ecce in Aeneis 2 kann man sehr gut beobachten, wie das deiktische Moment bei der adverbiellen Verwendung im narrativen Kontext gegenüber der Verwendung als Interjektion vom direkten lokalen, fast fingerzeigenden Hinweis weg und hin auf die Ebene der Erzählung verschoben ist. Ecce hat dann die Funktion, die Aufmerksamkeit in eine neue Richtung im erzählten Raum, auf einen neuen Gegenstand der Erzählung zu lenken, nämlich dorthin, wo etwas geschieht. So markiert ecce den Beginn neuer Ereignisse, die als unvermutet und plötzlich eintretend charakterisiert werden sollen.450 Die häufige Verwendung des Wortes im zweiten Buch der Aeneis entspricht dem lebhaften Gang der geschilderten Ereignisse, einem Geschehen, das viele Wendungen aufweist. In Aeneis 2 ist es darüber hinaus so, dass das durch ecce eingeführte Neue das weitere Geschehen stets entscheidend bestimmt. In sechs Fällen handelt es sich jeweils um eine Person, die entweder neu in das Geschehen eintritt oder erstmals aktiv wird, nachdem sie vorher bereits anwesend war (so bei Creusa in 2,673). Außerdem werden die beiden Seeungeheuer, die sich vom Meer her Laocoon nähern, mit ecce eingeführt sowie das Feuer, das um Ascanius’ Kopf züngelt, ohne ihn zu verletzen. ecce in der Erzählung des Aeneas: [1] 2,57 ecce manus iuvenem interea post terga revinctum | pastores magno ad regem clamore trahebant | Dardanidae: Die Hirten schleppen Sinon herbei, der die Anregung gibt zu der fatalen Entscheidung, das hölzerne Pferd in die Stadt zu ziehen. Ecce leitet die Schilderung der Handlung bisher nicht erwähnter Figuren ein. [2] 2,203 ecce autem gemini a Tenedo tranquilla per alta | (horresco referens) immensis orbibus angues | incumbunt pelago pariterque ad litora tendunt: Die Seeungeheuer erscheinen und töten den Warner Laocoon und dessen Söhne. Ecce leitet die Schilderung der Handlung bisher nicht erwähnter Figuren ein.

450 Vgl. Tiberius Claudius Donatus zu 2,526: »ecce« ubicumque Vergilius ponit, aliquod malum repentinum et insperatum significat; dies zitierend verweist Salvatore 1968, 70, Anm. 76, auf 2,57; 2,203; 2,270 und 2,318. Gransden 1985 beobachtet die relative Häufigkeit von ecce in Aeneis 2 ebenfalls und schreibt ihm eine Signalfunktion zu: »He (scil. Sinon) is introduced by the signal word ecce. It is the story-teller’s signifier for ›And what happened then?‹«, 63, mit Anm. 6: »Ecce occurs eight times in book 2, more often than in any other book of the Aeneid. It signals the appearance in the narrative of Sinon, the snakes, Hector, Panthus, Cassandra, Polites, Creusa, and the flames round the head of Iulus.« Auch Bowie 2008, 43, beobachtet den elfmaligen Gebrauch von ecce in Aeneis 2–3; für ihn zählt er zu einer Reihe von »einfachen Mitteln, die der Erzählung Lebhaftigkeit verleihen«, deren Verwendung Aeneas als kunstfertigen Erzähler kennzeichne.

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[3] 2,270 in somnis ecce ante oculos maestissimus Hector | visus adesse mihi largosque effundere fletus: Als Traumerscheinung verkündet Hector, dass Troia nicht mehr zu retten ist und dass Aeneas die troianischen Penaten vor dem Feind retten und für sie eine neue Heimstatt suchen soll. Mit ecce wird die Schilderung der Erscheinung einer Person im Traum eingeleitet. Hier ist deutlich zu erkennen, dass ecce keine konkrete deiktische Funktion hat, denn einen Traum kann außer dem Träumenden selbst niemand »sehen«. [4] 2,318 ecce autem telis Panthus elapsus Achivum, | Panthus Othryades, arcis ­Phoebique sacerdos, | sacra manu victosque deos parvumque nepotem | ipse trahit cursuque amens ad limina tendit: Panthus kommt mit den Penaten aus der umkämpften Stadt und schildert die Lage. So bestätigt er das, was Hector in der Traumerscheinung gesagt hat, und legt mit der Übergabe der Penaten die Grundlage für die Ausführung von Hectors Auftrag, weckt aber bei Aeneas zunächst den Willen zur Verteidigung. Ecce leitet die Schilderung der Handlung einer bisher nicht erwähnten Figur ein. [5] 2,403 ecce trahebatur passis Priameia virgo | crinibus a templo Cassandra adytisque Minervae: Cassandra, die von Griechen weggezerrt wird und deren Anblick Coroebus zum Eingreifen veranlasst, wodurch die Maskierung der Troianer als Griechen offenbar wird. Ecce leitet die Schilderung der Behandlung einer neu hinzutretenden Figur durch weitere neu hinzutretende Figuren ein. [6] 2,526 ecce autem elapsus Pyrrhi de caede Polites, | unus natorum Priami, per tela, per hostis | porticibus longis fŭgit et vacua atria lustrat / saucius: Polites’ Tod vor Priamus’ Augen veranlasst diesen zu dem für ihn tödlichen Zweikampf mit Pyrrhus. Ecce leitet die Schilderung der Handlung einer bisher nicht erwähnten Figur ein. [7] 2,673 ecce autem complexa pedes in limine coniunx | haerebat, parvumque patri tendebat Iulum: Creusa. Als Aeneas erklärt, dass er nicht ohne Anchises fliehen werde, und zurück in die Stadt stürmen will, hält sie ihn zurück. Ecce leitet die Schilderung der Handlung einer bereits anwesenden, aber am zuvor geschilderten Gespräch nicht beteiligten Figur ein. [8] 2,682 ecce levis summo de vertice visus Iuli | fundere lumen apex: Die Flamme, die über Ascanius’ Scheitel züngelt: Sie wird von Anchises als Zeichen dafür gedeutet, dass es auch ihm bestimmt ist, Troia zu verlassen. Ecce leitet die Schilderung eines plötzlich eintretenden wundersamen Geschehens ein. [9] 3,219b ecce | laeta boum passim campis armenta videmus: Viehherden. Den Troianern fallen die Rinder ins Auge. Ecce leitet die Schilderung einer sinnlichen Wahrnehmung ein, die das weitere Handeln der Wahrnehmenden bestimmt: »Da erblickten wir Viehherden…« [10] 3,477 coniugio, Anchisa, Veneris dignate superbo, / cura deum, bis Pergameis erepte ruinis | ecce tibi Ausoniae tellus: hanc arripe uelis: Italien. Helenus nennt Anchises, der die Schiffe bereit machen lässt, ausdrücklich das Ziel der Fahrt. Ecce steht hier (innerhalb der direkten Rede) ohne Verb. Es hat deiktische Funktion. [11] 3,687 ecce autem Boreas angusta ab sede Pelori | missus adest: Der Wind Boreas (Personifikation) tritt auf. Ecce führt eine bisher nicht erwähnte Figur ein, die ein meteorologisches Geschehen personifiziert.

Hat man sich von der dominanten biblischen ›siehe da‹-Tradition gelöst und erkannt, wie ecce in Erzähltexten gebraucht wird, so ist man davor gefeit, das

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deiktische Moment überinterpretieren und die Verwendung des Wortes etwa als Hinweis auf eine Augenzeugenschaft des Erzählers lesen zu wollen.451 Wie ecce kann auch tum in narrativen Texten mit ›da‹ zutreffend ins Deutsche übersetzt werden. In der Aeneis ist an der Verwendung der beiden Wörter auffällig, dass die hohe Frequenz von ecce im zweiten Buch mit einer vergleichsweise niedrigen Frequenz von tum einhergeht:452 1

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Während ecce ein aus der Sicht der erlebenden Figuren unvorhergesehenes, plötzliches Ereignis einführt, durch das die zuvor geschilderte Situation verändert wird, dient tum dazu, ein Ereignis oder eine Aktion innerhalb des geschilderten Zusammenhangs einem Zeitpunkt zuzuordnen (›da‹, ›zu diesem Zeitpunkt‹ oder auch, mit stärkerer Betonung der Erzählerperspektive, ›damals‹). Dabei stellt tum in der Regel ein zeitliches Verhältnis zu der Situation her, die sich aus dem direkt zuvor Geschilderten ergibt. An einer Stelle in Aeneis 2 drückt das durch tum hergestellte zeitliche Verhältnis zugleich eine ursächliche Beziehung aus: [9] 2,697b tum longo limite sulcus | dat lucem: Als (physikalische) Wirkung der Lichterscheinung, die vom Himmel über dem Dach zum Berg Ida zeigt, hinterlässt sie eine helle Spur (die den Weg weist).

Acht Mal in Aeneis 2 leitet tum in Verbindung mit einem Subjektwechsel die Schilderung der Reaktion von Personen auf etwas gerade Vorausgegangenes ein (›da‹, ›darauf‹). Das zeitliche Verhältnis zu dem knapp früheren, beinahe gleichzeitigen Geschehen, auf das direkt reagiert wird, hat in diesen Fällen implizit eine inhaltliche Komponente, jedoch ohne dass ein kausaler oder logischer Zusammenhang ausdrücklich benannt würde: 451 Gar nicht wenige sehen in ecce ein Anzeichen für Augenzeugenschaft, vgl. z. B.: Horsfall 2008, 402: »403 ecce Cf. 57, 203, 270. The whole narrative breathes the immediacy of direct, ocular testimony« (322); »526 ecce autem Cf. 203, 318; suggestive of the ocular experience of Aen.«; Lynch 1980, 170: »Aeneas’ narrative of these events is fast-paced, almost breathless; it has the flavour and the emotional intensity of an eye-witness account rather than a retelling of a past experience«, mit Anm. 1: »Cf. the use of ecce in Aeneas’ narrative: vv. 57, 203, , 318, 402, 526, 673, 682. The interjection occurs twice as many times in Aeneid 2 as in any other book; Aeneid 6, for all its amazing elements, has ecce only four times.« 452 Die Vorkommen von tum in Aeneis 2: [1] 2,105; [2] 2,190; [3] 2,22; [4] 2,309; [5] 2,413; [6] 2,489; [7] 2,559; [8] 2,624; [9] 2,697; [10] 2,775.

Zur narrativen Funktion von ecce 

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[1] 2,105 tum vero ardemus scitari et quaerere causas: Reaktion der Troianer auf die Andeutungen und den Rede-Abbruch des Sinon: Sie wollen jetzt erst recht hören, was er zu sagen hat. [3] 2,228 tum vero tremefacta novus per pectora cunctis | insinuat pavor: Reaktion der Troianer auf die Tötung des Laocoon: Sie bekommen Angst und erklären sich den Angriff der Schlangen als eine Bestrafung für seinen Lanzenwurf gegen das hölzerne Pferd. [5] 2,413 tum Danai gemitu atque ereptae virginis ira: Reaktion der Griechen auf die Befreiung der Cassandra durch Coroebus und andere: Sie werden wütend und sammeln sich zum Gegenangriff. [6] 2,489 tum pavidae tectis matres ingentibus errant: Reaktion der Frauen im Innern des Palastes darauf, dass die Griechen sich Zugang verschaffen: Sie laufen panisch umher und klammern sich an Pfeiler. [10] 2,775 tum sic adfari et curas his demere dictis: Reaktion der Creusa-Erscheinung auf das Erschrecken des Aeneas vor ihrem überlebensgroßen Schattenbild; zugleich Rede-Einleitung ihrer direkten Rede:453 Sie beginnt zu sprechen, um ihm seine Sorgen zu nehmen.

Drei der mit tum eingeführten Reaktionen in Aeneis 2 betreffen den Ich-Erzähler selbst. Es geht um Erkenntnisvorgänge des erlebenden Ich, die markante inhaltliche Wendepunkte bedeuten: [4] 2,309 tum vero manifesta fides, Danaumque patescunt | insidiae: Mit tum vero bezeichnet der erzählende Aeneas den Zeitpunkt innerhalb des erzählten Geschehens, zu dem der erlebende Aeneas die List der Griechen durchschaut: »Zu diesem Zeitpunkt war die Vertrauenswürdigkeit der Griechen bloßgestellt und ihr Hinterhalt trat zutage«, das bedeutet: Die Griechen sind in der Stadt. [7] 2,559 at me tum primum saevus circumstetit horror: Mit at … tum primum benennt der erzählende Aeneas den Zeitpunkt, zu dem der erlebende Aeneas angesichts des toten Priamus seine eigene Situation begreift: »Mich aber erfasste in diesem Moment zum ersten Mal der blanke Schrecken.« Aeneas stellt sich vor, dass Anchises, Creusa und Ascanius ebenfalls bereits den Griechen in die Hände gefallen sind. Er steht auf dem Dach des eroberten Palastes und wäre verloren, wenn nicht Venus erschiene, um ihn zu retten. [8] 2,624 tum vero omne mihi visum considere in ignis | Ilium: Mit tum vero markiert der erzählende Aeneas den Zeitpunkt innerhalb des erzählten Geschehens, zu dem der erlebende Aeneas einsieht, dass Troias Untergang unausweichlich ist: »Zu diesem Zeitpunkt schien mir ganz Ilium in Feuer zu versinken«, das bedeutet: Troia ist nicht mehr zu retten, Aeneas kann es verlassen.

An einer Stelle in Aeneis  2 steht tum innerhalb von direkter Rede in einem Konditionalgefüge zur Bezeichnung eines hypothetischen Zeitpunktes in der Zukunft:

453 Vgl. 9.2.11: Erklärung des eigenen Verschwindens und Prophezeiung der Creusa.

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Die Erzählung in Aeneis 2–3

[2] 2,190 nam si vestra manus violasset dona Minervae, | tum magnum exitium (quod di prius omen in ipsum | convertant!) Priami imperium Phrygibusque futurum: Innerhalb der wörtlichen Rede des Sinon dient tum im Konditionalgefüge der Einführung der Apodosis im Sinne von ›(wenn) … dann‹. Es benennt einen hypothetischen, vom Sprecher (Sinon) aus gesehen zukünftigen Zeitpunkt.

Im Vergleich handelt es sich bei ecce um ein mehr räumliches ›da‹, bei tum hingegen um ein mehr zeitliches ›da‹. Die verweisende Funktion von ecce bewegt sich innerhalb des Raums der erzählten Handlung. Es lenkt die Aufmerksamkeit dorthin, wo etwas geschieht, und kündigt so dieses Geschehen an. Ecce könnte auch von den Personen der Handlung selbst ausgerufen werden. Zugleich versetzt es den Rezipienten in seiner Vorstellung direkt in den Raum der Fiktion. Demgegenüber stellt tum eine zeitliche Relation her, welche die Existenz eines Erzählers außerhalb der Fiktion voraussetzt: Er ist es, der den Ereignissen ihren Platz in der Zeit zuweist. Damit ist tum in narrativen Zusammenhängen das neutralere der beiden. Ecce hingegen entspricht der Perspektive der Figuren: Es dramatisiert und personalisiert.454 Bei heterodiegetischer Erzählhaltung ist tum dem Erzähler zuzuordnen, während ecce der Figurenperspektive entspricht und den Rezipienten unvermittelt dem geschilderten Geschehen aussetzt. Bei homodiegetischer Erzählhaltung kann tum dem erzählenden Ich zugeordnet werden, das einen Zusammenhang herstellt, während ecce stärker vom erlebenden Ich aus gedacht ist, das sich mit einem plötzlich eintretenden und unvorhergesehenen Ereignis konfrontiert sieht. Die Häufung von ecce in Aeneas’ Erzählung vom Untergang Troias entspricht einer Häufung von plötzlichen oder überraschenden Ereignissen, die den Verlauf des geschilderten Geschehens bestimmen. Wo der Erzähler selbst an diesem Geschehen beteiligt ist, lässt sich zudem konstatieren, dass die mit ecce eingeführten Ereignisse nicht diejenigen Teile der Geschichte darstellen, die von ihm selbst ausgehen, sondern diejenigen, die von außen auf ihn einwirken, also Ereignisse, auf deren Eintreten er keinen Einfluss hat. Dazu gehört das Handeln anderer Figuren ebenso wie natürliche und übernatürliche Erscheinungen. Diese mit ecce eingeführten Abschnitte schildern dann aus der Perspektive des erlebenden Aeneas äußere Umstände, denen er in den letzten Stunden von Troia ausgesetzt war. Demgegenüber erscheinen seine eigenen Handlungen im Wesentlichen als Reaktionen auf diese äußeren Ereignisse. Die Häufung von ecce im zweiten Buch ist also auch ein Ausdruck der Situation des Helden: Als Bewohner und Verteidiger einer belagerten und schließlich eingenommenen Stadt kann er kein aktiver Held sein, der selbständig Abenteuer sucht und Taten vollbringt. Stattdessen muss er auf Ereignisse, die auf ihn einwirken, reagieren. Dazu kommt: Ereignisse, die durch ecce in der Figurenperspektive eingeführt werden, erhalten einen hohen Grad an fiktionaler Faktizität. Sie sind das, was 454 Ähnlich Williams 1983, 250–252: »stylistic control of the viewpoint«.

Inhaltliche Gewichtung der vergilischen Iliupersis  

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eben geschieht. In ähnlicher Weise wie beim Gebrauch präsentischer Verben tritt auch durch die Formulierung mit ecce die Instanz des Erzählers in den Hintergrund. Indem die Erzählung des Aeneas entscheidende Teile des Geschehens der letzten Nacht von Troia vor allem als etwas präsentiert, das einfach passiert, stellt sie auf raffinierte Weise den schlichtest möglichen und zugleich radikalsten Wahrheitsanspruch.

7.5 Inhaltliche Gewichtung der vergilischen Iliupersis  Im achten Buch der Institutio oratoria bietet Quintilian eine Art Motivfundus zum Thema ›Eroberung einer Stadt‹. Bei der Behandlung der Frage, wie die Rede zu schmücken sei (ornatus orationis),455 damit sie besser verständlich wird,456 nennt er die Anschaulichkeit (ἐνάργεια) als ein wesentliches Mittel, das der Rede Glanz und Gepflegtheit verleihe, weil durch sie erreicht werden könne, dass ein Bild des Gesagten vor dem inneren Auge entstehe. Aus mehreren Beispielen geht hervor, wie die Anschaulichkeit der sprachlichen Repräsentation eines Geschehens durch die Erwähnung von Einzelheiten gesteigert werden kann. Eines dieser Beispiele hat – anders als die übrigen, die bekannten Texten entnommen sind – keinen Bezug zu einem bestimmten Text, sondern wird abstrakt entwickelt: Quintilian führt darin aus, wie die Schilderung der Eroberung einer Stadt durch die Angabe von Details anschaulich gemacht werden kann. Sic urbium captarum crescit miseratio. Sine dubio enim qui dicit expugnatam esse civitatem complectitur omnia quaecumque talis fortuna recipit, sed in adfectus minus penetrat brevis hic velut nuntius. At si aperias haec, quae verbo uno inclusa erant, apparebunt effusae per domus ac templa flammae et ruentium tectorum fragor et ex diversis clamoribus unus quidam sonus, aliorum fuga incerta, alii extremo complexu suorum cohaerentes et infantium feminarumque ploratus et male usque in illum diem servati fato senes: tum illa profanorum sacrorumque direptio, efferentium praedas repetentiumque discursus, et acti ante suum quisque praedonem catenati, et conata retinere infantem suum mater, et sicubi maius lucrum est pugna inter victores. Licet enim haec omnia, ut dixi, complectatur ›eversio‹, minus est tamen totum dicere quam omnia.457 Auf dieselbe Art und Weise wird auch bei Schilderungen von Einnahmen von Städten die Rührung gesteigert. Denn ohne Zweifel erfasst derjenige, der sagt, dass eine Siedlung erobert worden sei, alles, was ein solches Ereignis in sich trägt, aber zu 455 Quint. inst. 8,3,1–90. 456 Cf. Quint. inst. 8,2,11: quia non ut intellegatur efficit, sed ut plus intellegatur. 457 Quint. inst. 8,3,67–69. F. K.  Stanzel stellt eine Übersetzung dieses Texts an den Anfang von »Typische Formen des Romans«, Göttingen (1964) und leitet aus ihm zwei ›Grundformen des Erzählens‹ (»berichtende Erzählung« und »szenische Darstellung«) ab, um anschließend von diesen unabhängig seine drei ›typischen Erzählsituationen‹ zu unterscheiden.

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Die Erzählung in Aeneis 2–3

den Emotionen dringt er nicht besonders weit vor, kurzangebundener Bote, der er gewissermaßen ist. Wenn man aber das, was in einem Wort (nämlich expugnatam) eingeschlossen war, aufdeckt, werden die Flammen erkennbar, die Häuser und Tempel ergriffen haben, das Krachen einstürzender Dächer, und ein bestimmter Klang, der sich aus vielen Schreien zusammensetzt, Fluchtversuche einiger, andere ihre Angehörigen in einer letzten Umarmung umfassend, das Weinen von Kindern und Frauen, vom Schicksal zu ihrem Unglück bis zu diesem Tag verschont gebliebene Greise, dann die Plünderung der Profan- und Sakralbauten, das Umherlaufen derer, die Beute heraustragen, und derer, die aufs neue welche suchen, die vor ihre respektiven Plünderer getriebenen Gefesselten, die Mutter, die versucht, ihr Kind bei sich zu behalten, und die Sieger im Kampf gegeneinander, wenn es irgendwo größeren Vorteil gibt. Mag nun freilich, wie ich sagte, alles in dem Wort ›Zerstörung‹ begriffen sein, ist es dennoch weniger, das Ganze zu sagen, als ein Jegliches zu sagen.

Betrachtet man das zweite Buch der Aeneis unter dem Aspekt, dass darin die Eroberung und die Zerstörung einer Stadt behandelt werden, so stellt man fest, dass die von Quintilian genannten, für dieses Thema typischen Motive entweder gar nicht oder nur sehr knapp vorkommen. Und wenn sie vorkommen, bilden sie lediglich den Hintergrund für die Schilderung dessen, was Aeneas widerfährt. So stehen zum Beispiel die Erwähnungen des Waffenklangs in 2,298–301 sowie des Anblicks brennender Häuser und des Feuerscheins in der Bucht in 2,310–312 im Zusammenhang damit, dass Aeneas begreift, in welcher Situation seine Stadt und er selbst sich befinden. Waffenklang und der Anblick des Feuers dienen nicht nur allgemein der Steigerung der Anschaulichkeit, sondern insbesondere auch dazu, den Verstehensprozess des Aeneas deutlich zu machen, als dieser die List der Griechen durchschaut: Die akustische Wahrnehmung macht ihn aufmerksam, so dass er aufs Dach steigt, von wo aus er den Widerschein des brennenden Troia sieht; in dem Moment, da die optische Wahrnehmung die akustische Wahrnehmung ergänzt, versteht er, was vorgeht.458 Ähnlich verhält es sich mit der Schilderung, wie Cassandra aus dem Minervatempel fortgezerrt wird (2,403–406): Sie motiviert den Angriff des Coroebus, der wiederum dazu führt, dass die Troianer um Aeneas ihre Deckung aufgeben und dass offen gekämpft wird, bis Aeneas fast allein übrig bleibt.459 Cassandra wird also weniger um ihrer selbst willen erwähnt oder beklagt, als vielmehr deshalb, weil ihre Gefangennahme durch einige Griechen und Coroebus’ Reaktion darauf für die Entwicklung des Geschehens eine Rolle spielen. Das soll nicht heißen, dass durch ihre Erwähnung nicht auch das Schicksal einer selbst nicht kämpfenden Einzelperson (einer Frau und Priesterin) exemplarisch vorgeführt würde und dadurch in Quintilians Sinne die Anschaulichkeit der Schilderung gesteigert würde, aber ihr Auftreten hat innerhalb der Erzählung vor allem die 458 Hierzu ausführlich: 10.4.2. 459 Vgl.: 9.2.6 und 10.4.4 sowie 8.4.[8].

Inhaltliche Gewichtung der vergilischen Iliupersis  

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Funktion, dass in der Folge die Tarnung der Troianer als Griechen auffliegt. Was mit Cassandra nach dieser Szene geschieht, erzählt Aeneas nicht. Überhaupt kommt das Schicksal der Troianer als besiegte Stadtbevölkerung in Aeneis 2 nur am Rande vor. In der den Kampfschilderungen vorangestellten Vorwegnahme des Endes aus Erzählerperspektive (2,361–369) wird es zwar beklagt, allerdings in allgemeiner und abstrakter Form und gerade nicht in den Einzelheiten, wie Quintilian es zur Steigerung der ἐνάργεια empfiehlt. Zudem erfolgt die Erwähnung des troianischen Leides an dieser Stelle im Kontext der Feststellung, dass nicht nur Troianer, sondern auch Griechen im Verlauf der Eroberung den Tod finden, worin sich wiederum die grundsätzliche Tendenz der Erzählung ausdrückt, vor allem die Verteidigung zu thematisieren.460 Ganz am Ende der Handlung in Troia findet sich eine knappe Schilderung der Plünderung der Heiligtümer und der Gefangennahme der Kinder und Frauen. Auch sie steht nicht für sich, sondern im Rahmen von Aeneas’ Suche nach Creusa. Diesmal werden zwar einige Details erwähnt, wodurch eine gewisse Anschaulichkeit entsteht. Aber der Text bietet in seiner Knappheit nur gerade soviel, wie nötig ist, dass überhaupt ein Bild von der Situation entsteht. Die genannten Kinder und Mütter bleiben anonym und es werden keine Einzelschicksale hervorgehoben. Die Wortwahl ist verhältnismäßig nüchtern und sachlich – so erschütternd die geschilderten Sachverhalte auch sind. Es fällt kein Ausdruck der Klage, der Verzweiflung oder des Schmerzes, nicht einmal eine Interjektion. Der Ton ist so neutral, dass er auch für einen ungerührten Unparteiischen nicht unpassend wäre; allenfalls ist in lecti vielleicht Sarkasmus (2,762) spürbar. procedo et Priami sedes arcemque reviso 2,760 et iam porticibus vacuis Iunonis asylo 2,761 custodes lecti Phoenix et dirus Ulixes 2,762 praedam adservabant. huc undique Troia gaza 2,763 incensis erepta adytis, mensaeque deorum 2,764 crateres auro solidi, captivaque vestis 2,765 congeritur. pueri et pavidae longo ordine matres 2,766 stant circum. (Halbvers) 2,767 Ich ging weiter und schaute nach Priamus’ Palast und der Burg. In den offenen461 Säulengängen am Juno-Asyl beaufsichtigten schon Phoenix und der furchtbare Odysseus, 460 Vgl.: 8.4.[4]. 461 Zur Übersetzung von vacuus mit ›offen‹ vgl. Georges, Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, 3347, s.v. vacuus unter 4: »v. Örtl.: a) frei = offenstehend, zugänglich, weit, porticus, Verg.: ut vacuo patuerunt aequore campi, Verg.« Dass die Säulengänge nicht ›leer‹ sind, wenn dort das Beutegut gesammelt (und von den im Text genannten Aufpassern bewacht) wird, bemerkt schon der Serviuskommentar zu 2,761: vacuis magnis, quippe illic erant omnia. Die Vorschläge des Servius Danielis lauten ›entleert‹ / ›leergeräumt‹ (wie vacuatis) oder ›ohne uns Troianer‹ (vacuis a nobis) oder ›breit‹ / ›weitläufig‹ (latis); Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 326. Ich meine: Die Vorstellung, dass der betreffende Gebäudeteil (porticus ist im römischen Latein nicht so eng definiert wie in der modernen archäo-

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die zu Wächtern ausersehen waren, das Beutegut. Hierhin wurden von allen Seiten die troianischen Tempelschätze zusammengetragen, die aus den in Brand gesetzten Heiligtümern geraubt worden waren, Kult-Tische und Gefäße aus purem Gold sowie erbeutete Gewänder. Kinder und ängstliche Mütter standen in langen Reihen dabei.

Die spezifische thematische Ponderierung der vergilischen Iliupersis tritt deutlich hervor, wenn man sie mit Triphiodors Kurzepos Ἰλίου ἅλωσις vergleicht, das den Untergang Troias in 691 Hexametern schildert.462 Dabei trifft die intuitiv naheliegende Annahme, dass die Schilderung des am Geschehen nicht beteiligten Erzählers bei Triphiodor die troianische Seite weniger berücksichtige als die Schilderung des persönlich am geschilderten Geschehen beteiligten Erzählers Aeneas bei Vergil,463 nicht zu. Dies liegt zu einem großen Teil daran, dass Triphiodor anders als Vergil genau jene Einzelheiten aufzählt, von denen Quintilian sagt, dass sie die innere Beteiligung und damit die Anteilnahme der Rezipienten steigern (crescit miseratio).464 So wird bei Triphiodor durch die detaillierte Schilderung der Gewalttaten, die an den Troianern verübt werden, deren Schicksal als Besiegte viel anschaulicher als bei Vergil. Dazu kommt, dass er die Einnahme von Troia nicht als Schlacht im eigentlichen Sinne schildert, sondern als das Hinschlachten der Stadtbevölkerung. Auf den ersten Blick mag Triphiodors Schilderung der Kampfhandlungen übertrieben brutal erscheinen: Kataloge, die mit düsteren allegorischen Stimmungsbildern abwechseln, zählen der Reihe nach Gruppen troianischer Personen auf, die von den Griechen getötet werden. Am Anfang steht ein Katalog von Frauenschicksalen (Triph. 547–558), der eine makabre Binnengliederung in Ehefrauen (Triph. 547–549), Mütter (Triph. 550–551a), Bräute (Triph. 551b–555) und Schwangere (Triph. 556–558) aufweist. Ein weiterer Katalog listet Schicksale von Männern auf (Triph. 573–589): Alle werden sie überrascht, sind erschöpft logischen Terminologie) als ›offen‹ und somit von außen einsehbar bezeichnet werden soll, passt vorzüglich in den Kontext der geschilderten Situation: Der vorbeigehende Aeneas kann von außen erkennen, was vorgeht, ohne selbst das Juno-Asyl zu betreten, und gerade darauf kommt es in der Schilderung an. 462 Zur Datierung Triphiodors siehe Dubielzig 1996, 7–11; Miguélez Cavero 2013, 4–6. Als terminus ante quem gilt ein Papyrus mit Triph. 301–402, der aufgrund der Schrift in die Zeit vom späten 2. Jh. bis zum frühen bis 4. Jh datiert wird (P. Oxy 41.2946). Zum Verhältnis der Ἰλίου ἅλωσις zur Aeneis siehe Dubielzig 1996, 20–26; Miguélez Cavero 2013, 64–70. Allgemein zur Kenntnis der lateinischen Sprache und Literatur bei griechischsprachigen Autoren der Kaiserzeit siehe Gärtner 2005, 13–22. 463 In diese Richtung: Dubielzig 1996, 22: »Vergil läßt Aeneas aus seinem Blickwinkel und mit Sympathie für die Troianer berichten. Triphiodor berichtet als neutraler auktorialer Erzähler.« 464 Offensichtliche inhaltliche Unterschiede: Bei Vergil spielt Laocoon eine entscheidende Rolle; bei Triphiodor kommt er nicht vor. Bei Vergil wird Cassandra nur kurz erwähnt (2,246 f.); bei Triphiodor ist Kassandras Warnung eine ›Hauptszene‹ (Triph. 358–443); bei Vergil brennt Troia während des Kampfes (2,289. 310–312 und öfter); bei Triphiodor brennt Troia am Tag nach dem Kampf.

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vom Feiern und manche zudem alkoholisiert. Einige sind tot, ehe sie überhaupt verstanden haben, was vorgeht. Einige werden getötet, bevor sie selbst handeln können. Andere werden auf einem Platz eingekesselt und umgebracht. Wieder andere sterben beim verzweifelten Sprung von der Stadtmauer. Wenige nur entkommen »wie Diebe« (Triph. 590–591).465 Triphiodors Griechen gehen schonungslos vor (Triph. 596–599); sie töten auch die Greise (Triph. 600–602) und die Säuglinge (Triph. 603–606). Am Morgen liegen die Troianer tot am Boden wie aus dem Netz geschüttelte Fische (Triph. 671–675) und ihre Leichen werden von Raubvögeln und Hunden gefleddert (Triph. 607–612). Von dieser krassen Schilderung des grausamen Umgangs der Griechen mit der troianischen Stadtbevölkerung (Triph.  547–663) sind bei Triphiodor folgende Einzelschicksale namentlich benannter und mythologisch gut etablierter Figuren abgesetzt: − Odysseus und Menelaos ziehen zum Haus des Deiphobos, töten diesen und holen Helena zurück; dabei kommt es zu einem Scharmützel und einem Steinwurf aus einem oberen Stockwerk (Triph. 613–633). − Neoptolemos tötet Priamos (Triph. 634–643). − Andromache muss ansehen, wie Odysseus Astyanax tötet (Triph. 645–646) − Aias vergewaltigt Kassandra am Altar der Athene (Triph. 647–650) − Aphrodite rettet Aineias und Anchises (Triph. 651–655) − Menelaos sorgt dafür, dass Antenor und seine Familie geschont werden (Triph. 656–659) − Laodike stirbt in einer Erdspalte und geht zusammen mit Troia in Troia unter (Triph. 660–663)

Den Schluss des Kurzepos, der von einer Abbruchformel (Triph. 664–667) eingeleitet wird, bilden wenige Verse, in denen der Morgen nach der letzten Nacht von Troia erzählt wird (Triph.  668–691): die Griechen suchen die Stadt nach überlebenden Männern ab und finden nur noch tote, sie machen Beute und nehmen überlebende Frauen und Kinder gefangen, sie setzen die Stadt in Brand, opfern Polyxena und besteigen ihre schwer mit Kriegsbeute beladenen Schiffe. In der Ἰλίου ἅλωσις gibt es keine Aristien und es wird kein Tod eines Griechen geschildert. Dass ausdrücklich zahlreiche Frauen, Kinder und Greise zu Tode gebracht werden, stellt eine extreme Härte im Vorgehen von Triphiodors Griechen dar. Aber die Differenzierung der Personen nach Geschlecht und Alter trägt in realistischer Weise dem Umstand Rechnung, dass es sich bei der Einnahme einer Stadt nicht um eine Schlacht handelt, in der zwei bewaffnete Heere auf freiem Feld aufeinander treffen.466 Vielmehr tritt ein bewaffnetes Heer aus waffenfähigen 465 Hierzu siehe 11.3. 466 Der Eindruck von zwei gegeneinander Krieg führenden Heeren, die sich in Schlachten begegnen, entsteht zum Beispiel in der Ilias immer wieder.

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Männern gegen die gesamte Bevölkerung einer Stadt an, zu der eben nicht nur die waffenfähigen Männer, sondern auch Frauen, Greise und Kinder gehören. Im Fall von Troia wird diese Unausgeglichenheit noch verstärkt durch die List mit dem hölzernen Pferd: Die Stadtbewohner sind vom ausgelassenen Feiern erschöpft und sie werden im Schlaf überrascht. Folglich gehen in Triphiodors Schilderung die Kampfhandlungen nahezu ausschließlich von den Griechen aus. Die Troianer können kaum darauf reagieren. Eine geordnete Gegenwehr findet nicht statt, es gibt allenfalls vereinzelt Selbstverteidigung. Triphiodors Schilderung ist ohne Frage drastisch, aber sie ist angesichts des Umstandes, dass es sich bei der Einnahme Troias um einen nächtlichen Überraschungsangriff auf eine schlafende Stadt handelt, ›wahrscheinlich‹ im Sinne von realistisch. In Vergils Version hingegen findet eine reguläre Verteidigung statt: Die Troianer beziehen an Stadttoren, in Straßen und an Eingängen Stellung (2,330b–335). Auf dem Minervatempel sind troianische Krieger postiert, in deren ›freundliches Feuer‹ die griechisch verkleideten Troianer geraten (2,410–412), und auch andere Gebäude, darunter der Königspalast, werden vom Dach aus und an den Toren verteidigt (2,445–450). Weiter fällt auf, dass im zweiten Buch der Aeneis der Tod von nur wenigen Troianern erwähnt wird. Es sterben: Laocoon und seine Söhne, diejenigen, die sich Aeneas als Kampfgefährten angeschlossen haben, Polites und Priamus, sowie diejenigen, die nach erlittener Niederlage vom Dach aus Suizid begehen (2,565–566). Die meisten der sterbenden Troianer werden namentlich genannt und viele von ihnen sterben im Kampf oder, im Fall des Polites und des Priamus, in einer Zweikampf-Situation. Anders als bei Triphiodor kommen in der Aeneis nicht nur Troianer zu Tode, sondern auch Griechen, nämlich zuerst Androgeos und sein Trupp, denen zum Verhängnis wird, dass sie Aeneas und die Seinen für Landsleute halten. Sodann »viele Danaer«, die von den als Griechen getarnten Troianern überrascht werden: multos Danaos demittimus Orco (2,398), und schließlich diejenigen Griechen, die von einem Turm erschlagen werden, den Aeneas zusammen mit anderen auf das den Königspalast bedrängende Heer stürzen lässt. Mit Ausnahme von Cassandra erleiden Frauen und Kinder bei Vergil keine physische Gewalt. Es werden überwiegend Kampfhandlungen zwischen zwei bewaffneten Seiten beschrieben, so dass beinahe der Eindruck entsteht, der Krieg um Troia würde in einer ›letzten Schlacht‹ entschieden.467 Die Entscheidung selbst fällt dann allerdings in einem Gebäude, wodurch die Thematik der ›Eroberung einer Stadt‹ am Ende zugespitzt konkretisiert wird. An diesem Punkt wird auch die Vergeblichkeit von Aeneas’ Anstrengung und überhaupt der Verteidigung offenbar, und zwar in der Schilderung, wie er zusammen mit anderen vom Dach des Palastes aus einen Turm auf die heranstürmenden Griechen hinunterstößt. Der Turm fällt zwar krachend auf die den Palast bestürmenden griechischen Krieger (2,465b–467a), aber die Wir467 Vgl. Aen. 2,438–450.

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kung dieser Maßnahme ist nur unzureichend: Sofort rücken andere nach und der Geschützhagel kommt nicht einmal vorübergehend zum Erliegen (2,467b–468). evado ad summi fastigia culminis, unde 2,458 tela manu miseri iactabant inrita Teucri. 2,459 turrim in praecipiti stantem summisque sub astra 2,460 eductam tectis, unde omnis Troia videri 2,461 et Danaum solitae naves et Achaica castra, 2,462 adgressi ferro circum, qua summa labantis 2,463 iuncturas tabulata dabant, convellimus altis 2,464 sedibus impulimusque; ea lapsa repente ruinam 2,465 cum sonitu trahit et Danaum super agmina late 2,466 incidit. ast alii subeunt, nec saxa nec ullum 2,467 telorum interea cessat genus. 2,468 Ich trat hinaus auf die Höhe des obersten Firstes, von wo aus die Troer kläglich von Hand Geschosse schleuderten, die nichts ausrichteten. Den Turm, der ganz oben stand und aus dem Dach in die Höhe hinausgebaut war, von dem aus man ganz Troia überblicken konnte sowie die zur Gewohnheit gewordenen Griechenschiffe und das Lager der Achäer, nahmen wir uns ringsum mit dem Schwert vor, wo das oberste Gebälk Verfugungen aufwies, die gelockert werden konnten, rissen ihn von seinem hohen Platz und stießen ihn an; er geriet ins Fallen, stürzte mit einem Schlage krachend zusammen und fiel weithin über das Heer der Danaer. Aber andere rückten nach und weder die Steine noch sonst eine Art von Geschossen blieben unterdessen aus.

Hier ist die letzte Stufe der Verteidigung erreicht: Das zu verteidigende Gebäude wird absichtlich partiell beschädigt, um die Erstürmung durch den Feind zu verhindern – was misslingt. So endet die Verteidigung Troias mit Aeneas als einem der letzten kampffähigen Troianer allein auf dem Dach des eroberten Königspalastes stehend. Diese Art der Darstellung wird durch die Entscheidung, Aeneas die letzte Nacht von Troia selbst berichten zu lassen, begünstigt, wenn nicht erst ermöglicht. Die Wahl der Ich-Erzählung erlaubt eine subjektive Darstellung und die Auswahl dessen, was man den Ich-Sprecher erlebt haben lässt, und wie man ihn sein eigenes Handeln (selten direkt, öfter indirekt, z. B. in Gleichnissen) kommentieren lässt,468 formt eine persönliche Geschichte.

468 Hierzu siehe 8.4; 10.4.

8 Der Erzähler Aeneas

8.1 Zuverlässigkeit Die Erzählung des Aeneas in den Büchern 2 und 3 ergänzt die Haupterzählung der Aeneis um eine Vorgeschichte.469 Dies ist in der Weise verwirklicht, dass Aeneas, also eine Figur der Erzählung ersten Grades, und zwar die Hauptfigur, als intradiegetischer Erzähler den betreffenden Teil der Geschichte erzählt. Dabei tritt der extradiegetische Erzähler, also der epische Erzähler oder Erzähler ersten Grades, den man in Aeneis 1 kennengelernt hat, völlig hinter dem intradiegetischen Erzähler zurück. Betrachten wir als Kontrast einen in dieser Hinsicht ganz anders gelagerten Fall: In »Krieg und Frieden« von Leo Tolstoi wird an einer Stelle vorgeführt, wie eine Romanfigur, Rostov, die Schilderung eines eigenen Kriegserlebnisses, ohne es selbst zu merken, den Erwartungen seiner Rezipienten anpasst: Boris bemerkte, daß Rostov kein besonderes Gefallen an diesen Geschichten fand. Er lenkte das Gespräch auf die Kriegsereignisse und die Umstände von Rostovs Verwundung. Rostov, der in Gegenwart des ihm unsympathischen Berg wieder lebhafter wurde und in den Tonfall des verwegenen Husaren zurückfiel, schilderte ihnen sein Gefecht in Schöngraben genau so, wie die Teilnehmer an einer Schlacht üblicherweise davon erzählen, das heißt so, wie sie es gerne gehabt hätten, wie sie es von anderen gehört haben, möglichst anschaulich, aber keineswegs so, wie es wirklich war. Rostov war ein redlicher junger Mann, er hätte um keinen Preis vorsätzlich die Unwahrheit gesagt; er begann seine Schilderung in der Absicht, alles genau so zu erzählen, wie es stattgefunden hatte, aber unmerklich, unwillkürlich verfiel er in Phantasie, Unwahrheit und sogar in Prahlerei. Was hätte er auch machen sollen? Hätte er vielleicht diesen Zuhörern, die (das wußte er sehr gut), wie er selbst auch, schon viele Male Erzählungen von Attacken gehört und sich ein bestimmtes Bild davon gemacht hatten, was eine Attacke war, und genau so etwas zu hören erwarteten, hätte er ihnen tatsächlich etwas ganz anderes erzählen und so ihr vorgefertigtes Bild zerstören sollen? Entweder hätten sie ihm keinen Glauben geschenkt, oder sie hätten, was noch schlimmer gewesen wäre, angenommen, Rostov selbst trage die Schuld daran, daß er nicht das erlebt hatte, was diejenigen, die an Kavallerieattacken teilgenommen haben, ihren Schilderungen nach für gewöhnlich erlebt haben. Er konnte ihnen doch nicht so einfach erzählen, daß er im Trab geritten und vom Pferd gefallen war, sich die Hand verletzt hatte und Hals über Kopf vor den Franzosen in den Wald geflohen war.

469 Zur zeitlichen Organisation siehe 5.2.

Zuverlässigkeit  

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Sie wollten hören, daß er im Kugelhagel gestanden habe, völlig außer sich mitten in ein Karrée gestürmt sei, nach allen Seiten um sich geschlagen habe und dann vor Erschöpfung zu Boden gefallen sei und ähnliches mehr. Also erzählte er ihnen etwas in der Art, und sie waren zufrieden, und er bemerkte nicht, daß alles, was er sagte, von der Wahrheit weit entfernt war.470

Der vom Krieg erzählende Rostov bemüht sich, seine Schilderung »einem bestimmten Bild«, das man sich macht, wenn man »schon viele Male Erzählungen von Attacken gehört« hat, entsprechen zu lassen. Er versucht also, bestimmten Vorannahmen seiner Zuhörer gerecht zu werden. Diese Vorannahmen beruhen auf früheren »Erzählungen von Attacken«, sie sind gewissermaßen Gattungskonventionen. Und Rostovs Zuhörer sind zufrieden, weil sie eine übliche Schlachtschilderung zu hören bekommen, etwas, das ihrem »vorgefertigten Bild« von einer Attacke entspricht. Skurrilerweise werden zwei Geschichten in indirekter Rede geboten: die »Wahrheit«471 (»Er konnte ihnen doch nicht erzählen, daß er…«) und die dem Erwartungshorizont idealtypisch entsprechende Version einer Kavallerieattacke (»Sie wollten hören, daß er…«), nicht jedoch die in der Fiktion tatsächlich erzählte Version, die lediglich summarisch angedeutet wird (»Also erzählte er ihnen etwas in der Art…«). Auf diese Weise wird Rostov als Erzähler nur geschildert, ohne dass er in der vorliegenden Erzählung tatsächlich als Erzähler aufträte. Bei Aeneas verhält sich dies anders. In der Aeneis wird uns nur eine Version von der Eroberung Troias und von der Irrfahrt des Helden geboten, und zwar die in der Fiktion wörtlich so erzählte. Sie erscheint als Figurenrede des Aeneas.472 Wie Tolstois Rostov erzählt er von einem Geschehen, an dem er selbst beteiligt war. Wie Rostov stellt auch er sich auf ein bestimmtes Publikum ein. Thema und Gliederung seiner Erzählung werden von Dido vorgegeben, deren Fragen zuallererst auch den Anlass für die Binnenerzählung bieten. Wie Rostovs Erzählung steht sie in einem Verhältnis zum Vorwissen und zu den Erwartungen der inneren wie äußeren Rezipienten, und zwar sowohl in Hinsicht auf den Gegenstand (›Der Sturz Troias‹, Aeneas’ Suche nach der neuen Heimat‹) als auch, was die Konventionen der literarischen Tradition betrifft. Aber der intradiegetische Erzähler in der Aeneis wird anders als Rostov in »Krieg und Frieden« vom extradiegetischen Erzähler weder kommentiert noch gar korrigiert. Er wird in seiner Eigenschaft als Hauptfigur der Handlung als selbständiger Sprecher eingeführt, und seine Erzählung steht in direkter Rede; sie ist zitierte Figurenrede. Diese Erzählung zweiten Grades erstreckt sich über zwei Bücher der Aeneis und macht damit nicht weniger als den sechsten Teil des Epos aus. Der Umstand, 470 L. Tolstoi, Krieg und Frieden, Die Urfassung, Aus dem Russischen von D. Trottenberg, Mit einem Nachwort von T. Grob, Berlin 2003, 420. 471 »Wahrheit«: in der letzten Zeile des Zitats. 472 Zu Aeneas’ Erzählung als Figurenrede siehe 9. 

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Der Erzähler Aeneas

dass Aeneas, der als Erzähler Teil der Erzählung des extradiegetischen Erzähler ist, von diesem weder kommentiert noch direkt charakterisiert wird, verleiht ihm Autorität und seiner Erzählung inhaltliche Absolutheit. Sie bietet, anders als im Falle Rostovs, die einzige Version, die in der Aeneis von den Geschichten, die Aeneas erzählt, geboten wird. Dabei ist seine Perspektive durchgehend beibehalten und Aeneas muss als Erzähler seiner eigenen Geschichte voll und ganz ernstgenommen werden. Einmischungen eines übergeordneten Erzählers, wie sie zuweilen postuliert werden,473 finden keine statt. Wir vernehmen in Aeneis 2–3 ausschließlich die Stimme des intradiegetischen Erzählers. Weder er selbst noch was er erzählt wird vom extradiegetischen Erzähler in Frage gestellt. Die Autorität von Aeneas als Erzähler manifestiert sich darüberhinaus darin, dass seine Erzählung als Vorgeschichte zur Haupthandlung in den Büchern 1 und 4–12 ein integraler Bestandteil der in der Aeneis erzählten Geschichte ist. Dabei findet ein lückenloser Übergang statt, denn seine Erzählung endet genau dort in der Geschichte, wo die der internen Adressatin bekannten Umstände erreicht sind, aus denen die Kommunikationssituation der Binnenerzählung hervorgeht. So ergibt sich eine direkte konsekutive Verknüpfung der Erzählung des homodiegetischen, intradiegetischen Erzählers mit der Erzählung des heterodiegetischen, extradiegetischen Erzählers.474 Die beiden erzählen einander ergänzende Teile derselben Geschichte. Angesichts dieser inhaltlichen Geschlossenheit gibt es eigentlich keinen Anlass, die ›Wahrheit‹ – im Sinne der Geschichte – des in Aeneis 2–3 Erzählten in Frage zu stellen. Dennoch bezweifeln manche Interpreten, dass Aeneas’ Schilderung als zuverlässig aufgefasst werden soll. Solche Zweifel haben weiterreichende Folgen für die Interpretation der Aeneis insgesamt, weil die Frage nach der Zuverlässigkeit des intradiegetischen Erzählers Aeneas mit der Beurteilung seiner Figur verknüpft ist: Zweifel an der Zuverlässigkeit des Erzählers Aeneas implizieren die Annahme, dass er durch die (tendenziöse) Art und Weise, wie er die letzte Nacht von Troia schildert, kritisiert werden solle und dass in dieser Kritik eine (mehr oder weniger versteckte) anti-römische oder anti-augusteische

473 Z. B. von Bowie 2008, 47–49; vgl.: »Narratologically, one might almost be better off imagining that the voice of the primary narrator, Virgil, breaks in here. (…) The implication would be that we should not simply take Aeneas’ narration as a long story within a story, as a ›realist‹ text, but as something more complex into which the narrator’s voice intrudes, in a manner very reminiscent of Ovid« (48). Für Bowie gehen die geographischen Details am Ende von Buch 3 über den Wissenshorizont des Aeneas hinaus. Aber bei den Troianern der Aeneis ist ein gewisses Weltwissen vorauszusetzen; außerdem kommt Achaemenides als Informant in Frage. 474 Mit Lämmert 1955, 43–67, der im ›Gefüge der Handlungsstränge‹ verschiedene Formen der Verknüpfung unterscheidet, kann man von einer ›konsekutiven Verknüpfung‹ sprechen; vgl. 59: » ›…und so kommt es, daß ich nun hier bin!‹ – das ist eine Grundformel dieser Verknüpfungsart, die in unzähligen Abwandlungen immer wieder begegnet.«

Zuverlässigkeit  

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Haltung zu erkennen sei. In den entsprechenden Interpretationen wird also ausgeführt, dass Aeneas’ Erzählung das Geschehen nicht angemessen wiedergebe. Eine der Erklärungen dafür lautet, dass Aeneas als unfähig vorgeführt werden solle, das Geschehen zu verstehen. Entsprechend wirft Rauk 1991 Aeneas gleich zweifaches Versagen – nämlich als Erzähler und als Held – vor: Es werde im Text angedeutet, dass Aeneas als Erzähler an seinem Thema scheitere, weil er die wahre Bedeutung der Vorgänge, von denen er berichte, nicht erfasse, wodurch seine mangelnde Einsicht in das eigene Schicksal suggeriert werde.475 Ganz ähnlich vertritt Ahl 2018 die Ansicht, dass Aeneas, der sich durch seine Schilderung selbst als unfähigen Krieger und Anführer entlarve, die Geschehnisse in Troia nicht richtig mitbekomme und als Berichterstatter keine Autorität habe.476 Ein anderer Ansatz besteht darin, Aeneas’ Erzählung als geschönte Selbstdarstellung vor Dido zu sehen: Aeneas wird dann nicht als unfähig, sondern als unaufrichtig gesehen. So vertritt Casali 1999 die These, Vergil habe Aeneas die ›offizielle Version‹ der Geschichte in den Mund gelegt und zugleich in der Figurenrede der Dido (und andernorts) Hinweise auf andere Sagenversionen gegeben, die den Helden in ein schlechtes Licht rücken.477 Casalis Interpretation nimmt ihren Ausgang von der Annahme, dass Dido sich mit facta impia in 4,596 nicht auf ihr eigenes Fehlverhalten beziehe, das darin besteht, ihre Herrschaft

475 So Rauk 1991, 288: »But the blurring of the distinctions between Greek and Trojan that is brought about through the character of Androgeos has the effect of undermining Aeneas’ authority as a heroic narrator. As a storyteller, Aeneas has failed to master events – in a sense to ›get them right,‹ – and this failure can be seen as symptomatic of his general inability to comprehend his own destiny«; 295: »By thus using Aeneas’ own narrative to comment on the inadequacies of his strictly anti-Greek interpretation of the fall of Troy, Virgil also suggests the fundamental inability of Aeneas to understand his own experience and the nature of his own destiny.« 476 Ahl 2018, 60 (ohne Hinweis auf Rauk 1991): »Although Aeneas says he saw and played a large part in the last days of Troy, he talks mostly, at first, of what he saw; and he subdelegates much narrative to other voices, distancing himself from the events he describes. He portrays himself as fumbling, hesitant, and absent-minded, unprepared either for the fall of Troy or for leadership, and generally unaware of what is happening, not as the authoritative historian of Troy’s fall; and he does not represent himself as the person who issues orders or takes command until the last part of his narrative, when the city has fallen.« In der Sache ähnlich und dabei terminologisch etwas konfus: Gasti 2006, 116: »The ambiguity of Aeneas between narrator / bard and participant reflects the dualism of the poet’s position between authorial detachment and participatory subjectivity and involves  a language of overt poetic reflexivity«; 117 f. »In the process of transcribing his personal experiences into a poetic text, the Virgilian narrator in Aen. 2 (Aeneas), as Virgil’s authorial persona, calls into question his mastery of his subject and his narrative control. This lack of confidence on the narrator’s part stems from the discrepancy between the deed (ἔργον) and its verbal counterpart (λόγος) and from Aeneas’ intense emotional involvement that undermines his status as an authoritative narrator.« 477 Casali 1999.

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Der Erzähler Aeneas

Aeneas übergeben zu haben,478 sondern auf ein der ›Zepterübergabe‹ vorausgehendes Fehlverhalten des Aeneas und darauf, dass er ihr über sich selbst und sein Verhalten in Troia nicht die Wahrheit gesagt habe: Mit quem secum patrios aiunt portare penatis | quem subiisse umeris confectum aetate parentem 4,598 f. stelle sie höhnisch in Abrede, dass Aeneas die Penaten und Anchises aus Troia gerettet habe: Casali nimmt für aiunt die Bedeutung eines ironisch zweifelnden ›dicono‹ an: ›sagen sie‹, ›so sagt man‹.479 Insgesamt interpretiert er Didos Figurenrede in der Aeneis etwa in dem Sinne, in dem Ovid Dido in Ov. her. 7,79–82 (vgl. insbesondere: omnia mentiris) gegen Aeneas wüten lässt. Dadurch aber, dass Aeneas von Dido als Lügner gesehen werde, werde der Rezipient der Aeneis dazu angeregt, die Glaubwürdigkeit der ›offiziellen Stimme‹ zu hinterfragen.480 Didos angebliche Zweifel an der Wahrheit dessen, was Aeneas ihr über sich erzählt hat, beträfen den Kern dessen, was in zahlreichen Bildnissen und Texten die Aeneas-Gestalt ausmacht, und stünden dazu in Widerspruch.481 Die unterliegende Systemkritik würde sich darin äußern, dass das Hauptmerkmal einer alten, im kulturellen Bewusstsein tief verankerten Sagengestalt in Frage gestellt würde. Wäre das eine erfolgversprechende Diskursstrategie? Berücksichtigt man den Kontext, wird die Angelegenheit noch fragwürdiger: Didos Äußerung ist der Wahnsinns-Monolog einer gerade verlassenen Liebenden, die selbst an ihrem eigenen Verstand zweifelt (quid loquor? aut ubi sum? quae mentem insania mutat? 4,595), und die sich unmenschlich grausamen Gewaltphantasien hingibt, einschließlich der, dem unerwidert Geliebten seinen eigenen Sohn zum Mahl vorzusetzen (4,600–606). Sollen wir tatsächlich annehmen, dass ausgerechnet in solch einem Kontext die Wahrheit über Aeneas und zugleich Vergils Meinung über Augustus zu finden ist? Selbst wenn man mit Casali für aiunt eine Bedeutung im Sinne eines zweifelnden ›sagen sie‹ im Sinne von ›dicono‹ annähme, wären diese Worte immer noch Teil des Wahnsinnsausbruchs: Gerade darin, dass offensichtliche Tatsachen in Frage gestellt werden, äußert sich Wahnsinn.

478 Sich selbst apostrophierend beklagt Dido, zu spät erkannt zu haben, dass nicht richtig war, was sie getan hat, nämlich ihre Herrschaft Aeneas zu übergeben: infelix Dido, nunc te facta impia tangunt? | tum decuit, cum sceptra dabas 4,596–597a. In Anbetracht des Umstandes, dass Dido die Prophezeiung der Creusa kennt, weil Aeneas ihr davon erzählt hat (vgl. 9.2.11), kann impia facta sich sogar auf ihre »Mißachtung des Götterwillens« (Glei 1991, 141) beziehen, die in der Zepterübergabe besteht, weil Aeneas dadurch gegen seine Bestimmung zum Bleiben verlockt wird. 479 Darüber, wie eine ironische Verwendung von aiunt belegt ist, macht Casali keine Angaben. 480 Casali 1999, 210; vgl. auch Casali 2017, 317 (ad 2,708: ipse subibo umeris): »Didone si ricorderà di questo passo, quando negherà la veridicità del racconto di Enea: 4,599: quem subiisse umeris confectum aetate parentem (aiunt)! Enea tornerà alla sua versione di fatti: 6,111 (alla Sibilla) eripui umeris medioque ex hoste recepi.« 481 Zu diesem zentralen Motiv der Aeneassage, auch in der Bildkunst vgl. 9.2.9

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Deutungen, in denen die Unzuverlässigkeit des Erzählers Aeneas postuliert wird, laufen, konsequent zu Ende gedacht, darauf hinaus, dass die ›Wahrheit‹ über die letzte Nacht von Troia – im Sinne der erzählten Geschichte – in der Aeneis nicht erzählt wird. Man soll sich also vorstellen, dass die Erzählung der Aeneis in dieser Hinsicht eine Leerstelle habe. Was ›wirklich passiert ist‹ (im Sinne der erzählten Geschichte), könnte dann nur zwischen den Zeilen gelesen und aus subtilen Andeutungen auf Prätexte konstruiert werden. Allerdings besteht eine Schwierigkeit dieser Art der Textdeutung darin, zu erweisen – und nicht lediglich zu behaupten –, dass Aeneas’ Erzählung tatsächlich als unzutreffende Wiedergabe des Geschehens gelten soll. Welche Kriterien sollen gelten, wenn es darum geht, den Wahrheitsanspruch einer fiktionalen Erzählung, die im Rahmen einer fiktionalen Erzählung erzählt wird, anzuzweifeln? Ein mögliches Kriterium wären direkte Kommentierungen und Charakterisierungen des intradiegetischen Erzählers durch den extradiegetischen Erzähler, wie sie z. B. der Erzähler Aeneas auf der Ebene zweiten Grades für Sinon als Erzähler dritten Grades vornimmt.482 Solche gibt es aber für ihn selbst im Text der Aeneis nicht. Die Erzählung des Aeneas in Aeneis 2–3 weist auch keine auf sie selbst bezogenen Wahrheits- oder Glaubwürdigkeitsbeteuerungen auf, wie sie für ›Trugreden‹ charakteristisch sind.483 Als weiteres Kriterium kämen vom Autor beabsichtigte und als erkennbar gedachte Widersprüche zwischen Binnenerzählung und Haupterzählung oder solche innerhalb der Binnenerzählung selbst in Frage. Die zu konstatierende Widersprüchlichkeit wäre dann so zu interpretieren, dass Aeneas implizit der Unaufrichtigkeit überführt würde. Derartige Widersprüche werden tatsächlich von Aeneas-kritischen Interpreten postuliert; sie halten aber näherer Überprüfung nicht stand, weil sie entweder auf Missverständnissen beruhen oder darauf, dass die Mehrdeutigkeit, die allen sprachlichen Ausdrücken natürlicherweise innewohnt, tendenziös oder sinnwidrig ausgelegt wird. Ein Beispiel: Es wird ein Widerspruch gesehen zwischen dem Umstand, dass Aeneas sich und seine Gefährten gegenüber Dido als »aller Dinge bedürftig« (omnium egenos 1,599) bezeichnet, und dem Umstand, dass er ihr Dinge, die aus dem brennenden Troia gerettet wurden, zum Geschenk macht (1,648–655. 1,679. 1,695 f. 1,709). Durch diese Unstimmigkeit werde angedeutet, dass Aeneas mit Beute aus Troia (vor dem Untergang?) abgezogen sei und in seiner Erzählung über seinen Verrat an Troia hinwegtäuschen wolle.484 Diese Interpretation hat (mindestens) drei Schwachstellen. Erstens negiert sie gänzlich den Kommunikationszusammenhang, in dem die Worte omnium egenos fallen: 482 Vgl. accipe nunc Danaum insidias et crimine ab uno | disce omnis 2,65–66a; ficto pectore fatur 2,107b; talibus insidiis periurique arte Sinonis 2,195; hierzu s. u. 9.2.2. 483 Zu Wahrheitsbeteuerungen als ›Trugtechnik‹ innerhalb der Rede des Sinon vgl. Grossardt 1998, 350 f. 484 Z. B. Ahl 1989, 25. 

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Der Erzähler Aeneas

Aeneas dankt Dido formal für die freundliche Aufnahme und bedient sich in diesem Zusammenhang topischer Übertreibungen. Zweitens macht Aeneas hier keine Aussage darüber, was die Troianer an Bord ihrer Schiffe haben, sondern darüber, dass ihnen allerhand fehlt (z. B. Holz, um die Schiffe zu reparieren, Wasser und Nahrung). Drittens würde der postulierte Widerspruch – wenn er einer wäre – auch auf der Handlungsebene bestehen und wäre für die Figuren (für Dido, für die Karthager und für die Troianer) unmittelbar ersichtlich, und dies, obwohl die Übergabe der troianischen Geschenke, falls sie in irgendeiner Hinsicht bedenklich wäre, einfach unterbleiben könnte. Bei Aeneas, der ja als fiktionale Figur kein unbeschriebenes Blatt ist, sondern eine vorvergilische sagen- und literaturgeschichtliche Vergangenheit hat, werden zur Beurteilung seiner Zuverlässigkeit als Erzähler auch gern andere Sagenversionen485 in die Waagschale geworfen, also Unvereinbarkeiten zwischen der in der Aeneis gebotenen Version der Sage und anderen Versionen gegen Aeneas verwendet. Die zugrunde gelegte Argumentation ist rezeptionsästhetisch: Aeneas’ Erzählung wird im Hinblick auf Abweichungen von als bekannt vorausgesetzten Versionen der Aeneassage interpretiert. Dabei wird nicht immer hinreichend zwischen der Darstellungsebene und Geschehensebene unterschieden.486 Wenn diese Unterscheidung aber doch berücksichtigt wird, so wird angenommen, dass die alternativen Sagenversionen Dido und den Karthagern in Form von Gerüchten oder Geschichten auf der Geschehensebene bekannt seien.487 Als ein wesentliches Indiz hierfür gilt den Vertretern entsprechender Auffassungen der Vers 1,488 aus der Ekphrasis des Bildschmucks am Juno-Tempel 1,488–493: se quoque principibus permixtum agnovit Achivis – »er erkannte auch sich selbst mitten unter den wichtigsten Kriegern der Griechen«, den sie so verstehen, dass hier Aeneas’ Verrat angedeutet werde. Aeneas, so wird argumentiert, bemühe sich in seiner Erzählung, das unvorteilhafte Bild, welches die Karthager von ihm 485 Zu diesen Sagenversionen vgl. 4.1. 486 In dieser Hinsicht methodisch unscharf: Ahl 1989; Rauk 1991; Gasti 2006; Ahl 2018. Zuweilen wird so ungenau formuliert, dass Aeneas ein merkwürdiges Eigenleben zu entwickeln scheint, vgl. z. B.; Ahl 1989, 27: »We can easily forget that Aeneas is the narrator – and perhaps this is Aeneas’ intent.« Was immer genau Ahl meint, Aeneas sitzt vor seinen Zuhörern und erzählt: Diesen Umstand kann er sie sicher am wenigsten vergessen machen. Ahl 2018, 62: »Aeneas calls his wife Creusa, but builds his return to Troy on the model of Orpheus’ katabasis.« Das klingt, als hätte Aeneas die Georgica gelesen. 487 So ausdrücklich z. B. von Casali  1999, 209 f.: »The account of Aeneas’ flight which ­circulated at Carthage when he arrived there was most probably the ›negative‹ one, the one that Dido should have believed. But the queen, thus predisposed by Jupiter (1.303 f.) immediatly trusts Aeneas and his fellow Trojans without reservations, believes entirely his account of their escape from Troy and is even moved by it. Only after she has personally experienced how disloyal Aeneas can be does she understand the truth: the other accounts of the escape were true, those in which Aeneas betrayed his homeland. Aeneas’ facta impia at Troy were the natural premise for his facta impia at Carthage.«

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hätten, durch ein vorteilhafteres zu ersetzen. Die Vorstellung, dass in 1,488 der Verrat des Aeneas angedeutet sei, findet sich bereits im Serviuskommentar. Dort steht aber noch eine weitere Deutung, nämlich dass der Bildschmuck am Tempel Aeneas besonders tapfer zeige, weil er sich kämpfend inmitten der (würdigsten) Gegner befindet.488 Dafür, dass letztere vorzuziehen ist, sprechen u. a. folgende beiden Gründe: 1.) Der zur Diskussion stehende Satz steht im letzten Teil der Ekphrasis, in dem eine Reihe von Streitkräften aufgezählt werden, die Troia gegen die Griechen unterstützen (1,488–493); namentlich genannt werden drei Anführer: Aeneas, Memnon und Penthesilea. Wer annimmt, dass im vorliegenden Zusammenhang Aeneas’ Verrat angedeutet sei, reißt diese inhaltlich zusammengehörige Reihe loyaler Unterstützer der troianischen Seite auseinander. 2.) Außerdem muss das Medium der Darstellung berücksichtigt werden: Geschildert wird Bildschmuck an einem Tempel, d. h. es ist von einer bildlich darstellbaren Szene auszugehen. Nichts spricht dagegen und vieles dafür, die Verse 1,488–1,493 als Schilderung der Wahrnehmung einer im Bild dargestellten Schlacht aufzufassen: Aeneas erkennt sich selbst mitten im Kampf, das ›östliche Heer‹, die Waffen des Memnon und Penthesilea im Kampf. Wenn man nun behauptet, dass principibus permixtum Achivis im Rahmen einer Schlachten­ darstellung Verrat andeuten soll, dann postuliert man, dass Aeneas dargestellt ist, wie er mit den Griechen vereint gegen Troia kämpft. Dieser Vorwurf würde die bekannten für Aeneas unvorteilhaften Sagenvarianten (›rechtzeitiger‹ Abzug, freies Geleit) noch deutlich übertreffen. Die Vorstellung, dass ein solcher­ maßen gesteigerter Vorwurf im Text der Aeneis implizit neu erhoben würde, um dann erkennbar unzureichend implizit widerlegt zu werden, erscheint reichlich gesucht. Wie andererseits ein Verrat, der mit principibus permixtum Achivis umschrieben wird, anders als im Rahmen einer Schlachtendarstellung bildlich umgesetzt sein soll, müsste erst einmal erklärt werden. Auch sonst ist die Vorstellung, dass die Karthager eine negative Meinung von Aeneas haben, aus dem Text der Aeneis nirgends abzuleiten. Im Gegenteil ist Didos Einstellung den fremden Ankömmlingen gegenüber dank Mercurs

488 aut latenter proditionem tangit, ut supra diximus: ut excusatur ab ipso in secundo Iliaci cineres et cetera: aut virtutem eius vult ostendere; nimiae enim fortitudinis est inter hostium tela versari, ut Sallustius Catilina longe a suis inter hostilia cadavera repertus est. Cornutus tamen dicit versu isto vadimus inmixti Danais hoc esse solvendum. (Ed.  Thilo / Hagen, vol. 1, 154). Der Hinweis am Schluss, dass der Vers se quoque principibus permixtum agnovit Achivis 1,488 mit ›vadimus immixti Danais‹ 2,396a und also der Tarnung der Gruppe um Aeneas als Griechen zu erklären sei, ist eine Erklärung, die den Einklang mit Aeneas’ Erzählung sucht. Allerdings sollte bedacht werden, dass die besondere taktische Situation in 2,396a eher nicht am Tempel dargestellt ist: Der Zusammenhang mit Memnon und Penthesilea ergäbe dann überhaupt keinen Sinn.

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Der Erzähler Aeneas

Vorbereitung489 zuvorkommend und ihr Vorwissen, das sie selbst mit dem Informanten Teucer erklärt,490 (mindestens) neutral und aufgeschlossen. Selbst wenn man andere Sagenversionen als ›bekannte Geschichten‹ auf der Geschehens­ ebene zulassen wollte: Es findet sich kein Anhaltspunkt dafür im Text und enstprechend gibt es für Aeneas keinen Anlass, sich implizit gegen ›Gerüchte in Karthago‹ zu verteidigen. Wenn die Figur des Aeneas in der Aeneis gegen bestimmte Varianten der Überlieferung implizit verteidigt wird, so geschieht dies allein auf der Darstellungsebene: Es ist der Autor Vergil, der seinen Aeneas positiv profiliert, indem er ihn mit eben der Geschichte versieht, die er ihn in Aeneis 2–3 erzählen lässt. Dies wird nicht immer so gesehen: Ahl 1989 meint, allein aus dem Umstand, dass die letzte Nacht von Troia in der Aeneis innerhalb der wörtlichen Rede des Aeneas steht, schließen zu können, dass diesem (und nicht dem Autor) die implizite Widerlegung anderer Sagenversionen zuzurechnen sei.491 Auch Powell 2011 interpretiert Aeneis 2 als beschönigende Selbstdarstellung. Er sieht Aeneas, ähnlich wie Odysseus,492 als erfolgreichen ›spin-doctor‹ seiner selbst, dem bewusst sei, dass er sich vor Dido und den übrigen Karthagern in einem möglichst guten Licht präsentieren müsse, und der seine Sache rhetorisch geschickt vortrage.493 Powell macht dies insbesondere an einer Aufstellung von 17 ›excuses‹ fest, die Aeneas dafür anführe, dass Creusa verloren geht. Allerdings berücksichtigt Powell nicht die unterschiedlichen epistemischen Perspektiven, die in der Schilderung von Creusas Verschwinden zum Tragen kommen: Aeneas erzählt, welche möglichen Erklärungen ihm zum Zeitpunkt des Verschwindens durch den Kopf gegangen sind, die ihn dann ja auch dazu bewogen haben, systematisch nach ihr zu suchen und zurück nach Troia hinein zu gehen. Als Erzähler weiß er, dass die damals gemachten Annahmen nicht zutreffen. Aber er wartet mit der Auflösung, bis 489 Man erfährt nicht, wie es genau vor sich geht, aber eben dass in Karthago eine positive Haltung gegenüber Aeneas und den Seinen bewirkt wird: 1,297–304. 490 Vgl. 7.2. 491 Ahl 1989, 25: » ›Virgil’s account of Aeneas’ motivation does in passing answer very care­ fully the charges made by the hero’s detractors, which is clear enough that Virgil must have known.‹ So Horsfall observes in reference to Aeneid 2. And he is correct in all but one vital point: the narrative is in Aeneas’ voice, not in Vergil’s authorial voice«; »In ­Aeneid 2, Aeneas, like Ovid’s Cephalus, is an internal narrator with good reason to subvert tales of Troy’s fall which an unfriendly critic might adduce. Like Cephalus, he responds to implicit suggestions of impropriety without ever actually acknowledging them. Virgil, like Ovid, does not mount the defense ›himself‹. He makes it our decision whether or not to believe Aeneas’ apologia, and often leaves, as he does elsewhere, unsettling traces of the conflicting versions.« 492 Vgl. Baier 1999, 443: »Odysseus als Ich-Erzähler nutzt also die Apologe, um sich selbst ins rechte Licht zu setzen«, und: »Odysseus ist nicht nur ein unterhaltsamer Rhapsode, sondern er ist zugleich ein geschickter Anwalt in eigener Sache.« 493 Powell 2011; ähnlich auch Ahl noch in Ahl 1989, vgl: »His strategy is rhetorically magni­ ficent« (27), während Ahl 2018 Aeneas als Selbstdarsteller scheitern sieht.

Epistemische Perspektiven  

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er in seiner (chronologisch linearen) Erzählung an dem Punkt angelangt ist, da Creusa ihm erscheint und ihm die gültige, d. h. im Sinne der Geschichte zutreffende, Erklärung für ihr Verschwinden gibt.494 Unterschiede im Wissensstand zwischen erzählendem und erlebendem Ich sind nun aber keine ›Widersprüche‹, die den erzählenden Helden als Lügner entlarven. Powell reduziert Aeneas’ Erzählung unzulässiger Weise auf die Perspektive desjenigen, der sein Handeln im Nachhinein ›rechtfertigt‹ und lässt dabei die ›lebensweltlich-praktische Perspektive des Protagonisten‹495 außer acht. Diese vereinfachende Sichtweise wird der differenzierten Erzählung in Aeneis 2–3 nicht gerecht. Dagegen, dass Aeneas selbst als rhetorisch versierter Anwalt in eigener Sache dargestellt werden soll, spricht aber auch grundsätzlich, dass dies zu der Art und Weise, wie er in der Aeneis dargestellt ist, nicht passt. Nirgends fällt er durch besonderes rhetorisches Geschick auf. Er verstellt sich nicht und ist im Gegenteil aufrichtig ohne Rücksicht gegen sich und andere (z. B. zu Dido in 2,333a–361 sowie, allerdings in eigener berichteter Rede, zu seinen Mitstreitern in Troia496). Damit steht er in offensichtlichem Kontrast zu dem listenreichen, verschlagenen und viel redenden Odysseus,497 und zwar gerade zu dem Odysseus der Aeneis.498 (Außerdem grundsätzlich: orabunt causas melius 6,849.) Der ›spin-doctor‹ des Aeneas ist nicht er selbst im Rahmen der Handlung der Aeneis, sondern der Autor der Aeneis bei der Konzeption seiner Figur. Aeneas’ Erzählung soll eine zutreffende Schilderung des Geschehens sein, natürlich aus seiner eingeschränkten (›personalen‹) Sicht.

8.2 Epistemische Perspektiven Aus der Rede-Einleitung am Anfang von Buch 2 (2,1 f.) und aus der Rede-Ausleitung am Ende von Buch 3 (3,716–718) geht hervor, dass Aeneas dazwischen (d. h. von 2,3 bis 3,715) durchgehend redet.499 Also muss grundsätzlich angenommen werden, dass der Text, der auf diese Weise ihm als Sprecher zugeordnet ist, seiner Figur und deren Sicht der Dinge entspricht. Da nun dieser Text sich nicht auf Aussagen über die aktuelle Situation (nach dem Festmahl im Gespräch mit 494 Zum ›Verschwinden der Creusa‹ siehe 9.2.10 und 9.2.11. 495 Hierzu siehe 8.3. 496 Siehe 9.2.5. 497 Vgl. Freund  2013, 52 (zur Begegnung von Aeneas und Venus bei Karthago, Aen. 1, 305–417 im Vergleich mit der Begegnung von Odysseus und Nausikaa): »Aeneas ist kein geschickter Redner und Taktiker, erst recht kein Lügner. Sein Zweifeln bezüglich der richtigen Anrede scheint frei von rhetorischem Kalkül und spiegelt die echte Unsicherheit wieder, wie der Frömmigkeit gegenüber der unbekannten Gottheit genüge zu tun ist.« 498 Vgl. Berres 1993, 361 f.; Ganiban 2008b. 499 Zur Kommunkationsituation siehe 7.1; zu Aeneas’ Erzählung als Figurenrede siehe 9.1.

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Dido) beschränkt, sondern auch ein davon räumlich und zeitlich getrenntes, und zwar vergangenes Geschehen schildert, liegen in Aeneis 2–3 – wie bei den meisten Erzähltexten  – zwei voneinander verschiedene Perspektiven vor: die »analytisch-retrospektive des Erzählers« und die »lebensweltlich-praktische der Protagonisten«.500 Für die Abschnitte, in denen Aeneas seine eigenen Erlebnisse erzählt (und solche Abschnitte machen den größten Teil von Aeneis 2–3 aus),501 entspricht dieser Unterscheidung die Unterscheidung zwischen der Perspektive des erzählenden Aeneas (bei Dido) und derjenigen des erzählten / erlebenden Aeneas (in Troia und auf dem Weg von der Troas bis nach Karthago). Zwischen dem erzählten Geschehen und dem Akt des Erzählens liegt eine zu Beginn der Erzählung größere und sich im Laufe der Erzählung verringernde Zeitspanne. Daher besteht die Möglichkeit, dass Aeneas als Erzähler rückblickend Zusammenhänge herstellt, die ihm zum Zeitpunkt des Erlebens noch verborgen sind, z. B. dass sich im hölzernen Pferd griechische Krieger befinden. Er weiß zum Zeitpunkt des Erzählens mehr als zum Zeitpunkt des Erlebens. Mit der Abweichung im Wissen zwischen dem erlebenden Ich und dem erzählenden Ich, die beim ›späteren Erzählen‹502 besteht, kann ein Erzähler in unterschiedlicher Weise umgehen. Je nachdem, an welcher Stelle und in welcher Form er das später erlangte Wissen in seine Erzählung einflicht, erzielt er unterschiedliche Wirkungen. Die Vorstellung, ein Ich-Erzähler müsse die Ereignisse notwendigerweise in der Reihenfolge erzählen, in der er sie erlebt oder in der er Kenntnis von ihnen erlangt hat, ist unzutreffend. Dies gilt nur für den Spezial­ fall des Ich-Erzählers, der seine Perspektive auf die seines erlebenden Ichs beschränkt (z. B. über weite Strecken Jane Eyre in Charlotte Brontë, »Jane Eyre«: Die erzählende Protagonistin weiß nicht, dass es sich bei der unheimlichen Gefangenen im Turmzimmer um die Ehefrau ihres Dienstherrn handelt). Eine 500 Vgl. Martinez / Scheffel 82009, 122: »Erzähltexte vereinigen so zwei verschiedene epistemische Perspektiven, die lebensweltlich-praktische der Protagonisten und die analytischretrospektive des Erzählers. Einen narrativen Text zu verstehen bedeutet für den Leser, beide Perspektiven wahrzunehmen.« 501 Innerhalb von Aeneas’ Erzählung gibt es auch Abschnitte, in denen er selbst nicht vorkommt und in denen also kein erlebendes Ich zugegen ist; vgl. 1; 8.3. 502 ›Späteres Erzählen‹, ›Erzählen im Nachhinein‹: ›narration ultérieure‹: Nach dem Kriterium des Verhältnisses, das zwischen der Zeit des Erzählens und der Zeit des Geschehens besteht, unterscheidet Genette  1972, 228–238, vier Typen von Erzählung: ›narration ultérieure‹ (Erzählen im Nachhinein: nicht nur in der Literaturgeschichte, sondern auch in der Lebenswirklichkeit der Normalfall des Erzählens), ›narration antérieure‹ (Erzählen im Voraus: z. B. in prophetischen Erzählungen, meine Beispiele wären Lykophron, Alexandra oder die Apokalypse des Johannes), ›narration simultanée‹ (Gleichzeitiges Erzählen: Genette nennt als Beispiele den Stil Hemingways und den französischen ›Nouveau roman‹) und ›narration intercalée‹ (Dazwischengeschobenes Erzählen: Genettes Beispiele sind der Briefroman, als Werk betrachtet, sowie als Tagebuch organisierte Erzählungen).

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solche Erzählhaltung hat den Vorteil, dass der Ausgang der Geschichte in der Schwebe gehalten und so Spannung erzeugt werden kann. Heinze meint, sie sei mit den Gattungskonventionen des antiken Epos unvereinbar: Wenn im Laufe einer Handlung, die der Held selbst erzählt, Ereignisse eintreten, die er erst nachträglich erfährt oder deren Bedeutung er erst nachträglich erkennt, so hat der Dichter zwei Möglichkeiten. Entweder, er läßt den Erzähler ganz streng dem Gange seiner Erlebnisse folgen, läßt also über jene Ereignisse oder ihre Bedeutung auch den Hörer vorläufig im unklaren: damit kann ein Gefühl unruhiger Spannung erzeugt werden, das freilich zu den erstrebtesten Zielen moderner Romantechnik gehört, zu den künstlerischen Tendenzen des antiken Epos aber gänzlich in Widerspruch steht.503

In seiner apodiktischen Ablehnung der Perspektive des erlebenden Ich für das antike Epos übersieht Heinze allerdings zweierlei. Erstens: Ob durch die eingeschränkte Perspektive des erlebenden Ich Spannung erzeugt werden kann, hängt wesentlich davon ab, wie bekannt die zu erzählende Geschichte ist. Zweitens: In Aeneas’ Erzählung findet die Perspektive des erlebenden Ich durchaus Verwendung und dient dem Spannungsaufbau. So wird zum Beispiel die Entrückung der Creusa durch die Magna Mater erst erklärt, als der Schatten der Creusa Aeneas erscheint. Dadurch bleibt Aeneas’ Suche nach seiner Frau im brennenden Troia spannend; ihr Ausgang ist durch die Sagentradition nicht vorgegeben und daher für den Erstleser der Aeneis offen.504 Auch die Schilderung der Polydorus-Erscheinung erfolgt in Figurenperspektive, so dass die Rezipienten genau wie der erlebende Aeneas zunächst nicht wissen, wie es zu verstehen ist, wenn Blut aus abgerissenen Zweigen strömt. Und die Fehldeutung des Delischen Orakels durch Anchises wird erst aufgeklärt, als die Penaten sich Aeneas offenbaren. Dadurch bleibt das Motiv der Ansiedlung auf Kreta unaufgelöst, solange diese andauert. Im Fall der Einnahme Troias allerdings ist der Ausgang der Geschichte den Rezipienten aller Ebenen von vornherein bekannt. Daher besteht die Spannung in Vergils Darstellung der troianischen Niederlage als solcher weniger darin, wie die Geschichte ausgeht, als vielmehr darin, auf welche Weise die Erzählung zu dem bekannten Ende gebracht wird und wie Aeneas sich dazu verhält.505 Hier ist der Umgang mit dem Unterschied hinsichtlich der Informiertheit über das Geschehen, der zwischen dem erzählenden Aeneas einerseits und dem erlebenden 503 Heinze 31915, 22; ihm folgt Effe 1975, 144; Effe 2004, 14. Anders: Johnson 1999, der in seiner Interpretation von Aeneis  2 zwischen ›erlebendem Ich‹ und ›erzählendem Ich‹ unterscheidet. 504 Dies sieht Heinze 31915, 61 f. selbst so, vgl. 9.2.10 mit Anm. 759. 505 Vgl. Schrijvers 1971, 199: »De afloop van het verhaal, Troje’s val, het ›wat‹, is van te voren bekend zowel in de fictionele werkelijkheid (Dido c.s., cf. de schilderingen op de JunoTempel) als in de historische werkelijkheid (het Romeinse lezerspubliek). Suspense wordt gecreëerd t.a.v. het ›hoe‹ en ›wanneer‹.«

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Aeneas andererseits besteht, ein entscheidender Faktor der erzählerischen Gestaltung. Dies lässt sich gut beobachten an der List der Griechen, die der erzählte Aeneas erst zu einem bestimmten Zeitpunkt durchschaut. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Erzählung in dieser Hinsicht dissonant: Erzähler und Rezipienten (sowohl die interne Rezipientin Dido als auch die externen Rezipienten der Aeneis) wissen, dass im Bauch des hölzernen Pferdes griechische Krieger stecken. Entsprechend werden die Machenschaften der Griechen durch den Erzähler von Beginn an als insidiae qualifiziert (2,65. 195; auch: Myrmidonumque dolos 2,252; im übrigen hatte Dido explizit verlangt, von den insidiae Danaum 1,753 zu hören); das hölzerne Pferd wird als fatalis machina feta armis (2,237) bezeichnet, diejenigen, die vorschlagen, es zu vernichten, als die »vernünftigeren« (quorum melior sententia menti 2,35) und Sinon als Lügner (ficto pectore fatur 2,107; dolis instructus et arte Pelasga 2,152). Der erzählte respektive erlebende Aeneas hingegen bestaunt zusammen mit den übrigen Troianern das riesige hölzerne Bauwerk und lässt sich zusammen mit ihnen von Sinons Trugrede dazu verführen, es in die Stadt zu schaffen. Die entsprechenden Prädikate stehen alle in der ersten Person des Plurals, d. h. der Erzähler schließt sich selbst mit ein. Erst in der Nacht, nachdem ihm Hector im Traum erschienen ist und er vom Dach seines Vaterhauses den Lärm in der Stadt hört, erkennt der erzählte Aeneas, was vorgeht: tum uero manifesta fides, Danaumque patescunt | insidiae (2,309 f.). Das muss man so verstehen, dass der erzählte Aeneas hier begreift, dass die Griechen entgegen allem Anschein doch noch nicht endgültig abgezogen sind, sondern zurückgekommen sein müssen und durch die für den Transport des hölzernen Pferdes teilweise eingerissene Stadtmauer in die Stadt eingedrungen sind, wo sie den vom Feiern geschwächten Troianern zusetzen. Er erkennt, dass es sich bei dem hölzernen Pferd um eine List gehandelt und Sinon gelogen haben muss. Ab diesem Punkt der Erzählung ist das Verhältnis zwischen erzählendem und erzähltem Aeneas bezüglich der insidiae Graecorum im Wesentlichen konsonant. Es könnte Aeneas zu diesem Zeitpunkt auch bereits dämmern, dass Laocoons Vermutung, in dem hölzernen Pferd könnten sich griechische Krieger befinden (2,45), zutreffend war; Gewissheit darüber erlangt er kurz später durch Panthus (2,328–330a). Dissonanz hingegen macht sich z. B. bemerkbar, wenn der Erzähler rückblickend Geräusche erklärt. In 2,298–308 erzählt Aeneas, wie er nach der Traumerscheinung Hectors von Gefechtslärm geweckt wird, den der erzählte Aeneas erst als solchen deuten kann, nachdem er aufs Dach gestiegen ist. Ähnlich verhält es sich in 2,489 f.: Kurz vor der Erstürmung des Palastes durch die Griechen hört der erzählte Aeneas vom Dach aus das Geschrei der Frauen im Innern; der im Nachhinein erzählende Aeneas kann beschreiben, wie die Frauen in den Räumen umherlaufen und einzelne Pfeiler umfassen. Genette thematisiert den Umgang mit der Differenz zwischen dem Informationsstand zum Zeitpunkt des Erzählens und dem Informationsstand zur Zeit des Erlebens im Fall des (faktual oder fiktiv) ›autobiographischen‹ Erzählens, wie

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er sich an dieser Stelle ausdrückt,506 im Rahmen der ›Fokalisierung‹ (frz. ›focalisation‹). Diesen Begriff führt er in sein literaturtheoretisches System ein,507 weil er in den vorhandenen Modellen zur Beschreibung von Erzählsituationen eine unzulässige Vermischung der Kategorien ›voix‹ (›Stimme‹) und ›mode‹ (›Modus‹) feststellt.508 Seine Definition nimmt ihren Ausgang von der Unterscheidung zwischen der Frage nach dem Erzähler (›qui parle?‹: ›wer spricht‹, d. h. ›erzählt‹?) und der Frage nach der Figur, aus deren Blickwinkel das Erzählte vermittelt wird, (›qui perçoit?‹: wer nimmt wahr?).509 Genette differenziert ›narration‹ und ›focalisation‹ als unterschiedlichen Kategorien (›Stimme‹ respektive ›Modus‹) zu­zuordnende Instanzen der Erzählung und stellt in Auseinandersetzung mit diversen Vorgängern auf dem Gebiet der Beschreibung von Erzählsituationen510 drei Typen von Fokalisierung vor. Sein Unterscheidungskriterium ist das Verhältnis zwischen dem Wissen oder besser: dem Informationsgrad511 des Erzählers und dem Informationsgrad der (vielleicht wäre besser: einer) Figur.512 Danach gibt es: Null-Fokalisierung: der Erzähler ist informierter als die Figur,513 interne Fokalisierung: der Erzähler hat denselben Informationsstand wie die Figur, und externe Fokalisierung: der Erzähler ist weniger informiert als die Figur.514 Innerhalb eines Werkes oder Erzählzusammenhanges kann die Fokalisierung fixiert oder variabel sein.515 In einer autobiographischen Erzählung, so führt Genette aus, könne sowohl Null-Fokalisierung als auch interne Fokalisierung vorliegen (also das Geschehen aus dem Blickwinkel des Erzählers oder des Erlebenden 506 Genette 1972, 214–221. 507 Genette 1972, 203–224. 508 Genette 1972, 203: »Toutefois, la plupart des travaux sur ce sujet (qui sont essentiellement des classifications) souffrent à mon sens d’une facheuse confusion entre ce que j’apelle ici mode et voix, c’est-à-dire entre la question quel est le personnage dont le point de vue oriente la perspective narrative? et cette question toute autre: qui est le narrateur? ou, pour parler plus vite, entre la question qui voit? et la question qui parle?« 509 So Genette 1983, 48; anfangs, Genette 1972, 203: »qui voit?«. 510 Genette 1972, 203–206. 511 Vgl. Genette 1983, 49. 512 Bei der Frage nach der Fokalisierungsinstanz (nach der verkürzt mit ›qui perçoit?‹ gefragt wird) geht es Genette m. E. weniger um sinnliche Wahrnehmung als um ›erfassen‹, ›auffassen‹, d. h. in etwa: ›sich aufgrund der eigenen Wahrnehmung und vor dem Hintergrund des eigenen Vorwissens eine Vorstellung vom Geschehen machen‹. Als Objekt der Frage muss ›das Geschehen‹ oder (bei variabler Fokalisierung) ›ein Ausschnitt oder Aspekt des Geschehens‹ gedacht werden. So verstanden ist Genettes Sprung von der Wahrnehmungsperspektive (wie die Formulierung der Frage ›qui perçoit?‹ sie nahelegen könnte) zur Wissensperspektive (wie die Formulierung bei den Fokalisierungsarten sie nahelegt: ›sait‹), den Kablitz  1988 problematisiert, weniger störend. Grundsätzlich ist natürlich zwischen Wahrnehmung, Wissen, Erkennen einer Figur zu differenzieren. 513 D. h.: Bei Null-Fokalisierung gibt es keine Fokalisierungsinstanz innerhalb der Erzählung; der Erzähler steht als Erzähler immer außerhalb der von ihm erzählten Geschichte. 514 Genette 1972, 206–211 und Genette 1983, 44 sowie 88. 515 Genette 1972, 208; 211–213.

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vermittelt werden), aber es ist auch denkbar, dass der Autobiograph Einzelheiten, die ihm zum Zeitpunkt des Erlebens bekannt waren, inzwischen vergessen hat, dann läge im Sinne der Definition hinsichtlich dieser Einzelheiten eine externe Fokalisierung vor. Im Fall von Aeneis 2–3 liegt sowohl Null-Fokalisierung als auch interne Fokalisierung vor: Das Geschehen wird in einigen Aspekten aus dem Blickwinkel des erzählenden Aeneas vermittelt, in anderen Aspekten aus dem Blickwinkel des erlebenden Aeneas.516 516 In der Klassischen Philologie wird der Begriff der Fokalisierung alles andere als einheitlich verwendet. Bei Fowler  1997, 266 f., ist Fokalisierung z. B. keine objektive Beschreibungskategorie, sondern Auslegungssache »a matter of interpretative choice«, dem Belieben des Lesers anheimgestellt »reader’s choice« und wird so zu einem Parameter in der Behauptung von ›Vielstimmigkeit‹ in der Aeneis. Vgl. auch Fowlers Vergleich mit einer Kippfigur in »Deviant focalisation in Virgil’s Aeneid«, Fowler 1989: »In respect of focalisation, this passage, and in particular the simile in 470–1, is a duck rabbit. The narrator speaks; but we can make the focaliser either Dido or Aeneas. We can choose to see it from the man’s point of view or the woman’s. Or, of course we can deny that there is any deviant focalisation and make the narrator the focaliser after all, describing both of his characters from the outside but then sympathetically intervening in 471. It is this aspect of the reader’s choice…«, 54. Das ist interpretatorische Beliebigkeit in der Maskerade eigensinnig verwendeter Terminologie. Die Uneindeutigkeit der Begrifflichkeit bei Klassischen Philologen hinsichtlich der Fokalisierung hat eine historische Ursache darin, dass der Begriff der Fokalisierung zuerst in einer Modifikation (Bal 1977/1984, 18–59), die Genette selbst zurückgewiesen hat (Genette 1983, 48–52), auf antike Texte, nämlich die homerischen Epen, angewendet wurde (De Jong 1985; De Jong 1987), und zwar mit einem erheblichen zusätzlichen definitorischen Aufwand (siehe z. B. De Jong 1987, 37: die Notation unterschiedlicher Erzählsituationen in quasi-mathematischen Formeln). Bal bemängelt an Genettes Ausführung, dass unreflektiert zwischen ›focalisé par‹ und ›focalisé sur‹ gewechselt werde. Sie meint, dass eine Subjektsebene und Objektsebene zu trennen seien, und führt daher in Analogie zu »narrateur« und »narré« die Beschreibungskategorien ›focalisateur‹ und ›focalisé‹ ein (Bal 1977/1984, 19–58: »Narration et focalisation«). Genette fühlt sich von Bal missverstanden und weist diese Modifikation des von ihm eingeführten Begriffs zurück (Genette 1983, 48–52, vgl. hierzu auch: Kablitz 1988). Im Kern handelt es sich um ein sprachliches Missverständnis und die unzulässige Erweiterung einer Metapher: Genette hat sich in der Absicht, eine möglichst abstrakte und unvorbelastete Ausdruckweise zu finden (anstelle herkömmlicher Termini wie Sicht, Perspektive, Standpunkt / f rz. ›vision‹, ›champ‹, ›point de vue‹/engl. ›point of view‹, ›perspective‹ etc.), für ›focalisation‹ als den physikalischen Begriff des ›Brennpunktes‹, also der ›Bündelung (von Strahlen)‹ entschieden. Ein Brennpunkt hat aber weder ein Subjekt noch ein Objekt, und es ist in dem von Genette intendierten, übertragenen, literaturtheoretischen Sinne gleichbedeutend, ob die ›Strahlen‹ – um im Bild zu sprechen – durch eine Figur gebündelt werden (›focalisé par‹) oder in einer Figur (›focalisé sur‹). Der ›Scharfeinsteller‹ (›focalisateur‹ oder ›focalizer‹ bei De Jong 1987 oder ›focaliser‹ bei Fowler 1989) und ›das Scharfeingestellte‹ (›focalisé‹) sind diesem Bild fremd. Gegen Bals Modifikation des Genetteschen Modells spricht aber vor allem, dass die Textbeispiele, an denen sie es vorführt (Bal 1977/1984, 39–55), nicht nachvollziehbar sind und dass sich in ihrer eigenen Anwendung ihres eigenen Modells auf die Praxis zeigt, dass die Fokalisierung bei Bal von der objektiven Beschreibungskategorie, die sie bei Genette war, selbst zum Gegenstand der Interpretation geworden ist (siehe hierzu auch: Kablitz 1988, 254).

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Die beiden einer Erzählung regelmäßig innewohnenden Perspektiven (Erzählerperspektive und Figurenperspektive) zu erfassen, ist für das Textverständnis wesentlich. Für Aeneas’ Erzählung gilt dies sogar in besonderem Maße, weil die Wissensdifferenz zwischen erzählendem und erlebendem Ich in einem entscheidenden Punkt der erzählten Geschichte signifikant zum Tragen kommt. Und zwar gibt es in der Aeneis außer der Ebene der konkreten Handlung der Figuren noch die Ebene des großen Schicksalsplans. Während in Aeneis 2 das konkrete Geschehen darin besteht, dass Aeneas bis zuletzt kämpft und Troia nur widerstrebend verlässt, steht dem auf der Ebene des Schicksalsplans gegenüber, dass Troia dem Untergang geweiht und es Aeneas von den Göttern bestimmt ist, seine Heimatstadt zu verlassen, um an anderer Stätte eine eigene, neue Herrschaft zu begründen. In Vergils Darstellung wird nun dadurch Spannung erzeugt, dass Aeneas den betreffenden Teil des großen Schicksalsplans zunächst nicht kennt und ihn erst allmählich und schrittweise zu verstehen beginnt. Aeneas wird im Verlauf der letzten Nacht von Troia und danach während seiner ›Irrfahrt‹ durch mehrere übernatürliche Instanzen von unterschiedlicher Autorität in Einzelheiten dieses Schicksalsplans eingeweiht. Während die Schilderung der äußeren Handlung in Aeneis 2 (der letzte Kampf um Troia) immer wieder das Mehrwissen des erzählenden Ich erkennen lässt (z. B. in Kommentaren oder, wie oben gesehen, in Adjektiven, die Sinons Verhalten kennzeichnen), ist die Schilderung der allmählichen Einweihung in den Schicksalsplan inhaltlich auf die Perspektive des erlebenden Ich beschränkt und der erzählende Aeneas gibt keine Hinweise, die späteres Geschehen vorwegnähmen.517

517 Dies entgeht z. B. Effe 1975, 144: »Vergil läßt in Anlehnung an die Rückblendetechnik der Odyssee den Aeneas, seinen Protagonisten, in den Büchern 2 und 3 die Vorgeschichte: die Einnahme Trojas und die anschließenden Irrfahrten, erzählen. Trotz einzelner Verfeinerungen hinsichtlich einer stärkeren Hinwendung zur Perspektive des erlebenden Ich bietet auch diese Ich-Erzählung grundsätzlich dasselbe Bild. Die Sicht des erzählenden Ich herrscht vor, eine Sicht, die sich oft von der eines allwissenden Erzählers nicht unterscheidet«, mit Anm. 32: »So wird z. B. das Auftreten des Sinon, obwohl in szenischer Darstellung aus der Sicht des erlebenden Ich erzählt, von vornherein als abgekartetes Spiel entlarvt, das die nur scheinbar abgefahrenen Griechen zur Überlistung der Trojaner inszeniert haben, d. h. es wird vom Standpunkt des erzählenden Ich aus interpretiert (2,57 ff.), und so wird ferner die Befreiung der im Pferd versteckten Griechen durch Sinon und deren mörderisches Wüten in der schlafenden Stadt praktisch als allwissend erzählt (2,250 ff.)«, Effe dann weiter im Haupttext: »Richard Heinze hebt richtig hervor, daß eine Fixierung der Perspektive auf das erlebende Ich das Ziel verfolgt, den Leser im unklaren zu lassen und ›ein Gefühl unruhiger Spannung‹ zu erzeugen. Dies gehöre ›zu den erstrebtesten Zielen moderner Romantechnik‹, stehe aber ›zu den künstlerischen Tendenzen des antiken Epos […] gänzlich in Widerspruch‹. Damit ist das Entscheidende zum Epos gesagt, und wir können diesen Bereich in der Gewißheit verlassen, daß sich hier so etwas wie ›personales‹ Erzählen nicht entwickeln konnte«; ebenso: Effe 2004, 14, Anm. 11.

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Der Wechsel zwischen Erzählerperspektive und Figurenperspektive sowie zwischen konsonantem und dissonantem Erzählen ist bei rückblickendem Erzählen üblich. Für versierte Leser fiktionaler Literatur stellt es in der Regel kein Problem dar, die epistemische Situation intuitiv wahrzunehmen. Indes tun sich einige Interpreten der Aeneis schwer damit, sie prägnant zu erfassen: Sie nehmen Einschaltungen des Erzählers ersten Grades an, konstatieren Inkonsequenzen in der Erzählhaltung, wo keine sind, oder sie operieren mit dem Begriff der tragischen Ironie und überstrapazieren ihn.518 All dies führt dazu, dass einzelne Sachverhalte missverstanden oder unnötig verkompliziert werden. In diesem Zusammenhang ist auch Heinzes Interpretament von der ›Charakterentwicklung des Helden‹,519 das zeitweilig in der Aeneisforschung sehr wichtig genommen wurde, kritisch zu sehen, sowie andere Interpretationen, die eine Entwicklung oder innere Wandlung des Aeneas konstatieren.520 Denn der Hauptunterschied 518 Heinze 31915, der die Erzählhaltung meist zutreffend beschreibt, nimmt doch an, dass zuweilen ein »Verzicht auf die strenge Durchführung der Icherzählung« stattfinde (41). Horsfall 1995, 109–111, listet ihm besonders erscheinende Fokalisierungen auf. Keinerlei Differenzierung hinsichtlich der Perspektivwechsel hat Schauer 2007, 129–133. Von dramatischer Ironie sprechen z.B: Williams 1983, 247–250; Lyne 1987, 207–216 (Chapter 5: Dramatic Irony); vgl. auch Gransden 1985, 62: »Aeneas, in telling this story, must tell it with the fullest ironic hindsight which is as much his as the implied author’s.« Reitz 2019, 19 bemerkt: »Every Trojan who arms himself for the encounter with the foe will fight a lost cause, which is evident even before the encounter.« Adema 2019, die in ihrer Interpretation der Tempora in der Aeneis die Begriffe »base in time of narration« und »base in reference time« (9–22) benutzt und diese auf vier verschiedene Diskursmodi (22–34) anwendet, operiert umständlich mit einem Konzept der ›Pseudo-Gleichzeitigkeit‹, vgl. das Kapitel »pseudo-simultaneous narrative« (54–64). 519 Fuhrer 1989 bietet eine übersichtliche Doxographie; sie selbst lehnt die Vorstellung von einer Charakterentwicklung des Aeneas ab und ordnet eine solche Motivik anderen (späteren) Erzähltraditionen als der antiken Epik zu. Ebenfalls gegen die Annahme einer Charakterentwicklung: Horsfall 1995, 118–122; Schauer 2007, 126 Anm. 310; 154–155. Zur Erklärung der Genese von Heinzes Vorstellung von einer charakterlichen Entwicklung des Aeneas siehe 4.3. 520 Highet  1972, 29–36 zum Beispiel versucht, die Charakterentwicklung an den Reden des Aeneas aufzuzeigen, und konstatiert eine »complete transformation of his nature« zwischen Aeneas’ erster (1,94–101) und letzter (12,947–949) Rede, 29. (Das heißt, ihm gilt als Aeneas’ erste Rede der Ausruf im Seesturm vor Karthago, also der erste Redebeitrag in der Reihenfolge der Erzählung: Nimmt Highet an, dass Aeneas nicht im Laufe des erzählten Geschehens härter werde, sondern im Laufe der Erzählung? Tatsächlich:) »So then the earliest and latest speeches of Aeneas, at the opening and close of the poem, emphasize the change in his character from a desperate and almost suicidal wanderer to a determined and cruel fighter«, 32; »How hard Aeneas becomes in the end, is shown by his final speech«, 30. Eine Variante der Vorstellung von der Charakterentwicklung des Aeneas stellt die Annahme dar, dass Aeneas eine Wandlung vom homerischen zum römischen Helden durchmache, wie sie z. B. Adler 2003 vertritt; sie spricht von einer ›education‹ des Aeneas: »This education begins on the night of the fall of Troy, when Aeneas’ flight from the falling city opens the crucial breach with Homeric heroism; continues throughout Aeneas’ travels to Italy; and is completed with Aeneas’ visit to the

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zwischen dem Aeneas in Troia einerseits und dem Aeneas bei Dido und später im Epos andererseits besteht darin, dass der spätere Aeneas mehr über sein Schicksal weiß, und zwar nicht nur über das inzwischen vergangene, sondern, wegen der Prophezeiungen, die ihm zuteil werden, auch über das zukünftige.521 Dabei bleibt er aber wesentlich derselbe. Von einer Veränderung könnte man allenfalls insofern sprechen, als ein Mensch sich mit seinen Erlebnissen verändert.522 Dies betrifft aber ja gerade nicht, was man gemeinhin das Wesen oder den Charakter eines Menschen nennt. Aeneas erlebt im Laufe der von ihm erzählten Geschichte allerhand und seine Informiertheit über seine Bestimmung nimmt erheblich zu. Auf eine Charakterentwicklung gibt es jedoch im Text keinen Hinweis. Aber nicht nur die Perspektiven des erzählenden und des erlebenden Aeneas werden in der Aeneis-Interpretation oft nicht richtig eingeordnet. Es gibt noch eine weitere Perspektive, die von den beiden genannten Perspektiven grundsätzlich zu trennen ist, nämlich diejenige der externen Rezipienten, der Leser der Aeneis.523 Diese wissen – im Gegensatz zu den Protagonisten – von vornherein, wie die erzählte Geschichte  – im Sinne des Schicksalsplans  – ausgeht. Denn erstens ist die zu erzählende Sage in den Hauptzügen bekannt. Zweitens wissen die Rezipienten aus dem Prooemium und aus der Götterhandlung zu Beginn von Aeneis 1 ungefähr, welche Ausrichtung die bekannte Sage erfährt. So präUnderworld, where he learns the whole of what can be learned about the divine truths that justify his piety and thus vindicate his manliness«, 253. Für Fish 2004 entwickelt Aeneas sich, insofern er lernt, seinen Zorn nicht mehr nach Art seiner homerischen Vorfahren genussvoll auszuleben, 129. 521 Vgl. Schauer 2007, 143, Anm. 348: »Die Entwicklung ist Wissenszuwachs und davon abgeleitetes Handeln, sprich: zunehmender Machtanspruch«, und 151: »Die Entwicklung des Troerführers Aeneas besteht im Zuwachs an Wissen um seine Mission.« 522 So gesehen ist der erzählende Held ›ein anderer‹ als der erlebende, vgl. hierzu: Bal 1977, 23: »Pour examiner cet aspect de la narration, il est indispensable de tenir compte déjà de la « personne » du narrateur, dans la mesure où, surtout dans un récit « à la première personne » le narrateur se distinge du personnage par l’aspect temporel aussi. Le héros, dans ce cas ne se laisse pas identifier au narrateur parce que le moment où il écrit ses aventures, n’est jamais celui où il les vit.« 523 Es gibt tatsächlich einen interpretatorischen Ansatz, der Figur des Aeneas das Wissen nicht nur des Autors, sondern auch des Rezipienten zuzuschreiben, also die epistemischen Perspektiven der Erzählung gänzlich zu nivellieren: »Aeneas weiß alles, was Dichter und Leser über die Erfüllung der römischen Geschichte an den Text herantragen und erinnern sollen. Er weiß mindestens soviel über das fatum wie die Götter – und zwar durch die seit je bemerkte ständige Wiederholung dieser Informationen, die ihm während des epischen Handlungsverlaufs zuteil wird und die daher Züge des Memorierens gewinnt: von Hectors Erscheinung, über Creusas Prophezeiung, die Venus-Weisungen, die Orakel des dritten Buches bis zur Heldenschau und Schildbeschreibung«, Herzog 1993, 86. Das mag vielleicht erst einmal tiefsinnig und bedeutend klingen. Aber einen solchen Ansatz zu verfolgen heißt, vor der Komplexität der narrativen Struktur der Aeneis von vornherein zu kapitulieren; objektivierbare und differenzierte Aussagen über den Text zu treffen ist im Rahmen dieser Prämisse unmöglich.

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sentiert die Aeneis die in ihr erzählte Geschichte vom Ende her; das geschilderte Geschehen ist final motiviert. Nun gibt es Interpreten, die Aeneas dafür tadeln, dass er sich in Troia nicht seiner Bestimmung gemäß verhalte, d. h. dass er zaudere, dass er sich zu wenig wie ein Anführer benehme oder dass er den Willen der Götter missachte. Sie übersehen dabei, dass sie als externe Rezipienten von Anfang an wissen, dass der Held eine Bestimmung hat, der Held selbst hingegen seine Bestimmung nicht von Anfang an kennt.524 Eine entscheidende Szene in diesem Zusammenhang ist die Traumerscheinung des Hector, die sich in der Perspektive des erlebenden Aeneas völlig anders darstellt als in der vorauswis­ senden Perspektive der Rezipienten.525 Auch die Prophezeiung der Creusa gibt dem erlebenden Aeneas mehr Rätsel auf als viele Interpreten, die ihren eigenen Grad an Informiertheit auf Aeneas übertragen, wahrhaben wollen.526 Es lässt sich im Einzelnen zeigen, dass der Vorwurf des Ungehorsams gegen den Götterwillen dem vergilischen Aeneas nicht gerecht wird. Grundsätzlich verkennt, wer ihn erhebt, dass der erzählte Aeneas zunächst gar nicht um seine Bestimmung weiß. Überhaupt wird sie ihm zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte so deutlich, wie sie es den externen Rezipienten von Anfang an ist. Es steht zu vermuten, dass in dieser Hinsicht gelegentlich eine biblische Vorprägung die Aeneis-Interpretation konditioniert. Denn die Erzählung der Aeneis insgesamt gleicht der christlichen Heilsgeschichte darin, dass sie vom Ende her gedacht ist und eine ›finale Motivierung‹ der Handlung vorliegt. Aber Aeneas ist nicht Jesus, der bestimmte Dinge tut, ›damit die Schrift sich erfüllt‹. Anders als der Protagonist des NT hat der Protagonist der Aeneis, also auch der erlebende Aeneas in seiner eigenen Erzählung in Aeneis 2–3, zunächst überhaupt keine Einsicht in den göttlichen Plan, und er ahnt nicht, dass er selbst Teil eines solchen Plans ist. Explizit erfährt er davon erst in Buthrotum vom Apollo-Priester Helenus (nam te maioribus ire per altum | auspiciis manifesta fides, sic fata deum rex | sortitur volvitque vices, is vertitur ordo 3,374b–376). Wenn in Vergils Epos die erzählte Geschichte vom Ende her motiviert ist und der Protagonist eine Bestimmung hat, so war es im Rahmen dieser Vorgaben eine kompositorische Entscheidung, dass er über seine Bestimmung nicht in einer einmaligen und eindeutigen Offenbarung informiert wird,527 sondern 524 Insofern ähneln die Interpreten, die Aeneas vorwerfen, dass er sich in Troia gegen den Willen der Götter auflehnt, Kindern, die im Kasperltheater dem Kasperle zurufen, dass der Räuber sich hinter dem Busch versteckt, oder dem Klischee vom kindischen Kinogänger, der den Figuren auf der Leinwand Ratschläge zuruft. 525 Zur Traumerscheinung des Hector siehe 9.2.3. 526 Zur Prophezeiung der Creusa siehe 9.2.11. 527 Vgl. Horsfall 1995, 121: »We discover that there is no one moment of decisive understanding and no one overwhelming agent of relevation. Indirection is all, though the attentive reader will note a decline in perplexity and acceleration in the action after the encounter with Helenus.«

Epistemische Perspektiven  

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nach und nach. Diese kompositorische Entscheidung ist in Aeneis 2–3 erzählerisch umgesetzt. Aeneas erhält von dem Moment an, da die Griechen aus dem hölzernen Pferd steigen und Troias Untergang beginnt (Zeitpunkt der HectorErscheinung), Informationen von unterschiedlicher Autorität und Eindeutigkeit, die ihn erst allmählich auf die vorgesehene Bahn bringen. Dies muss man bei der Interpretation berücksichtigen. Dann wird deutlich, dass Aeneas nicht als Zögerer gezeigt werden soll, der sich gegen sein Schicksal sträubt oder gar den Willen der Götter ignoriert, indem er Troia verteidigt. Ganz im Gegenteil folgt Aeneas gefügig seiner Bestimmung, insoweit er selbst sie zum jeweiligen Zeitpunkt erkennen kann. Die einzige Ausnahme hierzu stellt die ungebührliche Verlängerung seines Aufenthalts bei Dido in Karthago dar.528 Sie bestätigt die Regel seines sonst schicksalsergebenen Verhaltens.529 Zusammenfassend lässt sich festhalten: In der Aeneis entstammen die Figuren und das geschilderte Geschehen zwar der mythischen Tradition, die bestimmte Einzelheiten vorgibt, aber die erzählte Geschichte ist vor allem von ihrem Ziel her gedacht, wie bereits in den ersten Versen des ersten Buches deutlich wird (1,1–7. 29–33). In diesem Sinne ist Aeneas’ Geschichte weniger die eines Troianers, der den Untergang seiner Stadt überlebt, auf der Suche nach einer neuen Heimat in Italien landet und sich nach Kämpfen mit den dort ansässigen Stämmen in der Nähe des späteren Rom ansiedelt. Aeneas’ Geschichte ist vielmehr vor allem die des Gründungsurahns Roms530 und der gens Iulia531, der aus Troia kommend Latium erobert und das Fundament für die künftige römische Weltherrschaft legt. Diese final motivierte Konzeption steht dem Rezipienten der Aeneis vom Prooemium an klar vor Augen. Darüber wird in den Interpretationen zuweilen missachtet, dass der Protagonist der Aeneis zu Beginn der erzählten Geschichte, also am Anfang von Aeneis 2, noch nichts von seiner Bestimmung 528 Der Aufenthalt in Karthago ist einem Regelverstoß der Juno geschuldet, vgl. 5.4. Zum nicht charakteristischen Auftreten des Aeneas in Karthago: Suerbaum 1967, 200–201, der allerdings vor allem einen Kontrast zum Aeneas der zweiten Hälfte der Aeneis sieht. 529 Vgl. Schauer 2007, 150: »Daß er dennoch aus Karthago aufbricht, zeigt erst den starken, pflichtbewußten Anführer. So gesehen ist die Karthago-Episode kein Abgleiten auf Abwege, sondern eine Bewährungsprobe, die Aeneas besteht.« Vgl. auch McLeish 1972, 127: »The oldest, simplest view of Dido seems to be the best: poetry apart, she is in the Aeneid principally to emphasize Aeneas’ pietas.« Zu Recht warnt McLeish vor einer ahistorischen, romantisierenden Sicht auf Dido: »To us, Dido is  a three-dimenional character, a real person whose emotions and actions have a roundness, a wholeness, that often seems missing in Aeneas himself. But we are post-Romantics: our view of Dido is filtered through Purcell, Dryden, Berlioz, and hundred other interpreters. To a Roman of Virgil’s day she was probably nothing more than an unbalanced barbarian queen, a definite encumbrance in Aeneas’ way«, 127 f. 530 tantae molis erat Romanam condere gentem 1,33. 531 nascetur pulchra Troianus origine Caesar, | imperium Oceano, famam qui terminet astris, | Iulius a magno demissum nomen Iulo 1,286–288.

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Der Erzähler Aeneas

weiß. Sie wird ihm erst im Verlauf von Aeneis 2–3 schrittweise deutlich, und es ist ein weiter Weg, bis er sie Dido gegenüber schließlich selbst artikuliert.532 Die Ich-Erzählung in Aeneis 2–3 stellt in der Perspektive des Helden dar, wie er allmählich in den göttlichen Schicksalsplan eingeweiht wird. Aus dieser Art der Darstellung ergeben sich drei unterschiedliche Grade des Wissens um die Bestimmung des Protagonisten: Der Rezipient der Aeneis kennt die Bestimmung des Aeneas (spätestens) aus dem Prooemium (1), der erzählende Aeneas hat den Informationsgrad, den seine Figur in Karthago hat (2), und der Informationsgrad des erzählten Aeneas nimmt im Laufe der Erzählung zu, bis er den des erzählenden Aeneas erreicht (3). Diese drei unterschiedlichen epistemischen Perspektiven müssen bei der Textdeutung berücksichtigt werden.

8.3 Stellung des Erzählers zum erzählten Geschehen Aeneas erzählt in Aeneis 2–3 prinzipiell ›seine Geschichte‹, ist also über weite Strecken selbst eine Figur in seiner eigenen Erzählung. Wie aber eingangs in »Aeneas auf dem Dach« gezeigt wurde, kommt es vor, dass er Geschehnisse schildert, die mit dem Untergang Troias in Zusammenhang stehen und die für seine Geschichte bedeutsam sind, an denen er selbst aber nicht beteiligt war und die er auch nicht selbst beobachtet hat. Dies trifft außer auf die Episode vom Zweikampf des Priamus mit Pyrrhus noch auf zwei weitere Abschnitte in Aeneis 2 zu, die inhaltlich eng miteinander zusammenhängen. Sie betreffen die insidiae Graecorum: Ganz zu Beginn seiner Erzählung berichtet Aeneas, wie die Griechen das hölzerne Pferd bauen, einige Krieger sich darin verstecken und die übrigen Griechen sich mit den Schiffen bei der Insel Tenedos verbergen (2,13b–24). An diesem Geschehen ist Aeneas gänzlich unbeteiligt, auch beobachtet er es nicht. Die Geschichte will es sogar, dass er davon nichts auch nur ahnt. Gleiches gilt für die Schilderung, wie die griechischen Schiffe nachts von Tenedos her nach Troia zurückkommen und Sinon den Bauch des hölzernen Pferdes öffnet, um die in dessen Innern verborgenen Krieger herauszulassen (2,254–267): Auch hier ist Aeneas nicht zugegen. Wir stellen also fest, dass im zweiten Buch der Aeneis die Erzählhaltung variiert: Es gibt Abschnitte, in denen der Erzähler an dem von ihm geschilderten Geschehen beteiligt ist, und solche, in denen er an dem von ihm geschilderten Geschehen nicht beteiligt ist, ja wo er dieses nicht einmal selbst beobachtet hat. Spricht man mit Genette von einer ›homodiegetischen‹ Erzählhaltung, wenn der Erzähler am geschilderten Geschehen beteiligt ist, und von einer ›heterodiegetischen‹ Erzählhaltung, wo er dies nicht ist, so kann

532 sed nunc Italiam magnam Gryneus Apollo, | Italiam Lyciae iussere capessere sortes; | hic amor, haec patria est. 4,345–347a.

Stellung des Erzählers zum erzählten Geschehen  

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man konstatieren, dass im zweiten Buch der Aeneis die Erzählhaltung zwischen homodiegetisch und heterodiegetisch variiert.533 Bei den homodiegetischen Abschnitten lässt sich darüberhinaus der Grad der Beteiligung des Erzählers am Geschehen differenzieren: Man kann nämlich fragen, ob er die Hauptfigur des von ihm erzählten Geschehens ist, eine von mehreren Hauptfiguren, eine Nebenfigur, ein beteiligter Beobachter oder ein unbeteiligter Beobachter.534 Auch diesbezüglich wird in Aeneis 2 variiert.535 Bei der Auffindung des hölzernen Pferdes ist Aeneas dabei, spielt aber keine tragende Rolle und sagt auch nichts: Er ist einer von vielen Troianern, die das seltsame Bauwerk verwundert betrachten und an die sich Laocoon mit seiner Warnung vor dem Ungetüm vergeblich richtet. Wenn Aeneas aber erzählt, wie ihm der tote Hector im Traum erscheint und wie er daraufhin von Lärm erwacht und sich auf das Dach seines Vaterhauses begibt, um sich einen Eindruck von der Situation zu verschaffen, so handelt es sich um sein eigenes (subjektives) Erleben und er ist die Hauptfigur des von ihm geschilderten Geschehens.536 In dem Abschnitt hingegen, der davon handelt, wie er zusammen mit einigen anderen in Richtung der Stadt aufbricht, sie von Androgeos für Griechen gehalten werden, sie diesen töten und beschließen, griechische Rüstungen anzuziehen, kann man Aeneas als eine von mehreren handelnden Figuren bezeichnen. Im Einzelnen verhält es sich mit dem Grad der Beteiligung des Erzählers am Geschehen im Verlauf des zweiten Buches der Aeneis folgendermaßen: Nach der auf die Kommunikationssituation bezogenen Einleitung537 beginnt die Erzählung mit einem kurzen Abschnitt, in dem Aeneas als an dem geschilderten Geschehen Unbeteiligter spricht. Er erzählt, wie die Griechen das hölzerne Pferd 533 Die Klassifizierung von Aeneas in Aeneis 2–3 als intradiegetisch-homodiegetischer Erzähler durch Schmitz 2002, 72 ist insofern nicht differenziert genug. 534 In Orientierung an den von Lanser 1981, 158–160 vorgeschlagenen Begriffen, die Genettes Kategorien ergänzen: Genette unterscheidet zwischen heterodiegetischem Erzählen (Erzähler ist am erzählten Geschehen nicht beteiligt) und homodiegetischem Erzählen (Erzähler ist Teil des erzählten Geschehens); einen Spezialfall des homodiegetischen Erzählens bildet das autodiegetische Erzählen (Erzähler ist die Hauptfigur des erzählten Geschehens). Bei Lanser, die die Erzählhaltungen, die sie definiert, nicht wie Genette in einer Matrix, sondern auf einer Skala anordnet, reicht die Bandbreite (»spectrum«, 129) von »uninvolved narrator (no place in story world)«, über »uninvolved eyewitness«, »witness-participant«, »minor character« und »co-protagonist« bis »sole protagonist«. 535 Dies wurde verschiedentlich punktuell wahrgenommen (z. B. siehe die nächste Anmerkung), aber bislang nicht systematisch erfasst mit Ausnahme von Sanderlin 1972, der insbesondere die Verwendung der grammatischen Person (1. Singular/1. Plural) beobachtet; für Aeneis 3: Sanderlin 1975; für Aeneis 4: Sanderlin 1969. 536 Vgl. Zintzen  1979, 60, Anm. 144: »Obwohl natürlich Aeneas immer beim Gebrauch der 1. Person Pluralis einbezogen ist, rückt er selbst erst II 268 in den Mittelpunkt der Erzählung, als Hector ihm erscheint«; siehe auch: Heinze  31915, 25; Blümer 2008, 112; Powell 2011, 198. 537 Zu den Bezugnahmen auf den Erzählvorgang: 7.1.

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Der Erzähler Aeneas

bauen, einige Krieger sich darin verstecken, die übrigen Griechen zum Schein absegeln und sich bei der Insel Tenedos verstecken (2,13b–24). Hierauf folgt ein längerer Abschnitt, in dem der Erzähler als beteiligter Beobachter zu denken ist. Er berichtet, wie die Troianer das hölzerne Pferd finden und Laocoon davor warnt, wie die Troianer dann Sinon antreffen und ihn seine Geschichte erzählen lassen, Laocoon und seine Söhne von zwei Meeresungeheuern getötet werden, die Troianer Sinons Rat folgend das Pferd in die Stadt schaffen, ein Freudenfest feiern und schließlich, als es Nacht wird, weinselig einschlafen (2,25–253). Innerhalb dieses Abschnittes steht der erste ausführliche Erzählerkommentar des zweiten Buches: Direkt nach Laocoons Warnung heißt es in 2,54–56, dass Troia noch stünde, wenn man der Warnung geglaubt hätte. Im nächsten, 13 Verse umfassenden Abschnitt spricht Aeneas wieder als unbeteiligter Erzähler. Er schildert, wie die griechischen Schiffe von Tenedos her nach Troia zurückkommen, Sinon die im hölzernen Pferd verborgenen Krieger herauslässt und die Griechen die troianischen Wachen töten (2,254–267). Danach steht ein Abschnitt, in dem Aeneas zum ersten Mal als Hauptfigur des Geschehens spricht. Er erzählt, wie er zu Hause schlafend im Traum mit Hector redet, dann vom Kriegslärm in der Stadt aufwacht, aufs Dach klettert und begreift, was vor sich geht, Panthus mit den Götterbildern zu ihm stürzt und ihn über die Aussichtslosigkeit der Lage informiert, er sich aber dennoch zur Verteidigung der Stadt aufmacht und eine Schar troianischer Krieger, die sich ihm anschließt, zum Kampf bis in den Tod anspornt (2,268–354). Im nächsten Abschnitt ist der Erzähler Aeneas dann eine von mehreren Hauptfiguren. Er erzählt, wie er zusammen mit den Herbeigeeilten in Richtung Innenstadt aufbricht, Androgeos sie für Griechen hält und getötet wird, sie auf Coroebus’ Vorschlag hin die Rüstungen getöteter Griechen anziehen, wie die Griechen Cassandra fortschleppen, woraufhin Coroebus in griechischer Rüstung zu ihrer Rettung herbeistürzt und im sich daraus ergebenden Kampf fast alle Gefährten des Aeneas sterben (2,355–430). Hieran schließt sich der zweite ausführliche Erzählerkommentar des zweiten Buches: Aeneas beteuert, dass er bis zuletzt gekämpft hat und es verdient gehabt hätte, von Feindeshand zu fallen (2,431–434a). Ab 2,434b bis zum Ende des Buches (mit Ausnahme der eingangs besprochenen Episode vom Tod des Priamus) ist der Erzähler wieder die Hauptfigur des erzählten Geschehens, er ist ein ›autodiegetischer Erzähler‹. Er berichtet, wie Lärm ihn und seine beiden noch übrigen Kampfgefährten zur Burg lockt, welche die Troianer verzweifelt zu verteidigen suchen, wie er durch einen Geheimgang die Burg betritt, sich auf das Dach begibt, von dort einen Turm hinunter fallen lässt und schließlich sieht, dass Priamus sterbend im Innenhof liegt (2,434b–505). An dieser Stelle unterbricht Aeneas den Bericht seiner eigenen Erlebnisse und gibt als unbeteiligter Erzähler Auskunft über die Umstände von Priamus’ Tod, also wie Priamus sich zur Verteidigung rüsten will, Hecuba ihn davon abhält, Polites

Stellung des Erzählers zum erzählten Geschehen  

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vor den Augen seiner Eltern von Pyrrhus getötet wird, Priamus Pyrrhus angreift und schließlich von diesem getötet wird (2,506–558). Aeneas ist an diesem Geschehen nicht beteiligt; er befindet sich zwar in der Nähe, ist aber anderweitig beschäftigt und sieht vor allem das Ergebnis.538 Im Anschluss an diesen Einschub nimmt Aeneas den Bericht seiner eigenen Erlebnisse wieder auf. Er schildert, wie der Anblick des sterbenden Priamus ihn an seine Familie erinnert, wie ihm seine Mutter Venus erscheint und das Wirken der Götter in Troia zeigt, wie er das Dach verlässt, um mit seiner Familie aus Troia zu fliehen, wie sein Vater Anchises sich zunächst weigert mitzukommen, dann aber durch Götterzeichen überzeugt wird, wie Aeneas dann außerhalb der Stadt bemerkt, dass er Creusa verloren hat, diese ihm erscheint und bedeutet, dass er ohne sie nach Hesperien und an den Tiber gelangen werde, und wie er schließlich am Morgen beim Berg Ida auf eine größere Schar von Flüchtlingen trifft (2,559–884). Die Variation der Erzählhaltung im Hinblick auf die Beteiligung des Erzählers am Geschehen ist ein wesentliches Merkmal des zweiten Buches der Aeneis. Die oben ausgeführte Differenzierung ergab acht verschiedene Abschnitte, mithin sieben Wechsel der Erzählhaltung. Fragt man, wie diese Wechsel markiert sind, also wie die Übergänge von einer Erzählhaltung zur anderen jeweils gestaltet sind, so findet man, dass an allen Scharnierstellen Sätze stehen, welche die Gemeinsamkeit aufweisen, keinen Fortgang der Handlung zu schildern. Im Einzelnen: Die ersten beiden Abschnitte, von denen der erste die List der Griechen und der zweite die Reaktion der Troianer auf das hölzerne Pferd erzählen, unterscheiden sich zunächst deutlich in der grammatischen Person: Von sie, die Griechen, im ersten Abschnitt wechselt die Erzählung zu wir, die Troianer, im zweiten. Hinzu kommt, dass der erste Abschnitt mit der Ekphrasis der Insel Tenedos (2,21–24) endet, die als Ekphrasis außerhalb der eigentlichen Handlungsschilderung steht. Die nächsten beiden Übergänge werden durch Zeitangaben gebildet. Die erste dieser Zeitangaben beschließt die Schilderung des Tages der Troianer: Vertitur interea caelum et ruit Oceano nox involvens umbra magna terramque polumque Myrmidonumque dolos; fusi per moenia Teucri conticuere; sopor fessos complectitur artus.

2,250 2,251 2,252 2,253

Die zweite Zeitangabe leitet die Darstellung der Erlebnisse des Aeneas ein, der sich zu Hause schlafen gelegt hat: Tempus erat quo prima quies mortalibus aegris incipit et dono divum gratissima serpit. In somnis, ecce, ante oculos maestissimus Hector visus adesse mihi… 538 Ausführlich hierzu: 1. 

2,268 2,269 2,270 2,271

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Der Erzähler Aeneas

Die beiden Zeitangaben unterscheiden sich darin, dass sie auf unterschiedliche Referenzsysteme bezogen sind: Während die erste ein kosmisches Phänomen beschreibt (nach Sonnenuntergang endet das Fest und die Troianer sinken in Schlaf), bezieht sich die zweite auf die menschlichen Schlafgewohnheiten (zu Beginn der Schlafenszeit erscheint Hector dem Aeneas im Traum).539 Dadurch wird eine genaue Bestimmung der Relation zwischen beiden Zeitpunkten vermieden. Man kann annehmen, dass die erste Zeitangabe einen früheren Zeitpunkt beschreibt als die zweite. Zwischen diesen Zeitangaben steht der zweite Abschnitt über die List der Griechen, also einer der Abschnitte, an denen der Erzähler nicht beteiligt ist: Et iam Argiva phalanx instructis navibus ibat 2,255 a Tenedo tacitae per amica silentia lunae540 2,256 litora nota petens… 2,257

Der durch die zweite Zeitangabe eingeleitete Abschnitt ist der erste innerhalb der Erzählung, in dem der Erzähler die Hauptfigur des erzählten Geschehens ist. Dieser Abschnitt beginnt mit dem Traumgesicht, also einem maximal subjektiven Erlebnis, so dass der Grad der Beteiligung des Erzählers am Geschehen gleich offensichtlich ist. Mit dem Pronomen mihi bezieht der Erzähler sich in 2,268 zum ersten Mal in der ersten grammatischen Person auf sich selbst. Den Abschnitt beschließt eine retrospektive Beurteilung der eigenen Verfassung in 2,314b–317 und in 2,318 markiert der mit ecce eingeleitete Auftritt des Panthus den Beginn des nächsten Erzählabschnitts,541 in dem der Erzähler nicht mehr die alleinige Hauptfigur, sondern eine von mehreren Hauptfiguren des erzählten Geschehens ist. In dieser Haltung werden die Kriegshandlungen der Schar um Aeneas geschildert: Der Rüstungsraub, das Hinschlachten von Griechen, welche die Verkleidung zu spät durchschauen, und das Gefecht, das entsteht, als Coroebus Cassandra zu Hilfe eilt. Dieser Abschnitt endet mit dem Erzählerkommentar in 2,431–434a, nämlich der Beteuerung des Aeneas, dass er es verdient gehabt hätte, als Krieger in Troia zu sterben. In 2,434b setzt die Erzählung wieder ein,

539 Grillone 1967, 39, liest die Zeitangabe so, dass der Traum von Hector sich vor Mitternacht ereignet habe (weil Aeneas danach noch lange kämpft), und führt aus, dass Träume vor Mitternacht bei den Römern als unwahr gegolten hätten, dass aber dieser Traum eindeutig als wahr einzustufen sei: Vergil habe den Volksglauben zugunsten der Handlungsschilderung unberücksichtigt gelassen. 540 Zu dem seit Servius viel diskutierten Ausdruck tacitae per amica silentia lunae siehe Casali 2017, 185–186. Ich möchte, in Anlehnung an luna silens (Neumond, vgl. Casali), tacita luna als »sich vorübergehend verfinsternder Mond« verstehen: Es war eine Mondnacht, aber der Mond war nicht durchgängig zu sehen, weil er sich zeitweise verfinsterte, also: »durch das für sie günstige Ausbleiben des sich vorübergehend verfinsternden Mondlichtes«. 541 Ausführlich zu ecce: 7.4.

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mit Aeneas als Hauptfigur. Es sind nur noch wenige um ihn übriggeblieben, darunter der alte Iphitus und der von Odysseus verwundete Pelias. Mit ihnen zieht Aeneas zur Burg. Ab hier wird die autodiegetische Erzählhaltung in der Schilderung der Haupthandlung bis zum Schluss des Buches beibehalten. Auf welche Weise die Episode vom Tod des Priamus, wo der Erzähler am Geschehen nicht beteiligt ist, in die sie umgebende Erzählung mit dem Erzähler als Hauptfigur eingebettet ist, und wie der Einschub als solcher markiert ist, wurde eingangs dargelegt:542 Eine konstatierend-resümierende Feststellung in 2,503–505 schließt die Erzählung der eigenen Erlebnisse zunächst ab. Dann wird in 2,506 die Erzählung als solche überhaupt unterbrochen: Hier steht eine Apostrophe an die Adressatin (narratee), in der das Thema des Einschubs benannt wird: fata Priami. Der Einschub endet mit dem wiederum konstatierend-resümierenden ›Epitaph auf Priamus‹ in 2,554–558543 und schließlich setzt mit at me in 2,559 die Erzählung der eigenen Erlebnisse wieder ein. Der letzte Vers des zweiten Buches schließlich, der den letzten Satz bildet, hat zwei Prädikate544 in der ersten Person des Singular: cessi et sublato montis genitore petivi (2,804). Aufs Ganze gesehen nimmt der Grad der Beteiligung des Erzählers am erzählten Geschehen im Verlauf von Aeneis 2 zu. Der erzählte Aeneas gewinnt im Laufe der Erzählung in der Geschichte an Bedeutung. Er wird von einer unbeteiligten Nebenfigur allmählich zur Hauptfigur seiner Erzählung. Dies bedeutet nun aber nicht, dass mit der Figur des Aeneas selbst im Laufe dieser Zeit eine Veränderung vorgeht oder gar eine Charakterentwicklung stattfindet. In Aeneis 3 wird der am Ende von Aeneis 2 erreichte Grad der Beteiligung des Erzählers am erzählten Geschehens im wesentlichen durchgängig beibehalten, wie es sich auch natürlicherweise aus dem Inhalt ergibt: Aeneas erzählt als Teil einer Gruppe, die sich unter seiner Leitung geschlossen jeweils auf dasselbe Ziel zubewegt, vom gemeinsamen Zurücklegen eines Weges. Während die Erzählung der Aeneis als ganzes nicht immer der natür­lichen Reihenfolge der geschilderten Geschehnisse folgt,545 ist Aeneas’ Erzählung grundsätzlich chronologisch angeordnet. Die Ereignisse werden in der Reihenfolge geschildert, wie sie zeitlich aufeinander folgen. Andere Anordnungen wären denkbar. Aeneas könnte z. B. zuerst seinen eigenen Erlebnisbericht geben und diesem dann Erklärungen aus der mehrwissenden Perspektive des späteren Erzählers folgen lassen. Namentlich könnte er die Episode vom Tod des Priamus

542 Siehe 1.  543 Zum ›Epitaph auf Priamus‹ in 2,554–558 siehe 8.4. 544 Das erste dieser Prädikate steht am Versanfang und das zweite am Versende. Beide sind von Verben der Bewegung gebildet. Die Richtung dieser Bewegungen sind gegenläufig: ich ging weg / w ich zurück – ich strebte hin. 545 Aeneis 2–3 sind eine Analepse und in Aeneis 8 und 9 wird derselbe Zeitraum doppelt geschildert.

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Der Erzähler Aeneas

an eine andere Stelle seiner Erzählung setzen – etwa an das Ende der Schilderung von Troias Untergang (am Ende von Aeneis 2), oder auch an das Ende seiner Irrfahrtenerzählung (am Ende von Aeneis 3). Auch könnte er die Erklärung dafür, wie es kommt, dass sich mitten in der Nacht Griechen im Innern der Stadt befinden, anders platzieren und er könnte sie in einem Stück bringen, statt sie auf zwei durch über 200 Verse voneinander getrennte Abschnitte (2,13b–24 und 2,254–267) zu verteilen. Aber die Erzählung des Aeneas folgt im Wesentlichen der natürlichen Reihenfolge der Geschehnisse,546 und daraus ergibt sich die oben beschriebene Variation der Erzählhaltung in Hinsicht auf den Grad der Beteiligung des Erzählers am Geschehen. Diese Variation wird, wie wir gesehen haben, in der Erzählung des Aeneas abschnittsweise realisiert und die einzelnen Abschnitte sind klar erkennbar voneinander abgegrenzt. Die Frage, wie ein Erzähler, der selbst eine Figur in der von ihm erzählten Geschichte ist, zu Kenntnissen gelangt, die über seine eigenen Erlebnisse hinausgehen, muss plausibel beantwortbar sein, wenn die Erzählung stimmig sein soll. Dies bedeutet aber nicht, dass sie auch explizit beantwortet werden müsste, dass also der Erzähler fortlaufend Rechenschaft darüber geben müsste, woher er seine Informationen hat. Wohlgemerkt kann er dies tun, aber er muss es nicht. Der erzählerischen Konvention ist Genüge getan, wenn der Erzähler die Möglichkeit hat, die von ihm berichteten Geschehnisse, die über die eigenen Erlebnisse seiner Figur hinausgehen, in Erfahrung zu bringen, ja es reicht sogar, dass es nicht unmöglich ist, dass er sie erfahren haben kann. Im Fall des erzählenden Aeneas wurden die Möglichkeiten zum Teil schon erwogen: Der Aufenthalt in Buthrotum bei Andromache ist eine mögliche Quelle für Wissen über Vorgänge im Haus des Priamus. Auch die Gefährten, mit denen Aeneas unterwegs ist, kommen als Informanten in Frage: Sie können in den letzten Stunden von Troia Dinge erlebt, gehört oder gesehen haben, die Aeneas selbst nicht bekannt waren, bevor er sie von ihnen erfahren hat (z. B. wohin die Seeungeheuer verschwinden, nachdem sie Laocoon und seine Söhne getötet haben). Als Gewährsmann für solche Einzelheiten, welche die griechische Seite betreffen, etwa welche griechischen Krieger im Pferd verborgen waren, steht Achaemenides zur Verfügung, der Gefährte des Odysseus, den Aeneas in Sizilien mit an Bord nimmt und so vor Polyphem rettet (3,588–681). In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Heinze die Frage, wie Aeneas zu seinem über das eigene Erleben hinausgehenden Wissen gelangen kann, zwar für einige Stellen diskutiert und auch die erwähnten Möglichkeiten benennt, dem Autor der Aeneis Überlegungen dieser Art aber nicht zutrauen will. So schreibt er zu 2,225–227, wo es heißt, dass die beiden Seeungeheuer, die gerade Laocoon und seine Söhne getötet haben, sich zur arx begeben und sich dort zu Füßen der Athena-Statue niederlassen: 546 Ausnahmen hierzu stehen nur in der Figurenrede innerhalb von Aeneas’ Erzählung.

Stellung des Erzählers zum erzählten Geschehen  

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Wenn dies Aeneas erzählt, so tut er es nicht als unmittelbarer Augenzeuge; die Troer konnten nicht auf die Burg sehen, und es wäre lächerlich, sich vorzustellen, daß sie die Schlangen auf ihrem Lauf begleitet hätten. Sie können nur sehen, welche Richtung sie einschlagen, und höchstens später von anderen erfahren, wo sie sich verborgen haben. Virgil hat sich den Sachverhalt kaum so in Gedanken zurechtgelegt, sondern auch hier wieder die Form der Icherzählung nicht bis in die äußerste Konsequenz festgehalten, um nicht entweder in die lästige Breite der Erzählung verfallen oder auf das sachlich wichtige Motiv verzichten zu müssen.547

Wir kennen weder die Topographie von Troia noch die genauen Sichtverhältnisse und müssen sie so nehmen, wie der Erzähler sie präsentiert.548 Eine weithin sichtbare Kolossalstatue (in der Art der Athena Promachos in Athen) ist vorstellbar. Aber vor allem kann der Erzähler Aeneas auch in dieser Hinsicht ein Mehrwissen gegenüber den erzählten Figuren am Strand erlangt haben: Es ist plausibel, dass man sich in Troia über den Verbleib von zwei Riesenschlangen, deren Verhalten man als gottgesandtes Zeichen deutet und die man in die Stadt hat eindringen sehen, Gewissheit verschafft. Noch vor dem Abend können die Troianer sich darüber ausgetauscht haben, z.B beim Transport des hölzernen Pferdes in die Stadt. Weitergehend kritisiert Heinze die Kohärenz der Erzählperspektive, wenn er behauptet, dass Aeneas von Handlungen der Griechen erzählt, von denen er nichts wissen könne. Die Vorstellung von Achaemenides als möglichem Gewährsmann lehnt er ausdrücklich ab: ja man kann sich (…) fragen, woher überhaupt Aeneas alle jene Einzelheiten erfahren hat: daß das Königsschiff das Feuersignal gab, welche Helden im Roß waren, daß sie an einem Seil herabglitten usf., und so auch bei dem ersten Bericht, daß die Helden ausgelost waren u.dgl. Ein antiker λυτικός hätte vielleicht geantwortet, dies alles habe Aeneas später, Jahre nachher, von Achaemenides, dem Genossen des Odysseus in Erfahrung gebracht; wir unsererseits werden nicht zweifeln, daß Virgil an solche Möglichkeiten gar nicht gedacht hat, sondern auch hier den Standpunkt der Icherzählung nicht streng gewahrt hat.549

Ich meinerseits halte es mit Heinzes hypothetischem λυτικός. Im Gegensatz zu Heinze zweifele ich nicht daran, dass der Autor der Aeneis sehr wohl berücksichtigt hat, was der homodiegetische Erzähler wissen kann und woher. Ich meine sogar, dass die Figur des Achaemenides, die wir vor Vergil nicht kennen, 547 Heinze  31915, 20; Vgl. auch Ahl  2018, 61: »Vergil’s Muse allows occasional troubling inconsistencies in Aeneas’ account.« 548 Vgl. Martinez / Scheffel 82009, 95–97 zum logischen Privileg der Erzählerrede. Es geht ausschließlich um die literarische Fiktion. Grabungsbefunde tun hier nichts zu Sache. 549 Heinze  31915, 22 f.; ihm folgen viele, z. B. Büchner 1955, 326: »kein Hörer fragt, woher Aeneas das weiß.«

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gerade deshalb in die Geschichte eingefügt wurde, weil plausibel gemacht werden musste, dass der in Karthago erzählende Aeneas Einzelheiten der griechischen Seite kennt. So erfüllt die Figur des Achaemenides eine entscheidende narrative Funktion, insofern dieser als griechischer Kämpfer vor Troia eine mögliche Quelle für die Kenntnis von bestimmten Einzelheiten der griechischen Seite darstellt: Insbesondere für die in 2,13b–24 und 2,254–267 geschilderten Vorgänge wird in Aeneas’ Erzählung vorausgesetzt, dass er über Informationen verfügt, die er nur von einem griechischen Gewährsmann haben kann. ­Achaemenides kommt als solcher in Frage. Denn er kann wissen, wie die Aufstellung des hölzernen Pferdes und der Rückzug der Griechen auf die Insel Tenedos vor sich gegangen sind. Auch kann er die Namen der im Pferd versteckten Krieger kennen und wissen, dass Sinon sie nachts herauslassen sollte. An einer Stelle wird Achaemenides sogar explizit als Quelle genannt, allerdings geht es da nicht um die Taktik der Griechen, sondern um Geographie. Und zwar sagt Aeneas mit Bezug auf topographische Einzelheiten an der Küste Siziliens: talia monstrabat relegens errata retrorsus litora Achaemenides, comes infelicis Ulixi.

3,690 3,691

Diese Bemerkung fällt kurz vor dem Schluss der Erzählung in dem Abschnitt, der den Weg vom Kyklopenland am Fuße des Aetna bis nach Drepanum schildert. Wie Helenus ihnen geraten hat, fahren die Troianer nicht durch die Meerenge von Messina, sondern steuern im Uhrzeigersinn um Sizilien herum: Mit günstigem Nordwind passieren sie die Mündung des Flusses Pantagies, die Bucht von Megara Hyblaea sowie Thapsus (3,687–689). Auf der Insel Ortygia vollziehen sie ein religiöses Ritual für lokal verehrte Gottheiten. Sodann überqueren sie das Mündungsgebiet des Elorus, umfahren das Vorgebirge Pachynus und sehen auf ihrer weiteren Fahrt von fern der Reihe nach Camerina, Gela, Agrigent, Selinunt, Lilybaeum, bis sie schließlich nach Drepanum kommen (3,692–708a).550 Wenn es nun von Achaemenides in 3,690 f. heißt, dass er die Küstenstrecke, die er als Begleiter des Odysseus auf dessen Irrfahrt zurückgelegt hat, andersherum (retrorsus) wieder abfährt (relegens), so steht dahinter die Vorstellung, dass Odysseus die Strecke entlang der Süd- und Ostseite Siziliens gegen den Uhrzeigersinn zurückgelegt hat und Achaemenides mit ihm. Diese Vorstellung ist für sich genommen zu betrachten und es ist dabei völlig unerheblich, ob sie in irgendeinem früheren Text ausgeführt ist.551 Es reicht, dass dieses Motiv, 550 Zu den topographischen Einzelheiten und den entsprechenden literarischen Traditionen siehe Horsfall 2008, 456–470 mit weiterer Literatur. 551 Dass etwa in der Odyssee, etwa auf dem Weg von den Lotophagen (Od. 9,83–105), die an der nordafrikanischen Küste lokalisiert wurden (bei der kleinen Syrte: Pomponius Mela, 1,7,37; zu den verschiedenen antiken Lokalisierungen der Lotophagen vgl. Parroni 1984,

Vorgriffe, Resümees, Kommentare  

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dass nämlich Achaemenides die Gegenden, an denen er zusammen mit den Troianern vorbeifährt, kennt, weil er zusammen mit Odysseus schon einmal dort war, als in sich stimmig gelten kann.552 Achaemenides dient in ähnlicher Weise als Informant für Aeneas wie Teucer für Dido.553 Dadurch, dass ihm gleich bei seinem ersten Auftreten in der Geschichte mit der Blendung des Polyphem eine Glanzstelle der Odyssee in den Mund gelegt ist, wird er als Quelle für die griechische Seite eingeführt, und zwar als eine Quelle, die eine alte Geschichte aus einer neuen Perspektive bietet.554 Innerhalb von Aeneas’ Erzählung, die in Aeneis 2 eine alte Geschichte in neuer Perspektivierung bietet, ist Achaemenides’ Erzählung ein Exempel für eine solche Neuperspektivierung einer bekannten Geschichte.

8.4 Vorgriffe, Resümees, Kommentare Ein Erzähler kann in unterschiedlichen Zusammenhängen seiner Erzählung unterschiedlich stark in Erscheinung treten. Dort, wo Geschehen geschildert wird, tritt der Erzähler als solcher gewöhnlich im Bewusstsein des Rezipienten hinter der Fiktion von Ereignissen, Personen und Handlungen zurück. Explizit anwesend ist er hingegen dann, wenn der Vorgang des Erzählens evoziert wird, also der aktuelle Erzählakt, aus dem die Erzählung hervorzugehen scheint, zur Sprache kommt. In den sieben Rekursen auf den Erzählvorgang, die in

209), zu den Kyklopen keine Küstenabschnitte oder gar Landgänge beschrieben werden, tut nichts zur Sache: Die Aeneis ist ein eigenständiger Erzähltext. 552 Bereits im Serviuskommentar findet sich die Überlegung, dass Vergil die Verse 3,690–691 eingefügt habe, um zu erklären, woher Aeneas geographische Einzelheiten von Siziliens Südküste kennt, die er mit dem Schiff umrundet, ohne sie jedoch zu betreten; vgl. Servius ad 3,690 (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 453, hier unter 3,389 am Ende): talia monstrabat: quia occurrebat: unde haec loca nosti?  Horsfall  2006, 459–461 weist diese Erklärung, die er ausschließlich auf 3,687–689 bezieht, zurück. Er meint, man könne an 3,692–707 sehen, dass Vergil sich um derlei nicht kümmere: »Serv. suggests that these vv. are here to explain how Aen. could know about haec loca; as if V. cared (vd. infra, 692–707).« Horsfalls Argumentation liegt die Annahme zugrunde, dass talia in 3,690 sich nur auf das Voranstehende beziehe. Tatsächlich aber kommt talia in der Aeneis nicht nur rückwärtsweisend (wie zum Beispiel in: 1,50; 1,102; 1,208), sondern auch vorwärtsweisend vor (so zum Beispiel in: 1,94; 1,131; 1,256; 2,322). Bowie 2008, 48 f. sieht in dem informierten Fahrtbericht um Sizilien herum eine Stelle, an der die Figurenperspektive in der Binnenerzählung (Aeneis 2–3) nicht konsequent eingehalten sei. Er fragt: »Is this not the Hellenistic poet Virgil entering his text to give us information that is all but impossible to imagine his hero obtaining?« Dagegen spricht die explizite Angabe von Achaemenides als Quelle für die gebotene Information in 3,690 f. 553 Zu Teucer als Informant siehe 7.2. 554 Zu Achaemenides und seiner Erzählung: Luppe 1956; Römisch 1976; Krause 2010.

182

Der Erzähler Aeneas

Aeneis 2–3 stehen,555 bezieht sich die erste Person des Singulars stets auf den Erzähler Aeneas. Sowohl im Zusammenhang mit derartigen Äußerungen als auch unabhängig von ihnen kommt es zudem vor, dass das Geschilderte eingeordnet, zusammengefasst oder bewertet wird. Auch hierin macht der Erzähler sich in seiner Eigenschaft als Erzähler bemerkbar. Insofern solche Äußerungen die Schilderung des Geschehens nicht fortführen, sondern unterbrechen, bilden sie Einschnitte. Daher tragen sie – so wie die Zeitangaben,556 Ortsbeschreibungen557 und auch die Gleichnisse – zur Gliederung der Erzählung bei.558 Inhaltlich bilden sie gegenüber der Geschehensschilderung eine Metaebene, auf der das Geschilderte gedanklich eingeordnet oder auch die Frage nach seinem Sinn thematisiert werden kann. Sie entsprechen der analytisch-retrospektiven Perspektive.559 In Aeneis 2–3 sind es diese Stellen, an denen sich am deutlichsten manifestiert, dass Aeneas vermehrte Einsicht in den Verlauf der Ereignisse gewonnen hat, die er als Beteiligter nur eingeschränkt wahrnehmen konnte. Sein Bericht wird durch vorangestellte Inhaltsangaben und abschließende Resümees gegeliedert. Dabei fließen in unterschiedlichem Grad explizite und implizite Bewertungen des Geschehens in die Erzählung ein, sei es dass bestimmte Vorzeichen für eine nachfolgende Schilderung gesetzt werden, sei es dass Geschildertes im Nachhinein zusammengefasst, ausdrücklich beurteilt oder ihm eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Zweimal wird in Aeneis  2 eine hypothetische Alternative formuliert. Die betreffenden Äußerungen stehen nach Laocoons Warnung (2,54–56) und nach der Schilderung des Gefechts, bei dem die meisten von Aeneas’ Kampfgefährten sterben (2,431–434a). Die erste dieser Äußerungen betrifft den Untergang Troias, die zweite betrifft das Überleben des Aeneas: [1] Wenn Schicksal und Götterwille günstig gewesen wären, hätte Laocoons Lanzenwurf das Versteck der Griechen offenbart und Troia stünde noch: et si fata deum, si mens non laeva fuisset, impulerat ferro Argolicas foedare latebras, Troiaque nunc staret, Priamique arx alta maneres.

2,54 2,55 2,56

[2] Aeneas schwört bei Troias Asche und seinen toten Landsleuten, dass er keiner Gefahr ausgewichen sei und dass er es verdient hätte, von Feindeshand zu sterben, wenn es ihm bestimmt gewesen wäre: 555 Zu den Rekursen auf den Erzählvorgang in Aeneis 2–3 vgl. 7.1. 556 Zwei Beispiele für die gliedernde Funktion von Zeitangaben in Aeneis 2 sind in 8.3. genannt. 557 Für die Ortsangaben in Aeneis 2–3 siehe 6.4. 558 Die gliedernde Funktion der Erzählerkommentare zeigt sich deutlich z. B. bei 2,499b–505 und 2,554–558, durch die der Einschub über das Schicksal des Priamus eingerahmt wird; hierzu siehe 1.  559 Vgl. 8.2.

Vorgriffe, Resümees, Kommentare  

Iliaci cineres et flamma extrema meorum testor, in occasu vestro nec tela nec ullas vitavisse vices, Danaum et, si fata fuissent, ut caderem, meruisse manu.

183

2,431 2,432 2,433 2,434

In beiden Kommentaren [1] und [2] wird ein theoretisch möglicher, aber nicht verwirklichter Verlauf des Geschehens aufgezeigt; ausgedrückt wird dies jeweils in einem Konditionalgefüge im Irrealis der Vergangenheit. Als Grund für NichtVerwirklichung werden jeweils die fata (2,54 und 2,433) sowie beim Lanzenwurf zusätzlich der Götterwille (2,54) genannt.560 Damit wird die Schicksalhaftigkeit der Ereignisse behauptet.561 Die rückschauend-analytische Perspektive ist offensichtlich. Beide Äußerungen gehen über die Figurenperspektive des A ­ eneas zum Zeitpunkt des Erlebens hinaus und die in ihnen erreichten Einsichten können nicht dem erlebenden Aeneas zugeschrieben werden. Daher wäre es verfehlt, diese Einsichten für ihn bei der Beurteilung seines Handelns vorauszusetzen. Als Erzähler überblickt Aeneas hier seine Erlebnisse im Nachhinein und deutet sie von ihrem Ausgang her. In [2] drückt sich zudem ein entscheidender Aspekt der vergilischen Aeneasfigur562 aus: Es ist die Beteuerung des Aeneas in eigener Person, dass er den Untergang Troias nicht aus Mangel an Kampfgeist überlebt hat. Die Erzählung ordnend und ihr Struktur gebend tritt der Erzähler Aeneas in erzählerischen Vorgriffen in Erscheinung, wie sie in 2,314–317 und in 2,361–369 vorliegen. [3]  In 2,314–317 ist der Schilderung des äußeren Geschehens eine zusammenfassende Beschreibung der damaligen eigenen Verfassung und der Vorgehensweise vorangestellt: Aeneas erklärt seine Reaktion auf das Eindringen der Griechen in die Stadt, das ihn mitten in der Nacht plötzlich überrascht. Er sagt von sich, dass er ohne nachzudenken (amens) nach den Waffen gegriffen habe (2,314a), und fügt hinzu, dass es zu einer geplanten Abwehrstrategie nicht gereicht habe (nec sat rationis in armis 2,314b), dass er aber den brennenden Drang verspürt habe, zusammen mit anderen zu kämpfen, dass Kampfeswut sich seiner bemächtigt habe und dass es ihm damals erstrebenswert erschienen sei, im Kampf zu sterben (2,315b–317): arma amens capio; nec sat rationis in armis sed glomerare manum bello et concurrere in arcem cum sociis ardent animi; furor iraque mentem praecipitat, pulchrumque mori succurrit in armis.

2,314 2,315 2,316 2,317

560 Überlegung: Wie redensartlich sind solche Nennungen im normalen lateinischen Sprachgebrauch der Zeit? Man vergleiche etwa das deutsche ›Gott sei Dank‹, das im Gegenwartsdeutsch meist ohne jede religiöse Konnotation geäußert wird. 561 Vgl. 5.4. 562 Vgl. 4. 

184

Der Erzähler Aeneas

Einzelne Punkte dieser vorangestellten Zusammenfassung werden sinngemäß und teilweise mit wörtlichen Anklängen in der folgenden Schilderung des äußeren Geschehens wiederaufgenommen. glomerare manum bello 2,315a ist wiederaufgenommen in: sowie in:

addunt se socios 2,339a et lateri adglomerant nostro 2,341a

concurrere in arcem 2,315b ist wiederaufgenommen in:

quam prendimus arcem? 2,322b

furor iraque mentem praecipitat 2,316b–317a ist wiederaufgenommen in: quo tristis Erinys vocat 2,337b pulchrum mori…in armis 2,317b ist wiederaufgenommen in:

moriamur et in media arma ruamus 2,353

In der erzählerischen Vorwegnahme beschreibt Aeneas die Verfassung, die sein Handeln während der gesamten Phase des nächtlichen Kampfes in Troia (2,347–505) bestimmt. Dabei sind ira und furor keine emotionalen Augenblicksreaktionen und erst recht keine Entgleisungen eines stoischen Weisen. Sie beschreiben vielmehr die kämpferische Haltung des Kriegers, der sich durch eine List übertölpelt sieht und seine Stadt voller Zorn und Kampfeswut gegen einen unerwarteten Angriff verteidigt.563 In dieser Haltung kämpft Aeneas unermüdlich und tapfer, bis ihn der Anblick des sterbenden Priamus (ut regem … crudeli vulnere vidi | vitam exhalantem 561 f.) innehalten lässt und er des Schreckens um ihn gewahr wird (At me tum primum saevus circumstetit horror 2,559).564 Wieder ist es wichtig, die Perspektive des erlebenden Aeneas von derjenigen des erzählenden Aeneas zu unterscheiden: Der im Nachhinein erzählende Aeneas weiß, dass dieser letzte Kampf um Troia vergebens ist und dass seine Kampfgefährten ihren Einsatz mit dem Leben bezahlen.565 Aber in der geschilderten Situation bestand für ihn die selbstverständliche und einzig mögliche Reaktion darin, die Verteidigung der Stadt zu versuchen. Jedes andere Verhalten wäre im Rahmen der in der Aeneis erzählten Geschichte schwer erklärlich, und zwar sowohl für die direkte Adressatin Dido, deren Stadt gerade im Aufbau begriffen ist, als auch für die externen römischen Rezipienten. [4] Der erzählerische Vorgriff in 2,361–369, der zugleich einen Rekurs auf den Erzählvorgang darstellt, besteht in einer vorangestellten und das Ergebnis vorwegnehmenden Zusammenfassung der Kampfschilderungen von 2,370–505: 563 Zur Berechtigung, ja Angemessenheit von furor und ira des Aeneas in dieser Phase des troianischen Krieges vgl. 4.3. 564 Dies ist der Moment der Krise, da der erlebende Aeneas versteht, dass es mit Troia aus und vorbei ist. Ausführlich zu diesem Wendepunkt in Aeneis 2 siehe 9.2.8 und 11.  565 Diesem Umstand trägt insbesondere die Rede an die Kampfgefährten Rechnung, hierzu siehe 9.2.5.

Vorgriffe, Resümees, Kommentare  

quis cladem illius noctis, quis funera fando explicet aut possit lacrimis aequare labores? urbs antiqua ruit multos dominata per annos; plurima perque vias sternuntur inertia passim corpora perque domos et religiosa deorum limina. nec soli poenas dant sanguine Teucri; quondam etiam victis redit in praecordia virtus victoresque cadunt Danai. crudelis ubique luctus, ubique pavor et plurima mortis imago.

185

2,361 2,362 2,363 2,364 2,365 2,366 2,367 2,368 2,369

Zunächst wird konstatiert, dass es schwierig sei, die schreckliche Niederlage angemessen zu beschreiben (2,361 f.). Sodann wird in einem Vers (2,363) das faktische Ergebnis wie in einer Kapitelüberschrift zusammengefasst: Die alte und lange beherrschende Stadt geht unter. Anschließend folgt ein summarischer Satz über das Schicksal der Bewohner: Leichen liegen in den Straßen, Häusern und Heiligtümern (2,364–366a). Daraufhin wird bemerkt, dass nicht nur Troianer zu Tode kommen, sondern auch Griechen, nämlich als einige der nachts Überrumpelten sich mutig sammeln, um Gegenwehr zu leisten (2,366b–368a). Die Inhaltsangabe wird mit einer Beschreibung in abstrakten Begriffen abgeschlossen: Überall herrschen Trauer, Furcht und Tod (2,368b–369). Dies ist die im Rahmen der vergilischen Iliupersis nur als Kurzfassung gegebene Normalversion der Schilderung der Eroberung einer Stadt,566 von der sich die Schilderung der Erlebnisse des Aeneas durch ihre Besonderheit abhebt. Die Bezeichnung der Troianer als Besiegte (victis 2,367) und der Griechen als Sieger (victores 2,368) trägt einerseits den bestehenden Verhältnissen Rechnung und betont andererseits deren temporäre (und wohl auch lokal begrenzte) Umkehrung durch die Anstrengungen des Aeneas und seiner Kampfgefährten. [5] Die Einführung des Coroebus in 2,341–346a bietet eine dem konkreten Geschehen übergeordnete Einordnung der Figur. Der Abschnitt enthält eine Analepse (dass Coroebus, der Sohn des Mygdon, in Cassandra verliebt gewesen und zufällig in jenen Tagen nach Troia gekommen sei) und eine Prolepse (dass es schlecht für ihn ausgehen sollte, nicht auf Cassandras Prophezeiungen gehört zu haben): iuvenisque Coroebus 2,341 Mygdonides – illis ad Troiam forte diebus 2,342 venerat insano Cassandrae incensus amore 2,343 et gener auxilium Priamo Phrygibusque ferebat 2,344 infelix qui non sponsae praecepta furentis 2,345 audierit! 2,346

566 Vgl. hierzu 12. 

186

Der Erzähler Aeneas

Coroebus wird als infelix bezeichnet, was damit begründet wird, dass er nicht auf seine Verlobte Cassandra gehört habe. Insofern dadurch der weitere Verlauf der Ereignisse angedeutet ist, wie er dem Erzähler Aeneas bekannt ist, handelt es sich um einen erzählerischen Vorgriff. Die Qualifizierung des Coroebus als infelix wird durch die Schilderung seines Todes (von der Hand eines griechischen Kriegers namens Peneleus) in 2,424–426a aufgelöst. [6] Ebenfalls der Einführung einer Figur, diesmal des Polydorus, dient die in die Schilderung des Geschehens eingeschobene Erklärung in 3,49–55a. Sie bietet zunächst in einem Satz Identität und Vorgeschichte dieser Figur: Dass Priamus seinen Sohn Polydorus zusammen mit einer großen Menge Gold zu Beginn der Belagerung Troias in die Obhut des befreundeten Königs in Thrakien gegeben habe (3,49–52). Sodann folgt in einem weiteren Satz die grausige Wendung: Dass der König sich im Verlauf des Troianischen Krieges den Griechen angeschlossen, Polydorus getötet und das ihm anvertraute troianische Gold an sich genommen habe (3,53–55a). Den Abschluss des Einschubs bildet die sprichwörtlich gewordene Sentenz vom Hunger nach Gold, der die Menschen zu allem Möglichen verleitet (3,56b-57a): Hunc Polydorum auri quondam cum pondere magno infelix Priamus furtim mandarat alendum Threicio regi, cum iam diffideret armis Dardaniae cingique urbem obsidione videret. ille, ut opes fractae Teucrum et Fortuna recessit, res Agamemnonias victriciaque arma secutus fas omne abrumpit: Polydorum obtruncat, et auro vi potitur. quid non mortalia pectora cogis, auri sacra fames!

3,49 3,50 3,51 3,52 3,53 3,54 3,55 3,56 3,57

Insofern das in diesem Einschub Geschilderte zeitlich vor dem Geschehen der Hauptschilderung zu denken ist, handelt es sich um eine Analepse. Bemerkenswert an dem Einschub ist insbesondere seine Platzierung. Denn er steht direkt nach der Selbst-Identifikation des Polydorus (nam Polydorus ego 3,45), mit der das ominöse Geschehen eine Auflösung erfährt. Bis dahin ist das Verhältnis zwischen erzählendem und erzähltem Aeneas bezüglich der Erscheinung des Polydorus dissonant und die Figurenperspektive strikt eingehalten: Die unheimliche Situation, dass abgerissene Äste bluten, eine Stimme aus der Tiefe mit einem Stöhnen zu sprechen anhebt und Aeneas namentlich anredet, ist ganz aus der Sicht des erlebenden Aeneas beschrieben. Erst nachdem Polydorus sich offenbart hat, erfolgt die Erklärung, die einerseits für Didos Verständnis notwendig und andererseits der Geschlossenheit der Erzählung förderlich ist. Durch diese Anordnung wird maximale Spannung erreicht. Zugleich handelt es sich bei der Erklärung im Einschub um diejenigen Informationen über Polydorus, von denen sinnvollerweise anzunehmen ist, dass Aeneas sie sich in dem

Vorgriffe, Resümees, Kommentare  

187

Moment, da er versteht, mit wem er es zu tun hat, vergegenwärtigt, so dass in der Anordnung auch der Ablauf seiner Gedanken repräsentiert ist.567 In diesem Sinne könnte man den Einschub fast als eine Art inneren Monolog verstehen, der in die Schilderung des eigenen Erschreckens über die unheimliche Erscheinung eingefügt wäre (nämlich zwischen tum vero ancipiti mentem formidine pressus | opstipui steteruntque comae et vox faucibus haesit 3,47–48 und postquam pavor ossa reliquit 57b). Allerdings ist die Erklärung extrem prägnant formuliert568 und bildet keinen natürlichen Gedankenstrom ab; auch verleiht die Verwendung der Demonstrativa (hunc 3,49; ille 53) den Sätzen einen explikativen Charakter. [7] Wenn der Erzähler Aeneas in der Form einer rhetorischen Frage beklagt, dass die Menschen für Geld zu allem bereit seien (quid non mortalia cogis | auri sacra fames! 3,56b–57a), so stellt dies eine Generalisierung der Geschichte von Polydorus dar. [8] In ähnlicher Weise generalisierend ist die Feststellung, dass gegen den Willen der Götter nichts auszurichten sei (Heu nihil invitis fas quemquam fidere divis! 2,402). Diese Sentenz markiert den Anfang vom Ende: Sie steht vor der Schilderung des Gerangels um Cassandra, das dazu führt, dass die Tarnung der Troianer als Griechen zunächst ›freundliches Feuer‹ vom Dach des MinervaTempels anzieht und sodann aufgedeckt wird, was zur Folge hat, dass im unübersichtlichen Getümmel fast alle Kampfgefährten des Aeneas sterben. [9] Eine Art konstatierendes Resümee der vorausgehenden Schilderung findet sich am Ende der Sinonszene (2,195–198). Hier streicht Aeneas heraus, dass die Troianer nicht durch militärische Überlegenheit, sondern durch eine Intrige von den Griechen besiegt wurden. So wie es in seiner Erzählung dargestellt ist, kann man den Troianern keinen Mangel an Tapferkeit vorwerfen; ihr Fehler besteht hauptsächlich in einer gewissen unschuldigen Naivität:569

567 Für Horsfall 2006, 77 gehört diese eingeschobene Schilderung zu denjenigen Stellen, an denen die Erzählperspektive nicht stringent eingehalten ist, weil Aeneas bei den berichteten Ereignissen nicht zugegen gewesen sein kann. Horsfall meint, dass in 3,49–57a der ›Erzähler‹ (gemeint ist der intradiegetische Erzähler Aeneas) vor dem ›Dichter‹ (gemeint ist der extradiegetische / epische Erzähler) zurückweiche: »It is completely irrelevant (but vd. Paratore and too many others) that Aen. could not have been present at the events described; the narrator steps discreetly back from his narrative, and the poet, with Eur. in hand, fills the gap.« So wie die Geschichte dargeboten wird, ist davon auszugehen, dass Aeneas der in 3,49–56a geschilderte Zusammenhang bekannt ist (warum auch nicht?); ob er bei den Ereignissen, von denen er berichtet, zugegen war, spielt hingegen keine Rolle. 568 Tatsächlich liegt eine kompakte Kurzfassung der vor allem aus Euripdes’ Hekabe bekannten Polydorus-Sage vor. 569 Vgl. ignari scelerum tantorum artisque Pelasgae 2,106.

188

Der Erzähler Aeneas

Talibus insidiis periurique arte Sinonis credita res, captique dolis lacrimisque coactis quos neque Tydides nec Larisaeus Achilles, non anni domuere decem, non mille carinae. Hic aliud maius miseris multoque tremendum obicitur magis atque improvida pectora turbat.

2,195 2,196 2,197 2,198 2,199 2,200

In direktem Anschluss an das Resümee, das die Sinon-Handlung abschließt, steht eine Überleitung zur Schilderung der Tötung des Laocoon und seiner Söhne durch zwei Meeresungeheuer (2,199 f.). Hier wird vorwegnehmend das im Anschluss erzählte Geschehen in seiner Wirkung auf die Troianer eingeordnet. Hic in 2,199 stellt also keine räumliche Beziehung her, sondern dient dazu, in der retrospektiv analysierenden Perspektive des Erzählers ein weiteres Element der Aufzählung anzuschließen.570 Ebenfalls resümierend sind die beiden Erzählerkommentare, welche die Schilderung von Priamus’ Tod (2,506–553) einrahmen [10: 2,499b–505] und [11: 2,554–558]. Sie sind insofern besonders bedeutsam und kennzeichnend für die vergilische Version der Iliupersis, als in ihnen der »dynastische Übergang« von Priamus auf Aeneas mit größtmöglicher Zurückhaltung thematisiert wird, und zwar einmal durch eine Abstraktion und einmal durch eine Metapher. [10] Der erste dieser beiden Kommentare (2,499b–505) bildet den Abschluss des ›Erlebnisberichts‹ über Aeneas’ Kampf in der letzten Nacht von Troia.571 Er hat zwei Teile: erstens die eingangs bereits betrachtete »Zusammenfassung des Augenzeugen« (2,499–502) und zweitens einen summarischen Bericht über den Zustand der Burg von Troia und ihre Schätze nach der Einnahme, Zerstörung und Plünderung durch die Griechen (2,503–505): vidi ipse furentem caede Neoptolemum geminosque in limine Atridas. vidi Hecubam centumque nurus Priamumque per aras sanguine foedantem quos ipse sacraverat ignis. quinquaginta illi thalami, spes tanta nepotum barbarico postes auro spoliisque superbi procubuere; tenent Danai qua deficit ignis.

2,499 2,500 2,501 2,502 2,503 2,504 2,505

Der zweite Teil beschreibt einerseits resümierend die Zerstörung von Priamus’ Palast, andererseits ist in thalami und spes tanta nepotum zugleich das Ende von dessen Familie angedeutet. Die Aufmerksamkeit der Interpreten gilt hier traditionell einer Homer-Referenz, während die Frage, was die Verse auf der Figurenperspektive des erzählenden Aeneas bedeuten, darüber vernachlässigt wird.572 570 Vgl. 6.2 mit Anm. 323. 571 Vgl. 1.  572 Überlegungen zur Bedeutung auf der Figurenperspektive fehlen z. B. völlig bei Conte 1999, aber auch in den Kommentaren von Horsfall 2008 und Austin 1964.

Vorgriffe, Resümees, Kommentare  

189

Der Ausdruck quinquaginta illi thalami (»jene fünfzig Ehegemächer« 2,503a) kann auf der Darstellungsebene so verstanden werden, dass er einen Bezug zu einem Abschnitt in der Ilias herstellt, der die im Haus des Priamos befindlichen Gemächer der Söhne und Schwiegertöchter – fünfzig an der Zahl – sowie der Töchter und Schwiegersöhne – zwölf an der Zahl – in parallel aufgebauten Formulierungen schildert (Il. 6,243b–250). Der besagte Abschnitt beginnt mit den Worten αὐτὰρ ἐν αὐτῷ ǀ πεντήκοντ’ ἔνεσαν θάλαμοι ξεστοῖο λίθοιο – »darin aber befanden sich fünfzig Ehegemächer aus glatt poliertem Stein«. Die Ähnlichkeit der Verse Il. 6,244 und Aen. 2,503 bis zur Penthemimeres ist offensichtlich: πεντήκοντ’ ἔνεσαν θάλαμοι – quinquaginta illi thalami, aber es kommt, wie stets, vor allem auf den Unterschied an: Zwischen Zahlwort und Substantiv steht im homerischen Text das (vergleichsweise blasse) Verb ἔνεσαν (»sie waren«), im Vergiltext hingegen – auch in metrischer Hinsicht abweichend mit zwei Längen anstelle der Doppelkürze und Länge – das Demonstrativpronomen illi, durch das die Referenz auf den gesamten Ilias-Abschnitt hergestellt wird, etwa im Sinne von ›jene fünfzig berühmten Ehegemächer, die in der Ilias ausführlich genannt werden‹.573 Im Vergiltext steht das Prädikat des Satzes ganz am Ende: procubuere (»sie stürzten ein«, 2,505a); es drückt die Zerstörung aus und enthält somit die wesentliche Information und die entscheidende inhaltliche Veränderung gegenüber dem Zustand, den der Homertext schildert. In der zweiten Vershälfte nach der Penthemimeres steht in Il.  6,244 (und wiederholt in Il. 6,248) die Materialangabe ξεστοῖο λίθοιο (»aus glatt poliertem Stein«); im Vergiltext nimmt eine entsprechende Angabe von Materialien den ganzen darauffolgenden Vers ein, in dem es heißt, dass die Türen vor Gold und anderen Kostbarkeiten aus Kriegsbeute strotzen (barbarico postes auro spoliisque superbi 2,504).574 Nach der Penthemimeres in 2,503 aber steht in kunstvoller Komprimierung des homerischen Parallelismus mit den »Gemächern der Söhne« respektive »der Schwiegersöhne«, die jeweils »eng bei ihren Gemahlinnen schlafen«, der überaus prägnante Ausdruck spes tanta nepotum (»reichliche Nachkommenschaft, zu Hoffnung berechtigend«),575 bei dem die 573 Vgl. Horsfall 2008, 386. 574 barbarico auro steht parallel zu spoliis, gemeint ist Gold, das die Troianer von Fremden erbeutet haben; barbaricus ist im Sinne von ›ausländisch‹, ›nicht-troianisch‹ zu verstehen. Wer annimmt, barbarico bedeute ›phrygisch‹, ›troianisch‹, ›nicht-griechisch‹, missachtet die Erzählerstimme: Warum sollte Aeneas die goldene Innenaustattung der Burg von Troia so nennen? Die Parallelität zu spoliis beseitigt jeden Zweifel. Zur Diskussion: Horsfall 2008, 387; Horsfall selbst hält den Ausdruck für uneindeutig. Siehe auch Anm. 316. 575 Anstelle von tanta bevorzugen Austin 1964, 17; 195, Horsfall 2008, 386 f. (jedoch aus Versehen nicht im Text, 26) und Casali 2017, 76; 256 – anders als die Mehrzahl der Herausgeber – ampla, das der Palatinus (Vaticanus Palatinus lat. 1631) und der Parisinus lat. 7926 bieten.

190

Der Erzähler Aeneas

Hoffnung sich im Lichte des am Satzende stehenden procubuere als schließlich vergeblich erweist.576 Zweifellos ist es faszinierend, wie in den drei lateinischen Versen mehr gesagt ist als in den sieben griechischen und wie die altertümliche Umständlichkeit des Prätexts gegenüber der Brillanz des lateinischen Ausdrucks verblasst. Aber für die Figuren spielt diese intertextuelle Dimension des Textes keine Rolle:577 Aeneas und Dido kennen die Ilias nicht und in ihrem Horizont hat das illi in 2,503 einfach die gewöhnliche Bedeutung des Demonstrativpronomens. Fragt man, was die Verse für den intradiegetischen Erzähler und seine Adresssatin bedeuten, so ist zunächst festzuhalten, dass aus der Reihung der genannten Vorgänge, zuerst Einsturz (procubuere), dann Feuer (ignis) und Plünderung (tenent Danai), ersichtlich wird, dass keine zeitliche Abfolge der Ereignisse gemeint ist und eben keine direkte Handlungsschilderung vorliegt,578 sondern das Ergebnis der kriegerischen Aktionen festgehalten ist: Von den Räumen bleibt nichts zurück. Wichtig ist für Aeneas aber vor allem die Apposition spes tanta nepotum, denn sie besagt, dass zusammen mit den Gemächern in der Burg von Troia auch die Hoffnung zugrunde geht, die sich in der reichen Nachkommenschaft des Priamus bis dahin manifestiert hat. Wenn Aeneas in diesem Ausdruck den Untergang der Priamiden konstatiert, nennt er keine Zahl von Personen und erst recht nicht deren Namen. Seine Erklärung des Erlöschens der Linie des Priamus bleibt mit spes nepotum so abstrakt wie nur möglich. Die weiterführende Überlegung, dass der Untergang von Priamus’ Geschlecht die Voraussetzung dafür ist, dass er selbst zum Anführer der Troianer geworden ist, wird gänzlich ausgeblendet. Jeder Gedanke daran, dass Aeneas von Troias Untergang letztlich profitiert, wird 576 Für Conte 1999, 20 f., dessen Gegenüberstellung von Vergiltext und homerischem ›Modell‹ sich jedoch auf die beiden Verse Aen. 2,503 und Il. 6,244 konzentriert, zeigt sich in Vers 2,503 beispielhaft, wie Vergil den nostalgischen Rückblick auf das ›naive‹ homerische Vorbild mit einer modernen ›sentimentalischen‹ (nach Friedrich Schiller, »Über naive und sentimentalische Dichtung«) Subjektivität verbinde. Er schreibt u. a.: »The extreme closeness to the model (in the first part of the verse, up to the penthemimeral caesura, the sounds and rhythms are the same, as if it was the same language that produced them) clearly reveals the very difficult and original balance attempted by Virgil. The challenge he makes is as follows: the more the new text, suffused by  a pathetic subjectivity, cleaves to the old model, impersonal, objective, composed of things, the more the new voice makes itself felt, modern, sentimental, and reflective. The closeness is extraordinary, the distance is vast. The divergence between the two literary modes generates a new disposition of epic language. In the variation of spes tanta nepotum are found, condensed through connotation, many of the peculiar motifs upon which the tight framework of the Virgilian text is constructed: hope disappointed by death, life as a succession of generations, death marked by the bitterness of an injustice suffered without reason«, 21.  577 Hierzu vgl. auch: 9.1. 578 Es ist daher nicht sinnvoll, das »Zusammenbrechen der thalami« einem bestimmten Zeitpunkt zuzuordnen wie Heinze 31915, 41: »dann brechen die thalami zusammen«.

Vorgriffe, Resümees, Kommentare  

191

vermieden. Darum kommen der Groll, den der Aineias der Ilias gegen Priamos hegt (Il. 13,460 f.), und die Chancenlosigkeit, die ihm Achill angesichts der vielen Söhne des Priamos bescheinigt (Il. 20,179b–182), in der Aeneis nicht vor.579 [11] Auch der Erzählerkommentar nach der Schilderung von Priamus’ Tod stellt das Resümee einer voranstehenden Schilderung dar: haec finis Priami fatorum, hic exitus illum sorte tulit Troiam incensam et prolapsa videntem Pergama, tot quondam populis terrisque superbum regnatorem Asiae. iacet ingens litore truncus, avulsumque umeris caput et sine nomine corpus.

2,554 2,555 2,556 2,557 2,558

Dieser ›Epitaph auf Priamus‹ beschäftigt die Erklärer seit langem. Die Schwierigkeit besteht darin, dass der letzte Satz iacet ingens litore truncus | avulsumque umeris caput et sine nomine corpus, wenn man ihn auf Priamus bezieht, nicht zu der direkt vorausgehenden Schilderung von Priamus’ Ende passt, der zufolge der König in der Nähe eines Altars im Innern der Burg von Pyrrhus mit einem Schwert in die Seite gestoßen wird (vgl. 2,512–514. 525). Die zwei Fragen, die man sich stellt, lauten: 1. Wie kommt Priamus’ Leichnam an die Küste? Und 2. Warum ist der Kopf vom Rumpf getrennt? In 2,552 f. heißt es, dass Pyrrhus dem Priamus das Schwert bis zum Schaft in die Seite stößt, aber nicht, dass er ihn enthauptet. Anders gesagt: Die Angaben zu Ort und Zustand des Leichnams (truncus) passen nicht zur vorausgehenden Schilderung. Bereits der Serviuskommentar bietet eine Reihe von Vorschlägen, wie diese Widersprüche zu erklären seien.580 Ein erster Vorschlag besteht darin, litore umzudeuten. Servius zitiert Donat, der mit litus einen geheiligten Bezirk um den Altar bezeichnet wissen will, a litando. Dies lehnt Servius allerdings ab, weil die erste Silbe li- dann kurz sein müsste, was nicht in den Vers passt. In neuerer Zeit wurde vorgeschlagen, limine statt litore zu lesen: Der tote Priamus läge dann nicht am Strand, sondern an einer Schwelle (des Hofes oder des ­A ltars). Die Diskrepanz zwischen dem vom Rumpf abgetrennten Kopf in 2,557 und dem Umstand, dass in 2,552 f. von einer Enthauptung nicht die Rede ist, bliebe aber bestehen. Ein weiterer Erklärungsversuch besagt, dass in dem inkriminierten Satz auf eine Version vom Tod des Priamus angespielt werde, in der dieser

579 Hierzu siehe 5.3. 580 Serv. in Aen. ad 2,557 (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 303): iacet ingens litore truncus Pompei tangit historiam, cum ›ingens‹ dicit non ›magnus‹. quod autem dicit ›litore‹ illud ut supra diximus, respicit, quod in Pacuvii tragoedia continetur. quod autem Donatus dicit ›litus‹ locum esse ante aras, a litando dictum; vel quod lituo illud spatium designatur, ratione caret: nam a litando ›li‹ brevis est, et stare non potest versus. litore] * quod Priami corpus ad litus tractum. aut ›litus‹ pro solo accipiamus, ut litoraque et latos populos. aut ideo ›litore‹ ut ostendat litus iam esse, ubi fuerat Troia, ut et campos ubi Troia fuit.*

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Der Erzähler Aeneas

am Strand getötet werde, wie es in einem Stück des Pacuvius der Fall sei.581 Allerdings ist diese Nachricht die einzige, die wir über eine solche Version bei Pacuvius besitzen. Auch erklärt der bloße Hinweis auf eine Variante der Sage noch nicht, wieso innerhalb einer sonst kohärenten Erzählung zwei verschiedene Todesarten einer Figur unversöhnlich nebeneinander stehen sollen. Deshalb wird die Pacuvius-Reminiszenz mit einer zeitgeschichtlichen Anspielung kombiniert: Die Erwähnung der zweiten Todesart im Epitaph deute die Geschichte vom Ende Pompeius des Großen (*106) an, der 48 enthauptet wurde, als er mit einem kleinen Boot in Pelusium anlegte. Dazu findet sich im Serviuskommentar der Einwand, dass im Text ingens stehe und nicht magnus. De la Cerda führt an, dass die Annahme einer Anspielung auf Pompeius sich großer Beliebtheit erfreue; er selbst glaubt allerdings nicht, dass Vergil deswegen litore gewählt habe, sondern weil die geographische Lage von Troia littoralis sei.582 Bowie 1990 hinwiederum vertritt die These von der Anspielung auf Pompeius mit großer Ausführlichkeit.583 Aber rechtfertigt eine solche zeitgeschichtliche Anspielung einen logischen Bruch im erzählten Geschehen? Die Tötung des Priamus wird schließlich mit klaren Ortsangaben ausführlich geschildert. Wenn unbedingt auf Pompeius’ Tod angespielt werden sollte, warum wurde dann nicht gleich eine dazu passende Todesart gewählt? Warum sollte im Erzählerkommentar, der die Schilderung der Todesumstände abschließt, völlig unvermittelt eine zweite Version der Geschichte nachgereicht werden, und dies lediglich im Ergebnis, denn die Verstümmlung der Leiche und ihr Transport zum Strand kommen ja nicht vor? Der syntaktische Anschluss ist eindeutig: Die den Erzählerkommentar einleitenden Ausdrücke haec finis und hic exitus beziehen diesen direkt auf die vorausgehende Schilderung; sie wird darin bestätigt und bekräftigt. Außerdem ist die Erzählerstimme zu berücksichtigen: Schließlich erzählt hier Aeneas, und dass ein Satz, den er äußert, nur sinnvoll sein soll, wenn man ihn als Anspielung auf Pompeius liest, wäre seltsam. Was sollte seine Zuhörerin Dido mit einer Anspielung auf dieses für sie in ferner Zukunft liegende Ereignis der römischen 581 Zur Diskussion, in welchem Stück des Pacuvius der Tod des Priamus auf diese Weise vorkommt, siehe Scafoglio 2012, der selbst für Pacuv. Hermiona plädiert. 582 J. L. de la Cerda S. J., in Aen. ad 2,557 (Ed. Köln 1628, 1, 234): Quî in littore? Nonne interfectus ad aram Iovis, quae in regia? aut littus dicit, quod urbs ea non longe a mari esset, aut quod alii eum in littore interfectum scripsissent. (…) Primum amplector, etenim qui legat Strabonem, plane discet, totam illam regionem Troiae dici littoralem. (…) Servius expendit aliter: dicit enim ideo dictum littore, quia cum respectu ad Pompeium, qui in Aegypthiaco littore iacuit mortuus. Potuit quidem respicere ad successum illum, sed non inde Virgilius littore, sed ob eam quam adduxi rationem. Haec de Pompeio historia multis aliis placuit, et credibile, nam in gratiam Augusti. 583 Bowie 1990. Auch Heuzé 1985, 79–81 sieht die Anspielung auf Pompeius als gegeben (80), deutet aber Zustand und Ort des Leichnams noch weiter bis hin zum Strand als Bild der Begrenzung angesichts der Unendlichkeit.

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Geschichte anfangen? Gleiches gilt für das Pacuvius-Zitat. Wohlgemerkt: Der Text des Erzählers Aeneas darf durchaus Anspielungen enthalten, die über seinen kognitiven Horizont hinausgehen. Dabei muss aber gewährleistet sein, dass seine Äußerungen auf irgendeine Weise auch für ihn selbst – und besser auch für seine Adressaten – verständlich sind.584 Dies träfe hier nicht zu, weil Aeneas weder Pacuvius noch Pompeius kennt und der von ihm geäußerte Satz durch die Erklärung, es handele sich um ein Pacuviuszitat, mit dem auf Pompeius Magnus angespielt werden soll, für ihn – und Dido – nicht sinnvoll wird. Verschiedentlich wurde der enthauptete Leichnam des Priamus auch symbolisch gedeutet: Der enthauptete König sei ein Symbol für die gefallene Stadt.585 Allerdings ist dadurch das Problem nicht gelöst, wie die Leiche des Priamus an den Strand kommt und warum ihr der Kopf fehlt. Ein geschlossenes Bild ergibt sich aber, wenn man iacet ingens litore truncus | avulsumque umeris caput et sine nomine corpus gänzlich als Metapher für das Gebiet von Troia ohne die Herrschaft des Priamus auffasst: Die den Körper oder seine Teile bezeichnenden Wörter (truncus, umeris, caput und corpus) beziehen sich nicht auf Priamus’ Leichnam, sondern auf Troia. Der Stadt an der asiatischen Küste wurde ihr Haupt, nämlich Priamus, der regnator Asiae, wie er in 2,557 genannt wird, von den Schultern gerissen (caput umeris avulsum) und sie wird dadurch zum riesigen, kopflosen Rumpf (ingens truncus). Man sieht hier gleichsam aus der Vogelperspektive auf den Ort, dem jetzt das Haupt fehlt. Zurück bleibt ein namen- und bedeutungsloses Gefilde (sine nomine corpus). Entsprechend verlässt Aeneas, wenn er sich nach dem Winter mit seiner Flotte aufmacht, nicht Troia, sondern bloß die Gegend, wo Troia einst war: litora cum patriae lacrimans portusque relinquo | et campos ubi Troia fuit 3,10–11a.586 Statt also iacet ingens litore truncus 584 Zu Zitaten in Figurenrede siehe 9.1. 585 Kraggerud 1968, 18: »Der König und sein Reich werden zusammen in dem einen Bild erfasst. Der König ist ein Symbol der gefallenen Stadt. Darin ist hauptsächlich der Grund zu sehen, warum Vergil sich beim Tode des Priamus zweier Sagenversionen vom Ende des Königs bedient hat, die sich nicht leicht miteinander verbinden lassen. Das Wort truncus greift ein in diesem Buch dominierendes Bild auf. Einen Baum als Symbol der Stadt sehen wir in dem Gleichnis 626 ff. fallen«, mit Literatur in Anm. 24; Zintzen 1979, 5: »am Ende der Nyktomachie wird der Blick auf den tot am Strand liegenden Priamus gelenkt« und 66: »Der Sinn erschließt sich in der Gleichsetzung von Bild und Geschehen; wie Priamus des Hauptes beraubt ist, so hat Troia den König verloren; der Herrscher ist tot, die Stadt ist vernichtet; beide sind ein sine nomine corpus«; Glei 1991, 138: »Das groteske Schlußbild dieser Szene, das die sonst realistische Schilderung symbolisch erweitert, zeigt Priamus als Verkörperung Troias: iacet ingens litore truncus, | auulsumque umeris caput et sine nomine corpus (2,557 f.).«; ähnlich Gärtner 2005, 240: »greift Vergil am Schluss auf eine Version zurück, nach der Priamus am Gestade enthauptet wurde. Dies mag tiefere Gründe gehabt haben (etwa die Anspielung auf Pompeius’ Tod oder die die symbolische Darstellung der ›Enthauptung‹ des Reiches)«, mit Anm. 67. 586 Mit dem Untergang Ilions ändert sich auch der Name von Aeneas’ Sohn von Ilus in Iulus: Ilus erat, dum res stetit Ilia regno 1,268b.

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Der Erzähler Aeneas

auf den verstümmelten Leichnam des Priamus zu beziehen (und womöglich in der unvermittelten Erwähnung der zweiten Todesart eine zeitgeschichtliche Anspielung zu sehen, die dem extradiegetischen Erzähler zuzuordnen wäre), wird truncus als Bild für das gefallene Troia verstanden, dem das Haupt weggerissen wurde, so dass eine namenlose Gegend zurückbleibt: Nicht der enthauptete Leichnam des Priamus steht als Symbol für die Enthauptung der Stadt, sondern ein Rumpf ohne Haupt steht als Metapher für die enthauptete (d. h. Priamus entbehrende) Stadt. Eine solche resümierende Metapher passt hervorragend in die Erzählung des Aeneas und dazu, dass er im Sinne der Aeneis vom Tod des Priamus möglichst neutral berichten muss, um nicht in den Verdacht zu geraten, dass er darin einen Vorteil für sich sehen könnte, wie es vom Aineias der Ilias angenommen werden könnte. Hierzu ist anzumerken, dass die Vorstellung iacet ingens litore truncus zwar von Manilius und Seneca sensu propio zitiert zu werden scheint: Priamique in litore truncum Sigea premis litora truncus

Manil. 4,64b Sen. Tro. 141

Eine Stelle bei Livius zeigt aber, dass die Metaphorik von der Stadt als Rumpf nicht abwegig ist: Dort wird die Stadt Capua ohne Senat, Plebs und Magistrate als eine urbs trunca bezeichnet, als ob sie »zerstört worden wäre« (Liv. 31,29,11): Capua quidem, sepulcrum ac monumentum Campani populi, elato et extorri eiecto ipso populo, superest, urbs trunca, sine senatu, sine plebe, sine magistratibus, prodigium, relicta crudelius habitanda quam si deleta foret.587

Im Bild vom Rumpf, der kopflos an der Küste liegt, zeigt sich, was Priamus’ Tod bedeutet: Troia fehlt nun der Kopf, und es hört auf zu existieren. Die Frage nach einer Herrschaftsnachfolge scheint sich nicht zu stellen, da gleichzeitig mit dem König sein Reich untergeht. Zusammen mit dem vorigen Erzählerkommentar, der in den zerstörten Ehegemächern von Priamus’ Kindern die zerstörte Hoffnung auf Nachfolge thematisiert, wird das Bild komplett: Troia, Priamus und die Priamiden sind nicht mehr. Dies ist die Situation, in der Aeneas zum Anführer der übrig gebliebenen Troianer wird. Die unkonkreten Ausdrucksweisen in diesen beiden Erzählerkommentaren des Aeneas deuten diese Situation an, ohne sie allzu plakativ zu benennen. Der Eindruck, der bei rückblickender Betrachtung entstehen könnte, dass nämlich der Tod des Priamus und das Erlöschen von dessen Linie ihm letztlich zum Vorteil gereichen, wird dadurch vermieden. (Übrigens kann im Rahmen einer typologischen Aeneis-Deutung die Unaufdringlichkeit der Sukzession des Aeneas mit derjenigen des Augus-

587 Zur Parabel erweitert findet sich die Metapher vom Organismus für ein Gemeinwesen in Liv. 2,32,9–12.

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tus verglichen werden; der truncus versinnbildlicht dann die res publica nach ­Caesars Ermordung.) Grundsätzlich beruft Aeneas sich auch im Nachhinein nicht auf eine Bestimmung, die seine Person betrifft. Er erzählt mit der Stimme eines, der berichtet, was ihm passiert ist, so, wie es ihm passiert ist. Allein aus dem Geschehen, von dem er berichtet, geht hervor, wie er im Laufe seiner Geschichte schrittweise vermittelt bekommt, dass es einen göttlichen Plan für ihn gibt. Aber er thematisiert dies nicht eigens auf einer reflexiven Ebene.

9 Figurenrede und szenisches Erzählen

Bei der Beschreibung der antiken Epen besteht traditionell eine Tendenz, direkte Rede weniger als Figurenrede innerhalb einer Erzählung, sondern mehr in einem rhetorischen Sinn aufzufassen. Als einschlägig in diesem Sinne kann für die Aeneis »The Speeches in the Aeneid« von Highet gelten, für dessen Herangehens­ weise bezeichnend ist, dass er sich bemüht zu begründen, dass die vier Sinon zuzuordnenden Abschnitte in wörtlicher Rede als eine einzige ›Rede‹ respektive ›Äußerung‹ (›speech‹) aufzufassen seien, anstatt dass er die Unterbrechungen der wörtlichen Rede mit den unterschiedlich gestalteten Reaktionen der Troianer und den Äußerungen des Priamus in seine Textbetrachtung einbezöge: The unity of a speech can be established through the sense of dramatic necessity and continuity. For example, Sinon speaks four times to Priam and the Trojans (2.69–72, 77–104, 108–144, and 154–194). After each utterance he pauses. Nevertheless, the whole should be considered to be one speech: for several reasons. (Es folgt eine Aufzählung von drei Gründen.)588

Die solchermaßen definierten ›speeches‹ gruppiert Highet auf verschiedenerlei Weisen und ordnet sie (meist homerischen) ›Vorbildern‹ zu. Dabei lässt seine isolierte Behandlung der ›speeches‹ den kommunikativen Zusammenhang, in dem die einzelnen Äußerungen stehen, weitgehend unberücksichtigt. Er beobachtet in dieser Hinsicht lediglich ihre Verteilung auf die Sprecher pro Redeszene. Daraus resultiert eine formale Einteilung, die nicht weiter inhaltlich gefüllt wird: One Speaker: soliloquy / One speaker: no answer / Two speakers: two speeches / Two speakers: two speeches independent, but on same occasion / Two speakers: three speeches / Two speakers: four speeches / Three speakers: three speeches / Three speakers: four speeches589… usw.

An Highets Darstellung ist außerdem problematisch, dass die Kategorien oft nicht stimmen. Dies wird in der »Classification of Speeches«590 besonders offensichtlich: Angeblich erfolgt sie nach der Redeabsicht (»chief purpose«591), also inhaltlich, tatsächlich aber überlagern sich in dieser Einteilung ganz ver588 Highet 1972, 16 f. Ihm folgt noch stets: Binder 2019, Bd. 1, 129–133. 589 Highet 1972, 22–25; 320–326 (Appendix 3). 590 Highet 1972, 305–319 (Appendix 2). Auch die Hauptunterscheidung in formelle (47–96) und informelle Reden (97–183) ist nicht logisch fundiert. 591 Highet 1972, 305.

Figurenrede und szenisches Erzählen

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schiedene Kategorien: So liegt der Einteilung der Rubriken »Farewells (F)« und »Greetings (G)« der Anlass der Äußerung als Kriterium zugrunde, der Rubrik »Apostrophes (A)« die sprachliche Form, der Rubrik »Diplomatic or political speeches (D)« der gesellschaftliche Zusammenhang und der Rubrik »Oracles, prophecies, interpretations of omens and oracles (O)« der Inhalt. Die Rubrik »Narratives, explanations and descriptions (N)« ist als solche in ihrer Vagheit fragwürdig, aber noch mehr verwundert es, dass Sinons ›Rede‹ hier eingeordnet wird (und nicht etwa unter ›Persuasions‹: Eindeutiger als irgendwo sonst ist die Hauptabsicht [›chief purpose‹, s. o.] hier Überredung).592 Highets Herangehensweise zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten, die entstehen können, wenn man Figurenrede im Epos vor allem ›rhetorisch‹ auffasst: Erstens besteht dann eine Neigung, die Abschnitte in direkter Rede zu verabsolutieren, und zweitens wird eine Sprechsituation suggeriert, die einerseits unidirektional und andererseits artifiziell (im Sinne von ›vorbereitet‹ und ›ihrer eigenen Wirkung bewusst‹) ist. Grundsätzlich wird in Bezug auf die Figurenrede im antiken Epos noch stets eine Terminologie gepflegt, die eher an gehaltene Reden als an natürliche Konversation denken lässt.593 Wenn man die Aeneis als Erzählung betrachtet, wird man die dort vorkommende direkte Rede nicht aus ihrem Kontext isolieren. Stattdessen versteht man sie als Äußerungen der Figuren innerhalb von – keineswegs ausschließlich verbalen – Kommunikationszusammenhängen und situativen Gegebenheiten. Man betrachtet sie als literarische Abbildung gesprochener Sprache, als ›Erzählen im dramatischen Modus‹, und man sieht Abschnitte, in denen dieser überwiegt, als szenisches Erzählen. Hierbei interessiert zunächst prinzipiell, wie die Gestaltung von Figurenrede in einer bestimmten Erzählung verwirklicht ist und welche Konventionen ihre Rezeption bedingen. Denn natürlich ist es artifiziell, wenn Personen, wie es im Epos der Fall ist, in Hexametern sprechen, aber das betrifft die Darstellungsebene – in der Fiktion sind ihre Äußerungen authentisch. Formelle Reden können darunter sein, aber sie sind nicht die Regel.

592 Noch Binder 2019, Bd. 1, 131 f. übernimmt Highets Einteilung unkritisch. 593 Ein extremes Beispiel: Binder 2019, Bd. 1, 129: »Die Überlegungen zur Frequenz der direkten Reden < sic! Plural > in der Aeneis werden dadurch verkompliziert, dass Aeneas am Hof der Königin Dido formal eine einzige Rede hält.« (Gemeint ist die Erzählung in Aeneis 2–3.)

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Figurenrede und szenisches Erzählen

9.1 Implikationen der Figurenrede und Aeneas’ Erzählung als Figurenrede In der Oper »Les Troyens« von Hector Berlioz594 gibt es zu Beginn des 5. Aktes einen impliziten Kommentar zu einer geläufigen dramatischen Konvention: Zwei von Aeneas’ Leuten äußern sich über die bevorstehende Abreise aus Karthago.595 Sie bedauern es, dass sie sich von ihren karthagischen Freundinnen verabschieden müssen, und das, obwohl der eine, wie er sagt, die seine bereits ein wenig ›Troianisch‹ gelehrt, und der andere, wie er sagt, selbst ein wenig Punisch gelernt hat. Dieser Dialog findet natürlich wie die ganze Oper auf Französisch statt. Man kann ihn als einen augenzwinkernden Hinweis darauf verstehen, dass die Sprachverschiedenheit, die zwischen Troianern und Karthagern besteht, innerhalb des dramatischen Zusammenhangs grundsätzlich ausgeblendet wird: Dido und Aeneas verstehen sich nämlich auch in sprachlicher Hinsicht sofort ganz ausgezeichnet – auf Französisch. Dass alle Figuren dieselbe Sprache sprechen, beruht ebenso auf Konvention wie der Umstand, dass in einer durchkomponierten Oper nicht gesprochen wird, sondern gesungen. Die stillschweigende Übereinkunft, nicht zu thematisieren, in welcher Sprache Angehörige verschiedener Sprachgruppen (Griechen und Troianer respektive Troianer und Karthager respektive Troianer und die diversen italischen Stämme) sich verständigen, ist auch bei den antiken Epen Teil der Gattungskonvention.596 Es gehört zum Fiktionalitätspakt, dass die Figuren die Sprache ihres Erzählers sprechen und dass die Frage, in welcher Sprache die Figuren miteinander kommunizieren, in der Regel nicht thematisiert wird. In der Aeneis gibt es eine signifikante Ausnahme, die diese Regel bestätigt: Jupiter verspricht Juno, dass die Sprache der Ausonier in Latium beibehalten werden soll, dass also die Troianer, wenn sie sich siegreich ansiedeln, ihre hergebrachte Sprache 594 Zum Libretto dieser Oper, das der Komponist selbst in Anlehnung an Vergils Aeneis schrieb: Koch 1990, 48–84; Hofmann 2004, 160–163; eher allgemein: Lovatt 2013. 595 Laut Berlioz (in einem Brief an die Fürstin Carolyne Sayn-Wittgenstein vom 3. September 1856) hat diese (gegenüber der Aeneis zusätzlich eingefügte) Szene insbesondere die dramaturgische Funktion, dem Zuschauer den Ablauf der erzählten Zeit zwischen dem 4. und dem 5. Akt zu vermitteln: Koch 1990, 52 f. mit Anm. 101. 596 Vgl. z. B. Suerbaum  1967, 195 f. Einen komischen Effekt hat die Verwendung einer Fremdsprache bei der punischen Rede des Karthagers Hanno in Plaut. Poen. 930–939. 940–949; siehe hierzu Adams 2003, 204 f. Ebenfalls der Komik dient in den Komödien des Aristophanes die Verwendung verschiedener griechischer Dialekte sowie auch die Charakterisierung von Personen, die Griechisch nicht als Muttersprache sprechen, durch ihre Redeweise (gebrochen, fehlerhaft, Kauderwelsch), so des Pseudartabas in den Acharnern (Aristoph. Ach. 100. 104), des Triballos in den Vögeln (Aristoph. av. 1615.1628.1678 f.) und des skythischen Bogenschützen in den Thesmophoriazusen (Aristoph. Thesm. 1001– 1007. 1083–1135. 1176–1225); hierzu siehe Adams 2003, 97–100.

Implikationen der Figurenrede und Aeneas’ Erzählung als Figurenrede  

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ablegen werden (12,834–837). Ungeachtet dieser metasprachlichen Äußerung, die wohlweislich auf der Götterebene getan wird, funktioniert die Verständigung der Troianer in Italien reibungslos.597 Dass die Figuren die Sprache des Erzählers sprechen, gilt aber im Epos grundsätzlich nicht nur für Sprache im grammatischen Sinn, also dass Götter, Griechen und Troianer in den homerischen Epen ionisches Griechisch sprechen und in der Aeneis augusteisches Latein. Es gilt vielmehr für die gesamte Art des Ausdrucks, also auch für das Versmaß, für sprachliche Bilder und prinzipiell auch für literarische Anspielungen. Es entspricht der epischen Gattungskonvention, dass die Figurenrede in derselben Sprache und im selben Versmaß erscheint wie der Erzählertext. Dabei gehört es zum Fiktionalitätspakt, nicht zu hinterfragen, warum in der Aeneis etwa der Troianer Priamus und der Grieche Pyrrhus einander in lateinischen Hexametern beschimpfen, oder warum der Troianer Aeneas der Punierin Dido von der Eroberung seiner Heimatstadt und von seiner siebenjährigen Fahrt über das Mittelmeer in lateinischen Hexametern erzählt. Auch sonst unterscheidet Aeneas’ Erzählung (Aeneis 2–3) sich in stilistischer Hinsicht nicht grundsätzlich von der des extradiegetischen Erzählers (Aeneis 1 und 4–12): Sie enthält wie diese sprachliche Bilder, Gleichnisse, literarische Anspielungen und auch selbst wieder Figurenrede.598 Auch außerhalb 597 ›Übersetzer‹ kommen in der Aeneis lediglich im Zusammenhang der Kommunikation zwischen Menschen und Göttern und dann im Sinne von ›Deuter‹ oder ›Ausleger‹ vor: Aeneas redet den Priester Helenus als interpres divum (3,359; 3,474) an, und auch Mercur wird von ihm (4,359) sowie auch von Dido (4,378) als interpres divum bezeichnet; ein weiteres Mal findet sich der Ausdruck, diesmal in erweiterter, beide Seiten der Kommunikation bezeichnender Form als hominum divumque interpres für den Priester Asilas im Katalog der italischen Streitkräfte (10,175). Wenn Dido Juno im Gebet mit den Worten tuque harum interpres curarum et conscia Iuno 4,608 anredet, wird in harum interpres curarum deren Deutungshoheit und Zuständigkeit in Eheangelegenheiten ausgedrückt. 598 Vgl. Bowie 2008, der allerdings übersieht, dass es sich um eine literarische Konvention handelt: Bowie stellt fest, dass die Binnenerzählung sich in den von ihm betrachteten Aspekten – nämlich Empathie des Erzählers mit den Figuren, von denen er erzählt (43), Charakterisierung des Aeneas (44 f.), Gebrauch von Analpesen und Prolepsen (45–56), Gebrauch von wörtlicher Rede (49 f.), Intertextualität (49), hellenistische Gelehrsamkeit (47–49) und historische Anspielungen (50 f.) – nicht von der Haupterzählung unterscheidet. Er interpretiert dies so, dass die Stimmen von Aeneas und Vergil (sic!) oder auch ›Held‹ und ›Dichter‹ zusammenfallen können. Mit dieser Interpretation scheint er sich der poetologischen Deutung von Kofler 2003 anzunähern, deren Kenntnis er allerdings nicht merken lässt. Bowie versäumt auch, eine für seine Schlussfolgerung wesentliche Frage zu stellen, nämlich, ob die Ähnlichkeit im Erzählstil von extradiegetischem Erzähler und intradiegetischem Erzähler im Epos nicht eher die Regel als die Ausnahme darstellt. Im Falle, dass man diese Frage positiv beantwortet, wird man der Ableitung einer Annäherung oder gar Identifikation von Dichter und Held aus der Ähnlichkeit des Erzählstils von epischem Erzähler und der erzählenden Hauptfigur nicht ohne weiteres folgen. Es sei denn, man wollte diese Identität grundsätzlich behaupten – dann wäre sie allerdings keine Besonderheit der Aeneis.

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Figurenrede und szenisches Erzählen

der langen Figurenrede des Aeneas, die in Aeneis 2–3 seine Erzählung bildet, wird die literarische Technik, Figuren durch eine vom Erzählertext abweichende Redeweise zu charakterisieren, in der Aeneis nicht geübt: Die Figurenrede ist nicht personalisiert.599 Jedoch kommt es vor, dass Figurenrede so gestaltet ist, dass sie den emotionalen Zustand des Sprechers abbildet. Dies kann mit einem Verzicht auf voraussetzungsreiche Stilmittel einhergehen, deren Verwendung die Fiktion einer direkten und ungefilterten Äußerung der Figur stören würde.600 Die wesentlichen Unterschiede zwischen Erzählertext und Figurenrede bestehen in der Aeneis darin, dass die Personenbezüge jeweils der Figur, die spricht, angepasst sind, und dass ihre epistemische Perspektive berücksichtigt ist. Das bedeutet nun aber nicht, dass grundsätzlich von jeder Figur ausdrücklich angegeben werden müsste, wie sie an das Wissen über Dinge, die sie äußert, gelangt ist. Da der Text der Erzählung die Welt der Erzählung erschafft, reicht es, wenn es nicht grundsätzlich unmöglich ist, dass eine Person Kenntnis von den Dingen hat, über die sie spricht und die sie in ihrer Rede voraussetzt.601 Dies gilt insbesondere vom intradiegetischen Erzähler Aeneas, der als rückschauender Erzähler in Aeneis 2–3 nicht nur eigene Erlebnisse berichtet, sondern auch mit diesen in Zusammenhang stehende Vorgänge und Sachverhalte, die er zum Zeitpunkt des Erlebens nicht gekannt oder nicht durchschaut hat. Angesichts des differenzierten Umgangs mit den epistemischen Perspektiven, der in der Aeneis geübt wird, ist auch der erzähllogische Grundsatz, dass die Figuren nichts sagen, das ihren kognitiven Horizont überschreitet, und dass jede Äußerung einer Figur für sie selbst sinnvoll sein muss, bei der Interpretation der Aeneis ernst zu nehmen. Texterklärungen, die diesen Grundsatz verletzen, sind problematisch.602 599 Ein Beispiel für personalisierte Rede in der römischen Literatur ist die gleichermaßen prätentiöse wie fehlerhafte Redeweise der Freigelassenen bei Petron, vgl. Adams 2016, 237–246. Pinkster  1999, 711 f. beobachtet im Text des intradiegetischen Erzählers im Vergleich mit dem des extradiegetischen Erzählers mehr asyndetische Satzverknüpfungen im Präsens sowie Präsens öfter an erster Stelle im Satz als Perfekt und meint: »This suggests that Virgil has made an effort to insert certain elements of orality in order to make Aeneas’ report as genuine as possible«. 600 So stellt Breitinger 1740, 165–170 fest, dass ausgeführte Gleichnisse nicht in leidenschaftliche Figurenrede passen, weil sie eine sachliche Distanz zum Gegenstand voraussetzen (»Wann das Gemüth erhitzet ist, so hört alle Kunst und Verstellung auf, die Vernunft ist gefesselt, die ungestümen Triebe der Natur brechen mit Gewalt hervor, aller Zierrath und weitgesuchter Schmuck wird als etwas Nichtswürdiges weggeschmissen und mit Füssen getreten, der schönste Putz, die Haare werden ausgeraufet; so fern ist’s, daß ein solcher Mensch eine gesetzte Doctoralische Mine annehmen, und mit einer dogmatischen Gelassenheit Lectionen geben könne. Alldieweil nun eine heftige Leidenschaft alle diese angeführten Absichten ausschließt, so wird daraus mehr als klar, daß die Gleichnisse sich vor die Ausdruckung der Gemueths-Bewegungen nicht schicken«, 167). 601 Hierzu siehe auch 8.3. 602 So z. B. die Deutung des ›Epitaphs auf Priamus‹ in 2,554–558, die darauf hinausläuft, dass durch Widersprüche in Aeneas’ Erwähnungen vom Tod des Priamus auf andere

Implikationen der Figurenrede und Aeneas’ Erzählung als Figurenrede  

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Figurenrede hat innerhalb der epischen Erzählung den besonderen Status imaginär-authentischer Rede,603 d. h. das Lesepublikum anerkennt die Konvention, dass Worte, die einer Figur als direkte Rede zugeordnet werden, innerhalb der Fiktion als von dieser Figur gesprochen gelten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Darstellung von Konversation in der Literatur immer in gewissem Grade stilisiert ist. Dies liegt in der Natur der Sache, denn es handelt sich um die literarische Repräsentation eines zwar alltäglichen, aber äußerst komplexen, nicht allein sprachlichen Vorgangs, an dem alle Sinne beteiligt sind und bei dem das Gehirn ständig auswählen muss, welche Informationen relevant sein sollen. Daraus folgt, dass selbst personalisierte Figurenrede sich noch deutlich von einem Transskript natürlicher Konversation unterscheidet, allein weil stets eine Auswahl getroffen werden muss.604 Außerdem kann gesprochene Sprache nicht nur ungrammatisch, redundant und elliptisch sein – oft ist sie dies alles zugleich –, sondern sie wird darüberhinaus von vielen non-verbalen Komponenten wie Tonfall, nichtsprachlichen Lautäußerungen, Gesten, Gesichtsausdrücken und Blicken begleitet. Dazu kommen unerwähnt mitgedachte Implikationen, die umso elaborierter sein können, je besser die Sprecher einander kennen.605 Wollte man all dies möglichst exakt schriftlich erfassen, wäre das Resultat äußerst ermüdend zu lesen. Man erhielte ein die genannten Aspekte berücksichtigendes Protokoll, aber keine Literatur (im engeren Sinne).606 Insofern ist Figurenrede grundsätzlich stilisiert und wir sind als Leser daran gewöhnt, dass literarische Figuren in der Regel kohärenter sprechen, als wir selbst es in unserer alltägliSagenversionen oder gar auf den Tod Pompeius des Großen angespielt werde (Diese Deutung erwähnt schon der Serviuskommentar; ein moderner Vertreter ist Bowie 1990; Bowie  2008, 46 f.). Damit wird ein krasser Fiktionsbruch in Kauf genommen. Wohlgemerkt besteht dieser Fiktionsbruch nicht nur darin, dass die Figur des Aeneas die entsprechenden Sagenversionen oder Pompeius den Großen nicht kennt. Der Fiktionsbruch besteht auch und besonders darin, dass im gesetzten Fall Aeneas’ Rede für ihn selbst keinen Sinn ergäbe. Er würde inkohärent und widersprüchlich erzählen und seine Zuhörer würden dies hinnehmen. Für eine Erklärung des ›Epitaphs auf Priamus‹, die dem Erzählzusammenhang gerecht wird, siehe 8.4. 603 Vgl. Martinez / Scheffel 82009, 17. Darauf zielen letztlich die Überlegungen über den ›re­ alism‹ epischer Erzählung und darin berichteter Figurenrede, wie sie Laird 1999, 155–157 und 94 (zu direkter Rede im Versmaß) vorträgt. 604 Hierzu siehe Laird 1999, 83 f. über »skaz« in J. D. Salinger, »The Catcher in the Rye«. 605 Vgl. Zimmer 1986, 126 f.: »Und schließlich ist auch jeder Satz Teil eines Zusammenhangs, der mitgedacht wird, aber sprachlich niemals vorhanden ist. Der Satz Mimi ißt wieder enthält als sprachfrei mitgedachten Inhalt: Ich, der Sprecher, und du, der Hörer, wissen, wer Mimi ist, daß sie krank war, daß sie während der Krankheit keinen Appetit hatte, daß wir uns über ihre Gesundheit freuen. Nichts davon sagt der Satz. Gleichwohl geht er aus irgendeinem solchen größeren Bedeutungszusammenhang hervor, ist ohne ihn nicht verständlich und läßt ihn günstigenfalls auch in dem Hörer wieder entstehen.« 606 Ein solches Protokoll würde innerhalb der meisten Erzählungen eher verfremdend wirken, als dass es zum Wirklichkeitseffekt beitrüge, den die Autoren fiktionaler Literatur normalerweise anstreben.

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Figurenrede und szenisches Erzählen

chen Konversation tun.607 Dies gilt in besonderem Maße von intradiegetischen Erzählern, die in der Fiktion oft aus dem Stegreif lange Erzählungen wohldisponiert vortragen. Das heißt salopp gesagt, es gehört zum Fiktionalitätspakt, dass Aeneas zwei Bücher lang auf Vergils erzählerischem Niveau und in dessen Stil erzählt. Eine spezielle Annäherung oder gar die Identifikation von ›Held‹ und ›Dichter‹, die manche Interpreten darin sehen wollen,608 wird dadurch nicht automatisch ausgedrückt.609 Heinze  31915 stellt zu den Abschnitten mit wörtlicher Rede in der Aeneis fest, dass die einzelnen Redeszenen zumeist so gestaltet sind, dass alles, was eine Figur in einem bestimmten Zusammenhang sagt, als ein einziger Redebeitrag erscheint, so dass in den vergilischen Redeszenen im Vergleich mit den homerischen weniger Wechselrede stattfindet.610 Insofern wird Kommunikation weniger in ihrem Verlauf abgebildet, als dass die Positionen und eventuell auch charakteristische Haltungen der einzelnen Sprecher in ihren Äußerungen verdichtet erscheinen. Dieses Vorgehen ist als eine Ausprägung der erwähnten, immer erforderlichen Stilisierung natürlicher Rede in der Literatur zu sehen. Die Fiktion authentischer Rede wird dadurch nicht gestört. Gestalterisch ergibt sich gegenüber häufiger Wechselrede der Vorteil, dass weniger Rede-Anzeiger (›sagte sie‹, ›erwiderte er‹, ›darauf sie‹) gebraucht werden. Die homerische Art, Dialoge abzubilden, ist anders, aber keinesfalls normativ vorauszusetzen. Kehrt man die Betrachtungsrichtung um, wirken die homerischen Griechen im Vergleich zu den vergilischen Figuren ziemlich geschwätzig, aber darum nicht ›realistischer‹.611 Laird 1999 beobachtet, dass in den Redeszenen der Aeneis die hierarchischen Stellungen der Figuren Ausdruck finden, insofern oft

607 Sie scheinen in der Regel auch absichtsvoller zu sprechen, weil das, was sie sagen, im Rahmen der zu erzählenden Geschichte relevant ist (sonst würde es nicht erzählt). Das macht ihre Redebeiträge aber nicht automatisch zu ›gehaltenen Reden‹. 608 Nähe zwischen oder Identifikation von ›Held‹ und ›Dichter‹ sehen z. B.: Deremetz 2001, bes. 159–166; Kofler 2003; Bowie 2008, 50 f. 609 Auch macht der Umstand, dass Aeneas nach dem Gastmahl und im Anschluss an den professionellen Sänger Iopas seine eigene Geschichte vorträgt (so wie Odysseus bei den Phäaken nach dem Vortrag des Demodokos seine Abenteuer erzählt), ihn nicht automatisch zum Sänger. 610 Heinze  31915, 404; 417–419. Büchner 1955, 323 nennt als einzige Ausnahme zu diesem Darstellungsprinzip die Begegnung von Aeneas und Venus im Wald von Karthago, wo mehrmals ein Redewechsel stattfindet. Eine weitere Ausnahme ist die Szene, in der Anchises sich zunächst weigert, Troia zu verlassen, vgl.: 9.2.9. Highet 1972, 23 f. stellt fest, dass 135 der insgesamt 333 Reden in der Aeneis ohne Antwort bleiben. Dies bedeutet aber nur in wenigen, markant betonten Fällen tatsächlich einen Kommunikationsabbruch. 611 Vgl. hierzu auch Fuhrer 2008, Anm. 16 (≈ Fuhrer 2010, Anm. 16): »In den Redeszenen der Aeneis ist das Zusammenspiel der Darstellung von Figur, Situation, Handlung und Inhalt der Reden offensichtlich komplexer gestaltet, als dies in den homerischen Debatten und Palaverszenen der Fall ist.«

Implikationen der Figurenrede und Aeneas’ Erzählung als Figurenrede  

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nur der Ranghöhere spricht, während der Rangniedrige zuhört und nicht einmal kurz antwortet.612 Einfache bejahende Antworten oder solche, die sich aus der weiteren Handlung ohnehin erschließen lassen, werden nicht in direkter Rede abgebildet oder auch gar nicht mitgeteilt: Es entsteht das Bild effizienter und hierarchisch strukturierter – typisch römischer? militärisch geprägter? – Kommunikation. Einen besonderen Status innerhalb von Figurenrede haben literarische Anspielungen und Zitate. Im Falle der Aeneis, für deren Haupthandlung die erzählte Zeit vor dem Beginn der lateinischen Literatur anzusetzen ist, steht fest, dass die Zitate nicht innerhalb des kognitiven Horizonts der Figuren angesiedelt sind, sondern sozusagen über deren Köpfe hinweggehen: Sie bilden einen Metadiskurs, von dem die Kommunikation der Figuren untereinander unberührt bleibt. Wichtig dabei ist nur, dass die Äußerungen für die Sprecher sowie deren Adressaten prinzipiell verständlich sein müssen, auch ohne dass diese den zusätzlichen Sinnzusammenhang erfassen. So ist es ohne weiteres möglich und stört die Fiktion nicht im geringsten, wenn die Aeneas zugeordnete direkte Rede Anspielungen auf Texte enthält, die seine Figur nicht kennen kann,613 wenn also zum Beispiel in 2,648 innerhalb der von Aeneas wiedergegebenen Rede des Anchises ein Enniuszitat steht. Auf der Ebene der erzählten Geschichte kann natürlich keine der Figuren das Enniuszitat als solches erkennen. Weder Aeneas (als Sprecher zweiten Grades) noch Anchises (als Sprecher dritten Grades) ist bewusst, dass es sich um ein Enniuszitat handelt. Das Zitat ist auch weder für Anchises’ Familie (als Adressaten dritten Grades) noch für Dido (als Adressatin zweiten Grades) bestimmt, sondern für die externen Rezipienten der Aeneis, die sich kennerhaft an der literarischen Anspielung freuen können. Von den Figuren selbst, auf der Ebene der erzählten Geschichte, wird der Ausdruck divum pater atque hominum rex614 lediglich als feierliche Bezeichnung Jupiters verstanden, was er dem Wortsinne nach ja auch zunächst einmal ist. Um diesen Ausdruck zu verstehen, braucht man Ennius nicht zu kennen.615

612 Laird 1999, 192–208. 613 Anders Bowie 2008, der die Verwendung von Intertexten, Zitaten und Referenzen, die Aeneas nicht kennen kann, als Indiz dafür wertet, dass Aeneis 2–3 nicht als realistische Figurenrede aufzufassen sei, sondern als etwas ›Komplexeres‹, in das die Erzählerstimme sich einschaltet: »Narratologically, one might almost be better off imagining that the voice of the primary narrator, Virgil, breaks in here. (…) The implication would be that we should not simply take Aeneas’ narration as a long story within a story, as a ›realist‹ text, but as something more complex into which the narrator’s voice intrudes, in a manner very reminiscent of Ovid«, 48. 614 Zu diesem Ausdruck als Ennius’ Übersetzung des homerischen πατὴρ ἀνδρῶν τε θεῶν τε (z. B. Il. 1,544) siehe Casali 2017, 298. 615 Vgl. Kraggerud 2017, 215 im Zusammenhang mit Aen. 6,460: invitus, regina, tuo de litore cessi und Catull. 66,39: invita, o regina tuo de vertice cessi; siehe Anm. 69.

204

Figurenrede und szenisches Erzählen

Innerhalb der Redebeiträge kommt es vor, dass Sprecher anstelle der üblichen Pronomina den eigenen Namen616 oder auch ein Wort, das einen Verwandtschaftsgrad bezeichnet, mit Bezug auf sich selbst verwenden, z. B. Priamo 2,541, Neoptolemum 2,549, Creusam 2,778 und Creusae 2,784; Venus spricht gegenüber Aeneas von sich als parens: tu ne qua parentis | iussa time neu praeceptis parere recusa 2,606b–607. Alle diese nicht-pronominalen Selbstbezeichnungen haben gemeinsam, dass sie in Sätzen stehen, in denen die Sprecher nicht das Subjekt sind. Folglich stehen die Namensnennungen in obliquen Kasus und die regulären Personenbezüge der direkten Rede bleiben beibehalten. Das bedeutet, dass die Sprecher hier nicht etwa von sich selbst in der 3. Person sprechen, wie es zuweilen von dieser Redeweise behauptet wird. Die Außenperspektive entsteht bei solchen Formulierungen vielmehr allein durch den Ersatz eines Pronomens der 1. Person durch einen Namen oder eine Bezeichnung, die sonst von anderen für den Sprecher verwendet werden. Sie bewirkt durch die formale Distanzierung eine gewisse Objektivierung und dient der Emphase. Die Markierung der direkten Rede erfolgt in der Aeneis regelmäßig durch ein auf den Sprecher bezogenes Verbum des Sprechens, das entweder in den Text der direkten Rede eingeschoben ist (inquit und ait),617 oder aber eine Rede-Ein- oder Ausleitung bildet.618 Zu den Rede-Einleitungen und zu den Rede-Ausleitungen können hinweisende Ausdrücke hinzutreten, oft sind dies sic, talia, haec oder nec plura, wobei die ersten drei sowohl in voraus- als auch rückweisender Bedeutung verwendet werden. Ablativische Ausdrücke mit dictis oder ähnlichen Wörtern, die das in der direkten Rede Gesagte benennen, werden ebenfalls sowohl voraus- als auch rückweisend gebraucht. Eine Besonderheit ist beim Tempusgebrauch zu beobachten: Während die Rede-Einleitungen in der Aeneis in der Regel im Präsens stehen, erscheinen die Rede-Ausleitungen oft in einem Vergangenheitstempus.619 Lexikalisch kommen für die Rede-Einleitungen und 616 Zum Beispiel Salvatore 1983, 71, Anm. 76 stellt diese Redeweise bei degenerem Neoptolemum 2,549 und bei Sinonem 2,79 fest: »L’uso del nome proprio (in luogo di me) richiama, per lo stesso effetto espressivo che se ne ottiene, v. 79 Sinonem«. 617 ait kommt zudem vor oder nach der direkten Rede als Rede-Einleitung respektive RedeAusleitung vor; inquit steht nur in einem einzigen Fall als Redeausleitung, ist dort aber um ein Partizip erweitert: ›heus, etiam mensas consumimus?‹ inquit Iulus | nec plura adludens 7,117 f. Zu ait und inquit als parenthetischen Rede-Ankündigungen: Sangmeister 1978, 37–40. 618 In der Regel steht entweder vorher eine Rede-Einleitung oder nachher eine Rede-Ausleitung; es kommt aber auch vor, dass ein Beitrag von Rede-Einleitung und Rede-Ausleitung gerahmt ist. Eine überwiegend statistisch ausgerichtete Erfassung der Rede-Ankündigungen einschließlich der parenthetischen Rede-Indikatoren (aber ohne die Rede-Ausleitungen) in der Aeneis bietet: Sangmeister 1978, 10–54. 619 Quinn 1963, 232, Anm. 1. Eine Ausnahme ist adfabar in 3,492, wie es G und M überliefern (eine weitere Lesart (Pcd) ist adfabor). Zu Ausnahmen von Vergangenheitstempora in der Rede-Ausleitung: Adema 2019, 49 f. mit Anm. 8. Zum Tempusgebrauch siehe auch 7.3.

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Die dialogischen Szenen in Aeneis 2  

Rede-Ausleitungen zahlreiche Wörter aus dem Wortfeld »sprechen« in Betracht; zu den häufig gebrauchten Redemarkern gehören: fatur und adfatur (als RedeEinleitung), sowie fatus, effatus, dixit, dixerat (als Rede-Ausleitung). Die folgende Tabelle zeigt das Vorkommen einiger häufig gebrauchter Redemarker in der Aeneis insgesamt sowie in den Büchern der Binnenerzählung. Wie zu erwarten, unterscheidet die Binnenerzählung sich auch hierin nicht signifikant vom Rest der Aeneis. Aeneis insgesamt

Gemittelt: 2 Bücher

ait

45

7,5

inquit

29

fatur

Aeneis 2–3

Aeneis 2

Aeneis 3

8

4

4

4,8

4

4



37

6,1

5

2

3

adfatur

12

2





fatus

24

4

[+5!] 9

6

3

effatus

14

2,3

1



1

dixit

28

4,6

3

1

2

dixerat

25

4,1

4

3

1



9.2 Die dialogischen Szenen in Aeneis 2 Innerhalb der Erzählung des Aeneas gibt es insgesamt 20 Redeszenen (1–20) mit 46 einzelnen Beiträgen in direkter Rede ([1]–[46]).620 Diese 46 Abschnitte in Figurenrede (zweiten Grades) unterscheiden sich stark in ihrer Länge: Sie umfassen zwischen einem und neunundachtzig Versen: Der kürzeste besteht in der von Aeneas an Panthus gerichteten Frage, wo in Troia er gebraucht werde (2,322 [9]), und der längste zusammenhängende Abschnitt in Figurenrede innerhalb von Aeneas’ Erzählung ist die Prophezeiung des Helenus (3,374–462 [38]).621 Zusammengezählt ergeben sich 562 (oder 572) Verse in direkter Rede zweiten Grades; damit besteht über ein Drittel von Aeneas’ Erzählung (1494 Verse)622 in direkter Rede zweiten Grades. Der Anteil an direkter Rede zweiten Grades ist in Aeneis 2 (280,5 respektive 291,5 Verse von 779 respektive 801) etwas geringer als in Aeneis 3 (281,5 Verse von 715). 620 Der Monolog innerhalb der Helena-Szene (*2,567–588) gehört nicht zum Text; zur Aussonderung der Helena-Szene siehe 11.  621 Dieser Grad an Genauigkeit soll hier genügen. Für eine Zählweise, die einzelne Versfüße (wenngleich nicht Silben) berücksichtigt, vgl. Highet 1972, 18 f. mit 327–339 (Appendix 4: The Speeches listed by Names of Characters). 622 Mit Helena-Szene 1516 Verse; zur Zählung siehe Anm. 377.

206

Figurenrede und szenisches Erzählen

Von den 20 Redeszenen innerhalb von Aeneas’ Erzählung bilden 11 entweder Kommunikation zwischen lebenden menschlichen Figuren oder Gebete ab (1, 2, 4, 5, 6, 7, 9, 16, 17, 18, 19, 20). Bei den übrigen Redeszenen sind übernatürliche Sprecher im Spiel. Dabei handelt es sich in zwei Fällen um Tote (3: Hector, 12: Polydorus), in einem Fall um eine Entrückte (11: Creusa), in drei Fällen um Götter (8: Venus, 13: Apollo, 14: Penaten), und in einem Fall um ein ausdrücklich undefinierbares Mischwesen (15: Celaeno). Die übernatürlichen Sprecher geben ungefragt (außer in 13, wo Aeneas Apollo um Auskunft bittet [27]) Ratschläge und Weissagungen von sich, auf die keine Gegenrede folgt, aber in drei Fällen ein Redebeitrag von Anchises (nämlich eine Auslegung bei Apollo [29] und den Penaten [31] sowie ein an die Götter gerichtetes Gebet bei Celaeno [33]). Während die Konversation zwischen menschlichen Figuren überwiegend die aktuelle Situation zum Gegenstand hat, vermitteln die übernatürlichen Sprecher, wie es ihrem Wesen und ihrer Funktion entspricht, auch höhere Einsichten und treffen Aussagen über die Zukunft; letzteres gilt ebenfalls für Helenus, bei dem das überlegene Wissen sich auf seinen Seherstatus gründet. Längere eigenständige Erzählungen innerhalb von Redebeiträgen finden sich bei den beiden Griechen Sinon [2] und Achaemenides [20], die daher als Erzähler dritten Grades (oder mit Genette gesprochen als ›metadiegetische Erzähler‹) bezeichnet werden können. Im Hinblick auf die Syntax fällt auf, dass drei Viertel aller Redeszenen (15 von 20) mit mindestens einer Frage beginnen, sei es, dass es sich um echte oder um rhetorische Fragen handelt. Insofern die Satzform der Frage innerhalb von beschreibenden und erzählenden Abschnitten eines Erzähltexts nicht die Regel darstellt, kann sie dazu dienen, den Beginn von direkter Rede zu markieren. Dies gilt insbesondere für Fragen, in denen eine Figur angeredet ist – es sei denn, man hätte es mit einem Erzähler zu tun, der seine Figuren anredet, was jedoch in der Aeneis weder beim extradiegetischen noch beim intradiegetischen Erzähler der Fall ist. In Aeneis  2–3 stehen im Erzählertext lediglich vereinzelt rhetorische Fragen.623 So kann die Satzform der Frage in Aeneis 2–3 in der Regel als Signal dafür verstanden werden, dass Figurenrede beginnt. Bei einigen Redeszenen (z. B. 1, 18) geht der direkten Rede ein Abschnitt mit berichteter Rede voraus. Wie schon auf der übergeordneten Ebene bei der Einführung von Aeneas als Sprecher beobachtet,624 wird auch hier, innerhalb von Aeneas’ Erzählung, auf diese Weise ein allmählicher Übergang vom ›narrativen Modus‹ in den ›dramatischen Modus‹ gestaltet. Dies hat auch zur Folge, dass 623 Ganz zu Beginn der Erzählung steht eine rhetorische Frage, die ausdrückt, dass die zu erzählende Geschichte so traurig ist, dass selbst hartgesottene griechische Krieger bei diesem Thema weinen müssten: 2,6b–8a. Eine weitere rhetorische Frage dient dem Ausdruck der Verzweiflung, die Aeneas empfindet, als er bemerkt, dass Creusa nicht am Treffpunkt angelangt ist: 2,745 f. 624 Siehe 7.1.

207

Die dialogischen Szenen in Aeneis 2  

selbst Redeszenen, die nur einen Redebeitrag in direkter Rede enthalten, dialogisch wirken können. In Aeneis 2 stehen die Abschnitte mit direkter Rede zweiten Grades in klar abgrenzbaren Zusammenhängen. Sie lassen sich jeweils konkret einem Schauplatz, an dem die Worte in der Geschichte gesprochen werden, zuordnen. Neben dieser räumlichen Fixierung weisen sie eine zeitliche Fixierung auf, wie sie direkter Rede grundsätzlich eigentümlich ist, nämlich dass der Fiktion nach der erzählte Zeitraum des Sprechens in etwa der Erzählzeit entspricht. Hieraus ergeben sich räumlich und zeitlich definierte, in sich geschlossene, dramatische Szenen, für die der jeweilige Wissenstand der beteiligten Figuren im Verhältnis zu demjenigen der Rezipienten (ersten und zweiten Grades) festgestellt werden kann. Im Hinblick auf die besondere Konzeption der vergilischen Iliupersis ist dabei für die Bewertung des vergilischen Aeneas vor allem interessant zu ermitteln, was Aeneas jeweils zum Zeitpunkt des Erlebens von seiner Situation in der ihn umgebenden Welt wissen kann, und dies dem Erwartungshorizont der Rezipienten abwägend gegenüberzustellen.

9.2.1 Laocoons vergebliche Warnung625 [1]

2,42b–49

Laocoon zu den Troianern

7,5

Beim hölzernen Pferd. Der Warnung des Laocoon geht eine Diskussion voraus, in der die beiden Troianer Thymoetus und Capys zwei gegensätzliche Positionen vertreten, die in indirekter Rede wiedergegeben sind (2,31–38). Thymoetus schlägt vor, das hölzerne Pferd in die Stadt zu holen und zentral aufzustellen. Capys hingegen findet das hölzerne Pferd als griechisches Geschenk verdächtig. Er spricht sich dafür aus, es zu zerstören, und macht drei Vorschläge, wie dies zu bewerkstelligen sei: ins Meer werfen, verbrennen oder seitlich anbohren. Die Meinungen der Troianer darüber, was geschehen soll, sind geteilt (2,39). Laocoon, der von der arx herab hinzukommt, hat eine eindeutige Meinung und beginnt noch im Herannahen, diese in Form von 625 Zur Form der Darstellung: Jede Redeszene wird durch einen ›petit‹ gesetzten Vorspann eingeführt. Er soll der Übersicht dienen und rekapituliert die entsprechenden Textabschnitte. Die Redebeiträge der einzelnen Sprecher sind mit arabischen Ziffern in eckigen Klammern nummeriert, es folgen die Versangaben für die direkte Rede und dann der Name des Sprechers sowie die Namen oder Bezeichnungen der angeredeten oder anwesenden Personen. Hochzahlen beim Sprechernamen geben an, um den wievielten von wievielen Redebeiträgen der genannten Person innerhalb von Aeneis 2–3 es sich handelt; steht keine Hochzahl, hat die Person nur diesen einen Redebeitrag. Ein Asterisk beim Namen kennzeichnet den Sprecher als übernatürlich. Am Ende der Zeile steht die Anzahl der Verse in direkter Rede. Es folgt eine Paraphrase der Redeszene, in der die Verben, welche die einzelnen Sprechakte bezeichnen, fettgedruckt sind. Sie soll dazu dienen, die Szene als in sich geschlossene Szene klar zu definieren und die einzelnen Abschnitte mit direkter Rede in den dramatischen Zusammenhang dieser Szene einzubetten.

208

Figurenrede und szenisches Erzählen

rhetorischen Fragen zu äußern. Er hält es für verrückt, sich auf das Pferd einzulassen. Er bezweifelt, dass die Griechen tatsächlich abgefahren seien, glaubt nicht, dass sie ohne Hintergedanken Geschenke hinterlassen, und verweist auf Odysseus, den man ja kenne. Sodann stellt er laut Vermutungen über die wahre Natur des Pferdes an: entweder seien darin Griechen verborgen, oder es handele sich um ein Gerüst, das dazu diene, von außen über die Mauern in die Stadt zu spähen, oder um irgendein anderes Täuschungsgerät. Seine Rede schließt mit der unmissverständlichen Aufforderung an die Troianer, dem Pferd zu misstrauen (equo ne credite, Teucri), und einer zusammenfassenden Meinungsäußerung, die es in der Form einer markanten Ich-Aussage nicht an Klarheit fehlen lässt und in der Laocoon seine eingangs in Form von Fragen vorgetragene skeptische Haltung nochmals bekräftigt (quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentīs). Er schleudert seine Lanze nach dem Pferd, die im Holz steckenbleibt. Aus dem Innern des Pferdes klingt es hohl.

In der ersten direkten Rede innerhalb von Aeneas’ Erzählung wird das berühmte Täuschungsmanöver, das den troianischen Krieg nach langen Jahren der Belagerung überraschend beendet, prägnant exponiert. Dabei treten die Unterschiede im Wissensstand hervor, die zwischen den Figuren einschließlich erzähltem Aeneas einerseits und den Rezipienten (ersten und zweiten Grades) sowie erzählendem Aeneas andererseits bestehen. So exponiert die erste Rede­ szene innerhalb von Aeneas’ Erzählung nicht nur die dramatische, sondern zugleich auch die epistemische Situation. Wenn Büchner 1955 feststellt, dass es hier »um das Erfassen der Wahrheit und um Entscheidung« gehe,626 so ist dem präzisierend hinzuzufügen, dass die Wahrheit auf der Handlungsebene ja eben gerade nicht erkannt wird und die getroffene Entscheidung sich später als falsch herausstellt, was aber den Rezipienten und dem erzählenden Aeneas bewusst ist. Daraus folgt: Mehr als um das Geschehen an sich geht es in diesem einleitenden Teil der vergilischen Iliupersis darum, was wer zu welchem Zeitpunkt für wahrscheinlich hält oder als wahr erkennt und welche Faktoren die falsche Entscheidung der Troianer bewirken. Die Verse unmittelbar vor Laocoons Eintritt in das Geschehen627 schildern eine Auseinandersetzung der Troianer darüber, wie mit dem hölzernen Pferd umgegangen werden soll (2,31–39). Die Kontroverse ist in komprimierter Form 626 Büchner 1955, 326. 627 Zu Laocoon in der Aeneis vgl.: Heinze 31915, 12–20; Kleinknecht 1944; Zintzen 1979; Horsfall 2008, 77–93; 183–208 mit weiterer Literatur; Erler 2009. Zu Laokoon in der griechischen Literatur: Casali 2017, 11–16; Zintzen 1979, 15–48; vor Vergil: Nesselrath 2009; bei Quintus Smyrnaeus im Verhältnis zu Vergil: Heinze 31915, 67–71; Gärtner 2005; Gärtner 2009. Eine umfassende Übersicht über die literarische Tradition gibt Scafoglio 2006, und zwar im Hinblick darauf, was daraus für den Laokoon des Sophokles gewonnen werden kann. Zum Verhältnis des vergilischen Laocoon zur vatikanischen Statuengruppe: Horsfall 2008, 80–82 mit weiterer Literatur. Highet 1972 klassifiziert Laocoons Redebeitrag als suasoria: und zwar als »persuasion« (313) und als »dissuasion« (132); zum Inhalt der Rede sagt er nichts außer dass in timeo Danaos bitterer Hass auf Griechenland und die Griechen, für ihn eines der Hauptthemen des ersten Teils der Aeneis, ausgedrückt

Die dialogischen Szenen in Aeneis 2  

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wiedergegeben: Zwei unterschiedliche Auffassungen, die von zwei Gruppen vertreten werden, stehen einander als indirekte Rede zweier namentlich benannter Meinungsführer (Thymoetus und Capys) gegenüber.628 In der solchermaßen gerafften Darstellung scheint der Handlungsspielraum der Troianer sich auf eine extreme Alternative zu beschränken: das hölzerne Pferd entweder mit religiöser Achtung zu behandeln und in die Stadt zu holen oder es als gefährlich einzustufen und zu zerstören.629 Diese binäre Opposition zu Beginn der Schilderung setzt den Rahmen für das Handeln der Troianer. In ihr wird vorbereitet, dass die Furcht der Troianer davor, dass sie einen Kultgegenstand falsch behandeln könnten, kriegsentscheidend wird. Laocoon selbst nimmt an der Diskussion beim hölzernen Pferd nicht teil. Er kommt erst von der arx her dazu. Bei der großen Schar, die ihn begleitet (2,40), mag es sich um Personen handeln, die ihn als priesterliche Autorität herbeigeholt haben.630 Jedenfalls ist er über die Lage im Bilde, denn er beginnt schon im Herannahen, als einzelner das Wort an die Menge richtend, seine Meinung kundzutun. Laocoons Warnung erweist sich im weiteren Verlauf der erzählten Geschichte als berechtigt, und die von ihm geäußerte Vermutung, dass im hölzernen Pferd Griechen stecken, stellt sich als zutreffend heraus. Anders als die erzählten Troianer kennen die Rezipienten dieses entscheidende Detail bereits, da der Erzähler Aeneas kurz zuvor berichtet hat, dass im Pferd ausgewählte griechische Krieger eingeschlossen sind und dass die übrigen Griechen sich auf einer nahen Insel versteckt halten.631 Da in Aeneas’ Erzählung die Ereignisse im Wesentlichen chronologisch angeordnet sind, wissen bei Laocoons Warnung außer den erzählten Troianern alle Bescheid. Die Erzählhaltung trägt hier dem Kenntnisstand sowohl der internen Adressatin Dido als auch dem der aller­ meisten Rezipienten der Aeneis Rechnung, also letztlich dem Umstand, dass die zu erzählende Geschichte ›aller Welt bekannt‹ ist.632 Trotz grundsätzlich troianischer Perspektive wird also darauf verzichtet, den Moment der Überraschung in der Sicht der Troianer zu erzählen. Da in der Laocoonszene der Rezipient gegenüber den Figuren der Erzählung über entscheidendes Mehrwissen verfügt, bewirkt die Formulierung der Alternative in 2,31–38, dass der Rezipient werde (173). Lynch 1980 beobachtet einen Kontrast der rhetorischen Stile von Laocoon und Sinon und sieht in Laocoon eine Verkörperung altrömischer, republikanischer Rhetorik und Tugend. 628 Vgl. Gransden 1985, 60. 629 Tertium non datur – Dabei könnte man das unbekannte Riesending ja auch einfach ein paar Tage am Strand stehen lassen und es beobachten. Zur Wirksamkeit des ›falschen Dilemmas‹ als rhetorischem Mittel vgl. Grimes 2019, 79 f. 630 Vgl. Heinze 31915, 13 f.: Er entwickelt die Szene probehalber als Bühnengeschehen, um die Plausibilität der Schilderung zu erweisen. 631 huc delecta virum sortiti corpora furtim | includunt caeco lateri penitusque cavernas | ingentīs uterumque armato milite complent 2,18–20. 632 Zum Motiv der Bekanntheit der Geschichte vom Troianischen Krieg vgl. 7.2.

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Figurenrede und szenisches Erzählen

sich dieses Mehrwissens bewusst wird. Laocoon spricht ihm gewissermaßen aus der Seele, wenn er an der Annahme, dass die Griechen abgefahren seien, Zweifel und Misstrauen gegenüber allem, was von Griechen stammt, äußert. So bietet die erste direkte Rede in Aeneas’ Erzählung dem mitdenkenden Rezipienten ein Identifikationsangebot, weil er sie als wahr erkennen kann, und die Situation, in der sie stattfindet, öffnet ihm darüberhinaus den Blick für das Spektrum unterschiedlicher Grade von Informiertheit über die geschilderten Ereignisse. Dieses sozusagen epistemische Identifikationsangebot ist universell und überzeitlich: Wer immer der Erzählung des Aeneas verständig folgt, wird eine intellektuelle Verbundenheit mit Laocoon empfinden, weil er im Sinne der Geschichte Recht hat.633 Die Szene endet mit der ausdrucksstarken Geste des Laocoon, eine Lanze gegen das Pferd zu schleudern. In dem Wurf ist die ablehnende Haltung gegenüber dem hölzernen Pferd, die seine Worte bedeuten, noch einmal nonverbal ausgedrückt. Wie seine Worte hat auch der Lanzenwurf nicht den beabsichtigten Erfolg, da die Lanze die Wand des Pferdes nicht durchdringt und daher dessen Geheimnis nicht preisgibt. Dies beklagt der erste ausdrückliche Kommentar des Erzählers Aeneas in 2,54–56, direkt im Anschluss an die Redeszene, der besagt, dass die Zerstörung Troias der schicksalhaften Absicht der Götter entsprochen habe, weil andernfalls Laocoons Lanze das Versteck der Griechen enthüllt hätte.634 Der Lanzenwurf ist ein entscheidendes Handlungsmotiv, weil es sich um einen direkten physischen Angriff auf das hölzerne Pferd handelt, den die erlebenden Troianer später als Frevel (scelus 2,229) gegen den vermeintlichen Kultgegenstand deuten (2,228–231), wenn ihnen der Angriff der Meeresungeheuer auf Laocoon und seine Söhne (2,199–227) im Lichte der Ausführungen des Sinon als eine Bestrafung für diesen Frevel erscheint. In der Perspektive der erzählten Troianer wird die Annahme einer kausalen Verknüpfung des Lanzenwurfs mit der Erscheinung der Meerungeheuer durch Sinons Ausführungen nahegelegt und umgekehrt scheint Laocoons Schicksal Sinons Ausführungen zu bestätigen.635 Objektiv betrachtet allerdings kann der Lanzenwurf auf das allein zu Täuschungs­ 633 Demgegenüber beschreibt Lynch 1980 ein kulturelles Identifikationsangebot: Er sieht Laocoon (im Kontrast zu Sinon) als Identifikationsfigur für die römische Leserschaft der Aeneis: »In the confrontation of the rhetorical styles Laocoön and the early Republican qualities which he exhibits are shown to have much more ethical integrity than things Greek. The reminiscence of Cato gives a moral dimension to the conflict between ora­ torical styles, linking Laocoön to a pristine form of Romanness and Sinon to a decadent form of Greekness. The effect of these associations is to make the Trojan character more sympathetic and palatable to a Roman audience – despite such uncomfortable facts as that the Trojans were Asiatics, that they were defeated militarily by the Greeks, and that the gods were acting against Laocoön and Troy«, 177. 634 Zu diesem Erzählerkommentar siehe auch: 8.4. 635 Vgl. Heinze 31915, 19 f. zu den »formal-künstlerischen Erwägungen« für die Trennung der Laocoonhandlung.

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zwecken angefertigte hölzerne Riesenpferd, bei dem es sich eindeutig nicht um einen Kultgegenstand handelt, kein Frevel sein und somit auch nicht der Grund für eine ›Bestrafung‹ des Laocoon. Ein objektiver Grund für den Angriff der Schlangen wird im Text nicht genannt; das unheimliche Ereignis bleibt innerhalb der Erzählung unerklärt.636

9.2.2 Sinons Geschichten: ›Operation Hölzernes Pferd‹ [2] 2,69–72 [3] 2,77–104 [4] 2,108–144 [5] 2,148–151 [6] 2,154–194

Sinon1/4 zu Priamus und den Troianern 4 Sinon2/4 zu Priamus und den Troianern 28 Sinon3/4 zu Priamus und den Troianern 47 Priamus1/2 zu Sinon 4 Sinon4/4 zu Priamus und den Troianern 41

Vor König Priamus. Ein unbekannter Mann, der gefesselt vor Priamus gebracht wird, blickt sich kurz unter den umstehenden Troianern um und beginnt dann, verzweifelt klagende rhetorische Fragen über sein Schicksal zu äußern, die deutlich machen, dass er bei den Griechen verhasst ist [2]. Anteil nehmend fordern die Troianer ihn auf zu sagen, wer er sei, was er bringe und warum sie einem Gefangenen Glauben schenken sollten (berichtete Rede; 2,74b–75a). Den König apostrophierend, beteuert er, dass er die Wahrheit sagen werde und nicht verhehlen, dass er Grieche sei. In einem seine Ehrlichkeit beteuernden Konditionalgefüge  – wenn das Schicksal ihm auch übel mitspiele, mache es ihn doch nicht zum Lügner  – nennt er seinen Namen: Sinon. Weiter an Priamus gerichtet erläutert er, dass er zum Gefolge des Palamedes gehört habe, den die Griechen bekanntermaßen aufgrund einer Intrige des Odysseus getötet hätten. Nach dessen Tod habe Sinon kein Ansehen mehr genossen und geschworen, bei seiner Heimkehr nach Argos Rache zu üben. Seither habe Odysseus ihn verleumdet und mithilfe von Kalchas – an dieser Stelle bricht Sinon ab, um seinen Bericht für unnütz zu erklären und den Troianern zu unterstellen, dass für sie ohnehin alle Griechen gleich seien. Er fügt die Bemerkung an, dass sie, wenn sie ihn bestraften, ganz im Sinne von Odysseus handelten und das Lob Agamemnons verdienten [3]. Hierauf drängen die Troianer erst recht darauf zu wissen, wie alles zusammenhängt (berichtete Rede; 2,105). Sinon fährt fort und erzählt, dass die Griechen schon öfter vorhatten, abzufahren und vom Krieg abzulassen, allein das Wetter sei ungünstig gewesen und es sei noch schlimmer geworden, seit das hölzerne Pferd dastehe. Schließlich habe man Eurypylus um Rat zu Apollo gesandt. Dies habe ergeben, dass, wie vor der Abfahrt nach Troia eine Jungfrau geopfert wurde, für die Heimkehr erneut ein Grieche geopfert werden müsse (direkte Rede; 2,116–119a).637 Den Griechen sei der Schreck in die Glieder gefahren, aber Odysseus habe den Seher Kalchas gedrängt, den Spruch 636 Zum Tod des Laocoon als Prodigium im Sinne römischer Religionsvorstellung und als Symbol für den Untergang Troias: Kleinknecht 1944 (grundlegend); Zintzen 1979. 637 Hier liegt direkte Rede vierten Grades vor: Aeneas erzählt, wie Sinon erzählt, wie Eurypylus Apollo zitiert; den übergeordneten epischen Erzähler mitgezählt haben wir es also mit fünf Sprecherinstanzen zu tun.

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näher auszulegen. Zu diesem Zeitpunkt bereits hätten viele Sinon vorausgesagt, dass es auf ihn hinauslaufen werde. Kalchas habe zehn Tage lang geschwiegen und sich zum Schein geweigert, jemanden zu benennen. Schließlich habe er verabredungsgemäß Odysseus’ lautem Drängen nachgegeben und Sinon benannt. Erleichtert, dass es nicht sie selbst, sondern einen anderen getroffen habe, seien alle damit einverstanden gewesen. Als Sinon am vorgesehenen Tag für das Opfer vorbereitet worden sei, habe er sich losgerissen, sich über Nacht im Sumpf versteckt, und bang hoffend die Abfahrt der Griechen erwartet. Im Anschluss an diese Erzählung äußert Sinon die Mutmaßung, dass er seine Heimat nie wieder sehen werde und die Griechen sein Entkommen an seiner Familie rächen würden. Endlich bittet er die Troianer unter Berufung auf den Wahrheitsgehalt dessen, was er sagt, um Erbarmen [4]. Die Troianer zeigen Mitleid und Priamus lässt Sinon die Fesseln abnehmen. Er fordert ihn auf, sich als einen der Ihren zu betrachten, und fragt ihn, was es mit dem hölzernen Pferd auf sich habe [5]. Sinon beginnt seine Antwort, indem er sich in einer Beschwörung von allen Verbindlichkeiten mit den Griechen lossagt. Er apostrophiert Troia und kündigt an, die freundliche Aufnahme mit existenziell wichtigen Informationen vergelten zu wollen. Sodann behauptet er, dass die Griechen im Krieg um Troia immer auf Pallas vertraut hätten, dass diese sich aber seit dem Raub des Palladiums durch Diomedes und Odysseus ungnädig zeige. Nach der Aufstellung im Lager der Griechen habe das Götterbild Flammen aus den Augen gesprüht, Schweiß abgesondert und sei dreimal vom Boden abgesprungen, woraus Kalchas abgeleitet habe, dass die Griechen Troia nicht einnehmen könnten, ehe erneut Zeichen aus Argos erfragt und die Gottheit zurückgebracht worden sei. Nun seien sie auf dem Weg nach Mykene, beschafften Waffen und Götter zur Begleitung und würden unversehens wieder auftauchen. Das Bildnis (des hölzernen Pferdes) hätten sie zur Sühne für die Verfehlung am Palladium aufgestellt. Kalchas habe angeordnet, es so groß und massiv zu bauen, dass es nicht durch die Stadttore passe und nicht in die Stadt gezogen werden könne, damit es nicht dem alten Kult gemäß das (sein) Volk schütze. Sinons Rede schließt mit einer Prophezeiung des Kalchas, die das Ende für Priamus’ Herrschaft und die Troianer vorhersage, falls sie Minervas Geschenk verletzten, aber einen künftigen Kriegszug Asiens gegen Griechenland, falls sie es in ihre Stadt hinaufbrächten [6].

Die ausführlich gestaltete Sinon-Szene638 hat sowohl in der Erzählung des Aeneas als auch in der Aeneis die Funktion, Sympathie für die Troianer zu wecken und sie einschließlich Aeneas dafür zu entlasten, dass sie auf die List mit dem hölzernen Pferd hereingefallen sind. Dabei gilt der Grundsatz: Je geschickter der

638 Zur Sinonszene siehe Heinze  31915,10–12; Manuwald  1985; Gärtner  2005, 177–191, mit weiterer Literatur; Ganiban 2008b, bes. 64–68. Für eine Interpretation von Sinons ›Trugrede‹ als Rezeption odysseeischer Trugreden siehe Grossardt  1998, 344–361. Zu Sinons Rede als Beispiel für ausgefeilte griechische Rhetorik (im Kontrast zu Laocoons altrömischem Ideal entsprechenden Auftritt) siehe Lynch 1980. Highet 1972, 16 f. sieht Ähnlichkeiten zu einem Botenbericht, äußert sich zu Vorbildern (247 f.) und ordnet Sinons ›Rede‹ in seine Rubrik »Narratives, Explanations, Descriptions (N)« ein, vgl. 292 und 310 (und nicht in die Rubrik »Persuasions (P)«).

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Betrüger agiert, desto weniger Schuld trifft die Betrogenen dafür, dass sie sich haben übertölpeln lassen.639 Entsprechend wird in der vergilischen Iliupersis Wert darauf gelegt, Sinon als geschickten und glaubwürdigen Lügner erscheinen zu lassen, der im Rahmen der ›Operation Hölzernes Pferd‹ eine genau ausgeklügelte Geschichte vorträgt.640 Der Unterschied im Wissensstand zwischen erzählendem Aeneas und erzähltem Aeneas ist hier klar zu fassen, insofern der erzählende Aeneas um die List der Griechen weiß, der erzählte Aeneas aber noch nicht. Allerdings tritt er als Einzelperson bei der Sinon-Geschichte gar nicht in Erscheinung, sondern er gehört einfach zu den Troianern als Gruppe.641 Die Rezeption wird offen und unmissverständlich gelenkt: Die Schilderung des Vorgangs ist so angelegt, dass für die Rezipienten – für Dido wie für die Rezipienten der Aeneis – die wahre Natur von Sinons Auftritt von Anfang an außer Frage steht: Seine Redebeiträge werden als insidiae Danaum angekündigt und als eine Art Paradebeispiel für griechische Heimtücke eingeführt: accipe nunc Danaum insidias et crimine ab uno disce omnīs

2,65 2,66

Aeneas antwortet damit direkt auf Didos Aufforderung, von den insidiae Danaum zu erzählen: »immo age et a prima dic, hospes, origine nobis insidias« inquit »Danaum«

1,753 1,754

In beiden Fällen (1,754 und 2,65) bezieht sich insidiae Danaum konkret auf das Täuschungsmanöver mit dem hölzernen Pferd. Aeneas nimmt das Wort insidiae am Ende seiner Erzählung abschließend noch ein weiteres Mal in dieser Bedeutung auf: 639 Vgl. Zintzen 1979, 59: »Daß diese Schuld die Troer nicht zu stark belaste, dazu hat Vergil die List des Sinon so ausführlich und psychagogisch geschickt ausgestaltet.« 640 Die Bedeutung, die der Figur des Sinon in der vergilischen Iliupersis zukommt, ergibt sich aus der troianischen Perspektive der Erzählung und ist mit ihr hinreichend erklärt. Die Annahme von Grossardt 1998, 345–347, es handele sich um eine motivgeschichtliche Entwicklung (»dass die Person des Sinon erst allmählich zu einer zentralen Figur in der Geschichte von der Eroberung Trojas wird«, 347), wobei er die Rolle des Sinon in der Ilias Parva des Lesches aus der Tabula Iliaca A erschließt (346 mit Anm. 457) und auch noch die nicht erhaltene Sinon-Tragödie des Sophokles in die Betrachtung einbezieht (347), ist ein typisches Beispiel dafür, dass der erzähllogische Zusammenhang der Aeneis zugunsten von literaturgeschichtlichen Spekulationen nicht ernst genug genommen wird. Wenn Sinon z. B. später bei Quintus Smyrnaeus und Triphiodor im Vergleich zu Aeneis 2 wieder weniger Raum erhält (wie Grossardt 1998, 346, Anm. 458 selbst feststellt), so liegt dies daran, dass er in Versionen mit griechischer Perspektive nicht so wichtig ist, weil hier kein Interesse daran besteht, die Troianer zu entlasten. Das ist keine Frage einer Entwicklung (»allmählich«), sondern eine Frage der Perspektivierung. 641 Vgl. 8.3.

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talibus insidiis periurique arte Sinonis credita res

2,195 2,196

Die Junktur insidiae Danaum kommt außer in 1,754 und 2,65 noch zwei weitere Male vor. In 2,36 wird damit eine im hölzernen Pferd vermutete griechische Kriegslist bezeichnet: aut pelago Danaum insidias suspectaque dona | praecipitare iubent 2,36 f.

Analog steht insidiae Danaum in 2,309b–310a für die erkannte griechische Kriegslist: Danaumque patescunt | insidiae

2,309 f.

Die Verwendung des Wortes insidiae ist hier auffallend spezifisch: In allen betrachteten Fällen steht es bezogen auf die ›Operation Hölzernes Pferd‹ und den damit zusammenhängenden Auftritt des Sinon. In Aeneis 2 findet sich lediglich eine weitere Verwendung von insidiae, die allerdings in der Bedeutung abweicht: In 2,421 bezeichnet das Wort den Umstand, dass die Troianer ihrerseits eine Täuschung ins Werk setzen, indem sie griechische Rüstungen tragen: illi etiam, si quos obscura nocte per umbram 2,420 fudimus insidiis totaque agitavimus urbe, 2,421 apparent 2,422

Ansonsten kommt insidiae in Aeneis 1–5 (genauer: in Aen. 1,1–6,398) nicht vor. Das zum selben Wortfeld gehörende dolus steht wie insidiae rahmend um die Sinon-Szene in 2,62 und 2,196 sowie bei der Schilderung der Umsetzung der List (2,250–264) in 2,252 und 2,264,642 und es erscheint ebenfalls im Zusammenhang mit dem Rüstungsraub der Troianer, in Coroebus’ rhetorischer Frage: dolus an virtus, quis in hoste requirat 2,390. Wenn die Bezeichnung durch die Verwendung der beiden Ausdrücke insidiae und dolus die Täuschungsmanöver der Griechen (›Operation Hölzernes Pferd‹) und der Troianer (Rüstungsraub) zueinander in Beziehung setzt, tritt im Vergleich der Unterschied hervor, der zwischen diesen beiden Kriegslisten besteht: Der lange geplanten und aufwendig vorbereiteten Kriegslist der Griechen steht eine sich spontan aus der Situation heraus ergebende Kriegslist der Troianer entgegen. Dies ist für die Bewertung der Rüstungslist bedeutsam.643 Die Beschreibungen von Sinons Verhalten zwischen seinen einzelnen Redebeiträgen (2,106 f. 195–198) charakterisieren ihn als kunstfertigen Lügner (ars 2,106), 642 Zur negativen Charakterisierung des griechischen dolus und des »listenreichen« Odysseus (man vergleiche die Selbstvorstellung in Od. 9,19 f.) in Aeneis 2 siehe Ganiban 2008b, bes. 59–62. 643 Hierzu siehe 9.2.6.

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der Emotionen vortäuscht (pavitans et ficto pectore fatur 2,107) und falsche Tränen vergießt (lacrimisque coactis 2,196). Die getäuschten Troianer, zu denen auch der erzählte Aeneas gehört, werden hingegen als arglos vorgestellt, wenn es heißt, das ihnen solche Heimtücke und Verschlagenheit wie die der Griechen unbekannt seien: ignari scelerum tantorum artisque Pelasgae 2,106.644 Durch die eindeutige Bezeichnung der geschilderten Vorgänge als insidiae respektive dolus und von Sinons Gebaren als Verstellung erhalten die Rezipienten entscheidende Informationen, die den erzählten Troianern fehlen. So folgen die Rezipienten (beider Ebenen) der Schilderung von Sinons Auftritt in dem Wissen, dass es sich um eine trügerische Charade handelt, und zugleich in dem Wissen über das Nichtwissen der erzählten Troianer. Das Ziel der Charade, nämlich dass die Troianer dazu veranlasst werden sollen, das hölzerne Pferd mitsamt den darin befindlichen Kriegern ins Innere der Stadt zu bringen und dabei deren Befestigung zu beschädigen, bleibt zwar ungenannt, ist aber für die vorinformierten Rezipienten (ersten und zweiten Grades) leicht zu erkennen. Für die erzählten Troianer hingegen handelt es sich bei Sinons Auftritt kommunikationstheoretisch betrachtet um einen Akt gezielter Desinformation, wie Watzlawick  1976 sie für geheimdienstliche Operationen im 20. Jahrhundert beschreibt:645 Ein vermeintlicher Überläufer, der sich den Anschein gibt, gegen das Interesse der eigenen Seite zu handeln, spielt dem Feind falsche Informationen zu, die diesen zu Fehlschlüssen verleiten sollen. Den Troianern wird eine ›falsche Wirklichkeit‹646 vorgegaukelt. Dies geschieht in der Absicht, dass sie die Konsequenzen, die ihre Behandlung des hölzernen Pferdes nach sich ziehen wird, falsch einschätzen. Die entscheidende Fehlinformation, nämlich die angebliche Prophezeiung des Kalchas, steht ganz am Ende von Sinons vier Redebeiträgen und ist rela­ tiv kurz ([6], 2,189–194). Demgegenüber nehmen in Sinons Redebeiträgen die Vorgeschichten des Sprechers selbst einerseits und des hölzernen Pferdes andererseits verhältnismäßig viel Raum ein. Sie dienen dazu, Sinon als Quelle der Information glaubwürdig zu machen und die Information als solche in der Sicht der Troianer wahrscheinlich wirken zu lassen.647 In den ersten drei Rede644 Zur Arglosigkeit der Troianer als nach römischer Auffassung positiver Haltung siehe Heinze 31915, 10, insbesondere: »Hier spricht der Römer Virgil; das konventionelle Ideal der Römer ist ja der gerade, offenherzige, keiner Tücke fähige Ehrenmann, der fremder Tücke eben darum leicht erliegt.« 645 Watzlawick 1976, 123–142. 646 Watzlawick 1976, 123. 647 »Nicht nur im geheimdienstlichen Bereich, sondern ganz allgemein hängt die Glaubwürdigkeit einer Information von zwei Faktoren ab: von der Wahrscheinlichkeit der Information selbst und von der Glaubwürdigkeit der Quelle. Informationen, die bekannten Tatsachen widersprechen, müssen als unwahrscheinlich eingestuft werden. Dasselbe gilt für Informationen, die entweder von einer notorisch unzuverlässigen Quelle stammen;

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beiträgen geht es um die Person des Sprechers. Es wird sozusagen die ›Legende‹ des ›Agenten‹ Sinon vorgetragen. Der vierte Redebeitrag ist dann Sinons gut vorbereitete Antwort auf die erwartete Frage nach der Bewandtnis des hölzernen Pferdes, die in der fiktiven Prophezeiung gipfelt. In dieser Prophezeiung steckt die eigentliche Botschaft, die für das Gelingen des ›Unternehmens Hölzernes Pferd‹ wesentlich ist und um deren Übermittlung willen Sinon sich überhaupt in Feindeshand begibt. Alles, was er vorher tut und sagt, hat zum einen den Zweck zu verschleiern, dass hinter seinem Erscheinen und seiner Kommunikation mit den Troianern eine Absicht steckt. Zum zweiten soll den Troianern vermittelt werden, dass die Person, als die er sich ihnen vorstellt, ein vertrauenswürdiger Informant ist. Dazu gehört wesentlich, dass Sinon in seinen Geschichten durch indirekte Charakterisierung ein möglichst positives Bild seiner selbst zeichnet,648 und zwar als jemand, der einen nachvollziehbaren Grund hat, Verrat an den Griechen zu begehen. Dieser Verrat an den Griechen erscheint freilich in Sinons Darstellung weniger in der Sicht der Griechen als Verrat, sondern vielmehr in der Sicht der Troianer als eine wichtige Information über das Schicksal ihrer Stadt. Sinons Redebeiträge enthalten zwei längere erzählende Abschnitte. Die erste Erzählung handelt davon, dass die geplante Abreise der Griechen ein Menschenopfer erfordert und Sinon selbst auf Betreiben des Odysseus dafür ausgewählt wird, aber der Opferhandlung im letzten Moment entkommt ([4], 2,108–136). Die zweite Erzählung entwickelt den angeblichen Gang der Ereignisse, die zum Bau des hölzernen Pferdes geführt haben sollen: Wie Pallas den Griechen seit dem Raub des Palladiums zürnt und die Griechen daher Kalchas’ Rat folgend das hölzerne Pferd errichten und vorübergehend heimfahren, um dann mit neuer göttlicher Unterstützung wiederzukehren ([6] 2,162–188/194).649 Diesen beiden von einer, deren Glaubwürdigkeit unbekannt ist, da von dieser Quelle noch keine Nachrichten erhalten wurden; oder von einer Quelle, die schwerlich oder unmöglich Zugang zu der von ihr vermittelten Information haben kann«, Watzlawick 1976, 132 f. 648 Vgl. Heinze 31915, 11 f.: »Ich will (…) nur darauf hinweisen, wie im Laufe der Rede nach und nach scheinbar ganz absichtslos eine Menge edelster Eigenschaften sich enthüllen oder mitleiderregende Nebenumstände zutage kommen: Standhaftigkeit im Unglück und unverbrüchliche Wahrhaftigkeit (80), Armut (87), Treue gegen den Freund (93), Leid und Erniedrigung um seinetwillen (92), Unfähigkeit zu kluger Verstellung (94), Abneigung gegen den Krieg (110), in den er nicht aus freien Stücken gegegangen ist (87), Vereinsamung unter den Volksgenossen (130), pietas gegen die Heimat, gegen die Kinder und den Vater (137), religio (141): er scheint es sogar fast als Unrecht gegen die Götter zu empfinden, daß er sich dem Opfertode entzogen hat (fateor 134)«. 649 Zwischen der angeblichen Abreisewilligkeit und Kriegsmüdigkeit der Griechen (2,108 f.) und der Ankündigung ihrer plötzlichen Wiederkehr (improvisi aderunt 2,181) wurde ein Widerspruch gesehen: Manuwald 1985. Aber Sinons Geschichte braucht die Bedrohung durch eine Wiederkehr der Griechen als Anlass für die Troianer, das Pferd in die Stadt zu holen; vgl. Gransden 1985, 65. Die Vorstellung ist stimmig, wenn man animmt, dass die

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Geschichten ist gemeinsam, dass der Sprecher sie als wahr ausgibt, obwohl er weiß, dass sie es nicht sind: Er lügt. Sinons Lügengeschichten sind Teil des Plans, und sie zu erzählen ist seine Hauptaufgabe. Um dies aber nicht offensichtlich werden zu lassen, agiert Sinon so, dass bei den Troianern der Anschein entsteht, dass er nicht einfach von sich aus zu erzählen beginnt, sondern erst auf deren Aufforderung hin. Für ihn ist es von existenziellem Interesse, seine Geschichten vorzutragen, dabei aber dieses Interesse seine Zuhörer nicht merken zu lassen. Er verlagert die Motivierung seines Erzählens von sich selbst auf seine Zuhörer. Bei der ersten Geschichte erreicht er dies, indem er die Erklärung seiner Situation zu einer Schilderung von Odysseus als einem Erzbösewicht werden lässt und eine spannende Intrige andeutet, die dieser unter Beteiligung des Kalchas angezettelt habe, um plötzlich abrupt abzubrechen (2,101–102a) und vorzugeben, dass er keinen Sinn darin sehe weiterzusprechen, weil die Troianer ihn als Griechen ja ohnehin zur Rechenschaft ziehen würden (2,102b–104). Redeabbruch und Unterstellung erfüllen den beabsichtigten Zweck: Die Troianer reagieren auf die Andeutung einer Geschichte von einer Intrige wie erwartet damit, dass sie verlangen, diese Geschichte zu hören.650 Sinons Unterstellung, die Troianer würden alle Griechen über einen Kamm scheren (2,102b–104), soll natürlich das Gegenteil bewirken, was auch gelingt: Tatsächlich behandeln die Troianer Sinon nicht als Feind, sondern nehmen ihn ausdrücklich als einen der Ihren auf (noster eris 2,149). Seine zweite Geschichte erzählt Sinon in direkter Beantwortung von Priamus’ Frage, was es mit dem hölzernen Pferd auf sich habe. Mit dieser Frage kann Sinon rechnen, weil sie offensichtlich im Raum steht. Taktisch geschickt ist es abzuwarten, bis sie gestellt wird. So rückt Sinon mit der angeblichen Bewandtnis des Pferdes erst auf Nachfrage heraus und erst, nachdem durch die Vorgeschichten sichergestellt ist, dass der vermeintliche Verrat durch das Schicksal, das erlitten zu haben er vorgibt, hinreichend gerechtfertigt erscheint. Die Neugier der Troianer ist so groß, dass es niemandem in den Sinn kommt, die Situation als solche zu hinterfragen.651 Stattdessen nehmen sie Sinons Lügengeschichten willig als Erklärung an. Kriegsmüdigkeit der Griechen der Anlass ist, ein Orakel einzuholen, und dass dann die Aussicht auf Sieg ihren Plan, plötzlich zurückzukehren, motiviert: Bei aller Kriegsmüdigkeit ziehen sie einen Sieg, von dem sie wissen, wie er zu erreichen ist, trotz größerem Aufwand dem bloßen Aufgeben der Belagerung vor. 650 »He clinches his case with crafty subtlety and stops talking just when his audience could not fail to ask him to continue: The Trojans are all agog to hear the end of his tale«, Scafoglio 2007, 784. 651 Wenn sie mit einem »Problem« konfrontiert werden, neigen viele Menschen dazu, gleich nach Lösungen zu suchen, und sind nur allzu bereit, aus angebotenen Lösungsvorschlägen auszuwählen. Erstaunlich wenige nur sind mutig genug (sapere aude), das Problem als solches in Frage zu stellen und die Prämissen zu prüfen.

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Die angebliche Prophezeiung des Kalchas ist so konstruiert, dass sie den Troianern kaum Handlungsspielraum lässt, aber zwei Vorteile bietet: Erstens zeigt sie die scheinbar einzig richtige Lösung für den Umgang mit dem hölzernen Pferd auf. Zweitens kündigt sie den Troianern eine Zukunft an, in der sie nicht nur von der Belagerung der Griechen befreit sind (das wird zwar nicht eigens gesagt, ist aber impliziert), sondern sogar ihrerseits die Griechen in deren Heimat bekriegen. Sinons Erklärung erspart den Troianern also weiteres Nachdenken über das rätselhafte Pferd. Darüberhinaus erfüllt sie ihren Wunsch, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen ihnen und den Griechen zu ihren Gunsten umkehrt. Weil es im Interesse der Troianer liegt, dass das, was Sinon erzählt, wahr ist, wollen sie ihm glauben und werden unkritisch. Die falsche Prophezeiung wird den Troianern auch dadurch glaubwürdig gemacht, dass ein vermeintlicher Freund sie in angeblich wohlwollender Absicht überbringt. Denn zu dem Zeitpunkt, da Sinon die fatale Botschaft übermittelt, ist er bereits von Priamus zu einem der Ihren erklärt worden (2,148–149a), hat sich seinerseits feierlich von den Griechen losgesagt (2,154–159) und den Seher Kalchas verwünscht (2,190b–191a). Sinons Strategie, das Vertrauen der Troianer zu gewinnen, beginnt damit, dass er vorgibt, bei den Griechen verhasst zu sein. Wenn er zuallererst in einer Reihe rhetorischer Fragen vordergründig sein Schicksal beklagt (2,69–72), so lautet die eigentliche Botschaft, die er damit vermittelt: Seht her, die Griechen sind auch meine Gegner [2]. So unsinnig die Devise ›der Feind meines Feindes ist mein Freund‹ auch sein mag, steht doch außer Frage, dass ein gemeinsamer Feind die Basis für ein gewisses Einvernehmen bilden kann. Sinons ›Legende‹ führt sein Ungemach und seine Entfremdung von den eigenen Landsleuten auf eine Intrige des Odysseus gegen ihn zurück [3]. Dieser fiktiven Intrige wird dadurch Wahrscheinlichkeit verliehen, dass Sinon sich als Verwandter und Gefolgsmann des Palamedes ausgibt. Das Anknüpfen an dessen Schicksal schafft einen Kontext, der einerseits eine Begründung für die vorgebliche persönliche Feindschaft zwischen Sinon und Odysseus liefert und andererseits das manipulative Verhalten des Odysseus als typisches Charakteristikum impliziert. Ironischerweise entspricht Sinons Charakterisierung des Odysseus der Wahrheit (er nennt ihn pellax 2,90); nur sind es die Troianer, die Opfer seiner Manipulation werden, und nicht Sinon, der seinerseits seinen Teil zu der Manipulation beiträgt. Es kommt hinzu, dass die angebliche Intrige gegen Sinon nicht von Odysseus allein angezettelt worden sein soll, sondern in Zusammenarbeit mit Kalchas, der als Priester eine offizielle Instanz vorstellt.652 Dadurch erhält Sinons fiktives Schicksal einen neuen Aspekt: Aus der persön652 Zur Rolle des Kalchas, dessen Anteil an der Intrige in Vergils Darstellung im Vergleich zu anderen Darstellungen hervorgehoben ist, vgl.: Gärtner 2005, 161–165; 183; Manuwald 1985, 195 f. Scafoglio 2007 sieht hierin einen Zusammenhang zu Accius’ Tragödie Astyanax.

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lichen Feindschaft zwischen zwei Männern, wie sie für sich genommen als Rechtfertigung für einen Verrat an den eigenen Landsleuten weniger plausibel wäre, wird durch die Beteiligung des Priesters eine amtlich sanktionierte, gegen Sinon gerichtete griechische Aktion, die sein Überlaufen zu den Troianern weit besser erklärt. Außerhalb von den erzählenden Abschnitten betreffen Sinons Äußerungen ihn selbst, d. h. die Person, die er zu sein vorgibt: Er beklagt sein Schicksal (2,69–72. 137–140), beteuert die eigene Ehrlichkeit sowie die Wahrhaftigkeit der eigenen Rede (2,77–80) und fleht Priamus um Erbarmen an (2,141–144). Als Priamus dieses Erbarmen gewährt, schwört Sinon seiner Zugehörigkeit zu den Griechen ab (2,154–159) und bietet den Troianern unaufgefordert eine Gegenleistung für seine Unversehrtheit: Er erklärt, den Troianern im Austausch eine Information geben zu wollen, die mit dem Erhalt ihrer Stadt (Troia servata) zu tun haben soll: Tu modo promissis maneas servataque serves Troia fidem, si vera feram, si magna rependam.

2,160 2,161

Sinon stellt es so dar, als täte er den Troianern einen Gefallen, wenn er ihnen eine Information zuspielt, bei der es sich in Wahrheit jedoch um die mit der ganzen Charade bezweckte Desinformation handelt. Dass er sich vorher ausdrücklich von den Griechen lossagt, bewirkt zweierlei: Erstens wird der Eindruck erweckt, dass Sinon grundsätzlich loyal ist und Bündnisversprechen ernst nimmt. Damit gewinnt er als Informant an Seriosität. Zweitens entsteht der Anschein, dass es sich um eine strategisch relevante Information handelt, die aus Sicht der Griechen geheim bleiben soll. Damit gewinnt die Information für die Troianer an Interesse. Die Schilderung von Sinons Auftritt lässt klar erkennen, dass es sich um eine interdependente Situation handelt, in der es für Sinon darauf ankommt, richtig einzuschätzen, was die Troianer denken, dass er denkt, dass sie denken usw. Ein wesentlicher Aspekt seines Auftritts besteht darin, dass er sich als Angehöriger des Palamedes ausgibt und damit an dessen mythengeschichtlich bekanntes Schicksal anknüpft.653 Eine besondere Pointe liegt darin, dass er Palamedes’ Geschichte bei seinen Zuhörern eigentlich als bekannt voraussetzt (fando aliquod si forte tuas pervenit ad auris 2,81; haud ignota loquor 2,89), sie aber dennoch in einer Kurzfassung erzählt (2,81–87), und zwar in einer, die so konzipiert ist, dass den Rezipienten (beider Ebenen) die Parteinahme für Palamedes und gegen Odysseus nahegelegt wird. Die Anknüpfung an Palamedes dient dazu, die Plausibilität der Behauptung, Odysseus habe sich mit Kalchas gegen ihn verschworen, zu erhöhen, und zwar nicht nur für die Troianer, sondern auch für die Rezipienten der Aeneis. Dabei wird nicht zu erwähnen versäumt, dass mit Sinon 653 Hierzu siehe auch: Ganiban 2008b, 66.

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ein den Troianern bisher nicht bekannter Grieche für die Operation ausgewählt worden sei (2,59). Dies hat den Vorteil, dass er für sie ein unbeschriebenes Blatt ist: Es wird dadurch leichter, ihn mit einer Legende auszustatten, und er kann den Troianern alles Mögliche auftischen, auch dass er ein Verwandter des Pala­ medes sei.654 Die Erwähnung dieser Vorsichtsmaßnahme der Griechen dient indirekt wieder der Entlastung der Troianer, die kein Vorwissen haben, auf das sie bei der Einschätzung der gebotenen Information zurückgreifen können. Auch das hohe persönliche Risiko des Agenten wird einleitend thematisiert: Von der Wirkung seiner Verstellung hängt nicht nur das Gelingen des Plans ab, sondern auch sein eigenes Leben (2,60–62). Für Sinon steht und fällt alles damit, ob die Troianer ihm seine Geschichte und die darin vorgetragene Definition seiner eigenen Person glauben oder nicht. An Vergils Sinon-Szene wurde bemerkt, dass keine Erklärung dafür gegeben wird, dass die Griechen abgesegelt sein sollen, ohne das Opfer an Sinon vollzogen zu haben.655 Aber dies verwundert nicht weiter, wenn man die Erzählperspektive berücksichtigt: Aeneas referiert Sinons Lügengeschichte, und dessen Lügen­ geschichte muss diese Leerstelle haben. Denn die Geschichte lautet, dass er dem Opfer entkommen ist und sich die Nacht über im Sumpf versteckt hat, bis ihn die troianischen Hirten gefunden und vor den König geschleppt haben. Was die Griechen nach seinem Entkommen geredet, beschlossen und getan haben, kann ein Sinon, der im Sumpf versteckt war, nicht wissen. Es ist daher nur kohärent, dass dieser Sinon die Reaktion der Griechen auf seine Flucht nicht kennt und nicht weiß, was sie dazu bewogen hat, abzusegeln, ohne ihn geopfert zu haben. Wissen darüber wäre im Gegenteil inkohärent mit seiner Rolle und würde ihn als Betrüger entlarven. Sinons Lügengeschichte ist mit der Leerstelle besser; enthielte sie eine Erklärung dafür, dass die Griechen weggefahren sind, ohne ihn geopfert zu haben, wäre das verdächtig. In Sinons Bericht wird die Leerstelle damit überspielt, dass er schildert, wie er bang gewartet habe, ob die Griechen absegeln, und damit, dass er der Befürchtung Ausdruck verleiht, dass seine Familie zu Hause für seine Flucht werde büßen müssen. Indem er behauptet, gebangt zu haben, ob die Griechen abfahren, räumt er die Möglichkeit, dass sie abfahren, ohne ihn zu opfern, implizit ein.656 Mit der Erwähnung der Iphigenie am Beginn der Geschichte (2,116 f.) wird auch die Möglichkeit eines Ersatzopfers 654 Sinon als den Troianern unbekannt: Dieses Motiv ist bei Vergil betont, vor ihm nicht belegt und in seiner Version notwendig: Gärtner 2005, 165. 655 Gärtner 2005, 188, 190; Manuwald 1985, 192 mit Anm. 38; Austin 1964, 75. 656 Der Serviuskommentar hebt die Unbestimmtheit der Formulierung dum vela darent, si forte dedissent (2,136) als besonders gewitzt hervor: si forte dedissent medium se praebet: nam nec negat, nec confirmat eos navigasse, ne aut eis demat securitatem, aut quod supra dixit falsum sit, non posse navigare Graecos, nisi homine immolato. et artis est in argumentorum angustia incertis uti sermonibus (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 241); hierzu siehe auch Horsfall 2008, 143 f.

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angedeutet. Wenn also Sinons Lügengeschichte keine ausdrückliche Erklärung über die Abfahrt der Griechen enthalten darf, bleibt lediglich zu konstatieren, dass der erzählende Aeneas nicht thematisiert, ob er und die anderen Troianer hinterfragen, wie es dazu kommt, dass die Griechen nach Sinons Entkommen abfahren. Auf die Redeszene folgt ein Erzählerkommentar (2,195–198), aus dem hervorgeht, dass Sinons Auftritt die beabsichtigte Wirkung hat. Der Kommentar ist so formuliert, dass er sich nicht auf die direkte praktische Wirkung, also das Einholen des hölzernen Pferdes bezieht, sondern auf das übergeordnete Ziel der Aktion, nämlich die Entscheidung des troianischen Krieges zugunsten der Griechen. Betont wird, dass die Troianer weder durch die Leistung einzelner Krieger (neque Tydides nec Larisaeus Achilles 2,197) noch durch deren große Zahl (non mille carinae 2,198b) noch durch Zermürbung (non anni … decem 2,198a) besiegt wurden, sondern durch List und die Verstellungskunst des Sinon. Im Anschluss folgt die Schilderung des Angriffs der Seeungeheuer auf Laocoon und seine Söhne (2,199–227). Sie wird eingeführt als ein weiterer Faktor, der das Handeln der Troianer beeinflusst habe. Erst im Anschluss daran wird das Einholen des hölzernen Pferdes geschildert (2,234–245), das als praktische Konsequenz aus Sinons Auftritt folgt und im Erzählerkommentar, der diesem Erfolg bescheinigt, bereits vorausgesetzt wird. Sinons Reden geben den Troianern eine – falsche – Erklärung für die Bewandtnis des hölzernen Pferdes und legen ihnen ein bestimmtes Vorgehen nahe. Der unheimliche Angriff der Meeresungeheuer gibt für die Troianer den Ausschlag, auf der Basis des von Sinon Gehörten rasch zu entscheiden und zu handeln.

9.2.3 Traum vom toten Hector [7] 2,281–286 Aeneas1/9 im Traum zu Hector [8] 2,289–295 Der tote Hector* im Traum zu Aeneas

6 7

Aeneas’ Schlafstätte im Haus seines Vaters am Stadtrand von Troia. Nach dem ereignisreichen Tag, an dem die Troianer das hölzerne Pferd schließlich in die Stadt geholt haben, liegt Aeneas zu Hause in tiefem Schlaf, als ihm Hector im Traum erscheint, und zwar in Gestalt seines geschändeten Leichnams. Aeneas redet das Traumgesicht an und stellt ihm eine Reihe von Fragen, die erkennen lassen, dass er sich nicht darüber im Klaren ist, dass sein Gegenüber tot ist: Was hat dich aufgehalten? Woher kommst Du? Wir warten schon! So viele sind gestorben, und wie siehst du bloß aus! Warum bist du so entstellt? [7]. Hector – so wird explizit gesagt – beantwortet diese Fragen nicht und beginnt mit einem tiefen Seufzer zu sprechen. Seine Rede ist eine Aufforderung zur Flucht. Hector sagt, dass die Griechen in Troia sind, und stellt fest, wenn es Rettung gegeben hätte, dann durch ihn selbst. Er legt dar, dass Troia Aeneas damit beauftrage, die Penaten zu schützen; für sie solle er übers Meer fahren und ihnen eine neue Heimstatt suchen. [8].

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Das Gespräch mit Hector gehört zu denjenigen Dialogszenen, die keine natürliche Kommunikation zwischen natürlichen Figuren wiedergeben. Aeneas berichtet von einem Traum, in dem ihm Hector erscheint, der zu diesem Zeitpunkt bereits tot ist und die Wunden seiner Schleifung trägt, was der träumende Aeneas aber nicht begreift.657 Die detaillierte und reflektierte Beschreibung von Hectors Aussehen im Erzählertext (2,271–279a) steht in deutlichem Kontrast zu den verständnislosen Fragen in der direkten Rede des träumenden Aeneas (»Was für eine Schmach hat deine heiteren Züge blutig entstellt? Oder warum sehe ich diese Wunden?«: »quae causa indigna serenos | foedavit vultus? aut cur haec vulnera cerno?« 2,285b–286).658 Der geträumte Hector erteilt Aeneas die Anweisung, mit den Penaten zu fliehen, und er trifft die Aussage, dass Troia eingenommen ist und nicht verteidigt werden kann. Innerhalb der erzählten Geschichte erweist es sich, dass Troia tatsächlich fällt, und dieser Umstand ist den Rezipienten aller Ebenen bereits bekannt. Der erzählte Aeneas erhält kurz später durch Panthus Informationen, die Hectors Aussage, dass die Feinde in der Stadt seien, bestätigen. Dennoch führt er Hectors Auftrag, sich der Penaten anzunehmen (die Panthus eigentlich gerade im richtigen Augenblick herbeibringt 2,320 f.)659 und mit ihnen zu fliehen, zunächst nicht aus. Stattdessen begibt er sich zusammen mit einigen Gefährten in die von Griechen wimmelnde Stadt. Also hat die Traumerscheinung, die Aeneas sowohl darüber informiert, wie es um Troia steht (der Untergang hat begonnen), als auch, wie er darauf reagieren soll (mit Flucht), keinen direkten Einfluss auf sein Handeln. In Hinblick auf die Darstellung ist zu vermerken, dass der rückblickende Ich-Erzähler die Traumerscheinung weder explizit kommentiert noch das eigene Verhalten zu der Weisung, die ihm im Traum gegeben wird, in Beziehung setzt. An den verwirrten Fragen, die Aeneas an Hector richtet, wird aber deutlich, dass er, während er träumt, nicht weiß, 657 Williams 1983, 108. 658 Die epistemischen Perspektiven fasst klar Steiner 1952, 30, Anm. 5: »Aeneas erzählt hier nicht den unmittelbaren Eindruck, den er im Traume hatte – damals konnte er sich ja Hektors jämmerliches Aussehen nicht erklären –, vielmehr schildert er die Erscheinung vom Standpunkt des Erzählers aus, der sich erst hinterher bewußt geworden ist, daß sich ihm der tote und geschleifte Hektor gezeigt hat (in entsprechender Weise erklärt sich ›quaerentem vana‹ 287).« Nicht so klar: Williams 1983, 106–108, der die Wissensdiskrepanz zwischen träumendem und wachem Aeneas als Dichotomie zwischen Phantasie (oder Traum) und Wirklichkeit interpretiert und für Aeneas zwei Seinsebenen (»the two levels of his being«, 108) feststellt. 659 Mit victos deos sind selbstverständlich die bereits von Hector genannten Stadt-Götter, die Penaten von Troia (sacra suosque tibi commendat Troia penatis 2,293), gemeint; vgl. Heinze  31915, 34 f. Diese Identifizierung infragestellen heißt sich künstlich gegen die Erzähllogik aufbäumen. Die Penaten bleiben im Haus, bis Aeneas wiederkommt und sie Anchises auf der Flucht halten lässt (2,717); das ist der folgerichtige Gang der Ereignisse. Die Annahme, dass Hector sich auf die Hausgötter des Aeneas beziehe und Panthus seine eigenen Hausgötter herbeibringe (Fenik 1959, 5 f.), steht im Widerspruch zum Text (2,293, s. o.) und ergibt keinen Sinn.

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wie er die Situation einordnen soll und was von der Erscheinung zu halten ist.660 Er erwacht aus dem Traum vom Lärm der Kriegshandlungen, der aus der Stadt herüberschallt (2,298–302a).661 Es gibt Interpretationen, in denen der Umstand, dass Aeneas Hectors Weisung nicht sofort befolgt, als Fehlverhalten oder als Ungehorsam gegen die Götter ausgelegt wird.662 Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass ein solcher Vorwurf von keiner Figur im Text erhoben wird.663 Auch Aeneas selbst räumt rückblickend keinen Fehler ein und stellt seine Entscheidung für den letzten Kampf in Troia nicht in Frage. Außerdem ist zu beachten, dass er als Erzähler seiner eigenen Geschichte erscheint und somit der Fiktion nach diejenige Instanz ist, die auswählt und entscheidet, was erzählt wird und wie. Wenn es also in irgendeiner Hinsicht kompromittierend für ihn wäre, dass er Hectors Weisung nicht sofort befolgt, warum sollte er den Traum dann in seiner Erzählung Dido gegenüber erwähnen? Welchen Sinn hätte es für ihn, ein eigenes Fehlverhalten gegenüber seiner Gastgeberin ohne Not offensichtlich zu machen und es auch noch unkommentiert zu lassen? Aus dem Umstand, dass Aeneas die Traumerscheinung ohne weitere Erklärungen erzählt, können wir schließen, dass es für seine Figur jedenfalls kein Problem darstellt, sich über Hectors Weisung hinweggesetzt zu haben. Auch die abgeschwächte Variante des Tadels, nämlich die Annahme, dass Aeneas den Traum beim Aufwachen vergessen habe,664 ist am Text nicht zu belegen: Wenn 660 Vgl. Schauer  2007, 155: »Desorientiertheit, mit der er (…) auf die Traumerscheinung Hectors reagiert«; Gransden 1985, 66: »His words show how complete was his temporal and spatial dislocation from reality.« 661 So auch z. B. Büchner 1955, 329. Die Ansicht, Aeneas werde durch Hector geweckt und so davor gerettet, im Schlaf von den Griechen überrascht und getötet zu werden, vertritt Grillone 1967, 40: »Enea si era addormentato con la convinzione che, con la presenza del cavallo del legno, Troia fosse per sempre immune da pericoli d’ogni sorta; per di più abitava in un quartiere piuttosto appartato. Quindi, se Ettore non lo avesse avvertito, il nostro eroe forse sarebbe stato ucciso nel sonno.« 662 Zum Beispiel: Fratantuono 2007, 52: »if he is to be criticized, it will be for his apparent forgetfulness of Hector’s words«; 53: »disobedience to Hector’s orders«; Walde 2000, 268: »anfänglicher Ungehorsam«; 278: »unbotmäßige Verzögerung«; Mackie 1988, 48 f.: »In this state of mind he leaves the house of Anchises in which his father, wife and son sleep unprotected. In so doing he neglects to follow Hector’s injunction that he should flee Troy taking with him the sacra and the Penates. Hector’s words to him have no effect; the hero still does not fulfill his duty of leaving Troy to found a new city.« Von Ungehorsam spricht auch Steiner 1952, 33 f., sieht diesen aber einerseits als notwendig an (weil Aeneas Troia nicht kampflos aufgeben darf) und findet ihn andererseits nachvollziehbar motiviert: »Und doch, wie gut verstehen wir das Verhalten des Aeneas!« 663 Vgl. Horsfall 2008, 249: »Aen. is reproved for this conduct neither by gods, nor by men in Aen., but by modern critics.«; Kühn 1971, 43: »Keiner der Götter wird je Aeneas vorwerfen, daß er hier Hektor nicht gehorcht habe.« 664 Casali 2017, 205: »Enea ha dimenticato le esortazioni dell’ombra di Ettore«; Horsfall 2008, 249: »woken violently, he naturally does not recall he is now charged with a sacred mission and in temporary ignorance of the facts rushes back into battle«, – inwiefern »back«?

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Aeneas keine Reflexionen über den Traum mitteilt, heißt das nämlich nicht, dass er den Traum beim Aufwachen vergessen hat. Im Gegenteil ist anzunehmen, dass er als rückblickender Erzähler ein solches – natürlich vorübergehendes – Vergessen erwähnen würde.665 Das Vergessen wäre erwähnenswert, das Nicht-Vergessen ist es hingegen nicht. Aeneas erzählt seinen Traum am entsprechenden Ort in der chronologischen Reihenfolge der Ereignisse und es gibt im Text keinen Anhaltspunkt, der nahelegte, dass er den Traum nach dem Aufwachen vergessen hätte. Wer Aeneas des Ungehorsams zeiht oder ihm ein temporäres oder scheinbares666 Vergessen seines Auftrages attestiert, lässt sich zu sehr vom Ende der Geschichte leiten und berücksichtigt zu wenig die Perspektive des erlebenden Aeneas. Rückblickend oder auch in Kenntnis der Sage lässt sich leicht erkennen, dass die Rede des toten Hector Aeneas’ Schicksal zukunftsgewiss voraussagt. Rückblickend lässt sich ebenfalls leicht erkennen, dass Aeneas’ letzter Kampf um Troia bei hohen Verlusten keinen nennenswerten strategischen Nutzen bringt. Aber man darf darüber nicht vernachlässigen, dass der erlebende Aeneas seine Zukunft nicht kennt und zum Zeitpunkt der Traumerscheinung noch nichts von seiner Bestimmung weiß. Anders als die gelehrten Deuter der Aeneis kennt er seine Figur nicht aus der Literatur, er kennt z. B. weder Il. 20,307 noch das Prooemium der Aeneis. Aeneas kann noch nicht ahnen, dass es sein Schicksal sein wird, Troias Penaten an einem anderen Ort anzusiedeln. Die Worte Hectors im Traum sind das erste, was er davon hört. Und dass er ihnen nicht gleich Folge leistet, ist mehr als plausibel. Denn es fragt sich doch, woher der geträumte Horsfall 2008 formuliert durchgehend so, als habe Aeneas vor dem Schlafengehen bereits gekämpft, was aber nicht der Fall ist. Adler 2003, 269: »Perhaps the most amazing thing about Aeneas’ dream of Hector is that although he remembers it so vividly now, seven years later, when he is narrating it to Dido and her court, he did not remember it at all, when he awakened from it, or at any time during the events of that critical night.« Auch Allain 1946 geht davon aus, dass Aeneas den Traum von Hector vergessen habe, aber nicht nur diesen, sondern darüber hinaus die Götter: »il oublie l’apparition d’Hector, il oublie les dieux eux-mêmes« (196), und interpretiert dies als eine Wirkung des furor und als Symptom einer Verwirrtheit (égarement) und Verblendung (aveuglement), die Aeneas in jener Nacht befallen habe. Allain interpretiert dies so, dass Aeneas sich in seinem Kampf für Troia unwissentlich gegen die Götter erhebe. 665 Kühn 1971, 43: »Daß es freilich so scheint, als habe Aeneas den Traum einfach vergessen, ist nicht leicht zu verstehen. Wäre es indes ein echtes Vergessen, so müßte nachher von Wiedererinnerung die Rede sein, müßte es auch Aeneas rückschauend so empfinden. Vielleicht ist dieses ›Vergessen‹ nur das Zeichen des mangelnden Begreifens.« Tatsächlich geht es um ›mangelndes Begreifen‹, während von ›Vergessen‹ gar nicht die Rede ist. 666 Walde 2000, 268: »Darüber scheint er den Inhalt des Traumes, der sich schon partiell in den von ihm mit Schrecken wahrgenommenen Kriegshandlungen erfüllt, erst einmal zu vergessen, und greift – automatischer Reflex eines altgedienten Kriegers – doch zu den Waffen«; Glei 1991, 137: »Als er erwacht, scheint er die Traumerscheinung plötzlich vergessen zu haben, denn er greift, ohne zu überlegen, zu den Waffen: arma amens capio (2,314).«

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Hector eine solch absolute Autorität haben sollte, dass sich aus seinen Worten eine unbedingte Pflicht zur sofortigen Flucht ableiten ließe. Hierzu müsste er für den erzählten Aeneas als Verkünder des Götterwillens erkennbar sein. Das ist er aber offensichtlich nicht.667 Der erzählte Aeneas versteht im Traum ja nicht einmal, dass Hector als Toter zu ihm spricht, wie seine verständnislose Frage in ­2,285b–286 (s. o.) erkennen lässt. Aeneas hat keine Gewissheit. Ein Traum ist ohnehin schon ein in höchstem Maße subjektives Erlebnis. Die Verständnislosigkeit, mit welcher der erzählte Aeneas der Traumerscheinung begegnet, und der Umstand, dass der erzählende Aeneas ihre Glaubwürdigkeit nicht kommentiert, verleihen der Wahrnehmung des Traums zusätzliche Unschärfe. Aber grundsätzlicher noch als die Frage, ob dem Traumgesicht Autorität zugestanden und Glauben geschenkt werden kann, muss die eigentliche Entscheidung, die Aeneas zu treffen hat, in die Betrachtung der Sachlage einbezogen werden. Schließlich gilt es, Hectors Auftrag gegen ein hohes Gut aufzuwiegen: Für Aeneas geht es um nichts Geringeres als seine Vaterstadt, die er in den zurückliegenden zehn Jahren gegen einen äußeren Feind verteidigt hat. Ist es sinnvoll, ihn dafür zu tadeln, dass er nicht so ohne weiteres dazu bereit ist, sie in der Stunde höchster Gefahr aufzugeben? Es ist schwierig, die ethischen Prinzipien eines in augusteischer Zeit nach römischen Vorstellungen konzipierten troianischen Helden griechischer Prägung eindeutig zu bestimmen. Aber der Verteidigungsfall kann wohl als so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner gelten. Ganz gleich, ob wir den Aeneas der Aeneis nach troianischen, griechischen, römischen oder  – um die eigene Zeitverhaftetheit explizit zu machen: bundesrepublikanischen – Maßstäben messen: Wird das eigene Gemeinwesen von außen angegriffen, scheint Gegenwehr gerechtfertigt, wenn nicht sogar geboten.668 Hectors Aufforderung zur Flucht steht dazu in Widerspruch. Flucht ist für den Krieger Aeneas eigentlich keine Option. Erst als er selbst davon überzeugt ist, dass er in Troia nichts mehr ausrichten kann, entscheidet er sich, mit seiner Familie und den Penaten zu fliehen. Zwei Faktoren tragen wesentlich zu

667 Büchner 1955, 329: »Deutlich genug, um diese Rede der Traumerscheinung als Wink der Götter zu verstehen, und doch nicht deutlich genug, um ein Handeln gegen diesen Rat als Ungehorsam gegen sie erscheinen zu lassen«; Kraggerud 1968, 20, führt aus, dass Hector keine göttliche Autorität besitzt: »…möchte ich betonen, daß eine Göttlichkeit des Hector mit keinem Wort angedeutet ist. Auch wird seine Aufforderung zur Flucht nicht auf den göttlichen Willen zurückgeführt, sondern ist als ein Vermächtnis der sterbenden Stadt und seines grössten Helden an Aeneas dargestellt: sacra suosque tibi commendat Troia penatis (II 293). Die Vorstellung vom ›vergöttlichten Hector‹ würde sich nicht in den Zusammenhang einfügen. Es ist der ermordete Hector, der im Traum des Aeneas erscheint. Er ist ein Symbol für die Stadt, die im Begriffe steht, vernichtet zu werden.« Kühn 1971, 42: »Der Befehl wird von einer Traumerscheinung erteilt, sein Ziel greift weit in die Zukunft, und schließlich ist es ein Verstorbener, der spricht.« 668 Vgl. Glei 1991, 137; 142.

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seiner Entscheidung bei. Erstens: Er sieht mit eigenen Augen, dass der König tot ist (2,561–562a).669 Zweitens: Seine göttliche Mutter erklärt ihm das Wirken der Götter in der Stadt und daraus geht hervor, dass es mit Troia endgültig aus und vorbei ist. Im Gegensatz zum geträumten Hector ist Venus für Aeneas als eine Instanz erkennbar, die den Götterwillen autorisiert vertritt, und die konkrete Anschaulichkeit der Götterschau (2,594–620, hierzu siehe 9.2.8) steht in deutlichem Kontrast zur Unbestimmtheit der Weisung Hectors. Was die narrative Funktion der Traumerscheinung betrifft, so ist offensichtlich, dass sie nicht dazu dient, die äußere Handlung voranzubringen, denn Aeneas tut nicht, was Hector ihm sagt. Auch als innere Handlung steht der Traum isoliert, da keine Reflexionen des erlebenden Ichs mitgeteilt werden. Für die Wirkung der Traumerscheinung ist wesentlich, dass in ihr folgende drei unterschiedliche epistemische Standpunkte zum Tragen kommen:670 Während für den erlebenden Aeneas nicht ersichtlich ist, welchen Stellenwert er Hectors Worten beimessen soll, kann der erzählende Aeneas sie im Nachhinein als ersten Hinweis auf sein zukünftiges Schicksal erscheinen lassen. Eine noch höhere Warte als der erzählende Aeneas nehmen die Rezipienten der Aeneis ein, denen die einschlägigen Sagenversionen bekannt sind und die daher wissen, dass es Aeneas’ Bestimmung ist, Troia zu verlassen. Entsprechend lässt sich aus der Traumerscheinung zwar für den erlebenden Aeneas keine Pflicht zur Flucht ableiten. Rückblickend betrachtet kann sie aber als erster Hinweis die Flucht von Anfang an legitimieren. Im zeitlichen Ablauf der Erzählung beeinflusst die Schilderung des Traums so die Wahrnehmung und Bewertung von Aeneas’ Handeln.671 Sie dient dem ›Framing‹ des Helden. Denn im Lichte von Hectors Rede stehen Aeneas’ Bemühungen, Troia zu verteidigen, für die Rezipienten

669 Er sieht ihn sterbend (vitam exhalantem). Zur Erzählhaltung in der Schilderung von Priamus’ Tod siehe 1. 670 Zählt man den verständnislosen, träumenden Aeneas, dem nicht bewusst ist, dass Hector bereits tot ist, hinzu, sind es sogar vier verschiedene Standpunkte. 671 In diese Richtung bereits Heinze 31915, 26: »Wichtiger vielleicht noch … ist es, daß durch die Szene die Haltung des Aeneas gegenüber jenen Ereignissen gleich von vorneherein ins rechte Licht gesetzt wird. Noch ehe der Held in die Lage kommt zu handeln, soll er bereits, und mehr noch der Leser, die Vorstellung gewinnen, daß Ilions Schicksal entschieden ist, daß also auch Aeneas trotz Tatkraft und Mut dies Schicksal nicht mehr abwenden kann.«; vgl. auch: Steiner 1952, 35: »Ein viermaliges Eingreifen überirdischer Mächte also ist nötig, damit Aeneas endlich seine dem Untergang geweihte Vaterstadt verläßt. Das erste Glied in dieser Kette bildet Hektors Traumepiphanie. Und wenn auch Aeneas Hektors Befehl aus begreiflichen Gründen nicht unverzüglich befolgt, wirkt doch die Traumepiphanie in ihm nach und beeinflußt seine Haltung in der Schicksalsnacht: seine heilige Pflicht gegenüber den Penaten von Troia wird er erfüllen. Der Traum nimmt alles Wesentliche was in der Nacht geschehen wird, vorweg, und als pathetisches Stimmungsbild bereitet er nicht nur den Helden, sondern auch den Hörer (oder Leser) auf die kommenden Ereignisse vor.«; Hardie 1986, 290.

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unter dem Vorzeichen, dass er eigentlich eine Lizenz zum Fliehen hat.672 Aber Aeneas wählt nicht den sich ihm darbietenden einfacheren Weg, sogleich seine Familie und sich selbst in Sicherheit zu bringen, sondern begibt sich in Gefahr, um für seine Stadt zu kämpfen.

9.2.4 Lagebericht des Panthus [9] 2,322 [10] 2,324–335

Aeneas2/9 zu Panthus Panthus zu Aeneas

1 12

Aeneas’ Vaterhaus am Stadtrand von Troia. Kurz nachdem Aeneas erkannt hat, dass in der Stadt gekämpft wird und die Troianer überlistet worden sind, trifft Panthus, Sohn des Orthys und Apollopriester der Burg von Troia, bei ihm ein. Er kommt vom Stadtinnern her und trägt die Penaten von Troia bei sich. Aeneas fragt ihn, wo das entscheidende Kampfgeschehen stattfinde und wohin man sich zur Verteidigung aufmachen solle [9]. Panthus’ Antwort beginnt mit der resignierenden Feststellung, dass Troias letzter Tag gekommen sei und die Macht an die Griechen übergehe, die in der Stadt die Oberhand hätten. Sodann beschreibt Panthus die strategische Lage, wie er sie wahrgenommen hat [10]. Aeneas fühlt sich angestachelt, in den Kampf zu ziehen.

In dieser dialogischen Szene erfährt der erzählte Aeneas eine realistische Aufklärung über die strategische Situation in Troia zu der Zeit, da die Griechen begonnen haben, die Stadt von innen (aus dem Pferd heraus) und von außen (vom Meer her) einzunehmen. Nach der für ihn schwer einzuschätzenden Traumerscheinung begegnet ihm in Panthus, der als Augenzeuge von den Vorgängen im Innern der Stadt berichtet, eine eindeutig zuverlässige Instanz. Er ist der »Priester der Burg und des Apollo« (arcis Phoebique sacerdos 2,319), also die wohl höchste priesterliche Instanz in Troia, und er bringt die Penaten der Stadt zu Aeneas.673 Die Situation, in der das Gespräch stattfindet, stellt sich folgendermaßen dar: Aeneas ist von Lärm erwacht und aufs Dach gestiegen. Er hat von dort aus aufmerksam in die Nacht gelauscht, Feuerschein gesehen und verstanden, dass die Griechen nach Troia eingedrungen sind (2,298–313).674 Er ist zum letzten Kampf entschlossen (2,314–317). Panthus hingegen kommt geradewegs aus dem Kampfgeschehen (telis Panthus elapsus Achivum 2,318b), das Aeneas bisher nur

672 Vgl. Gransden  1985, 67: »These crucial words represent Aeneas’ sanction to escape.«; Highet 1972, 102: »The chief emphasis of Hector’s speech is on the commands, »fuge… cape… quaere«, which justify Aeneas’s escape from Troy and implicitly rebut the charge that he was a deserter and a traitor.« 673 Zu Panthus als Apollo-Priester und zur Übergabe der Penaten von Troia: Heinze 31915, 33–35. 674 Zu Aeneas’ Verstehensprozess, der im Gleichnis vom Berghirten ausgedrückt wird, siehe 10.4.2.

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von weitem wahrnimmt. Mit den Penaten in der Hand läuft er zusammen mit seinem kleinen Enkel (sacra manu victosque deos parvumque nepotem | ipse trahit 2,320–321a) auf das Haus (des Anchises) zu (cursuque amens ad limina tendit 2,321b). 675 Aeneas stellt ihm zwei knappe Fragen und erhält darauf eine ausführliche Antwort.676 Vor allem für die erste von Aeneas’ Fragen quo res summa loco, Panthu? gibt es divergente Interpretationen.677 Für jeden der beiden Ausdrücke quo loco? und res summa sind unterschiedliche Bedeutungsmöglichkeiten in der Diskussion. Bei quo loco? wird die wörtliche Bedeutung ›wo?‹ von vielen abgelehnt zugunsten einer übertragenen Bedeutung, nämlich der Frage nach dem Zustand (›wie steht es um?‹).678 Der Ausdruck res summa hinwiederum wird entweder in strategischem Sinne aufgefasst, als ›Hauptangriff‹ oder ›entscheidendes Kampfgeschehen‹ oder im politischen Sinn als ›Staat‹. Letzteres vertritt bereits der Serviuskommentar, der res summa als res publica versteht,679 was von der ciceronianischen Junktur summa res publica beeinflusst sein mag. Die Annahme, Aeneas erkundige sich bei Panthus nach der ›Lage der Nation‹, kann freilich nicht überzeugen.680 Allerdings versteht der Serviuskommentar Aeneas’ Äußerung als rhetorische Frage: admirantis est, non interrogantis; so gesehen würde es sich nicht um eine echte Frage, sondern um einen verzweifelten Ausruf in Form einer rhetorischen Frage handeln. Dazu aber passt Panthus’ Gegenrede schlecht, die Aeneas’ Fragen konkret und durchaus in strategischem Sinne beantwortet. Zudem legen sowohl die Kommunikationssituation als auch die Stimmung des Aeneas (vgl. 2,314–317) nahe, dass er echte Fragen praktischer Natur stellt. Deshalb ist einer militärisch-strategischen Deutung von res summa in Verbindung mit der Frage nach dem konkreten Ort der Vorzug zu geben: quo res summa loco, Panthu? heißt »Wo wird hauptsächlich gekämpft, Panthus?«681 Diese Deutung wird durch einen Enniusvers gestützt, dessen erste Hälfte in unserer Stelle variiert ist: quo res sapsa loco sese ostentatque iubetque (Enn. 422 Sk), laut Skutsch »Apparently part of an exhortation to fight where  a favourable opportunity

675 Zur Beschreibung von Panthus als amens siehe 4.3. 676 Highet 1972, 310 führt die wörtliche Rede des Panthus in der Gruppe »N«: »Narratives, Explanations, Descriptions«, behandelt sie aber nicht inhaltlich. 677 Hierzu siehe Austin 1964, 145 f. 678 Austin 1964, 145: »Quo loco must mean ›in what condition‹«; TLL vol. VII, 2 fasc. X, Sp. 1584 (Kuhlmann, 1987): incorporaliter … respicitur status, condicio; Holzberg 2015, 111: »Panthus, wie steht es um uns?« 679 ›res summa‹ res publica. Der Servius Danielis elaboriert: id est universus status quo loco est positus? et bene civis utilis de re publica primum sollicitus (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 273). 680 Austin 1964, 145: »But for Aeneas to ask ›how stands the state‹ at this moment would be fatuous (and why would Panthus have special knowledge?).« 681 So auch Casali 2017, 207 unter Verweis auf Enn. 422 Sk.

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offers«;682 d. h. hier ist ebenfalls ein mit res bezeichnetes Kampfgeschehen mit einem lokal gemeinten quo loco kombiniert.683 Wie die erste Frage bezieht auch Aeneas’ zweite Frage sich direkt auf die strategische Situation: quam prendimus arcem? heißt soviel wie »Welchen Bereich innerhalb der arx halten wir?« / »Von wo aus verteidigen wir?«684 Panthus beginnt in seiner Antwort mit dem Ende: Die Verse 2,324–327a beschreiben das Ergebnis des Krieges um Troia. Die sachlichen und emotionslosen Formulierungen bilden einen starken Kontrast zu den mitgeteilten Inhalten. In den Sätzen fuimus Troes, fuit Ilium (2,325) steckt die wesentliche Aussage im Tempus der Prädikate. Es fällt auf, dass insgesamt vier verschiedene Benennungsweisen Troias und seiner Bewohner vorkommen (Dardania, Ilium, Troes, Teucri). Dies wirkt beschwörend, ähnlich wie wenn im römischen Gebet die Gottheit mit allen ihren Namen angerufen wird. Die Verba im Perfekt verleihen den Aussagen Unausweichlichkeit und scheinen das Ergebnis, das genau genommen noch in der Zukunft liegt (mag sie auch nah sein), resignierend vorwegzunehmen. Als wirkender Gott ist Jupiter genannt, der grausam »alles« nach Argos verlagert habe (ferus omnia Iuppiter Argos | transtulit 2,326b–327a). Diese Verlagerung findet auch im Text statt: Vor der Nennung Jupiters stehen die vier geographischen Namen für Troia und die Troianer, danach stehen nur noch geographische Namen, die Griechisches bezeichnen: Argos (2,326), Danai (2,327), Mycenae (2,331). Mit 2,327b wechselt die Rede ins Präsens und wird konkret: Die Griechen haben die Oberhand in der brennenden Stadt (incensa Danai dominantur in urbe). Sodann erfolgt zunächst ein Schwenk in die nahe Vergangenheit, wenn Panthus knapp und weiter sehr ergebnisorientiert die Funktionsweise des hölzernen Pferdes und die Rolle des Sinon (2,327b–330a)  erklärt. Schließlich widmet er sich der gegenwärtigen Situation und schildert, dass die Griechen an den geöffneten Stadttoren und zu beiden Seiten der Straßen bewaffnet stehen und dass die Torwachen mühsam versuchen, Widerstand zu leisten. Man darf sich von Panthus’ proleptisch konstatierenden Äußerungen über Troias Ende in 2,324–327a (vēnit summa dies…) nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass Aeneas’ Fragen praktischer Natur sind. Er erkundigt sich nicht allgemein, wie es steht, sondern fragt, wo er gebraucht wird und wohin er sich aufmachen soll. Aeneas zeigt sich als ein Mann der Tat, der entschlossen ist, für seine Vaterstadt zu kämpfen, und auch Panthus’ düsterer Lagebericht vermag

682 Skutsch 1985, 584 f. 683 Die Verbindung von res summa in militärischem Sinn (»Kampfentscheidung«) und einer Ortsangabe (eodem, ibi) findet sich ebenfalls in Liv. 23,49,8: Eodem et duo duces et duo exercitus Carthaginiensium, ibi rem summam agi cernentes, convenerunt. 684 So auch Casali 2017, 207. Vgl. die Übersetzung von Holzberg 2015, 111: »Panthus, wie steht es um uns? Welchen Ort haben wir für die Abwehr?«

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daran nichts zu ändern.685 Aeneas’ Haltung bleibt dieselbe, obwohl er nun aus einer zuverlässigen Quelle (nämlich von einem Augenzeugen und nicht nur aus einem Traum) weiß, wie es wirklich um Troia steht. Er ist nach wie vor bereit, für seine Stadt zu kämpfen und, wenn es sein muss, dabei zu sterben. Panthus schließt sich ihm an. Letzteres wird zwar nicht eigens erwähnt, aber er ist dabei und gehört zu der Gruppe, die in der letzten Nacht von Troia mit Aeneas kämpft, denn sein Tod wird in 2,429b–430 geschildert. Der Umstand, dass auch der Apollopriester Panthus sich der aussichtslosen Verteidigungsmission anschließt, muss als Indiz dafür gewertet werden, dass Aeneas’ Handeln nicht als fragwürdig dargestellt werden soll. Panthus’ Voraussage, dass Troia fallen wird, erweist sich innerhalb der von Aeneas erzählten Geschichte als zutreffend. Für die Beurteilung von Aeneas’ Handeln ist bedeutsam, dass Panthus die Penaten von der Burg herbeibringt; Aeneas erwähnt es in seiner Erzählung ausdrücklich: Panthus … sacerdos | sacra manu victos… deos … | ipse trahit 2,319–321. So ist er unversehens in die Lage versetzt, Hectors Weisung direkt befolgen zu können, ohne dass er die Penaten erst noch aus der Stadt holen müsste. Wenn er sich erst in den Besitz der Penaten bringen müsste, um mit ihnen fliehen zu können und sie zu retten, stünde sein letzter Gang nach Troia im Zeichen seiner Flucht: Dass ein solcher Eindruck in der Aeneis nicht entstehen soll, beweist nicht zuletzt die Existenz dieser Szene mit der Übergabe der Penaten durch Panthus.686 Aeneas’ Entscheidung, sich nach Troia hineinzubegeben statt zu fliehen, wird zu einer freien Entscheidung: Er kann sich als Verteidiger seiner Stadt erweisen, der seine eigenen Interessen und die seiner Familie dem Gemeinwesen unterordnet. Dass die Rettung der Penaten das übergeordnete Ziel ist, wird er erst erkennen, wenn er sieht, dass der König tot ist, und wenn er weiß, dass Troia untergeht.

685 Cf. de la Cerda in Aen. ad 2,336–338 (Ed. Köln 1628, vol. 1, 201): Dicta haec ad Aeneae commendationem, cui nullam adducunt formidinem, quae proposita ab sacerdote longo et formidando verborum ambitu. 686 Heinze 31915, 34 führt an, dass religiöse Bedenken dagegen gesprochen hätten, Aeneas die Penaten nach dem Kampf selbst von der arx mitbringen zu lassen, weil es als Frevel gelte, diese mit vom Kampf befleckten Händen anzufassen (wie es in 2,718–720a deutlich wird, als Aeneas beim endgültigen Verlassen des Hauses Anchises auffordert, die Penaten zu halten; hierzu siehe Heinze 31915, 34 f.; Austin 1964, 144.). Aber auch wenn man religiöse Bedenken als (innere) Begründung für die Panthus-Szene annimmt, ergeben sich die angeführten handlungslogischen Implikationen. Die Erwägung, dass Aeneas die Penaten in den nächtlichen Kampf mitnehmen könnte (hierzu: Casali 2017, 25), erübrigt sich. Der Beitrag von Fratantuono 2007, 48: »Perhaps the household gods were magically transferred to his father’s house; perhaps Panthus is the one who hands them over here«, ist nicht diskussionswürdig.

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9.2.5 Anspornung zum letzten Kampf [11] 2,348b–354 Aeneas3/9 zu seinen Gefährten

6,5

Auf dem Weg ins Stadtinnere. Als Aeneas sich (zusammen mit Panthus) in Richtung der arx aufmacht, schließen Ripheus, Epytus, Hypanis, Dymas und Coroebus sich ihm an. In einer kurzen Ansprache weist Aeneas sie auf die Aussichtlosigkeit der Lage hin und ermuntert sich und sie zum letzten Kampf [11].

Aeneas spricht in dieser Szene als einzelner zu einer Gruppe, und zwar wendet er sich an mehrere Männer, die sich ihm kampfbereit anschließen (addunt se socios 2,339a). Fünf von ihnen werden in einem Katalog namentlich genannt. Aber woher sie kommen und wie genau sie zu ihm stoßen, wird nicht erwähnt.687 Der Gelegenheit nach kann man diese Rede als Ansprache des Feldherrn vor der Schlacht (cohortatio) betrachten.688 Aeneas’ Ermunterung zum Kampf hat aber eine besondere Ausrichtung, insofern sie nicht den Sieg zum Ziel erklärt, ja, diesen nicht einmal in Aussicht stellt, sondern stattdessen auf den Kampf für eine bereits verlorene Sache einschwört.689 Außerdem trägt sie Züge einer Warnung oder Gefahrenaufklärung, denn Aeneas macht den Männern ausdrücklich und unmissverständlich deutlich, worauf sie sich einlassen, wenn sie sich ihm anschließen. Dabei lässt er an der Aussichtslosigkeit einer Verteidigung keinen Zweifel: Wenn sie ihm, der das Äußerste wage, folgen wollten, so sollten sie sich vor Augen halten, dass die Götter Troia bereits verlassen hätten und man einer brennenden Stadt zu Hilfe eile (2,349b–353a). Indem er sie »vergebens tapfer« (fortissima frustra | pectora 2,348b–349a)  nennt, impliziert er bereits in der Anrede die Vergeblichkeit der Aktion. Auch bezeichnet er sich selbst und seine Gefährten als besiegt (victis 2,354). Es wird als gegeben vorausgesetzt, dass der Krieg um Troia entschieden ist. Worum es jetzt noch geht, ist die eigene Haltung angesichts des Untergangs. In diesem Sinne ermuntert Aeneas an dieser Stelle 687 Ihr plötzliches Erscheinen ähnelt dem der Auswanderungswilligen in 2,796–800. Laut dem Text von Mynors 1969, 137 sagt Aeneas, dass sie »danach brannten zu kämpfen« (quos … ardere in proelia vidi 2,347), und beschreibt also ihren Drang, sich gegen den Einfall der Griechen zur Wehr zu setzen, mit derselben Metapher wie zuvor den eigenen (ardent animi 2,316a). Die Hss überliefern allerdings in 2,347 audere, während ardere von Gronovius zu Sen. Herc. fur. 779 stammt. Conte 2009, 45 äußert sich wohlwollend zu ardere (non displicet), lässt aber audere im Text und verweist darauf, dass Vergil zu Wortwiederholungen neige (nämlich dann audentem in 2,349: Mynors 1969; Conte 2009). 688 Vgl. Highet 1972, 86 f., der feststellt, dass es sich um eine von nur zwei cohortationes des Aeneas in der Aeneis handelt, mit 1,198–207 als der zweiten. Highet zählt diese Rede des Aeneas zu den »Commander’s speeches« (82–89), die eine Subkategorie der »Formal speeches« (47–69) bilden; außerdem fällt sie in Highets Rubrik »E«: »Encouragements (Cohortationes)«. 689 Vgl. Heinze 31915, 32, Anm. 2.

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sich selbst und seine Gefährten dazu, kämpfend zu sterben (moriamur et in media arma ruamus 2,353b). Er schließt seine Ansprache mit einem zynischen Spruch, der besagt, dass für Besiegte, die nichts mehr zu hoffen haben, gerade diese Hoffnungslosigkeit von Vorteil sei (una salus victis nullam sperare salutem 2,354). Angesichts der Umstände ist dies so zu verstehen, dass man umso riskanter und härter kämpft, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Highet  1972  stellt fest, dass die Hoffnungslosigkeit dieser Rede beispiellos sei,690 und er führt wörtlich an, was Aeneas seiner Meinung nach hätte sagen können: He might have said, This is our city, we know every inch of it; we are fighting to save our homes and families; we can still repel or kill the invaders; if not, make them pay dearly; revenge is half a victory.691

Highet ist der Ansicht, Vergil habe Aeneas etwas von dieser Art nicht sagen lassen, um zu zeigen, dass Aeneas an diesem Punkt der Geschichte noch kein erfahrener Befehlshaber sei.692 Aber man darf nicht außer Acht lassen, wie die Sache endet: Die Gruppe um Aeneas kämpft im weiteren Verlauf des Geschehens gemeinsam in Troia, bis schließlich nur noch er selbst übrig bleibt. Dies ist dramaturgisch erforderlich, bedarf aber einer gewissen Rechtfertigung. Vor allem muss der Eindruck vermieden werden, dass Aeneas seine Leute zu einem sinnlosen Heldentod motiviert habe, dem er allein entkommt. Genau dieser Eindruck entstünde aber, wenn Aeneas sagte, was Highet als Text eines ›erfahrenen Befehlshabers‹ vorschlägt. Aeneas’ Ansprache dient nicht dazu, ihn als unerfahrenen Feldherrn darzustellen, sondern dazu, den Vorwurf, dass er den Tod seiner Leute überlebt, zu entschärfen. Nebenbei zeigt sie auch, dass er die strategische Lage richtig einschätzt. Im Sinne von Aeneas’ Erzählung entspricht die Aussichtslosigkeit, die aus seiner Rede spricht, der Perspektive seines erlebenden Ich. Die Situation ist in einer Weise geschildert, die deutlich machen soll, dass Aeneas die Männer nicht unverantwortlich ins Verderben reißt. Zunächst ist von Bedeutung, dass aus Aeneas’ Darstellung hervorgeht, dass die Männer sich ihm spontan und freiwillig anschließen. Sodann zeigt Aeneas’ Ansprache an die Gefährten, dass er die Gruppe in jener Nacht nicht blindlings in den Tod schickt, sondern den Männern, die ihm von sich aus folgen wollen, klar sagt, was sie erwartet. Auch stellt die Rede den Männern frei, ob sie sich am letzten Kampf um Troia beteiligen wollen oder nicht. So charakterisiert Aeneas’ an seine Kampfgefährten gerichtete Rede ihn als tapferen Krieger, der bereit ist, bis in den Tod für seine 690 Highet 1972, 197. 691 Highet 1972, 86. 692 Highet 1972, 86: »But apparently Vergil wishes to show that Aeneas was still immature at the intaking of Troy: his words lack the energy and élan of an experienced commander.«

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Stadt zu kämpfen, und als verantwortungsvollen Anführer, der den Männern, die sich ihm anschließen wollen, die Aussichtslosigkeit der Lage nicht vorenthält. Das direkt anschließende Gleichnis von den Wölfen im Nebel beschreibt die besondere Stimmung, in der man sich in jener Ausnahmesituation befand.693

9.2.6 Irrtum des Androgeos und List des Coroebus [12] 2,373–375 Androgeos zu Aeneas und seinen Leuten [13] 2,387–391a Coroebus zu Aeneas und den anderen

3 5,5

Innerhalb der Stadtmauern von Troia. Der Grieche Androgeos hält Aeneas und seinen Trupp irrtümlich für Griechen. Er mahnt die vermeintlichen Kampfgefährten zur Eile und richtet an sie die vorwurfsvolle Frage, warum sie so spät dran seien [12]. Androgeos erhält keine Antwort und erstarrt vor Schreck, als er seinen Irrtum bemerkt. Die Troianer töten ihn und seine Männer. Von solchem Kriegsglück inspiriert macht Coroebus den Vorschlag, die Schilde und Waffen der getöteten Griechen zur Täuschung anzulegen [13].

Das in dieser Szene entwickelte Motiv ist eine Besonderheit der vergilischen Iliupersis: die von Coroebus vorgeschlagene Tarnung mit den Ausrüstungen gefallener Griechen (2,386–395), die es der troianischen Schar um Aeneas für einige Zeit ermöglicht, Griechen zu überraschen und zu töten oder in die Flucht zu schlagen (2,396–401), die sich aber letztlich gegen sie selbst kehrt, als die troianischen Verteidiger sie vom Dach des Minervatempels aus angreifen, weil sie sie für Griechen halten (2,410–412). Dieses Motiv der Tarnung mit fremden Waffen ist für die erzählte Geschichte von entscheidender Bedeutung, insofern es nicht nur die Voraussetzung für troianische Waffentaten überhaupt bildet, sondern auch eine Erklärung für das Überleben des Aeneas bietet.694 Den beiden in direkter Rede wiedergegebenen Äußerungen dieser Szene, die weit davon entfernt sind, Rede und Gegenrede zu bilden, ist gemeinsam, dass sie für den jeweiligen Sprecher fatale Folgen haben. Bei Androgeos treten diese Folgen unmittelbar ein, bei Coroebus erst nach einiger Verzögerung. Das geschilderte Geschehen erwächst aus einem Irrtum, und zwar irrt Androgeos sich in der Identität des angeredeten Gegenüber: Er glaubt zu jemandem anderen zu sprechen, als es tatsächlich der Fall ist. Die angeredeten Troianer erkennen den Irrtum sogleich am Inhalt seiner Rede. Androgeos selbst erkennt seinen 693 Zu diesem Gleichnis siehe 10.4.3. 694 Dies wurde bislang nicht so gesehen (die Interpretationen konzentrieren sich vor allem auf den Rüstungsraub oder die Figur des Coroebus), vgl. z. B. Monda 2011, 201: »In this passage of the second book the episode of the massacre of the Trojans through mistaken identity is entirely unnecessary in terms of narrative structure, since after this the slaughter described in detail is that by the Greeks.«

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Irrtum kurz später daran, dass er keine Antwort erhält. Er erstarrt verwirrt und die Troianer können den Moment seiner Verwirrung nutzen und ihn und seine Männer töten.695 So schafft Androgeos’ Irrtum in theoretischer wie in praktischer Hinsicht die Voraussetzungen für Coroebus’ Vorschlag. Denn am Überraschungserfolg von Aeneas’ kleiner Truppe zeigt sich, dass es vorteilhaft für die Troianer ist, von den in Troia umherstreifenden Griechen für Landsleute gehalten zu werden. Die Rüstungen der getöteten Griechen hinwiederum bieten die praktischen Mittel, den strategisch wünschenswerten Irrtum der Gegner über die eigene Identität durch Täuschung herbeizuführen. Coroebus selbst bezeichnet das von ihm vorgeschlagene Vorgehen, die Waffen und Helme der Toten anzulegen, zwar als List (dolus),696 erklärt aber zugleich die Frage, ob mit List oder Tapferkeit gegen den Feind vorgegangen wird, für nicht relevant: dolus an virtus, quis in hoste requirat? 2,390.697 Die Wirkung des Rüstungsraubs bleibt allerdings begrenzt: Die Troianer können sich ihr täuschendes Äußeres zwar einige Zeit lang gegen ihnen begegnende Griechen zunutze machen, zumal sie ortskundiger sind als diese, werden aber schließlich auch von den eigenen Leuten, die auf dem Dach des Minervatempels postiert sind, für Griechen gehalten und angegriffen. Im letzten Kampf der Troianer für ihre Stadt ist die Tarnung mit den Ausrüstungen gefallener Griechen ein letzter verzweifelter Versuch und ein weiterer Ausdruck für die Aussichtslosigkeit ihrer Lage. Denn die Übermacht der Griechen steht außer Frage und es ist allein die Tarnung als Griechen, die überhaupt einige Gegenwehr ermöglicht. Die wesentliche Funktion dieses dramaturgischen Kunstgriffes des Rüstungsraubs besteht aber darin, dass durch ihn die Gefechtssituation verunklart wird. In einem Gefecht mit klaren Linien, das die Griechen – so will es der Mythos – schließlich gewinnen, müsste Aeneas früher oder später als Held, der seine Stadt verteidigt, sterben. Aber die zu erzählende Geschichte verlangt, dass Aeneas am Leben bleibt. Will man also Aeneas im Kampf zeigen und ihn nicht einfach nur feige davonkommen lassen, so tut man gut daran, die Darstellung eines Gefechtes mit Troianern auf der einen und Griechen auf der anderen Seite zu vermeiden. Eben hierzu dient in der vergilischen Iliupersis das Motiv des Rüstungsraubs. Einerseits ermöglicht es überhaupt erst Kampfszenen und andererseits führt es zu einem strategischen Durcheinander, 695 Kraggerud 1968, 56–59 sieht strukturelle Parallelen zwischen Androgeos’ Schicksal und demjenigen des gleichnamigen Minossohnes (6,20), das am Eingang des Apollotempels von Cumae (6,14–33a) dargestellt ist. 696 Zum Wortfeld dolus / insidiae in der Aeneis siehe 9.2.2. 697 Laut dem Serviuskommentar (ad 2,341) wird Coroebus durch diesen Satz als töricht charakterisiert: hunc autem Coroebum stultum inducit Euphorion, quem et Vergilius sequitur, dans ei dolus an virtus quis in hoste requirat? cum sit turpis dolo quaesita victoria (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 276). Zur Figur des Coroebus und zur Tradition eines ›törichten Coroebus‹ siehe Casali 2017, 212–214.

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in dem einzelne Kämpfer übrig bleiben können, ohne dass ihnen der Vorwurf gemacht werden kann, sie hätten ihren Posten verlassen. Der Rüstungsraub als solcher wird von den Interpreten sehr unterschiedlich bewertet, und er gibt Anlass zu Diskussionen über die ethische Beurteilung von List im Krieg im allgemeinen und der Verwendung von Waffen besiegter Gegner, die bei Griechen und Römern unterschiedlich war, im besonderen.698 Darüber gerät in den Hintergrund, dass Vergil dieses Strategem ganz einfach brauchte, um im Rahmen der mythengeschichtlichen Voraussetzungen einen Kampf schildern zu können, der zwischen Griechen und Troianern in der letzten Nacht stattfindet und einigermaßen plausibel ist. Stahl 1981 macht als Antwort auf die Frage »Why does Virgil insert this episode which does not lead to any lasting strategic result whithin the context of the book?« den Vorschlag, dass es sich um eine Taktik Vergils handelt, die Existenz von Sagenversionen, denen zufolge Aeneas zum Feind übergelaufen sei, zu erklären.699 Dies könnte ein 698 Vgl. z. B. Heinze  31915, 37 mit Anm. 1; Liebing  1953, 38, Anm. 2; Büchner  1955, 330; Kraggerud 1968, 58; Abbot 2000. Eine neutral bis positive Beurteilung erfährt Coroebus’ List durch Heinze31915, 37: »(an sich untadelhafte) Kriegslist«. Besonders negativ bewertet wird der Rüstungsraub durch Kraggerud 1968, 58 f. An ihm zeige sich, »dass die Troianer nicht ohne Schuld zugrunde gehen und die Stadt nicht durch Götterwillkür zerstört wird.« Bei Abott 2000 wird die Diskussion sehr grundsätzlich: »Because it erodes trust, dolus is antisocial; it devides one from another. The well-intentioned doctor who uses a trick to get a child to take medicine will have to resort to other means for the second dosage. And a society that justifies deceit on the grounds that the intended victim is an ›enemy‹ and therefore beyond moral bounds may tend to consign an increasingly larger number of people to that category«,79. Überlegungen über die gesellschaftlichen Auswirkungen von Täuschung im allgemeinen und ihre Bewertung durch die Römer im besonderen kann man natürlich anstellen. Aber was leisten sie für die vorliegende Szene? Abbot sieht wohl die römische Vorstellung, dass dolus bonus gerade die Ausnahme ist, die das Prinzip, gegen das sie verstößt, anerkennt (62–65), aber er meint, dass Vergil sie durch die vorliegende Szene (und zwei weitere in der Aeneis, zu denen kurioserweise auch die Verführung des Vulcanus durch Venus in 8,370–406 gehört) in Frage stelle: »Vergil uses these interconnected scenes to call into question the very notion of a dolus bonus. Vergil’s position, stated baldly, is that in using deceit to evade or harm the enemy, we risk harming ourselves. In words more sensitive to his poetic strategies and techniques, Vergil links dolus to one of the poem’s central concerns: civil war«, 65. Ich denke nicht, dass der Text das hergibt. Im Kontext von Aeneas’ Erzählung jedenfalls erscheint die verhältnismäßig kleine Kriegslist der verzweifelten Troianer angesichts der aufwendig inszenierten List der Griechen situationsbedingt gerechtfertigt. Vor allem aber übersieht Abbot wie andere vor und nach ihm das Entscheidende, nämlich die Funktion der List als notwendiges Motiv innerhalb des Erzählzusammenhangs. Grundsätzlich stellt sich die Frage, was im Krieg ›Strategie‹ ist und was ›List‹, und ob es überhaupt einen Unterschied gibt. Sollte das vielleicht sogar mit der rhetorischen Frage des Coroebus gemeint sein? 699 Stahl  1981, 167 f. Ähnlich, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die rhetorische Strategie nicht auf der Darstellungsebene angesiedelt wird, sondern als Selbstdarstellung des Aeneas verstanden wird: Ahl 1989, 26 f. (wiederholt in Ahl 2018, 56. 61 f.): »Aeneas’ problem (…) is to account for his actions when Troy fell: for the charge of

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willkommener sekundärer Effekt sein. Der Hauptgrund für die Einführung des Rüstungsraubs aber liegt in seiner dramaturgischen Notwendigkeit: Der Rüstungsraub ist eine Voraussetzung dafür, dass der Trupp um Aeneas überhaupt irgendetwas ausrichten und dass Aeneas die Aktion überleben kann, obwohl er sich mitten im Kampfgeschehen befindet. Eine weitere Überlagerung von militärethischen und dramaturgischen Faktoren ergibt sich aus der Frage, ob Aeneas selbst griechische Waffen anlegt. Wie schon Heinze  31915 beobachtet, legen die Formulierungen nahe, dass er dies nicht tut. Während nämlich die Prädikate vorher (sternimus 2,385) und nachher (vadimus 2,396) in der ersten Person (Pluralis) stehen und den Sprecher als an der Verbalhandlung Beteiligten einschließen, ist das Anlegen der Waffen in der 3. Person geschildert.700 Dabei heißt es zunächst von Coroebus, dass er Helm, Schild und Schwert des Androgeos anlegt, und sodann, dass Rhipeus, Dymas und die jungen Männer alle (omnis iuventus) es ihm nachtun und ein jeder die gerade erworbenen Spolien anlegt: Androgei galeam clipeique insigne decorum induitur laterique Argivum accommodat ensem. hoc Rhipeus, hoc ipse Dymas omnisque iuventus laeta facit: spoliis se quisque recentibus armat.

2,392 2,393 2,394 2,395

Der Umstand, dass Coroebus sich der Waffen des Androgeos als des Anführers bemächtigt,701 ist ein weiteres Indiz dafür, dass Aeneas nicht zu griechischen Waffen greift. Wenn aber Aeneas sich anders als seine Kameraden nicht als Grieche tarnt, so bedeutet dies nicht nur, dass er persönlich sich nicht an der Kriegslist beteiligt, sondern es ist dies auch eine mögliche Erklärung dafür, dass er später die unübersichtliche Kampfsituation als einer von wenigen Troianern überlebt, weil er für die auf dem Tempeldach postierten Troianer als Landsmann erkennbar ist. Abschließend sei noch bemerkt, dass die Troianer in der vorliegenden Szene ohne jede Absicht und rein zufällig auf die Möglichkeit dieser Kriegslist stoßen und dass die Zufälligkeit die Arglistigkeit ihrer Täuschung jedenfalls mildert, und zwar vor allem im Vergleich mit dem Gegner: Während die Griechen ihre Kriegslist mit dem hölzernen Pferd und Sinon lange planen und aufwendig vorbereiten, spielt der Zufall den verzweifelten Troianern diese vergleichsweise

perfidia, treachery. As he responds to Dido and tells his story he must, above all, explain away anything in the tradition and in the temple reliefs that might be interpreted as treachery on his part«, 27. Zur Frage der Zuverlässigkeit des Erzählers Aeneas siehe 8.1. 700 Vgl. Heinze 31915, 37: »bezeichnenderweise erzählt hier Aeneas nur von den anderen; ihn selbst mag man sich nicht in erborgten Waffen denken«; Stahl 1981, 167. 701 Coroebus bleibt für die von ihm vorgeschlagene Taktik auch in der Ausführung der Verantwortliche.

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einfache Kriegslist unversehens in die Hände. Der Eindruck von absichtsloser Zufälligkeit wird maßgeblich dadurch bewirkt, dass die Szene mit einer misslingenden Sprechhandlung der Gegenseite beginnt – ungeplanter geht es nicht.

9.2.7 Ungleicher Zweikampf des Priamus gegen Pyrrhus [14] 2,519–524a Hecuba zu Priamus [15] 2,535–543 Priamus2/2 zu Pyrrhus [16] 2,547b–550a Pyrrhus zu Priamus

5,5 9 3

Priamus’ Palast. Als Hecuba sieht, dass ihr greiser Mann seine Waffen angelegt hat, hält sie ihm die Sinnlosigkeit seines Tuns vor und fordert ihn auf, gemeinsam mit ihr und den anderen Frauen am Altar ihr Schicksal zu erwarten [14]. Da aber stürzt plötzlich ihr Sohn Polites schutzsuchend hinzu, der von Pyrrhus verwundet und durch das Gebäude verfolgt worden ist. Pyrrhus tötet Polites vor den Augen seiner Eltern. Hierauf reagiert Priamus mit einer wütenden Schmähung des Pyrrhus. Er beschwört eine göttliche Strafe auf ihn herab dafür, dass dieser ihn den Tod des eigenen Sohnes mitanzusehen gezwungen hat, und zwar an einem geweihten Ort,702 und er beleidigt ihn, indem er seine Abkunft von Achilles in Frage stellt, der sich ihm als Feind gegenüber ganz anders verhalten habe, als er ihm nämlich Hectors Leichnam zur Bestattung übergeben und ihn selbst unversehrt entlassen habe [15]. Pyrrhus, von Priamus’ Lanzenwurf völlig unversehrt, entgegnet die Schmähung mit der höhnischen Bemerkung, dass Priamus Achilles doch persönlich mitteilen solle, wie ungeraten sein Sohn sei. Sodann fordert er Priamus zum Sterben auf [16] und tötet ihn, indem er ihm das Schwert in die Seite stößt.

Auch die Tötung des Priamus, die traditionell zur Geschichte von Troias Ende gehört,703 erfährt in der vergilischen Iliupersis eine spezielle Gestaltung: Während sie sonst als Kriegshandlung im Rahmen des gewalttätigen Eroberungsgeschehens erscheint, ist sie hier das Ergebnis eines geradezu formalen Zweikampfes zwischen dem greisen König von Troia und dem zwei Krieger-Generationen jüngeren Sohn des Achilles, Pyrrhus-Neoptolemus. Die Situation, in der es zu diesem ungleichen Duell kommen kann,704 bei dem ausgerechnet Priamus den ersten Angriff führt, wird in der Erzählung konsequent vorbereitet; bezeichnen702 Das Motiv der ›Tötung am Altar‹, durch das besondere Ruchlosigkeit ausgedrückt wird, ist für Priamus überliefert: am Altar des Zeus Herkeios, vgl. Roscher 1909, III. 2, 2948. 703 Gärtner 2010, vol. 2, 246 nennt den Tod des Priamus »meistbehandeltes Motiv des Mythos« und gibt die entsprechenden Stellenangaben; vgl. auch Roscher 1909, III 2, 2948 f. Zum Vergleich der Gestaltung dieses Motivs in Quint. Smyrn. 13,220b–250 und Aen. 2,512–553 siehe Gärtner  2005, 236–241 mit einer motivgeschichtlichen Analyse der vergilischen Version: 237. 704 Ein Paradebeispiel für einen ›ungleichen Zweikampf‹, jedoch nicht erwähnt von Littlewood 2019, 85–88 (»Imparibus viribus: unequal single combat«).

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derweise tragen hierzu gerade auch solche Motive bei, die außerhalb der Aeneis nicht überliefert sind. Die Schilderung beginnt mit der Haltung des greisen Königs angesichts des Untergangs seines Reiches: Er will sich persönlich in den letzten Kampf stürzen, obwohl er eigentlich zu alt dafür ist (2,507–511).705 Als nächstes folgt eine Ortsbeschreibung, die den Schauplatz des Geschehens vorstellt: Wir befinden uns im Innern des Palastes bei einem Altar (2,512–514), an dem Hecuba und die anderen weiblichen Familienangehörigen Zuflucht gesucht haben (2,515–2,517). Sodann wird etabliert, dass Priamus sich beim Eintreffen des Pyrrhus bei den Frauen am Altar befindet, obwohl er seine Waffen angelegt hat. Dies leistet die wörtliche Rede der Hecuba [14]:706 Sie beginnt mit zwei rhetorischen Fragen, in denen die Sinnlosigkeit von Priamus’ Vorhaben, sich selbst aktiv an der Verteidigung des Palastes zu beteiligen, zum Ausdruck gebracht wird (2,519b–520). Dann folgt in einem Satz die Aussage, dass er keine Hilfe sein könne und nicht zur Verteidigung tauge, und dass dies selbst dann der Fall wäre, wenn Hector noch am Leben wäre (2,521 f.). Hecuba schließt mit der Aufforderung, Priamus solle zu ihr kommen, und sie nennt zwei Möglichkeiten, wie die Sache ausgehen könnte: dass entweder der Altar sie schützen werden oder aber sie gemeinsam stürben (2,523–524a)  – keine dieser beiden Möglichkeiten wird schließlich eintreten. Aber Hecuba erreicht es, dass ihr Mann neben ihr Platz nimmt (2,524b–525). Damit ist der Umstand, dass Priamus entgegen seiner ursprünglichen Absicht doch nicht in den Kampf stürzt, ihr zuzurechnen. Der Text bis hierher, also bis einschließlich Hecubas Redebeitrag, dient dazu, die äußeren Umstände (wo? wie? mit wem?) der Todesszene zu exponieren: Es wird eingeführt, dass Priamus sich an dem Altar im Innenhof aufhält, dass er bewaffnet ist, obwohl er sich innerhalb seines Palastes an einem Zufluchtsort 705 Die mangelnde Eignung des greisen Priamus zu kriegerischen Taten wird in der Rüstungsszene (2,509–511a) überdeutlich ausgedrückt, wenn es heißt, dass er seine Waffen lange nicht gebraucht habe (arma desueta 2,509; in diesem Krieg um Troia hat er überhaupt nicht gekämpft!), dass seine Arme vom Alter zittern und dass das Schwert in seiner Hand unnütz sei. Die Vergeblichkeit (inutile ferrum 2,510; nequiquam 2,510) seiner Bewaffnung liegt in seinem hohen Alter begründet, das mehrfach erwähnt ist (senior 2,509; trementibus aevo umeris 2,509 f.; longaevum 2,525) und zu dem die Waffen seiner Jugend (iuvenalibus armis 2,518) nicht passen. Reitz 2012 (~ Reitz 2019) führt in einem Vergleich dieser und anderer Rüstungsszenen bei Homer und Apollonius Rhodios aus, wie in der Schilderung der Vorbereitung auf den Kampf dessen Ausgang bereits angedeutet werden kann. Im Fall des vergilischen Priamus wird die Lage allerdings explizit qualifiziert. Auch ist der Ausgang des Geschehens den Rezipienten (ersten wie zweiten Grades) ohnehin bereits bekannt. Priamus’ Rüstungsszene ist hier wichtig als eine der Voraussetzungen dafür, dass es zum unwahrscheinlichen und ungleichen Zweikampf kommt (Priamus ist bewaffnet, als Pyrrhus auftritt) und macht zudem in der Betonung des Altersunterschieds die Ungleichheit der Kontrahenten deutlich. 706 Highet 1972, 313 klassifiziert Hecubas Redebeitrag als ›persuasion‹.

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befindet, und dass außer ihm Hecuba und die anderen weiblichen Familienmitglieder anwesend sind. Dies sind wesentliche Voraussetzungen des Zweikampfs zwischen Priamus und Pyrrhus-Neoptolemus, wie er in der vergilischen Iliupersis erzählt wird. Sie gehören zu einer Verkettung von Details, die dazu beitragen, diesen an sich eher unwahrscheinlichen Zweikampf plausibel zu machen. Die Redebeiträge von Priamus [15] und Pyrrhus [16] sind als Schmährede und Erwiderung der Schmährede konventionelle Bestandteile epischer Kampfhandlung.707 An der geschilderten Kampfhandlung ist aber ungewöhnlich, dass sie im Innern eines Gebäudes stattfindet. Wie es dazu kommt, wird in der Schilderung sorgfältig vorbereitet: Pyrrhus hat Polites, den jungen Sohn von Priamus und Hecuba, verwundet und treibt ihn durch Gänge und Räume des Palastes vor sich her, bis sie beide in jenen Innenhof gelangen, wo das Königspaar und die Frauen sich aufhalten (2,526–530). Das Motiv des schutzsuchenden und vor Pyrrhus fliehenden Polites dient in der Komposition der Erzählung dazu, dass Pyrrhus als einzelner direkt zu Priamus geführt wird, so dass es zu einer direkten Auseinandersetzung Mann gegen Mann zwischen ihm und Priamus kommen kann. Pyrrhus’ Vordringen ins Innere des Palastes erfolgt also nicht einfach im Rahmen der Erstürmung desselben, sondern im Zuge seiner Jagd auf einen einzelnen Troianer, der ihm zunächst entkommen ist (elapsus Pyrrhi de caede Polites 2,526) und den er dann im Beisein seiner Eltern tötet (2,531 f.).708 Die ›Jagd auf Polites‹, eine der vergilischen Besonderheiten,709 hat die Funktion, für den Tod des Priamus eine überschaubare Szenerie mit Pyrrhus als einzigem Griechen zu ermöglichen. Dabei wird auch Priamus’ Bewaffnung bedeutsam: Unbewaffnet wäre er kein wirklicher Gegner für Pyrrhus, sondern nur ein alter Mann, der bei den Frauen sitzt. Bewaffnet aber ist er formal zum Kampf bereit. Darüber hinaus spricht er herabsetzend zu Pyrrhus und führt den ersten Schlag,710 so dass Pyrrhus, sonst in jeder Hinsicht der Angreifer, im Zweikampf gegen Priamus als derjenige erscheint, der einen Angriff auf die eigene Person kontert. Priamus und Pyrrhus attackieren einander jeweils zunächst mit Worten und anschließend mit je einer Waffe. Dabei verhalten sich die Aktionen der beiden ungleichen Kontrahenten in Aufwand und Wirkung umgekehrt proportional zueinander. Priamus’ wörtliche Rede umfasst neun Verse. Pyrrhus’ Antwort ist mit nur drei Versen erheblich kürzer. Priamus äußert zwei lange, elaborierte Sätze und holt danach (sic fatus 2,544 schließt die wörtliche Rede ab) zu einem

707 Siehe Highet 1972, 116 f. 708 Nach Heuzé 1985, 142 f., erinnert die Szene von Priamus’ Tod an eine Jagdszene; Pyrrhus folgt Polites zum Haupt-Beutetier (Priamus). 709 Vgl. Gärtner 2005, 237: »Von der Sonderrolle des Polites und dem Tod des Polites vor den Augen der Eltern wissen wir sonst nichts.« 710 Vgl. Gärtner 2005, 237: »Auch zu dem Angriff des Priamus und der Antwort des Pyrrhus ist uns nichts Vergleichbares überliefert.«

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Speerwurf aus, der völlig wirkungslos bleibt. Pyrrhus kontert in drei knappen Sätzen, die Priamus’ Äußerung inhaltlich aufnehmen und ironisch weiterführen; er ist noch im Reden begriffen (hoc dicens 2,550), als er Priamus packt, um ihn zum Altar zu zerren und dort mit dem Schwert zu töten. Während Priamus’ kraftlos geworfener Speer in Pyrrhus’ Schildbuckel, also gewissermaßen an der äußersten Grenze seines Gegners hängen bleibt, dringt Pyrrhus’ Schwert bis zum Griff (capulo tenus 2,553) in das Innere von Priamus’ Körper ein. Innerhalb der Redebeiträge zeigt sich dazu eine gegensätzliche Gewichtung des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit: Priamus äußert eine Beschwörung und eine Beleidigung, verwendet also zwei Äußerungsformen, die auf die performative Wirkung des gesprochenen Wortes abzielen. Pyrrhus hingegen stellt das von Priamus Gesagte gar nicht erst in Abrede, sondern fordert ihn sarkastisch dazu auf, es Achilles (im Totenreich) persönlich vorzutragen, womit er Priamus’ Tod impliziert: Pyrrhus setzt die Tat über das Wort, wenn er Priamus im Futur und in Imperativen dessen Handeln nach dem eigenen Tod, für den er selbst gesorgt haben wird, vorschreibt; ironischerweise soll es auch in der Unterwelt für Priamus beim rein sprachlichen Handeln bleiben: referes, nuntius ibis 2,547, narrare memento 2,549.711 Bei Pyrrhus selbst aber fallen in der Aufforderung »jetzt stirb!« (nunc morere 2,550a) und in der gleichzeitig begonnenen Tötung (hoc dicens altaria ad ipsa trementem ǀ traxit 2,550b–551a) Reden und Handeln zusammen. Was Priamus’ Beschwörung in 2,535–539 angeht, so wird sich allerdings im weiteren Verlauf der Erzählung erweisen, dass Pyrrhus später – aber noch ehe Aeneas in Buthrotum Station macht – ein gewaltsames Ende findet (3,330–332), das mit der Vorstellung von einer göttlichen Bestrafung, wie Priamus sie ihm wünscht (ironisch spricht er von »gebührender Belohnung«: praemia debita), vereinbar ist.712 Dem zweiten Teil von Priamus’ Schmähung kommt auf der 711 Pyrrhus schickt gewissermaßen den König von Troia als Boten zu Achilles in die Unterwelt (referes ergo haec et nuntius ibis | Pelidai genitori 2,547b–548a) und er schärft ihm sogar noch ein, die Nachricht auch ja nicht zu vergessen, deren Inhalt er ironisch andeutet: »Vergiss nicht, ihm von meinen traurigen Taten zu berichten und von dem aus der Art geschlagenen Neoptolemus« (illi mea tristia facta | degeneremque Neoptolemum narrare memento 2,548b–549). Vgl. Austin 1964, 210: »nuntius: Priam, the king of Troy, is to take  a message to Achilles, like some underling«; »memento: another gibe; the messenger must be sure not to forget his lines«; Horsfall 2008, 413 f. äußert Zweifel, ob tatsächlich an Rede in der Unterwelt gedacht ist, aber seine Einwände basieren auf nicht überzeugenden Erklärungen der drei dem Wortfeld ›sprechen‹ angehörigen Ausdrücke referre (2,547), nuntius (2,547) und narrare (2,549). Und wie kann der bloße Anblick des Priamus Achill die Tötung des Polites erklären, die mit den tristia facta (2,548) vor allem gemeint ist (ergo 2,547)? 712 Vgl. hierzu die Wiederholung der Junktur obtruncat ad aras in den Formulierungen iamque aderit multo Priami de sanguine Pyrrhus, ǀ natum ante ora patris, patrem qui obtruncat ad aras 2,662 f. (in der Figurenrede des Aeneas zu Anchises über Pyrrhus’ Tötung des Priamus) und ast illum ereptae magno flammatus amore ǀ coniugis et sce-

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Darstellungsebene besondere Bedeutung zu: Wenn mit der Erwähnung des Geschehens um die Lösung von Hectors Leichnam (2,540–543) der Inhalt von Ilias 24 evoziert wird, so stellt dies eine ausdrückliche Einordnung in den mythengeschichtlichen Zusammenhang der Ilias dar. Dabei wird deren Schluss als Einsatz für die eigenständige Fortsetzung ab diesem Punkt markiert, und zwar ohne Rücksicht darauf, wie späteres Geschehen, also z. B. der Tod des Priamus, seither noch erzählt wurde. Wie im Eingangskapitel dargelegt, gehört die Schilderung von Priamus’ Ende in 2,506–553 zu denjenigen Abschnitten der Erzählung, in denen Aeneas den Standpunkt eines am Geschehen nicht selbst beteiligten Erzählers einnimmt. Als eine wahrscheinliche Quelle für den Verlauf der Ereignisse im Innern des Palastes kommt Andromache in Betracht, von der anzunehmen ist, dass sie sich während der letzten Nacht von Troia bei den Frauen im Palast befindet (vidi Hecubam centumque nurus 2,501a), und die Aeneas während seines Aufenthalts in Buthrotum die Einzelheiten berichtet haben kann. Insofern sie selbst Troia als Beutefrau des Pyrrhus verlassen hat und einige Zeit mit ihm leben musste (3,325–327a), hat ihre Erinnerung an dessen Wüten in Priamus’ Palast auch eine persönliche Komponente. Aeneas ist also nicht als direkter Augen- oder Ohrenzeuge des geschilderten Geschehens zu denken, sondern er agiert auf dem Dach des Palastes und bekommt von dort aus mit, dass die Griechen, allen voran Pyrrhus, in den Palast eindringen. Als Aeneas den König vom Dach aus erblickt, liegt dieser bereits mit blutender Wunde sterbend am Altar (2,501 f. und 561 f.). In diesem Zusammenhang sieht er auch Pyrrhus, der gerade sein Schwert aus der Wunde gezogen hat (vidi ipse furentem | caede Neoptolemum 2,499b–500a). Die Komposition der Erzählung mit dem Schicksal der Priamiden als Einschub erlaubt es, den Tod des Königs als Besiegelung der Niederlage wirksam in Szene zu setzen und dabei deutlich zu machen, dass das offizielle Ende des troianischen Krieges im entscheidenden Moment vom erlebenden Aeneas auf dem Dach zur Kenntnis genommen wird. Die drei Redebeiträge dienen dazu, Hecuba, Priamus und Pyrrhus als Personen zu konturieren. Es sind drei Figuren, die gemessen an ihrer Bedeutung für Troia als Hauptfiguren gelten können, aber in der Erzählung des Aeneas (und erst recht in der Aeneis) nur Nebenfiguren sind. Diese Gewichtung wird durch die klare erzählerische Trennung der beiden Handlungsstränge aufgefangen und dadurch, dass jede der Figuren durch einen eigenen Redebeitrag charakterisiert ist. Dabei ist die Situation insgesamt so angelegt, dass Aeneas als tapferer Krieger erscheint, der den Königspalast verteidigt, solange der König lebt. lerum furiis agitatus Orestes ǀ excipit incautum patriasque obtruncat ad aras 3,330–332 (in der Figurenrede der Andromache zu Aeneas über Orests Tötung des Pyrrhus wegen Hermione): Pyrrhus wird vom Ausführenden einer Freveltat zum Objekt einer vergleichbaren Freveltat.

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9.2.8 Intervention der Venus [17] 2,594–620 Venus* zu Aeneas

26,5

Auf dem Dach von Priamus’ Palast. Beim Anblick des sterbenden Königs befällt Aeneas plötzlich die Vorstellung, dass seine eigene Familie in Feindeshand gefallen ist. Er hält inne und schaut sich nach seinen Gefährten um, muss aber feststellen, dass er allein übrig geblieben ist: Die anderen, die mit ihm auf dem Dach zugange waren, sind entweder hinunter gesprungen oder haben sich in die Flammen gestürzt. Da erscheint ihm seine göttliche Mutter und spricht zu ihm. Venus beruhigt ihn zunächst, dass sie das Haus des Anchises in der Zwischenzeit geschützt habe (2,594–600). Anschließend erklärt sie, dass es sinnlos sei, Helena oder Paris für den Krieg verantwortlich zu machen, weil Troia in Wahrheit von der Unerbittlichkeit der Götter zu Fall gebracht werde (2,601–603). Sodann verleiht sie Aeneas eine übernatürliche Sicht und zeigt ihm in deiktischer Rede das Wirken der Götter Neptun, Juno, Pallas und Jupiter in der Stadt (2,604–618). Schließlich fordert sie ihn auf, sein Bemühen für Troia aufzugeben und die Flucht zu ergreifen (2,619). Sie sichert ihm zu, ihn unversehrt zu seiner Familie zu geleiten (2,620).

In der Szene, in der Venus ihrem Sohn auf dem Dach des Palastes erscheint und ihm das Wirken der Götter in Troia offenbart, so dass er Einsicht in die Schicksalhaftigkeit des Untergangs erlangt, vollzieht sich die wesentliche Entscheidung der vergilischen Iliupersis. Dies wird aber oft nicht klar genug gesehen, weil die Diskussion um die Helena-Szene (2,567–588) den Zusammenhang verdunkelt.713 Die Venus-Erscheinung begründet, dass Aeneas sich dafür entscheidet, den Kampf aufzugeben und nicht zusammen mit Troia unterzugehen. Eine Aeneasgestalt, die so angelegt ist, dass sie in Troia kämpfend gezeigt wird, muss diese Entscheidung irgendwann treffen. Der Aeneas der Aeneis trifft sie, als seine Mutter ihm in einer Götterschau die Unausweichlichkeit des Untergangs zeigt und ihn dazu auffordert, den Kampf einzustellen und die Flucht zu ergreifen.714 Die einzige direkte Rede der Szene, diejenige der Venus, ist von einer Rede-Einleitung (roseoque haec insuper addidit ore 2,593) und einer Rede-Ausleitung gerahmt; die 713 Ausführlich zur Aussonderung der Helena-Szene und zur Venus-Erscheinung als Krisis der vergilischen Iliupersis: 11. Wlosok 1967 behandelt die Venus-Erscheinung erstaunlicherweise fast gar nicht; hinsichtlich der Helena-Szene folgt sie, 80 Anm. 20 (wie auch Kühn 1971, 44 Anm. 2) der von Büchner 1955, 331–334 vorgetragenen Auffassung, es handele sich um eine vorläufige Skizze; zu dieser sehr beliebten These siehe 11.1. 714 Für Aeneas persönlich hat die Venus-Erscheinung darüberhinaus eine besondere Bedeutung, da seine Mutter sich ihm so klar wie nie zuvor (mihi se non ante oculis tam clara videndam | obtulit 2,589b–590a)  in ihrer göttlichen Gestalt (confessa deam qualisque videri | caelicolis et quanta solet 2,591b–592a) zeigt. Die Szene ist intratextuell auf die Szene mit der Begegnung von Venus und Aeneas im Wald bei Karthago in 1,314–417 bezogen und kontrastiv zu dieser konzipiert, hierzu siehe 11.2.4 und 11.3.

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göttliche Sprecherin entschwindet direkt anschließend wieder (dixerat et spissis noctis se condidit umbris 2,621). Wie es sich bei einer Ich-Erzählung aufs natürlichste fügt, beginnt die Schilderung der Venus-Erscheinung mit der Situation des Ich-Erzählers vor der Epiphanie (2,559–566): Aeneas erzählt, wie er auf dem Palastdach steht und von dort aus den sterbenden Priamus erblickt.715 Nachdem er seit seinem nächtlichen Erwachen versucht hat, den griechischen Eroberern Einhalt zu gebieten, wird er zu diesem Zeitpunkt erstmals des Schreckens ringsum wirklich gewahr und hält inne (at me tum primum saevus circumstetit horror.| opstipui. 2,559–560a). Der Anblick des sterbenden Priamus (ut regem aequaevum crudeli vulnere vidi | vitam exhalantem 2,561–562a) evoziert in ihm ein Bild von seinem Vater (subiit cari genitoris imago 2,560b). Auch seine Frau, das Haus und sein kleiner Sohn treten ihm vor Augen (subiit deserta Creusa | et direpta domus et parvi casus Iuli 2,562b–563). Hier ist zweierlei zu beachten: Erstens, dass Aeneas sich beim Anblick des sterbenden Priamus nicht nur einfach abstrakt seiner eigenen Familie erinnert, sondern diese bildhaft vor sich sieht. Die Formulierung subiit imago in 2,560, die mit subiit in 2,562 wieder aufgenommen wird, besagt nicht lediglich, dass Aeneas plötzlich seine Familie einfällt. Sie besagt vielmehr, dass er ein Bild von ihr vor seinem inneren Auge hat.716 Aeneas beschreibt also rückblickend eine Vorstellung, die er zu dem erzählten Zeitpunkt hatte. Zweitens ist in dieser Vorstellung die Familie nicht unversehrt, sondern in einem Zustand, als hätten die griechischen Krieger das Haus bereits erreicht. Dass es sich nicht um ein neutrales Bild der Personen, die er im Geiste vor sich sieht,717 handelt, sondern um ein Schreckensbild,718 ist in den Beifügungen zu den Nennungen von Frau, Haus und Kind explizit ausgedrückt: Aeneas sieht seine Frau verlassen (deserta 2,562), sein Haus geplündert (direpta 2,563) und den casus (2,563) seines Sohnes; der Zusammenhang legt nahe, casus nicht neutral als ›Schicksal‹ zu verstehen, sondern 715 Der Anblick des sterbenden Königs ist der Punkt in der Erzählung, an dem die Schilderung der Tötung des Priamus eingeschoben ist, vgl.: 1. Die Wiederaufnahme der Schilderung von Aeneas’ eigenem Erleben erfolgt genau an der Stelle, an der sie unterbrochen wurde: Als Aeneas den König sterben sieht: vidi…Priamumque per aras | sanguine foedantem quos ipse sacraverat ignis 2,501 f. – Einschub – ut regem aequaevum crudeli vulnere vidi | vitam exhalantem 2,561–562a. Die Wiederholung derselben Formulierung (vidi mit Partizip Präsens) markiert die Wiederaufnahme als solche und den Umstand, dass die Erzählung exakt an derselben Stelle (König sterbend)  wiederaufgenommen wird. 716 Vgl. Büchner 1955, 331: »Sein alter Vater, Creusa tritt ihm vor sein geistiges Auge.« 717 So Allain 1946, 192: »la seule vue du cadavre de Priam suffira à faire surgir pour la première fois dans son esprit l’image d’un autre vieillard, son père Anchise, puis le souvenir de toute sa famille et de sa maison«. 718 Vgl. Heinze 31915, 48: »das gräßliche Bild, das er soeben sah«; Claud. Don. Aen. 2,­560–562a, Ed. Georgii Bd. 1, 227: videre, ait, visus sum in illo exemplo imaginem patris, solitudinem uxoris, direptionem domus nostrae et fili mei interitum.

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eher als ›schlimmes Schicksal‹, wenn nicht sogar ›Tod‹.719 Darüber hinaus wird implizit der Eindruck vermittelt, dass Aeneas sich seinen Vater in einem ähnlichen Zustand vorstellt, in dem sich der gleichaltrige Priamus befindet.720 Dies bewirken die Betonung der Gleichaltrigkeit beider Greise (aequaevum 2,561) und die Reihenfolge: Zuerst wird Anchises genannt, anschließend werden Priamus’ Wunde und Sterben beschrieben, dann erst ist von Creusa und Iulus die Rede. Durch diese Verschränkung verschmelzen die Bilder der beiden Greise auch in der Vorstellung der Rezipienten. Aeneas erzählt Dido, was er im Augenblick des Erlebens für wirklich gehalten hat, bevor er von Venus erfährt, dass seine Familie durch sie beschützt wird (2,596–600).721 Daraus, dass diese Notwendigkeit des göttlichen Schutzes besteht, kann man ersehen, dass die Schreckensvorstellung des Aeneas ein realistisches Szenario darstellen soll und seine Befürchtungen gerechtfertigt sind,722 auch wenn das Befürchtete letztlich nicht eintrifft. Aeneas schildert also, wie er nach dem Tod des Königs, das heißt in dem Moment, als sein Kampf um Troia kein konkretes Ziel mehr hat, innehält und die eigene persönliche Situation reflektiert, die vorher keine Rolle spielen durfte.723 In jenem Moment befällt ihn die Vorstellung, dass das Haus seines Vaters mit der Familie darin bereits in Feindeshand gefallen ist. Dann blickt er sich auf dem Dach nach seinen Kampfgefährten um, und während er erkennen muss, dass er allein übrig geblieben ist, erscheint ihm seine göttliche Mutter, fasst ihn an der Hand und beginnt, zu ihm zu sprechen (2,564–566 und direkt anschließend: 589–593).724 Zum Zeitpunkt der Venus-Erscheinung steht Aeneas inmitten der brennenden und von Griechen wimmelnden Stadt auf dem Dach der erstürmten Burg: Das bedeutet, dass er sich in einer eigentlich ausweglosen Situation befindet. Dramatisch gesehen erscheint Venus also gerade rechtzeitig als dea ex machina. Auf diese Weise wird in der vergilischen Iliupersis das Motiv des für Troia kämpfenden Aeneas mit dem Motiv der Rettung durch die Mutter verbunden.725 Venus spricht Aeneas mit dem ersten Wort persönlich an und gibt zugleich sich selbst in der Anrede zu erkennen: nate (»mein Sohn«). Ihre ersten beiden 719 Vgl. die Einordnung von casus Iuli 2,563 in TLL, vol. III fasc. III, 581 unter »c. genet. personae casum patientis (fere in malam partem)« und dazu Servius (auctus) ad 2,563 (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 304): »›casus‹ aut interitus aut captivitas«. 720 Anders Horsfall 2008, 425, der meint, dass der Text das eigentlich nicht hergebe (»a little more than the Latin imposes«). 721 Horsfall 2008, 425: »Deserta and direpta present fears as facts.« Tatsächlich beschreiben die Partizipien die Vorstellung, die Aeneas hat: In seiner Vorstellung ist seine Familie verloren. Die Befürchtung ist wirklich; der Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der das Befürchtete eintrifft, wird nicht bestimmt. 722 Heinze 31915, 48. 723 In der Krise kommt zuerst das Gemeinwesen (res publica, vgl. den Serviuskommentar zur Stelle), dann der private Zusammenhang. 724 Zur Aussonderung der Verse 2,567–588 siehe 11. 725 Hierzu siehe auch: 11.3.

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Fragen beziehen sich auf seine aktuelle Gefühlslage (nate, quis indomitas tantus dolor excitat iras? | quid furis? 2,594–595a). Es sind rhetorische Fragen, denn Venus weiß, was in ihm vorgeht: Er empfindet großen Schmerz (dolor), weil Troias Ende nun durch den Tod des Priamus endgültig besiegelt ist. Hinzu kommt seine Annahme, dass es seinem eigenen Vater zu Hause inzwischen, während seiner Abwesenheit, ähnlich ergangen sei wie Priamus. Der hier von Venus benannte dolor ist jener unsägliche Schmerz, den Aeneas zu Beginn seiner Erzählung gegenüber Dido einleitend als zentrales Motiv seiner Erzählung thematisiert hat, der Schmerz über den Untergang Troias (infandum, regina, iubes renovare dolorem 2,3). In dem Moment, als Venus erscheint, ist dieser Schmerz ganz frisch: Aeneas hat gerade einsehen müssen, dass es mit Troia vorbei ist, und auch, dass sein eigener Einsatz für Troia – in den zurückliegenden zehn Jahren und in der letzten Nacht – vergeblich war. Indem Venus in den ersten Sätzen, die sie an ihren Sohn richtet, diesen Schmerz benennt, drückt sie mitfühlendes Bedauern aus.726 Anschließend spendet sie Aeneas in einem wichtigen Aspekt Zuversicht, indem sie ihm mitteilt, dass seine Familie noch unversehrt ist, weil sie selbst dafür gesorgt hat (2,596–600). Ihre Frage aut quonam nostri tibi cura recessit? (2,595b) ist eine Erinnerung daran, dass sie ja auch noch da sei (und nicht etwa ein Vorwurf, dass er sich eher um seine Familie hätte kümmern müssen).727 Ihre 726 Angesichts der Situation, in der Aeneas sich hier befindet, ist es absurd, Venus’ Fragen als Vorwürfe zu interpretieren, wie einige dies  – unter dem Eindruck der HelenaSzene – tun; z. B. Otis 1964, 241, der meint, dass Venus (und auch Creusa) Aeneas einen wahnsinnigen und unbeherrschten dolor attestieren, den sie ablehnen: »When Venus reproves him in the line: 2,594 ›Nate, quis indomitas tantus dolor excitat iras‹ and Creusa re-echoes this reproof in the line: 2,776 ›Quid tantum insano iuvat indulgere dolori‹ they both condemn his dolor as mad and unrestrained.« Beide, Venus und Creusa, nehmen Aeneas’ (berechtigten) Schmerz über Troias Zerstörung ernst. Dieser Schmerz selbst ist groß, unbezwingbar, verzweifelt und vielleicht hat er das Potential, wahnsinnig zu machen. Aber dass Aeneas diesen Schmerz empfindet, ist kein Zeichen von Wahnsinn oder Unbeherrschtheit. 727 Wörtlich: »Wohin entschwand dir die Berücksichtigung meiner Person?«, vgl. die analoge Konstruktion fiducia cessit | quo tibi, diva, mei? 8,395 f.: »Wohin schwand dir, Göttin, das (dein) Vertrauen zu mir?« (Vulcanus zu Venus). Es wird diskutiert, wer mit dem Genitivus obiectivus nostri gemeint ist: Bezeichnet die Sprecherin nur sich selbst oder schließt nostri die Familie ein, d. h. Anchises, den Vater ihres Sohnes, sowie Schwiegertochter Creusa und Enkelsohn Iulus? Hierzu siehe Kühn 1971, 44 f., Anm. 3. Büchner 1955, 332 und Kühn (a. a. O.) stört die Vorstellung, dass Venus sich als Großmutter in die Familie des inzwischen gealterten Anchises, der mit ihr einst Aeneas gezeugt hat, einordnet. Allain 1946, 193 mit Anm. 3, verweist auf die ähnliche Formulierung in 8,395b–396a, wo aber der Singular (mei) in Bezug auf den Sprecher steht. Allain schließt daraus, und aus anderen Bezugnahmen auf den Sprecher sowie auf den Sprecher und eine Gruppe im jeweiligen Kontext, dass mit nostri in 2,595 nicht Venus allein gemeint sei. Er vertritt die Auffassung, mit nostri seien Venus selbst, ihre menschliche Familie und zusätzlich noch die Götter gemeint, denn er deutet Aeneas’ Handeln in der Nacht von Troia als Ausdruck eines Zustandes der Verblendung und Gottvergessenheit, den Venus’ Auftritt

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Aufforderung, dort nachzuschauen, wo er seine Familie zurückgelassen habe, weist ihn auf seinen weiteren Weg; sie ist verbunden mit dem Hinweis, dass das Haus inzwischen unter ihrem Schutz stand (2,596–600), wodurch nebenbei diese Unwahrscheinlichkeit in der Geschichte erklärt wird. Dass Venus das Haus des Anchises beschützt, steht in einem potentialen Konditionalgefüge mit verneinter Bedingung: »griechische Trupps streifen von überallher um sie alle herum, und wenn mein Schutz keine Abschirmung böte, würden die Flammen sie schon ergreifen und das feindliche Schwert sie alle dahinraffen« (quos omnis undique Graiae | cirum errant acies et, ni mea cura resistat, |iam flammae tulerint inimicus et hauserit ensis 2,598b–600). Aus dieser Formulierung geht hervor, dass die Bedrohung real ist und weiter besteht, woraus sich für Aeneas ergibt, dass er nun, da die Stadt erobert ist und der König tot, nach seiner Familie sehen muss. Außer dem Schmerz über den Verlust Troias und der verzweifelten Sorge um seine Familie hat Aeneas ein nicht zu unterschätzendes praktisches Problem, nämlich seine strategisch äußerst ungünstige Position auf dem Dach und die sich daraus ergebende Frage, wie er überhaupt nach Hause gelangen kann, zumal er nunmehr auf sich allein gestellt ist. Venus löst dieses Problem, indem sie ihm vor ihrem Entschwinden zusichert, dass sie ihn auf seinem Weg nach Hause schützen werde (2,620). Auf diese Weise bietet die Venus-Erscheinung Erklärungen für die in Anbetracht der strategischen Lage von Troia eher unwahrscheinlichen Umstände, dass Aeneas’ Familie zu Hause unversehrt ist und dass er selbst ohne Zwischenfälle vom Palastdach nach Hause gelangt (2,599 f. 620). So weit reicht also der Schutz der Göttin in praktischer Hinsicht, und das ist die Art und Weise, wie das Motiv der »Hilfe durch die Mutter« in der vergilischen Iliupersis umgesetzt ist.728 Die dramaturgische Erforderlichkeit der Venus-Erscheinung wird jedoch inhaltlich überblendet von der zentralen Botschaft ihrer Rede, die da lautet, dass die Eroberung Troias durch die Griechen dem Willen der Götter entspricht und nicht mehr abgewendet werden kann (2,601–618). Die Argumentation hierzu

beendet. Ich meine, nostri bezieht sich auf die Sprecherin in dem Sinne, dass Aeneas nicht vergessen soll, das er eine göttliche Mutter hat. Hingegen bezeichnet mea cura in 2,599 das, was sie für Aeneas’ Familie tut. Die Annahme, dass Venus ihren Sohn hier dafür tadele, sich nicht um ›seine Familie‹ gekümmert zu haben, entspricht der Perspektive derjenigen Rezipienten, denen die ›Mission‹ des Aeneas bekannt ist und die seine Erzählung ausschließlich von dem ihnen bekannten Ende her denken. In der Figurenperspektive aber hat für den Krieger Aeneas die Verteidigung Troias selbstverständlich Vorrang vor der Sorge um die Familie; einer im Grunde ›römischen‹ Göttin einen Tadel an seinem Verhalten in der letzten Nacht von Troia zuzuschreiben, ist ahistorisch. Venus erklärt Aeneas, dass seine Familie – entgegen seiner Annahme und dank ihrer Hilfe – wohlbehalten ist. In Verbindung mit der Einsicht, dass die Stadt nicht mehr zu retten ist, ergibt sich daraus die Richtung für sein weiteres Handeln. 728 Zur Rolle der Venus in der Aeneis siehe 11.3.

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beginnt mit der Aussage, dass weder Helenas Schönheit noch Paris am Untergang Troias schuld sei, sondern die Unerbittlichkeit der Götter: non tibi Tyndaridis facies invisa Lacaenae 2,601 culpatusve Paris, divum inclementia divum 2,602 has evertit opes sternitque a culmine Troiam 2,603 Nicht die verhasste Schönheit der Tochter des Tyndarus aus Sparta oder der schuldig gewordene Paris, nein, die Unerbittlichkeit der Götter bringt dir diese Pracht zum Einsturz und wirft Troia von seiner Höhe hinab.

Das bedeutet: Aeneas muss aufhören, vom Krieg in menschlichen Begriffen zu denken.729 Er muss die göttliche Dimension des troianischen Krieges erkennen, um einzusehen, dass es nun für ihn geboten ist, den Kampf für seine Vaterstadt einzustellen.730 Die Feststellung, dass nicht Helena, sondern die Götter am Krieg zwischen Troianern und Griechen schuld sind, begegnet bereits in der Ilias (Il. 3,164 f.: Priamos zu Helena). Man kann es ironisch finden, dass in der Aeneis ausgerechnet Venus diese Aussage trifft, weil sie selbst durch ihre Bestechung des Paris für den Raub der Helena und somit für den offiziellen Kriegsgrund verantwortlich ist. Daher gibt es das Interpretament, Venus versuche sich persönlich zu entlasten, indem sie Helena und Paris von der Schuld am Untergang Troias freispreche und in der Götterschau zeige, welche Götter (nicht sie selbst, sondern andere) diesen begünstigten.731 Eine solche Entlastung könnte außer Venus selbst auch ihren Sohn betreffen, denn es gibt die Überlieferung, dass Aeneas Paris nach Sparta begleitet und ihm beim Raub der Helena hilft.732 Allerdings 729 So Casali 2017, 283: »Enea deve smettere di pensare alla guerra in termini umani: si tratta di un disegno più grande.« 730 Vgl. Kleinknecht 1944, 91: »Mehr noch als auf die episch-technische Vorbereitung der Katastrophe zielt die Laokoongeschichte auf jene höhere, göttliche Wirklichkeit, die auch Aeneas im Kampfgewühl nachher nur darum zu sehen vermag, weil seine Mutter, eine Göttin, sie ihm entschleiert.« 731 Casali  2017, 283: »Ironicamente, però, tra tutte le divinità solitamente la principale candidata ad essere indicata come colpevole delle origini della guerra è Afrodite stessa, oltre che per i fatti del Giudizio di Paride, anche per aver fatto innamorare gli adulteri (cfr. DServ: latenter hic Venus suam purgat invidiam etc.) … In bocca a Venere stessa, dunque, il motivo secondo cui la colpa della rovina di Troia non è di Elena o di Paride, ma degli dèi ha una certa rilevanza ironica: la dea introduce un nuovo metodo di discolpa: la colpa è sì degli dèi, ma non di se stessa, bensì degli altri dèi: quelli che ora mostrerà a Enea mentre sono attivamente impegnati nella distruzione della città«. Vgl. auch Claud. Don. ad 2,604 (Ed. Georgii Bd. 1, 230): hoc Venus etiam propter se; noverat enim dici sibi posse ut haec pateremur tu fecisti. 732 Aeneas’ Beteiligung am Raub der Helena zeigen auch Vasenbilder, zum Teil mit Namensbeischriften: vgl. LIMC I,1 382–383; Galinsky 1969, 40 f.; Kahil 1955. Der Skyphos 13186 in Boston (um 490/480 v. Chr., signiert von Hieron als Töpfer und Makron als Maler) zeigt auf der einen Seite die Entführung der Helena, auf der anderen, wie Menelaos bei

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geht es hier weniger um die Frage, wer die Schuld am Untergang Troias trägt, sondern mehr darum, Aeneas zu zeigen, dass Götter ihn bewirken und dass deshalb jeglicher Widerstand vergeblich bleiben muss.733 Die Verlagerung der Erklärung von der menschlichen Ebene auf diejenige der Götter bedeutet auf der Handlungsebene, dass Aeneas nichts ausrichten kann und er den Kampf für Troia aufgeben muss. Zugleich findet eine Verlagerung ins Abstrakte, Prinzipielle statt: divum inclementia 2,602. Dabei ist bemerkenswert, dass der größere Zusammenhang, auf den vage verwiesen wird, im weiteren Verlauf der Rede (in der »Götterschau«) zwar sehr anschaulich gemacht, aber nicht erklärt wird. Der Untergang Troias ist in der vergilischen Iliupersis etwas, das passiert, ohne dass zu bestimmen versucht würde, wie es dazu kam. Aeneas kann ihn zu keinem Zeitpunkt verhindern, sondern nur darauf reagieren. Kontrastierend zur überpersönlichen Atmosphäre der Götterschau wird an anderer Stelle in der Aeneis die persönliche Verantwortung der Venus (und des Aeneas) von deren Gegenspielerin Juno vorgetragen. Bereits zu Beginn des Epos heißt es, dass sie Aeneas das Leben unter anderem deshalb schwer macht, weil sie das Parisurteil nicht vergessen kann (manet alta mente repostum | iudicium Paridis spretaeque iniuria formae 1,26 f.). Später führt sie in ihrer Gegenrede zu Venus’ Plädoyer bei der Götterversammlung in Aeneis 10 unmissverständlich aus, inwiefern diese ihrer Meinung nach schuld ist am Krieg um Troia – samt allen Folgen für Aeneas und seine Leute: nosne tibi fluxas Phrygiae res vertere fundo conamur? nos? an miseros qui Troas Achivis obiecit? quae causa fuit consurgere in arma Europamque Asiamque et foedera solvere furto? me duce Dardanius Spartam expugnavit adulter, aut ego tela dedi fovive cupidine bella?

10,88 10,89 10,90 10,91 10,92 10,93

der Eroberung Troias auf sie trifft; vgl. Kahil 1955, 53 und Abb. IV. Die Figur links im Bild mit einem Löwen als Schildzeichen schreitet nach links, hat den Kopf nach rechts zur Bildmitte gewandt und trägt in der rechten Hand einen Speer; darüber steht der Name AINEA. Für eine gute Abbildung dieser Figur mit erkennbarerer Beischrift siehe: LIMC, Aineias 11 (I, 1, 382; I, 2, 296). Laut der Chrestomathie des Proklos stand in den Kyprien, dass Aphrodite Aineias aufträgt, Paris zu begleiten: καὶ προκρίνει τὴν Ἀφροδίτην ἐπαρθεὶς τοῖς Ἑλένης γάμοις Ἀλέξανδρος. ἔπειτα δὲ Ἀφροδίτης ὑποθεμένης ναυπηγεῖται, καὶ Ἕλενος περὶ τῶν μελλόντων αὐτῷ προθεσπίζει. καὶ ἡ Ἀφροδίτη Αἰνείαν συμπλεῖν αὐτῷ κελεύει. (Homeri Opera rec. Thomas W.  Allen, Oxford  1946 (1912), Bd. 5, 102 f.). Aen. 10,92 könnte eine Anspielung auf diese Tradition sein: Junos empört fragendes me duce könnte beide implizieren: Venus, aber auch Aeneas. 733 Siehe hierzu Kleinknecht 1944, 91: »Den Schlüssel zur wahren Deutung des Geschehens gibt fast terminologisch Venus selbst, indem sie sagt: divom inclementia, divom, has evertit opes sternitque a culmine Troiam«, und zugehörige Anm. 46: »In bemerkenswerter Parallele zur Laokoongeschichte wird hier damit zugleich eine menschlich-schuldhafte Auffassung des Geschehens (601 f.) nachdrücklich abgelehnt.«

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Ich soll es sein, die versucht, dir den wankenden Machtanspruch Phrygiens zu stürzen? Ich? Oder doch eher derjenige, der die elenden Troer den Achivern preisgegeben hat? Was war denn die Ursache dafür, dass Europa und Asien zu den Waffen schritten und ihr Einvernehmen durch einen Raub gesprengt wurde? War es etwa unter meiner Anstiftung, dass der troianische Ehebrecher Sparta erobert hat, oder habe ich etwa Waffen ausgegeben und mit Wollust Kriege angeheizt?

In der Szene auf dem Palastdach wird Junos Vorwurf freilich nicht erhoben, nur implizit verworfen. Venus führt Aeneas mit der Götterschau die inzwischen erreichte Dimension des Krieges vor Augen, um ihn davon zu überzeugen, dass der Untergang Troias besiegelt ist. Er soll verstehen, warum er ihrem mütterlichen Rat gehorchen soll, und dass er als Krieger in Troia nichts mehr ausrichten kann. Die große Anschaulichkeit der inclementia divum wird in der Rede der ­Venus durch ein besonderes Mittel erreicht: Aeneas wird gezeigt, wie die Götter in Troia wirken, und zwar geschieht dies in der Weise, dass Venus zunächst die praktische Voraussetzung für das ungewöhnliche Geschehen erläutert: Indem sie eine Wolke wegzieht, die normalerweise die Sicht der Menschen abstumpft und verdunkelt, verschafft sie Aeneas eine außergewöhnliche Klarsicht, die es ihm erlaubt, die Götter zu sehen (2,604–606a).734 Venus begründet ihr Vorgehen mit dem Ziel, dass Aeneas ihren Anweisungen furchtlos Folge leisten soll: tu ne qua parentis | iussa time neu praeceptis parere recusa 2,606b–607. Er soll Einsicht gewinnen und aufgrund dieser Einsicht tun, was seine Mutter ihm sagt. Einsicht, wohlgemerkt, in die Unausweichlichkeit des Untergangs, nicht in dessen Ursachen. Im Anschluss an diese geradezu pädagogisch anmutende Erklärung735 beginnt die deiktische Rede, in der Venus beschreibt, was Aeneas sieht (2,608–618). Es handelt sich um eine Ekphrasis innerhalb von wörtlicher Rede, die sich explizit an einen eingeschriebenen Betrachter richtet. Im einzelnen wird Aeneas aufgefordert zu sehen, dass Neptun an den Mauern mit seinem Dreizack die Grundfesten der Stadt erschüttert, dass Juno am Skäischen Tor das Heer herbeiruft, dass Pallas die arx besetzt hält und dass Jupiter selbst den Griechen beisteht und die Götter zum Kampf gegen die Troianer antreibt (2,604–618). In 2,622–623a berichtet der erzählende Aeneas, dass er die feindlichen Götter tatsächlich gesehen hat: apparent dirae facies inimicaque Troiae | numina magna deum.736 Wie von Venus beabsichtigt, bewirkt dieser Anblick bei Aeneas die Einsicht, dass es mit Troia vorbei ist (2,624 f.). Das anschließende Gleichnis von der Fällung einer Bergesche hält die Unausweichlichkeit des Untergangs zusam-

734 Zur Tradition dieser Motivik und der Symbolik von Licht und Dunkel in philosophischen Schriften siehe Delvigo 2005, 65–70. 735 Delvigo 2005, 74 stellt hier eine lehrhafte, ja lehrgedicht-hafte Diktion fest. 736 Dies ist das Ziel der Szene; hier steht außerhalb der wörtlichen Rede das einzige Präsens.

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menfassend fest (2,626–631).737 Aeneas reagiert auf das Gesehene, indem er vom Dach hinabsteigt und sich nach Hause zu seiner Familie begibt. Heinze 31915 meint, in der Götterschau sei eine chronologische Unstimmigkeit festzustellen: Wenn Juno das Griechenheer von den Schiffen in die Stadt rufe (hic Iuno …|… a navibus agmen |… vocat 2,612b–614), so geschehe dies zu einem Zeitpunkt in der Geschichte, da das Heer sich längst in der Stadt befinde. Es stimmt, dass Androgeos schon weitaus früher, nämlich als er Aeneas und seine Gefährten für Nachzügler hält, äußert, dass die vermeintlichen Landsleute spät dran seien: festinate, viri! nam quae tam sera moratur | segnities 2,373–374a).738 Austin 1964 argumentiert zur Stelle, man dürfe a navibus nicht allzu wörtlich nehmen; gemeint sei, dass Juno die Griechen allgemein zur Schlacht rufe.739 Horsfall  2008 hingegen stört sich wie Heinze daran, dass Juno immer noch griechische Verstärkung herbeirufe oder zur Eile antreibe zu einem Zeitpunkt, da die eigentliche Schlacht bereits vorüber sei.740 Überlegungen dieser Art gehen jedoch zu sehr von einem homerischen Götterapparat aus, bei dem einzelne Götter persönlich in die Schlacht eingreifen und gegeneinander kämpfen wie in der Theomachie in Il. 20,47–75. Vergils Götterschau zeigt keine Götter, die selbst kämpfen. Vielmehr sieht man das Wirken der Götter in Troia, wie es insgesamt das Geschehen auf ein bestimmtes Ergebnis hin beeinflusst.741 Die Götterschau in Aen. 2,608–618 hat keine zeitliche Dimension. Anders als diejenige in Il. 20,47–75 zeigt sie nicht den Prozess einer Schlacht, sondern den Ausgang des troianischen Krieges im Ergebnis. Was Aeneas vom Palastdach aus sieht, ist ein 737 Zum Gleichnis mit dem Umkippen einer gefällten Esche siehe 10.4.9. 738 Heinze 31915, 52: »Juno steht als πρόμαχος am Skäischen Tore und ruft die Griechen von den Schiffen herbei – jetzt noch? fragt man erstaunt; hatte doch schon längst vorher Androgeos die vermeintlichen Genossen gescholten, daß sie erst so spät von den Schiffen kämen; wir hatten die Vorstellung, daß längst keiner von ihnen mehr zurück sei, als Priamus’ Burg fällt. Ja wenn es sich um ein Gesamtbild der Iliupersis handelte, dann würden wir Junos Tun begreifen: sie legt zwar nicht selbst Hand an, was der regina deum nicht ziemen mag; aber sie kann nicht früh genug die verhaßte Stadt vom Feind überschwemmt sehen; so ruft sie denn vom Tor gewaltig übers Feld, und ihr Ruf spornt die Zerstörer zur Eile.« 739 Austin 1964, 236 ad 613: »A navibus cannot be pressed of course (cf. 373 ff.); Virgil simply means that Juno summons the Greeks to battle – they cannot be too soon in the heart of things.« 740 Horsfall 2008, 442 ad 613: »At this stage in events, it is a little strange that Juno is still calling up more Greek reinforcements, or (Au.) urging them to hurry. Such a task in itself Homeric, e.g. Il. 13,83 ff. The fighting is essentially over, and the surviving Trojans are thinking if anything of escape. Just possibly, Ju.’s untimely words are actually meant to suggest her furor. We should not pause to ask exactly how she summoned any laggardly Greeks.« 741 Dies passt dazu, dass in der römischen Vorstellung das Wirken der Gottheit stärker betont wird als ihre Persönlichkeit (vgl. Iuppiter tonans, Gradivus für Mars, Iuno Moneta); zu dieser »Eigenart der römischen Religiosität«: Burck 1979, 100 f.

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synthetisches Gesamtbild,742 das sich mit einem Schlachtengemälde vergleichen lässt, auf dem zusätzlich zu der Verheerung von Troia durch die griechischen Krieger einzelne Götter in ihrem Wirken dargestellt sind. Mit Neptun, Juno und Pallas erscheinen aus dem Aufgebot der homerischen Theomachie (Il. 20,33–40) die ersten drei der pro-griechischen Götter (Hera; Athene; Poseidon). Hinzu kommt Jupiter persönlich (≈ Il. 20,56–57a), der sich für die Griechen einsetzt und die Götter selbst gegen die Troianer hetzt (Aen. 2,618 f.). Die pro-troianischen Götter aus der homerischen Theomachie (Ares, Phoibos, Artemis, Leto, Xanthos / Skamander und Aphrodite; Il. 20,38–40) sind in Vergils Götterschau nicht zu sehen; nur Aphrodite / Venus ist anwesend als diejenige, die Aeneas den Untergang zeigt.743 Es gibt die Überlegung, dass Aeneas durch das Erscheinen seiner Mutter vom Suizid abgehalten werde. Sie findet sich bereits bei Tiberius Claudius Donatus, der den Text ohne die Helena-Szene liest.744 Heinze, der vor 2,589 eine Lücke annimmt, greift, wie vor ihm bereits Conington, das Interpretament auf und schlägt vor, dass der Suizidgedanke an der Stelle der Lücke ausgeführt war.745 Aber Venus kommt solchen Gedanken gerade rechtzeitig zuvor, indem sie genau zu dem Zeitpunkt erscheint, als Aeneas feststellt, dass er allein ist, weil seine Gefährten entweder in die Tiefe oder in die Flammen gesprungen sind, und als er glaubt, seine Familie sei verloren. Dies steht so im überlieferten Text, wenn man ihn vorbehaltlos ohne die (lediglich sekundär überlieferten) Verse 2,567–588 (also ohne die ›Helena-Szene‹) liest: respicio et quae sit me circum copia lustro – deseruere omnes defessi, et corpora saltu ad terram misere aut ignibus aegra dedere –,

2,564 2,565 2,566

742 Der Ausdruck ›Gesamtbild‹ stammt von Heinze, der die Vorstellung aber ablehnt, vgl. Anm. 738. 743 Il. 20,33–40: Hera, Athene, Poseidon, Hermes und Hephaisthos auf der Seite der Griechen; Ares, Phoibos, Artemis, Leto, Xanthos / Skamander und Aphrodite auf der Seite der Troianer. Vergleichend kann festgestellt werden, dass wir uns in Aen. 2,608–618 gegenüber Il. 20,33–40. 47–75 an einem späteren Zeitpunkt der Geschichte befinden. Wenn wir Aen. 2,608–618 als eine Art Fortsetzung von Il. 20,33–40. 47–75 begreifen, so ist von der troianischen Seite allein Aphrodite / Venus übrig und erklärt ihrem Sohn den Ausgang des Krieges, der in Il. 20,33–40. 47–75 noch im Gange war. 744 Claud. Don. Aen. 2,589–593 (Ed. Georgii Bd. 1, 227 f.): omnes, inquit, laborando fessi et sine aliqua utilitate certando debiles redditi taedio adversarum rerum mori maluerant et duplicem voluntariae mortis occasionem nancti, cum altitudo non deesset et incendia dominarentur, aut praecipites dederant sese aut petierant flammas: ne et ipse alterum facerem aut, quod superat tertium, hostis occideret remanentem, mater mea non, ut facere solebat, dubia aut incerta, sed manifestior veniens me ab ipsis inefficacissimis actibus revocavit. 745 Heinze  31915, 49–51 mit Anm. 1: »Aeneas sah den Tod vor Augen, und sein Entschluß kann nur der gewesen sein, ihm entgegen zu gehen, statt ihn untätig zu erwarten«, 51; (über die Lücke): »es konnten auch nur die Empfindungen berichtet sein, mit denen Aeneas in den Tod gehen wollte«, 49.

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cum mihi se, non ante oculis tam clara, videndam 2,589 obtulit et pura per noctem in luce refulsit 2,590 alma parens (…) 2,591 Ich blickte mich um und schaute, wer noch bei mir war – alle hatten aufgegeben und sich erschöpft entweder in die Tiefe oder ins Feuer gestürzt –, als mir plötzlich klar sichtbar wie nie zuvor meine liebe Mutter erschien und in hellem Licht durch das Dunkel der Nacht strahlte (…)

Venus ist da, bevor ihren Sohn die Verzweiflung über die Aussichtslosigkeit seiner Lage packen kann, und der Sinn ihrer Rede besteht darin, ihn dazu zu bringen, dass er den Kampf einstellt und aus der Stadt flieht, statt in Troia zu sterben. Die direkt formulierte Anweisung, dies zu tun, steht im vorletzten Vers (2,619). Weil eine solche Handlungsanweisung dem Wesen eines Kriegers, der zehn Jahre damit zugebracht hat, seine Heimatstadt zu verteidigen, fremd sein muss, will sie gut vorbereitet sein. Dazu dienen die Verse 2,594–618. In der Parenthese, in der Aeneas – rückblickend – das Sterben seiner Gefährten erklärt (2,565 f.), zeigt er auf, wie aussichtlos seine Lage war und dass sie auch für ihn den sicheren Tod bedeutet hätte, wenn seine Mutter nicht zum rechten Zeitpunkt erschienen wäre. Bei der expliziten Aufforderung zur Flucht, eripe, nate, fugam 2,619, wird diskutiert, ob hier die Flucht aus der brenzligen Situation auf dem Palastdach und nach Hause gemeint ist,746 oder weiterreichend die Flucht aus der Troas. Wie z. B. bei der Traumerscheinung Hectors kommen auch hier unterschiedliche Perspektiven des Erzähltexts zum Tragen: Aus der Sicht des erlebenden Aeneas geht es um die Flucht vom Palastdach in dem Sinne, dass er den Kampf aufgeben, sich zurückziehen und seiner Familie beistehen soll. Aus der Sicht des erzählenden Aeneas und seiner Rezipienten hingegen lässt sich eripe fugam rückblickend als Vorausdeutung auf die große Flucht nach Italien verstehen, für die Aeneas und die Seinen zur rechten Zeit weitere göttliche Hinweise (Flammenwunder, Donner und Lichterscheinung) erhalten. Entscheidend ist aber, dass Venus ihren Sohn zu einem Verhalten bewegt, das ihm als Krieger eigentlich nicht entspricht, nämlich den Kampf um das eigene Gemeinwesen aufzugeben und nicht bis in den Tod zu führen. Die Verteidigung eines Gemeinwesens funktioniert notwendigerweise so, dass individuelle Verbindlichkeiten, wie die Sorge um die eigene Familie, dem militärischen Ziel prinzipiell untergeordnet werden. Wenn dieses Prinzip, dessen Gültigkeit für den gesellschaftlichen Kontext, innerhalb dessen die Aeneis entstand und zuerst wirken sollte, wohl vorausgesetzt werden kann, außer Kraft gesetzt werden soll, bedarf dies einer Rechtfertigung. In der vergilischen Iliupersis dient dazu die Erscheinung der Venus. In ihren Eigenschaften als Göttin einerseits und als Aeneas’ Mutter andererseits hat sie – anders als der geträumte Hector, der vor der Nyktomachie erscheint – Aeneas gegen746 Heinze 31915, 50.

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über die dazu nötige Autorität. Die Venus-Erscheinung leitet in der Erzählung den Übergang vom Motiv des ›Kampfes um Troia bis zuletzt‹ zum ›Auszug aus Troia‹ ein. In der direkt anschließenden Familienszene zu Hause wird das Motiv der ›Pietas‹ in die Erzählung integriert; im Zusammenhang der Weigerung des Aeneas, ohne seinen Vater zu fliehen, kommt die Möglichkeit einer Rückkehr zum allerletzten Kampf (aus Verzweiflung und bloß noch zur Rache) ins Spiel, aber die Götterzeichen klären die Situation.747

9.2.9 Weigerung des Anchises [18] 2,638b–649 [19] 2,657–670 [20] 2,675–678 [21] 2,689–691 [22] 2,701–704 [23] 2,707–720a

Anchises1/10 zu seiner Familie 11,5 Aeneas4/9 zu Anchises, an *Venus gerichtet, zu Dienern 14 Creusa1/2 zu Aeneas 4 Anchises2/10 an *Jupiter gerichtet 3 Anchises3/10 an die *Götter gerichtet, zu Aeneas 4 Aeneas5/9 zu Anchises, zu Dienern 13,5

Anchises’ Anwesen am Stadtrand. Als Aeneas nach Hause kommt, sucht er seinen Vater auf, den er ins Gebirge bringen will. Aber Anchises weigert sich, Troia zu verlassen und ins Exil mitzukommen, wie einleitend in berichteter Rede ausgeführt ist (2,634–638a). Anchises ermuntert die jüngeren Mitglieder der Familie, die ja kräftiger seien als er, zur Flucht und äußert die Meinung, wenn ihm die Götter weiterzuleben bestimmt hätten, so wäre das hier in seinem Haus in Troia. Anchises stellt fest, dass es ihm genug sei, die erste Eroberung von Troia überstanden zu haben. Er fordert die anderen auf, sich von ihm zu verabschieden und ihn dem Feind zu überlassen, und beruhigt sie, er werde es leicht verschmerzen, kein Grab zu haben, und ohnehin sei er den Göttern verhasst [18]. Obwohl alle ihn bedrängen, lässt Anchises sich nicht umstimmen (2,650–654). Da entschließt Aeneas sich, erneut in den Kampf zu ziehen und dort zu sterben (2,655–656). Er sagt seinem Vater, dass er nicht ohne ihn weggehen und ihn einem Schicksal wie dem des Priamus überlassen werde. Seine Mutter anrufend erklärt er beschwörend in Form einer rhetorischen Frage, dass sie ihn nicht den feindlichen 747 Allain 1946 deutet die spezielle Verfassung, in der sich Aeneas bei seinem nächtlichen Kampf für Troia befindet (2,302–588), als eine Phase der Verblendung und Gottver­ gessenheit. Er vertritt die Ansicht, dass Aeneas eine »spirituelle« Bedeutung dieser Nacht erst im Nachhinein erkenne. Aber diese Interpretation unterschätzt den Konflikt des Kriegers Aeneas, der sich von der Pflicht, für seine Stadt zu kämpfen, nicht leicht lösen darf. Allains Vorwurf, dass Aeneas sich in der Nacht nicht um den Willen der Götter kümmere, ist nicht angebracht. Denn erst als Venus erscheint, erhält Aeneas Einblick in den Götterwillen. Vor der Venus-Erscheinung erfüllt er seine Pflicht als troianischer Krieger. Zu der Einsicht, dass seine Aufgabe in Troia beendet ist, gelangt er erst durch die Götterschau. So fungiert Venus in der Erzählung als Helferfigur, die Aeneas eine begründete Handlungsanweisung gibt. Sie erwartet nicht, dass Aeneas ihr blind folgt, sondern verschafft ihm die nötige Einsicht, die ihn selbst erkennen lässt, wie er handeln soll.

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Geschossen und den Flammen entrissen habe, damit er zusehe, wie seine Familie hingeschlachtet werde. Dann befiehlt er den Dienern, seine Waffen zu bringen, und erklärt seine Absicht, wieder in die Stadt zu ziehen, um vor seinem Tod wenigstens noch so viel Rache zu üben wie möglich [19]. Auf der Schwelle hält Creusa ihn auf und streckt ihm den kleinen Iulus entgegen. Laut klagend argumentiert sie, dass er sie entweder mit sich nehmen oder aber sein Haus, seine Familie beschützen solle [20]. In diesem Moment beginnen um den Kopf des Iulus Flammen zu züngeln. Während die Eltern erschrecken und versuchen, diese zu löschen (2,680–686), erkennt Anchises die Flammen als göttliches Zeichen. In einem Gebet bittet er Jupiter darum, dieses Zeichen zu bestätigen [21]. Es ertönt ein Donnerschlag und ein Licht zieht über den Hausgiebel hinweg in Richtung des Idagebirges (2,692b–698). Nun ist Anchises überzeugt: Er erklärt, an die väterlichen Götter gewandt, diesen ohne weiteres Zögern folgen zu wollen, empfiehlt Haus und Enkel ihrer Obhut und bestätigt, ihre Macht anzuerkennen. An seinen Sohn gewandt erklärt er seine Absicht, ihn zu begleiten [22]. Da Troias Feuersbrunst näher rückt, fordert Aeneas seinen Vater dazu auf, sich auf seine Schultern zu setzen, und erläutert das weitere Vorgehen: Iulus solle dicht bei ihm gehen, Creusa mit etwas Abstand folgen. Er befiehlt den Dienern, auf unterschied­ lichen Wegen zum Treffpunkt, einem verlassenen Cerestempel zu kommen. Schließlich fordert er Anchises auf, die Penaten zu halten, da er selbst sie nicht anfassen dürfe, bevor er das Blut von der Schlacht abgewaschen habe [23].

In dieser Dialogszene wird ein zentraler Aspekt der mythischen Aeneasgestalt diskursiv entwickelt, nämlich dass Aeneas seinen alten und gelähmten748 Vater aus Troia hinausträgt. Damit motivisch verbunden ist die szenische Umsetzung der Vorstellung, dass die Flucht aus der Troas mit dem Willen der Götter und auf deren Weisung hin erfolgt. Ort des Geschehens ist das Anwesen des Anchises. Die Szene beginnt damit, dass Aeneas dort ankommt und sein Vater ihm sagt, dass er Troia nicht verlassen wolle. Sie endet damit, dass Aeneas seinen Vater mit dessen Einverständnis auf die Schultern nimmt und die Familie sich gemeinsam aufmacht, Troia zu verlassen. Den Sinneswandel des Anchises bewirken zwei übernatürliche Erscheinungen, die von den Figuren als Götterzeichen verstanden werden: Das erste dieser Zeichen besteht darin, dass Flammen um den Kopf des kleinen Iulus züngeln, ohne ihn zu verbrennen (2,680–684). Das zweite Zeichen erfolgt auf die ausdrückliche Bitte des Anchises hin (2,689–691) und besteht in einem lauten Donner und einer Lichterscheinung mit Schweif, die in Richtung Idagebirge weist, die Gegend erhellt und allenthalben Schwefeldampf hinterlässt (2,692b–698).749 748 Gelähmt (anderer Tradition nach: blind) ist Anchises, seit er mit seiner Vereinigung mit Venus geprahlt hat und als Strafe dafür von Jupiter mit einem Blitz getroffen wurde; vgl. 2,647–649 mit Serv. ad 2,649 (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 314 f.); Soph. Laoc. TrGF F 373 Radt; Dion. Hal. 1,48,2. 749 Im Sinne der römischen Mantik entspricht dieses zweite, erbetene Zeichen einem auspi­ cium impetrativum, welches das zuvor erfolgte auspicium oblativum bestätigt; hierzu und zu der Szene als Aition für den römischen Auguralritus siehe Heinze 31915, 55–57.

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Von allen Redeszenen innerhalb von Aeneas’ Erzählung ist diese am meisten dialogisch. Sie enthält sechs unterschiedlich lange Abschnitte in direkter Rede, die sich auf drei Sprecher verteilen. Anchises spricht drei Mal ([18]), [21], [22]); er steht im Zentrum des Konflikts, den er durch seine Weigerung, Troia zu verlassen, verursacht. Die weiteren Sprecher sind Aeneas ([19], [23]) und Creusa ([20]). Insgesamt drei Mal werden Götter apostrophiert: Aeneas wendet sich an Venus (2,664–667) und Anchises an Jupiter (2,689–691) sowie an die di patrii (2,702–703). Angesichts des relativ hohen Anteils an direkter Rede in dieser Szene ist bemerkenswert, dass ein wichtiger Bestandteil des Konflikts nur knapp berichtend wiedergegeben ist: Der erfolglose Versuch aller Anwesenden (omnisque domus 2,652), Anchises doch zur Flucht zu bewegen, ist in drei Versen zusammengefasst (2,651–653). Ausführlich dargestellt sind hingegen die Weigerung des Anchises (2,637–650) und Aeneas’ Reaktion darauf (2,655–672). Sie bilden die ersten beiden Schwerpunkte der Szene und zusammen mit Creusas Protest (2,673–679) den Hintergrund, vor dem die übernatürlichen Erscheinungen sich als plötzlich eintretendes Geschehen entfalten (2,680–704), worauf schließlich der gemeinsame Aufbruch folgt (2,705–725a).750 Kern von Anchises’ Weigerung ist die wörtliche Rede [18], in der er zunächst die anderen dazu auffordert, ohne ihn zu fliehen (2,638b–640), und sodann den Tod von Feindeshand realistisch als sein künftiges Schicksal ausmalt, das er aus seiner persönlichen Geschichte erklärt und für sich akzeptiert (2,641–649). Seine Worte erhalten dadurch Nachdruck, dass der direkten Rede eine inhaltliche Vorwegnahme in berichteter Rede vorangestellt ist (abnegat excisa vitam producere Troia | exsiliumque pati 2,637–638a). Sie wird in der Schilderung seiner Reaktion auf die Überredungsversuche seiner Familie unter Wiederaufnahme von abnegat am Versanfang (abnegat inceptoque et sedibus haeret in isdem 2,654) erneut bekräftigt. Die Reaktion des Aeneas auf die Weigerung des Anchises ist formal analog gestaltet, insofern hier ebenfalls der wörtlichen Rede [19] ein Satz vorangestellt ist (rursus in arma feror mortemque miserrimus opto 2,655), der danach inhaltlich wiederaufgenommen wird (hinc ferro accingor rursus clipeoque sinistram | insertabam aptans meque extra tecta ferebam. 2,671 f., auch hier unter Wiederho750 Diese Reliefierung zeigt sich im Tempusgebrauch: In 2,634–679 steht (mit einer Ausnahme: effusi 2,651) die Kombination von Präsens mit Imperfekt (optabam, petebam 2,636; abnegat 2,637; perstabat, manebat 2,650; abnegat, haeret 2,654; feror, opto 2,655; dabatur 2,656; accingor 2,671; insertabam, ferebam 2,672; haerebat, tendebat 2,674; replebat 2,679), wohingegen ab dem cum inversum in 2,680 die Kombination aus Präsens mit Perfekt zu beobachten ist (oritur 2,680; visus 2, 682; trepidare, excutere, restinguere 2,685 f.; extulit, tetendit 2,688; intonuit, cucurrit 2,693 f.; cernimus, dat, fumant ­2 ,696–698; tollit, adfatur, adorat 2,699 f.; auditur, volvunt 2,706; insternor, succedo, implicuit, sequitur, subit 2,722–725a), wobei zwei Redeausleitungen im Plusquamperfekt stehen (fatus erat 2,692; dixerat 2,705). Zum Tempusgebrauch und zur Funktion des Präsens vgl.: 7.3.

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lung eines Wortes: rursus, bei Verwendung desselben Verbes: feror / ferebam).751 Allerdings bezieht sich die Rahmung der wörtlichen Rede hier anders als bei Anchises nicht auf den Inhalt der Rede, sondern auf die Folgerung, die sich für Aeneas aus der Konfliktsituation ergibt, nämlich erneut Waffen anzulegen und in den Kampf zu ziehen. Darauf, dass diese Folgerung nicht unbedingt sinnvoll ist, macht anschließend Creusa aufmerksam. Anchises begründet seine Weigerung, Troia zu verlassen, mit einer Behauptung, die in Form eines Konditionalgefüges im Irrealis präsentiert wird: me si caelicolae voluissent ducere vitam 2,641 has mihi servassent sedes. 2,642 Wenn die Götter gewollt hätten, dass ich am Leben bleibe, hätten sie mir meine Wohnstätte hier bewahrt.

Der Sprecher nimmt offensichtlich an, dass es ihm von den Göttern bestimmt sei, sein Leben nirgendwo anders als in Troia zu führen, und dass die Zerstörung Troias als seiner bisherigen Wohnstätte bedeute, dass er nicht weiterleben solle. Im weiteren Verlauf der Szene wird diese Annahme durch die Götterzeichen widerlegt. Damit begegnet hier zum ersten Mal in der Aeneis das Muster, dass Anchises eine Aussage über den Willen der Götter trifft, die sich später als falsch oder nur zum Teil zutreffend herausstellt.752 Die erste wörtliche Rede des Aeneas in dieser Szene [19] richtet sich in einem ersten Teil an seinen Vater (2,657–663), sodann an seine göttliche Mutter (2,664–667) und im dritten und letzten Teil an Diener, denen er befiehlt, seine Waffen zu holen (2,668–670). Am Anfang des an den Vater gerichteten Teils steht eine rhetorisch gemeinte Frage, aus der deutlich wird, dass es für Aeneas ausgeschlossen ist, Troia ohne ihn zu verlassen (2,657 f.). Darauf folgt ein Konditionalgefüge im Realis mit zwei Bedingungen, nämlich erstens, dass Troia gemäß dem Götterwillen restlos untergeht (2,659), und zweitens, dass Anchises an seinem Entschluss festhält, sich selbst diesem Untergang anzuschließen (2,660–661a). In der Kombination dieser beiden Bedingungen sind Informationen, die Aeneas von einem jeden seiner beiden Elternteile erhalten hat, argumentativ zusammengeführt: Dass Troia untergeht, weiß Aeneas von seiner Mutter (9.2.8 [17]), und dass sein Vater Troia nicht verlassen will, ist Gegenstand des aktuellen Konflikts [18]. Außerdem ist auch Aeneas’ eigene Haltung bereits in die Argumentation integriert, und zwar in der Formulierung teque tuosque 2,661a: Weil Aeneas nicht bereit ist, Anchises zurückzulassen, betrifft dessen Entschluss, sich dem Unter751 Man kann rursus in arma feror mortemque miserrimus opto 2,655 als erzählerische Vorwegnahme verstehen. 752 Vgl. die verfehlte Auslegung des Apollo-Orakels: 3,103–113. Im vorliegenden Fall behält Anchises allerdings insofern Recht, als er im weiteren Verlauf der Geschichte tatsächlich nirgendwo anders mehr Wohnsitz nehmen wird (außer vorübergehend auf Kreta).

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gang Troias anzuschließen, nicht nur ihn selbst, sondern auch die Seinen. Die aus den Bedingungen abgeleitete Folgerung ist pathetisch formuliert: Die Tür stehe dem Tod, wie Anchises ihn für sich vorstelle (isti leto), offen;753 bald werde, triefend vom Blute des Priamus, Pyrrhus da sein, der ja schon einen Sohn im Angesicht seiner Eltern und dann den Vater am Altar getötet habe (2,661b–663). Mit diesen Worten nimmt Aeneas die Äußerung seines Vaters über den eigenen Tod auf und führt sie konkret aus, indem er den von Anchises erwarteten Feind (hostis 2,645) namentlich benennt. Er hat Priamus und Polites tot gesehen und weiß daher aus eigener Anschauung, wozu Pyrrhus fähig ist.754 Für seine eigene Person aber leitet Aeneas aus den Bedingungen im Konditionalgefüge eine Situation ab, die im Wesentlichen der Schreckensvision entspricht, die er vor der Erscheinung seiner Mutter auf dem Palastdach hatte. Im Anschluss an das Konditionalgefüge formuliert er folgerichtig an Venus gerichtet die sich angesichts der von ihm befürchteten Entwicklung des Geschehens erhebende Frage, warum sie ihn überhaupt erst vom Palastdach gerettet hat (2,664–667). Dabei beschreibt er das zu erwartende Blutbad unter Nennung der drei Personen, die seine Familie repräsentieren (Ascanius, ›mein Vater‹, Creusa), und zwar so, wie es sich ihm selbst darbieten wird, in seiner Perspektive: alterum in alterius mactatos sanguine cernam 2,667. Dadurch, dass das hier beschriebene Untergangsszenario die in 2,560b–563 beschriebene Schreckensvision wiederaufnimmt, wird deutlich, dass sich aufgrund der Weigerung des Anchises die Lage für Aeneas nicht viel anders darstellt als vor der Erscheinung der Venus (9.2.8), deren Sinn er deshalb in Frage stellt. Aeneas’ Rede schließt mit der Aufforderung an die Diener, ihm seine Waffen zu bringen: Angesichts der vermeintlichen Sinnlosigkeit seiner Rettung vom Palastdach entscheidet er sich dafür, wieder in den Kampf zu ziehen, um wenigstens noch möglichst viel Vergeltung zu üben (2,668–670). Dieser Entscheidung des Aeneas, erneut in den Kampf zu ziehen, stellt Creusa sich in den Weg. In Aeneas’ Schilderung markiert ecce (2,673) einen Impuls von außen, der das eigene Handeln unterbricht:755 Die Beschreibung, wie er seine Rüstung anlegt und sich anschickt, das Haus zu verlassen (2,671 f.), wechselt an dieser Stelle zur Beschreibung der Intervention der Creusa (2,673–679). Ihr Protest besteht in einer Geste (sie umfasst ihren Mann an den Füßen, hält ihn an der Türschwelle zurück und streckt ihm den kleinen Sohn entgegen) und in laut geäußerten Worten (2,675–679). Die knappe wörtliche Rede [20] beginnt mit zwei Konditionalgefügen im Realis, die jeweils einen an Aeneas gerichteten 753 Zu isti siehe Horsfall 2008, 471 f. 754 Dazu soll die Aussicht, den Sohn sterben zu sehen, dem Angst einjagen, der den eigenen Tod nicht fürchtet: Servius ad 2,663 (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 316): Natum ante ora patris his rebus terret eum, qui non potest mortem timere. 755 Zu ecce siehe 7.4.

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Imperativ im Hauptsatz aufweisen, also bedingte Aufforderungen darstellen. Es handelt sich um zwei verschiedene Vorschläge, was Aeneas tun soll, anstatt das Haus allein zu verlassen. Je nach dem, ob er in den sicheren Tod gehe (si periturus abis 2,675a), oder ob er doch noch hoffe, mit Waffen etwas zu erreichen (sin aliquam expertus sumptis spem ponis in armis 2,676), solle er entweder seine Familie mit sich nehmen (et nos rape in omnia tecum 2,675b) oder zuallererst das Haus beschützen, also dableiben (hanc primum tutare domum 2,677a). Die Äußerung ist prägnant, rational und pragmatisch. Creusas Redebeitrag schließt mit der rhetorischen Frage, wem die drei Aeneas’ Familie repräsentierenden Personen, sein Sohn, sein Vater und seine Frau,756 überlassen würden (2,677b–678), falls er zurück in die Stadt gehe, um bis zum Ende zu kämpfen. Diese Frage (deren Antwort von Aeneas selbst in den Raum gestellt wird: jemandem wie Pyrrhus, oder gar diesem höchst selbst 2,662 f.) ist eine pathetische Aufforderung an Aeneas, sich in dieser gefährlichen Situation nicht von seiner Familie zu trennen. Auf die direkte Rede folgt ein Vers, der die Art und Weise beschreibt, wie Creusa sich äußert: »Dies sagte sie laut und füllte mit ihrer Stimme das ganze Haus.«: talia vociferans gemitu tectum omne replebat (2,679). Diese Redeausleitung schildert zugleich das Hintergrundgeschehen, vor dem das Flammenwunder am Haupt des Ascanius mit cum subitum (2,680) eingeführt wird. Einer Reaktion des Aeneas auf die Intervention seiner Frau kommen also die sich plötzlich ereignenden zeichenhaften Erscheinungen zuvor.757 Sie unterbrechen den Konflikt und lösen ihn. Die Situation wird durch den erzählenden Aeneas nicht kommentiert; die Schilderung beschränkt sich auf das äußere Geschehen. Es ist eine Besonderheit der vergilischen Version des Auszugs aus Troia, dass Anchises sich dem Aufbruch zunächst widersetzt. Dieses Motiv der anfänglichen Weigerung des Anchises, Troia zu verlassen, hat nun aber nicht nur die Funktion, den Aufbruch zu retardieren, um der Erzählung Spannung zu verleihen,758 756 Die Reihung der Personen variiert die Reihung derselben Personen in der vorausgehenden direkten Rede des Aeneas. 757 Spekulationen darüber, wie Aeneas sich ohne die Götterzeichen verhalten hätte, sind im Rahmen der Interpretation des Textes, in dem Götterzeichen beschrieben werden, müßig, zumal die Götterzeichen der Anlass für die ganze Szene sind, vgl. die weitere Argumentation im Haupttext. 758 Hierzu siehe Heinze 31915, 55: »Künstlerisch wirkt die Weigerung des Anchises als retardierendes und spannendes Moment: unmittelbar vor dem glücklichen Ausweg erscheint das Gelingen wieder ernstlich in Frage gestellt.« Jöne 2017, 121–128 etikettiert die Szene im Anschluss an Nesselrath 1992, speziell: 80, als ›Beinahe-Abschied‹, erzielt dadurch aber keinen nennenswerten Erkenntnisgewinn. Überhaupt fragt sich, ob die ›BeinaheEpisode‹ eine nützliche Beschreibungskategorie für fiktionale Texte sein kann. Ist nicht Geschehen gerade dann erzählenswert, wenn es durchgehend oder wenigstens immer wieder das Moment des ›beinahe anders‹ in sich trägt? Als Mindestanforderung für die Einordung als Beinahe-Episode sollte gelten, dass das Nicht-Eintretende explizit im Text konstatiert wird. Dies geschieht hier aber nicht. Allenfalls wäre – in Jönes Sinne – davon zu sprechen, dass hier epische Abschiedsszenen intertextuell evoziert werden, wodurch

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sondern vor allem schafft es erst jene Konfliktsituation, in der die Götterzeichen entscheidend wirken und den Aufbruch offiziell von höchster Stelle (Jupiter) sanktionieren können. Für die Einordnung dieser Konzeption wirkt es sich ungünstig aus, dass Heinze 31915 im Zusammenhang mit den Götterzeichen von einem deus ex machina spricht. Zwar verwendet er den Ausdruck uneigentlich (»einen wahren deus ex machina«, im Zusammenhang seiner Erklärung der »dramatischen Komposition dieser Szene«),759 aber diese Redeweise vom deus ex machina ist auch in übertragen gemeintem Sinne irreführend, weil sie die tatsächlichen Verhältnisse umkehrt, indem sie suggeriert, dass die göttlichen Zeichen vom Dichter eingeführt würden, um eine sonst unlösbare Situation in der Geschichte aufzulösen.760 Das Gegenteil ist der Fall: Die göttlichen Zeichen als (nach römischem Verständnis) offizielle Absegnung des Aufbruchs sind die zentrale Botschaft der Szene und das Motiv der Weigerung des Anchises wird ihretwegen eingeführt. Darüberhinaus dient das Motiv dazu, Aeneas’ Haltung schärfer zu konturieren. Wenn Aeneas nämlich auf die Weigerung seines Vaters, Troia zu verlassen, damit reagiert, dass er sich seinerseits weigert, ohne seinen Vater aufzubrechen, wird dadurch die Absolutheit herausgestellt, mit der er die Rettung seines Vaters für den eigenen Auszug aus der Stadt voraussetzt.761 Ohne die anfängliche Weiumso deutlicher werde, dass eben gerade kein Abschied stattfinde. Allerdings könnte man auch finden, dass sehr wohl ein Abschied stattfindet, nämlich der Abschied des Aeneas und seiner Familie von Troia. Wenn man sich aber auf die Personen konzentriert, so wären zwei ›Beinahe-Abschiede‹ voneinander zu trennen: derjenige des Anchises von Aeneas, Creusa und Iulus einerseits (Anchises’ Vorschlag) und derjenige des Aeneas vom Rest der Familie andererseits (Aeneas’ Reaktion); Jöne differenziert hier nicht. 759 Heinze 31915, 57; eine ähnliche Diktion findet sich bei Horsfall 2008, 457: »V.’s answer, the double portent smacks rather of the deus ex machina«. 760 So liest man bei Jöne  2017, 128: »Da durch viele intertextuelle Bezüge alle Inhalte der Reden und auch die Szenerie auf einen Abschied deuten, bedarf es eines deus ex ­machina, um den Konflikt zu lösen und den Abschied, der sich abzuzeichnen scheint, abzuwenden«. 761 Die in seinem unbedingten Willen, den Vater mitzunehmen, erkennbare Haltung des Aeneas ist auch sonst literarisch überliefert (Hellanikos bei Dion. Hal. 1,46,1–3 ~ FGrH4 F31; Lyk. Alex. 1261–1269, hierzu vgl. Hornblower 2018, 115, Anm. 17, unter Bezugnahme auf Weinstock 1971: »The tradition of Aineias’ ›piety‹ was very old and is plainly alluded to at 1270; it included, but went beyond his famous filial care of Anchises, whom he carried from Troy, together with the Penates.«) Allerdings – und das würde in den Kontext der vergilischen Iliupersis nicht passen – wird sie dort von den Griechen beobachtet: Es sind die griechischen Feinde, die Aeneas für seine Haltung bewundern und ihm εὐσέβεια zuschreiben. Aber eine Sagenversion wie etwa die, dass die Griechen davon angetan sind, dass Aeneas die Penaten von Troia und seinen Vater retten will und ihm daher freies Geleit gewähren (Xen. Kyn. 1,15), setzt diplomatische Interaktion zwischen Griechen und Troianern voraus, für die in der vergilischen Iliupersis kein Raum ist. Der vergilische Aeneas darf nicht in den Verdacht geraten, seinen Privatfrieden mit den Griechen zu machen. So wird in der Aeneis alles, was als Verrat oder Kollaboration verstanden

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gerung des Anchises wäre dessen Rettung einfach ein Aspekt von Aeneas’ Flucht. Erst Anchises’ Widersetzlichkeit gibt seinem Sohn einen Anlass zu benennen, was es bedeuten würde, den Vater zurückzulassen, nämlich ein großes Sakrileg, ein Verbrechen. Er fragt, wie Anchises so etwas überhaupt aussprechen könne: tantumque nefas patrio excidit ore 2,658b.762 Wenn Aeneas die Rettung seines Vaters als etwas klassifiziert, dessen Unterlassen nefas wäre, dann bedeutet dies positiv gewendet, dass er sie als etwas klassifiziert, das er für geboten hält, also für seine Pflicht.763 Entsprechend wird das Verhalten des Aeneas in dieser Szene von den Interpreten mit der ihm zugeschriebenen pietas in Zusammenhang gebracht.764 Hierbei ist problematisch, dass dieser Zusammenhang bei einigen Interpreten mehr selbstverständlich vorausgesetzt wird, als dass reflektiert würde, worauf er überhaupt beruht.765 Dies ist aber interessant, weil hier im Text eine Prädiwerden könnte oder auch nur in die Richtung eines Einvernehmens mit den Griechen geht, sorgfältig vermieden. 762 Jöne 2017, 125 mit Anm. 30 ist der Auffassung, Aeneas halte die Rede seines Vaters für nefas; das ist aber nicht gemeint. Zu tun, was der Vater vorschlägt, wäre nefas: ›Wie kannst Du so etwas Abscheuliches überhaupt vorschlagen?‹ Ob der Vorschlag, etwas Abscheuliches zu tun, auch selbst abscheulich ist, also Anchises abscheulich handelt, indem er vorschlägt, etwas Abscheuliches zu tun, interessiert an dieser Stelle allenfalls sekundär. 763 Tatsächlich dürfte es für die meisten Menschen zu allen Zeiten eine furchtbare Vorstellung sein, eine nahestehende Person – oder überhaupt jemanden – in einer vergleichbaren Situation zurückzulassen. Wenn man dies im Sinne normalen menschlichen Empfindens universal postuliert, wird man eher nicht geneigt sein, bereits in dem Umstand, dass Aeneas seinen Vater nicht hilflos zurücklässt, sondern den Versuch unternimmt, ihn aus der Gefahrenzone zu tragen, eine herausragende Leistung des Aeneas zu sehen. 764 Vgl. Heinze 31915, 55: »Die pietas des Helden gegenüber dem Vater, dieses Hauptstück der populären Aeneassage, tritt erst hier in den Vordergrund.« Zu pietas als Eigenschaft des Helden der Aeneis siehe auch: 4.2. 765 Galinsky 1969, dem es darum geht, das Konzept von der pietas des Aeneas als italisch (und als nicht-griechisch) zu erweisen, scheint sich über die Verbindung der Szene mit der pietas zu mockieren (»The scene, which is suppposed to be emblematic of pietas«, 21; »the ›pietas‹ scene in Book 2«, 22), geht ihr aber nicht auf den Grund. In seiner Deutung der Szene beschränkt er sich auf das Löwenfell, das er als Hinweis auf Hercules und damit (für mich nicht konkludent) auf Aeneas als Krieger sieht. Ein jüngeres Beispiel dafür, dass in den Aeneis-Interpretationen (unterschiedlich ausgeprägte)  Vorstellungen von pietas ein wenig zu selbstverständlich vorausgesetzt und mehr an den Text herangetragen als aus ihm gewonnen werden, ist Jöne 2017, 128: »Auch Creusa appelliert an die pietas dem kleinen Sohn, dem Vater und schließlich der Ehefrau gegenüber.« Tatsächlich aber sind Creusas Worte eher pragmatisch als moralisierend: Wenn Aeneas bis zum Ende kämpfen wolle, dann solle er doch seine Familie bis zuletzt verteidigen, statt sie werweiß-wem (cui 2,677; 2,678) zu überlassen. Das Wort pietas fällt im ganzen Abschnitt nicht und schon gar nicht innerhalb der wörtlichen Rede der Creusa. Die Vorstellung, dass der Ehefrau pietas geschuldet würde, wäre erst einmal zu belegen. Bei Donat ist in diesem Zusammenhang bezeichnender Weise von amari und von adfectus die Rede, nicht von pietas.

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kation der pietas des Aeneas – zumal von seiner Stimme selbst – nicht explizit erfolgt; die Wörter pius oder pietas kommen nicht vor. Schaut man in die antiken Kommentare, so stellt man fest, das in ihnen die pietas gar nicht so sehr mit der Rettung des Vaters als solcher verbunden ist. Der Angelpunkt ist vielmehr Aeneas’ Weigerung, seinen Vater zurückzulassen, nämlich in dem oben bereits angedeuteten Sinn, dass Aeneas in ihr beteuert, keine Verletzung seiner Pflicht begehen zu wollen. In der nur knappen diesbezüglichen Bemerkung des Serviuskommentars wird Aeneas’ Weigerung insofern als Ausdruck seiner pietas verstanden, als in dem Satz mene eferre pedem, genitor, te posse relicto | sperasti 2,657–658a (»Hast Du, Vater, erwartet, dass ich ohne dich aufbrechen könnte?«) der Subjektsakkusativ des AcI folgendermaßen näher erläutert wird: Mene probatae pietatis filium (»ich: dein Sohn von erwiesener pietas«).766 Erheblich detaillierter sind die Ausführungen des Donat, die gewissermaßen die kanonisch gewordene Exegese der Stelle bieten. In ihnen wird Aeneas’ Weigerung als dictio plena pietatis qualifiziert, das von Anchises vorgeschlagene Zurücklassen seiner Person hingegen als causa impietatis criminibus plena sowie als inpium nefas.767 Das heißt: In der vorliegenden Szene wird der Begriff der pietas in dem Vorschlag des Anchises und der anschließenden Weigerung des Aeneas ex negativo evoziert. Auf diese Weise kann das Handeln des Aeneas als Ausdruck seiner pietas dargestellt werden, ohne dass sie allzu plakativ von ihm selbst beim Namen genannt werden müsste.768 Hierzu trägt auch bei, dass die Verbindung zwischen dem Begriff der pietas respektive εὐσέβεια und dem Motiv, dass ein Sohn seinen Vater (oder ein Elternteil) unter Hintansetzung der Rettung des eigenen Lebens aus einer Gefahr rettet, indem er ihn mit sich fortträgt, vorausgesetzt werden kann, weil sie hinreichend kulturell etabliert ist. (Die Hintansetzung der eigenen Rettung gehört zum Motiv 766 Servius ad 2,657 (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 315). 767 Tib. Claudius Donatus, Interpretationes Vergilianae ad 2,657 f. (Ed. Georgii Bd. 1, 235). In Donats Paraphrase der Weigerung heißt es sogar, dass ein solches Verhalten, das ­Aeneas als ihm wesensfremd von sich weist, ihn zum Vatermörder machen würde: potuisti cogitare quod abhorret a moribus meis? potuisti ore paterno promere quod me faceret parricidam? In derselben, aus dem Text übernommenen Sprechhaltung wird Aeneas paraphrasierend neben Pflichterfüllung und Religiosität auch pietas bescheinigt und es wird beschrieben, dass Eltern und Kinder einander gegenseitig verpflichtet sind. Für den konkreten Fall wird außerdem auf das Alter und die Gebrechlichkeit des Anchises hingewiesen: mene hoc est filium tuum cuius pietatem, officia religionemque optime conprobasti. te qui sis pater meus, qui bene nosti quid parentes debeant liberis, quid filii parentibus, te qui praeter naturalem adfectum sis senex, sis vitio corporis inpeditus, te quem amaverim semper semperque coluerim. 768 Man könnte von subtilem ›virtue-signalling‹ sprechen. Bei der Selbstvorstellung sum pius Aeneas in 1,378a hingegen liegt der Fall vor, dass ein Sterblicher sich gegenüber einer (vermuteten) Gottheit auf die eigene pietas beruft. Es handelt sich dabei nicht um Prahlerei, sondern um den Versuch, ein Verhältnis gegenseitiger Verpflichtung geltend zu machen (vgl. Anchises in seiner Bitte um ein Zeichen in 2,690: et si pietate meremur).

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des Tragens, weil das Tragen einer anderen Person die eigene Fortbewegung erschwert.) Die Priorisierung der Rettung des Vaters vor der eigenen Rettung als Ausdruck von εὐσέβεια begegnet schon in einer Sage, deren älteste bekannte Version in der 331/0 v. Chr. gehaltenen Rede des Lykurg gegen Leokrates (§§ 95 f.) überliefert ist: Bei einem Ausbruch des Aetna zeichnet ein junger Mann sich dadurch aus, dass er nicht wie die anderen um sein Leben läuft, sondern seinen Vater auf die Schultern nimmt, um ihn vor der heranströmenden Lava zu retten. Als nun beide in Gefahr geraten, lenkt eine Gottheit in Anerkennung der Haltung des Sohnes die Lava um sie herum, weshalb seither die ausgesparte Stelle als τῶν εὐσεβῶν χῶρον (»Ort der Pflichtbewussten«) erinnert wird. Spätere Versionen dieser Sage kennen zwei Brüder (Amphinomos und Anapias aus Katane), die ihre Eltern retten.769 Für die römische Republik ist die Verbindung des Motivs »Tragen eines Elternteils« mit dem Begriff der pietas in einer Münzprägung des M. Herennius (Konsul 93 v. Chr.) greifbar. Der Denar, der auf 108 oder 107 datiert wird, zeigt auf der Vorderseite einen weiblichen Kopf, den die Beischrift pietas als personifizierte Pietas und also als die Göttin Pietas ausweist. Auf der Rückseite ist eine männliche, nach rechts schreitende menschliche Gestalt zu sehen, die eine weitere menschliche Gestalt auf ihrer linken Schulter trägt. Diese Figurengruppe auf der Rückseite wird im Allgemeinen als einer der beiden Brüder von Katane mit einem Elternteil gedeutet.770 Exakt derselbe Darstellungstypus findet sich auf der Rückseite eines Aureus, der 70 Jahre später für Octavian unter dem Münzmeister L. Livineius Regulus geprägt wurde und dessen Vorderseite anstelle des Pietaskopfes bei Herennius den Kopf Octavians zeigt. Hier wird die Figurengruppe der Rückseite als Aeneas mit Anchises gedeutet.771 Aber kommt es auf die Identifikation mit bestimmten Sagenfiguren überhaupt an? Das Bild 769 Siehe hierzu: Engels 2008, 159. 770 Denar des Herennius: RRC 308/1; für eine Abbildung online siehe z. B.: https://www. britishmuseum.org/collection/object/C_R-7850; Galinsky  1969, 56 mit Abb. 40a; zu früheren Deutungen der Figuren als Aeneas-Anchises-Gruppe siehe Galinsky  1969, 55, Anm. 105. Die Formulierung bei Fuchs 1973, 624 steht zur zugehörigen Abb. 17 in Widerspruch, da er schreibt: »Auf der Rückseite sind die frommen Brüder von Catane dargestellt«, aber die Rückseite lediglich einen Mann zeigt, der einen weiteren trägt, und nicht beide Brüder mit Vater und Mutter, wie es die Formulierung nahelegt und wie es tatsächlich bei Bronzemünzen aus Katane der Fall ist; vgl. Fuchs 1973, Abb. 21 f.; übrigens gibt es auch Bronzemünzen aus Katane, bei denen auf der Voderseite einer der beiden Brüder mit dem Vater, auf der Rückseite der andere Bruder mit der Mutter dargestellt ist, vgl. Fuchs 1973, Abb. 19 f. 771 Aureus des Octavian: RRC 494/3; LIMC, Aineias 129; Galinsky  1969, Abb. 40b, 55 Anm. 105; Fuchs  1973, Abb. 18; für eine Abbildung online siehe z. B. https://www. britishmuseum.org/collection/object/C_1864-1228-23. Eine anders formierte Aeneas-Anchises-Gruppe erscheint auf der Rückseite von Denaren, die Iulius Caesar 48 v. Chr. prägen ließ: RRC 458/1; LIMC , Aineias 128; Galinsky 1969, 5. Abb 2; Fuchs 1973, 624–626 und Abb. 11 f.; für eine Abbildung online siehe z. B.: https://www.britishmuseum.org/collection/object/C_1867-0101-1264.

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eines Erwachsenen, der einen weiteren (eventuell erkennbar älteren) Erwachsenen trägt, kann auch universal gedeutet werden: Der Tragende stellt, wenn nicht die eigenen Interessen, so doch mindestens die eigene Bequemlichkeit gegenüber den Bedürfnissen des anderen zurück, um ihm zu helfen. Es liegt nahe anzunehmen, dass zwischen den Dargestellten ein Eltern-Kind-Verhältnis besteht – sei es ein natürliches oder ein übertragenes –, und das Bild im römischen Kontext als ein Symbol für pietas zu verstehen. So gesehen trägt der geschilderte Aufbruch aus Troia die symbolische Kraft eines bekannten Motivs in sich.772 In der vergilischen Szene ergibt sich die Zuschreibung der pietas schlüssig, bleibt aber effektiv dem Rezipienten überlassen. Bildliche Darstellungen der Flucht des Aeneas aus Troia sind in diversen Gattungen (Keramik, Numismatik, Skulptur, Glyptik, Wandmalerei) der griechischen, etruskischen und römischen Kunst erhalten. Die frühesten von ihnen werden in das letzte Drittel des 6. Jahrhunderts datiert: Bilder auf attischschwarzfigurigen Vasen, die überwiegend in Italien (und dort vor allem in Etrurien) gefunden wurden, sowie Münzbilder der Stadt Aineia in der Chalkidike.773 Die Personenkonstellation in den Darstellungen variiert: Sowohl Frau als auch Kind als auch eine leitende Gottheit können voneinander unabhängig dabei sein oder nicht. Eine eindeutig identifizierbare Gruppe, die meist das Zentrum der Darstellung bildet, ist aber die ›Aeneas-Anchises-Gruppe‹:774 Ein Krieger, der einen älteren Mann auf dem Rücken oder den Schultern trägt, der seinerseits etwas hält (das Palladium, eine Ciste oder die Penaten), kann ikonographisch eindeutig als Aeneas bestimmt werden. Hält er dazu noch ein Kind, also Ascanius-Iulus, an der Hand, ist die sogenannte ›troianische Gruppe‹ vollständig, wie sie ab dem 5. Jahrhundert belegt ist. Auch in der Aeneis erfolgt der Auszug aus Troia in dieser Formation. Die Schilderung entspricht diesem aus der darstellenden Kunst bekannten Schema, das im Text zweimal detailliert beschrieben wird: Zunächst in der Aufforderung zur Aufstellung (ergo, age, care Dieses Münzbild zeigt Aeneas frontal zum Betrachter, in angedeuteter Schrittstellung nach links. In seiner rechten Hand trägt er die Statuette einer weiblichen Gestalt in Rüstung (das Palladium), während auf seiner linken Schulter Anchises sitzt, auch er dem Betrachter zugewandt. Die Vorderseite dieser Denare zeigt einen weiblichen Kopf, der Venus zugeordnet wird. 772 Überlegung: Das Aufnehmen des Vaters auf die Schultern stellt eine Umkehrung der Rollen beim Ritual der römischen Anerkennung der Vaterschaft (Aufheben des Kindes vom Boden) dar. 773 Zu den bildlichen Darstellungen der Flucht des Aeneas siehe Horsfall  2008, 501; Fuchs 1973; Galinsky 1969; LIMC, Aineias 59–156 (I, 1, 386–390; I, 2, 300–306). 774 Fuchs 1973, 631, unterscheidet nach der Form des Tragens (auf der Schulter oder am Rücken) und nach der Ansichtigkeit einzelner Körperteile mehrere Bildtypen, die er kulturell einordnet; er stellt eine Abfolge vom ›archaisch-additiven Schultersitz‹ zum ›Rückensitz‹ und wieder zum ›additiven Schultersitz‹, aber diesmal ›mit Symbolcharakter‹ fest.

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pater, cervici imponere nostrae etc. 2,707–711) und direkt anschließend noch einmal im Bericht über den Aufbruch (haec fatus latos umeros subiectaque colla etc. 2,721–725a). Dadurch, dass die Erklärungen darüber, wie der Tross sich formiert, dem Typus der Figurengruppe entsprechen, scheint der Text das Zustandekommen der aus der Bildkunst vertrauten Formation zu erklären. Zugleich bewirkt die Berücksichtigung des bekannten Schemas eine Beglaubigung des erzählten Geschehens: Indem der Auszug so geschildert wird, dass die Schilderung zu den bildlichen Darstellungen passt, die dem römischen Publikum vertraut sind, wird die Erzählung glaubwürdig, weil sie Bekanntes enthält. Daraus erklärt sich auch der Umgang mit der Figur der Creusa, deren Geschichte in einer Weise erzählt wird, dass ihre Anwesenheit die bekannte Dreiergruppe aus Aeneas, Anchises und Ascanius nicht stört:775 In der vergilischen Iliupersis folgt die Frau des Aeneas der Dreiergruppe mit einem gewissen Abstand, der im Sinn der erzählten Geschichte als strategische Vorsichtsmaßnahme bei der Flucht aus dem Stadtgebiet gewertet werden kann. So heißt es in Aeneas’ Anweisung, wie der Aufbruch vonstatten gehen soll, an Anchises gerichtet: et longe servet vestigia coniunx 2,711b; die Formulierung in der Schilderung des Aufbruchs lautet entsprechend: pone subit coniunx 2,725a.776 Als Aeneas am Sammelpunkt bemerkt, dass Creusa fehlt, macht er sich Vorwürfe, dass er sich nicht nach ihr umgesehen hat, weil er glaubt, sie auf diese Weise verloren zu haben (2,736b–744). Später allerdings werden das Entschwinden der Creusa und Aeneas’ Unachtsamkeit mit göttlichem Einwirken erklärt (vgl. 9.2.10 und 9.2.11).

9.2.10 Verschwinden der Creusa [24] 2,733b–734 Anchises4/10 zu Aeneas

1,5

Auf dem Weg aus der Stadt. Aeneas trägt Anchises auf den Schultern und hält Ascanius an der Hand; Creusa folgt mit etwas Abstand. In dieser Formation machen sie sich auf den Weg durch die Dunkelheit und sind schon fast beim Stadttor angelangt, als Schritte laut werden. Anchises spornt seinen Sohn zur Eile an und macht ihn darauf aufmerksam, dass Feinde sich nähern und er Metall schimmern sieht [24]. Da verlässt Aeneas den befestigten Weg und weicht auf unwegsames Gebiet aus. Als sie den vereinbarten Treffpunkt erreichen, merkt Aeneas, dass Creusa fehlt. 775 Vgl. Casali 2017, 317 (ad 710 f.): »Enea completa l’iconografia della sua fuga: Ascanio al suo fianco, e Creusa indietro, a una certa distanza, fuori dall’ ›inquadratura‹«. Fuchs 1973, 628 nimmt an, dass auf eine bestimmte existierende Statuengruppe hingewiesen wird: »Vergil scheint also eine existierende plastische Gruppe zu beschreiben und nicht mit seinen Versen die Ausbildung der Bildhauer zu bestimmen, wie oft angenommen wird.« Ob ein bestimmtes, öffentlich aufgestelltes Kunstwerk gemeint sein soll, ist schwer zu entscheiden; jedenfalls setzt der Text die Ikonographie als solche voraus. 776 Zur Diskussion darüber, ob es sich um eine Vorsichtsmaßnahme oder um kalte Distanziertheit des Aeneas zu seiner Frau handelt, siehe Casali 2017, 317 f. ad 711.

Die dialogischen Szenen in Aeneis 2  

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Aeneas beginnt die Schilderung der eigentlichen Flucht mit der Beobachtung, dass er im Unterschied zu vorher, als er allein unterwegs war, nun schreckhaft jeden Luftzug und jedes Geräusch registriert, weil er sich um Vater und Sohn sorgt (2,725b–729), mit denen er sich in der bewussten Dreiergruppe fortbewegt.777 Die knappe direkte Rede des Anchises steht im Kontext eines Zwischenfalls, mit dem die Schilderung der Umstände, unter denen Creusa verloren geht, beginnt: Als sie schon fast beim Stadttor angekommen sind und Aeneas den Weg überstanden zu haben glaubt, meint er Schritte einer größeren Gruppe zu hören (creber ad aurīs | visus adesse pedum sonitus 2,731b–732a), und Anchises, der von seiner erhöhten Position Ausschau hält (prospiciens), meldet, dass er Metall blitzen sehe (2,732b–734): Anchises’ Worte [24] scheinen somit Aeneas’ vage akustische Wahrnehmung zu bestätigen; die drohende Gefahr wird dadurch für Aeneas zur Gewissheit. Seine Reaktion auf diese Gefahr besteht darin, den verabredeten Weg zu verlassen. In seiner Erzählung ist die Irritation, die dieses Abweichen vom Plan verursacht, mit dem Bericht darüber verknüpft, dass er Creusa aus den Augen verliert. So erscheint die durch äußere Umstände hervorgerufene Konfusion als Erklärung für seine Unachtsamkeit und damit als Erklärung dafür, dass Creusa verloren geht. Wie sich später zeigt, werden dadurch allenfalls die äußeren Umstände des Geschehens erklärt. Den im Sinne der Geschichte wahren Grund für das Entschwinden der Creusa teilt Aeneas später in ihren eigenen Worten mit. In der vorliegenden Szene aber entspricht die Erzählperspektive derjenigen des erlebenden Ich. Dies äußert sich auch darin, dass drei verschiedene Erklärungen für Creusas Ausbleiben erwogen werden: ein schlimmes Schicksal (also dass sie dem Feind in die Hände gefallen sei), mangelnde Ortskenntnis oder Müdigkeit.778 Alle drei stellen sich später im Lichte von Creusas Worten [25] als unzutreffend heraus. Der im Nachhinein erzählende Aeneas weiß natürlich, dass Creusa nicht von den Feinden aufgegriffen wurde oder sich verirrt hat oder ausruhen musste. Es handelt sich lediglich um Mutmaßungen, die der erlebende Aeneas anstellt und seiner Suche zugrunde legt. Sie repräsentieren den Wissensstand zur Zeit des Erlebens und bilden daher

777 Tatsächlich lässt er Creusa an dieser Stelle unerwähnt, wenn er sagt, er habe »gleichermaßen für den Begleiter (im Singular, also Ascanius) und die Last (Anchises)« gebangt: pariter comitique onerique timentem (2,729b). Der erlebende Aeneas ist ganz auf die Fortbewegungseinheit um seine Person (in der Dreiergruppe)  konzentriert. Die Verwendung von comes im Singular in 2,729 passt zu: mihi parvus Iulus | sit comes, et longe servet vestigia coniunx 2,710b–711. 778 heu misero coniunx fatone erepta Creusa ǀ substitit erravitne via seu lapsa resedit | incertum 2,738–740a. Zu lapsa, das der Mediceus bietet (und für das die Herausgeber Geymonat, Mynors und Conte sich entscheiden), erläutert Conte im kritischen Apparat: i. e. langu­ escens quia viribus relicta (Conte 2009, 61). Abweichend findet sich die Lesart lassa (die Horsfall 2008, 38 in seinen Text aufnimmt; ebenso Holzberg 2015, 136) im Palatinus als Korrektur von rapta; vgl. hierzu: Horsfall 2008, 518.

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Figurenrede und szenisches Erzählen

keinen Widerspruch zu der Erklärung, die später in der Erzählung für das Verschwinden der Creusa gegeben wird.779 Die Perspektive des erlebenden Ich macht die Schilderung der Suche nach Creusa spannend.780 Anders als bei den insidiae Graecorum kennen die externen Rezipienten den Ausgang der Geschichte von Creusa nicht. Deshalb ist es erzähltechnisch sinnvoll, ihn nicht vorwegzunehmen. So können die externen Rezipienten zusammen mit Dido die Suche nach Creusa und ihre Erscheinung weitgehend in der Weise nachvollziehen, wie der erzählte Aeneas sie erlebt hat. In der Schilderung des Verlusts selbst (2,730–744) verbindet der Erzähler Aeneas den Bericht des äußeren Geschehens mit einer analysierenden Kommentierung seiner Verfassung und bringt darüberhinaus mögliche Gründe für Creusas Zurückbleiben erwägend vor. Er beginnt mit der Feststellung, dass er beim Verlassen des verabredeten Weges nicht mehr klar gedacht hat, und stellt damit den Bericht von Creusas Zurückbleiben ins Zeichen einer ihm selbst unerklärlichen Verwirrtheit: hic mihi nescio quod trepido male numen amicum | confusam eripuit mentem 2,735 f. Außerdem konstatiert er, dass er sich bis zur Ankunft am verabredeten Treffpunkt nicht nach seiner Frau umgeschaut und auch nicht an sie gedacht hat (nec prius amissam respexi animumque reflexi 2,741). Diese Äußerungen beschreiben den Vorgang, wie Aeneas ihn erlebt hat: Sie resümieren den Umstand, dass er bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht bemerkt, dass Creusa ihm nicht mehr folgt. Die Einleitung der Szene hic mihi nescio quod trepido male numen amicum | confusam eripuit mentem 2,735–736a lässt sich aber auch als Andeutung verstehen, dass es beim Verschwinden der Creusa nicht ganz mit natürlichen Dingen

779 Einen Widerspruch zu der Erklärung, dass Creusa durch die Magna Mater entrückt worden sei, konstatiert, wer die unterschiedlichen epistemischen Perspektiven des Erzähltextes nicht berücksichtigt, wie z. B. Gall 1993; Unklarheit herrscht auch bei Grillo 2010: »The internal narrator confesses to being still confused about the details of the loss, and the ambiguity of language prevents a clear reconstruction of the sequence: in narrating the fall of Troy, in fact, Virgil pays just as much attention to the character of Aeneas whose superb self-contradictions range from heroic behavior and regret at the loss of Creusa, to consistent unawareness. In the loss of Creusa this unawareness is mixed with a strong feeling of disappointment (et comites natumque virumque fefellit, Aen. 2.744), colored with frustration and dismayed resentment as when an expectation is deluded or a convenant betrayed. Thus, by including these elements of forgetfulness, resentment, frustration and disappointment in Aeneas’ account of the loss of Creusa, Virgil prevents a completely straightforward understanding of his pietas«, 65. 780 Heinze  31915, 61 f. formuliert so: »Durchaus in Ordnung ist endlich, daß Aeneas zunächst so erzählt, als wisse er von der Offenbarung noch nichts, die ihm später zuteil geworden ist; das ist künstlerisch gefordert, um die folgenden Szenen nicht des Pathos zu berauben, sachlich gerechtfertigt durch die Lebhaftigkeit, mit der sich der Erzähler in das Schrecknis der Entdeckung und seine eigene Verzweiflung zurückversetzt.« Vgl. hierzu auch Johnson 1999, 56 f.

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zugeht. Wenn man als ›Erstleser‹ den Ausgang der Geschichte von Creusa nicht kennt, kann man den Ausdruck metaphorisch auffassen, etwa im Sinne von ›es war wie verhext, ich war so in Hast, dass ich nicht mehr bei klarem Verstand war‹. Aber die ungewöhnliche und spezifisch wirkende Formulierung male numen amicum fällt auf, und man mag ahnen, dass noch etwas mehr dahinter sein könnte. Wenn man nun aber als ›Wiederleser‹ weiß, dass Creusa durch eine Gottheit entrückt wird, kann man den Ausdruck als proleptischen Verweis auf einen numinosen, übernatürlichen Vorgang verstehen. Die umständliche Formulierung male numen amicum erhält dann Sinn: Die Gottheit, die Aeneas seine Frau entführt und ihn unaufmerksam macht, ist nicht wirklich feindlich, denn schließlich wird Creusa dem ihr bestimmten Schicksal zugeführt, aber eben auch ›nicht freundlich‹, sondern ›auf schlimme Weise freundlich‹, weil sie Creusa und Aeneas einander entreißt.781 Dass die Entrückung der Creusa zunächst von Aeneas unbemerkt vor sich geht,782 ermöglicht zudem das Motiv, dass Aeneas sich auf der Suche nach ihr ein weiteres Mal ins Stadtinnere begibt. Dies trägt zu der narrativen Strategie bei, die Flucht aus Troia nicht als die einfachere Lösung und als Desertion erscheinen zu lassen.783 Außerdem kann Aeneas so selbst Zeuge der vollendeten Einnahme der Stadt werden: Er sieht mit eigenen Augen und kann aus erster Hand berichten, dass die Tempelschätze geplündert werden (2,761–766a) und dass Frauen und Kinder in langen Reihen (als Gefangene) herumstehen (2,766b–767). Daraus geht hervor: Troia besteht nicht mehr und Aeneas verlässt gar nicht Troia, sondern lediglich den Ort, wo Troia einmal war.

9.2.11 Prophezeiung der Creusa [25] 2,776–789

Creusas Schatten*2/2 zu Aeneas

14

Innerhalb der Stadtmauern von Troia. Auf der Suche nach Creusa begibt Aeneas sich nochmals in das vom Feind bereits völlig beherrschte Stadtinnere, kann sie aber nirgends finden. Da erscheint ihm ihr schattenhaftes Abbild und prophezeit ihm seine Zukunft ohne sie. Creusas Erscheinung fordert Aeneas auf, ihren Verlust als gottgewollt hinzunehmen, und erklärt ihm, dass das Schicksal sie nicht als seine Begleiterin vorsehe. Ihm sei es bestimmt, lange über das Meer zu fahren, um schließlich in das hesperische Land zu gelangen, wo ihm im Gebiet des Flusses Tiber Herrschaft und die Hand einer Königstochter zuteil würden. Um sie selbst brauche er nicht zu

781 Zur Entrückung der Creusa in Hinsicht auf die Rolle der Venus siehe 11.3. 782 Eine Entrückungsszene vor Augen des Aeneas mit Stimme vom Himmel entwickelt Heinze 31915, 60 f. hypothetisch, um sie als lächerlich zu verwerfen. 783 Zur dreimaligen Orientierung des Aeneas nach Troia hinein als Besonderheit der vergilischen Iliupersis siehe 6.2.

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Figurenrede und szenisches Erzählen

weinen und sich nicht zu sorgen, da die große Muttergottheit sie vor einem Kriegsgefangenenschicksal bewahren werde. Creusas Schattenbild verabschiedet sich und empfiehlt das gemeinsame Kind Iulus seiner Fürsorge.784

Mit Creusas Verschwinden auf der Flucht wird die dramaturgisch erforderliche Entlassung ihrer Figur aus der Geschichte umgesetzt: Aeneas muss frei sein für die Affäre mit Dido, deren Beendigung die Feindschaft zwischen Rom und Karthago begründet, und für die Eheschließung mit Lavinia, durch die sein Herrschaftsanspruch in Latium besiegelt und die Grundlage für das künftige römische Weltreich geschaffen wird. In diesem Kontext hat Creusas letzter Auftritt als Schatten vor allem die Funktion, Aeneas von der Verantwortung für ihr Verschwinden zu entlasten und ihn jeder weiteren Sorge um sie zu entheben. Wie in 9.2.3 spricht auch in dieser Redeszene eine nicht natürliche Figur. Aber anders als bei dem Traum von Hector erkennt der angeredete Aeneas diesmal sogleich, dass nicht die gewohnte Creusa zu ihm spricht, die er gesucht hat, sondern deren Schattenbild (infelix simulacrum atque ipsius umbra Creusae |… et nota maior imago 2,772.773b). Dennoch versucht er am Ende dreimal, sie zu umarmen, und fasst dabei ins Leere: Sie ist entschwunden. Das Motiv des vergeblichen Greifens nach der Sprecherin dient dazu, deren Erscheinung als unkörperlich und übernatürlich zu charakterisieren. Die Ausdrucksweise ist emphatisch, insofern Creusa sich zweimal selbst mit ihrem Namen bezeichnet, im Sinn und Ton von ›deine Creusa‹ (2,778.784).785 Creusas Schicksal, wie es hier angedeutet wird, hebt sich positiv von dem der anderen Troianerinnen ab, die als Beutefrauen den griechischen Siegern zugeordnet werden. (Das markante Beispiel für ein solches Schicksal in der Aeneis ist Andromache: 3,326–327a; 2,766b–767a). Anders als diese wird Creusa zur großen Muttergottheit des asiatischen Festlandes entrückt. Diese Entrückung seiner Frau enthebt Aeneas dem Vorwurf, sie nicht aus Troia gerettet zu haben. Zugleich wird die Vorstellung vermieden, dass die erste Frau des Gründungsurahns von Rom und die Mutter des Gründers von Alba Longa irgendwo in Griechenland ihr Leben als Beutefrau fristet. Außerdem spricht Creusa Aeneas von allen Verpflichtungen ihr gegenüber offiziell los. Sie bleibt in Asien, während er nach Westen zieht, frei für eine neue monogame Bindung mit Lavinia, der Braut, die in ›Hesperien‹ auf ihn wartet. Und so unklar zum Zeitpunkt der Erzählung auch sein mag, wer und wo genau das ist: Dido, die direkte Adressatin der aktuellen Erzählung, sollte nun eigentlich wissen, dass sie jedenfalls nicht 784 Zum Inhalt der Prophezeiung siehe auch oben: 6.3. 785 Die Selbstbezeichnung der Sprecherin mit dem eigenen Namen erfolgt in Sätzen, in denen sie selbst nicht Subjekt ist. Die Namensnennungen stehen in obliquen Kasus (Akkusativ, Genitiv) und die regulären Personenbezüge der direkten Rede sind beibehalten, d. h. sie spricht nicht etwa von sich selbst in der 3. Person, wie es zuweilen von dieser Redeweise gesagt wird. Hierzu siehe 9.1.

Die dialogischen Szenen in Aeneis 2  

269

für Aeneas vorgesehen ist.786 Die Erscheinung der Penaten (3,154–171) und die Wegbeschreibung des Helenus (3,374–462), von denen Dido im weiteren Verlauf der Erzählung ebenfalls erfährt, weisen auch darauf hin, dass Karthago nicht der Ort sein kann, der Aeneas bestimmt ist. Es gibt Aeneas-kritische Interpretationen, die den Verlust der Creusa als Versäumnis des Aeneas auslegen. Solche Deutungen stehen aber zum Text in Widerspruch. Wie konstruiert und abwegig sie sind, lässt sich an den folgenden zwei Beispielen ablesen: 1) Grillo  2010 stellt außer einem Zusammenhang zu Hektors Abschied in Il. 6,442 f.: (»Aeneas lacks Hector’s tender care for his wife«, 48) unter anderem auch einen Zusammenhang zu Orpheus und Eurydice in georg. 4,457–527 her und interpretiert den Ausdruck dulcis coniunx (Aen. 2,777 ~ georg. 4,465) so: »Orpheus regards his spouse as dulcis coniunx, just as Creusa does hers, but the pattern is inverted, raising doubts about Aeneas’ feelings«, 49. Diese Textauslegung ist widersinnig und typisch für solche Interpretationen, die davon ausgehen, dass Aeneas in der Aeneis impliziert kritisiert werde. Aus der Umkehrung des Schemas ›Mann (Orpheus) nennt Frau (Eurydice) dulcis coniunx‹ zu ›Frau (Creusa) nennt Mann (Aeneas) dulcis coniunx‹ Zweifel an Aeneas’ Zuneigung zu Creusa (›feelings‹) abzuleiten, entbehrt jeder Logik. Es gibt keinen Anhaltspunkt, der das eine mit dem anderen verbände. Aus Creusas positiven Worten gegenüber Aeneas auf dessen mangelnde Liebe zu schließen, wäre in keinem Zusammenhang sinnvoll. Zieht man die Umstände der Redesituation in Betracht, nämlich dass Aeneas sich in die Stadt zurückbegeben und großer Gefahr ausgesetzt hat, um Creusa zu suchen, wird Grillos Behauptung absurd. Wenn Creusa Aeneas dulcis coniunx nennt, nachdem er sie aus den Augen verloren hat (sie entrückt wurde), dann zeigt das, dass sie ihm keinen Vorwurf macht. Im Sinne der Geschichte spricht sie von einer höheren, wissenderen Warte aus, akzeptiert ihr Schicksal und sanktioniert das Geschehen. 2) Für Lyne  1987 haben die Gefühle, die Aeneas nach dem Verlust seiner Frau zeigt, eine ostentative Verspätung, die andeuten solle, dass hier eine ›weitere Stimme‹ Aeneas’ Verhalten in Frage stelle: »Vergil provokes questions by intention and arrangement: by revealing Aeneas in this ›too late‹ paroxysm a further voice is prodding us.«787 Jedoch wird der Umstand, dass Aeneas das Verschwinden der Creusa zu spät bemerkt, innerhalb der Geschichte damit erklärt, dass es sich um ein göttliches Eingreifen handelt. Diese Erklärung kann einem nun gefallen oder nicht, im Sinne der Geschichte wird Aeneas von dem Vorwurf, er habe seine Frau vernachlässigt, freigesprochen. Etwaiges Missfallen an dieser Umsetzung des Mythos wäre – wenn schon – dem Autor anzulasten, nicht seiner Figur. Die noch grundsätzlichere Kritik am Motiv selbst (dass die 786 Vgl. Glei 1991, 141, der Dido eine »Mißachtung des Götterwillens« attestiert. 787 Lyne 1987, 170.

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Figurenrede und szenisches Erzählen

Frau aus der Geschichte verschwindet, nachdem sie ihre »›dynastische‹ Pflicht erfüllt« hat) mag aus heutiger Sicht ihre Berechtigung haben, aber beim Autor oder gar seiner Figur ein entsprechendes problematisches Bewusstsein vorauszusetzen, ist ahistorisch und führt bei der Interpretation des über 2000 Jahre alten Textes in die Irre.788 Insofern Creusas Prophezeiung für den informierten Rezipienten eine zukunftsgewisse Vorausdeutung darstellt, für den erlebenden Aeneas jedoch nur eine vage Verheißung, ähnelt die Szene in Hinsicht darauf, wie der vorausgesetzte Wissensstand des Protagonisten sich von demjenigen der Rezipienten unterscheidet, der Erscheinung des Hector (9.2.3). Entsprechend hat hier wie dort die Deutung einen Einfluss auf die Bewertung des Helden. So meinen manche, Aeneas vergesse oder missachte, was Creusa ihm sagt.789 Aber die Ortsangabe et terram Hesperiam invenies, ubi Lydius arva | inter opima virum leni fluit agmine Thybris (2,781 f.) ist Teil der Prophezeiung und keine Wegweisung: Der erzählte Aeneas hört hier zum ersten Mal von diesem Ort und hat keine Vorstellung, wo das Hesperien genannte Land liegen könnte. Klarheit in dieser Angelegenheit schafft später der zweite Orakelspruch des Apollo, den die Penaten Aeneas in Kreta überbringen, mit einer eindeutigen Ekphrasis (3,163–166).790 Innerhalb von Aeneas’ Erzählung bleiben Creusas Voraussagen unaufgelöst; innerhalb der Aeneis erweisen sie sich als zutreffend.

788 Vgl. hierzu: Glei 1991, 141. 789 Schauer 2007, 153 f., Anm. 375, sieht in der Erscheinung der Creusa (die ignoriert werde, 152, Anm. 371) »ein Relikt aus einer älteren Disposition des Epos«, »das Vergil mit der endgültigen noch nicht harmonisiert« habe. 790 Die Ortsnamen in Creusas Prophezeiung werden durch die Erscheinung der Penaten auf Kreta regelrecht kommentiert, siehe 6.3.

10 Gleichnisse: Prägnanz durch Abstraktion

Wie die Figurenrede hat auch das epische Gleichnis innerhalb der epischen Erzählung einen besonderen Status. Während aber dort (im ›dramatischen Modus‹, beim szenischen Erzählen) die Erzählerstimme hinter der direkten Rede zurücktritt, macht sie sich hier umgekehrt gerade bemerkbar. Denn unvermeidlich manifestiert sich in der Äußerung eines Vergleichswortes eine Instanz, die etwas für vergleichbar hält.791 Im Gleichnis ergänzt der Erzähler seine Schilderung des fiktionalen Geschehens durch einen Vergleich mit etwas, das selbst nicht Teil dieses Geschehens ist. Weil die Phänomene, die in den Gleichnissen zum Vergleich herangezogen werden, jeweils ihre eigenen Bedeutungszusammenhänge in die Erzählung hineintragen, ergeben sich vielfältige zusätzliche Assoziationsmöglichkeiten. Dies hat in der Aeneis-Interpretation, und zwar insbesondere im Anschluss an V. Pöschls »Die Dichtkunst Virgils. Bild und Symbol in der Äneis«,792 zu einer 791 Vgl. Beck 2014, 79: »the gap between the story of an epic simile and that of the main narrative calls attention to the presence of a narrator and to the status of the poem (and the simile) as fiction.« Wohlgemerkt ist es eine Erzählerstimme, die im Gleichnis hervortritt, nicht unbedingt der ›epische Dichter‹ (so Williams 1980, 177: »Similes are one very important means whereby the epic poet, with perfect generic propriety, can enter his own text«). 792 Die Monographie von Viktor Pöschl wurde zuerst 1950 in Baden bei Wien gedruckt. Eine englische Übersetzung erschien 1962 in Ann Arbor unter dem Titel »The Art of Vergil: Image and Symbol in the Aeneid« (G. Seligson). Das Werk erfuhr dann 1964 eine »zweite, erweiterte Auflage« bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt und wurde schließlich 1977 kaum verändert gegenüber der Ausgabe von 1964 ein weiteres Mal herausgebracht. Für eine kritische Einordnung von Pöschls Schrift und ihrer Wirkung vgl. Richmond 1976, 144: »Viktor Pöschl in the two editions (1950 and 1964) of Die Dichtkunst Virgils hurled defiance at the rationalism which had directed literary criticism of the Classics, set out a partly intuitive doctrine of imagery and symbolism which he detected in Virgil, and has inspired a host of scholars to flood the learned world with articles and with books, in which, when they turned stones in Virgil, they found, if not the ›angels’ wings‹ of Francis Thompson’s poem, at least ›many-splendoured things‹. I think it is fair to conclude from this mass of publications that Symbolism now occupies a predominant position in the contemporary criticism of Virgil’s work. Dissentient voices, however, have been heard from time to time, which have questioned in reviews and in articles the methods and the assumptions of the hunt for symbols in Virgil and other Latin poets«, unter Verweis auf La Penna 1967 und Eichholz 1968. Vgl. auch die Beobachtung von Eichholz  1968, 106, dass symbolische Deutungen oft keine große intellektuelle Anstrengung erfordern und außerdem einen forschungsgeschichtlichen

272

Gleichnisse: Prägnanz durch Abstraktion

intensiven Beschäftigung mit den in den Gleichnissen evozierten ›Bildwelten‹ geführt. Sie werden als Teil einer ›Bildersprache‹ respektive ›imagery‹ interpretiert und miteinander, aber auch weit über die eigentlichen Gleichnis-Zusammenhänge hinaus mit weiteren Kontexten (d. h. dem entsprechenden Buch oder auch der Aeneis im ganzen) und mit unterschiedlichen Prätexten (mit Ilias und Odyssee, mit den attischen Tragödien, mit den Dichtungen des Apollonios Rhodios und des Lukrez, mit den Georgica u. a.) interpretatorisch in Verbindung gebracht. Darüber treten die Gleichnisse als solche und ihr unmittelbarer Zusammenhang innerhalb der Erzählung bisweilen in den Hintergrund. Im Rahmen der Fragestellung, wie die Aeneis als Erzählung funktioniert, ist aber insbesondere von Interesse, welchen Sinn ein jedes Gleichnis an seinem Ort in der Erzählung hat. Hier sollen daher die in den Gleichnissen vorkommenden, zusätzlichen Inhalte weniger daraufhin betrachtet werden, welche Anspielungshorizonte sie eröffnen, als vielmehr daraufhin, was sie an der Stelle ihres Vorkommens zur Schilderung beitragen. Dazu werden zunächst grundsätzliche Überlegungen angestellt, die dazu dienen sollen, das Gleichnis als Mittel der erzählerischen Gestaltung theoretisch zu bestimmen und seine Verwendung in der Aeneis zu erfassen. Dabei wird eine Tendenz in der klassisch-philologischen Gleichnis-Interpretation kritisch hinterfragt, die darin besteht, die Ähnlichkeitsrelation im Gleichnis für unwesentlich zu halten und ihre Bestimmung gar nicht erst zu versuchen. Dass diese Interpretationsrichtung oft zu rein subjektiven, zuweilen aber auch zu erkennbar falschen Textdeutungen führt, kann an den Gleichnissen in Aeneis 2–3 gezeigt werden. Konzentriert sich die Betrachtung hingegen auf die Ähnlichkeitsrelation und den unmittelbaren Zusammenhang der Erzählung, wird deutlich, wie die vergilischen Gleichnisse dadurch, dass sie dem Rezipienten eine Abstraktionsleistung abverlangen, wesentliche Aspekte des erzählten Geschehens spezifisch definieren.

Rückschritt bedeuten können: »It is easy to stress symbolism at the expense of other aspects. It is above all a great temptation to fall back on a symbolic explanation when no other comes readily to mind.« Gärtner  1994, 13: »Pöschls ›Symbolismus‹ hat die Vergildiskussion stark beeinflußt. Insbesondere in der angloamerikanischen Forschung wurde der Ansatz bestimmend. Da er aber der Subjektivität Tür und Tor öffnete, blieben Überinterpretationen und in deren Folge harsche Kritik nicht aus. Diese mag berechtigt sein, wenn die Bedeutung eines Bildes oder Motives als Symbol zu hoch bewertet wurde. Doch für die Interpretation der Gleichnisse ist die Vorgehensweise Pöschls auch heute in vielen Punkten nicht überholt.«

Vergils epische Gleichnisse: Definition und Interpretation  

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10.1 Vergils epische Gleichnisse: Definition und Interpretation Das Gleichnis793 gehört in der griechisch-römischen Literatur seit der Ilias zu den typischen Gestaltungsmitteln der epischen Dichtung sowohl in ihrer narrativen Ausprägung (als heroisches Epos) als auch in ihrer didaktischen Ausprägung (als Lehrgedicht). Es handelt sich um eine literarische Figur, die einem Phänomen des geschilderten Zusammenhanges ein prinzipiell als bekannt vorausgesetztes Phänomen aus einem anderen Zusammenhang an die Seite stellt und so eine Ähnlichkeitsrelation794 zwischen beiden postuliert. Das Gleichnis kann als »ausgeführter« oder »erweiterter« Vergleich oder auch als »Großform des Vergleichs« beschrieben werden,795 insofern es in Abgrenzung zum bloßen Vergleich dadurch gekennzeichnet ist, dass das durch ein Vergleichswort eingeführte Bild nicht lediglich durch die bloße Nennung eines Vergleichsgegenstandes evoziert wird (›Er schrie wie ein Stier‹ ), sondern in einer eigenen syntaktischen Struktur präsentiert wird,796 z. B.: ›Er schrie entsetzlich zum Himmel empor und es hörte 793 Zu Begriffs- und Forschungsgeschichte siehe Rieks  1981, 1011–1034; Gärtner  1994, 21–43; Schindler 2000, 27–43. Zu antiken Theorien über Gleichnis und Vergleich siehe McCall  1969. Die »definition« von Gärtner / Blaschka  2019, 727 f. ist rein additiv und bildet ein Kompositum aus zitierten Definitionen. 794 Vgl. Heiniger 1996, 1000; Der Begriff ›Ähnlichkeitsrelation‹ bezeichnet das Verhältnis, das zwischen Verglichenem und zum Vergleich Herangezogenem besteht. Demgegenüber bezeichnen die vor allem in der älteren Literatur üblichen Ausdrücke tertium comparationis und ›Vergleichungspunkt‹ die Übereinstimmung als solche. 795 Suerbaum 1999, 274: »ausgeführter Vergleich«. Heiniger 1996, 1000: »eine Form des erweiterten Vergleichs«. Rieks 1981, 1012: »ausgeführte Vergleichung«. v. Wilpert  51969, 301, s.v. Gleichnis: »Großform des →Vergleichs«. 796 Vgl. Hornbostel 1870, 5: »Zunächst müssen wir, wie bei Homer, so auch bei Vergil einen wesentlichen Unterschied statuieren zwischen der einfachen Vergleichung und dem Gleichniß. Allerdings enthält Erstere den Keim zu Letzerem, doch ist sie in Form und Anwendung davon so verschieden wie die Skizze von einem Gemälde. Die Vergleichung in ihrer einfachen Form beschränkt sich auf die Nennung des herangezogenen Gegenstandes, den wir das Subject der Vergleichung nennen können, und verbindet denselben mit dem Hauptgegenstande, dem Object der Vergleichung, durch einen Vergleichungspartikel, wie velut, ceu, oder durch den Comparativ des Adjektivs, welches den Vergleichungspunkt enthält, oder endlich durch eine andere vergleichende Wendung wie instar c. G., aequus, similis, modo, in morem etc. etc., ohne ihm jedoch ein anderes Prädicat zu ertheilen als der Hauptgegenstand schon erhalten hat«. Carlson 1972, 153–159 unterscheidet zwischen ›kurzen Gleichnissen‹ (bei Hornbostel ›Vergleichungen‹), bei denen sich kein finites Verb findet, und ›ausgeführten Gleichnissen‹ (bei Hornbostel ›Gleichniß‹). Ein Grenzfall liegt in Aen. 2,516 vor, wo das Verhalten der troianischen Frauen mit dem Verhalten von Tauben bei Unwetter verglichen wird. Je nachdem, ob man den auf die Tauben bezogenen Präpositionalausdruck in tempestate als eigene syntaktische Struktur wertet oder nicht, wird man von einem Gleichnis sprechen oder nicht.

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Gleichnisse: Prägnanz durch Abstraktion

sich an, wie wenn ein Stier brüllt, der verletzt dem Altar entkommen ist und das Opferbeil, das ihn nicht richtig traf, abgeschüttelt hat.‹797 Beim Gleichnis im narrativen Epos – und nur dieses wird hier in Betracht genommen – verhält es sich regelmäßig so, dass ein Aspekt des fiktionalen Geschehens, also ein als akzidentell und bestimmt (z. B. durch Eigennamen bestimmt) vorgestelltes Ereignis (im Beispiel: Als die Meeresungeheuer ihn umschlungen hatten, schrie Laocoon) mit einem als bekannt vorausgesetzten Phänomen der Erfahrungswelt (im Beispiel: Gebrüll eines Stiers, der beim Opfer versehentlich nicht sofort getötet worden ist und verletzt vom Altar flieht) verglichen wird.798 Wie man sieht, treffen im Gleichnis zwei Referenzbereiche aufeinander: die Welt des fiktionalen Geschehens, die der Erzähler in seiner Erzählung gestaltet, und die Erfahrungswelt, deren Gegebenheiten vom Erzähler als bekannt vorausgesetzt und zum Vergleich herangezogen werden. Auf diese Weise enthält jedes Gleichnis zwei ontologisch voneinander verschiedene Ebenen. Dies wird besonders augenfällig, wenn Phänomene aus unterschiedlichen Zeiten und Orten einander gegenübergestellt sind, wie z. B. in Aen. 9,703–716, wo das InSich-Zusammensinken des tödlich getroffenen Bitias verglichen wird mit einer speziellen Technik, die beim Bau des Hafens von Baiae Anwendung fand:799 In diesem Gleichnis trifft ein fiktionales Geschehen der mythischen Vorzeit (eine Kampfhandlung im Krieg um Latium) auf römische Bautechnik des ersten vorchristlichen Jahrhunderts (die Aufschüttung der Hafenmole bei Baiae).800 Die Frage, welcher grundsätzliche Unterschied zwischen den Teilen des Vergleichs auf den beiden Seiten des Vergleichswortes besteht und welchen Bereichen das Verglichene und das zum Vergleich Herangezogene jeweils angehören, lässt sich für das narrative Epos allgemeingültig beantworten mit der binären Opposition ›zum fiktionalen Geschehen gehörig‹ und ›nicht zum fiktionalen Ge797 Nach Aen. 2,222–224. 798 Vgl. Knight 21944, 170 f.: »And the explanation of a thing is obviously helped by a knowledge of what it is like. Accordingly, epic poetry has many similes, that is, short passages comparing, to some well-known state of things, a new state of things, which has just occurred in the narrative.« 799 Zu dem Gleichnis, in dem der Bau des Hafens von Baiae vorkommt, siehe Coffey 1961, 69 f. mit Anm. 39; Hardie 1994, 222–224; Dingel 1997, 257 f. 800 In einem anderen Gleichnis steht der Tod der Dido, also das fiktionale Geschehen der mythischen Vorzeit, der Zerstörung Karthagos gegenüber, einem historischen Ereignis (4,665b–671). Zwar muss hier das Gleichnisbild wohl hypothetisch aufgefasst werden, weil nicht nur Karthago, sondern alternativ zusätzlich Tyros (das nicht zerstört wurde) als zerstörte Stadt genannt wird. (»Bei Didos Tod erhebt sich ein Geschrei, als ob Karthago oder Tyros zerstört würde.«) Die Andeutung auf die spätere Zerstörung Karthagos durch die Römer ist aber dennoch vorhanden, hierzu siehe Worstbrock 1963, 90. In 12,853–860 wird eine der Rachegöttinnen mit dem giftigen Pfeil eines Parthers (oder Kydoniers) verglichen. Für die Römer des ersten Jahrhunderts sind die Parther gefährliche Bogenschützen im Osten des Imperium Romanum, in der mythischen Vorzeit spielen sie jedoch keine Rolle.

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schehen gehörig‹. Während der verglichene Aspekt des fiktionalen Geschehens Teil der fiktionalen Welt ist, gehört das zum Vergleich herangezogene Phänomen nicht zur fiktionalen Welt. Außer dem ontologischen Status ist auch die Frequenz ein verallgemeinerbares Kriterium: Der Aspekt des fiktionalen Geschehens, der in einem Gleichnis mit etwas anderem verglichen wird, ist als einmaliges, bestimmtes Vorkommnis gedacht, während das andere, mit dem der Aspekt des fiktionalen Geschehens verglichen wird, nicht einmalig, sondern typisch, generisch oder paradigmatisch vorzustellen ist.801 Andere Kriterien als die Zugehörigkeit zum fiktionalen Geschehen und die Frequenz sind zur Definition aus unterschiedlichen Gründen weniger gut geeignet. Zu unspezifisch ist das Kriterium von Williams  1983, der den Unterschied zwischen den beiden Aspekten des poetischen Textes, die im Gleichnis zusammentreffen (wie er formuliert), in der zeitlichen Differenz zwischen dem 12. Jahrhundert (so datiert er das in der Aeneis erzählte Geschehen) und dem Zeitalter des Augustus (als Abfassungszeit der Aeneis) sieht.802 Letztlich umschreibt er damit in einer etwas verkürzten Ausdrucksweise die epistemische Differenz, die Erzähltexten allgemein innewohnt und als solche kein besonderes Kennzeichen der Gleichnisse ist, wenn sie sich auch im Gleichnis durch die Implikation einer vergleichenden Instanz und das Hinzuziehen eines nicht zum fiktionalen Geschehen gehörigen Phänomens in besonderer Weise manifestiert. Ebenfalls definitorisch nicht hinreichend ist eine Gegenüberstellung von Mensch und Natur, wie sie bei den homerischen und vergilischen Gleichnissen803 801 Zu verschiedenen Abstufungen der Frequenz des Vorkommens vgl. Hornbostel 1870, 19: »Um das Gleichniß als eine dem Hörer wohlbekannte Erscheinung zu bezeichnen, bedient sich der Dichter des hinweisenden ille, welches zugleich die Aufmerksamkeit auf das nachfolgende Subjekt spannt, z. B. Aen, 10,707. 11,809, auch des auf das öftere Vorkommen der Sache verweisenden saepe, Aen. 1,148. 5,273 u. 527, oder des schwächeren quondam, in der Bedeutung ›zuweilen‹, wie Aen. 2,416. 7, 699, Georg. 3,99. 4,260, wofür Aen. 8,391 auch olim und Aen. 12,749 nach si auch quando eintritt.« 802 Williams 1983, 166: »First, the simile measures the gap between two aspects of the poetic text: on the one hand, the narrative in which the poet imagines himself engaged (along with his reader) in events of the twelfth century as they actually take place ; on the other hand, the persona – by no means to be regarded as identical with the poet’s personal identity as an individual – in which he is a poet occupied with poetic problems in the age of Augustus. Second, in virtue of the textual establishment of that gap, the simile represents the voice of the poet speaking in the authentic tones of a man of the Augustan age, redressing the events of the twelfth century B. C. by appeal to a timeless world which includes the age contemporary with the poet.« 803 Der Ausdruck ›homerisches Gleichnis‹ bezeichnet hier wie im folgenden ein Gleichnis, das in Ilias oder Odyssee vorkommt; er impliziert keine Definition eines besonderen Gleichnistypus. Analog steht ›vergilisches Gleichnis‹ für ein Gleichnis in der Aeneis (nicht jedoch in den Georgica: Es werden ausschließlich die Gleichnisse im erzählenden Epos in Betracht genommen).

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zuweilen ins Spiel gebracht wird. Die Annahme hierbei ist, dass im Gleichnis prinzipiell etwas Menschliches (d. h. das Aussehen, die Situation oder die Handlung eines oder mehrerer Menschen) durch ein natürliches Phänomen erklärt werde. In diesem Sinne wird das erste Gleichnis der Aeneis, das ›Staatsmanngleichnis‹ in 1,131–156 (Neptun besänftigt die Winde im Seesturm wie ein respektierter Staatsmann eine aufgebrachte Menge beruhigt) als markante Umkehrung der üblichen Verhältnisse angesehen.804 Die Sonderstellung und der programmatische Charakter dieses ersten Gleichnisses in der Aeneis stehen außer Frage.805 Was aber die Gegenüberstellung von Mensch und Natur zu den beiden Seiten im Gleichnis angeht, so ist zunächst anzumerken, dass der Seesturm eigentlich gar nicht als Naturvorgang erscheint, weil sein Nachlassen allegorisch in Form von Götterhandlung dargestellt ist: Der Meeresgott spricht zu den personifiziert gedachten Winden (1,131–141) und bewirkt dadurch die Wiederherstellung ruhiger Verhältnisse (1,142–147). Neptuns Eingreifen – und nicht das plötzliche Nachlassen des Seesturms – wird mit dem Eingreifen des Staatsmannes als einer Respektsperson verglichen. Dass Neptun dem ungehörigen Verhalten der Winde ein Ende setzt, ist Teil der Götterhandlung: ein bestimmtes, einmalig zu denkendes Geschehen. Dem steht im Gleichnis die generische Vorstellung von einem angesehenen Staatsmann gegenüber, der durch sein Auftreten als Respektsperson eine aufgewühlte Menge besänftigt.806 Verglichen

804 So z. B. Beck 2014, 71: »this simile inverts a fundamental feature of Homeric similes in that it illustrates a natural phenomenon by comparing it to a human one rather than the reverse«, unter Verweis auf die Vergilausgabe von Thomas L. Papillon und Arthur E. Haigh in Anm. 13: »Papillon and Haigh (1892 ad 1.148–53) offer a particularly concise and useful formulation of this well-known idea: ›this simile, one of the most original in Virgil, is an illustration of Nature from man, the reverse being generally the case in Virgil and Homer‹«. Austin 1971, 68: »it illustrates nature by the behaviour of man«. Coffey 1961, 68: »The first simile in the Aeneid is taken from Roman political life (1,148): Neptune calms the sea in the way that a statesman who is respected for his personal prestige mollifies a seditious mob. Homer compares a turbulent crowd to a rough sea (Iliad 2,144) and the comparison was popular in Roman rhetoric also; Vergil reverses the usual picture and context, so that the mob becomes the simile and the sea the object of comparison.« 805 Hierzu siehe Beck 2014. 806 Vgl. Pöschl 31977, 21 (21964, 36): »die Idee des Staatsmanns, dessen Autorität die Menge in Bann schlägt.« Den Vorschlag, dass eine Anspielung auf eine bestimmte historische Situation (Cato im Jahre 54, cf. Plut. Cato minor, 44) vorliege, hält Pöschl zu Recht für unbeweisbar und für nicht entscheidend; vgl. Conway 1931, 70 f., Anm. 4: »There is another reference to Cato in a passage where he is not named, but where the commentators on Plutarch have identified him through the likeness of the story to Vergil’s picture of the statesman revered for his goodness and public service who quieted a multitude as Neptune calmed the sea. It is conceivable that Vergil was present in this scene in the Forum during Cato’s praetorship of 54 B. C.; in any case he must have known it by report. See Plut. Cato Minor, xliv; Verg., Aeneid, i. 151.«

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wird also in erster Linie das Verhalten von Personen.807 Der natürliche Vorgang des Seesturms wird als Götter-Handlung, das heißt als Handlung menschenartiger Personen, dargestellt und als solche mit einem typischen menschlichen Verhaltensmuster verglichen. Im Vergleich selbst findet also gar keine Gegenüberstellung von Mensch und Natur statt.808 Betrachtet man sämtliche Gleichnisse in der Aeneis im Hinblick darauf, wo jeweils Menschliches und wo Natürliches begegnet, so findet man, dass auf der Seite des Verglichenen tatsächlich ausschließlich solche Aspekte des erzählten Geschehens stehen, die Figuren betreffen, sei es ihr Aussehen, ihr Verhalten, ihre Empfindungen oder ihre Anordnung im Raum. Da es sich bei den Figuren im narrativen Epos um menschliche respektive, bei den Göttern, um menschenartig vorgestellte Figuren handelt, kann man also festhalten, dass das Verglichene grundsätzlich dem Bereich ›Mensch‹ zugeordnet werden kann. Demgegenüber decken die Bereiche, aus denen die Vergleichsgegenstände in der Aeneis stammen, ein breites Spektrum ab.809 Wenn unter ihnen natürliche Phänomene, insbesondere Witterungsereignisse und das Verhalten von Tieren, bei weitem in der Überzahl sind, so kann dieser Umstand schlüssig damit erklärt werden, dass sich an ihnen generische Situationen und Vorgänge eben leicht beobachten und wiedererkennbar aufrufen lassen: Natürliche Phänomene werden zum Vergleich herangezogen, weil sie zur Erfahrungswelt gehören und als bekannt oder leicht vorstellbar vorausgesetzt werden können und wiederholt vorkommen. Entsprechend ist menschliches Verhalten als Vergleichsgegenstand nur dann geeignet, wenn es sich um typisches, wiederholbar gedachtes Verhalten handelt. In der Aeneis sind dies:

807 Wie die in Anm. 804 genannten Autoren verkürzt auch Heinze  31915, 206 Anm. 1: »Indem er das erregte und beruhigte Meer mit einer aufrührerischen und beruhigten Volksmasse vergleicht, kehrt er einen in Rom populären Vergleich um: Cic. Cluent. 130: intellegi potuit id quod saepe dictum est: ut mare, quod sua natura tranquillum sit, ventorum vi agitari atque turbari, sic populum Romanum sua sponte est placatum, hominum seditiosorum vocibus et violentissimis tempestatibus concitari.« Der Vergleich ist im übrigen nicht nur umgekehrt, sondern auch vollkommen anders perspektiviert: In der Aeneis steht das beruhigende Eingreifen eines Staatsmannes im Fokus, nicht die Erregbarkeit der Menge durch Aufrührer. 808 Daher ungenau und in der Folgerung viel zu weitgehend Pöschl 31977, 22 (21964, 38): »Daß im Neptungleichnis ein natürlicher Vorgang durch einen politischen gedeutet wird, ist ein Zeichen dafür, daß umgekehrt auch die Natur ein Sinnbild der politischen Ordnung ist. Der Vergleich, der beide Sphären verknüpft, wird zum Ausdruck des symbolischen Bezugs von Natur und Politik, von Mythos und Geschichte, der der Äneis zugrunde liegt.« 809 Zu den Vergleichsgegenständen, auch in Relation zu Ilias, Odyssee und den Argonautica des Apollonios Rhodios, siehe Wilkins 1921, die für die Gleichnisse in Aeneis, Georgica und Eklogen eine Übersicht nach sinnvollen Kategorien bietet; siehe auch: Coffey 1961; Gärtner 1994, 266.

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1) das Auftreten einer Respektsperson, welche die Autorität besitzt, eine aufgebrachte Menge zu beruhigen810 2) die künstlerischen Maßnahmen, die einem Kunstwerk die letzte Vollendung geben811 3) das Erschrecken eines Menschen vor einer aufgestörten Schlange812 4) das Fällen eines Baumes813 5) die schauspielerische Darbietung von Wahnsinn in der Rolle des Pentheus oder des Orest814 6) die feindliche Einnahme und Zerstörung einer Stadt durch Feuer815 7) der Start beim Wagenrennen816 8) das Ausspähen einer Zugangsmöglichkeit zu einer befestigten Stadt oder Festung817 810 1,131–156: Neptun weist in einer Rede die Winde zurecht und beruhigt den Seesturm wie ein Staatsmann eine aufgebrachte Menge beruhigt; Büchner 1955, 319: »ein Bild, das jeder Römer erlebt hat«. 811 1,588–593: Venus verleiht ihrem Sohn seidiges Haar, den glänzenden Schimmer der Jugend und seinen Augen blühende Schönheit, wie man Elfenbein glänzend poliert oder parischen Marmor und Silber mit Gold einfasst; zu diesem Gleichnis siehe Coffey 1961, 70. 812 2,379–381: Androgeos bemerkt, dass er eine Gruppe troianischer Krieger irrtümlich für Griechen gehalten hat, und erschrickt wie einer, der versehentlich eine Schlange aufgestört hat; hierzu siehe 10.4.4. 813 2,626–631: Troia fällt unausweichlich, wie eine fachmännisch gefällte Esche; hierzu siehe 10.4.9. 814 4,465b–473: Dido hat im Albtraum eine Wahnvorstellung, so wie das bei Pentheus oder Orest auf der Bühne (in Rom) dargestellt zu werden pflegt: Didos Wahn (in der erzählten Welt) wird verglichen mit Wahn, wie er in der Erfahrungswelt der Rezipienten der Aeneis im Theater zu sehen ist. Dass die Aeneis das Theater für die mythische Vorzeit voraussetzt, zeigt sich darin, dass in Didos Karthago ein Theater gebaut wird, cf. 1,427b–429, aber die Annahme, dass Dido sich selbst (im Traum!) mit Pentheus respektive Orestes vergleicht, als hätte sie entsprechende Tragödien im Theater gesehen (so tatsächlich Polleichtner 2013, 153–157), ist abwegig. Dido hat eine Wahnvorstellung wie Pentheus oder Orest, aber nicht deren Wahnvorstellungen, sondern ihre eigene, und zwar sucht sie im Traum ein leeres Gelände nach den Troianern ab, während Pentheus die Eume­ niden zu sehen glaubt und Orest seine Mutter. Die eigenwillige Interpunktion mit einem Schlußpunkt nach terra in 4,468, die Polleichtner 2013, 153 neu einführt, ohne dies zu begründen oder auch nur zu erwähnen, ist falsch. Polleichtner bezieht videt in 4,469 auf Dido und bringt dadurch die Syntax durcheinander. Tatsächlich ist Pentheus das Subjekt zu videt in dem durch veluti eingeleiteten Vergleichssatz, der in aut mit Orestes als zweitem Beispiel fortgeführt wird. 815 4,665b–671: Bei Didos Tod erhebt sich ein Geschrei, als ob Karthago oder Tyros eingenommen und in Brand gesetzt würde (hypothetisch: s. o.). 816 5,139–157: Bei der Regatta starten die Schiffe schneller und kraftvoller als die Wagen beim Rennen. 817 5,439–442: Im Boxkampf versucht Dares, bei Entellus eine Blöße zu finden, wie einer, der Zugang zu einer befestigten Stadt oder Festung gewinnen will.

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9) das Spiel mit einem Kreisel818 10) die Gewohnheit, nachts fleißig zu arbeiten819 11) eine spezielle Bautechnik820 12) das kontrollierte Abbrennen einer Fläche821 13) das Unterstellen bei Niederschlag822 14) das Abschießen eines giftigen Pfeils823 Bei diesen Vergleichsgegenständen aus der menschlichen Sphäre handelt es sich zumeist um Kulturtechniken, bei deren Schilderung die Ausübenden entweder impliziert sind824 oder in einer generischen Formulierung825 genannt werden. Wer die Tätigkeit jeweils ausübt, ist unerheblich. Nur der Staatsmann und die dem Vulcanus vergleichend an die Seite gestellte fleißige Frau, die nachts arbeitet, um ihre Kinder durchzubringen 8,407–415, treten als Persönlichkeiten stärker hervor. Aber auch sie sind keine bestimmten Personen, sondern Typen: Sie verkörpern jeweils ein typisches Verhalten in einer typischen Situation, das für eine bestimmte Gruppe von Menschen (Respektspersonen respektive fleißige Hausfrauen), wenn auch nicht für alle Menschen charakteristisch ist. Die genannte Gruppe umfasst insgesamt 14 Vergleichsgegenstände, bei denen es sich nicht um natürliche Phänomene handelt.826 (Einen Grenzfall stellt das 818 7,373–384: Amata, von Allecto angetrieben, bewegt sich wahnsinnig durch die Stadt wie ein von Kindern getriebener Kreisel; zu diesem Gleichnis siehe Coffey 1961, 70 f. 819 8,407–415: Vulcanus steht nachts auf und beginnt, die neue Ausrüstung für Aeneas herzustellen, wie eine Frau, die zu nachtschlafender Zeit Handarbeiten erledigt; zu diesem Gleichnis siehe Coffey 1961, 68; Jachmann 1958, 284 Anm. 57: »das thematische Schwergewicht liegt durchaus im Temporalen«. 820 9,703–716: Der troianische Krieger Bitias sinkt sterbend in sich zusammen wie ein Turm, der zum Einsturz gebracht wird, um eine Hafenmole aufzuschütten; hierzu siehe auch oben mit Anm. 799. 821 10,405–411: Die Tapferkeit der Verbündeten vereinigt sich wie die Flammen eines kontrollierten Brandes. 822 10,802a–810a: Aeneas bleibt in Deckung wie ein Wanderer, der sich unterstellt und besseres Wetter abwartet. 823 12,853–860: Jupiter schickt eine Dira los, und wie der giftige Pfeil eines Parthers oder Kydoniers schnellt sie zur Erde. 824 Impliziert sind menschliche Ausführende z. B. in 5,139–157 beim Wagenrennen (Nr. 6 in der Liste). 825 Die Erwähnung der Ausführenden erfolgt in generischen Formulierungen z. B. durch die Verwendung eines unspezifischen Relativsatzes, so z. B. in 2,379–381 und 5,439–442: velut qui – »wie einer, der« oder durch die Verwendung des generischen Plurals, so z. B. in 2,626–631: agricolae – nicht näher bestimmte »Landleute« und in 7,373–384: pueri nicht näher bestimmte »Kinder«. 826 Zum Verhältnis Mensch und Natur im vergilischen Gleichnis vgl. Hornbostel 1870, 8: »Zwei große Gebiete sind es, denen der Dichter seine Gleichnisse entlehnt, das Menschenleben und die Natur, jenes in seinen mannigfachen Bethätigungen, diese in dem reichen Wechsel ihrer Erscheinungen. Zwar ist das Menschenleben ja selbst schon Objekt der epischen Dichtung und gehören mithin die Subjekte der Haupthandlung derselben Gattung

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Brüllen eines beim Opfer verletzten Stiers dar,827 insofern es sich um die natürliche Reaktion eines Tieres auf einen unnatürlichen Vorgang handelt.) Eine weitere Gruppe von Vergleichsgegenständen, bei denen es sich ebenfalls nicht um natürliche Phänomene handelt, kommt hinzu: Es gibt in der Aeneis 13 Gleichnisse, die auf mythische Gestalten oder Zusammenhänge rekurrieren.828 Wenn man von insgesamt 104 Gleichnissen in der Aeneis ausgeht,829 ergibt sich also, dass nicht in allen, sondern lediglich in 76 oder 77 von ihnen (was einem Anteil von 74 % entspricht) etwas Menschliches mit etwas Natürlichem verglichen wird. Als Kriterium der Gleichnis-Definition greift der Gegensatz Mensch und Natur folglich zu kurz. Ebenfalls kein hinreichendes Kriterium der Gleichnis-Definition kann die Gegenüberstellung von Mensch und Gott sein, weil man sie in der Aeneis insgesamt in nur fünf Gleichnissen findet. In dreien dieser fünf Gleichnisse wird das Verhalten eines Menschen mit dem eines Gottes verglichen: 1) Dido – Diana: 1,496–504 2) Aeneas – Apollo: 4,141–150 3) Turnus – Mars: 12,324–340 Bei den beiden übrigen ist es andersherum:830 1) Neptunus – Staatsmann: 1,142–156 2) Vulcanus – Hausfrau: 8,407–415

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an, wie die menschlichen Subjekte der Gleichnisse, aber es ist auch garnicht nöthig, daß beide verschiedenen Gattungen angehören, wenn sie nur in verschiedenen Situationen dargestellt werden; nur wird die Zahl dieser Gleichnisse kleiner sein, weil der Vergleichungspunct stets stärker hervortritt, wenn das simile einer anderen Gattung angehört.« 2,222–224: Laocoon brüllt wie ein verletzter und flüchtiger Opferstier. Diana, wie sie den Reigen der sie umgebenden Baumnymphen anführt (→Dido) 1,496–504. Apollo, wie er strahlend auf dem Berg Kynthos einherschreitet (→Aeneas) 4,141–150. Das kultische Rasen einer Mänade (→Dido) 4,300–303. Das Muster des kretischen Labyrinths (→Reiterformationen beim »Troiaspiel«) 5,580–595. Cybele (→Roma)  6,781–787. Die Reichweite von Hercules und Bacchus auf der Erde (→geringer als diejenige des Augustus) 7,791–805. Zwei losstürmende Kentauren (→Zwillinge aus Tibur) 7,670–677. Die Unterwelt (→Cacus’ Höhle) 8,236–250. Der hundertarmige Aegaeon (→Aeneas in der Schlacht) 10,565–570a. Gespenster und Traumbilder (→Junos Aeneas-Nachbildung für Turnus) 10,636–644. Der Jäger Orion, riesenhaft ausschreitend (→Mezentius in der Schlacht) 10,762–768. Amazonen in Begleitung der Hippolyte oder der Penthesilea (→Camillas Kampfgefährtinnen) 11,648–663. Mars, wie er zum Krieg treibt (→Turnus) 12,326–340. Zur Zählung der Gleichnisse in der Aeneis siehe Anm. 916. Angesichts dieses Verhältnisses von 3 zu 2 ist keine der beiden Richtungen ›normal‹ oder ›erwartbar‹; so jedoch Gärtner / Blaschka 2019, 745: »The pecularity lies in the spheres compared: a god in the narration is compared to a mortal in the simile; thus the normal or expetecd configuration is inverted.« Was jedoch konstatiert werden kann: In den drei Fällen, in denen ein Mensch mit einer Gottheit verglichen wird, handelt es sich auf beiden Seiten um spezifische Figuren, während es sich in den beiden Fällen, in denen eine Gottheit mit einem Menschen verglichen wird, auf der menschlichen Seite nicht um bestimmte Personen handelt, sondern um ›Typen‹.

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Ein weiteres Kriterium, das im Rahmen von Gleichnis-Theorien auftaucht, ist das der Bekanntheit. So verlangt Quintilian vom Redner, dass ein zum Vergleich herangezogenes Phänomen bekannter sein muss als der Sachverhalt, den es erhellen soll. Den Dichtern gesteht Quintilian allerdings ausdrücklich Ausnahmen von dieser Vorschrift zu: Quo in genere id est praecipue custodiendum, ne id quod similitudinis gratia adscivimus aut obscurum sit aut ignotum: debet enim quod inlustrandae alterius rei gratia adsumitur ipsum esse clarius eo quod inluminat. Quare poetis quidem permittamus sane eius modi exempla: ›qualis ubi hibernam Lyciam Xanthique fluenta deserit aut Delum maternam invisit Apollo‹: non idem oratorem decebit, ut occultis aperta demonstret.831 Dabei ist vor allem darauf zu achten, dass das, was wir zum Vergleich heranziehen, nicht dunkel oder unbekannt ist. Was zur Erläuterung einer anderen Sache herangezogen wird, muss selbst klarer sein, als dasjenige, das es erläutert. Aus diesem Grund erlauben wir zwar den Dichtern durchaus Beispiele in der Art von: »wie Apollo, wenn er das winterliche Lykien und des Xanthus Fluten verlässt oder Delos, die Insel seiner Mutter, aufsucht«, dasselbe gehört sich aber nicht für den Redner, dass er mithilfe von Entlegenem Offenkundiges veranschaulicht.

Aber selbst wenn die Bekanntheit – in der Dichtung – kein Kriterium darstellen soll, das die beiden Seiten im Gleichnis voneinander unterscheidet, handelt es sich bei ihr dennoch um einen wesentlichen Aspekt der Gleichnis-Bildung und -Rezeption, der nähere Betrachtung verdient. Das Gleichnis, aus dem Quintilian zitiert, ist das Aeneas-Apollo-Gleichnis in Aen. 4,141–150.832 Hinter dem Zitat steht das Argument, dass kein Mensch den Gott Apollo je gesehen hat, dass also Apollos Auftreten mindestens ebenso unbekannt ist wie dasjenige des Aeneas oder eigentlich sogar unbekannter, da es sich bei Aeneas um einen Menschen handelt, bei Apollo aber um einen Gott. In Abweichung von Quintilians Anwendung dieses Beispiels könnte man hier eine kulturell etablierte Vorstellung von Apollos würdigem Auftreten postulieren, auf die sich das Gleichnis bezieht, so dass das zum Vergleich herangezogene Phänomen gar nicht als unbekannt eingeordnet werden müsste. Man würde also das mythisch-literarische Motiv der Erfahrungswelt zuschlagen.833 Außerdem fällt auf, dass Apollos Auftreten im 831 Quint. inst. 8,3,73 f. 832 Quintilian zitiert die Verse 4,143 f. Er hat aut Delum, während die uns erhaltenen Handschriften ac Delum überliefern. Die Abweichung ist insofern bemerkenswert, als Quintilians Lesart suggeriert, dass zwei voneinander unabhängige Vorgänge angedeutet werden sollen, während unser Text ein zusammenhängendes Ereignis beschreibt. 833 So Hornbostel 1870, 8 mit der Begründung, dass die antiken Götter anthropomorph zu denken sind: »In das Gebiet des Menschenlebens müssen wir für das Gleichniß auch die antike Götterwelt ziehen, denn nur nach ihrer menschlichen Leiblichkeit können die Götter im Gleichniß verwandt werden, nur insofern sie selbst, ihre Gestalten und

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Gleichnis detailliert beschrieben wird (4,145–149a). So wird das mythologische Motiv im Gleichnis zwar als bekannt eingeführt, aber doch noch so weit elaboriert, dass eine einigermaßen klare Vorstellung entsteht. Ähnliches trifft auch für die übrigen Gleichnisse mit mythologischem Vergleichsgegenstand in der Aeneis zu: In ihnen wird ein Mythologem als bekannt vorausgesetzt, aber doch soviel Information geboten, dass für das Verstehen des Gleichnisses eigentlich keine Vorkenntnisse erforderlich sind. Grundsätzlich gilt jedenfalls: Damit ein Gleichnis als solches funktionieren kann, muss die in ihm postulierte Ähnlichkeitsrelation für den Rezipienten erkennbar sein. Dies setzt voraus, dass ihm das in der Vergleichung genannte Phänomen bekannt ist oder ihm im Gleichnis hinreichend vorgestellt wird. In dieser Hinsicht besteht nun bei den antiken Epen ein bemerkenswerter Unterschied zwischen solchen Rezipienten, deren Erfahrungswelt mit der Erfahrungswelt eines antiken Autors weitgehend übereinstimmt einerseits, und den mittlerweile weitaus zahlreicheren Rezipienten aus anderen, späteren, z. B. stärker industrialisierten Kulturen andererseits. So werden die wenigsten heutigen Leser der Aeneis jemals das Gebrüll eines Stieres gehört haben, den ein unsicher geführtes Beil ungünstig getroffen hat, ja die Vorstellung davon mag den meisten von ihnen beinahe ebenso fern liegen wie die Vorstellung von den Schreien eines Mannes, der von zwei riesigen Meeresschlangen umschlungen wird. Die meisten modernen Rezipienten sehen sich bei diesem Gleichnis zwei Phänomenen gegenüber, von denen sie keines aus ihrer eigenen alltäglichen Erfahrung kennen. Ein weiterer Unterschied zwischen den zeitgenössischen römischen und den späteren Rezipienten besteht bei dem Gleichnis mit dem verwundeten Stier in der kulturellen Bedeutung des zum Vergleich herangezogenen Phänomens: Die hier evozierte, römische Vorstellung, dass es ein schlechtes Zeichen darstellt, wenn ein zum Opfer bestimmtes Tier vom Altar wegläuft oder brüllt,834 ist bei den modernen Rezipienten nicht Teil ihres kulturellen Bewusstseins, sondern eine Sachinformation zu einer historischen religiösen Praxis. Die modernen Rezipienten müssen hier also auf außertextliche Informationen rekurrieren, um Thätigkeiten ideale Nachbildungen der Menschen sind«. Hornbostel unterscheidet zwischen einer direkten Vorstellung von der Götterwelt, die bei Homer vorausgesetzt sei, und einer künstlerisch (literarisch oder bildnerisch) vermittelten Götterwelt, die bei Vergil vorausgesetzt werde: »wo also Homer die in Gleichnissen verwandten Götter als im Volksbewußtsein constante und somit bekannte Gestalten voraussetzt, sieht Vergil sie als aus den Kunstwerken der Poesie und Plastik bekannt an.« 834 Hierzu siehe Wissowa 21912, 416: »ja sogar der Schein muß vermieden werden, als werde das Tier gewaltsam zum Opfer geschleppt: muß man es zerren oder tragen oder macht es gar einen Fluchtversuch, so ist das ein Zeichen, daß die Gottheit es verschmäht«, mit Anm. 6: »Paul. p.244: piacularia appellabant, quae sacrificantibus tristia portendebant, cum aut hostia ab ara effugisset aut percussa mugitum dedisset aut in aliam partem corporis quam oporteret cecidisset«; Kleinknecht 1944, 75 f.; Latte 21967, 388; Horsfall 2008, 200–202; Casali 2017, 174.

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den Text in seiner kulturellen Alterität zu verstehen. Das heißt, sie müssen das eigene Vorstellungsvermögen ungleich stärker bemühen als die zeitgenössischen Rezipienten. Ähnlich verhält es sich, wenn in einem Gleichnis das ruhelose Umherschweifen der verliebten Dido mit dem einer waidwunden Hirschkuh verglichen wird835 oder in einem anderen die Steigerung von Aeneas’ Schönheit an Augen und Haar mit den künstlerischen Techniken, Elfenbein Glanz zu verleihen oder Marmor und Silber mit Gold einzufassen.836 Beides, das Verhalten waidwunder Wildtiere sowie die Bearbeitung und das Aussehen antiker Kunstwerke (speziell solcher aus kostbaren Materialien, die seltener erhalten sind) kennen wir Heutigen weniger aus direkter eigener Alltagserfahrung als vielmehr vermittelt (›medial‹) aus Filmaufnahmen, Bildbänden oder Museen. Unter den Gleichnissen der Aeneis sind also solche, die früheren Rezipienten aus der eigenen Erfahrungswelt heraus anschaulich waren, die aber inzwischen zeitbedingt an unmittelbarer Anschaulichkeit eingebüßt haben und nunmehr über die intellektuelle Aneignung der fremden Erfahrungswelt erschlossen werden müssen. Hingegen können Gleichnisse mit Phänomenen, die der Erfahrungswelt heutiger Rezipienten noch stets angehören, wie manche Naturvorgänge, überzeitlich stark wirken. Dies ist z. B. der Fall, wenn die ungerührte Unerschütterlichkeit des Aeneas, den Didos Schwester Anna mit Klagen bedrängt, verglichen wird mit der Standfestigkeit einer Eiche in den Alpen, an welcher der Wind rüttelt,837 oder wenn der Glanz von Aeneas’ neuem Brustpanzer verglichen wird mit dem rötlichen Schimmern einer dunklen Wolke, durch die sich die Sonne bricht.838 Es ergibt sich folglich für die nachantiken Rezipienten eine rezeptionsästhetische Diskrepanz zwischen solchen Gleichnissen, die aus der eigenen Erfahrungswelt heraus spontan und intuitiv nachvollzogen werden können, und solchen, die erst durch den Rekurs auf speziell angeeignetes oder anzueignendes Wissen erschlossen werden müssen. Für die Interpretation der Gleichnisse folgt daraus, dass die aus dieser Diskrepanz resultierenden Unterschiede in der Rezeption der Gleichnisse nicht auf die Gleichnistechnik an sich und die Gleichnisse als solche zurückgeführt werden dürfen. Dies gilt genauso für die individuell unterschiedliche Vertrautheit mit den zum Vergleich herangezogenen Phänomenen. H. Fränkel begegnet den zeit- und erfahrungsbedingten Unterschieden hinsichtlich der Wirkung einzelner Gleichnisse in seiner Studie zu den homerischen Gleichnissen aus dem Jahr 1921, indem er einen ›homerischen Menschen‹, postuliert, der vom ›modernen Menschen‹ verschieden sei. Fränkels Konstruktion vom ›homerischen Menschen‹, den er auch als ›Anschauungsmensch‹ bezeich835 Aen. 4,67–73; hierzu siehe Otis 1964,71 f. 836 Aen. 1,588–593; vgl. hierzu: Coffey 1961, 70. 837 Aen. 4,437–449. 838 Aen. 8,616–625.

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net, bleibt allerdings undifferenziert. Sie beruht auf völlig unbewiesenen und teilweise leicht zu widerlegenden Behauptungen wie zum Beispiel der, dass ein ›homerischer Mensch‹ sich eine Herde immer mit einem Hirten denke, dessen Fehlen gegebenenfalls eigens erwähnt werden müsste, während ein ›moderner Mensch‹ sich eine Herde grundsätzlich ohne Hirten vorstelle; ähnlich soll es sich beim Schiff verhalten, das stets mit respektive stets ohne Besatzung gedacht werde.839 Dieser Gedanke mag sich auf den ersten Blick interessant anhören, ist aber bloß eine unbewiesene Behauptung. Es wäre an Fränkel gewesen, sie zu untermauern, aber ein einziges Beispiel genügt, sie zu erschüttern: Bei PlaymobilSchiffen, also Kinderspielzeug, das von ›modernen‹ Erwachsenen für ›moderne‹ Kinder gedacht ist, gehören immer einige Figuren Besatzung zum Lieferumfang. Dem Extrem, die Erklärung für die mehr diffus geahnte als wirklich erfasste zeitbedingt unterschiedliche Wirkung der Gleichnisse in grundsätzlich verschiedenen Menschentypen zu suchen, steht ein anderes Extrem gegenüber: Weil manche Gleichnisse auch den späteren Rezipienten direkt einleuchtend sind, besteht bei der Gleichnis-Interpretation verstärkt die Gefahr, dass die kulturelle Alterität vernachlässigt wird. Dabei ist bei den Gleichnissen – wie sonst auch – bei den der Sache nach gleichgebliebenen und daher scheinbar vertrauten Phänomenen besondere interpretatorische Vorsicht geboten, weil die kulturelle Einbettung eines Phänomens in signifikanter Weise differieren kann.840 So sollte man zum Beispiel bei der Interpretation eines vergilischen Gleichnisses, in dem eine Schlange vorkommt, berücksichtigen, dass hier die biblische Vorstellung von der Falschheit oder Hinterlist der Schlange nicht vorauszusetzen ist.841 Gegebenenfalls muss man solche Assoziationen bewusst fernhalten. Stattdessen 839 Fränkel 1921, 6 f. Zu Fränkels Hypothese, dass für den ›homerischen Menschen‹ Schall nur dann existiere, wenn jemand ihn höre, womit er den Hirten in Il. 4,452ff erklärt, vgl. Jachmann 1958, 321, Anm. 100. 840 Wenn z. B. das ›Bratwurstgleichnis‹ in Od. 20,24–30a (Odysseus, der auf einen Plan sinnt, wie er die Freier loswerden kann, wälzt sich rastlos überlegend auf seiner Schlafstatt hin und her wie einer eine Fleischspeise, von der er wünscht, sie wäre bald fertig gebraten, ungeduldig hin und her wendet) im Laufe der Zeiten immer wieder als unpassend bezeichnet wurde, könnte dies daran liegen, dass diejenigen Personen, die über die homerischen Epen geschrieben haben, eher selten selbst am Herd standen. In einer Kultur, in der das eigenhändige Wenden von Grill- oder Bratgut als respektable Tätigkeit von Personen auch gehobener Gesellschaftsschichten gilt, würde das (unbefangene) Urteil wohl positiver ausfallen. Allerdings ist dieses homerische Bild insofern schief, als der ungeduldige Koch das Subjekt, das Bratgut aber das Objekt des Wendens ist, während Odysseus, der sich hin und her wälzt, zugleich als Subjekt und Objekt seines ungeduldigen Herumwälzens gedacht werden muss. 841 Die Falschheit als Eigenschaft der Schlange wird vorausgesetzt z. B. bei: Knox 1950, 379. 392; Briggs 1980, 66: »The main point of the many snake associations of Pyrrhus (see 480 ff., 552, 663) is that he represents patent violence. The serpent, as a figure in this book, is no longer the lurking deceitful viper but is now the overt symbol of open ferocity«; Carlson 1972, 133 f.

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ist bei der Deutung einer Schlange, die in einem römischen Text vorkommt, zu fragen, welche Assoziationen bei den primären externen Rezipienten voraus­ gesetzt werden konnten. So wäre zum Beispiel zu bedenken, welche Rolle Schlangen in Prodigien zukommt, oder dass die römische ikonographische Tradition im Bild der Schlange am häuslichen Herd (Larenschlange) den Genius des Pater familias darstellt.842 Weil sich bei fast allen Gleichnissen in der Aeneis motivische Gemeinsamkeiten mit homerischen Gleichnissen feststellen lassen, hat der Bezug zu Ilias und Odyssee bei der Interpretation stets eine große Rolle gespielt. Tatsächlich beginnen viele Interpreten ihre Ausführungen zu einem vergilischen Gleichnis damit, ein oder mehrere homerische »Vorbilder« zu nennen und deren Übernahme oder Anpassung durch Vergil für seinen Kontext zu erklären.843 Als weitere wichtige intertextuelle Instanz werden Gleichnisse aus den Argonautica des Apollonios Rhodios angeführt.844 Doch gilt für sämtliche Gleichnisse in der Aeneis wie für die Aeneis insgesamt, dass sie auch ohne Kenntnis der homerischen Epen und überhaupt ohne Prätexte aus sich selbst vollkommen verständlich sind.845 Es ist daher sinnvoll, die Gleichnisse in der Aeneis zunächst für sich zu betrachten und sie erst, wenn die in ihnen postulierte Ähnlichkeit erfasst ist, vergleichbaren Gleichnissen in anderen Texten kontrastierend gegenüber zu stellen. Wie bereits Carlson  1972 in einer Studie zur Umgestaltung der homerischen Gleichnisse durch Vergil an den ersten acht Gleichnissen der Aeneis846 zeigt, sind die Gleichnisse in der Aeneis erheblich spezifischer als die Gleichnisse in den homerischen Epen.847 Während die vergilischen Gleichnisse in der Regel 842 Zur Bedeutung von Schlangen im Kontext von römischen Staatsprodigien siehe Kleinknecht 1944, 434–438. Zur Larenschlange siehe Bremmer  2001. Vgl. auch: Gíslason 1937, 82: »Die Schlange genoss sogar weitgehend religiöse Verehrung, oder man begeg­ nete ihr mit Scheu, da sie als Trägerin dämonischer Kräfte galt und selbst mit den Göttern in enger Beziehung stehen sollte.« Man denke auch an die Schlange am Grab des Anchises in 5,84–93 (anguis 5,84; serpens 5,91). 843 Bis vor gar nicht allzu langer Zeit gehörte dazu, dass man Vergil für die Übernahme entweder tadelte oder rechtfertigte; darüber siehe Glei 1990. Vgl. auch Williams 1980, 181. 844 Vgl. z. B. Otis 1964, 72–76, über den Zusammenhang zwischen Gruppen von jeweils vier Gleichnissen um das Dido-Diana-Gleichnis in Aen. 1,498–504, das Nausikaa-ArtemisGleichnis in Od. 6,102–109 und das Medea-Artemis-Gleichnis in Apoll. Rhod. 3,876–885. 845 Vgl. Hornsby  1970, 8. Dies gilt auch für das Gleichnis in der Laocoon-Episode. Die Argumentation von v. Duhn 1952, 52, dass der Tod des Laocoon den Rezipienten der Aeneis nur über den intertextuellen Bezug auf ein Gleichnis in der Ilias deutlich werde, überzeugt nicht; siehe hierzu: 10.4.1. 846 Anders als ich sehen Carlson 1972, 153 und Rieks 1981, 1093 in Venus’ Verstellung als Jägerin (1,315–320) ein Gleichnis. Carlson 1972, 153 sieht in 1,389–401 (Venus vergleicht die Zahl der sicher gelandeten Schiffe mit der Zahl landender Schwäne) kein Gleichnis. 847 Carlson 1972, hierzu bes. 146–149; vgl. auch Gíslason 1937, 97: »Die Gleichnisse in Vergils Aeneis lassen sich noch deutlicher als die eigentlichen Naturschilderungen auf literarische Vorbilder zurückführen, beinahe ohne Ausnahme auf Homer oder Apollonios.

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genau auf die jeweilige Situation des erzählten Geschehens passen, bleiben die homerischen Gleichnisse allgemeinerer Natur. Hieraus folgt: Konzentriert man sich bei der Interpretation zu sehr oder gar ausschließlich auf die Intertextualität mit den homerischen Gleichnissen, so läuft man Gefahr, das raffiniertere vergilische Gleichnis nicht richtig zu verstehen.848 Der eingeübte, unreflektierte Rekurs auf die Prätexte wirkt bei den Gleichnissen also in besonderem Maße verunklarend. Hingegen kann die präzise Gegenüberstellung der einzelnen vergilischen Gleichnisse mit den jeweils in Frage kommenden Prätexten erhellend sein. Dies ist das Vorgehen von Carlson, der die Gleichnisse in der Aeneis als »Verwandlungen« homerischer Gleichnisse betrachtet. Er folgt darin ausdrücklich Pöschl,849 den er aber sowohl an Systematik als auch an Klarheit der Darstellung weit übertrifft. Als Ergebnis seiner Beobachtungen zu Gleichnissen in der Aeneis im Vergleich mit bestimmten homerischen Gleichnissen beschreibt Carlson zusammenfassend u. a. folgende Prinzipien der Umgestaltung oder Unterschiede (Er selbst spricht von »Tendenzen«):850 Die vergilischen Gleichnisse sind inhaltlich an römische Verhältnisse angepasst.851 Sie haben durch ihre Intertextualität mit den homerischen Prätexten gegenüber diesen eine zusätzliche semantische Dimension.852 Sie sind sprachlich differenzierter gestaltet.853 Sie sind inhaltlich spezifischer (»aussagekräftigere Anwendung«).854 Sie weisen eine größere »dichterische Ökonomie« auf: Sie sind in der Regel kürzer und sie zeigen selten eine Verselbständigung des Gleichnis-Bildes.855

Doch stellten wir fest, daß Vergil sämtliche Vorbilder abgewandelt und umgestaltet hat, und zwar namentlich in der künstlerischen Absicht, die für den verglichenen Gegenstand wesentlichen Züge zu steigern oder klarer hervortreten zu lassen.« 848 Zu Recht warnt Pöschl 31977, 92 f. (21964, 129): »An dem Beispiel des Dianagleichnisses wird deutlich, wie der Dichter poetischen Einfällen, die er aus älteren Werken übernimmt, einen völlig neuen und zarten Sinn verleiht. (…) Die Tadler des Virgil wie seine Verteidiger haben von dem Eindruck der Übernahme geleitet die weitreichende Veränderung unter der Oberfläche gar nicht bemerkt. Der Fall kann eine Warnung sein vor dieser Art von Kritik, die fast immer, gleichviel ob es sich nun um das Verhältnis des Vergil zu Homer und Apollonius oder zu Naevius und Ennius handelt, stillschweigend von der Voraussetzung ausgeht, daß der Dichter mit dem Motiv auch den Gehalt übernehme. Dies aber tut er niemals.« 849 Carlson 1972, 12 f. 850 Carlson 1972, 144–152. 851 Carlson 1972, 144 (unter 1). 852 Carlson 1972, 144 f. (unter 2). 853 Carlson 1972, 145 f. (unter 3). 854 Carlson 1972, 146 f. (unter 4). 855 Carlson 1972, 148 f. (unter 6); vgl. auch: Knight 21944, 171: »It has been noticed that Homer’s similes start with a single point of similarity, and develop themselves in more or less complete detachment from the thing that suggested the comparison, but that Vergil’s similes continue in similarity, making contact at several points.«

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Sie können dazu dienen, die Erzählung zu strukturieren.856 In ihnen kann innere Handlung (»Seelenbewegungen der Hauptgestalten«) dargestellt werden.857 Darüberhinaus können Gleichnisse in der Aeneis nach Carlson dazu dienen, die erzählte Geschichte zu deuten, und sie können einen symbolischen Gehalt haben.858 Auch stellt Carlson gegenüber den homerischen Gleichnissen eine »Verinnerlichung« fest: Er beobachtet »die Tendenz, mithilfe der Gleichnisse die psychische Entwicklung der handelnden Personen widerzuspiegeln und zu enthüllen.«859 Im Zusammenhang damit konstatiert er auch, dass Gleichnisse der Perspektive einer Figur entsprechen können: »Am häufigsten sind sie von einer Hauptgestalt her konzipiert – und enthüllen eben deren Sicht der Dinge.«860 856 Carlson 1972, 147 (unter 5) und 150 f. (unter 8). v. Duhn 1952, 51 spricht von der »compositionellen Funktion« der Gleichnisse. 857 Carlson 1972, 147 (unter 5): »häufiger noch beschreiben sie die Seelenbewegungen der Hauptgestalten.« 858 Carlson 1972, 147 f. (unter 5): »Manchmal enthüllen die Gleichnisse die dem Geschehen zugrundeliegende Bedeutung.« 859 Carlson 1972, 149 f. 860 Carlson 1972, 150. Die Perspektivierung von Gleichnissen behandelt auch Williams 1980, der dafür den Ausdruck ›aspect of a simile‹ verwendet. Wie exakt die Perspektivierung der Gleichnisse in der Aeneis gehandhabt ist, zeigt auch Gíslason 1937, 69, der über das Bienengleichnis in Aen. 1,430–436 im Vergleich mit dem Bienengleichnis im vierten Buch der Georgica (4,158–169) bemerkt, dass hier die Arbeiten der Bienen im Innern des Bienenkorbes fehlen, und konstatiert: »Der Hauptunterschied ist der, daß Vergil im vorliegenden Gleichnis diejenigen Verse des Abschnittes in den Georgica außer acht gelassen hat, die von der Arbeit der Bienen drinnen im Bienenkorb handeln. Das hat er offensichtlich aus einem feinen künstlerischen Empfinden heraus getan, nämlich mit Rücksicht auf die hier geschilderte Situation, wo Aeneas das Treiben der Karthager draußen betrachtet; von einer Anhöhe in der Nähe der Stadt überschaut er dieselbe.« Weniger Klarheit als wünschenswert schafft der von Genette eingeführte und durch Bal (missverständlich) modifizierte Terminus der ›Fokalisierung‹ oder ›Fokalisation‹ (frz. / engl. ›focalisation‹), den I.  de  Jong  1985 erstmals mit den homerischen Gleichnissen in Zusammenhang bringt; zur problematischen Geschichte des Begriffs der Fokalisierung und zur Uneinheitlichkeit seiner Verwendung in der Klassischen Philologie siehe 8.2. De Jong 1985 betrachtet Gleichnisse, die »in der Nähe eines Passus mit Sekundärfokalisation stehen«, und unterscheidet drei Fälle: A »das Gleichnis unterstützt eine im Text schon gegebene sekundäre Fokalistation«, B »das Gleichnis bereitet eine im Kontext erst nachher folgende sekundäre Fokalisation vor« und C »das Gleichnis unterstützt eine implizite Sekundärfokalisation«, 264 f.; sie fasst dabei ›Wahrnehmung‹ in sehr weitem Sinne und versteht darunter auch kognitive und emotionale Bewußtseinsvorgänge (»etwas überdenken«, »erschrecken«, »sich freuen«, 264). Damit die ursprünglich von Genette gestellte Frage ›wer nimmt wahr?‹ im Rahmen der Gleichnis-Interpretation sinnvoll gestellt werden kann, müsste zunächst einmal konstatiert werden, dass es Gleichnisse gibt, in denen eine Wahrnehmung selbst als solche thematisiert wird, sowie andererseits Gleichnisse, in denen kein Wahrnehmungsvorgang vorkommt und die auch nicht im Kontext der Schilderung einer Wahrnehmung stehen, und dass die Bedingungen einer etwa festzustellenden Fokalisierung bei diesen beiden Gruppen von Gleichnissen grundsätzlich verschieden sind. So lassen sich zum Beispiel bei denjenigen vergilischen Gleichnissen,

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Dass die vergilischen Gleichnisse im Vergleich mit den homerischen spezifischer sind, äußert sich augenfällig in ihrer syntaktischen Struktur, die sich wie folgt beschreiben lässt: In den vergilischen Gleichnissen erscheint der Aspekt des fiktionalen Geschehens, der verglichen wird, in Form einer unabhängigen Aussage. Das zum Vergleich herangezogene Phänomen hingegen steht in einem durch ein Vergleichswort eingeleiteten Vergleichssatz, der voran- oder nach­ gestellt sein kann. Dieser Vergleichssatz ist in den meisten Fällen mit einem Temporal- oder Relativsatz verbunden, durch den eine spezifische Situation definiert wird.861 Es heißt also nicht: ›wie ein Stier brüllt‹, sondern: »wie ein Stier brüllt, wenn er verletzt dem Altar entkommen ist und das Beil, das ihn ungenau traf, abgeschüttelt hat« (clamores horrendos ad sidera tollit | qualis mugitus , fugit cum saucius aram | taurus 2,222–224). Dies dient der Differenzierung des zum Vergleich herangezogenen Phänomens, bei dem es sich eben nicht bloß um einen konkreten Gegenstand handelt (wie einen Stier, ein Wolfsrudel, eine Esche), sondern um ein bestimmtes, einigermaßen komplexes Geschehen, das diesen konkreten Gegenstand betrifft.862 In den modernen Textausgaben ist die Interpunktion bei den Vergleichssätzen in den Gleichnissen inkonsequent.863 Daher erscheint deren Syntax auf den ersten Blick komplizierter und weniger einheitlich, als sie es tatsächlich ist. Oft, aber nicht immer, steht im Vergleichssatz generalisierendes Präsens.864 Verbindung von Vergleichssatz und einem weiteren Adverbial- oder Relativsatz in Aeneis 2–3: qualis mugitus, fugit cum taurus 2,223 f. veluti cum flamma incidit aut torrens sternit, stupet pastor 2,304–308 lupi ceu quos… 2,355–357 veluti qui …+ Wiederaufnahme: haud secus Androgeos 2,379–382 in denen optische oder akustische Phänomene thematisiert werden, regelmäßig einzelne Figuren des erzählten Geschehens als ›wahrnehmende Instanzen‹ ausmachen: Es ist ihr situativer und akzidenteller sinnlicher Eindruck, der von der Erzählerstimme durch den Vergleich mit einem generischen Phänomen aus der Erfahrungswelt objektiviert und dem Rezipienten mitteilbar gemacht wird. Wenn jedoch im Kontext des Gleichnisses kein Verb der Wahrnehmung steht, wird die ›Fokalisation‹ subjektive Ermessenssache. 861 Vgl. Steele 1918, 99: »Occasionally a temporal partical, cum or ubi, is used, showing us a certain object as it was at a certain point in its activity.« Steele bezieht sich hier auf die Gleichnisse in lateinischer epischer Dichtung überhaupt. Bei Vergil erscheinen Verschränkungen mit Temporalsätzen nicht nur gelegentlich, sondern häufig. 862 Die viel geübte Praxis, Gleichnisse nach konkreten Gegenständen zu gruppieren, ist daher nur bedingt sinnvoll. Zu dieser Problematik siehe 10.2. 863 Siehe hierzu: Worstbrock  1963, 142 mit Anm. 29 über Syntax und Zeichensetzung in 2,628. 864 Ausnahmen in Aeneis 2–3 sind fūgit 2,223; excussit 2,224; exegit 2,357; pressit, refūgit 2,380; constiterunt (aber: resultativ) 3,681.

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qualis ubi coluber … 2,471–475 non sic cum amnis … 2,496–498a veluti cum agricolae … 2,626–631 quales cum quercus aut cyparissi … 3,679–681

Im Unterschied zu den homerischen Gleichnissen sind die Gleichnisse in der Aeneis mehrheitlich nicht streng korrelativ konstruiert.865 Als Beispiel für eines der selteneren vergilischen Gleichnisse, die ein korrelatives Satzgefüge aufweisen, sei das Dido-Diana-Gleichnis im ersten Buch angeführt:866 regina ad templum, forma pulcherrima Dido, 1,496 incessit magna iuvenum stipante caterva. 1,497 qualis in Eurotae ripis aut per iuga Cynthi 1,498 exercet Diana choros, quam mille secutae 1,499 hinc atque hinc glomerantur Oreades; illa pharetram 1,500 fert umero, gradiensque deas supereminet omnis 1,501 (Latonae tacitum pertemptant gaudia pectus): 1,502 talis erat Dido, talem se laeta ferebat 1,503 per medios, instans operi regnisque futuris. 1,504 Die Königin Dido, wunderschön von Gestalt, schritt zum Tempel, wobei eine große Schar junger Männer sie umgab. So wie an den Ufern des Eurotas oder auf den Gipfeln des Cynthus Diana, der tausend Baumnymphen, sich hier und dort gruppierend folgen, die Reigen anführt; sie trägt den Köcher an der Schulter und schreitet einher, alle Göttinnen überragend (Latona freut sich im Stillen): So war Dido, so bewegte sie sich heiter im Getümmel und widmete sich tätig dem werdenden Königreich.

Zunächst schildert ein Satz das Geschehen (1,496 f.). Darauf folgt ein mit qualis eingeleiteter Vergleichssatz, den ein mit quam eingeleiteter Relativsatz ergänzt (1,498–500a). Sodann stehen zwei unabhängige Sätze, die das zum Vergleich herangezogene Phänomen weiter elaborieren (1,500b–502). Anschließend nehmen zwei mit talis respektive talem eingeleitete Sätze die fiktionale Handlung wieder auf und fassen sie unter Bezugnahme auf das entwickelte Gleichnisbild noch einmal zusammen (1,503 f.). Ein weiteres Beispiel für ein vergilisches Gleichnis mit korrelativem Satz­ gefüge steht in 5,270–281, wo die Einfahrt eines Bootes, das einen Teil seines Ruderwerks verloren hat und mit windgeblähten Segeln mühsam ins Ziel einläuft, verglichen wird mit der Fortbewegung einer verletzten Schlange, die an einer

865 Diese Beobachtung ist alt, vgl. Rieks  1981, 1042 f., mit dem Hinweis auf Frühere in Anm. 99, bleibt aber oft, gerade auch bei Rieks selbst, ohne methodische Konsequenzen. 866 Zum Dido-Diana-Gleichnis im Vergleich mit dem Nausikaa-Artemis-Gleichnis in Od.  6,102–109 sowie dem Medea-Artemis-Gleichnis in Apoll. Rhod. 3,876–885 siehe Plüss 1886; Pöschl 31977, 84–94 (21964, 115–131); Otis 1964, 72–76; Hornsby 1965, 338; Carlson  1972, 74–84. Zum Dido-Diana-Gleichnis in der Forschung seit Probus siehe Rieks 1981, 1034–1038; Glei 1990.

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Gleichnisse: Prägnanz durch Abstraktion

Stelle ihres Körpers von einem Rad überfahren oder mit einem Stein zerdrückt wurde und die sich mit dem Rest ihres Körpers wild aufbäumt, während der zerquetschte Teil das Schlängeln behindert. Die Ähnlichkeit besteht darin, dass die Fortbewegung bei einer partiellen Zerstörung des Bewegungsapparates unter Aufbieten der letzten Kraft mühsam erfolgt. In 5,270–272 wird der Zustand des Bootes beschrieben, in 5,273–279 (qualis… serpens) die Bewegung der Schlange und in 5,280 f. (tali… remigio navis) die Einfahrt des Bootes mit gesetzten Segeln. In Hinsicht auf die Differenzierung des zum Vergleich herangezogenen Phänomens unterscheiden die korrelativ formulierten Gleichnisse sich nicht von den nicht korrelativ formulierten: Wer bei den genannten Beispielen lediglich feststellt, dass Dido mit Diana verglichen werde und das Boot mit einer Schlange,867 übersieht die entscheidenden Aspekte der Erzählung. Zusammenfassend können die Gleichnisse in der Aeneis folgendermaßen beschrieben werden: Das Gleichnis ist ein Abschnitt der Erzählung, in dem ein Aspekt des fiktionalen Geschehens mit einem nicht zum Geschehen gehörigen Phänomen verglichen wird. Anders als der Aspekt des fiktionalen Geschehens ist das zum Vergleich herangezogene Phänomen nicht Teil der erzählten Welt. Die Schilderung des Geschehens ist als unabhängige Aussage formuliert, die durch ein Korrelativpronomen eingeleitet sein kann, aber nicht sein muss. Das zum Vergleich herangezogene Phänomen erscheint in Form eines voran- oder nachstehenden Vergleichssatzes (eingeleitet durch ein Vergleichswort oder Relativum: veluti, ceu, qualis…), der in der Regel mit einem spezifizierenden Temporal- oder Relativsatz verbunden ist. Das epische Gleichnis ist ein Mittel der literarischen Gestaltung und, wo es vorkommt, integrativer Bestandteil der Erzählung. Das heißt: Das Vorkommen eines Gleichnisses prägt die Erzählung (verstanden als ›textlich fixierte Repräsentation eines Geschehens‹), in der es vorkommt. Wenn eine Erzählung ein Gleichnis aufweist, gehört es wesentlich zu ihr. Anders gesagt: Die Schilderung des Geschehens erfolgt unter Verwendung eines Gleichnisses, es ist untrennbarer Bestandteil der Erzählung und ohne das Gleichnis wäre die Erzählung eine andere.868 Daher wird im Folgenden versucht, die zuweilen praktizierte Gegenüberstellung des Begriffs ›Gleichnis‹ oder ›simile‹ auf der einen Seite und des Begriffs ›Erzählung‹ oder ›narrative‹ auf der anderen, zu vermeiden.869 867 Nebenbei sei bemerkt, dass eine Deutung dieser Schlange als heimtückisch oder ominös absurd wäre. 868 Vgl. Knight 21944, 171: »On the whole, they are part of imagery, and work like other imagery. All imagery is ultimately, at the same time, both comparison and also just what the poet chooses to mention; and what the poet chooses to mention, in a certain order and rhythm, almost is the poem. That sounds obvious, but is has been almost as much unnoticed as it is important.« 869 Die Gegenüberstellung von ›narrative‹ und ›simile‹ findet sich bei West 1969 und Horsfall 2008, vgl. z. B. die Formulierung »the admirably detailed integration of simile and narra-

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Tabelle: Das Gleichnis in der Aeneis  

Stattdessen steht der Begriff ›Gleichnis‹ für die literarische Figur als solche und auch für ihre Verwirklichung im Text, d. h. die Formulierung, in der die beiden für das Gleichnis konstitutiven Seiten benannt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei werden die Schilderung des fiktionalen Geschehens und die Schilderung des zum Vergleich herangezogenen Phänomens unterschieden, respektive die Sphäre des fiktionalen Geschehens und die Bildsphäre.

10.2 Tabelle: Das Gleichnis in der Aeneis Aspekt des fiktionalen Geschehens

Zum Vergleich herangezogenes Phänomen

Teil der fiktionalen Welt

Nicht Teil der fiktionalen Welt. Teil der Erfahrungswelt (inkl. Mythos und Literatur)

Ontologischer Status

Einzig, bestimmt

Generisch, typisch

Vorkommen

Unabhängige Aussage, evtl. korrelativ eingebunden

Vergleichssatz, oft in Kombination mit Temporalsatz oder Relativsatz

Sprachliche Repräsentation

ille … clamores … horrendos ad sidera tollit

qualis mugitus, fugit cum saucius | taurus et incertam excussit cervice securim

»Er erhebt entsetzliches Geschrei zum Himmel«

»wie das Gebrüll, das ein verwundeter Stier erhebt, wenn er dem Altar entkommen ist und das Beil, das ihn ungenau getroffen hat, aus seinem Nacken geschüttelt hat«

→ Übereinstimmung ← tertium comparationis → Lautäußerung eines todgeweihten, sich vergebens gegen den Tod aufbäumenden Individuums ←

tive (West)« von Horsfall 2008, 260; sowie bei Lyne 1989, 63–99; Gärtner / Blaschka 2019, 745 verwenden ›narration‹ anstelle von ›narrative‹: »a god in the narration is compared to a mortal in the simile«. Coffey 1961, 63 und Williams 1983, 166 unterscheiden zwischen ›simile‹ und ›context‹.

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Gleichnisse: Prägnanz durch Abstraktion

10.3 Zu Unrecht vernachlässigt: Die Ähnlichkeitsrelation Wie beim schlichten (oft sprichwörtlichen) Vergleich in der alltäglichen Rede (›sie freut sich wie ein Schneekönig‹, ›er redet wie ein Wasserfall‹) liegt auch beim epischen Gleichnis der Sinn in der behaupteten Ähnlichkeit zwischen seinen Konstituenten zu beiden Seiten des Vergleichswortes: dem Verglichenen und dem zum Vergleich Herangezogenen. Die postulierte Ähnlichkeitsrelation bildet den zwar ungenannten, aber wesentlichen Kern seiner Aussage. Gleichwohl gibt es in der klassisch-philologischen Gleichnis-Interpretation eine Tendenz, die Ähnlichkeitsrelation zugunsten der Bildersprache, des symbolischen Gehalts oder der intra- und intertextuellen Bezüge zu vernachlässigen. Hinzu kommt, dass diejenigen Interpreten, die sich in ihren Textdeutungen auf die ›Bildersprache‹ oder ›imagery‹ konzentrieren, oft zu eher subjektiven Deutungen gelangen.870 Da viele von ihnen zugleich darauf verzichten, die eigene Deutung von (eventuell entgegengesetzten, die eigene eigentlich ausschließenden) Deutungen anderer ausdrücklich abzusetzen, stellt sich eine gewisse Beliebigkeit ein. Aber wenn es auch selten möglich ist, von einem Text genau und letztgültig zu sagen, was er bedeutet und welche Interpretationen ihm gerecht werden, so lässt sich zuweilen doch eindeutig bestimmen, was ein Text nicht bedeutet und welche Interpretationen auf falschen Voraussetzungen beruhen, z. B. weil der Wortlaut nur ungenau zur Kenntnis genommen wurde.871 Als programmatischer Ausdruck einer Gleichnis-Interpretation, bei der die Bestimmung der Ähnlichkeitsrelation absichtlich unterbleibt, kann eine Bemerkung von v. Wilamowitz-Moellendorff in seinem Ilias-Buch gewertet werden, die lautet: »Kindisch wäre es, die tertia comparationis zu suchen.« Sie bezieht sich auf die Gleichnisse in Il. 16,297–302a, 364–367 und 384–393, die als Gruppe zusammenfasst werden: Korrespondierende Gleichnisse geben den Eindruck der Bewegung im ganzen. Als die Danaer zuerst wieder Mut zum Widerstande fassen, ist es, wie wenn sich eine Wolkenwand vom Gebirge löst, alle Spitzen sichtbar werden und lichte Helle sich vom Himmel her verbreitet (297). Als die Troer erschüttert zurückflüchten, ist es ›wie wenn eine Sturmwolke aufzieht‹ (364), ›wie wenn in den Stürmen und Regengüssen des Herbstes eine Überschwemmung die Fluren verwüstet‹. Kindisch wäre es, die tertia comparationis zu suchen, aber die Naturbilder bringen den Eindruck der ganzen Massenbewegung und Stimmung in unvergleichlicher Anschaulichkeit und Kürze dem Nachfühlenden nahe.872

870 Hierzu siehe die wissenschaftshistorischen und methodologischen Erwägungen von Horsfall 1995, 111–117; siehe auch Rieks 1981, 1041. 871 Für Beispiele siehe 10.4. 872 v. Wilamowitz-Moellendorff 1916, 134.

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Da Wilamowitz hier mit den schwer objektivierbaren Begriffen des Eindrucks, der Stimmung und des Gefühls (»dem Nachfühlenden«) operiert, zeichnen seine Ausführungen sich nicht eben durch erkenntnistheoretische Genauigkeit aus.873 Im Gegenteil handelt es sich um die ausdrückliche Negation des Bemühens, die Gleichnisse möglichst objektiv zu erfassen und die eigenen Annahmen über den Text intersubjektiv mitteilbar zu formulieren, wie es eigentlich geboten wäre. Nach Wilamowitz soll der Homertext sich durch ›nachfühlen‹ erschließen, und wer nach dem tertium comparationis, also nach dem faktischen Zusammenhang zwischen den Konstituenten des Gleichnisses fragt, wird als ›kindisch‹ disqualifiziert. Philologiegeschichtlich lässt sich diese gleichermaßen unfundierte wie überhebliche Äußerung wohl als Reaktion auf die systematische positivistische Erfassung der epischen Gleichnisse einordnen, wie vor allem Schulprogrammschriften sie in schematischen Aufstellungen von Vergleichsgegenständen und Vergleichspunkten im 19. Jahrhundert zu leisten sich bemühen.874 Leider führt die Art und Weise, wie Wilamowitzens Äußerung rezipiert wird, zu einer erkenntnistheoretisch höchst problematischen Art der Gleichnis-Interpretation, die nämlich nicht lediglich darauf abzielt, zu analysieren, was über die Ähnlichkeitsrelation hinaus in einem Gleichnis ausgesagt sein kann, sondern die tatsächlich von der Prämisse ausgeht, dass die Ähnlichkeitsrelation in den epischen Gleichnissen gar nicht zu interessieren habe. Die prinzipielle Abkehr von der Annahme, dass es beim epischen Gleichnis vor allem auf das tertium comparationis oder den ›Vergleichungspunkt‹ ankommt, vollzieht H. Fränkel in seiner Monographie mit dem Titel »Die ho873 Vgl. hierzu die validen Einwendungen von Plüß 1907, 43: »Gegen diese Stimmungstheorie zunächst ein paar allgemeine, psychologische Bedenken. Stimmung ist, denke ich, ein Gemütszustand allgemeiner und unbestimmter Art, bei den einzelnen Menschen sich modifizierend nach Gemütsanlagen, Lebenserfahrungen und augenblicklichen Umständen. Wie kann nun aus den bestimmten, einzelnen Phantasieeindrücken eines Naturbildes, die wir successive empfangen, jene allgemeine Stimmung entstehen? Da müßten wie bei der modernen Stimmungslyrik erst gewisse allgemeinere Vorstellungen, mit Empfindung verbunden, den Übergang vermitteln: diese Vermittlung ist hier im Unklaren gelassen. Sodann soll eine solche Stimmung des Zuhörers diesem den Gemütszustand dritter Personen, nämlich der Personen in der Erzählung schildern. Aber wie kann etwas so Unsicheres und Variables, etwas Unausgesprochenes und seinem Wesen nach Unbewußtes, wie die subjektive poetische Naturstimmung eines Zuhörers, irgendwelche bestimmten Objektivitäten heroischen Lebens schildern sollen? außerdem ist der Gemütszustand jener dritten Personen durch den Causalzusammenhang der erzählten Begebenheiten schärfer bestimmt und vielleicht auch vom Erzähler in Worten deutlicher bezeichnet, als daß er durch jene vage Naturstimmung noch eine Verdeutlichung erfahren könnte oder zu erfahren brauchte«; konkret zu den von v. Wilamowitz genannten Beispielen: Plüß 1907, 43 f. 57. 874 Zu Vergil zum Beispiel: Hornbostel 1870; Houben 1876; Krondl 1878. Vgl. hierzu auch: Rieks 1981, 1019–1021.

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merischen Gleichnisse«.875 Sie erschien 1921, fünf Jahre nach v. WilamowitzMoellendorffs Ilias-Buch, und obwohl sie sich, wie ihr Titel besagt, auf die Gleichnisse in Ilias und Odyssee beschränkt, wurde sie generell für die Gleichnis-Thematik richtungsweisend.876 Fränkel folgt darin der Auffassung, dass man den homerischen Gleichnissen besser gerecht werde, wenn man auf den Versuch verzichte, ein tertium comparationis oder einen Vergleichungspunkt zu bestimmen, auch weil dies gar nicht immer eindeutig möglich sei. Stattdessen geht er von einer Vielzahl von Bezügen aus, die zwischen den beiden Seiten des Gleichnisses bestehen sollen. Außerdem führt er den Begriff einer ›Kuppelung‹ ein, die beide Seiten verbinde. Das bedeutet, dass er die Vergleichswörter, die ja durchaus unterschiedliche Parameter bezeichnen können (wie z. B. Anzahl, Intensität, Größe) nicht in ihren jeweiligen Wortbedeutungen auffasst, sondern lediglich als Markierung der Verbindung zwischen den Seiten des Gleichnisses. In seinen Interpretationen gelangt er unter anderem zu der Auffassung, dass in manchen homerischen Gleichnissen die Handlungsschilderung innerhalb des Gleichnisbildes fortgeführt werde und dass es Gleichnisse gebe, die kontrastierend angelegt seien. Kritik an Fränkels Ablehnung des tertium comparationis übt G. Jachmann 1958 im Anhang seines Buches »Der homerische Schiffskatalog und die Ilias« in einem ausführlichen Exkurs mit dem Titel »Die homerische Gleichnis­bildung«.877 Jachmann zeigt an einzelnen Gleichnissen, inwiefern Fränkels Interpretationen dem Text nicht gerecht werden und dass ihn oft gerade die Vernachlässigung des tertium comparationis auf Abwege führt. Ungeachtet dieser berechtigten Kritik bleibt Fränkels Schrift einflussreich, und noch über vier Jahrzehnte später sieht Erbse  2000 die Notwendigkeit, die methodische Unzulänglichkeit einer Gleichnis-Interpretation, die den Vergleichungspunkt geringschätzt, neuerlich herauszustellen (auch unter Berufung auf Jachmann).878 875 Fränkel 21977 (1921). Es handelt sich um die 1921 erstmals gedruckte Habilitationsschrift des Verfassers, die im Jahr 1977 – unverändert und nur um ein Literaturverzeichnis sowie ein formales Nachwort ergänzt – wiederaufgelegt wurde. 876 Ausdrücklich z. B. noch Gärtner 1994, 21: »auch heute nicht überholt«; Rieks 1981, 1041: »Das im Jahr 1921 erschienene Buch von H. Fränkel markiert einen Wendepunkt in der Erforschung nicht nur der homerischen, sondern der epischen Gleichnisse überhaupt, wenn wir auch fünfzig Jahre später feststellen müssen, daß der neue Impuls es nicht vermocht hat, als Gegenstück eine umfassende Untersuchung der vergilischen Gleichnisse hervorzubringen.« 877 Jachmann 1958, 267–338. 878 Erbse  2000, vgl. hier besonders 257–260, die programmatischen Ausführungen zu Il. 7,4–7: »Derartige Überlegungen empfehlen es, den Sinn des homerischen Gl., wie auch immer seine äußere Form gestaltet ist, mit Jachmann allein im V. P. zu suchen, der, wie man weiß, kaum je auf eine Person oder Sache, sondern »fast ausschließlich auf einen Zug der Handlung geht und fast immer auf einen einzigen« (Finsler)«, laut Erbse 2000, 258, Anm. 5: Finsler 1908, 497 ≈ Finsler 21913, 330; 258 f.: »Nur über den V. P. ist ein Gl. mit der erzählenden Darstellung verbunden, es würde an

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Fränkels Art der Gleichnis-Exegese auf die vergilischen Gleichnisse zu übertragen, verbietet sich eigentlich schon allein deshalb, weil Fränkel sich bei der Beschreibung der Gleichnisse vor allem an deren sprachlicher Form orientiert, indem er von ›Stichsatz‹, ›Wie-Stück‹, ›So-Stück‹, ›Kuppelung‹ spricht. Diese Begrifflichkeit bedeutet bei näherer Betrachtung wenig anderes, als dass das korrelative Satzgefüge, in dem die homerischen Gleichnisse regelmäßig erscheinen, in seine beiden Teile zerlegt wird. Diese Begriffe werden von vielen auch auf die Gleichnisse der Aeneis angewandt.879 Dabei taugen die Kategorien Wie-Stück und So-Stück, die bereits bei den homerischen Gleichnissen den Nachteil haben, zu stark der sprachlichen Form verhaftet zu sein, als dass sie zu abstrahierendem Denken einlüden, für die Gleichnisse in der Aeneis ohnehin nicht, weil hier die meisten Vergleichssätze gar nicht korrelativ formuliert sind.880 Das Hauptproblem der Gleichnis-Interpretation nach Fränkel besteht jedoch darin, dass das Verhältnis, das zwischen den beiden Seiten im Gleichnis besteht, nicht abstrahierend genug betrachtet wird. Daran gebricht es auch der Gleichnis-Beschreibung von R.  Rieks  1981, wie insbesondere seine im Rahmen des Referates von Fränkels Buch entwickelten Ausführungen zum »Bauschema der Gleichnisse«, das sich »in der Tradition der antiken Epik nie wesentlich geändert«881 habe, und die daraus in Kombination mit griechischen und lateinischen Begriffen882 entwickelte Terminologie zeigen: Selbst wenn man die beiden Begriffe apodosis und antapodosis als reine Synonyme betrachtet, empfiehlt sich zwecks schärferer Analyse und klarerer Terminologie die Einführung der Bezeichnung protasis für das Wie-Stück des Gleichnisses. Weiter sollte man in jedem Fall den dem Gleichnis zugehörigen umgebenden Kontext als apodosis – am besten differenziert durch die Indizes 1 und 2 – bezeichnen. Meine Terminologie im folgenden beruht also auf dem Idealschema: res (A; Sachverhalt; Subjekt; einleitender Kontext; apodosis1) rei simili (B; ähnlicher Sachverhalt; Objekt; protasis) comparatur (C; Vergleichung; Prädikat; antapodosis) et nonnumquam amplius explicatur (D; weiterführender Kontext; apodosis2).883 Wirkung und Geschlossenheit verlieren, wenn man seine Einzelzüge im Hauptbericht wiederfinden wollte«; 259: »Die genaue Bestimmung des V. P. entbindet uns auch der Verpflichtung, in manchen Gll. einen doppelten V. P. anzunehmen. Fast immer ist in solchen Fällen der V. P. komplex: Der Dichter entfaltet das Gl. so, daß er die Entstehung der besonderen Situation (d. h. des t.c. ) aus der erzählenden Darstellung durch einen Kurzvergleich hervorgehen läßt.« 879 Zum Beispiel von Rieks  1981; Suerbaum  1999,  274; Binder  2019, Bd. 1, 111; Gärtner / ​ Blaschka 2019, 746; 747. Giusti 2014 Anm. 5 merkt in einem Aufsatz über das Bienengleichnis in Aen.1,423–436 an, dass sie sich nicht der Fränkelschen Terminologie bedient: »to use Richards’ (1936) terms instead of Fränkel’s (1921) wiesatz and sosatz.« (Richards 1936 verwendet die Ausdrücke ›tenor‹ und ›vehicle‹.) 880 Siehe 10.1.1 mit Anm. 865. 881 Rieks 1981, 1025. 882 Von denen nicht alle spezifisch belegt sind, vgl.: Rieks 1981, 1026 mit Anm. 44. 883 Rieks 1981, 1026.

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Auf den Befund bei Vergil angewandt klingt das dann so: Die meisten seiner Gleichnisse sind schon in sich streng komponiert; immer wieder haben wir die Grundmuster der Symmetrie, der Isokolie, des distributiven Parallelismus, der Korresponsion aufzeigen können, ob es sich um den traditionellen dreigliedrigen, um den von Vergil bevorzugten zweigliedrigen Aufbau ohne Antapodosis oder um die durch Integration der Apodosis2 bewirkte neuartige Dreigliedrigkeit handelte.884

Man sieht: Bei Rieks bleibt (wie schon bei Fränkel) die Anordnung, wie die sprachliche Repräsentation sie gemäß den Regeln der Syntax vorgibt, ein die Beschreibungskategorien bestimmendes Prinzip.885 Wenn man aber die Ähnlichkeitsrelation eines Gleichnisses bestimmen will, muss man seinen propositionalen Gehalt unabhängig von dessen sprachlicher Repräsentation betrachten und abstrahieren, in Bezug worauf ein Aspekt des fiktionalen Geschehens und das zum Vergleich herangezogene Phänomen miteinander verglichen werden. Es ist nicht damit getan zu beobachten, welche Einzelheiten beider Seiten zur Übereinstimmung kommen und welche nicht. Vielmehr kommt es darauf an, aus dieser Beobachtung abzuleiten, welche der Einzelheiten die postulierte Ähnlichkeit entscheidend ausmachen und auf welchen Prinzipien die Ähnlichkeitsrelation beruht. Ein Beispiel: Die Troianer werden, als sie Holz aus dem Wald zum Strand schaffen, um ihre Schiffe für die Abreise aus Karthago flottzumachen, verglichen mit Ameisen, die Dinkelkörner von einem Haufen zu ihrem Bau schleppen: Tum vero Teucri incumbunt et litore celsas 4,397 deducunt toto navis. natat uncta carina, 4,398 frondentisque ferunt remos et robora silvis 4,399 infabricata fugae studio. 4,400 migrantis cernas totaque ex urbe ruentis 4,401 ac velut ingentem formicae farris acervum 4,402 cum populant hiemis memores tectoque reponunt, 4,403 it nigrum campis agmen praedamque per herbas 4,404 convectant calle angusto; pars grandia trudunt 4,405 obnixae frumenta umeris, pars agmina cogunt 4,406 castigantque moras, opere omnis semita fervet. 4,407 quis tibi tum, Dido, cernenti talia sensus 4,408 quosve dabas gemitus, cum litora fervere late 4,409 prospiceres arce ex summa totumque videres 4,410 misceri ante oculos tantis clamoribus aequor! 4,411 Da aber legen die Teucrer sich ins Zeug und ziehen am ganzen Strand die Schiffe zu Wasser. Eingewachst schwimmt der Kiel, und sie schleppen in ihrem Eifer, abzufahren, 884 Rieks 1981, 1092. 885 Die Fränkel 1921 und Rieks 1981 stark verhaftete Definition von Gärtner / Blaschka 2019, 727–732 kann aus demselben Grund nicht überzeugen.

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Ruder, die noch grünen, und unbearbeitetes Holz aus dem Wald. Man sieht sie wegziehen und aus der ganzen Stadt eilen und wie wenn Ameisen in Vorbereitung auf den Winter einen riesigen Dinkelhaufen plündern und in ihren Bau bringen, ein schwarzes Heer sich formiert und sie die Beute durch das Gras auf engem Pfad bewegen, ein Teil riesige Körner auf den Schultern schleppt, ein Teil die Truppe zusammentreibt und Verzögerungen verhindert, brodelt die ganze Strecke vor Geschäftigkeit. Wie war dir, Dido, damals zumute, wie seufztest du, als du ganz oben von der Burg aus erblicktest, dass der Strand weithin nur so wimmelte, und du zusahst, wie das Meer sich vor deinen Augen mit lauten Rufen füllte.

Wenn den Troianern, die Holz zu den Schiffen schleppen (4,397–400), in der Vorstellung des Rezipienten Ameisen an die Seite gestellt werden, die Getreidekörner als Wintervorrat zu ihrem Bau tragen (4,401–407), so besteht hier Übereinstimmung darin, dass es sich auf beiden Seiten der Vergleichung um eine Vielzahl von Individuen handelt, die verhältnismäßig große Lasten tragen und als im Raum verteilte Gruppe Wege zwischen zwei Orten bahnen. Keine Übereinstimmung hingegen besteht z. B. hinsichtlich der Gestalt der einzelnen Individuen: Es wäre absurd, aus diesem Gleichnis zu schließen, dass die Troianer als winzige Wesen mit sechs Beinen vorzustellen wären. Auch kann aus dem Umstand, dass die Ameisen Dinkel wegtragen, den aller Wahrscheinlichkeit nach Menschen zu einem Haufen (ingentem farris acervum 4,402) geschichtet haben, nicht geschlossen werden, dass von den Troianern gesagt werden soll, dass sie Karthago ›plündern‹, wenn sie Holz schlagen, um ihre Schiffe auszubessern.886 Sich bei einem Gleichnis auf solche Details zu konzentrieren, die nicht zur Übereinstimmung gelangen, bedeutet, sich dem Kooperationsprinzip der Kommunikation zu verweigern. (Auf derartigen Verstößen gegen die Norm basieren Witze.) Stattdessen wäre darauf zu achten, dass im Gleichnis ausdrücklich angegeben ist, dass die Vergleichung sich auf eine Sinneswahrnehmung bezieht: cernas 4,401. Es geht um den Anblick, den die Troianer bieten. Verglichen wird ein optischer Eindruck, und zwar genauer ein optischer Eindruck aus einer be886 Dies impliziert z. B. Briggs 1980, 53: »The bees’ positive work of gathering their grains into a common store in preparation for a long winter contrasts with the hasty sinister work of the ants, plundering their host’s land in the Aeneid«. Hier sind die Bildsphäre und die Sphäre des fiktionalen Geschehens auf unzulässige Weise miteinander vermischt: Wessen Gäste wären denn die Ameisen? Die negative Bewertung der Arbeit der Ameisen als ›sinister‹ steht nicht im Text; Briggs scheint hier seine Meinung von den Troianern auf die armen Ameisen zu übertragen, die ja nun wirklich nichts dafür können, dass Aeneas so unvermittelt aus Karthago abreist. Giusti 2014, 39 f. sieht in diesem Vergleich und diversen intra- und intertextuellen Beziehungen einen Hinweis auf die Gefahr, welche die Troianer für Dido und später die Römer für Karthago darstellen. Zur Situation, in der die Troianer mit den Ameisen verglichen werden, passt dies aber eigentlich nicht: Sie sind im Begriff abzureisen, und das ist, woran Dido sich stört. Von einer Gefahr ist hier keine Rede. Gíslason 1937, 72 f. stellt fest, dass die Ameisen und ihr Treiben vermenschlicht werden.

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Gleichnisse: Prägnanz durch Abstraktion

stimmten Position, wie aus der Wiederaufnahme von cernere in cernenti 4,408 deutlich wird: Der Standpunkt, von dem aus gesehen die Troianer, die eilig ihren Aufbruch vorbereiten, Ameisen gleichen, welche Körner zu ihrem Bau tragen, liegt oberhalb der geschilderten Szene. Eine solche Position nimmt Dido ein, die direkt im Anschluss an das Gleichnis apostrophiert wird (4,408–411).887 Sie schaut von ihrem erhöhten Standpunkt, ganz oben auf der arx (arce ex summa 4,410), zum Strand hinunter. Aus ihrer Perspektive ähnelt das geschäftige Treiben der Troianer einer Ameisenstraße, wie sie sich einem zu Boden schauenden Menschen darbietet. Das Gleichnis ist also der Perspektive der Dido angepasst und ihr Beobachterstandpunkt ist Teil der Ähnlichkeitsrelation.888 Der Versuch, die Ähnlichkeitsrelation zu bestimmen, muss die Grundlage jeder Gleichnis-Interpretation sein. Es gilt, möglichst prägnant zu benennen, welcher faktische Zusammenhang zwischen dem Aspekt des fiktionalen Geschehens einerseits und dem Phänomen, das diesem im Gleichnis an die Seite gestellt wird andererseits, jeweils besteht. Dabei sollte nicht nur erwähnt werden, was jeweils womit verglichen wird (wie es etwa in Rieks’ Aufstellung der Fall ist),889 sondern es sollte außerdem gesagt werden, in Bezug worauf das eine mit dem anderen verglichen wird. Auf die ersten Gleichnisse in der Aeneis angewandt ergibt eine solche – vergleichsweise nüchterne – Betrachtung beispielsweise folgendes: [1] In 1,131–156 besteht die Ähnlichkeitsrelation des Gleichnisses darin, dass eine aufgewühlte Gruppe von Individuen durch die Autorität einer Respektsperson besänftigt wird, und zwar in der erzählten Geschichte die entfesselten Winde und mit ihnen das Meer durch Neptun, in der Vergleichung eine gewaltbereite Menge durch einen geachteten Staatsmann. [2] In 1,394–400 besteht die Ähnlichkeitsrelation in der individuell nacheinander erfolgenden, sicheren Landung einer zuvor gewaltsam auseinander gesprengten Gruppe, nämlich von Schiffen aus Aeneas’ Flotte nach dem Seesturm einerseits und von soeben beobachteten Schwänen nach dem Angriff eines Adlers andererseits.890 [3] In 1,423–436 besteht die Ähnlichkeitsrelation in der Betriebsamkeit und Arbeitsteilung der Karthager beim Bau ihrer Stadt einerseits und eines Bienenvolkes am Sommeranfang andererseits.

887 Zitat siehe oben. Im letzten Vers der Apostrophe wird die optische Wahrnehmung um den akustischen Eindruck ergänzt, der im Gleichnis naturgemäß zu kurz kam, weil wir Ameisen nicht hören können. 888 Wenn Giusti 2014, 39 f. davon ausgeht, dass hier ›miniaturisiert‹ werde, übersieht sie, dass die Größenverhältnisse durch die Perspektive bedingt sind. Zur Beziehung zwischen dem Gleichnis mit der Ameisenstraße und dem Gleichnis mit dem Bienenstock in 1,430–436 in Hinsicht auf den Beobachterstandpunkt siehe Worstbrock 1963, 87 f. 889 Rieks 1981, 1093–1096. 890 Das Gleichnis mit den Schwänen, die sicher landen, weist die Besonderheit auf, dass es innerhalb von prophetischer Figurenrede (der Venus) steht.

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[4] In 1,496–504 besteht die Ähnlichkeitsrelation im anmutigen Auftreten als Anführerin einer sie umgebenden Schar von Dido einerseits und der Göttin Diana andererseits.891 [5] In 1,588–593 besteht die Ähnlichkeitsrelation in der Steigerung der natürlichen Schönheit durch Glanz und Farbe, nämlich bei Aeneas (durch Venus’ göttliches Zutun) einerseits und bei Kunstwerken (durch das Polieren von Elfenbein oder das Einfassen von Silber und Marmor mit rötlichem Gold) andererseits.892

Wie man sieht, stellt ein Gleichnis eine gewisse Herausforderung an das Abstrak­ tionsvermögen des Rezipienten dar: Einem Konkretum wird ein zweites Konkretum an die Seite gestellt und es bleibt dem Rezipienten überlassen, durch Abstraktion zu ermitteln, was beiden gemeinsam ist und »die vorliegenden Aussagen angemessenen Kategorien zuzuordnen«.893 Die in den obigen Beispielen kursiv gesetzten ›Gemeinsamkeiten‹ werden ja im Text nicht explizit genannt, sondern sie werden durch die Hinzuziehung des zweiten Konkretums lediglich impliziert. Daher spricht man vom tertium comparationis: Es ist das Dritte, das nicht genannt wird, aber den Vergleich ausmacht. So schlicht dieser Schritt der Textaneignung zu sein scheint, wird er doch oft ausgelassen – mit ungünstigen Folgen für die Textdeutung. Die Ähnlichkeitsrelation beim Gleichnis ist ein wesentlicher Aspekt des Textes, über den sich eine Interpretation, die mehr als eine assoziative Gedankenspielerei sein will, nicht hinwegsetzen darf. Inter­pretationen, die zur Ähnlichkeitsrelation im Widerspruch stehen oder sie gänzlich außer Acht lassen, gehen am Text vorbei. Bis heute lässt sich in der Aeneis-Interpretation die Tendenz beobachten, dass die systematische Bestimmung der Ähnlichkeitsrelation (respektive des Vergleichungspunkts oder tertium comparationis) als eine überwundene, allzu positivistische und rationalistische Interpretationsweise zugunsten vermeintlich höherer Ziele aufgegeben wird.894 Wenn dann im Rahmen von Auslegungen der ›Bildersprache‹ oder ›imagery‹ weite Bögen gespannt und die Bildwelten einzelner oder mehrerer Gleichnisse mit dem fiktionalen Geschehen insgesamt in einen semantischen Zusammenhang gesetzt werden, sollte man annehmen, dass derlei Interpretationen die im Gleichnis postulierte Ähnlichkeitsrelation als gegeben (und letztlich banal) voraussetzen und interpretatorisch darüber hinausgehen. Wie im einzelnen zu zeigen sein wird, ist dies durchaus nicht immer 891 Zum Diana-Gleichnis in der Forschung seit Probus siehe Glei 1990; Rieks 1981, 1034–1038. 892 Das heißt: Aeneas’ Aussehen ähnelt dem eines Gottes, weil Venus ihm zusätzliche Schönheit verleiht, so wie Götterbildnisse durch die Verwendung und Aufbereitung verschiedener Materialien verschönert werden. 893 Erbse 2000, 260 Anm. 9. 894 So noch Binder 2019, Bd. 1, 110: »Damit ist sicherzustellen, dass dem Gleichnis nichts an Bedeutung verlorengeht und seine Aussage nicht auf einen einzigen, für die Aussage wesentlichen Vergleichspunkt, auf das bis in jüngere Darstellungen betonte Tertium comparationis, reduziert wird.«

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Gleichnisse: Prägnanz durch Abstraktion

der Fall. Oft mangelt es offensichtlich an Abstraktionsvermögen: Anstatt dass man sich bemühte, den faktischen Zusammenhang zwischen dem fiktionalen Geschehen und dem zum Vergleich herangezogenen Phänomen zu abstrahieren und klar zu benennen, werden mehrere Übereinstimmungen aufgezählt, Muster erkannt, Kategorien gebildet und Prinzipien abgeleitet. Ein Beispiel für einen Ansatz der Gleichnis-Beschreibung, bei dem die entscheidende Abstraktionsleistung letztlich unterbleibt, ist derjenige von D. West.895 Er betrachtet einzelne Übereinstimmungen zwischen ›simile‹ und ›narrative‹896 und beobachtet, ob sie jeweils für beide Seiten oder nur für eine Seite formuliert sind. Dabei führt er unter anderem die Begriffe ›bilateral correspondence‹ und ›unilateral correspondence‹ ein:897 Eine ›bilaterale Übereinstimmung‹ liege dann vor, wenn ein Detail, das im Gleichnis zur Übereinstimmung kommt, sowohl für ›simile‹ als auch für ›narrative‹ formuliert ist. Eine ›unilaterale Übereinstimmung‹ hingegen liege dann vor, wenn ein Detail, das im Gleichnis zur Übereinstimmung kommt, nur ein Mal, d. h. entweder nur für ›simile‹ oder nur für ›narrative‹ formuliert ist, so dass es für die jeweils andere Seite des Vergleichs gedanklich ergänzt werden muss. Darüber hinaus gibt es nach West ›irrational correspondences‹, nämlich solche, die nicht zum ›main comparison‹ passen. Was allerdings dieser ›Haupt-Vergleich‹ sein soll, sagt West nirgends, und seine Interpretationen der Gleichnisse in Aeneis 2 zeigen, dass er offensichtlich die entscheidende Abstraktion nicht immer vollzieht.898 Ein weiteres Beispiel für eine Interpretationsweise, bei der die Ähnlichkeitsrelation nicht genügend beachtet wird, ist diejenige von Lyne, der in bekennender Nachfolge von H. Fränkel dessen Vorstellung, dass die Handlung im Gleichnis fortgeführt werde, für Gleichnisse in der Aeneis geltend macht.899 Nach Lyne besteht die Hauptfunktion des Gleichnisses darin, den Übergang von ›direkter Erzählung‹ zu ›Erzählung in Bildersprache‹ zu bewirken. Der Vergleichungspunkt  – Lyne spricht von ›Berührungspunkt‹ (›point of contact‹)  – und eine vordergründige ›illustrative Funktion‹ des Gleichnisses seien oft bloße Mittel zum Zweck, die Erzählung von ›direkter Erzählung‹ in ›Erzählung in Bildersprache‹ zu überführen: 895 West 1969; sowie in Anwendung auf das Verhältnis homerischer Prätexte: West 1970. 896 Zu diesem Gebrauch des Wortes »simile« vgl. den letzten Absatz von 10.1. 897 Außerdem spricht West 1969, 42 von ›nullilateral correspondences‹, wenn Assoziationen in der Vorstellung des Lesers entstehen, ohne im Text vorhanden zu sein (z. B. in 2,516 die Unschuld und gegenseitige Liebe der Tauben sowie der Umstand, dass sie Beutetiere von Habichten und Adlern sind). Wests Terminologie wird oft zustimmend zitiert, namentlich von Horsfall mehrmals in seinem Kommentar zu Aeneis 2, vgl. z. B.: »West has charted meticulously the many correspondences between simile and narrative«, Horsfall 2008, 363. Eine Anwendung von Wests Terminologie auf die Thebais des Statius findet sich bei: Nagel 1996. 898 Sehr deutlich wird dies beim Gleichnis mit dem Berghirten in Aen. 2,304–308, vgl. 10.4.2. 899 Lyne 1989, 63–99.

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The main function of  a simile is not to illustrate something already mentioned in the narrative, but to add things, which are not mentioned, in  a different medium: imagery. The poet is switching modes, switching from direct narrative to ›narrative‹ in the suggestive medium of imagery; and he capitalizes upon the fact that he is now operating in a suggestive, not an explicit medium. An advertised illustrative function and concomitant point of contact with the narrative may often be seen as means to an end, as little more than a formal device to effect the switch from direct narrative to ›narrative‹ in imagery.900

Eine solche Herangehensweise begünstigt die differenzierte Erfassung der äußerst spezifisch angelegten vergilischen Gleichnisse nicht. In dieser Hinsicht ebenfalls problematisch ist die viel geübte Praxis, Gleichnisse nach einem konkreten Bestandteil des zum Vergleich herangezogenen Phänomens in Sachgruppen einzuteilen.901 Hierbei werden zum Beispiel alle Gleichnisse, in denen ein Stier vorkommt, als ›Stiergleichnisse‹ zusammengefasst, analog bei anderen Tierarten (Schlangengleichnisse, Wolfsgleichnisse, Vogelgleichnisse)  oder bei den Elementen (Windgleichnisse, Wassergleichnisse, Feuergleichnisse) respektive auch gleich allgemein ›Naturgewalten‹.902 Sodann werden einzelne Gleichnisse zueinander in Beziehung gesetzt, und zwar sowohl intratextuell innerhalb der Aeneis oder einzelner Bücher derselben als auch intertextuell (v. a. Ilias und Odyssee,903 Apollonios, Ennius, Lukrez, Georgica904). Auf diese Weise werden die Gleichnisse verabsolutiert und man betrachtet sie losgelöst vom Kontext der Erzählung oder auch ohne Rücksicht auf die Erzählsituation. So beachten zum Beispiel weder v. Duhn905 noch Pöschl906 bei ihren Interpretationen der ›Wolfsgleichnisse‹ für Aeneas (2,355b–360a) und Turnus (9,51–68 und 9,556–566) die Erzählerstimme: Im Falle des Aeneas vergleicht dieser sich selbst und seine Begleiter rückblickend mit Wölfen, während die Wolfsgleichnisse bei Turnus auf der übergeordneten Ebene des epischen Erzählers angesiedelt sind. Es besteht aber ein Unterschied, ob jemand sich selbst mit einem Wolf vergleicht (nämlich der Erzähler Aeneas den erzählten Aeneas) oder ob ein solcher Vergleich von einer äußeren Instanz vorgenommen wird.907 Im ersten Fall kann sich zwanglos eine persönliche Innensicht ergeben, so dass das Gleichnis zur Beschreibung von Emotionen und subjektiver Motivation einer Person beitragen kann. Im Fall des 900 Lyne 1989, 68. 901 Von den konkreten Bestandteilen der zum Vergleich herangezogenen Phänomene handelt Coffey 1961. 902 Zum Beispiel: Hornsby 1970; Briggs 1980. 903 Carlson 1972. 904 Briggs 1980. 905 v. Duhn 1952, 51–79. 906 Pöschl 31977, 131 (21964, 182). 907 Vgl. Glei 1991, 137 Anm. 96: »Zu bedenken ist dabei, daß Aeneas selbst es ist, der diesen Vergleich anstellt.«

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Gleichnisse: Prägnanz durch Abstraktion

übergeordneten unpersönlichen Erzählers ist dies weniger naheliegend und die Außensicht bleibt jedenfalls dominant. Während die Ich-Aussage reflexiv ist und ohne weiteres als subjektive Äußerung verstanden wird, hat die Er-Aussage des epischen Erzählers einen objektiven Charakter. Und konzentriert man sich allzu sehr auf einen konkreten Bestandteil des zum Vergleich herangezogenen Phänomens, zum Beispiel die Tierart Wolf, so geht verloren, dass es entscheidend auf die Verschiedenheit der sehr genau geschilderten Situationen ankommt: Während wir im Fall von Aeneas ein Wolfsrudel beim Aufbruch zur Nahrungssuche im Nebel sehen, ist bei Turnus von einem einzelnen Wolf die Rede, der wütend einen Schafspferch umkreist und dessen Eingang sucht (9,51–68) respektive ein blökendes Lamm vom Mutterschaf wegreißt (9,556–566).908 In Aeneas’ Gleichnis geht es um die instinktive Nahrungssuche der Wölfe; die Perspektive ist diejenige der Wölfe. In den Gleichnissen, die Turnus betreffen, gehört hingegen das von außen beobachtete, aggressive und andere Tiere schädigende Verhalten eines angreifenden Wolfes zur Ähnlichkeitsrelation. Hieraus folgt: Den drei Gleichnissen ist gemeinsam, dass die Tierart ›Wolf‹ in ihnen weniger bedeutsam ist als das spezifische Verhalten dieses zum Vergleich herangezogenen Tieres in einer bestimmten Situation.909 Deshalb werden Interpretationen, die allgemein mit der Charakteristik oder gar Symbolik bestimmter Tierarten operieren, der differenzierten Erzählweise der Aeneis nicht gerecht.910 Entweder sind sie banal (Aeneas und Turnus sind von derselben Art, aber sie handeln situativ bedingt unterschiedlich) oder aber sie verwabern im unbestimmt Assoziativen und werden beliebig. Weil die Gleichnisse in der Aeneis äußerst spezifische Situationen definieren, sind auch Gruppierungen in umgekehrter Richtung meist wenig erhellend, also zum Beispiel die Frage, ›womit‹ Aeneas ›sich‹ in den verschiedenen Gleichnissen vergleicht. Wer zum Beispiel konstatiert, dass Aeneas in Aeneis 2 einen abrupten Wandel vom 908 Die situativ bedingte Unterschiedlichkeit sieht Gíslason 1937, 85 f. 909 Vgl. Finsler 21913, 330 f.: »Ebenso stießen sich antike Interpreten an vielen Gegenständen der Vergleichung. Es war ihnen schon recht, die Helden mit Eichen, Felsen und Löwen verglichen zu sehen, aber daß Athene dem Menelaos die Keckheit einer Fliege einflößt, eines so niedrigen Wesens, erregte ihr Kopfschütteln. Bei den Italienern und Franzosen der Renaissance finden wir grimmigen Spott über die Geschmacklosigkeit, den großen Aias mit einem Esel zu vergleichen, und Verteidiger Homers wie Madame Dacier bemühten sich, zu beweisen, daß der Esel im Orient kein verachtetes Tier sei. Sie haben alle gleichmäßig darin geirrt, daß sie glaubten, die Gleichnisse gingen auf die Personen. Aias ist nicht einem Esel, sondern sein trotziges Zurückweichen mit dem störrischen Tun des Esels verglichen, der sich prügeln läßt und erst, wenn er genug gefressen hat, aus dem Saatfelde weicht.« 910 Erst recht undifferenziert ist die Behauptung, dass Menschen durch Tier-Vergleiche auf ihre animalischen Eigenschaften reduziert würden: Hornsby 1965, 339: »Indeed the animal similes in the Aeneid tend always to reduce the person so compared to the level of a beast, and these animal images are always ominous for the person involved, for they portend some sort of disaster.«

Zu Unrecht vernachlässigt: Die Ähnlichkeitsrelation  

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Hirten [10.4.2] zum Wolf [10.4.3] durchmache,911 übergeht die entscheidenden Einzelheiten, die jeweils den Sinn eines jeden der beiden Gleichnisse ausmachen. Grundsätzlich besteht immer, wenn bei der Interpretation mehrere Gleichnisse zu Gruppen zusammengefasst werden, die Gefahr, dass zu früh verallgemeinert wird und gar nicht erst der Versuch gemacht, die spezifischen Besonderheiten des einzelnen Gleichnisses in seinem Kontext zu erfassen. In Aeneis 2 kommen zum Beispiel in vier der neun Gleichnisse potentiell zerstörerische Naturgewalten vor: Brand und Überschwemmung im Gleichnis mit dem lauschenden Hirten [10.4.2], Sturm im Gleichnis mit den drei Winden [10.4.5], Überschwemmung im Gleichnis mit dem Dammbruch [10.4.7] und Unwetter im Gleichnis mit den Tauben [10.4.8]. Betrachtet man hier die Bildwelten, die in den Gleichnissen das geschilderte Geschehen ergänzen, isoliert vom Kontext, so kann man zu einer Vergleichung der Zerstörung Troias mit einer Naturkatastrophe gelangen.912 Derart übergreifende, sich auf die allgemeine Stimmung beziehende Interpretationen mögen eine gewisse Berechtigung haben, solange sie nicht den Blick auf die nuancierte Erzählweise der vergilischen Gleichnisse verstellen. Genau dies tun sie aber in der Regel, wie die folgenden Betrachtungen der einzelnen Gleichnisse und einiger ihrer Interpretationen zeigen werden. Auch bei den beiden Gleichnissen, in denen Schlangen vorkommen (10.4.4: Erschrecken vor einer versehentlich aufgestörten Schlange und 10.4.6: Aufbäumen und Züngeln einer Schlange nach ihrer Häutung), ist durch den Verweis auf das jeweils andere Gleichnis nicht eben viel gewonnen, da die Vergleichungen unterschiedlich angelegt sind und der Schlange innerhalb des zum Vergleich herangezogenen Phänomens eine je andere Rolle zufällt. Im Zweifel sind gerade die Unterschiede bemerkenswerter als die Gemeinsamkeiten. Grundsätzlich gilt: Je mehr Bezüge zusammengestellt werden, desto weniger besagen sie. Denn Verweise nach überall weisen eigentlich nirgendwohin. Stattdessen ist es methodisch korrekter, bei der Betrachtung eines epischen Gleichnisses zunächst einmal den Aspekt des fiktionalen Geschehens, auf den sich ein Gleichnis bezieht, und das 911 Vgl. Ahl 2018, 61: »They move, Aeneas says, like wolves, on the hunt (2.355–358), an odd simile from a man who has just compared himself to an ›uncomprehending‹ (inscius) shepherd (2,307–308), suggesting an abrupt change from hapless defender to predator.« Ahl steigert dies noch zu einer weiteren Verdrehung: »He, too, is probably wearing Greek armour, we infer. He thus completes a visual metamorphosis: he moves with and among the Greeks looking like one of Troy’s lupine predators, not its naïve shepherd – a shepherd in wolves’ clothing.« Aeneas als ›Schafshirt im Wolfspelz‹ – dahin (und nicht weiter) gelangt man, wenn man die Ähnlichkeitsrelationen der Gleichnisse missachtet und die Bilder sich verselbständigen. 912 Knox 1950, 379 zum Beispiel fasst die Bilder aus den Gleichnissen in Aeneis 2 so zusammen: »The second book of the Aeneid displays the full magnificence of Virgil’s imagery. In this account of Troy’s last night images of raging fire and flood, ravening wolves, storms at sea, the fall of an ancient tree, lend to the events with which they are combined the proportions of an universal cataclysm.«

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zum Vergleich herangezogene Phänomen einander gegenüberzustellen, um zu analysieren, worin die behauptete Ähnlichkeit besteht und was sie für die Erzählung bedeutet. Erst wenn diese Abstraktion vollzogen ist, wenn also bei einem Gleichnis die Ähnlichkeitsrelation bestimmt ist, und nur im Einklang mit ihr können Gleichnis-Deutungen, die über den unmittelbaren Erzählzusammenhang hinausgehen, sinnvollerweise in Betracht gezogen werden. Wenn im epischen Gleichnis zwei Konkreta, nämlich erstens ein Aspekt des fiktionalen Geschehens und zweitens  ein zum Vergleich herangezogenes Phänomen der Erfahrungswelt, zueinander analogisierend in Beziehung gesetzt werden, ist der Rezipient herausgefordert, die Gemeinsamkeit zu finden und zu abstrahieren, worauf es bei der erzählten Begebenheit entscheidend ankommt. So werden in der Aeneis mithilfe von Gleichnissen spezifische Sachverhalte, Wahrnehmungen und Emotionen prägnant definiert. Dadurch, dass die Ähnlichkeitsrelation nur durch Abstrahieren erschlossen werden kann, erfüllt das epische Gleichnis in seinem unmittelbaren Kontext in erster Linie eine definitorische Funktion.913 Ein weiteres kommt hinzu: Das Gleichnis fordert den Rezipienten nicht nur zum Mitdenken auf, es enthebt zugleich den Erzähler einer expliziten Einordnung oder Bewertung der Ereignisse und Handlungen, die er schildert. Anstatt dass ein Ereignis in verallgemeinernder Weise beurteilt würde, eine Handlung also zum Beispiel auf ihr zugrunde liegende moralische Prinzipien zurückgeführt würde, wird der Schilderung ein Bild an die Seite gestellt und es wird dem Rezipienten überlassen, die Abstraktion selbst vorzunehmen. Die Bewertung der geschilderten Angelegenheit ist ihm erst recht anheimgestellt. Im Falle, dass der Held seine eigenen Abenteuer erzählt, kann dies einer angemessenen Selbstdarstellung des Helden zupass kommen, insofern er weder ruhmrednerisch mit seinen Taten prahlen noch eigene Fehlentscheidungen mit apologetischen Ausführungen bemänteln muss. Gleichwohl besteht die Möglichkeit, die Bewertung seines Handelns durch die im Gleichnis evozierten Bilder zu beeinflussen. Funktion und Bedeutung des epischen Gleichnisses innerhalb der Erzählung sind komplex, weil gegensätzliche Faktoren seine Wirkung bestimmen. Die konkrete Anschaulichkeit des zum Vergleich herangezogenen Phänomens 913 Den Gleichnissen werden unterschiedliche Funktionen zugeschrieben. In seiner Abhandlung »von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse, mit Beyspielen aus den Schriften der berühmtesten alten und neuen Scribenten erläutert« unterscheidet Breitinger 1740 ›erleuchtende‹ (3–38), ›auszierende‹ (39–63), ›nachdrückliche‹ (64–109) und ›lehrreiche‹ Gleichnisse (110–131) und führt für die nachdrücklichen Gleichnisse (solche, die »einem Gedanken Nachdruck verleihen«), fünf Beispiele aus Aeneis 2 an (und zwar: 10.4.2; 10.4.3; 10.4.4; 10.4.7; 10.4.9). v. Duhn 1952 hebt in ihren Interpretationen die ›deutende‹ (d. h. ›vorausweisende‹ oder ›zurückweisende‹) sowie insbesondere die ›kompositionelle‹ (im Sinne von gliedernde, strukturierende) Funktion der Gleichnisse hervor (51). Gärtner 1994, 279–294 beobachtet bei Valerius Flaccus ›charakterisierende‹ Gleichnisse.

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steht der Herausforderung zur Abstraktion gegenüber. Sodann hat das Gleichnis einerseits einen Wirklichkeitseffekt und schafft andererseits zugleich auch Distanz zum geschilderten Geschehen: Es hat einen Wirklichkeitseffekt, insofern es das fiktionale Geschehen durch das Hinzuziehen des vertrauten Phänomens der Erfahrungswelt des Rezipienten annähert. Es schafft Distanz zum erzählten Geschehen, indem es durch das Verlassen der Handlungsebene dem Rezipienten Erzähler und Erzählvorgang ins Bewusstsein bringt.914 Schließlich hat das Gleichnis einen Anschein von Objektivität,915 da der Erzähler keine Einordnung und erst recht keine Bewertung des erzählten Geschehens vornimmt. Gleichzeitig aber kann die Meinung des Rezipienten durch die im Gleichnis evozierten Bilder subtil gelenkt werden.

10.4 Die Gleichnisse in Aeneas’ Erzählung In der Aeneis stehen insgesamt 104 Gleichnisse,916 also im Mittel 8,6 pro Buch.917 Aber die Schwankung ist beträchtlich: Während das dritte Buch nur ein einziges Gleichnis enthält, weist das zwölfte ganze 17 Gleichnisse auf. Am höchsten ist die Anzahl der Gleichnisse in den Büchern mit den ausgedehntesten Kampfschilderungen: 11 im neunten, 14 im zehnten und die genannten 17 im zwölften Buch.918 Auch das fünfte Buch, das die Wettkampfschilderungen der Leichenspiele für Anchises – also ebenfalls Kampfschilderungen im weiteren Sinne – enthält, liegt mit 10 Gleichnissen leicht über dem Mittelwert. Vergleicht man den Text des extradiegetischen Erzählers (Aen. 1; 4–12) mit demjenigen des intradiegetischen Erzählers Aeneas (Aen. 2–3) in Hinsicht auf die Anzahl der Gleichnisse, so ergibt sich durch die exzeptionell niedrige Zahl von nur einem Gleichnis in Aeneis 3 ein deutlicher Unterschied: Während der extradiegetische Erzähler einen Mittelwert von 9,5 Gleichnissen pro Buch erreicht, 914 Vgl. Beck 2014, 79; siehe Anm. 791. 915 Vgl. Williams 1983, 166: »It is the poet who claims to see and to establish the similiarities between the context and the simile; there is no suggestion that the characters in the narrative context would have viewed. In this sense, the simile is authorial, impartial, objective.« 916 Auch Rieks 1981, 1012 kommt insgesamt auf 104 Gleichnisse. Wie seine Übersicht über Buch 1 (1069) und seine Aufstellung der Gleichnisse (1093–1096) zeigen, versteht er allerdings die Beschreibung der Venus, die in Gestalt einer tyrischen Jägerin auftritt (1,315–320), als Gleichnis (ebenso: v.  Duhn  1957 und Carlson  1972); dafür zählt er Aen. 2,515–517 (Troianerinnen und Tauben) nicht als Gleichnis. Für frühere Zahlen vgl. Wilkins 1921, 170 Anm. 4; sie selbst kommt, die Kurzvergleiche einschließend, auf 163. 917 Die quantifizierende Betrachtung bleibt hier auf das Verhältnis der Stückzahlen beschränkt; es wird darauf verzichtet, die Verszahlen der Bücher und der Gleichnisse gegeneinander aufzurechnen. 918 Vgl. Suerbaum 1999, 275 f.

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beträgt der Mittelwert pro Buch beim intradiegetischen Erzähler Aeneas nur 5. Aeneis 2 liegt für sich allein genommen allerdings mit seinen 9 Gleichnissen nah am Mittelwert des extradiegetischen Erzählers und auch nicht weit entfernt von den absoluten Zahlen in Aeneis 6 und in Aeneis 7 (je 7), in Aeneis 4 (8) sowie in Aeneis 11 (9). Also unterscheidet der Text des intradiegetischen Erzählers im zweiten Buch sich in Hinsicht auf die Anzahl der Gleichnisse nicht signifikant vom Text des extradiegetischen Erzählers. Mithin steht auch die auffallend niedrige Anzahl von nur einem Gleichnis im dritten Buch nicht in Zusammenhang mit dem Umstand, dass eine intradiegetische Erzählung vorliegt.919 Für die Gleichnisse innerhalb von Figurenrede gilt wie für Figurenrede überhaupt, dass sie der Erfahrungswelt der Figuren entsprechen müssen, da sich andernfalls ein Fiktionsbruch ergäbe. Das heißt, dass einer Figur keine Gleichnisse in den Mund gelegt werden dürfen, die ihren kognitiven Horizont überschreiten.920 In der Aeneis erfüllt die Figurenrede des intradiegetischen Erzählers Aeneas dieses Kriterium: In den Gleichnissen innerhalb seiner Figurenrede kommen nur Phänomene vor, die seine Figur kennen kann. Diejenigen Gleichnisse der Aeneis, in denen Phänomene vorausgesetzt werden, die Aeneas nicht bekannt sein können, stehen alle außerhalb von Aeneis 2–3 im Erzählertext des übergeordneten Erzählers. Dazu gehören neben den Vergleichsgegenständen, die späteren Epochen angehören,921 auch solche, die geographische Namen enthalten, deren Kenntnis für die Figur des Aeneas nicht vorausgesetzt werden kann, nämlich die Flüsse Ganges und Nil (deren Schwelle: 9,30–32), sowie Etsch und Po (Eichen an deren Ufern: 9,672–685). 919 Lana 1983, 102–104, bringt die geringe Anzahl von nur einem Gleichnis in Aeneis 3 mit einem hohen Grad der Unfertigkeit dieses Buches in Zusammenhang. Für Scott 1918 ist die niedrige Zahl von nur einem Gleichnis im Buch der Fahrtenschilderung thematisch bedingt (wie ebenso der unterschiedliche Gleichnis-Gebrauch in Ilias und Odyssee, weshalb dieser dort kein Argument für unterschiedliche Autorschaft sei). 920 In diese Richtung gehen die Ausführungen von Williams 1983, 253: »The figure of simile allows the poet to enter his own text and make his voice heard. Consequently, careful adaptation is needed when the poet ceases to be the narrator. There is no such adaptation in Books 9–12 of the Odyssey when Odysseus takes over the narrative from Homer : the voice is still the voice of Homer. But in Aeneid 2 the similes are carefully managed to convey a different voice. There are nine similes in the book, all of them striking. When the poet indulges in the figure, he emphasises the gap between the temporality of the narrative and the composition. But there is no such gap – or only in a negligible sense – between Aeneas’ speaking and the events he narrates. The material of the similes is therefore restricted; they are all drawn from the world of nature: two concern floods; two snakes; and one each the sacrifice of an ox, a wolf-pack, storm winds, doves in a storm, and a felled tree. The list recalls familiar Homeric material for similes; what is remarkable, however, is that only four (304–08, 379–81, 471–75, and 496–99) have Homeric models that are at all close. This is largely due to the adaptation of the similes to a voice other than Virgil’s.« 921 Hierzu siehe 10.1 mit Anm. 799 und 800.

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Zur Erzählerstimme in Aeneis 2–3 passt auch, dass keines der dort vorkommenden Gleichnisse der Person des Aeneas um ihrer selbst willen gelten oder diese offen positiv charakterisieren würde,922 was sich aus seinem eigenen Munde seltsam ausnehmen könnte. Darüberhinaus lässt sich konstatieren: Von den Gleichnissen in Aeneis 2–3 hat keines einen mythologischen Vergleichsgegenstand,923 und keines ist korrelativ formuliert. Im folgenden werden die Gleichnisse in Aeneis 2–3 nach dem jeweiligen zum Vergleich herangezogenen Phänomen identifiziert; herkömmliche Benennungen erschließt das Sach-Register.

10.4.1 Brüllen eines beim Opfer verletzten Stiers (2,223 f.) Laocoon, ductus Neptuno sorte sacerdos, 2,201 sollemnis taurum ingentem mactabat ad aras. 2,202 (2,203–219: Zwei riesige schlangenartige Untiere kommen aus dem Meer zum Strand. Sie umwinden Laocoons Söhne und beginnen, diese zu fressen. Laocoon eilt seinen Söhnen zu Hilfe. Die Untiere umschlingen seinen Körper.) ille simul manibus tendit divellere nodos 2,220 perfusus sanie vittas atroque veneno. 2,221 clamores simul horrendos ad sidera tollit,924 2,222 qualis mugitus, fugit cum saucius aram 2,223 taurus et incertam excussit cervice securim. 2,224 at gemini lapsu delubra ad summa dracones 2,225 effugiunt saevaeque petunt Tritonidis arcem, 2,226 sub pedibusque deae clipei sub orbe teguntur. 2,227 Laocoon, dem Neptun als Priester zugelost, war gerade dabei, am festlichen Altar einen großen Stier darzubringen. || Er bemüht sich, die Schlingen mit den Händen wegzuzerren, Geifer und dunkles Gift benetzen ihm die Priesterbinden. Zugleich erhebt er entsetzliche Schreie zum Himmel, wie das Gebrüll des Stiers, der verletzt dem Altar entkommen ist und das Beil, das ihn unsicher traf, abgeschüttelt hat. Das Drachenpaar aber entgleitet in Richtung des ganz oben gelegenen Tempels, gelangt zum Sitz der gewaltigen Pallas und birgt sich zu Füßen der Göttin an der Wölbung ihres Schildes.

Bei diesem ersten Gleichnis in Aeneas’ Erzählung ist die Ähnlichkeitsrelation verhältnismäßig einfach zu fassen: In 2,222–224 wird das Schreien des Laocoon, der versucht, sich aus der Umschlingung der Meeresungeheuer zu befreien, ver922 Vgl. Steele 1918, 95: »Aeneas ist the central figure in the poem, and in keeping with his position the most ennobling comparisons are assigned to him, when he is presented by the poet and not by himself. To himself he is ever a man, and his similes are in harmony with his position.« 923 Die von Masson 1935, bes. 636; 637; 639 vorgetragene Vermutung, dass es sich bei den Vergleichsgegenständen in Aeneis 2 um persönliche Erinnerungen an persönliches Erleben des Dichters handele, ist gleichermaßen spekulativ wie folgenlos. 924 tollit,] Conte: tollit: Mynors

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glichen mit dem Brüllen eines Stiers, der vom Altar flieht und das Beil, das ihn beim Opfer nicht tödlich getroffen hat, abschüttelt.925 Der faktische Zusammenhang besteht darin, dass es sich in beiden Fällen um die Lautäußerung eines Individuums handelt, das sich mit letzter Kraft vergeblich gegen einen gewaltsamen Tod aufbäumt.926 Im Kontext der Erzählung steht das unartikulierte, dem Gebrüll eines Tieres gleichende Schreien des sterbenden Laocoon in Kontrast zu seiner zuvor artikuliert vorgetragenen Warnung, die dadurch, dass die Troianer den Angriff der Schlangen als Strafe für Laocoons Misstrauen gegenüber dem hölzernen Pferdes verstehen, wirkungslos wird. Das Gleichnis weist aber zwei Besonderheiten auf, die sich auch auf die Ähnlichkeitsrelation auswirken. Die erste Besonderheit besteht darin, dass hier das Phänomen, mit dem das erzählte Geschehen verglichen wird, der Sache nach zu der am erzählten Geschehen beteiligten Person und deren direkt zuvor geschilderter Tätigkeit passt: Der Priester, zu dessen Amt der Vollzug von Opfern gehört, und der tatsächlich eben noch dabei war, ein Stieropfer zu vollziehen (2,202), brüllt nun seinerseits wie ein Stier, den das Opferbeil aus Versehen nicht tödlich getroffen hat. Eine solche für Gleichnisse unübliche Beibehaltung derselben Thematik in der Bildsphäre führt zu einer Überlagerung der beiden Sinnzusammenhänge. Dies wird durch den Umstand, dass es sich beim Opfertier in beiden Fällen um dieselbe Art handelt, noch verstärkt. Es kann nicht einmal kategorisch ausgeschlossen werden, dass es sich um dasselbe Tier handelt: Über den Verlauf von Laocoons letzter Amtshandlung macht der Text keine näheren Angaben. Das Verb im Imperfekt (mactabat 2,202) drückt aber aus, dass sie beim plötzlichen Erscheinen der Meeresungeheuer (ecce autem gemini…|… angues | incumbunt 2,203–205) noch nicht abgeschlossen ist und durch dieses unterbrochen wird.927 Wenn dann in 2,223 f. Laocoons Schreie mit dem Brüllen eines verletzten und flüchtigen Opferstiers verglichen werden, so kann die im Gleichnis angedeutete spezielle Situation des misslungenen Opfers zugleich auch als mögliche Fortsetzung der auf der Handlungsebene geschilderten, unterbrochenen Opferung verstanden werden. Das Geschehen auf der Handlungsebene wäre dann in das Geschehen auf der Bildebene verschachtelt.928 925 Zu Laocoons Tod siehe Kleinknecht 1944, 438–439; Carlson 1972, 99–109; Horsfall 2008, 183–208. 926 Auch das Bemühen des Stiers ist vergeblich, weil der römische Opferritus vorsah, dass flüchtige Opfertiere eingefangen und getötet wurden; hierzu siehe Wissowa 21912, 416; Latte 21967, 388. 927 Vgl. Carlson 1972, 101 Anm. 1. Auch Horsfall 2008, 189 macht einen durativen Aspekt für das Imperfekt mactabat geltend, allerdings mit anderer Implikation: »Impf. suggests that the rite has already been under way for some time, further helping to explain the absence of the hostile Laoc. during Sinon’s explanation«. 928 In der deutschen Übersetzung kann man die Sache offenlassen, wenn man für 2,224 den bestimmten Artikel verwendet, der zugleich sowohl den Bezug auf 2,202 als auch eine dem Gleichnis angemessene Generalisierung ausdrücken kann. Im Gesamtzusammen-

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Das Gleichnis weist eine zweite Besonderheit auf, insofern das zum Vergleich herangezogene Phänomen des entflohenem Opfertiers in der römischen Religion eine besondere Bedeutung hat: Es galt als schlechtes Omen, wenn ein Tier, das geopfert werden sollte, versuchte, sich der Opferung zu entziehen.929 Da die Störung im Ablauf eines Opfers als ungünstiges Vorzeichen gewertet wurde, kann in der Übertragung auch der Tod des Laocoon und seiner Söhne als ungünstiges Vorzeichen verstanden werden.930 Zusammen bewirken die beiden Besonderheiten des Gleichnisses – Beibehaltung der Thematik in der Bildsphäre und ominöse Bedeutung des verwendeten Bildes, die auch für das geschilderte Geschehen und seinen Kontext geltend gemacht werden kann –, dass Laocoons Todeskampf in der Erzählung den Charakter eines unheilkündenden Vorzeichens erhält.931 Als weitere Herausforderung für den Rezipienten kommt hinzu, dass die Laocoon-Geschichte, wie sie in der Aeneis von Aeneas erzählt wird,932 eine markante Auslassung aufweist: Das Sterben des Laocoon wird nicht erzählt, ja genaugenommen wird sein Tod nicht einmal erwähnt. Das letzte, was wir von Laocoon erfahren, ist sein Schrei in 2,222. Anschließend folgt in 2,223 f. das Gleichnisbild, bevor in 2,225–227 mit einem durch at eingeleiteten Subjektswechsel das Entschwinden der beiden Meeresungeheuer zur Pallas-Statue geschildert wird. Insofern ein dem Opfer entkommenes Tier nach römischer Vorstellung einge-

hang wäre dann aber zu erwägen, ob analog in allen Gleichnissen der bestimmte Artikel in generalisierender Weise verwendet werden müsste. 929 Hierzu siehe Wissowa 21912, 416; Latte 21967, 388; Kleinknecht 1944; v. Duhn 1952, 53 mit Anm. 1. 930 Zu Laocoons Tod als ungünstigem Prodigium siehe Kleinknecht  1944; speziell zum Gleichnis vgl. 438–439: »Die Beziehung des Vergleichs reicht jedoch tiefer. Sie geht auf das Ganze des Geschehens. Was bei Vergil zunächst nur Gleichnis und Bild für die horrendos clamores scheint, ist der Sache nach selbst ein typischer Prodigienfall.« 931 Maßgeblich hierzu: Kleinknecht 1944. Auch bei: v. Duhn 1952, 54–56. Laut Rieks 1981, 1018 wurde der Prodigiencharakter der Laocoon-Szene erstmals von Breitinger herausgearbeitet; vgl. Breitinger 1740, 140 f.: »Wenn er den Priester Laocoon gleichsam in das Opfer-Thier verwandelt, und ihn unter diesem Bilde vorstellet, so giebt er zu verstehen, daß derselbe durch dieses unerwartete Geschicke ein Schuld-Opfer der Rache der erzürnten Götter geworden, er bereitet euch damit vor, daß das Urtheil der Bürger von Troja über diesen Zufall euch desto wahrscheinlicher vorkömmt. (…) Dabey ist insbesondere auch dieser Umstand zu bemercken, daß der Fall, welchen der Poet in dem Gleichnisse abbildet, nach dem Irr-Glauben der Heiden allezeit etwas Ungerades bedeutet hat, wenn nemlich das Opfer-Vieh dem Priester unter der Hand entrunnen war, oder nachdems einen Streich empfangen, noch gebrüllet hatte. Dieses können wir von Festus vernehmen: Piacula vocabant, schreibt er, quod sacrificantibus tristia portendebant, cum aut hostia ab ara profugisset, aut percussa mugitum dedisset, aut in aliam partem corporis, quam oporteret, decidisset.« 932 Zu Laokoon in der griechischen Literatur vor Vergil: Nesselrath  2009; bei Quintus Smyrnaeus: Gärtner 2009.

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fangen und getötet werden musste,933 wird der Tod des Laocoon im Gleichnis impliziert – jedenfalls für die externen Rezipienten. Ob diese römische Vorstellung allerdings auch für Aeneas und die Troianer sowie die interne Rezipientin Dido vorausgesetzt werden kann, ist fraglich. Feststeht aber, dass das Gleichnis bereits auf der rein faktischen Ebene (mit der Gegenüberstellung: Schreien eines sterbenden Mannes – Brüllen eines mit Opferbeil verletzten Tieres) für den Erzähler Aeneas und seine Zuhörer einen Sinn ergibt. Außerdem zeigt der Vergleich mit dem »unschuldigen« Opfertier, dass der erzählende Aeneas, anders als der erlebende Aeneas und die übrigen Troianer, den Tod des Laocoon nicht für eine göttliche Strafe hält, sondern darin rückblickend den Anfang des Untergangs sieht. Insgesamt ergeben sich drei epistemische Ebenen: Auf der Handlungsebene halten die Troianer (und mit ihnen Aeneas) den Tod des Laocoon und seiner Söhne für eine Strafe dafür, dass Laocoon die kultische Bedeutung des hölzernen Pferdes anzweifelt und es tätlich angreift.934 Als Erzähler hingegen hat Aeneas inzwischen erkannt, dass Laocoon mit seiner Warnung recht hatte und dass mit dessen Tod der gottgewollte Untergang Troias beginnt: Im Rahmen des göttlichen Plans, der die Zerstörung Troias zum Ziel hat, sind Laocoon und seine Söhne die ersten ›Opfer‹. Durch den im akustischen Phänomen verankerten Vergleich des sterbenden Priesters mit einem verletzten Opfertier rückt das Geschehen in eine religiöse Sphäre und verleiht ihm eine ominöse Note. Für die externen Rezipienten ergibt sich daraus eine zusätzliche Bedeutung: Das nach römischer Vorstellung infauste Opfer entspricht Laocoons Tod, insofern beide als ungünstiges Prodigium zu sehen sind. Die homerischen Gleichnisse, die G. N. Knauer mit dem vorliegenden Gleichnis in Zusammenhang setzt,935 sind alle viel schlichter konzipiert. Nur sehr entfernte Ähnlichkeit mit dem Laocoon-Gleichnis hat das Gleichnis in Il. 17,520– 522: Arteos, dessen Schild einer Lanze nicht standhält, sinkt zusammen wie ein weidendes Rind, dem die Sehne hinter den Hörnern durchhauen wird. Es geht also nicht um ein akustisches Phänomen, sondern um eine bestimmte Art des Zusammensinkens beim Todesstoß, der einem Krieger respektive einem Rind beigebracht wird. Das Gleichnis in Il. 21,237 thematisiert immerhin ebenfalls ein akustisches Phänomen: Der Schrei des Flussgottes Skamander wird mit dem Brüllen eines Stieres verglichen, allerdings allgemein und nicht in einer bestimmten Situation. Die größte Übereinstimmung besteht noch mit Il. 20,403b–405: Hippodamas wird von Achills Speer im Rücken getroffen und brüllt wie ein Stier, den man zum Opfer zerrt. Wie in Aen. 2,222–224 wird also 933 Die Vergeblichkeit des Aufbäumens gegen den Tod auch beim Stier wurde bereits erwähnt; siehe Anm. 926. 934 Büchner 1955, 327: Das Geschehen ist als ›Strafwunder‹ deutbar. 935 Knauer 1964, 379.

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der Todesschrei eines Mannes mit dem Brüllen eines für ein Opfer vorgesehenen Stieres verglichen. Aber während es sich bei dem Stier der Ilias, der brüllt, wenn er zum Opfer gezerrt wird, um eine generische Situation handelt, geht es in der Aeneis um den speziellen Sonderfall, dass der Stier brüllt, weil er nicht richtig getroffen wurde. Dieser Abweichung ungeachtet postuliert v. Duhn hier einen intertextuellen Bezug, dessen interpretatorische Auswertung die vergilische Erzählung vervollständigen soll: Durch die Ähnlichkeit der Gleichnisse werde beim Rezipienten die homerische Schilderung vom Tod des Hippodamas evoziert, so dass er das in der Aeneis nicht erzählte Sterben des Laocoon ergänzen könne.936 Allerdings bedarf diese Ergänzung durch den Rezipienten des Umwegs über den Kontext des homerischen Gleichnisses gar nicht. Dass Laocoon und seine Söhne sterben, kann auch aus der Schilderung selbst ohne weiteres ergänzt werden.937 Die Situation des Hippodamas, der aus Furcht vor Achill von seinem Wagen springt, davonläuft und im Rücken getroffen wird (Il. 20,401–403a), ist im Übrigen derjenigen des Laocoon, der sich auf die ihm drohende Gefahr zubewegt, um seinen Söhnen zu Hilfe zu kommen (2,216), geradezu entgegengesetzt. Auch sonst haben die Todesumstände der beiden wenig miteinander gemeinsam: Hippodamas stirbt als Krieger in der Schlacht, Laocoon stirbt als Priester beim Angriff zweier Riesenschlangen. Für das Verhältnis der vergilischen Version vom Sterben des Laocoon und seiner Söhne zu der berühmten vatikanischen Statuengruppe938 hat das Gleichnis insofern eine besondere Relevanz, als es das Schreien des Laocoon als Ausdruck seines Schmerzes hervorhebt. Während Schall in der bildenden Kunst grundsätzlich eher schwierig darzustellen ist, kann in der literarischen Repräsentation eines Geschehens die Beschreibung von Schreien wirkungsvoll zur Darstellung von Schmerz genutzt werden.939 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn in 936 v. Duhn 1952, 52: »Das homerische Gleichnis veranschaulicht das Sterben eines Helden, dessen Tod in den Versen, die das Bild einrahmen, mitgeteilt wird. …. Bei Vergil vertritt das Gleichnis die Mitteilung vom Tod des Laocoon; in den vorangehenden Versen wird das vergebliche Bemühen des Priesters, sich der Schlangen zu erwehren, das in dem verzweifelten Schreien endet, geschildert, und nach dem Bild das Verschwinden der Untiere. Virgil sagt nicht, daß Laocoon und seine Söhne in der Umschlingung der Schlangen oder von ihrem Gift zugrunde gehen, aber er deutet es im Gleichnis an, in dem er an das homerische Bild, das sich eindeutig auf einen Sterbenden bezieht, erinnert.« 937 So auch Carlson 1972, 17, Anm. 2 (gegen v. Duhn, vgl. vorige Anm.): »Natürlich mögen solche Bezüge auch bestehen, doch wird aus der Vergilstelle selbst schon eindeutig klar, daß der Priester zum Opfer werden und daß der Angriff der Schlangen tödliche Folgen haben wird.« 938 Für Literatur zur Datierung der Laokoongruppe und ihrem Verhältnis zu Vergils literarischer Darstellung siehe Horsfall 2008, 80–82. 939 Zu ästhetischen und ethischen Implikationen von Laocoons Schreien in bildender Kunst und Literatur vgl. G. E. Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Werke, Sechster Band: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, München 1974, 7–187. Lessing, für den der Laocoon der vatikanischen Gruppe aus ästhetischen,

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einer Ich-Erzählung nicht der eigene Schmerz, sondern der eines anderen dargestellt werden soll. Im grundsätzlichen Aufbau stimmt die vergilische Ausbildung des Motivs mit der vatikanischen Gruppe überein: Zwei Riesenschlangen umschlingen die Söhne und den Vater; während allerdings die Körper der Söhne in der Plastik zwar von den Schlangen umschlungen werden, aber noch intakt sind, werden sie in der Aeneis nicht nur umschlungen, sondern auch schon angebissen (2,214 f.). Wenn nun in Vergils literarischer Repräsentation der Geschichte das Schreien des Laocoon durch das Gleichnis besonders betont ist, so kann dies in der Diskussion, ob Vergil die Laokoongruppe kannte oder nicht, als Indiz dafür gewertet werden, dass der Dichter die ihm bekannte Skulptur in sein Medium, das der Dichtung, übertragen hat: Um sich vom Bildwerk abzusetzen, reizt er die ihm zur Verfügung stehende Möglichkeit, Schall literarisch darzustellen, im Gleichnis aus, einem Gestaltungsmittel, das dem bildenden Künstler schon gar nicht zur Verfügung steht.

10.4.2 Schwierigkeit, die akustische Wahrnehmung eines gewaltigen Naturereignisses von fern richtig zu deuten (2,304–308) diverso interea miscentur moenia luctu 2,298 et magis atque magis, quamquam secreta parentis 2,299 Anchisae domus arboribusque obtecta recessit, 2,300 clarescunt sonitus armorumque ingruit horror. 2,301 excutior somno et summi fastigia tecti 2,302 ascensu supero atque arrectis auribus asto,940 2,303 in segetem veluti, cum flamma furentibus Austris 2,304 incidit, aut rapidus montano flumine torrens 2,305 sternit agros, sternit sata laeta boumque labores 2,306 praecipitisque trahit silvas,941 stupet inscius alto 2,307 accipiens sonitum saxi de vertice pastor. 2,308 tum vero manifesta fides, Danaumque patescunt 2,309 insidiae. iam Deiphobi dedit ampla ruinam 2,310

dem Medium der Bildkunst geschuldeten Gründen nicht schreit, sondern allenfalls seufzt (»Er erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singet; die Öffnung des Mundes gestattet es nicht: es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibet«, 12), gesteht dem literarischen vergilischen Laocoon sein Schreien ausdrücklich zu: »Virgils Laokoon schreit, aber dieser schreiende Laokoon ist eben derjenige, den wir bereits als den vorsichtigsten Patrioten, als den wärmsten Vater kennen und lieben. Wir beziehen sein Schreien nicht auf seinen Charakter, sondern lediglich auf sein unerträgliches Leiden. Dieses allein hören wir in seinem Schreien; und der Dichter konnte es uns durch dieses Schreien allein sinnlich machen«, 29.  940 asto,] asto: Mynors: adsto: Conte 941 silvas,] silvas; Mynors, Conte

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Volcano superante domus, iam proximus ardet 2,311 Ucalegon, Sigea igni freta lata relucent. 2,312 exoritur clamorque virum clangorque tubarum. 2,313 Inzwischen füllt sich die Stadt allerorten mit Schreien, und obwohl Anchises’ Haus abgelegen ist und durch Bäume abgeschirmt, werden immer stärker Geräusche vernehmbar und schauerlicher Waffenklang dringt heran. Ich schrecke aus dem Schlaf und erklimme die höchste Stelle ganz oben am Dach und ich stehe da mit gespitzten Ohren, wie, wenn ein Feuer bei rasenden Südwinden ins Kornfeld fährt oder ein reißender Sturzbach aus einem Gebirgsfluss tosend Äcker, fruchtbare Saaten und das Werk der Pflugochsen zerstört und entwurzelte Bäume jäh mit sich fortreißt, ein Hirte hoch oben auf dem Felsengipfel entsetzt den Lärm vernimmt, ohne zu wissen, was ihn verursacht. Da aber wird die Wahrheit offensichtlich und die Hinterlist der Griechen tritt zutage. Das geräumige Haus des Deiphobus ist von Flammen besiegt schon eingestürzt, schon brennt das Haus seines Nachbarn Ucalegon; die Bucht von Troia glänzt weithin im Widerschein des Feuers. Es erschallen Schreie und Kriegslärm.942

In 2,202b–208 wird die Situation des Aeneas, der von fernem Lärm geweckt auf das Dach seines Vaterhauses steigt und dort lauschend verharrt, verglichen mit derjenigen eines Hirten, der auf einem Felsgrat stehend von Ferne das Geräusch eines Saatbrandes oder einer Überschwemmung wahrnimmt und nicht weiß (­ inscius 2,306), worum es sich genau handelt. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Situationen besteht darin, dass eine Person sich bemüht, von einem höhergelegenen Standpunkt aus ihre akustische Wahrnehmung eines gewaltigen, potentiell gefährlichen Geschehens, das sich in einiger Entfernung ereignet, zu deuten. Bei diesem Gleichnis führen die Missachtung der Ähnlichkeitsrelation und die Fixierung auf die Intertextualität mit Homer dazu, dass vor allem anderen und zuweilen ausschließlich die Gleichsetzung der Zerstörung Troias oder der in Troia wütenden Griechen mit einem Saatbrand und einer Überschwemmung interpretiert werden, z. B.: The Greeks are like a flame fanned by the South Wind, or the current of a mountain stream, both of which raze fields, farms and forests. Besides these elements, Virgil adds a subjective element: Aeneas inserts himself into the simile, comparing himself to an inscius pastor.943 Iliupersis = Saatbrand / Bergstrom944 At Aeneid 2.304 ff. Aeneas is first made aware of the coming destruction of Troy in a double simile which combines fire and flood; these two forms of destruction (natural rather than human) continue echoing through the book.945 942 Der Ausdruck clamorque virum clangorque tubarum ist hier absichtlich unspezifisch übersetzt. Zum Gebrauch der tuba bei Eroberungen vgl. Horsfall 2008, 267. Dieselbe Formulierung begegnet in 11,192. 943 Briggs 1980, 18. 944 Rieks 1981, 1033;1093; Binder 2019, Bd. 1, 116. 945 Hardie 1986, 192.

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(…) the majestic universalising of the destruction of Troy by comparison to the natural forces of flood and (dominant in the whole book) fire, along with their tragic effect upon the work of men’s hands946

Dabei wird übersehen, worauf es an diesem Punkt der Erzählung ankommt, nämlich, dass Aeneas hier den Augenblick schildert, in dem er sich befindet, kurz bevor er die List der Griechen durchschaut. Die Doppelung der Lärm verursachenden Naturgewalten ist eine echte Alternative (aut 2,305): entweder Brand oder Überschwemmung. Und bei dem Hirten in dem Gleichnis handelt es sich nicht um schmückendes Beiwerk,947 sondern um die wahrnehmende Person, mit der Aeneas sich vergleicht. Entscheidend ist, dass der Hirte den Lärm hört, aber nicht weiß, wodurch er verursacht wird: inscius…pastor (2,307. 308). Der Aspekt der Erzählung, der durch das Gleichnis definiert wird, ist die Unsicherheit bei der Deutung der akustischen Wahrnehmung:948 So wie der Hirte lauscht auch Aeneas in die Ferne und kann das Gehörte zunächst nicht deuten. Demgegenüber ist die Parallelisierung der Zerstörung Ilions mit einer Naturkatastrophe sekundär. Direkt im Anschluss an das Gleichnis steht der entscheidende Satz tum vero manifesta fides Danaumque patescunt / insidiae (2,309 f.). Dies ist die Stelle in Aeneas’ Erzählung, an der er schildert, dass er zu diesem Zeitpunkt den Hinterhalt der Griechen durchschaut. Im Gleichnis wird der vorausgehende Zustand der ahnenden Unwissenheit, in dem der erzählte Aeneas sich bis zu diesem Punkt befindet, noch einmal ausgeführt, bevor der tum-Satz die Wissens-Diskrepanz zwischen erzähltem und erzählendem Aeneas hinsichtlich des vorgetäuschten Abzugs der Griechen aufhebt.949 Diesen Zusammenhang kann man nicht erkennen, wenn man die Ähnlichkeitsrelation des Gleichnisses nicht berücksichtigt. Die Einordnung des Gleichnisses als eines mit ›bilateral correspondences‹, die West 1969 vornimmt, hilft da nicht weiter. Die Bedeutung des Gleichnisses kann sich West nicht erschließen,

946 Horsfall 2008, 260; ähnlich: Keith 1933, 601. 947 Die Bedeutung des Hirten unterschätzt z. B. v. Duhn 1952, 63–67: »Der Hirt, der dem Brausen aus der Ferne lauscht, spielt nur eine untergeordnete Rolle«; aus diesem Missverständnis erwachsen abenteuerliche Bezugnahmen, die angeblich den Bedeutungszusammenhang erschließen. 948 So bereits Krondl  1878, 5: »Aeneae stupor audientis perturbatum sonitum (arrectis auribus adsto) in Aen. II 305.ss«. Auch Gíslason  1937, 56 f. erkennt die Funktion des Hirten: »hat die Person des Hirten bei Vergil ihre genaue Parallele in den tatsächlichen Begebenheiten der Handlung, denn Aeneas nimmt das Schlachtgetümmel in der Stadt vom Dache des Hauses seines Vaters aus wahr, Aen. II. 302f: Excutior somno et summi fastigia tecti | Ascensu supero atque adrectis auribus adsto; unmittelbar nach diesen Versen wird das Gleichnis angebracht.« 949 Vgl. hierzu oben: 8.3.

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weil er den Text nur ungenau zur Kenntnis nimmt.950 Dies wird deutlich aus der Art und Weise, wie er ihn paraphrasiert: »Aeneas watching the burning of Troy is compared to a shepherd watching a fire or a flood«951 und »the simile … compares Aeneas standing on the top of the palace watching the destruction of Troy to a shepherd standing on a rock watching a fire or a flood.«952 Lassen wir einmal dahingestellt ob mit »palace« das Haus des Anchises gemeint sein kann, oder ob West die Position des erzählten Aeneas an diesem Punkt der Handlung mit einer späteren verwechselt. Auf jeden Fall unzutreffend ist »watching«. Denn von Aeneas heißt es arrectis auribus asto (2,303) und vom Hirten accipiens sonitum (2,308), d. h. sie spitzen die Ohren respektive vernehmen ein Geräusch. Es handelt sich um eine akustische Wahrnehmung, nicht um eine optische.953 Für den Sinn des Gleichnisses ist bedeutsam, dass beide Figuren, nämlich ­Aeneas in der Sphäre des fiktionalen Geschehens und der Hirte in der Bildsphäre, etwas mit dem Gehör wahrnehmen, das sie nicht sehen können, weshalb sie zu erahnen versuchen, wodurch das Geräusch in der Ferne verursacht wird. Wests Paraphrase, der zufolge Aeneas und Hirte die jeweiligen Vorgänge beobachten (»watching«), lässt erkennen, dass West nicht verstanden hat, worauf es in dem Gleichnis ankommt. Seine Annahme, dass Aeneas und der Hirt jeweils das Lärm verursachende Geschehen sehen können, geht von einer erheblich banaleren Erzählweise aus, als sie tatsächlich vorliegt. Horsfall 2008, der West zustimmend zitiert, scheint ebenfalls den entscheidenden Aspekt des Gleichnisses nicht zu erkennen, wenn er die Bezeichnung des pastor als inscius in 2,307 »mysterious and provocative« nennt.954 Mit inscius wird schlicht der Zustand des Hirten beschrieben, der nicht weiß, ob das Geräusch, das er hört, durch einen Saatbrand oder eine Überschwemmung verursacht wird. Das Adjektiv inscius beschreibt somit einen wesentlichen Aspekt der Ähnlichkeitsrelation, nämlich die Unwissenheit, in welcher der Hirt respektive

950 951 952 953

West 1969, 40–42. West 1969, 40. West 1969, 42. Auch Briggs 1980, 85 verwechselt Hören und Sehen: »Aeneas sees the destruction of his native city as an inscius pastor watching the ruin of the farmer’s land by fire and flood«; auch er erkennt die Ähnlichkeitsrelation nicht. Statt dessen stellt er den ›Sturm‹ und Il. 4,452–456 als homerischen Prätext in den Mittelpunkt seiner irrigen Interpretation: »Virgil, like Homer speaks of a raging force of soldiers. But Homer simply uses the overhearing shepherd in the simile to stress the great din of battle and provide a peaceful contrast momentarily to the deathly business of battle. The shepherd is not directly identified with any participant in the battle, unless with the reader who might recall a similar experience. Virgil clearly relates the shepherd to Aeneas, a lone figure threatened by the fearsome warriors, in order to stress the shepherd’s (and therefore Aeneas’) ignorance of an unpreparedness for the storm«, 85 f. 954 Horsfall 2008, 260.

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Aeneas schweben, die etwas hören, das sie nicht sehen können. Das ist weder geheimnisvoll noch gar provokatorisch.955 Die Logik der Geschichte verlangt es, dass Aeneas die List der Griechen erst verhältnismäßig spät durchschaut, weil seine Einsicht auf die Entscheidung, ob das hölzerne Pferd in die Stadt geschafft werden soll oder nicht, keinen Einfluss haben darf. Will man einen Aeneas zeigen, der an der Seite seiner Landsleute für die Heimatstadt kämpft und sie nicht etwa vorher verlässt (so z. B. bei Triphiodor), muss man in Kauf nehmen, dass er entweder nicht scharfsinnig genug ist, die List mit dem hölzernen Pferd sofort zu durchschauen (so in der Aeneis), oder aber nicht durchsetzungsstark genug, den König und die anderen davon abzuhalten, das hölzerne Pferd in die Stadt zu bringen (denkbar). Zur Beurteilung seines ›Heldentums‹ kann aber folgender Umstand in Betracht gezogen werden: In dem Moment, da Aeneas die Gefahr erkennt, befindet er sich – wie der Hirte auf dem Felsen – außerhalb der unmittelbaren Gefahrenzone.956 Er wird sich, wenn er in Richtung nach der Innenstadt hin aufbricht, aus der relativen Sicherheit seines Vaterhauses in das umkämpfte Stadtgebiet begeben. Statt mit seiner Familie vor der Gefahr zu fliehen, begibt er sich in die Gefahr. Diese Nuance seines Verhaltens wird in der bildlichen Umschreibung des Gleichnisses würdig präsentiert. Denn es wäre in unpassender Weise apologetisch und ruhmrednerisch zugleich, wenn Aeneas eine solche Analyse seiner damaligen Situation Dido gegenüber einfach klar ausspräche, und in etwa sagte: ›Also wie du siehst, befand ich mich zu dem Zeitpunkt, da ich begriff, dass die Griechen in die Stadt eingedrungen waren, außerhalb und war in Sicherheit. Ich hätte von dort aus das Weite suchen können. Trotzdem bin ich wagemutig in den Kampf gezogen!‹ Die Präsentation der Geschichte als Ich-Erzählung des Helden verwehrt dem externen Erzähler die direkte Charakterisierung des Helden und somit auch die positive Beurteilung von dessen Handeln. Innerhalb von Gleichnissen aber ist es möglich, den Helden sich selbst einigermaßen unaufdringlich in ein gutes Licht rücken zu lassen. Indem er sich selbst mit einem Hirten vergleicht, der Ohrenzeuge einer Naturkatastrophe wird, lenkt der erzählende Aeneas die Aufmerksamkeit auf die geschilderte Situation als solche, und von den Versäumnissen, die ihr Eintreten 955 Auch Chew 2002, 618 f. entgeht, dass das Adjektiv inscius ein integraler Bestandteil der Aussage ist, ohne den das Gleichnis keinen Sinn ergibt; ihre recht allgemein bleibende Deutung »The term inscius pastor can then be taken as Aeneas’ evaluation of his own role from hindsight« ist zu weitreichend. 956 Anders Breitinger 1740, 94: »Zum Ex. der Hirt steht im Gleichniß ausser Gefahr, … alto | Accipiens sonitum saxi de vertice pastor. Hergegen befand sich Eneas mitten darinnen.« Aber: Aus dem Umstand, dass kurz später Panthus mit den Penaten aus dem Inneren der Stadt, wo gekämpft wird, zum Anwesen des Anchises kommt (hierzu siehe 9.2.4, zur Lokalisierung von Anchises’ Haus siehe 6.2), wird deutlich, dass Aeneas sich in einiger Entfernung vom Kampfgeschehen befindet, als er gewahr wird, dass die Griechen in die Stadt eingedrungen sein müssen.

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ermöglicht haben, ab: Der Hirt hätte das Entstehen von Saatbrand oder Sturzbach zu keinem Zeitpunkt verhindern können. Das Gleichnis hilft also dabei, des Helden Mitverschulden an seiner misslichen Lage, das früher in der Erzählung gleichwohl zum Ausdruck gekommen ist, an dieser Stelle zu überspielen, um ihn ab jetzt vor allem als Troias Verteidiger auftreten zu lassen. Keines der homerischen Gleichnisse, die Knauer aufzählt,957 weist einen auch nur annähernd hohen Grad an Komplexität und Differenzierung auf. Sie bieten lediglich jeweils Teilaspekte: Il. 2,455 f. hat einen weithin sichtbaren (und nicht lediglich hörbaren) Waldbrand, in Il. 11,155–157 sinken die Troer vor Agamemnon hin wie Bäume bei einem Waldbrand, in Il. 5,87b–92 überrollt Diomedes die Troianer wie ein angeschwollener Strom, der alles überschwemmt, in Il. 11,492–495 treibt Aias die Troer vor sich her, wie ein angeschwollener Strom dürre Bäume mitreißt und zum Meer spült, und in Il. 4,452–455 hört ein Berghirte, wie zwei Flüsse im Winter zu einem Kessel zusammenfließen. Es ist offensichtlich, wie die Fixierung auf die homerischen ›Vorbilder‹ hier den Blick der Interpreten auf die differenzierte Erzählweise des Vergiltexts verstellt.

10.4.3 Instinktgeleitetes Verhalten hungriger Wölfe (2,355b–358a)  quos ubi confertos ardere in proelia vidi, 2,347 incipio super his: ‹iuvenes, fortissima frustra 2,348 pectora, si vobis audentem958 extrema cupido 2,349 certa sequi, quae sit rebus fortuna videtis: 2,350 excessere omnes adytis arisque relictis 2,351 di quibus imperium hoc steterat. succurritis urbi 2,352 incensae. moriamur et in media arma ruamus. 2,353 una salus victis nullam sperare salutem.’ 2,354 sic animis iuvenum furor additus. inde, lupi ceu 2,355 raptores atra in nebula, quos improba ventris 2,356 exegit caecos rabies catulique relicti 2,357 2,358 faucibus expectant siccis, per tela, per hostis vadimus haud dubiam in mortem mediaeque tenemus 2,359 urbis iter; nox atra cava circumvolat umbra. 2,360 Als ich sie sah, geschlossen nach Kampf verlangend, sagte ich zu ihnen: »Männer, die ihr vergebens sehr tapfer seid, falls ihr das sichere Verlangen habt, dem, der das letzte wagt, zu folgen, ihr seht, wie die Lage ist: Alle Götter, mit denen dieses Reich stand, sind fort und haben ihre Heiligtümer und Altäre verlassen. Ihr kommt einer brennenden Stadt zu Hilfe. Lasst uns sterben und uns mitten in den Kampf stürzen. Ein Heil bleibt den Besiegten: Auf kein Heil mehr zu hoffen.« So kam zum Mut der Männer Kampfeswut hinzu. Dann gingen wir, wie reißende Wölfe in finsterem Nebel, 957 Knauer 1964, 380. 958 Zu audentem versus audendi siehe Gardiner 1987.

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die ein böses Grimmen des Magens blindlings hinaustreibt und die zurückgelassene Welpen trockenen Schlundes erwarten, durch Geschütze und Feinde hindurch in den sicheren Tod und hielten auf das Stadtinnere zu. Die finstre Nacht umgab uns mit ihrem verhüllenden Schatten.

In 2,355b–360 vergleicht Aeneas sich selbst und die Troianer, die zusammen mit ihm in dunkler Nacht todesbereit der umkämpften Stadt zustreben, mit Wölfen, die bei dichtem Nebel jagen, weil rasender Hunger (improba ventris … rabies 2,356f) sie hinaustreibt und ihre Jungen auf Nahrung warten (catulique relicti | faucibus expectant siccis 2,357f). Die Ähnlichkeitsrelation besteht darin, dass mehrere Individuen, die einen geschützten Ort verlassen und als Gruppe bei schlechter Sicht unterwegs sind, in diesem Tun einem natürlichen Drang folgen. Das Gleichnis definiert Motivation und Stimmung des Aeneas und seiner Gefährten bei ihrem Aufbruch zum letzten Kampf. An einigen Interpretationen dieses Gleichnisses lässt sich zeigen, wie beliebig die Textdeutung wird, wenn die Ähnlichkeitsrelation geringgeschätzt wird. Anstatt dass gefragt würde, was die Sphäre des fiktionalen Geschehens und die Bildsphäre gemeinsam haben, werden beide frei assoziierend miteinander verbunden. Je nach der Richtung, in der dies geschieht, kommt dabei etwas anderes heraus. Oder vielmehr andersherum: Je nachdem, worauf man mit seiner Interpretation hinaus will, wählt man aus, ob man die Deutung der Bildsphäre dem geschilderten Geschehen anpasst oder die Deutung des geschilderten Geschehens der Bildsphäre. Entsprechend können im vorliegenden Gleichnis entweder die Wölfe vermenschlicht oder aber Aeneas und seine Gefährten zu wilden Tieren erklärt werden. Eine Vermenschlichung der Wölfe findet sich bei Pöschl 31977: Es wird weniger der Blutdurst der Raubtiere gemalt als ihre Todesbereitschaft, die verzweifelte Wut des Hungers und der Instinkt der Sorge für die zurückgelassene Brut. Die ›Verzweiflung aus Liebe‹ gibt genau die Stimmung des Äneas und seiner Gefährten in der Nacht des Untergangs ihrer Stadt wieder.959

Sehr deutlich verzichtet Pöschl in dieser Erklärung darauf, die Sphäre des fiktionalen Geschehens von der Bildsphäre zu trennen, und lädt die Bildsphäre assoziativ mit seiner Interpretation des geschilderten Geschehens auf. Im Text ist bei den Wölfen (ceu … siccis) weder von »Todesbereitschaft« noch von »Sorge« die Rede, auch die »Wut des Hungers« mit dem Adjektiv »verzweifelt« zu versehen, bedeutet eine Anthropomorphisierung, die der Text nicht nahelegt. Die einigermaßen missverständliche Formulierung »Verzweiflung aus Liebe« passt zu den Wölfen überhaupt nicht. Ähnlich wie Pöschl vermischt auch Hornsby  1970 in seiner Deutung des Gleichnisses die Sphären. Aber anders als jener, der die Wölfe als todesbereite 959 Pöschl 31977, 131 (21964, 182).

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und verzweifelte Helden sieht, macht er umgekehrt Aeneas und seine Gefährten zu blutdurstigen Wölfen: Aeneas and his band hunger to save their city and thereby win honor and glory even if it means death to themselves. Like the wolves they thirst for blood. But the simile, by alluding to the cubs left behind, suggests too that the Aeneadae have no business dying and abandoning the young. The simile and its context indicate that honor and glory are precisely what they will not find in their mad career. Instead, they become, as the simile also makes clear, beasts marauding in their own city.960

Durch die Metapher »hunger to save their city« nimmt Hornsby den Hunger (rabies ventris) aus der Bildsphäre in die Sphäre der geschilderten Handlung. Sodann setzt er das Bestreben, die eigene Stadt zu verteidigen, mit ehrgeizigem Streben nach Ruhm gleich. Außerdem scheint er den ›Hunger‹ zusätzlich in übertragenem Sinne zu verstehen. Andererseits sollen die ›Aeneaden‹ aber auch in eigentlicherem Sinne ›blutdurstig wie die Wölfe‹ sein. Die zurückgelassenen Welpen der Bildsphäre sollen andeuten, dass es Aeneas’ Pflicht gewesen wäre, bei seiner Familie zu bleiben – aber im Bild nützen die Wölfe ja gerade durch das Verlassen des sicheren Baus ihrem Nachwuchs, für den sie nämlich Nahrung beschaffen. Dass das Gleichnis zeige, dass Aeneas’ Gefährten Ruhm und Ehre versagt blieben, ist die durch nichts gestützte Beurteilung der Situation durch Hornsby. Gleiches gilt für die Deutung des Gleichnisses als Anzeichen dafür, dass Aeneas und seine Gefährten zu wilden Tieren würden, die gegen ihre eigene Stadt wüten. Aus der Erwähnung der zurückgelassenen Welpen, die gegenüber den homerischen ›Vorbildern‹ als Hinzufügung verstanden wird,961 leitet nach Hornsby auch Lyne 1987 eine negative Bewertung von Aeneas’ Verhalten ab. Er sieht darin eine implizite Kritik an Aeneas, die von einer ›further voice‹ Vergils (über den Kopf des intradiegetischen Erzählers Aeneas hinweg) geäußert werde: The only way Aeneas might have served his dependants, his ›cubs‹, was to do what Hector’s ghost had expressly told him to do: flee the city. Of this very duty Venus had subsequently to remind him – and it also took much time and prodding before Aeneas with no great grace complied. Vergil’s added detail therefore highlights contrast. Aeneas may see himself and his band as similar to heroic wolves, but Vergil’s context and Vergil’s presentation of those wolves points up a difference: while Aeneas thinks of the Trojan actions as despairingly heroic, Vergil insinuates the point that this heroism was at the expense of Aeneas’ dependants (a further voice comments). So, once again, the simile means more to us than it does to Aeneas; and again the difference has an effect like that of dramatic irony – and another further voice.962 960 Hornsby 1970, 64; in dieselbe Richtung geht bereits: Hornsby 1965, 339. 961 Hierzu siehe Casali 2017, 218; Carlson 1972, 139. 962 Lyne 1987, 212 f.

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Die im Bau zurückgelassenen Welpen werden bereits im Serviuskommentar mit den zurückgelassenen Familien der Krieger analogisiert.963 Dies ist insofern sinnvoll, als die Erwähnung der hungrigen Welpen eine Art sozialen Zusammenhang evoziert, der das Verhalten der jagenden Wölfe über das bloße Eigeninteresse erhebt: Ohne die Nennung der Welpen erschiene der Drang der Wölfe zu jagen als Befriedigung eines zwar berechtigten, da dem Selbsterhalt dienenden, aber lediglich individuellen körperlichen Bedürfnisses. Durch die Nennung der Welpen erhält das Verhalten der Wölfe zusätzlich einen sozialen Sinn. Doch die Annahme, dass sich aus der Erwähnung der zurückgelassenen Welpen eine negative Bewertung des Umstandes ableiten lasse, dass Aeneas und seine Leute ihre Familien zurücklassen, steht im Widerspruch zum Gleichnis als solchem, das ja gerade besagt, dass die Krieger in ihrem Verhalten den Wölfen gleichen.964 Wieder anders auf den Kopf gestellt wird das Gleichnis durch Nimis 1987, wenn er äußert: »the wolves’ aquiescence to their ›natural‹ hunger has deleterious consequences.«965 Nimis, dessen Interpretation auf einen Gegensatz zwischen Natur und Kultur im allgemeinen abzielt und der das Gleichnis so versteht, dass Aeneas von Kultur zu Natur zurückfalle und seine Verantwortung vernachlässige, wenn er seine Familie zu Hause zurücklasse wie die Wölfe ihre Jungen, überträgt hier das Schicksal der Gruppe um Aeneas auf die zum Vergleich herangezogenen Wölfe. Aber die Aussicht des sicheren Todes oder den später in der Geschichte tatsächlich erfolgenden Tod der troianischen Krieger auf die Wölfe zu übertragen, ist aus zwei Gründen unsinnig: Erstens werden im Gleichnis Krieger mit Wölfen verglichen und nicht umgekehrt. Nimis verdreht die Richtung des Vergleichs; sie ist aber nicht beliebig. Zweitens gilt der Vergleich der Stimmung in der geschilderten Situation des Aufbruchs, nicht aber dem weiteren Schicksal der troianischen Krieger und schon gar nicht demjenigen der Wölfe. Die zum Vergleich herangezogenen Wölfe jagen, wie Wölfe das eben tun. Es gibt keinen Grund, von diesen Wölfen anzunehmen, dass sie nicht zu ihren Jungen zurückkehren und dass sie diese dann nicht wohlbehalten vorfinden. Es liegt im natürlichen Interesse der Welpen, dass sie im sicheren Bau zurückgelassen werden. Daher ist es widersinnig, wenn Nimis seine Annahme, dass 963 Servius ad 3,555 (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 277): ›lupi ceu‹ hoc ad ferocitatem pertinet, ›nebula‹ ad noctem, ›catuli‹ ad liberos coniugesque. 964 Auf der Ebene der Syntax würde aus dieser Annahme folgen, dass bei dem Vergleichssatz, der mit einem zweigliedrigen Relativsatz verbunden ist, das zweite Glied des Relativsatzes im Kontrast zum Gleichnis stünde, so dass das Vergleichswort (ceu) nur für das erste Glied des Relativsatzes im Wortsinn Geltung hätte. 965 Nimis 1987, 124 f. Nimis nennt in seiner Monographie mit dem Titel »Narrative Semiotics in the Epic Tradition: The Simile« sowohl Hornsby 1970 als auch Pöschl (in der Übersetzung von G. Seligson, 1960) in seinem Verzeichnis der »References« (200–206), verzichtet aber auf eine Auseinandersetzung mit diesen Interpretationen.

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Aeneas unverantwortlich handele, indem er seine Familie zurücklässt, mit dem Zurücklassen der Welpen durch die Wölfe in Zusammenhang bringt. Mit dem Ziel, die beiden Seiten des Gleichnisses differenziert zu betrachten und die Sphären auseinander zu halten, stellen wir zunächst fest, dass es sich bei dem beschriebenen Verhalten der Wölfe um das artgemäße Verhalten von Wölfen handelt.966 Die Wölfe im Gleichnis sind hungrig, sogar unwahrscheinlich hungrig (improba ventris |… rabies 2,356 f.), aber sie sind keineswegs im Blutrausch (wie Hornsby annimmt). Eine ethische Bewertung ihres Verhaltens findet (sinnvollerweise, da es sich um Tiere handelt) im Text nicht statt. Wölfe sind von Natur aus reißende Tiere (raptores 2,356), d. h. sie müssen andere Tiere töten, weil sie und ihre Jungen der Nahrung bedürfen.967 Für Wölfe ist der Drang zu jagen eine natürliche Notwendigkeit, sie folgen ihrem Instinkt. Einen solchen gewissermaßen naturhaften Drang macht Aeneas in dem Gleichnis für sich und seine Leute in der geschilderten Situation geltend: Sie verlassen den relativ geschützten Raum ihrer noch unversehrten Häuser und lassen ihre Familien zurück, um sich ins Kampfgeschehen zu begeben und sich bis zum eigenen Tod an der Verteidigung Troias zu beteiligen. Die Aussichtslosigkeit ihrer Unternehmung steht von Beginn an außer Frage (moriamur 2,353 haud dubiam in mortem …tenemus 2,359), aber sie setzen die eigene Unversehrtheit für ein höheres Gut trotz widriger Umstände daran. Dem Hunger der Wölfe entspricht der furor (2,355) der kampfbereiten Troianer. Die Jagdbeute der Wölfe kommt im Gleichnis nicht vor und ist keine Größe in der Ähnlichkeitsrelation. Gleiches gilt für die Erwartung des sicheren Todes seitens der Troianer. Es geht einzig und allein darum, dass ein innerer, natürlicher Drang Wölfe und Troianer gleichermaßen zum Aufbruch treibt. Durch das Gleichnis wird die Entscheidung, in die Stadt zu ziehen, obwohl Panthus kurz zuvor die Aussichtslosigkeit der strategischen Situation geschildert hat (2,324–335), als nicht auf planvoller Überlegung basierend klassifiziert. Wie Aeneas im Nachhinein weiß, wird keiner außer ihm die tollkühne Unternehmung überleben. Indem er sich selbst und seine Männer rückblickend mit einem Rudel hungriger Wölfe vergleicht, macht er deutlich, dass sein und seiner Männer Verhalten zum geschilderten Zeitpunkt nicht von strategischer Überlegung gelenkt wird, sondern einem instinktiven Reflex folgt. Bereits in 2,314 wird die erste Reaktion des erzählten Aeneas auf das Erkennen der Lage Troias mit der Stimme des erzählenden Aeneas als amens (»nicht vom Verstand geleitet«) be966 Vgl. Gíslason 1937, 85: »Typisch vergilisch ist an diesem Bilde die Allgemeingültigkeit, die ihm durch den Plural verliehen ist: so pflegen die Wölfe in der hier geschilderten Situation zu handeln. Vergil zieht keinen Einzelfall heran.« Der Plural trägt allerdings (auch) dem Umstand Rechnung, dass Wölfe im Rudel auftreten können, und zum Vergleich mit einer Gruppe von Kriegern eben ein Rudel passt. 967 Vgl. Horsfall 1995, 113 f.: »I can hardly believe that Virgil expects us to condemn even a wolf for wanting to find food for its own young«.

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zeichnet: arma amens capio – »ich greife nach den Waffen ohne nachzudenken, instinktiv«.968 Aeneas kämpft für Troia in der letzten Nacht als routinierter Krieger, der ohne zu überlegen bestimmte eingeübte Reflexe abruft und selbstverständlich seine Familie gegenüber den Interessen eines übergeordneten sozialen Gefüges hintanstellt – so funktioniert Krieg nun einmal. Bemerkenswert an der Gegenüberstellung des furor der Männer mit der rabies ventris der Wölfe ist, dass sie der redensartlichen ›Entscheidung aus dem Bauch heraus‹ (›Bauchgefühl‹, engl. ›gut feeling‹) entspricht. In neuerer Zeit werden diese Redensarten von neurowissenschaftlichen Studien insofern bestätigt, als wesentliche Prozesse der Entscheidung zwischen ›Kampf, Flucht oder Erstarren‹  – ›fight, flight or freeze‹  – tatsächlich im Verdauungssystem lokalisiert werden.969 Im Vergleich mit den homerischen Gleichnissen970 fällt auf, wie wenig blutrünstig die Wölfe in unserem Gleichnis sind, und dass die Jagdbeute keine Rolle spielt: In Il.  16,156b–163 werden Achills Myrmidonen mit reißenden Wölfen verglichen, die nach dem Trinken am Fluss das hinuntergeschlungene Blut wieder erbrechen, und in Il. 16,351–355 heißt es von den Danaerführern, dass sie sich auf die Troer stürzen wie reißende Wölfe auf verstreute Lämmer und Böcklein im Gebirge. Darin, dass das Beutemachen selbst und die Beutetiere in unserem Gleichnis keine Rolle spielen, unterscheidet es sich auch deutlich von den beiden Gleichnissen in Aeneis 9, in denen Turnus mit einem Wolf verglichen wird: In 9,59–64 heißt es, dass er das Lager der Troianer umkreist wie ein Wolf, der vergeblich in einen Schafspferch einzudringen versucht. In 9,556–566 wird Turnus, der den fliehenden Lycus packt und von der Mauer reißt, mit einem Wolf verglichen, der einem Mutterschaf das Lamm entreißt. Beide Male wird Turnus mit einem einzelgängerischen Wolf verglichen. Demgegenüber stellt das Wolfsrudel, mit dem Aeneas sich und seine Leute vergleicht, eine quasi-soziale Gemeinschaft dar; die Erwähnung der Jungen im Bau verstärkt diesen Eindruck. Eine vierte Situation schildert schließlich das vierte und letzte Wolfgleichnis der Aeneis, das sich auf Arruns bezieht (11,809–813): Von ihm heißt es, dass er, 968 Hierzu siehe auch: 4.3 furor, ira & amens: Aeneas im Kampfmodus. 969 Vgl. Mayer 2011: »Abstract: The concept that the gut and the brain are closely connected, and that this interaction plays an important part not only in gastrointestinal function but also in certain feeling states and in intuitive decision making, is deeply rooted in our language. Recent neurobiological insights into this gut-brain crosstalk have revealed  a complex, bidirectional communication system that not only ensures the proper maintenance of gastrointestinal homeostasis and digestion but is likely to have multiple effects on affect, motivation and higher cognitive functions, including intuitive decision making. Moreover, disturbances of this system have been implicated in a wide range of disorders, including functional and inflammatory gastrointestinal disorders, obesity and eating disorders.« 970 Siehe Knauer 1964, 380; im einzelnen zu dem ›aus homerischen Steinchen‹ zusammengesetzten ›Mosaik‹: Casali 2017, 217.

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nachdem er Camilla getötet hat, davonschleicht wie ein Wolf, der ein Tier oder einen Hirten getötet hat und Vergeltung durch bewaffnete Menschen fürchten muss.971 Wie Turnus und anders als Aeneas wird Arruns mit einem einzelnen Wolf verglichen; anders als in Aeneas’ Wolfsgleichnis jagt dieser Wolf nicht in der freien Wildbahn, sondern greift Herdentiere an, wie dies auch bei dem Wolf in 9,59–64 der Fall ist.

10.4.4 Erschrecken vor einer versehentlich aufgestörten Schlange (2,379–381) Primus se Danaum magna comitante caterva 2,370 Androgeos offert nobis, socia agmina credens 2,371 inscius, atque ultro verbis compellat amicis: 2,372 ›festinate, viri! nam quae tam sera moratur 2,373 segnities? alii rapiunt incensa feruntque 2,374 Pergama: vos celsis nunc primum a navibus itis?‹ 2,375 dixit, et extemplo (neque enim responsa dabantur 2,376 fida satis) sensit medios delapsus in hostis. 2,377 obstipuit retroque pedem cum voce repressit, 2,378 improvisum aspris veluti qui sentibus anguem 2,379 pressit humi nitens trepidusque repente refugit 2,380 attollentem iras et caerula colla tumentem, 2,381 2,382 haud secus Androgeos visu tremefactus abibat. inruimus densis et circumfundimur armis, 2,383 ignarosque loci passim et formidine captos 2,384 sternimus; aspirat primo Fortuna labori. 2,385 Als erster trat uns Androgeos in großer Begleitung entgegen, der uns nichts ahnend für Verbündete hielt. Freundlich rief er herüber: ›Beeilt euch, Leute! Was hält euch denn eine so träge Gemächlichkeit auf? Die anderen plündern und brennen die Burg von Troia. Kommt ihr erst jetzt von den Schiffen?‹ Sprach’s und merkte in dem Moment (weil nämlich keine vertrauenerweckende Antwort erfolgte), dass er mitten unter Feinde geraten war. Er erstarrte und zog verstummend den Fuß zurück. Wie einer, der beim Auftreten unversehens mit spröden Zweigen eine Schlange berührt und plötzlich ängstlich vor ihr zurückweicht, die sich zornig erhebt, wobei sie ihren dunklen Hals anschwellen lässt, nicht anders mühte sich Androgeos, den unser Anblick zittern machte, wegzukommen. Wir stürzten los, drängten rings mit Waffen dicht an dicht herbei und streckten sie, die sich nicht auskannten und von Furcht erfüllt waren, allenthalben nieder. Das Glück war dieser unserer ersten Unternehmung hold.

In 2,378–382 wird das erschrockene Zurückweichen des Androgeos, der sich unerwartet einem Trupp von Troianern gegenüber sieht, die er irrtümlich als Griechen angeredet hat, verglichen mit dem erschrockenen Zurückweichen 971 Fratantuono 2007, 49 f. sieht einen Bezug zum Wolfsgleichnis in Aeneas’ Erzählung.

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eines Menschen vor einer sich drohend aufrichtenden Schlange (anguis), die er beim Niedertreten von Zweigen versehentlich aufgestört hat. Es geht um die von außen beobachtete Reaktion einer Person auf eine zu spät erkannte Bedrohung. Im Fall des fiktionalen Geschehens handelt es sich um das Erschrecken einer bestimmten Person vor bestimmten anderen Personen, in der Bildsphäre um das Erschrecken eines unbestimmten, jedes beliebigen Menschen vor einem ihn potentiell gefährdenden Tier. Gegenüber dem Gleichnis972 in Il. 3,30–37 – Paris sieht und erkennt Menelaos und weicht vor ihm zurück, wie jemand, der einer Schlange gewahr wird – ist aus dem Erkennen der Identität eines bestimmten, persönlich besonders gefürchteten Gegners das plötzliche Erkennen des Gegenübers als Gegner geworden. Indem das Gleichnis das individuelle Erschrecken des Androgeos vor dem troianischen Trupp dem topischen Erschrecken vor einer aufgestörten Schlange gegenüberstellt, regt es dazu an, zu abstrahieren und die Übereinstimmungen zur Bildsphäre als wesentliche Elemente des fiktionalen Geschehens zu erkennen: Die vorausgehende Arglosigkeit, das plötzliche Erkennen der Gefahr und das intuitive Zurückweichen.973 Bei diesen Übereinstimmungen handelt es sich um diejenigen Faktoren, die Aeneas und seinen Leuten einen unerwarteten strategischen Vorteil verschaffen, der es ihnen ermöglicht, die erste Gruppe von Griechen, auf die sie bei ihrem Vordringen ins Zentrum der Stadt treffen, zu töten.974 Der unverhoffte Erfolg bringt Coroebus auf die Idee, das Überraschungsmoment, das ihnen durch Androgeos’ Irrtum in die Hände gespielt wurde, von nun an gezielt herbeizuführen, indem sie die Rüstungen der soeben getöteten Griechen anlegen.975 Angesichts einiger symbolisierender Interpretationen muss betont werden, dass die Ähnlichkeitsrelation dieses Gleichnisses darin besteht, dass eine Reaktion auf eine zu spät erkannte Gefahr vorliegt und dass der Schwerpunkt hierbei auf der Reaktion, dem Erschrecken, liegt und nicht auf der Gefahr als 972 Knauer 1964, 380; Gíslason 1937, 84 f. 973 Masson 1935, 642, konstatiert die präzise Abfolge der einzelnen Abschnitte des Vorgangs. 974 Unzutreffend: Knox 1950, 391: »Androgeos is killed by Aeneas and his companions, and it is at this point that Androgeos is compared to a man who has come unaware upon a snake.« Das Gleichnis bezieht sich nicht auf die Tötung des Androgeos, sondern auf den Moment davor, in dem Androgeos bemerkt, dass er wider Erwarten nicht auf Landsleute, sondern auf Troianer getroffen ist. Aeneas und seinen Leuten gelingt es, Androgeos und dessen Leute zu töten, weil sie deren überraschtes Zurückweichen für sich ausnützen. Genau dieses überraschte Zurückweichen ist im Gleichnis definiert und nicht die Tötung, wie Knox annimmt. 975 Unzutreffend West 1969, 43: »in 370–382, where Androgeos stumbles upon a party of Trojans disguised as Greeks and then suddenly realizes his mistake, he is compared to a man who steps on a snake«. Wie bereits beim Berghirten-Gleichnis (»watching«) erfasst West die erzählte Begebenheit nicht richtig, denn anders als er behauptet, geht Androgeos’ Irrtum der ›Verkleidung‹ voraus und bildet erst den Anlass dafür.

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solcher. Wovor die Person erschrickt, ist beim fiktionalen Geschehen so eindeutig und im Bild so topisch, dass es darauf nicht wesentlich ankommt. Die zu diesem Gleichnis oft vorgetragene Gleichsetzung der Schlange mit Aeneas976 ignoriert den ursprünglichen Zusammenhang. Zwar stimmt es, dass die zu spät erkannte Gefahr, die in der Bildsphäre von der Schlange ausgeht, im fiktionalen Geschehen von Aeneas und seinem Trupp ausgeht. Aber das Gleichnis betrifft nicht Aeneas, sondern Androgeos.977 Verglichen wird allein dessen Erschrecken. Die gesamte Schilderung ist auf Androgeos konzentriert: Er ist Subjekt in den neun Versen vor dem Vergleichssatz (2,370–378) und in dem abschließenden Vers danach (2,382). Im Vergleichssatz (2,379–382) ist entsprechend derjenige, der erschrickt, das Subjekt. Selbst das Ausbleiben einer Antwort der Troianer ist passivisch formuliert (neque enim responsa dabantur | fida satis 2,376–377a), so dass diese nicht einmal durch Nicht-Handeln in der Schilderung vorkommen. Der Eintritt der Troianer in das Geschehen erfolgt erst nach dem Moment, den das Gleichnis definiert. Von ihnen wird keinerlei Drohverhalten  – analog zu dem der Schlange – berichtet. Auch wäre das Zurückweichen als Reaktion des Androgeos bei einer Schlange genau richtig und würde ihn wahrscheinlich vor Schlimmerem bewahren. In der Situation, in der er sich befindet, ist diese Reaktion aber fatal, eben weil es sich bei Aeneas nicht um eine Schlange handelt. Außerdem muss die Erzählerstimme berücksichtigt werden: Aeneas erzählt, wie Androgeos vor ihm selbst und seiner Gruppe zurückschreckt und dabei den Eindruck macht, als sei er auf eine Schlange getreten; er vergleicht nicht sich selbst mit einer Schlange. Wer Aeneas zur Schlange erklärt, verdreht die Perspektive und missversteht die Erzählung (absichtlich oder unabsichtlich). Und Aeneas erzählt schon gar nicht davon, dass er Androgeos aufgelauert 976 Extrem: Knox 1950, 391 f., der den erzählten Vorgang nicht richtig erfasst (vgl. Anm. 974) und stattdessen die Interpretation von Aeneas als Schlange verabsolutiert und völlig überreizt: »Aeneas and his Trojans now deal in the violence of the serpent to which they are compared , and they proceed at once to assume another characteristic of the serpent, concealment«; »the suggestion, implicit in the simile and its immediate sequel, that Aeneas has usurped the attributes of the serpent that has so far stood for violence and deceit«. Aber auch z. B.: Otis 1964, 242: »But the emotion in Aeneas reaches, perhaps, its culminating expression in the hidden snake (397 f.) to which he, by implication, is compared«; Kraggerud 1968, 57: »Auch werden sie durch eine Schlange charakterisiert, ein Vergleich, der sonst in diesem Buch nur den Griechen vorbehalten ist«; Hornsby 1970, 6: »In addition, it suggests that the Trojans led by Aeneas are in some way like snakes«, »so that Aeneas seems like a serpent.« (12); Carlson 1972,133 f., unter Verweis auf Knox 1950, 392: »Es ist klar, worauf dieser Vergleich zielt: Äneas hat nun Anteil an Gewalt und Täuschung, d. h. eben den Eigenschaften, die im ersten Teil des zweiten Buches durch die Schlangen symbolisiert wurden.« Briggs 1980, 66: »Aeneas the snake is, by his own admission, temporarily insane (348ff), and he has the full sudden violence of the snake. As Androgeos has become Laocoon, so Aeneas has become a Sinon.« 977 Analog gilt übrigens für Il. 3,30–37, dass es um das Erschrecken des Paris geht und dass keineswegs Menelaos mit einer Schlange verglichen wird.

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habe wie eine Schlange. Die – eindeutig phantastische – Vorstellung, dass eine Schlange vorsätzlich(!) einem Menschen auflauere, findet sich in einem homerischen Gleichnis: In Il. 22,92–97 wird Hektor, der Achill auflauert, mit einer Schlange oder einem Drachen (δράκων) verglichen, der im Gebirge am Eingang einer Höhle einem Menschen auflauert. Im vorliegenden vergilischen Gleichnis aber kommt diese Vorstellung von einer gefährlich lauernden Schlange, wie einige Interpretationen sie voraussetzen, nicht vor. Von einer Schlange, die im Text lediglich als Akkusativobjekt erscheint und von der nichts weiter gesagt wird, als dass sie sich drohend aufrichtet, weil ihr jemand versehentlich zu nahe kam, zu behaupten, dass sie ›sich verberge‹ oder jemanden ›täusche‹,978 ist nicht gerechtfertigt. In der Abfolge des Geschehens markiert das Gleichnis den bedeutsamen Moment, in dem die Troianer sich zum ersten Mal in einer Situation befinden, in der sie in Umkehrung der eigentlichen Verhältnisse eine Bedrohung für die Griechen darstellen.979 Androgeos’ Irrtum beruht darauf, dass er nicht damit rechnet, dass irgendwelche Troianer von außen dem Zentrum zustreben. Er hält es für wahrscheinlicher, dass eine griechische Gruppe erst zu diesem späten Zeitpunkt von den Schiffen kommt. Hierin zeigt sich einerseits erneut, wie ungewöhnlich und strategisch wenig aussichtsreich ist, was Aeneas und seine Leute unternehmen. Andererseits zeigt sich auch, dass gerade das Überraschungsmoment einen Vorteil bieten kann, zumal die Troianer über die bessere Ortskenntnis verfügen (2,384). Für eine gewisse Zeit geht Coroebus’ Plan auf (2,396–401). Die fatale Situation, zu der die Verkleidung schließlich führt, wird durch das folgende Gleichnis illustriert.

10.4.5 Wirbel aus Winden dreier Richtungen (2,416–419) non tulit hanc speciem furiata mente Coroebus et sese medium iniecit periturus in agmen. consequimur cuncti et densis incurrimus armis. hic primum ex alto delubri culmine telis nostrorum obruimur oriturque miserrima caedes armorum facie et Graiarum errore iubarum. tum Danai gemitu atque ereptae virginis ira

2,407 2,408 2,409 2,410 2,411 2,412 2,413

978 Die von Knox 1950, 392 aufgestellten Behauptungen, es sei für ›die Schlange‹ (er verwendet diesen Ausdruck absolut im Sinne von ›die Schlange des 2. Buches‹) charakteristisch, sich zu verbergen (»another characteristic of the serpent, concealment«) und es sei Kennzeichen der Schlange, aus dem Verborgenen heraus zu kämpfen (»it is the mark of the serpent, they fight now from concealment«), trifft auf die Schlange im vorliegenden Gleichnis jedenfalls nicht zu. 979 Vgl. hierzu: 9.2.6.

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undique collecti invadunt, acerrimus Aiax 2,414 et gemini Atridae Dolopumque exercitus omnis, 2,415 adversi rupto ceu quondam turbine venti 2,416 confligunt, Zephyrusque Notusque et laetus Eois 2,417 Eurus equis; stridunt silvae saevitque tridenti 2,418 spumeus atque imo Nereus ciet aequora fundo. 2,419 illi etiam, si quos obscura nocte per umbram 2,420 fudimus insidiis totaque agitavimus urbe, 2,421 apparent; primi clipeos mentitaque tela 2,422 agnoscunt atque ora sono discordia signant. 2,423 Diesen Anblick ertrug der erzürnte Coroebus nicht und stürzte sich – todgeweiht – mitten in die Formation; wir schließen alle auf und rennen an gegen die Waffen dicht an dicht. Da werden wir zuerst vom hohen Giebel des Tempels aus mit Geschossen zugedeckt, und es kommt zu einem fürchterlichen Blutbad wegen des Anscheins, den unsere Waffen geben, und der Irreführung, welche die griechischen Helmbusche bewirken. Dann laufen die Danaer vor Schmerz und Zorn darüber, dass ihnen die junge Frau entrissen worden ist, von überallher zusammen und greifen an, der gewaltige Aiax und die beiden Atriden und das ganze Heer der Doloper, wie zuweilen bei Ausbruch eines Sturmes entgegen gerichtete Winde miteinander in Kampf geraten, Zephyrus und Notus und der an Morgensonnenpferden reiche Eurus; die Wälder tosen und Nereus wütet schäumend mit dem Dreizack und erschüttert das Meer vom tiefsten Grund aus. Auch die, die wir in düsterer Nacht durch die Dunkelheit gejagt und dank unserer List in der ganzen Stadt aufgescheucht haben, kommen hinzu; sie erkennen als erste die Schilde und die falschen Waffen und bemerken die im Laut abweichende Sprache.

In 2,407–419 werden Kämpfende, von denen es drei Gruppen gibt, nämlich zum einen Coroebus und die anderen als Griechen ausgerüsteten Troianer um Aeneas (2,407–409), zum zweiten die regulär ausgerüsteten Troianer (2,410–412) und zum dritten die Griechen (2,413–415), verglichen mit drei einander entgegen gerichteten Winden (adversi venti: Zephyrus, Notus, Eurus), die zusammenprallen und Wälder und Meer aufwühlen.980 Die Ähnlichkeit zwischen der geschilderten Gefechtssituation und den zum Vergleich herangezogenen Naturereignissen besteht darin, dass jeweils drei Kräfte sich gegeneinander richten und dadurch ein unübersichtliches Zusammentreffen entsteht. Das Motiv der unübersichtlichen Kampfhandlung ist für die erzählte Geschichte notwendig, wenn Aeneas einerseits im Kampf für Troia gezeigt werden soll, aber andererseits überleben soll.981

980 Vgl. Horsfall 2008, 329: »the winds … three-sidedly fight … among themselves (as here: two groups of Trojans + Greeks)«; Briggs 1980, 16: »(…) the simile refers to the double attack on Aeneas, first by the weapons of his own men on the roofs, and then by the Greeks mustering on the ground. The comparison focuses on the opposition of the winds (adversi) rather than their strength.« 981 Zu den erzähllogischen Implikationen des letzten Kampfes um Troia in der vergilischen Iliupersis vgl. auch: 9.2.6.

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Im einzelnen stellt die Gefechtssituation, deren Unübersichtlichkeit im Vergleich mit dem Sturm aus drei Winden zum Ausdruck kommt, sich folgendermaßen dar: Die als Griechen verkleideten Troianer geraten in ›freundliches Feuer‹, weil ihre Landsleute sie für Griechen halten: Als Coroebus losstürzt, Cassandra den Griechen zu entreißen, werden sie von Troianern, die auf dem Tempeldach postiert sind, mit Geschossen attackiert. Gleichzeitig wenden die Griechen um Aiax und die Atriden sich aus Wut darüber, dass ihnen Cassandra entrissen wurde, gegen sie. Die Annahme, hier würden allein die Griechen mit den drei widerstreitenden Winden verglichen,982 ist abzulehnen, weil sie impliziert, dass die Griechen (die zuletzt genannte Gruppe) gegeneinander kämpfen (ceu … adversi venti…confligunt). Dass dies nicht gemeint sein kann, zeigt auch die Gegenüberstellung mit einem homerischen Prätext: In dem Gleichnis in Il. 16,763b–771 – Troer und Achaier kämpfen wie Süd- und Ostwind und keiner denkt an Flucht  – sind zwei kämpfende Gruppen und zwei Windrichtungen genannt: οἱ δὲ δὴ ἄλλοι Il. 16,763 Τρῶες καὶ Δαναοὶ σύναγον κρατερὴν ὑσμίνην. Il. 16,764 Ὡς δ’ Εὖρός τε Νότος τ’ ἐριδαίνετον ἀλλήλοιιν Il. 16,765 οὔρεος ἐν βήσσῃς βαθέην πελεμιζέμεν ὕλην, Il. 16,766 φηγόν τε μελίην τε τανύφλοιόν τε κράνειαν, Il. 16,767 αἵ τε πρὸς ἀλλήλας ἔβαλον τανυήκεας ὄζους Il. 16,768 ἠχῇ θεσπεσίῃ, πάταγος δέ τε ἀγνυμενάων, Il. 16,769 ὣς Τρῶες καὶ Ἀχαιοὶ ἐπ’ ἀλλήλοισι θορόντες Il. 16,770 δῄουν, οὐδ’ ἕτεροι μνώοντ’ ὀλοοῖο φόβοιο. Il. 16,771 Die andern aber, | Troer und Danaer, führten zusammen die starke Schlacht. | Und wie der Ostwind und der Süd miteinander streiten | In den Schluchten des Berges, den tiefen Wald zu erschüttern, | Eiche und Esche und die glattrindige Kirsche, | Und sie schlagen gegeneinander die langgestreckten Äste | Mit unsäglichem Lärm, und ein Krachen ist, wenn sie zerbrechen: | So mordeten Troer und Achaier, gegeneinander springend, | Und beide gedachten sie nicht der verderblichen Flucht. (W. Schadewaldt)

Demgegenüber ist im vergilischen Gleichnis eine dritte Windrichtung hinzugefügt, wie es der Gemenge-Lage mit den drei kämpfenden Gruppen (Griechen, Troianer, als Griechen ausgerüstete Troianer) entspricht: Aus zwei mach drei. Dabei ist aber die Homer-Referenz als solche für das Textverständnis nicht wesentlich, das vergilische Gleichnis definiert die Gefechtssituation hinreichend, wenn man es nur sorgfältig liest. Anzumerken wäre noch: Dass in diesem Gleichnis zwei Gruppen Troianer (nämlich die regulären Verteidiger auf dem Tempeldach und die mit griechi982 Rieks  1981, 1093: »413–419 Danaer = West-Süd-Ost-Sturm«; v.  Duhn  1952, 69. Für Keith 1933, 593 repräsentieren die einander entgegen gerichteten Winde das Zusammentreffen zweier feindlicher Kräfte (»the clash of two hostile forces«).

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schen Rüstungen versehenen Kämpfer um Aeneas) mit Stürmen gleichgesetzt werden, spricht gegen eine verallgemeinernde Interpretation des griechischen Angriffs als Naturgewalt.

10.4.6 Angriffslustiges Gebaren einer nach dem Winter zu neuem Leben erwachenden Giftschlange (2,471–475) vestibulum ante ipsum primoque in limine Pyrrhus 2,469 exsultat telis et luce coruscus aena, 2,470 qualis ubi in lucem coluber mala gramina pastus, 2,471 frigida sub terra tumidum quem bruma tegebat, 2,472 nunc, positis novus exuviis nitidusque iuventa, 2,473 lubrica convolvit sublato pectore terga 2,474 arduus ad solem, et linguis micat ore trisulcis. 2,475 una ingens Periphas et equorum agitator Achillis, 2,476 armiger Automedon, una omnis Scyria pubes 2,477 succedunt tecto et flammas ad culmina iactant. 2,478 Direkt vor dem Eingangsbereich ganz vorn auf der Schwelle tänzelte Pyrrhus schimmernd in Waffen und metallenem Glanz, wie wenn eine von giftigen Kräutern genährte Schlange, die der kalte Winter strotzend, wie sie war, unter der Erde gehalten hat, jetzt, nach dem Abstreifen ihrer alten Haut neu und glänzend in jugendlicher Kraft, sich mit erhobener Brust zur Sonne aufbäumend den glatten Rücken windet und aus ihrem Maul die dreigespaltene Zunge blitzen lässt. Zugleich rückten der gewaltige Periphas und der Pferdelenker des Achilles, der Waffenträger Automedon, und die gesamte skyrische Jugend gegen das Haus vor und schleuderten Flammen ins Gebälk.

In 2,471–475 sieht man traditionell ein Gleichnis, in dem der Achillessohn Pyrrhus-Neoptolemus, der in glänzenden Waffen ganz vorn am Eingang zur Burg tänzelnd den Angriff anführt, verglichen wird mit einer Giftschlange, die sich nach dem Winter gehäutet hat und sich züngelnd der Sonne entgegenreckt.983 Die aus dem Wortlaut des Gleichnisses hervorgehenden Gemeinsamkeiten zwischen Pyrrhus und der Giftschlange bestehen in glänzendem Äußeren, Beweglichkeit und gefährlicher Aggressivität. Aus der Mythologie der Figur des Pyrrhus kommt hinzu: Die Häutung der Schlange lässt sich als Erneuerung interpretieren, die man für Pyrrhus in zweierlei Hinsicht geltend macht: Erstens kann man ihn als einen ›neuen Achill‹ sehen und zweitens ist er erst nach dem Tod seines Vaters nach Troia geholt worden und also vergleichsweise neu im 983 Casali 2017, 247–250: »L’esultanza di Pirro, simile a un serpente che si risveglia dal letargo«, unter besonderer Berücksichtigung des ›Pyrrhischen Tanzes‹. Horsfall 2008, 363 f. Rieks 1981, 1094: »469–475 Pyrrhus = Schlange im Frühjahr«; Hornsby 1970, 61: »he is compared to a snake which in springtime sheds its old skin«; West 1969, 42; Knox 1950, 393: »the simile which … compares Pyrrhus to a snake«.

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Krieg um Troia.984 Insofern besteht eine Ähnlichkeit zwischen Pyrrhus und der Giftschlange auch darin, dass eine gefährliche Angriffslust nach einer Pause neu erstarkt. Darüberhinaus kann man die aus dem Bild der Häutung abgeleitete Vorstellung von Pyrrhus als Inkarnation seines Vaters Achilles auch darauf beziehen, dass er wie Achilles einen Sohn des Priamos vor den Augen des Vaters tötet;985 in der Andeutung dieses Motivs enthält das Gleichnis eine erzählerische Vorausdeutung. Am Wortlaut fällt auf, dass einige Formulierungen ähnlich im dritten Buch der Georgica stehen, dort im Zusammenhang mit der Erwähnung solcher Schlangen, die im Stall und auf der Weide gefährlich werden können.986 Als homerischer Prätext wird das Gleichnis in Il. 22,92–97 angeführt:987 Hektor, der Achill erwartet, wird mit einer giftigen Schlange verglichen, die einem Wanderer auflauert. Hier wie dort finden wir die in der Antike übliche Vorstellung, die besagt, dass die Schlange ihre Giftigkeit durch das Fressen giftiger Kräuter gewinnt (δράκων… ǀ βεβρωκὼς κακὰ φάρμακ’ Il. 22,93. 94a ~ coluber mala gramina pastus Aen. 2,471b). Aber die geschilderten strategischen Situationen sind unterschiedlich und überdies sind die Rollen vertauscht: Während in der Ilias der dem Angreifer auflauernde Verteidiger mit der giftigen Schlange verglichen wird, steht diese hier für den Angreifer. In der vergilischen Iliupersis ist Pyrrhus diejenige Figur, die auf der menschlichen Handlungsebene den troianischen Krieg abschließend entscheidet: Er leitet die Eroberung der Burg und tötet den König.988 Das Gleichnis, das ihn 984 Vgl. z. B. Knox 1950, 394: »Pyrrhus is Achilles reborn in his son«; v. Duhn 1952, 73: »Virgil vergleicht die gefährliche Schönheit des jungen Neoptolemus, der als das verjüngte Ebenbild des grössten Troerfeindes Achill erscheint, mit der Schönheit und Gefährlichkeit einer Schlange, die ihre alte Haut abgeworfen hat und sich verjüngt und angriffslustig emporrichtet«; West 1969, 42. 985 Knox 1950, 394: »Just as Achilles killed and mutilated Hector before the eyes of Hecuba and Priam, Neoptolemus now kills Polites before the same unhappy pair who witnessed his father’s cruelty.«; Rieks 1981, 1072: »Durch ein Schlangengleichnis (2,469–475) wird Pyrrhus als ein wiedererstandener Achilles charakterisiert; wie sein Vater den Hector, so tötet er den Polites vor den Augen der Eltern.« 986 Nach Knauer 1964, 380: nunc, positis novus exuviis nitidusque iuventa Aen. 2,473 ~ cum positis novus exuviis nitidusque iuventa georg. 3,437; lubrica convolvit sublato pectore terga Aen. 2,474 ~ squamea convolvens sublato pectore terga georg. 3,426; arduus ad solem, et linguis micat ore trisulcis Aen. 2,475 = georg. 3,439. Eventuell auch: succedunt tecto et flammas ad culmina iactant Aen. 2,478 ~ aut tecto adsuetus coluber succedere et umbrae georg. 3,418. 987 Knauer 1964, 380. 988 Die Figur des Pyrrhus-Nepotolemus (Sohn des Achilles und Enkel des Peleus) kommt in der Erzählung des Aeneas vier Mal vor: 2,263: ›Der Pelide Neoptolemus‹ verlässt zusammen mit anderen Griechen das Versteck im Bauch des hölzernen Pferdes; 2,469–482: Pyrrhus erobert die Burg, öffnet den Zugang; 2,526–553: Er verfolgt und tötet Polites, wird von Priamus angegriffen und tötet ihn; 3,321–336: Andromache berichtet sein weiteres Schicksal bis zum Tod.

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als eine Person von aggressiver Disposition sowie als in seiner Kriegsmontur äußerlich glänzend beschreibt und das zudem seine Abstammung von Achilles andeutet, dient seiner Einführung und Charakterisierung. Beides muss in der Erzählung auf irgendeine Weise geleistet werden. Dadurch, dass es im Gleichnis geschieht, wird einerseits eine direkte Charakterisierung durch den Erzähler Aeneas umgangen und andererseits kann die Spannung der Schilderung ohne Unterbrechung aufrechterhalten bleiben. Das Gleichnis erweist sich hier als ein Mittel, die Charakterisierung einer Figur in die Schilderung der Handlung zu integrieren und gleichzeitig die Erzählerstimme von der Verantwortung eines direkten Urteils über diese Figur zu entlasten. Bei diesem Gleichnis mit der Giftschlange handelt es sich nach demjenigen Gleichnis mit dem Erschrecken vor einer versehentlich aufgestörten Schlange (2,379–381; 10.4.4) um das zweite (und letzte) Gleichnis in der Erzählung des Aeneas, in dem eine Schlange vorkommt. Während aber hier eine Person in ihrem Verhalten direkt mit einer angriffslustigen Giftschlange verglichen wird (coluber 2,471), wird dort das Verhalten einer Person mit der üblichen Reaktion eines Menschen auf das plötzliche Drohen einer sich angegriffen fühlenden Schlange verglichen (anguem 2,379). Die beiden Schlangen haben also eine jeweils unterschiedliche Bedeutung für die Ähnlichkeitsrelation im jeweiligen Gleichnis. Wenn es von beiden diesen Schlangen heißt, dass sie ihren Vorderkörper aufrichten, so verhalten sie sich damit typisch für ihre Art (wie in einem Gleichnis nicht anders zu erwarten). Es spricht nichts dagegen anzunehmen, dass es sich um ganz gewöhnliche, natürliche Schlangen handelt, wie sie Menschen als real existierend bekannt sind und im Mittelmeerraum vorkommen. Demgegenüber verhalten sich die beiden schlangenähnlichen Wesen, die Laocoon und seine Söhne töten (2,203–227), mit ihrem zielgerichteten Angriff auf einen bestimmten Menschen (agmine certo | Laocoonta petunt 2,212b–213a) und mit ihrem Verschwinden zu Füßen der Pallas-Statue überhaupt nicht wie natürliche Schlangen. Auch werden sie als riesengroß beschrieben989 und scheinen nicht nur die Gefährlichkeit von Giftschlangen990 mit derjenigen von Würge­ schlangen991 zu vereinen, sondern außerdem ihre Opfer in die Gliedmaßen zu beißen und sie zu verzehren (morsu depascitur artus 2,215). Ihre Bezeichnung im Text, der sie ausführlich beschreibt, ist nicht festgelegt; sie wechselt von angues (2,205) über (uterque) serpens (2,214) zu dracones (2,225). Dies alles lässt sie weniger als echte Schlangen denn als phantastische Ungeheuer erscheinen.

989 Riesengroß: immensis orbibus 2,204; immensa terga 2,208; spiris ingentibus 2,217. 990 Laocoons Priesterbinden sind mit Geifer und Gift benetzt: perfusus sanie vittas atroque veneno 2,221. 991 Die Ungeheuer umwickeln ihre Opfer wie Würgeschlangen: amplexus 2,214; implicat 2,215; spiris ligant 2,217; bis amplexi 2,218; bis circum…dati 2,218 f.

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Ungeachtet der Unterschiede, die zwischen einerseits den realistischen Schlangen in den beiden Gleichnissen und andererseits den schlangenartigen Wesen, die Laocoon angreifen, bestehen, postuliert Knox 1950 in seinem viel beachteten Aufsatz mit dem Titel »The Serpent and the Flame« eine enge semantische Verbindung zwischen diesen drei Vorkommen von Schlangen im Text von Aeneis 2. Darüberhinaus sieht er in einzelnen Wiederaufnahmen von bestimmten Wörtern (gemini, sinuare, labi, arduus, artus, serpere, implicare) Hinweise auf eine fortgesetzte, das ganze Buch dominierende Schlangen-Metaphorik, die im Flammenwunder am Haupt des Ascanius gipfele. Die von Knox praktizierte Art der Textauslegung ist problematisch, weil zu wenig Überlegungen zur generellen Häufigkeit der betrachteten Wörter, ihren Wortfeldern und ihrer idiomatischen Verwendung angestellt werden und daher die Signifikanz der einzelnen verbalen Übereinstimmungen durchgehend überbewertet wird. Das Wort gemini kommt in Aeneis  2 insgesamt 4 Mal vor; 2 Mal von den beiden Schlangen, die Laocoon und seine Söhne töten (2,201; 2,225) und 2 Mal von Agamemnon und Menelaos, den beiden Söhnen des Atreus (2,415; 2,500). Für Knox konstituiert die Wortwiederholung eine Analogisierung: »The twin Atridae are compared to the twin serpents; both couples are forces of merciless destruction.«992 Aber in 2,415 steht die Nennung der Atriden in einem Katalog von »Danaern«, der außer den beiden Atriden noch den lokrischen Aiax und »das gesamte Heer der Doloper« enthält, und in 2,500 werden sie auch nicht allein, sondern zusammen mit Pyrrhus-Neoptolemus genannt. Von einer Zweiheit der angreifenden Kräfte ist also an beiden Stellen keine Rede. Stattdessen sollte erwogen werden, ob nicht die Schwierigkeit, die Namen Menelaos und Agamemnon zusammen elegant im lateinischen Hexameter unterzubringen, die Verwendung von gemini Atridae hinreichend erklärt. Weiter interpretiert Knox die wiederholte Verwendung einzelner Wörter, die in den Beschreibungen der (unterschiedlichen) ›Schlangen‹ in Aeneis  2 vorkommen, als Rückverweise auf ›Schlangen‹ und als Ausdruck einer fortgesetzten Schlangen-Metaphorik. Verbindungen zu Schlangen ergeben sich laut Knox unter anderem: − für die Furcht der Troianer angesichts der Tötung des Laocoon über das Wort (in) sinuare (2,229; 2,208) − für das hölzerne Pferd über die Wörter labi und arduus993 992 Knox 1950, 383. 993 Knox 1950, 386: »The echo suggests the likeness of the horse to the serpents; lapsus and inlabitur intensify the suggestion, for labi and its compounds are words that occur sooner or later in almost any passage which describes the movement of the serpent«; ähnlich Knox 1950, 386 f. bei arduus: »The line which describes the snake to which Pyrrhus is compared (475) arduus ad solem et linguis micat ore trisulcis, repeats the salient word of Panthus’ description of the wooden horse (328) arduus armatos mediis in moenibus adstans. This repetition of arduus (not used elsewhere in Book II) would be negligible were it not for the fact that Virgil often associated this word with both, horses and serpents; he applies it elsewhere four times to horses, and three times to serpents.« Die von Knox selbst angeführten weiteren Verwendungen des Wortes für Schlangen und Pferde legen doch eigentlich nahe, dass es sich bei den Vorkommen in Aeneis 2 eben nicht um eine signifikante Besonderheit handelt. Die Gemeinsamkeit zwischen der Schlange

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− für den Schlaf der Troianer über die Wörter artus (depascitur artus 2,215; complectitur artus 2,253) sowie serpere (2,269) − für den Tod des Priamus über das Wort implicare (2,215; 2,552) Weitere Verbindungen bis hin zum Flammenwunder am Haupt des Ascanius ergeben sich für Knox aus einem generell vorausgesetzten Zusammenhang zwischen Flammen und Schlangen: »It is a commonplace of Latin writing (as it is of English) to compare the serpent and the flame; in English both hiss, creep and have flickering tongues; in Latin the words serpere, lambere, labi, volvere, and micare are used of both, often in contexts where one clearly suggests the other.«994 Hier wird der methodische Fehler offenbar, der »The Serpent and the Flame« insgesamt kennzeichnet: Gerade weil es bei den Wortfeldern grundsätzliche Überschneidungen gibt – die wohl auf der faktischen Ähnlichkeit von Schlangen, Flammen und Zungen (längliche Form, hohe Beweglichkeit, Glanz) beruhen –, sind die Wiederholungen einzelner Wörter insignifikant.

Die Schlangen- und Flammen-Metaphorik, die für Knox das zweite Buch der Aeneis durchzieht, erfährt über das Motiv der Häutung der Schlange in unserem Gleichnis eine letzte Volte: In der Erneuerung der Schlange zeige sich die Verheißung der Geburt Roms aus Troias Asche: The serpent is thus an apt comparison for the essential nature of the Greek attackers, ferocity, their typical method, concealment, and their principal weapon, fire. But it is an ambivalent image. Besides suggesting the forces of destruction, it may also stand for rebirth, the renewal which the Latin poetic tradition associated with the casting-off of the serpent’s old skin in the spring. And this connotation of the serpent is of the utmost importance for the second book of the Aeneid, which tells of the promise of renewal given in the throes of destruction; the death agonies of Troy are the birth-pangs of Rome.995

Dabei wird die Metapher selbständig, wenn Knox meint, dass sie sich wie die Schlange erneuere: the imagery has, as it were, a plot of its own. In its many appearances in the book the metaphor undergoes a transformation like that of the serpent which it evokes, it casts its old skin. At first suggestive of Greek violence and Trojan doom, it finally announces the certainty of Troy’s rebirth.996 im Gleichnis und dem hölzernen (!) Pferd besteht darin, dass sie sich hoch aufrichten (Schlange) respektive hoch aufragen (hölzernes Pferd); diese Gemeinsamkeit macht aber das Pferd nicht zur Schlange. Fernandelli 1997 verfolgt den von Knox 1950 postulierten Zusammenhang zwischen Schlange und hölzernem Pferd bis in die griechische Tragödie. 994 Knox 1950, 379. 995 Knox 1950, 380. Hierzu vgl. Richmond 1976, 149: »That snakes play a prominent part in the action and in the imagery of the second book of the Aeneid is not to be denied. But that at one time they represent in that book symbols of treachery, and at another time symbols of divine help, seems to me just as unprobable as the belief that the flames in the same book at one time represent death and destruction, and at another indicate the hope of escape and salvation for the Trojans.« 996 Knox  1950, 381. Explizit zu einer Figur wird die Schlange bei Briggs  1980, 66: »The main point of the many snake associations of Pyrrhus (see 480 ff., 552, 663) is that he

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Einmal davon abgesehen, dass die Feststellung der Metaphorik sprachlich nicht überzeugen kann, fragt sich auch, wie sie eigentlich zu deuten wäre. Was würden der Text und seine Interpretation dadurch gewinnen, dass die Zerstörung Troias als Voraussetzung der Entstehung Roms in Schlangen- und Flammenbildern Ausdruck fänden? Eine Antwort darauf bleiben Knox und diejenigen, die ihm folgen, schuldig.

10.4.7 Zerstörerische Kraft reißenden Wassers (2,496–499a)  fit via vi: rumpunt aditus primosque trucidant 2,494 immissi Danai et late loca milite complent. 2,495 non sic, aggeribus ruptis cum spumeus amnis 2,496 exiit oppositasque evicit gurgite moles, 2,497 fertur in arva furens cumulo camposque per omnis 2,498 cum stabulis armenta trahit. 2,499 Gewaltsam wird der Weg gebahnt: Die Danaer verschaffen sich Zugang, metzeln drinnen die vordersten nieder und erfüllen die Räumlichkeiten weithin mit Kriegern, stärker als ein Gewässer, das bei einem Dammbruch schäumend ausbricht und mit reißender Strömung über die wehrende Aufschüttung hinaustritt, tosend aufgetürmt in die Felder stürzt und Viehherden samt Ställen mit sich durch alle Fluren reißt.

In 2,494–499a geht es um das gewaltsame Einreißen einer Begrenzung und das Eindringen in fremdes Gebiet. In dieser Hinsicht werden die in die Burg von Troia eindringenden Griechen verglichen mit einem reißenden Strom, der über seine befestigten Ufer getreten ist, Felder überschwemmt und Ställe und Viehherden mitreißt. Dabei wird durch die Verneinung der Vergleichspartikel (non sic 2,496) ausgedrückt, dass die Kraft der andrängenden Griechen stärker ist als diejenige einer Überschwemmung. Im Vergleich mit den homerischen Gleichnissen,997 in denen Krieger und Wassermassen zueinander in Beziehung gesetzt werden, fällt ein markanter Unterschied auf: Die homerischen Gleichnisse sind hyperbolisch, da in ihnen jeweils ein einzelner Held die Kraft einer katastrophalen Naturgewalt besitzen soll: In Il. 5,87b–92 überrollt Diomedes die Troianer wie ein angeschwollener Strom, der alles überschwemmt, und in Il. 11,492–495 treibt Aias die Troianer vor sich her wie ein angeschwollener Strom Bäume entwurzelt, mitreißt und ins Meer spült. Im Unterschied dazu beruht im vergilischen Gleichnis die Kraft represents patent violence. The serpent, as a figure in this book, is no longer the lurking deceitful viper but is now the overt symbol of open ferocity«, und entfaltet als solche ein symbolisches Eigenleben: »The shedding of the skin may well represent Pyrrhus as  a new Achilles, but it equally shows the new dimension of the snake, the open symbol of fatal violence« (66 f.). 997 Knauer 1964, 380.

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des Ansturms auf der Menge der in die Burg eindringenden Krieger (late loca milite complent 2,495), das heißt den Wassermassen des Stromes steht die schiere Zahl der angreifenden Griechen gegenüber. So ist das vergilische Gleichnis realistischer als die beiden homerischen: Es ist vorstellbar, dass viele bewaffnete Männer, die ein Gebäude einrennen, ähnlichen Schaden anrichten wie ein Fluss, der seine Eindämmung bricht. Zudem bildet das Einreißen der Begrenzung (rumpunt aditus 2,494 – aggeribus ruptis 2,496) einen entscheidenden Bestandteil der Ähnlichkeitsrelation. Es wird nämlich dadurch eine Veränderung der physischen Umgebung bewirkt, die das Geschehen unumkehrbar macht. Auf der Ebene des geschilderten Geschehens bedeutet das: Der Zugang zur Burg ist gebahnt und die Griechen können nicht mehr aufgehalten werden. Aeneas ist gescheitert bei seinem Versuch, das Haus des Königs zu verteidigen.998 Das Gleichnis definiert damit auch die Situation, in der die strategische Lage für Aeneas auf dem Dach aussichtslos wird. Denn mit dem Eindringen des Feindes ins Innere des Gebäudes, auf dessen Dach er sich befindet, gerät er in eine Position, aus der ein Entkommen eigentlich nicht mehr möglich ist. Dies ist die Lage, aus der Venus ihren Sohn durch übernatürliches Eingreifen retten muss (2,589–621).

10.4.8 Verhalten von Tauben bei Unwetter (2,516) hic Hecuba et natae nequiquam altaria circum 2,515 praecipites atra ceu tempestate columbae 2,516 condensae et divum amplexae simulacra sedebant. 2,517 Eng beieinander wie die hurtigen Tauben bei finsterem Unwetter saßen hier vergebens Hecuba und ihre Töchter rings um den Altar und klammerten sich an die Götterbilder.

In 2,515–517 wird das Verhalten der Frauen, die am Altar im Innenhof der Burg Schutz suchen, verglichen mit dem Verhalten von Tauben bei Unwetter, wobei die Ähnlichkeit darin besteht, dass gleichartige Individuen sich bei ungünstigen äußeren Bedingungen aneinander drängen und zu einer dichten Gruppe formieren. Die Vergleichung ist knapp formuliert, und wenn man für ein Gleichnis eine gewisse Länge und einen vollständigen Vergleichssatz voraussetzt, wird man hier eher nicht von einem Gleichnis sprechen. Die Angabe atra tempestate bildet aber doch einen semantischen Zusammenhang, der das zum Vergleich herangezogene Phänomen spezifiziert: Es handelt sich nicht einfach um Tauben, sondern spezifisch um »Tauben bei Unwetter«. Das Partizip condensae, das sich syntaktisch auf die Frauen bezieht, wird durch den Vergleichsausdruck praecipites atra ceu tem998 Das Haus des Königs zu verteidigen ist das letzte militärische Ziel, das Aeneas sich vorgenommen hat: instaurati animi regis succurrere tectis | auxilioque levare viros vimque addere victis (2,451f).

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pestate columbae näher bestimmt: »eng beieinander wie…«.999 Dabei steht das zum Vergleich herangezogene Phänomen in einer geschlossenen Wortstellung: Der Vers 2,516 weist einen symmetrischen Aufbau nach dem Schema ABCBA auf. Die Mitte (C) bildet die Vergleichspartikel ceu, sie wird gerahmt von der adverbiellen Bestimmung atra tempestate (B) und der Ausdruck atra ceu tempestate (BCB) wird seinerseits gerahmt vom Subjekt des Vergleichs, mit dem Adjektiv praecipites am Versanfang und dem Substantiv columbae am Ende (A).1000 Bei diesem Gleichnis führt es zu einiger Verwirrung, wenn für das Adjektiv praecipites die Bedeutung »kopfüber« vorausgesetzt wird.1001 Die Tauben, so wird angenommen, fliegen bei Unwetter kopfüber oder jählings zu Boden. Wie ihnen darin die Troianerinnen ähneln sollen, bleibt dann einigermaßen unklar.1002 Die entsprechenden Deutungen stehen offensichtlich unter dem Eindruck zweier früherer Verwendungen des Wortes praecipites mit Bezug auf Vögel:1003 In dem von Lukrez verwendeten Ausdruck praecipites cadunt (Lucr. 6,744) geht es darum, dass Vögel, die den Lacus Avernus überfliegen, hinunterfallen; praeceps steht hier mit einem Verb der Bewegung (cadere).1004 Ein solches fehlt jedoch in dem vergilischen Tauben-Vergleich, und es darf nicht einfach hinzuinterpretiert werden. In der Schilderung der norischen Viehpest am Ende des dritten Georgica-Buches hingegen heißt es, dass die Vögel sterbend (!) vom Himmel fallen: ipsis est aer avibus non aequus, et illae | praecipites alta vitam sub nube

999 Daraus ergibt sich, dass condensae inhaltlich auch auf die Tauben passen muß, sonst wäre der Satz mit dem Vergleich unsinnig. West 1969, 42 entgeht die zwangsläufige Normalität dieses syntaktischen Zusammenhangs, ihm folgend hebt Horsfall 2008, 397 sie als eine Besonderheit hervor, die bewirke, dass ›simile‹ und ›narrative‹ (Einwände gegen diese Gegenüberstellung s. o.) gut aufeinander abgestimmt seien. 1000 Vgl. Salvatore 1983, 70, Anm. 75: »esametro perfetto nella struttura simmetrica con ceu al centro, che divide i due aggettivi dai due soggettivi, e con l’ictus che cade su atrá e fa risaltare anche fonicamente il cupo della tempesta«. 1001 Siehe Horsfall 2008, 397: »No certain answer seems possible, or really necessary«, mit Literatur. 1002 Austin 1964, 201: »The women are like doves ›dropping sheer down in a black storm‹; cf. G. Meredith, Love in the Valley … it is a fine line. The swift drop of the birds is shown in praecipites, followed by the heavy spondees of the massing storm; and the violence of the storm is suggested by the strong clash of ictus and accent in the first part of the line«; Briggs 1980, 60: »The birds fall swiftly (praecipites) after which the impending storm is described in heavy spondees. Ictus and accent clash reflects the violence that threatens them in 516«; Horsfall 2008, 397: »the doves plunge down (praecipites), as the women rush to the altar; there they huddle (condensae) as do the famously sociable doves«; Holzberg 2015, 123 übersetzt: »Hier dicht um den Altar sich drängend – umsonst – wie die Tauben, die sich zur Erde stürzen bei düsterem Unwetter, saßen Hekuba und ihre Töchter, die Bilder der Götter umschlingend.« 1003 Vgl. TLL s.v. praeceps A 1 a b, vol. X, 2, fasc. III, 1983, 413. Die Einordnung unserer Stelle ist hier nicht gut, vgl. die weitere Argumentation. 1004 Vergil verwendet die Junktur praecipites cadunt für Bienen: georg. 4,80.

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relinquunt (georg. 3,546 f.). Diese Beschreibung, wie Vögel im Flug sterben und jählings tot aus der Luft fallen, gehört zur drastischen Schilderung der Seuche (georg. 3,478–566); praecipites steht als Prädikativum zum merkwürdig halbmetaphorischen Ausdruck alta vitam sub nube relinquere. Es liegt also ein sehr spezifischer Sachverhalt vor, der mit den Tauben in unserem Vergleich nichts gemeinsam hat. Diese sind weder krank noch fallen sie aus der Luft, sondern sie legen bei Unwetter ein bestimmtes Verhalten an den Tag, mit dem das Verhalten der weiblichen Mitglieder der troianischen Königsfamilie verglichen wird.1005 Das Verhalten dieser Frauen ist im Text an sich eindeutig beschrieben: Sie saßen (sedebant) dicht beieinander (condensae) am Altar und klammerten sich an die Götterbilder (amplexae). Das Verb im Imperfekt sedebant hat einen durativen Aspekt, und der Satz, dessen Prädikat es ist, beschreibt die Hintergrundhandlung, vor der sich das nachfolgend Geschilderte ereignet, und zwar, wie Hecuba bemerkt, dass Priamus sich zum Verteidigungskampf rüstet, worauf sie ihn davon überzeugt, sich zu ihr und den anderen Frauen zu setzen. Davon, wie die Frauen zum Altar gelangen, ist im Text nicht die Rede, allerdings kann ausgeschlossen werden, dass dies ›kopfüber‹ oder ›jählings zur Erde stürzend‹ geschieht, weil Menschen sich so nicht fortbewegen. Liest man den Satz ohne das Wort praecipites, ergibt sich ein stimmiges Bild: ›Dicht zusammengedrängt wie Tauben bei finsterer Witterung saßen hier vergebens Hecuba und ihre Töchter am Altar und klammerten sich an die Götterbilder.‹ Tatsächlich wird bei einigen Vogelarten beobachtet, dass die Tiere sich bei Unwetter zusammenscharen und gemeinsam abwarten, bis das Wetter besser wird. Als Ähnlichkeitsrelation in unserem Vergleich ergibt sich das enge Zusammenscharen bei widrigen äußeren Verhältnissen. Aber während den Vögeln ihr Verhalten in der Regel hilft, warm zu bleiben und die Unbilden zu überstehen, wird es sich bei den Troianerinnen als vergeblich erweisen, daher: nequiquam. Was nun das Wort praecipites betrifft, so gehört ein Sturzflug nicht zum Verhaltensrepertoire von Tauben im allgemeinen und ebenso wenig zu dem literarischer Tauben, und zwar auch nicht bei Unwetter. Statt dessen wäre ›eilig‹ oder auch ›flüchtig‹ im Sinne von ›ängstlich‹1006 vorzuziehen, sei es dass es eine

1005 Hier die Andeutung einer Gleichsetzung der Eroberung Troias mit der norischen Viehpest zu postulieren, wäre eine Überinterpretation der Verwendung des Wortes praecipites. Im übrigen gilt von den troianischen Frauen ebenfalls, dass sie weder krank sind noch sterben. Den Vergleich als vage Vorausdeutung auf kommendes Unheil zu verstehen ist angesichts der geschilderten Situation und der Bekanntheit der erzählten Geschichte (jeder weiß, dass Troia eingenommen wird) allzu banal. 1006 Hierzu passt, dass den Tauben ein ängstliches Wesen (timiditas) zugeschrieben wird, vgl. TLL s.v. columba, II A, vol. III fasc. VIII, 1910, 1731, wo nach Varro rust. 3,7,4 (­nihil …timidius columba) auch unsere Stelle 2,516 angeführt wird.

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generische Eigenschaft von Tauben bezeichnet (die hurtigen Tauben), sei es dass es ihr artgemäßes Verhalten bei Sturm bezeichnet (wie Tauben, die bei Unwetter eilends zusammenrücken).1007

10.4.9 Unausweichliches Umkippen eines professionell gefällten Baumes (2,626–631) Tum vero omne mihi visum considere in ignis 2,624 Ilium et ex imo verti Neptunia Troia 2,625 ac veluti summis antiquam in montibus ornum 2,626 2,627 cum ferro accisam crebrisque bipennibus instant eruere agricolae certatim, illa usque minatur 2,628 et tremefacta comam concusso vertice nutat, 2,629 vulneribus donec paulatim evicta supremum 2,630 congemuit traxitque iugis avulsa ruinam. 2,631 Da aber schien mir ganz Ilium in Flammen zu versinken und das Neptunische Troia von Grund auf gestürzt zu werden, gerade wie wenn einer alten Esche im Gebirge Landleute, nachdem sie sie mit dem Eisen angesägt haben, mit zahlreichen Axtschlägen wetteifernd zusetzen, sie noch emporragt und am Laub erzitternd mit bebendem Wipfel wankt, bis sie schließlich, von den Hieben nach und nach bezwungen zuletzt ächzt und aus dem Gebirgskamm gerissen umkippt.

In 2,624–631 wird die Eroberung Troias verglichen mit dem Umkippen einer alten, hoch auf einem Berg gewachsenen Esche, die von mehreren Personen 1007 Der TLL unterscheidet bei praeceps unter anderem zwischen der Bezeichnung situativ angemessener Eiligkeit (TLL s.v. praeceps A 2 a, vol. X, 2, fasc. III, 1983, 414; hierhin gehört unsere Stelle, wenn man der Erklärung des Serviuskommentars folgt: »praecipites festinae, propter tempestatem«, Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 299) und der Bezeichnung eines eiligen, geschäftigen Handelns (TLL s.v. praeceps B, vol. X, 2, fasc. III, 1983, 414–416). Letzteres wird als überwiegend negativ konnotiert eingestuft, nämlich im Sinne von ›übereilt‹, ›voreilig‹ oder ›unüberlegt‹ (TLL s.v. praeceps B 1, vol. X, 2, fasc. III, 1983, 414–416). Hiervon werden einige Belege ausgenommen, in denen es um schnelles und richtiges Handeln geht: de eis qui cito agunt (TLL s.v. praeceps B 2, vol. X, 2, fasc. III, 1983, 416). Zu dieser Bedeutung passt die dem Artikel vorangestellte Etymologie (aus prae und caput) allerdings nur schlecht. Eventuell liegt eine sekundäre (womöglich sprachgeschichtlich nicht korrekte) Ableitung von prae und capere > praecipere im Sinne von »geistig vorwegnehmen« vor, wie in: TLL s.v. praecipio, Caput Alterum (i. q. ante capere) II (cognoscendo, animadvertendo), vol. X, 2, fasc. III, 1983, 452. Etwas praeceps zu tun, könnte auf Lateinisch dann zweierlei Gegenteiliges bedeuten: Entweder kopfüber und also unüberlegt zu handeln (prae und caput) oder aber vorausahnend und also angemessen (prae und capere) zu handeln. Für die Tauben und die Frauen in unserem Vergleich wäre die Sache klar: Beide drängen sich vorausahnend zusammen: Wie Tauben ein nahendes Unwetter spüren, so erahnen die Frauen der Königsfamilie von Troia die bevorstehende Eroberung der Burg und scharen sich daher bei den Götterbildern zusammen.

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sachgerecht gefällt wird. Die Ähnlichkeit besteht in der Unausweichlichkeit des Sturzes, den koordiniert zusammenarbeitende Individuen zielgerichtet herbeiführen. Interpretationen dieses Gleichnisses, die sich ohne Berücksichtigung des Erzählzusammenhangs auf die Gleichsetzung Troias mit einem Baum konzentrieren, heben vor allem darauf ab, dass die Esche wie ein Mensch dargestellt werde.1008 Gíslason 1937 leitet daraus eine »Beseelung« des Baumes ab, durch die bei den Rezipienten Mitleid erregt werden solle.1009 Pöschl 31977 hält die Schicksalsdeutung, die durch das »Leiden« und die »Tragik« der Esche ausgedrückt würden, für die zentrale Aussage des Gleichnisses.1010 Briggs 1980 zieht – wie vor ihm bereits v. Duhn 19521011 – Gleichnisse in Ilias und Argonautica hinzu, in denen das Sterben eines Kriegers mit dem Fällen eines Baums verglichen wird, und entwickelt die Deutung, dass Troia falle wie ein Krieger. Weiter meint Briggs, im Eschengleichnis werde aller Söhne Troias gedacht, die kämpfen und sterben. Zudem folgert er aus der Überlegung, dass Bäume nicht ohne Grund gefällt werden, sondern zu dem Zweck, dass aus ihrem Holz Schiffe gebaut werden können, dass auch Troia nicht ohne Grund falle und dass die Zerstörung Troias ein notwendiges Vorspiel (»prelude«) für die Erbauung Roms sei.1012 Für alle diese Interpretationen hat der Erzählzusammenhang so gut wie keine Relevanz und umgekehrt haben sie keine spezielle Relevanz für den Erzählzusammen1008 Allerdings sind die mit Bezug auf die Esche verwendeten Begriff gar nicht notwendigerweise speziell anthropomorphisierend: So muss minari nicht unbedingt als persönliches ›drohen‹ verstanden werden, es kann einfach ›aufragen‹ heißen; die Ausdrücke coma für das Laub und vertex für den Wipfel sind für Bäume konventionell, gleiches gilt von nutare: es heißt bei Bäumen und Ästen ›schwanken‹ (und nicht ›nicken‹); vulnus wird keineswegs nur von Lebewesen gebraucht und genauso steht es mit gemere (congemuit 2,631). 1009 Gíslason 1937, 62 f. 1010 Pöschl 31977, 58 (21964, 79): »Auch in diesem Bild, das – ebenfalls ganz unhomerisch – nicht einen sinnlichen Vorgang veranschaulicht, sondern ein Schicksal deutet, ist das ›Leiden‹ des Baumes, seine ›Tragik‹ gleichsam die Hauptsache.« 1011 Vgl. v. Duhn 1952, 78: »Ebenso ist das Baumgl. nur richtig zu verstehen, wenn es auf dem Hintergrund der Baumgll. von Homer oder Apollonius betrachtet wird, die diesen Vergleich auf einen fallenden Helden beziehen. Auf diesem Hintergrund wird allererst erkennbar, dass Virgil die Stadt einem fallenden Helden vergleicht, dessen Leben die Götter ein Ende gesetzt haben.« 1012 Briggs 1980: »Trees in Homer and Apollonius are most often used in similes to compare the deaths of warriors to the felling of a tree« 32, die herangezogenen Texte sind: Il. 13,389–391= 16,482–484 und Apoll. Rhod. 4,1682–1688; »These Greek similes, which had been applied to valiant dying men, are now applied to the entire city. In other words, Troy falls like a good soldier«, »Virgil develops from his sources in a unique way, beyond simply extending the humanization: He makes the suffering of the tree reflect that of each of Troy’s fighting and dying sons«, 33; »The cutting of the trees is not simply destructive, it has a purpose: to build ships form the lumber. In the Aeneid, Troy must be cut down to found Rome, the destruction is a necessary prelude to construction«, 34.

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hang. Weder das Ziel, die Rezipienten zu rühren, noch die Vorstellung, dass die schicksalhafte Tragik der Eroberung Troias beschworen werde oder dass deren tieferer Sinn darin liege, eine Voraussetzung für Rom zu sein, erklärt, warum gerade dieses Gleichnis ausgerechnet an dieser Stelle in der Erzählung steht. Im Erzählzusammenhang kommt es bei diesem Gleichnis entscheidend auf den Vorgang des unausweichlichen Sturzes an sowie darauf, dass dieser Sturz durch kompetente Personen absichtsvoll herbeigeführt wird.1013 Für die folgerichtige Entwicklung der erzählten Geschichte ist an dem Gleichnis bedeutsam, dass Aeneas darin beschreibt, wie er, nachdem seine Mutter ihm das Wirken der Götter in Troia gezeigt hat, begreift, dass der Sturz Troias unausweichlich ist, weil es sich um ein planvoll herbeigeführtes Ereignis handelt. Zwar nennt er die Götter als Verantwortliche nicht, sondern nur im Bild die agricolae (2,638) als Ausführende, aber im Zusammenhang mit der vorausgehenden Götterschau (2,608–618) ergibt sich, dass Troia stürzt, weil die Götter es zu Fall bringen, genau wie die Esche stürzt, weil die Landleute sie zu Fall bringen. Es wird hier keineswegs ein Baumfrevel begangen,1014 vielmehr sind die agricolae diejenigen, die professionell Bäume fällen. Ihnen entsprechen auf der Handlungsebene die Götter, deren Verantwortlichkeit für den Fall Troias Venus in der »Götterschau« reklamiert.1015 Dass ein göttlicher Plan hinter dem Sturz Troias steht, wird also von Aeneas nicht direkt formuliert, indem er etwa sagte: »Die Götter waren übereingekommen, dass Troia fallen sollte.« Eine solche Aussage, wie sie von der Stimme eines allwissenden extradiegetischen Erzählers ohne weiteres vorkommen könnte, 1013 Nicht abstrahierend genug: Worstbrock 1963, 142, der die Schilderung, wie die Esche schließlich zu Fall kommt, detailliert mit dem Untergang Troias parallelisiert: »Das Gleichnis faßt im Augenblick der Zerstörung Troias das Geschehen bis zur Vernichtung der Stadt bildhaft zusammen, wobei jeder Einzelzug bedeutsam ist: Die mächtig daliegende Troia, die Überzahl der Angreifer, die lange wechselvolle Kampfesmühe, die noch im Untergang drohende Größe der Stadt (usque minatur), die Erschöpfung, das Ächzen am Ende und die ruina.« Hier passt nur wenig zusammen, am wenigsten die »drohende Größe der Stadt« (woher?) und das »Ächzen« (ein fallender Baum ächzt, eine eroberte Stadt aber nicht). Die Erzwungenheit dieser vermeintlichen Übereinstimmungen zeigt deutlich, dass in ihnen der Sinn des Gleichnisses nicht liegen kann. Genauso wenig überzeugend: West 1969, 41: »The mountain ash threatens to fall, its foilage trembles, its top is shaken and sways until at last it is gradually overwhelmed by its wounds, it gives the final creak as it breaks, and it spreads destruction along its ridge. All these details apply mutatis mutandis to the fall of a high building and enrich our visual reaction to Virgil’s descriptions of the destruction of the buildings of Troy.« Aber die Fällung der Esche ist keine Zerstörung und das Detail »it spreads destruction along its ridge«, das in Wests Paraphrase die entscheidende Verbindung zwischen Baum und Stadt bildet, hat keine Entsprechung im Text. 1014 In diese Richtung geht z. B. Gíslason 1937, 62: »Der Leser empfindet jene als Frevler.« 1015 Dafür, dass im Gleichnis die Verantwortlichkeit der Götter ausgedrückt wird, vgl. v. Duhn 1952, 78, Zitat in Anm. 991, letzter Teilsatz. Der Umwege über die Prätexte und der Vergleichung mit dem Krieger bedarf es allerdings gar nicht.

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wird bei dem am geschilderten Geschehen beteiligten Erzähler vermieden. Stattdessen wird der Inhalt dieser Aussage indirekt – aber deshalb nicht weniger eindeutig! – in der deiktischen Ekphrasis der Götterschau (2,608–618) und im vorliegenden Gleichnis präsentiert. Durch diese Art der Darstellung ist die Gefahr gebannt, dass der personale Erzähler allzu informiert erscheint oder gar den Eindruck erweckt, er habe sich den Götterplan (zu seinen Gunsten) zu eigen gemacht. So wird Aeneas – sowohl der Erzähler als auch der Protagonist – als jemand gezeigt, der dem Wirken der Götter mit ehrfürchtiger Distanz gegenüber steht. Kein homerisches Gleichnis hat eine ähnlich subtile narrative Funktion; die traditionell angeführten Similien mit Homer (sowie in einem Fall mit Apollonios Rhodios) betreffen lediglich einzelne Aspekte.1016

10.4.10 Anblick großer Bäume vom Meer aus (3,679b–681) at genus e silvis Cyclopum et montibus altis 3,675 excitum ruit ad portus et litora complent. 3,676 cernimus astantis nequiquam lumine torvo 3,677 Aetnaeos fratres caelo capita alta ferentis, 3,678 concilium horrendum, quales cum vertice celso 3,679 aeriae quercus aut coniferae cyparissi 3,680 constiterunt, silva alta Iovis lucusve Dianae. 3,681 Da aber stürzte, aufgescheucht aus den Wäldern und von den hohen Bergen, die Sippe der Kyklopen zur Bucht und sie besetzten das Ufer. Wir sahen, wie sie sich vergeblich aufstellten mit finsterem Blick, die Brüder vom Ätna mit ihren in den Himmel ragenden Häuptern, eine schauerliche Versammlung, so wie wenn hohe Eichen mit weit emporragenden Wipfeln beisammen stehen oder zapfentragende Zypressen, als hochgewachsener Wald des Jupiter oder als Hain der Diana.

In 3,675–683, dem einzigen Gleichnis in Aeneis  3, werden Kyklopen, die am Ufer stehen und finster dreinblicken, verglichen mit hohen Bäumen, die einen heiligen Hain bilden.1017 Die Ähnlichkeit besteht im optischen Eindruck, den Bäume respektive Kyklopen in ihrer Anordnung und Größe vom Meer aus betrachtet bieten. Als die Kyklopen auf das Gebrüll des Polyphem (3,672–674) hin zur Bucht eilen, können sie nichts mehr ausrichten (nequiquam 3,677), weil die troianischen Schiffe bereits losgemacht haben und schon aufs offene Meer unterwegs sind 1016 Vgl. Horsfall 2008, 448: »The evident (but not very close) models are Il. 4,482–7, 13,389– 91, 16,482–4, AR 4,1682–6«. Zur Intertextualität mit Gleichnissen in der Ilias und bei Apollonios Rhodios siehe Worstbrock 1963, 140–142; Knauer 1964, 381; Briggs 1980, bes. 32–34. 1017 Zu diesem Gleichnis: Horsfall 2006, 450–452; Williams 1962, 200–202.

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(3,666–668). Ihnen bleibt daher nur noch, am Ufer Aufstellung zu nehmen und finster hinterher zu schauen. Dass der Text die Alternative von zwei Baumarten und zwei Gottheiten bietet (Eichen oder Zypressen, also ein Hain des Jupiter oder der Diana), zeigt, dass es auf die Form der Bäume nicht ankommt: Dafür sehen Eichen und Zypressen zu unterschiedlich aus. Auch eine symbolische Bedeutung der Baumarten respektive der Gottheiten wird durch die Alternative unwahrscheinlich. Die Ähnlichkeit besteht im Anblick, den mehrere hochgewachsene, am Ufer stehende Exemplare bieten, wenn man sie mit einiger Distanz vom Meer aus wahrnimmt.1018 Dass die Kyklopen als Bewohner des Gebietes um den Ätna zur erzählten Lebenswirklichkeit des Achaemenides und des Aeneas gehören, also innerhalb der Erzählung als real gelten, steht außer Frage. Eine Ebene höher aber kann der Vergleich auch als euhemeristische Erklärung für die Wahrnehmung von Kyklopen auf Sizilien verstanden werden.

1018 Steele 1918, 83 führt dieses Gleichnis als eines der wenigen rein quantitativen Gleichnisse an (sowohl in Englisch als auch in Latein).

11 Krisis ohne Helena und Hilfe durch Venus

Der Text des zweiten Buches der Aeneis wird von den Codices M (›Mediceus‹: Florentinus Laurentianus xxxix,1, vom Ende des 5. Jahrhunderts) und P (›­Palatinus‹: Vaticanus Palatinus Latinus 1631, aus dem 5./6. Jahrhundert), also von zwei der drei Hauptzeugen für Vergils Werk, lückenlos und im Wesentlichen übereinstimmend überliefert.1019 Trotz einer solchen, vergleichsweise soliden Hauptüberlieferung drucken die Textausgaben der Aeneis traditionell zusätzlich einen Abschnitt von 22 Versen als 2,567–588, die sogenannte ›Helena-Szene‹. Sie ist zwar ausschließlich in der Praefatio des Serviuskommentars überliefert, aber ihre Präsenz in den Textausgaben prägt die Wahrnehmung des zweiten Buches der Aeneis in hohem Maße. Dies geht so weit, dass die Schilderung der Venus-Erscheinung (2,589–623a) zu einem unfertig eingefügten Versatzstück erklärt wird,1020 vor dem im überlieferten Text eine Lücke klaffe.1021 Dabei ist die Erscheinung der Venus in 2,559–566 und direkt anschließend 2,589–623 folgerichtig und spannend entwickelt: Aeneas befindet sich in höchster Not. Er steht allein auf dem Dach des von den Griechen gestürmten Palastes. Seine Stadt ist erobert und der König ist tot. Für seinen Vater, seine Frau und seinen Sohn muss er das Schlimmste befürchten. In dieser scheinbar aussichtslosen Lage erscheint ihm seine Mutter Venus: at me tum primum saevus circumstetit horror. obstipui. subiit cari genitoris imago ut regem aequaevum crudeli vulnere vidi vitam exhalantem. subiit deserta Creusa et direpta domus et parvi casus Iuli. respicio et quae sit me circum copia lustro – deseruere omnes defessi, et corpora saltu ad terram misere aut ignibus aegra dedere –, cum mihi se, non ante oculis tam clara, videndam obtulit et pura per noctem in luce refulsit alma parens confessa deam qualisque videri caelicolis et quanta solet, dextraqe prehensum continuit roseoque haec insuper addidit ore:

2,559 2,560 2,561 2,562 2,563 2,564 2,565 2,566 2,589 2,590 2,591 2,592 2,593

1019 Der Codex R (›Romanus‹: Vaticanus Latinus 3867, vom Anfang des 6. Jahrhunderts), dem insgesamt 77 Blatt fehlen, fällt für das zweite und das dritte Buch weitgehend aus: Er reicht lediglich bis 2,72 und setzt erst wieder ab 3,685 ein. Vgl. Mynors 1969, V; Conte 2005, IX. 1020 Z. B. Austin 1964, 242 mit Körte 1916. 1021 Z. B. Heinze 31915, 47; Horsfall 2008, 30.

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›nate, quis indomitas tantus dolor excitat iras? 2,594 quid furis? aut quonam nostri tibi cura recessit? 2,595 Mich aber umgab da zum ersten Mal das schiere Grauen. Ich hielt inne. Mir trat das Bild meines lieben Vaters vor Augen, als ich den gleichaltrigen König mit grausam geschlagener Wunde sein Leben aushauchen sah. Mir trat Creusa vor Augen – verlassen, das Haus – niedergerissen! und das Schicksal des kleinen Iulus. Ich blickte mich um und schaute, wer noch bei mir war – alle hatten aufgegeben und sich erschöpft entweder in die Tiefe oder ins Feuer gestürzt –, als mir plötzlich klar sichtbar wie nie zuvor meine liebe Mutter erschien und in hellem Licht durch das Dunkel der Nacht strahlte, sich als Göttin zu erkennen gab, in der Weise und in der Größe, wie sie gewöhnlich von den Himmlischen gesehen wird, und mich mit ihrer rechten Hand ergriff und festhielt und sodann mit ihrem rosigem Mund sagte: »Mein Sohn, was für ein gar großer Kummer erweckt in dir unbändigen Zorn, was bist du wütend, hast Du denn vergessen, dass ich doch auch noch da bin?1022

Im Moment seiner größten Aussichtslosigkeit offenbart Venus sich ihrem Sohn in ihrer ganzen Göttlichkeit und rettet ihn vom Dach des Palastes. Ihre Hilfe besteht zuallererst darin, dass sie ihm die Befürchtung nimmt, dass seine Familie bereits in Feindeshand gefallen sei (2,596–600). Zweitens macht sie ihm deutlich, dass die Götter selbst Troias Untergang vorantreiben (2,601–618). Schließlich gibt sie ihm drittens die konkrete Handlungsanweisung, den Kampf einzustellen und sich nach Hause zu begeben, wobei sie ihm zusagt, ihn auf seinem Weg zu beschützen (2,619–629).1023 Diese in sich stimmige, dramaturgisch kohärent entwickelte und trefflich in den Kontext passende Schilderung der übernatürlichen Rettung des Aeneas durch seine göttliche Mutter wird durch die nach 2,566 und vor 2,589 eingeschobenen 22 Verse der ›Helena-Szene‹ unterbrochen. In diesem zusätzlichen Textabschnitt wird erzählt, wie Aeneas, nachdem er Priamus tot gesehen hat, umherschaut, Helena erblickt und erwägt, an ihr Rache für den Untergang Troias zu nehmen. Ein erster Teil von vier Versen schildert äußere Handlung: Aeneas’ Blick fällt auf Helena, die sich still für sich »am Eingang der Vesta« aufhält; etwas nachklappend werden die Sichtverhältnisse (*2,569b) und Verhalten des Ich-Erzählers (*2,570) beschrieben, der sich orientiert und nach allen Seiten umschaut. Iamque adeo super unus eram, cum limina Vestae *2,567 servantem et tacitam secreta in sede latentem *2,568 Tyndarida aspicio; dant claram incendia lucem *2,569 erranti passimque oculos per cuncta ferenti. *2,570 Jetzt war ich ganz allein übrig, als mein Blick auf Helena fiel, die an Vestas Schwelle lauerte und sich still an gesondertem Ort verbarg; der Brand gab mir Licht, als ich umherlief und meine Augen nach allen Seiten richtete.

1022 Zu dieser Übersetzung von aut quonam nostri tibi cura recessit? siehe Anm. 727. 1023 Hierzu siehe 9.2.8.

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In den nächsten vier Versen wird die Situation der Helena reflektiert, und zwar in dem Sinne, dass sie in der gegenwärtigen Situation beide Seiten, Troianer wie Griechen, gleichermaßen fürchten müsse und sich deshalb versteckt; dabei wird sie als »Troias und Griechenlands gemeinsame Furie« (Troiae et patriae communis Erinys *2,573) bezeichnet. illa sibi infestos eversa ob Pergama Teucros *2,571 et Danaum poenam et deserti coniugis iras *2,572 praemetuens, Troiae et patriae communis Erinys, *2,573 abdiderat sese atque aris invisa sedebat. *2,574 Aus Angst sowohl davor, dass Troianer ihr wegen der Zerstörung der Burg feindlich sein würden, als auch vor der Rache der Griechen und dem Zorn ihres Ehemannes, den sie verlassen hatte – eine Geißel gleichermaßen für Troia wie für ihr eigenes Vaterland – hatte sie sich verborgen und saß so, dass sie vom Altar aus nicht zu sehen war.1024

Sodann beschreiben zwei Verse die emotionale Reaktion des Aeneas auf den Anblick der Helena: In ihm entbrennen Rachegelüste. exarsere ignes animo; subit ira cadentem *2,575 ulcisci patriam et sceleratas sumere poenas. *2,576 Feuer entbrannten in meinem Herzen. Ein Bedürfnis nach Vergeltung stieg empor, dem zugrunde gehenden Vaterland Genugtuung zu verschaffen und für das Unrecht Rache zu nehmen.

1024 Zu dieser Übersetzung von aris invisa sedebat (2,574): Aeneas ist noch stets auf dem Dach (und zwar bis descendo in 2,632; anders: Heyne  41832, vol. 2, 347) und sieht in den Innenhof hinab, wo Priamus soeben am Altar gestorben ist. Er schaut sich weiter um und sein Blick fällt auf Helena, die sich nicht bei den anderen Frauen am Hausaltar befindet, sondern an der Schwelle des häuslichen Vesta-Heiligtums (limina Vestae | servantem 2,566b–567a). Sie versteckt sich mucksmäuschenstill an einem abgesonderten Ort (tacitam secreta in sede latentem 2,568) und zwar »den Altären nicht sichtbar« (aris invisa 2,574; analog zu oculis (Dativ) invisus), das heißt: wo sie vom Altar aus, wo Priamus, Hecuba und die anderen gesessen haben, nicht gesehen werden kann (vgl. Heyne 41832, vol. 2, 348: »invisa, abdita. Sic melius, puto.«). Fasst man invisa als ›feindlich‹ und aris als Ablativus loci zu sedebat (Casali 2017, 276; Holzberg 2015, 127: »saß nun, allen verhaßt, am Altare«), so passt dies erstens nicht zur Angabe limina Vestae | servantem (2,566b–567a)  und zweitens wird dadurch das differenzierte Motiv der vorauseilenden (praemetuens 2,573) Furcht vor beiden Seiten banalisiert. Tatsächlich stellt der ganze Abschnitt 2,567–574 eine recht ausführliche Erklärung dafür dar, dass Helena nicht zusammen mit den anderen Frauen am Altar sitzt. Wer auch immer diesen Abschnitt verfasst hat, war offensichtlich der Ansicht, dass die Umstände, unter denen Aeneas Helena erspähen kann (Lichtverhältnisse, Umherblicken, Helenas Verstecktsein), explizit und detailliert erwähnt werden müssen. Zum Vesta-Heiligtum als sakrosanktem Zufluchtsort: Henry 1878, Bd. 2, 279–282. Die Annahme, aris invisa bedeute ›den Altären verhasst‹, würde implizieren, dass Aeneas sich eine Bewertung der Helena aus göttlicher Perspektive anmaßte: Das ist unwahrscheinlich in Anbetracht dessen, dass sein Erzählertext sich in diesen Dingen sonst durch Zurückhaltung auszeichnet.

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Es folgen elf Verse (*2,577–587), die einen inneren Monolog wiedergeben. Dieser beginnt damit, dass futurische Aussagen (die in den modernen Ausgaben mit Fragezeichen versehen sind) das weitere Geschick der Helena umreißen, wenn es ihr vergönnt sein wird, unbehelligt – auf der Seite der Sieger und mit troianischer Dienerschaft – auf die Peloponnes zurückzukehren. ›scilicet haec Spartam incolumis patriasque Mycenas *2,577 aspiciet, partoque ibit regina triumpho? *2,578 coniugiumque domumque patris natosque videbit *2,579 Iliadum turba et Phrygiis comitata ministris? *2,580 ›Diese wird also unversehrt Sparta und das väterliche Mykene schauen und nach erlangtem Triumph als Königin einherschreiten? Sie wird Ehegemahl, Vaterhaus und Kinder sehen, begleitet von einer Schar Troianer und phrygischen Dienerinnen?

Anschließend werden in drei vorzeitig dazu formulierten Sätzen Umstände genannt, die den Untergang Troias beschreiben und als Gegengründe für Helenas rosige Zukunft gelten sollen. occiderit ferro Priamus? Troia arserit igni? *2,581 Dardanium totiens sudarit sanguine litus? *2,582 Umgekommen durch das Schwert Priamus? Troia im Feuer niedergebrannt? Die dardanische Küste so oft von Blut benetzt?

Sodann erteilt Aeneas der von ihm soeben für Helena skizzierten Zukunft mit non ita eine Absage und führt aus, dass die Rache an einer Frau zwar eigentlich keinen Ruhm einbringe, es ihn aber doch mit Genugtuung erfüllen würde, seine Landsleute gerächt zu haben. non ita. namque etsi nullum memorabile nomen *2,583 feminea in poena est nec habet1025 victoria laudem, *2,584 exstinxisse nefas tamen et sumpsisse merentis *2,585 laudabor poenas, animumque explesse iuvabit *2,586 ultricis †famam1026 et cineres satiasse meorum.‹ *2,587 Nein! Denn auch wenn mit der Bestrafung einer Frau keine unvergessliche Berühmtheit zu erlangen ist und dieser Sieg keinen Ruhm mit sich bringt, werde ich doch dafür anerkannt werden, das Unrecht getilgt und verdiente Rache genommen zu haben, und es wird sich gut anfühlen, im Innern von rächendem Stolz erfüllt zu sein und der Asche der Meinen Genugtuung verschafft zu haben.‹

Die Helena-Szene endet mit einem Vers Rede-Ausleitung (*2,588), der den syntaktischen Übergang zum Text der Hauptüberlieferung (ab 2,589) herstellt. 1025 nec habet bieten zwei jüngere Serviushandschriften (diese Lesart rezipieren Horsfall 2008, 568; Conte 2009, 55); die Serviushandschriften sonst bieten habet haec (dieser Lesart folgt Mynors 1969, 145). 1026 So Mynors 1969, 145; famam haben die Serviushandschriften; bei den Recentiores finden sich auch famae und flammae; Conte 2005, 55 setzt famae in den Text.

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talia iactabam et furiata mente ferebar, *2,588 cum mihi se, non ante oculis tam clara, videndam 2,589 obtulit et pura per noctem in luce refulsit 2,590 alma parens, confessa deam qualisque videri 2,591 caelicolis et quanta solet, dextraque prehensum 2,592 continuit roseoque haec insuper addidit ore: 2,593 nate, quis indomitas tantus dolor excitat iras? 2,594 quid furis? aut quonam nostri tibi cura recessit? 2,595 Solches erwog ich und ließ mich von der Wut hinreißen,] als mir plötzlich klar sichtbar wie nie zuvor meine liebe Mutter erschien und in hellem Licht durch das Dunkel der Nacht strahlte, sich als Göttin zu erkennen gab, in der Weise und in der Größe, wie sie gewöhnlich von den Himmlischen gesehen wird, und mich mit ihrer rechten Hand ergriff und festhielt und sodann mit ihrem rosigem Mund sagte: »Mein Sohn, was für ein gar großer Kummer erweckt in dir unbändigen Zorn, was bist du wütend, hast Du denn vergessen, dass ich doch auch noch da bin?

Unvoreingenommen betrachtet handelt es sich bei der Helena-Szene um ein philologiegeschichtliches Kuriosum: 22 Verse, die in den antiken Aeneis-Handschriften nicht vorkommen und nirgends bezeugt sind außer in der Vorrede des Servius-Kommentars,1027 die aber dennoch Eingang in die kanonische Verszählung des zweiten Buches gefunden haben. Seit der Editio princeps (Rom: ~1469) stehen sie in den meisten Textausgaben,1028 und zwar im fortlaufenden Text und nicht etwa in der Praefatio oder im kritischen Apparat. Natürlich werden sie in der Regel entsprechend gekennzeichnet, aber sie prangen doch mittendrin und reißen den direkt überlieferten Text auseinander.1029 Das heißt: Die Heraus1027 Servius (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 2, Z.24 – 3, Z.21). Im Servius Auctus (Servius Danielis) stehen die Verse im Kommentar zu 2,566; laut Goold 1970 bietet er kein Sondergut. 1028 Conte 2009, 54: in textum receperunt recc. pauci et edd. inde ab editione Romana an. 1469. Geymonat 1973, 240: in textum receperunt perpauci recentiores et edd. inde ab Ed. Romana anni 1473. 1029 Heyne 41832, vol. 2, 346–350 hat die Verse im Text und erklärt im Apparat, warum er sie anders als frühere Herausgeber für echt hält. Ribbeck 1894, 308–310 druckt nach 2,566 drei Asteriske in einer breiteren Zeile, dann die Verse *2,567–588 in eckigen Klammern und schließt 2,589 ohne größeren Abstand in der nächsten Zeile an. Mynors  1969, 144 f. setzt die Helena-Szene im fortlaufenden Text zwischen eckige Klammern. Die italienischen Herausgeber setzen sie entweder bloß kursiv, so Sabbadini  1944, 61 f. und Conte 2009, 54 f., oder aber betreiben erheblichen typographischen Aufwand, um sie optisch vom umgebenden Text abzusetzen: Geymonat 1973, 241 präsentiert sie in eckigen Klammern, druckt sie zusätzlich in einer kleineren Schriftgröße und fügt davor und dahinter horizontale Linien in der Breite des Textspiegels ein; er scheint also keine Lücke zu konstatieren. Casali 2017, 80–82 druckt nach 2,566 drei Punkte, in die nächste Zeile drei Asteriske und dann 2,567–588 in eckigen Klammern. Der laut Klappentext für College-Studenten gedachte Kommentar von Ganiban 2008a, 86–89 markiert die Helena-Szene im abgedruckten Text überhaupt nicht. Holzberg 2015, 124 f. wählt für seinen Lesetext in der Sammlung Tusculum die Kursivierung wie Sabbadini 1944 und Conte 2019.

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geber scheuen sich nicht, mitten in einen Text des 1. Jahrhunderts v. Chr., der von seinem ersten Erscheinen an eine maßgebliche Rolle im literarischen Kanon spielte und von dem wir Handschriften aus dem 5. Jahrhundert besitzen, zweiundzwanzig Verse hineinzusetzen, die ausschließlich im Kommentar eines um 400 lebenden Grammatiklehrers überliefert sind, dessen älteste erhaltene Handschriften aus dem 9. Jahrhundert stammen. Ein solches Vorgehen ist äußerst ungewöhnlich. Entsprechend intensiv gestaltet sich die Debatte, die um die Helena-Szene geführt wird.1030 Diese Debatte geht in alle möglichen Richtungen und macht nicht halt vor Überlegungen, ob in den Anzahlen der Verse bestimmter Textabschnitte die Fibonacci-Folge aufgespürt werden kann und Vergil also im ›goldenen Schnitt‹ gedichtet habe.1031 Die Meinungen über den Wortlaut der Helena-Szene reichen von ›völlig unvergilisch‹1032 über ›vergilisch, aber noch unfertig‹,1033 und 1030 Eine Auswahl: Austin 1961; Goold 1970; Murgia 1971; Kraggerud 1975; Conte 1978 ≈ Conte 1984 ≈ Conte 1986; Estevez 1981; Berres 1992; Gall 1993; Erbse 2001; Murgia 2003; Conte 2006; Horsfall 2006; Kraggerud 2010, 142–144; Conte 2016: ~ eine Kombination aus Conte 1978 und Conte 2006; Kraggerud 2017, 164 f. Eine Liste der Literatur seit O. F.  Gruppe  1859 bietet: Austin  1964, 219. Doxographisches und bibliographische Hinweise: Casali 2017, 269–274; Horsfall 2008, 553–586; Berres 1992, 241–243; Austin 1961, 186. 1031 Goold 1970, 147–154. Hierzu: Berres 1992, 41. Erstaunlich an der Argumentation mit dem goldenen Schnitt ist, dass nur die Verse der Helena-Szene gezählt, in Abschnitte eingeteilt und dann zueinander in Beziehung gesetzt werden. Es wird also lediglich das Versatzstück selbst betrachtet, bei dem eine starke Geschlossenheit eigentlich eher gegen eine Zugehörigkeit zur Aeneis spräche als dafür. Falls der ›goldene Schnitt‹ ein Kriterium dafür sein soll, ob eine Interpolation vorliegt (er soll es natürlich nicht!), so wäre doch – wenn schon – zu untersuchen, ob die Helena-Szene mit dem sie umgebenden Text in entsprechender Weise korrespondiert! 1032 ›Unvergilisch‹: Leo 21912, 42 f., Anm. 3; Heinze 31915, 45, Anm.1; Norden 31926 (41957), 261 f.; in metrischer Hinsicht: 454 (Anhang  XI, Nr. 3), hierin widerlegt durch Ship­ ley 1925 und Johnson 1927. 1033 ›Vergilisch, aber noch unfertig‹: Shipley 1925, 184; Sabbadini 1944, 61: »Hos versus vere Vergilianos puto, a poeta ipso deletos, qui morte impeditus est quominus alios in eorum locum sufficeret.«; Büchner 1955, 331–334 = RE VIII, A (1955), 1353–1356; Austin 1961, 198: »Servius has handed down a piece of raw material«; Conte 1978, 62 ≈ Conte 1984, 118 f. ≈ Conte  1986, 207; Conte  2006, 164: »una prima stesura virgiliana cui è stata negata l’extrema manus dell’autore«; Conte 2009, 54: »Primum opinor hoc esse conamen extrema poetae manu carens, et ideo a Vergilio ipso sepositum vel a Vario editore praetermissum.« Berres 1992, 61: »Die Unfertigkeit der Helenaverse beruht nicht darauf, dass ihnen trotz unzähliger Vergilianismen die summa manus fehlt, sondern darauf, dass sie überhaupt keine Überarbeitung haben. Sie sind das Werk weniger Augenblicke. Ihr Genialität verratender Wildwuchs offenbart die Handschrift Vergils«; Gall 1993 macht den eigentümlichen Vorschlag, die Helena-Szene an einer anderen als der im Serviuskommentar angegebenen Stelle in den Text zu setzen, und zwar möchte sie sie in die Schilderung der Suche nach Creusa integrieren; dadurch entstehen allerdings mehr Probleme als gelöst werden.

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›typisch vergilisch‹1034 bis ›allzu vergilisch, und daher nicht von Vergil‹ (also nur ›vergilisierend‹).1035 (Von den oft mitgemeinten Qualitätsbewertungen, die ›vergilisch‹ mit ›gut‹ gleichsetzen, sei hier abgesehen.) Aber gegenüber stilistischen Urteilen ist grundsätzlich Skepsis geboten. In der Art, wie sie von Klassischen Philologen um die vorletzte Jahrhundertwende vorgetragen werden,1036 entbehren sie meist einer methodisch soliden Grundlage (Corpus-Linguistik, Statistik1037) und bleiben reine Geschmacksbekundungen, die von Parame­ tern wie der persönlichen Lese-Erfahrung, Eindrücken während des Spracherwerbs, der Idiomatik der Muttersprache, Kenntnis von anderen Sprachen und Literaturen sowie gängigen Übersetzungen etc. geprägt sein mögen. Es ist frag1034 ›Typisch vergilisch‹: Henry 1878, Bd. 2, 277: »None but a Virgil ever wrote them and there never was but one Virgil. By that one only Virgil therefore they were written«; Knight  21944, 82: »according to Servius in his Life, the famous passage in the Second Aeneid, where Aeneas sees Helen in burning Troy and wants to kill her, was rejected by Vergil’s editors, clearly according to his known wishes, but not less clearly to the disadvantage of the poem. There is scarcely anything finer than the passage, or more necessary to the Aeneid. Poets, at dull moments, make mistakes«; Knight hält den Textabschnitt nicht nur für besonders gelungen, sondern für unentbehrlich: »Though the passage has actually been thought the work of an imitator, not Vergil, it is over­ poweringly Vergilian and one of the most indispensable things in the Aeneid«, 286, und empfiehlt im festen Glauben an einen späteren Sinneswandel Vergils: »There is only one course, boldly to print it in its place, and feel sure that Vergil would have changed his mind«, 286 f. 1035 ›Allzu vergilisierend und daher nicht von Vergil‹: Goold 1970, 145–147; Murgia 1971, 215: »In seeking to produce a Virgilian passage, the poet has gone too far«; »The main difference between our poet and Virgil is not so much genius as taste. He has been able to imitate the anomalies of Virgilian style, but has been unable to duplicate Virgilian restraint. The result is a super-Virgil, which some will prefer to the real thing«, 216; »the lines seem to betray the excesses of an imitator«, 217; Horsfall 2006, 24: »Repeatedly, the writing is excessively Virgilian, the work of one who spares no effort to prove that the author is Virgil«; »that he emerges as sometimes rather too Virgilian to be Virgil is offered both as (negative) proof of his identity and as tribute to his skill«, 27. 1036 Mit Blick auf Leo, Heinze und Norden (vgl. Anm. 1032) beklagt Austin 1961, 187: »It is unfortunate that the German critics nowhere specify what they object to in the words that they stigmatize.« 1037 Zum Beispiel bezeichnet Norden 31926 (41957), 262 unter Bezugnahme auf Leo und Heinze (Heinze  31915, 45, Anm. 1) praemetuere in *2,573 als »unvergilisches Wort«. Dagegen argumentiert Shipley  1925, 183: »In the relatively small number of verbs compounded with prae (37 in the entire Virgilian corpus) 3 do not appear in Virgil’s authentic works, 4 more do not appear in the Aeneid, and 13 appear but once in the Aeneid: praecido, praeeo, praefodio, praefor, praefulgeo, praemetuo, praenato, praerumpo, praesentio, praesumo, praeuro, praevehor, praevideo. If more than half of these compounds with prae either do not appear in the Aeneid at all, or only once, the single occurrence of praemetuens – a good Lucretian word – is not at all surprising, and there is no more reason for calling in question the authenticity of the passage than there is for calling in question Aen. IV,297 because the word praesensit ist found nowhere else in Virgil.«

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lich, ob der Überlieferungszustand der lateinischen Literatursprache in diesen Dingen überhaupt mehr als Vermutungen zulässt. In einem Fall wie dem vorliegenden gilt das in besonderem Maße, weil bei einem erfolgreichen Dichter mit sprachschöpferischen Extravaganzen gerechnet werden muss – sonst wäre er nämlich keiner. Ob diese von Nicht-Muttersprachlern 2000 Jahre später immer richtig eingeordnet werden können, darf bezweifelt werden.1038 Zudem versteht sich (eigentlich) von selbst, dass eine ›stilistische Unbedenklichkeit‹ der Verse kein Beweis für die Autorschaft Vergils ist. Sie kann zwar vielleicht mit einigem Recht als eine notwendige Bedingung angesehen werden,1039 eine hinreichende Bedingung ist sie aber keinesfalls. Einen positiven Beweis für Vergils Autorschaft kann es (bei der gegebenen Quellenlage) nicht geben. Der Philologe weiß, dass jede stilistische Eigenheit, die er Vergil zuschreibt, genau wie von ihm auch von einem Nachahmer erkannt – und nachgeahmt – worden sein kann.1040

11.1 Die Helena-Szene: Servius und die Folgen Die besondere Ironie des textgeschichtlichen Erfolgs der Helena-Szene liegt darin, dass ihre Bezeugung ausgerechnet im Rahmen einer Nachricht erfolgt, die besagt, dass die entsprechenden Verse von den angeblichen Erst-Herausgebern der Aeneis eben nicht in den Text aufgenommen, sondern als ›überflüssig‹ aussortiert worden seien: Servius zitiert den Text der Helena-Szene in seiner Vorrede am Übergang von der Lebens- zur Werkbeschreibung und behauptet, dass Varius und Tucca, die von Augustus mit der Edition der Aeneis betraut worden seien und von diesem die Maßgabe erhalten hätten, Überflüssiges zu tilgen, dem

1038 Die Sicherheit, mit der manche Klassische Philologen über etwas urteilen, das sie ›Stil‹ nennen, ist erstaunlich. Oft liest man pauschale Urteile, die Autoritäten folgen, aber nicht begründet werden. Zur Helena-Szene vgl. das oft zitierte Diktum von Norden  31926 (41957), 262: »Wiederholte neuere Versuche, die Echtheit zu erweisen, scheiterten an Unkenntnis des Stils, der Sprache, der Metrik und der Kompositionstechnik des Dichters. Es scheint aber zum Fatum unserer Wissenschaft zu gehören, daß solche Rettungsversuche dauernd einen Tummelplatz für Dilettanten bilden werden.« Tatsächlich weckt z. B. die von Shipley 1925, 183 (vgl. vorige Anmerkung) gemachte, corpuslinguistische Beobachtung Zweifel an der Unfehlbarkeit des vereinigten Stilempfindens von Leo, Heinze und Norden. 1039 Austin 1961, 187: »The passage must stand or fall on its style, language and technique: nothing else is relevant, if this cannot be found satisfactory.« 1040 Anders Conte (bereits Conte 1978 und Conte 2016 immer noch): Er macht den methodischen Fehler, nicht mit der Möglichkeit zu rechnen, dass jemand außer ihm (und vor ihm) ›Vergils Stil‹ genauso so gut wie er oder sogar ein wenig besser als er durchschaut haben kann.

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Werk aber nichts hinzuzufügen, ihn ausgesondert hätten.1041 Leider gibt Servius nicht an, woher er selbst Kenntnis von den Versen hat. Aber seine Behauptung, dass sie bei der Erstausgabe aussortiert worden seien, rückt sie in größtmögliche gefühlte Nähe zum historischen Autor und verleiht ihnen eine autographische Aura, der zu widerstehen manchen Philologen schwer zu fallen scheint. Sie lassen sich verführen von der naiven Vorstellung, einen Blick in Vergils Schreibstube zu erhaschen und sich gewissermaßen selbst mit dessen Nachlass auseinandersetzen zu können.1042 Wenig konsequent ist allerdings, dass dem sogenannten Vor-Prooemium (Ille ego qui…), das Servius in direktem Zusammenhang mit der Helena-Szene ebenfalls zitiert, nicht derselbe Status ›von Vergils Hand‹ zugesprochen wird.1043 Dieser Überlieferungskontext wird bei der Verteidigung der Autorschaft Vergils allenfalls erwähnt,1044 aber nicht in dem Sinne berücksichtigt, dass er die Helena-Szene verdächtig macht.1045 Servius kommentiert die Verse der Helena-Szene nicht, d. h. er überliefert auch keine frühere Kommentierung dieser Verse. Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass ihm keine ältere Texttradition der Helena-Szene vorlag. Allerdings ist die Situation dadurch verunklart, dass Servius’ Kommentierung von dextraque prehensum in 2,592 die Helena-Szene (oder etwas sehr Ähnliches) 1041 Servius (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 2 f.): postea ab Augusto Aeneidem propositam, scripsit annis undecim, sed nec emendavit nec edidit: unde eam moriens praecepit incendi. Augustus vero, ne tantum opus periret, Tuccam et Varium hac lege iussit emendare, ut superflua demerent, nihil adderent tamen: unde et semiplenos eius invenimus versiculos, ut ›hic cursus fuit‹, et aliquos detractos, ut in principio; nam ab armis non coepit, sed sic (es folgt das Vor-Prooemium) et in secundo hos versus constat esse detractos (es folgen 2,566b–589a). Zur Nennung der Namen ›Tucca‹ und ›Varius‹ in dieser Reihenfolge und zur antiken ›Erstausgabe‹ der Aeneis vgl. Goold 1970, 122–126. Zur Überlieferung der Vitae Vergilianae: Bayer 61995. 1042 Conte 2006, 164 ≈ Conte 2016, 108: »Tanto più prezioso deve dunque apparire questo passo perché chiunque per pregiudizio voglia rifiutarlo rinuncia anche ad entrare nel laboratorio degli abbozzi virgiliani, rinuncia cioè a cogliere il poeta nel momento stesso in cui una sequenza poetica viene da lui concepita – e lasciata temporaneamente allo stato germinale, senza le necessarie rifiniture che sarebbero poi seguite.« Conte 2006, 164 f. ≈ Conte 2017, 108 : »una redazione testuale che può invece costituire un eccezionale campo di osservazione filologica per chi sia interessato a studiare la formazione di uno stile originalissimo come è quello dell’Eneide, traendo profitto da un primo stadio di testo solo abbozzato«; Austin 1961, 187: »Virgil’s executors knew quite well what they were doing when they did not include it in their authoritative text: they were doing what Virgil himself would have wished.« 1043 Auch Kraggerud 1975, 112 f. kritisiert diese Inkonsequenz. Anders als die Helena-Szene scheint das Vor-Prooemium eine Überlieferung vor Servius zu haben, bei Sueton (aus der Donat-Vita) mit der Nachricht, Varius habe es getilgt: Fleck 1977, 72–74. 1044 Conte 1978, 53 f., Anm.1 ≈ Conte 1984, 109 f., Anm. 1 ≈ Conte 1986, 197, Anm.1. 1045 Murgia 1971, 206 zum Überlieferungskontext als erstem Verdachtsmoment: »The first reason for suspicion is here: The lines are in bad company. If they are genuine, they are the only noncanonical lines transmitted by the scholiast tradition which are.«

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inhaltlich voraussetzt: Aeneas soll mit seiner Rechten Helena bedrohen, die sich »im Vesta-Heiligtum befindet.«1046 Servius erläutert in diesem Zusammenhang unter Verweis auf seine Vorrede, dass einige Verse entfernt worden seien, was auch aus non tibi Tyndaridis facies invisa Lacaenae in 2,601 ersichtlich werde. Aber er befürwortet die Aussonderung und nennt dafür zwei Gründe. Der erste Grund betrifft das Ethos des Aeneas: Für einen ehrenhaften Mann gehöre es sich nicht, einer Frau gegenüber in Zorn zu geraten. Der zweite Grund bezieht sich auf die Kontinuität der Erzählung innerhalb der Aeneis: Die Vorstellung, dass Helena sich in der letzten Nacht von Troia im Haus des Priamus aufgehalten habe, widerspreche der Erwähnung im sechsten Buch (nämlich in Deiphobus’ Bericht; 6,511–527), der zufolge sie sich damals im Haus des Deiphobus befunden habe, nachdem sie den Griechen von der arx aus ein Signal gegeben habe.1047 Natürlich konnte es nicht ausbleiben, dass Servius’ Gründe für die Aussonderung in der Diskussion über die Helena-Szene neue Nebenschauplätze eröffneten, die für die eigentliche Frage jedoch wenig Relevanz besitzen. Denn wer Servius hierin widerlegte, würde damit noch lange nicht die Authentizität der Helena-Szene beweisen (ignoratio elenchi). Aber wenn Servius mutwillig hätte Verwirrung stiften wollen, hätte er es anders kaum besser anstellen können. Grundsätzlich stellt sich die Frage, welches Gewicht man seinen Behauptungen geben soll.1048 Immerhin leitet er kurz später in seiner Erklärung zu 2,601 her, dass Helena unsterblich sei.1049 Wie nähme sich in diesem Lichte eine Tötungsabsicht des Aeneas aus? In der Diskussion um die Helena-Szene scheint die sonderbare Herleitung von Helenas Unsterblichkeit keine Rolle zu spielen. Wie schon beim Vor-Prooemium bleibt auch hier ein unwillkommener, dubioser Kontext unerwähnt. Man sieht: Die Haltung gegenüber dem Servius-Kommentar ist extrem uneinheitlich: Manches wird vollständig negiert, anderes wieder zum Evangelium erhoben. Die Argumente, die Servius für die Aussonderung der Helena-Szene anführt, betreffen nicht den in neuerer Zeit vieldiskutierten Wortlaut der Verse, sondern 1046 Servius (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 304 f.): ea corporis parte, qua Helenae | ictum minabatur, quae in templo Vestae stabat ornata. Zu einer anderen Auffassung von limina Vestae 2,567 siehe oben. 1047 Servius (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 305): ut enim in primo diximus aliquos hinc versus constat esse sublatos, nec inmerito. nam et turpe est viro forti contra feminam irasci, et contrarium est Helenam in domo Priami fuisse illi rei, quae in sexto dicitur, quia in domo est inventa Deiphobi, postquam ex summa arce vocaverat Graecos. hinc autem versus esse sublatos Veneris verba declarant dicentis ›non tibi Tyndaridis facies invisa Lacaenae‹. 1048 Allgemein zur Verlässlichkeit der Angaben im Servius-Kommentar: Goold  1970, ­134–140. Zum unkritischen Umgang mit biographischen Nachrichten über antike Autoren: Horsfall 2006, 10 f. Vgl. auch Hofmann 2020, 117-119. 1049 Servius (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 306): Helenam verum inmortalem fuisse indicat tempus. nam constat fratres eius cum Argonautis fuisse: Argonautarum filii cum Thebanis dimicaverunt. item illorum filii contra Troiam bella gesserunt. ergo si inmortalis Helena non fuisset, tot sine dubio saeculis durare non posset.

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ihren Inhalt. Servius bemerkt zunächst, dass der Zorn über eine Frau einem Mann von Ehre nicht anstehe. Er kritisiert also, dass die in der Helena-Szene geschilderte emotionale Verfassung und die daraus ableitbare ethische Haltung nicht zu Aeneas – wie die Figur im Mythos eingeführt oder in der Aeneis selbst konzipiert ist oder wie er selbst sie sich vorstellt – passten. Der zweite Punkt, den Servius moniert, betrifft weniger Helenas Aufenthaltsort in der letzten Nacht von Troia als solchen als vielmehr ihre Parteinahme in dieser Phase des troianischen Krieges: Hat sie Troia verraten (Das ist die Version des Deiphobus: vorgetäuschte Freude in 6,517–518a, Signal für den Feind in 6,518b–519 und Entwaffnung und Auslieferung des troianischen Ehemannes in 6,523–527) oder war sie in Priamus’ Palast und hat sich dort abseits von den troianischen Frauen versteckt, weil sie beide Seiten, Griechen wie Troianer, gleichermaßen fürchten musste? Die abweichenden Ortsangaben stehen also nicht deshalb zueinander im Widerspruch, weil es unmöglich wäre, dass Helena sich in jener Nacht an den genannten Orten (nacheinander) aufgehalten haben könnte,1050 sondern weil ihr Aufenthalt an diesen Orten bestimmte, nicht miteinander zu vereinbarende Haltungen impliziert. Beide Kritikpunkte des Servius betreffen also die Kohärenz der dargestellten Charaktere. Im Fall des Aeneas besteht die beanstandete Unstimmigkeit zwischen Servius’ Erwartung von Aeneas’ Charakter und der Schilderung im Text. Im Fall der Helena hingegen liegen innerhalb des Textes zwei dissonante Versionen vor. In Anbetracht dessen, dass die HelenaSzene einerseits und der Bericht des Deiphobus andererseits zwei verschiedenen Erzählerstimmen zweiter Ordnung (Aeneas und Deiphobus) zuzuordnen sind, könnte man hier einen Widerspruch oder eine Mehrstimmigkeit postulieren, die es erlaubt, mehrere überlieferte Motive in die Erzählung zu integrieren.1051 Die von Servius vorgebrachten Einwände sind aber grundsätzlich valide. Weil die Helena-Szene unter so eigenartigen Vorzeichen und so dürftig überliefert ist,1052 wurde nach möglichen intertextuellen Bezugnahmen vor Servius gesucht. Von den verhältnismäßig wenigen überhaupt in Betracht gezogenen Stellen1053 ist nur eine wirklich diskussionswürdig: Luc.  10,59–62. Sie gehört zu einer innerhalb der Erzählung der Pharsalia weit vorgreifenden Charakteri­ sierung der Cleopatra im Kontext der Schilderung ihrer Begegnung mit Caesar (Luc. 10,53–171). Cleopatra wird hier als Erinys bezeichnet, wie es in der HelenaSzene mit Helena geschieht (Troiae et patriae communis Erinys Aen. 2,573), und sie wird mit Helena verglichen: 1050 Als Aeneas erwacht und vom Hausdach Ausschau hält, sieht er das Haus des Deiphobus bereits in Schutt und Asche liegen: iam Deiphobi dedit ampla ruinam | Volcano superante domus 2,310 f. 1051 So z. B. Suerbaum 1999, 166–175. 1052 Laut Goold 1970, 162–167 gibt es keine Sekundärüberlieferung der Helena-Szene: Die Verse werden nirgends zitiert. 1053 Berres 1992, 65–72.

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dedecus Aegypti, Latii feralis Erinys, Luc. 10,59 Romano non casta malo. quantum impulit Argos Luc. 10,60 Iliacasque domos facie Spartana nocenti, Luc. 10,61 Hesperios auxit tantum Cleopatra furores. Luc. 10,62 Schandfleck Ägyptens und Latiums Todesfurie, unzüchtig zum Schaden Roms. In dem Maße, wie die Spartanerin mit ihrer schädlichen Schönheit Griechenland und den Häusern Ilions zusetzte, so sehr heizte Cleopatra das Rasen in Hesperien an.

Lucans Vergleich sagt aus, dass beide Frauen (Helena und Cleopatra) bestimmten geographischen Bereichen (Argos Iliacasque domos respektive Hesperios [attributiv]) Unruhe bescheren (impulit; auxit furores). Bei Helena ist angegeben, dass dies durch ihr schädliches (da schönes) Aussehen (facie nocenti) bewirkt wird. Bei Cleopatra fehlt eine solche Angabe; facie nocenti auf sie zu übertragen, legt die rahmende Wortstellung (facie Spartana nocenti) nicht nahe. Die Korrelation ist quantifizierend (quantum … tantum), es wird also in erster Linie der Grad als gleich angesehen, in dem eine jede der beiden Frauen für Unruhe sorgt. Wie Helena Griechenland und Troia mit ihrer fatalen Attraktivität schadet, so schadet Cleopatra Rom.1054 Die Erinys-Similie ist bereits in der Lucan-Ausgabe von Oudendorp (Leiden 1728) zu 10,59 vermerkt,1055 wo die Priorität der Helena-Szene und Vergils Autor­schaft als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Auch Austin 1961 und Bruère 1964 werten die Ähnlichkeit im Ausdruck so, dass Lucan hier die HelenaSzene imitiere, und nehmen an, dass sie für ihn zum Text der Aeneis gehöre (in dem Sinne, dass er eben nicht – oder nicht ausschließlich – die ›Ausgabe von Tucca und Varius‹ benutzte). Hingegen hält Murgia 2003 es für möglich, dass umgekehrt der Verfasser der Helena-Szene die Lucan-Stelle kennt. Dafür wird er unangemessen verspottet von Conte 2006, der sich als eingeschworener Verteidiger von Vergils Autorschaft an der Helena-Szene bemüht, die Annahme einer Priorität des Lucan-Textes lächerlich zu machen.1056 Selbst schreibt Conte im kritischen Apparat seiner Ausgabe: non laudant Gramm. neque alii auctores antiqui, sed imitatur Lucanus (10,59–62) una cum vv. 601–603,1057 und suggeriert damit irreführenderweise eine gesicherte Chronologie. Casali 2017 führt 1054 Einen Vergleich, der zwar nicht Cleopatra, aber Antonius mit Helena in Zusammenhang bringt, zieht Cicero (Phil. 2,55): Ut Helena Troianis, sic iste huic rei publicae belli causa, causa pestis atque exiti fuit. Anders als bei Lucan geht es hier um den Kriegsgrund. Helenas Schädlichkeit für Griechenland (oder ihre ›Doppelschädlichkeit‹) erwähnt Cicero nicht. Zum Bild der Kleopatra in der griechischen und lateinischen Literatur siehe Becher 1966. 1055 allusit ad illud Virgil. de Helena, vgl. Berres 1992, 65 mit Anm. 16. Dies entgeht Bruère 1964 und auch nach Berres 1992 noch Conte 2006, 58 mit Anm. 3: Sie führen Heitland, in der Einleitung (XXVI) zu C. E. Haskin, Lucan (1887), als erste Erwähnung an. 1056 Conte über Murgia: Conte 2006, 157–168; für Conte über Vergils Autorschaft siehe auch: Conte 1978; Conte 1984; Conte 1986. 1057 Conte 2009, 54.

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mehrere Erklärungen für einen möglichen Zusammenhang (»C’è forse una connessione«) zwischen Luc. 10,59 und Aen. *2,573 an.1058 Tatsächlich ist fraglich, ob sich das Verhältnis der beiden Texte zueinander auf der Basis der bekannten Fakten überhaupt mit Sicherheit bestimmen lässt. Grundsätzlich gilt natürlich: Selbst wenn Luc. 10,59 sich eindeutig als Imitation von Aen. *2,573 erweisen ließe, würde dies noch lange nicht Vergils Autorschaft an der Helena-Szene bedeuten. Es ergäbe sich lediglich ein terminus ante quem für ihre Abfassung, der immer noch gut zwei bis drei Generationen nach Vergils Tod läge. Darüberhinausgehend lassen sich lediglich Vermutungen anstellen. Denn ist bei einer Similie die Datierung eines Textes nicht gesichert, so kann oft nicht mit Sicherheit bestimmt werden, ob einer der Texte den anderen voraussetzt. Dies gilt selbst bei längeren Zitaten1059 und um so mehr, wenn lediglich ein gleichartiger Ausdruck vorliegt, wie hier Erinys als Schimpfwort für eine Frau in Verbindung mit einer geographischen Angabe im Genitivus obiectivus1060 und dies im Kontext einer Erwähnung der Helena. Der Umstand, dass von der antiken Literatur mehr verloren als erhalten ist und also längst nicht alle möglichen Quellen fassbar sind, stellt einen erheblichen Unsicherheitsfaktor dar, der bei philologischen Überlegungen zu sogenannten ›Abhängigkeiten‹ viel zu oft vernachlässigt wird. In der Frage, ob zwei Texte in einem direkten Imitationsverhältnis zueinander stehen, ist über Wahrscheinlichkeiten meist nicht hinauszugelangen. Im Fall von Luc. 10,59 und Aen. *2,573 müsste ein einziger zusätzlicher Beleg vor Lucan gar nicht viel bieten, um die Überlegungen zu einer direkten Abhängigkeit völlig obsolet werden zu lassen: Die Bezeichnung von Helena als Erinys von Troia, etwa im Vergleich mit einer elegischen Geliebten, wäre bereits ausreichend. Was lässt sich zu der Similie sicher feststellen? Eine unvoreingenommene Analyse, die von einer zeitlichen Einordnung der Texte abstrahiert, ergibt folgende Gemeinsamkeiten zwischen Luc. 10,59–62 und Aen. *2,573: 1. Eine aus Sicht des Sprechers (des epischen Erzählers respektive des Aeneas) ausländische Frau (Cleopatra respektive Helena), deren Reizen ein Landsmann des Sprechers (Caesar [sowie später Antonius] respektive Paris) erlegen ist, wird als Erinys bezeichnet. 2. Die Bezeichnung Erinys wird durch geographische Namen im Genitivus obiectivus ergänzt, die angeben, für welches Land respektive für welche beiden Länder die Frau unheilvoll ist (Latii / Troiae et patriae). 3. Die Frau wird in Bezug auf zwei Länder, nämlich dasjenige, aus dem sie herkommt (Aegyptus / patria), und das ihres Partners (Latium / Troia), negativ qualifiziert (dedecus, Erinys / Erinys). 1058 Casali 2017, 271 f. 1059 Vgl. die Kontroverse zur Ciris: Skutsch 1901, 136–139; Gall 1999; Kayachev 2016, mit Literatur zur ›Cirisfrage‹: 1, Anm. 3; zuletzt entschieden für Cornelius Gallus als Autor: Hofmann 2020, 125–127. 1060 Laut Conte 2006, 159 mit Anm.1, in der lateinischen Dichtung sonst nicht belegt.

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4. Helena wird in beiden Zusammenhängen erwähnt,1061 bei Lucan als mythisches Paradigma für Cleopatra (Luc.  10,60b–61), in der Helena-Szene um ihrer selbst willen. Ein Unterschied zwischen den beiden Frauen besteht darin, dass die zweifache Schädlichkeit, eine offensichtliche Eigenart der Helena (sie ist die gemeinsame Erinys Troias und Griechenlands), von Cleopatra nicht behauptet wird, von der es heißt, dass sie eine tödliche Erinys für Latium sei (Latii feralis Erinys), für Ägypten hingegen »eine Schande« (dedecus Aegypti). Die Bezeichnung von Helena als Erinys findet sich im Griechischen vielleicht bereits im Agamemnon des Aischylos1062 und sicher im Orestes des Euripides: δυσελένας, Eur. Or. 1387 ξεστῶν περγάμων Ἀπολλωνίων Eur. Or. 1388 ἐρινύν Eur. Or. 1389a Unglücks-Helena, des schöngebauten Apollinischen Pergama Erinys

In der lateinischen Übersetzung als furia ist das Schimpfwort für Helena im Alexander des Ennius (bei Cic. div. 1,114) belegt: quo iudicio Lacedaemonia mulier Furiarum una adveniet Enn. trag. XVII 48 Joc auf dieses Urteil hin wird die Spartanerin als eine der Furien kommen

Davon, dass Helena beiden geographischen Einheiten, Troia und Griechenland (oder Phrygern und Hellenen oder Asien und Europa), Verderben bringt, ist ebenfalls in Euripides’ Orestes bereits die Rede: οὐ γάρ, ἥτις Ἑλλάδ’ αὐτοῖς Φρυξὶ διελυμήνατο; Eur. Or.1515 War diese denn nicht Griechenland und zugleich den Phrygern zum Verderben?

Pointiert formuliert findet sich dieses Motiv ebenfalls in Senecas Tragödien, wo es über Helena unter anderem heißt: iuncta Menelao redit Sen. Ag. 273 quae Europam et Asiam paribus afflixit malis Sen. Ag. 274 gemeinsam mit Menelaos kehrt sie heim, die Europa und Asien gleichermaßen Schaden zugefügt hat

1061 Infolgedessen ergeben sich weitere Übereinstimmungen, die Bruère 1964, 267 f. aufzählt, wie z. B. die Erwähnung von Sparta (Aen. 2,577), genauer gesagt die Bezeichnung der Helena als Spartana (Luc. 10,61), die aber nicht signifikant sind. 1062 νυμφόκλαυτος Ἐρινύς Aesch. Ag. 749. Die syntaktischen Bezüge der beiden Bestandteile von νυμφόκλαυτος zum Kontext sind unklar: Während Fraenkel 1950, Bd. 1, 135; Bd. 2, 346 f., meint, dass hier Helena als Erinys bezeichnet werde, »which will be wept for by the bride (or brides)«, sind Denniston / Page 1957, 135 der Ansicht, dass von einer Erinys die Rede sei, die von einer Braut (nämlich Helena) beweint werde.

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und: pestis, exitium, lues Sen. Tro. 892 utriusque populi Sen. Tro. 893 beider Völker Geißel, Untergang, Verderben

Nicht über Helena, aber über Troia heißt es bei Catull: Troia (nefas!) commune sepulcrum Asiae Europaeque Catull. 68,89 Troia (Oh Gräuel!), Asiens und Europas gemeinsames Grab

Aus diesem Anspielungshorizont (im Sinne einer Sammlung von Repräsentanten für bestimmte Vorstellungen) lässt jede der beiden in Frage stehenden Stellen sich ohne weiteres selbständig abgeleitet denken. In Luc. 10,59–62 wird die konventionelle Bezeichnung der Helena als Erinys auf Cleopatra übertragen und anschließend die Gleichsetzung der beiden Frauen explizit ausgeführt. In Aen. *2,573 hingegen steht die konventionelle Bezeichnung der Helena als Erinys in einem Ausdruck, der pointiert den ebenfalls konventionellen Gedanken ihrer zweifachen Schädlichkeit erfasst. Es lässt sich nicht postulieren, dass Luc. 10,59–62 nur mit Aen. *2,573 als Zwischenschritt entstanden sein kann, und es lässt sich ebenso wenig ausschließen, dass jemand, der in dedecus Aegypti, Latii feralis Erinys die Übertragung des traditionell für Helena angewendeten Schimpfworts auf Cleopatra vorfindet, daraus zu Troiae et patriae communis Erinys als pointierten Ausdruck für Helena gelangt und also die Übertragung des Schimpfworts von Helena auf Cleopatra wieder rückgängig macht. Conte, der auf seine Annahme von Lucans Imitation der (für ihn vergilischen) Helena-Szene fixiert ist, findet letztere Vorstellung absurd.1063 Aber er kann offensichtlich nur in der von ihm selbst festgelegten zeitlichen Reihenfolge (Helena-Szene vergilisch und also vor Lucan) denken und missachtet darüberhinaus, dass die beiden Stellen nicht im luftleeren Raum stehen, sondern zwei beliebig herausgegriffene Exponenten einer verhältnismäßig gängigen Begriffstradition im Kontext eines weiten Anspielungshorizonts sind, den wir angesichts der Überlieferungssituation auch nicht annähernd überblicken. Aber selbst wenn man sich – hypothetisch – auf die beiden Stellen beschränkt, muss man zugestehen, dass jede der beiden aus der jeweils anderen hervorgegangen sein könnte: Entweder wird der Ausdruck Troiae et patriae communis Erinys (Aen. *2,573) in dedecus Aegypti, Latii feralis Erinys (Luc. 10,59) geändert, um ihn an Cleopatra anzupassen, oder aber der Ausdruck Troiae et patriae communis Erinys (Aen. *2,573) wird aus dedecus Aegypti, Latii feralis Erinys (Luc. 10,59) und dem Vergleich mit Helena (Luc. 10, 60b–62) kondensiert. Letzteres hätte die Wahrscheinlichkeit für sich, dass der pointiertere Ausdruck Troiae et patriae 1063 Conte 2006, 161 f. Conte 2016 ist eine Kombination aus Conte 1978 (≈ Conte 1984 ≈ Conte 1986) und Conte 2006 und bringt nichts substanziell Neues.

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communis Erinys aus dem weniger pointierten hervorgegangen wäre; dedecus Aegypti, Latii feralis Erinys ist gegenüber Troiae et patriae communis Erinys eine Abschwächung. Außerdem wird, wenn man Troiae et patriae communis Erinys voraussetzt, der Vergleich von Cleopatra mit Helena durch den intertextuellen Bezug konterkariert: Während bei Helena die Pointe darin besteht, dass sie für beide Länder gleichermaßen verhängnisvoll ist, kann dasselbe von Cleopatra nicht behauptet werden, die für Ägypten nicht als verhängnisvoll (Erinys) bezeichnet wird, sondern bloß als peinlich (dedecus). Bei Betrachtung der neuzeitlichen Diskussion fällt auf, dass die allgegenwärtige Präsenz der Helena-Szene in den Textausgaben de facto bewirkt hat, dass die Beweislast (onus probandi, burden of proof) umgekehrt wurde. Eigentlich wäre angesichts der Überlieferungssituation zu begründen, warum die Verse an dieser Stelle in den Text gesetzt werden. Aber nun, da sie unübersehbar in den Aeneis-Ausgaben stehen, erscheint es so, als müsse erklärt werden, warum sie weggelassen werden sollen.1064 Diese unangemessene Beweislastumkehr wurde durch die apodiktischen Urteile von Leo, Norden und Heinze, dass die Verse »unvergilisch« seien, zusätzlich gefördert. Denn in ihrer überheblich vorgetragenen Unwissenschaftlichkeit mussten sie Widerspruch herausfordern,1065 und so werden die Wörter und Junkturen in der Helena-Szene sorgfältig daraufhin abgeklopft, ob sie von Vergil sein müssen oder sein können oder nicht sein können.1066 Aber selbst wenn die Urteile begründet werden (z. B. mit Parallelen oder fehlenden Parallelen), bleibt der oben beanstandete methodische Mangel, der solcher »Stilkritik« innewohnt, bestehen und entsprechend uneinheitlich sind die Befunde. Nur ein Beispiel: sceleratas poenas in *2,576. Die ungewöhnliche Formulierung kann im Kontext entweder als ›Rache für ein falsches Verhalten‹ (bezogen auf Helena) oder als ›(eigentlich) falsche Rache‹ (der Fehler läge dann bei Aeneas) aufgefasst werden. Austin  1961, 190 meint, der Ausdruck sei eine vergilische Prägung: »bears all the marks of a Virgilian invention« und bleibt dabei 1964, 222 f.: »this very remarkable phrase has no parallel in any other author«, »the phrase bears all the marks of a true Virgilian invention«. Dagegen findet Kraggerud  1975, 115, dass der Ausdruck an der Stelle »unfreiwillig zweideutig« wirke, und hält ihn für eine »misslungene Nach­ 1064 Gegen Conte 2006, 164 f., der meint, eine jede der beiden Positionen müsse gleichermaßen begründet werden. 1065 Siehe hierzu: Austin 1961, 197: »The authority of the chief denigrators of the passage is such that it needs courage to disagree with them. But they have been strangely dogmatic, and it would have been better if they had done something more than merely listing words and expressions that in their view merit abuse.«; Conte 1978, 54–56 ≈ Conte 1984, 110–112 ≈ Conte 1986, 197–199. Während Austin zu Recht den Vorwurf erhebt, dass Leo, Norden und Heinze kaum Begründungen vortragen, stellt Conte fest, dass viele von den Argumenten der ›drei großen Deutschen‹ eins ums andere widerlegt worden seien; siehe auch Anm. 1037. 1066 Z. B. Austin 1961, 188–194; Kraggerud 1975, 114–116; Horsfall 2006, 20–23.

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ahmung einer zugleich einfachen und kraftvollen vergilischen Junctur« (nulli fas casto sceleratum insistere limen 6,563). Horsfall  2006, 20 f. konstatiert, dass die Enallage derjenigen in 2,585 f. sumpsisse merentis | laudabor poenas zu ähnlich sei (er liest merentis als Akkustativ Plural), um von Vergil zu sein, und hält sie für das Werk eines Vergil-Imitators (im Sinne von ›vergilischer als Vergil‹). Conte, der sich zunächst 1978, 61 = 1984, 118 ≈ 1986, 206 bemüht, die Häufung des Wortes poena (2,572.576.584) in der Helena-Szene zu erklären, stellt später 2006, 170 bei sceleratas sumere poenas unter Verweis auf Eur. Andr. 1002 u. ä. eine »densità espressiva« fest, womit er etwas Positives meint, das für Vergils Autorschaft sprechen soll. Zuletzt will er erkannt haben, dass Vergils unbewusster (!) Gebrauch der Enallage zu seinem persönlichen ›erhaben-pathetischen‹ Stil gehöre: »L’enallage insomma rientra nella tendenza (inconscia, impulsiva) con cui Virgilio manipola e forza il linguaggio per spingerlo verso un ›sublime patetico‹ di sua invenzione«. Er behauptet, dass sceleratas sumere poenas 2,576 und sumpsisse merentis | … poenas 2,586 f. spontane Hervorbringungen einer charakteristischen und unverwechselbaren Sprache seien, die ›beide den stilistischen Code des Autors der Aeneis‹ in sich trügen und, da sie unreflektiert entstanden seien (woher will Conte das wissen?), als deutliche Anzeichen der Autorschaft Vergils zu gelten hätten: »entrambi gli esperimenti sintattici – entrambe le reggenze forzate, o enallage, se vogliamo chiamarle così – tradiscono la paternità virgiliana: non sono altro che il prodotto spontaneo, quasi istintivo, di un gesto linguistico caratteristico ed inconfondibile. Ognuna di esse reca in sé la cifra stilistica dell’autore dell’Eneide, la sua sigla autografa. Sono appunto dettagli secondari e nascono da impulso irreflesso: proprio per questo sono forti indizi di autenticità«: Conte 2016, 110 f., unter Berufung auf Conte 2002, 5–63 und Conte 2006.

Den Ausschlag gibt letztlich in jedem Einzelfall das persönliche Stilempfinden des jeweiligen Interpreten. So zeitigen die stilistischen Analysen der HelenaSzene keine intersubjektiv mitteilbaren Ergebnisse. Die These von der skizzenhaften Vorläufigkeit der Helena-Szene1067 ist gegen stilistische Argumente der Gegenseite ohnehin immun: Was nicht ›vergilisch‹ (oder ›gut‹) genug ist, gilt eben entweder als von Vergil selbst verworfen oder als noch unfertig.1068 Nicht auf den Wortlaut, sondern auf die formale Gestaltung bezieht sich ein bereits von Heinze gegen die Zugehörigkeit der Helena-Szene angeführtes Argument: Die Helena-Szene enthält ein Selbstgespräch, wie in Aeneis 2–3 sonst keines vorkommt.1069 Tatsächlich sind in *2,577–587 die Gedanken des erzählten Aeneas in direkter Rede dargestellt. Als er vom Palastdach aus im Feuerschein 1067 Zur These von der Unfertigkeit der Helena-Szene siehe Anm. 1033. 1068 So meint z. B. Conte 2016, 111 zu sceleratas sumere poenas 2,576 und sumpsisse merentis | … poenas 2,586 f., dass die Wiederholung bei der Endredaktion wahrscheinlich vermieden worden wäre: »È probabile che la ripetitività dello stesso concetto, evidente nei due nessi, sarebbe stata eliminata in fase di revisione dell’abbozzo (alla fine Virgilio avrebbe variato sacrificando forse una delle due innovazioni).« Kraggerud 1975, 106 nennt die Annahme, bei der Helena-Szene handele es sich um eine unfertige Skizze: »modifizierte Echtheitstheorie«. Sie entspricht im Grunde dem, was Servius behauptet. 1069 Heinze 31915, 46–47; diesem zustimmend: Kraggerud 1975.

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Helena erblickt (*2,567–576), empört er sich zunächst in einer Reihe von Fragen über die Vorstellung, dass Helena unbeschadet mit Menelaos nach Sparta heimkehren soll,1070 womöglich sogar mit troianischen Frauen als Sklavinnen in ihrem Gefolge (*2,577–582). Sodann entwickelt er den Gedanken, dass es ihm zum Ruhm gereichen würde, wenn er an ihr Rache für seine toten Mitbürger nähme (*2,583–587). Diese Überlegung wird durch das plötzliche Erscheinen seiner Mutter Venus unterbrochen (2,589 ff.). Der letzte Vers der Helena-Szene bietet eine ausdrückliche Redeausleitung für den inneren Monolog: talia iactabam et furiata mente ferebar (*2,588). (Dies ist der Hauptsatz, an den der cumSatz des regulär überlieferten Textes in 2,589 glatt anschließt.) Heinze hat recht, dass der Monolog des Aeneas singulär wäre: Nirgends sonst in seiner Erzählung gewährt der erzählende Aeneas Einblick in die Gedanken des erzählten Aeneas in Form von direkter Rede. Nun sollte Singularität kein absolutes Ausschlusskriterium sein. Aber eine Singularität ist zumindest auffällig und kann, wenn weitere Auffälligkeiten hinzutreten und die Umstände es nahelegen, als zusätzliches Indiz gewertet werden. Dies gilt auch für eine weitere Singularität in der Helena-Szene: Der Rache-Monolog wäre die einzige Stelle in der Aeneis, an der Aeneas selbst seinen eigenen künftigen Ruhm thematisiert:1071 exstinxisse nefas tamen et sumpsisse merentis | laudabor poenas 2,585–586a. (Die Selbstvorstellung sum pius Aeneas in 1,378 gegenüber seiner Mutter, die sich ihm gegenüber als tyrische Jägerin ausgibt, dient lediglich der Identifikation; pius bezieht sich auf die bereits erbrachte Leistung, die Penaten aus dem brennenden Troia gerettet zu haben.1072) Der Rache-Monolog weist also nicht nur die in der Aeneis singuläre Form des Inneren Monologs auf, er behandelt auch ein in der Aeneis singuläres Thema. Schließlich stellt sich die Frage, wie der Rache-Monolog der Helena-Szene zur übergeordneten Kommunikationssituation passt. In Aeneis 2–3 wird Aeneas als Erzähler seiner eigenen Geschichte präsentiert und somit als diejenige Instanz, die auswählt, was erzählt wird und was nicht. Seine Adressatin ist Dido, die Herrscherin, in deren Hoheitsgebiet er mit seinen Leuten gestrandet ist und auf deren Wohlwollen die Troianer angewiesen sind. Ist es sinnvoll anzunehmen, dass Aeneas ihr ein inneres Erlebnis wie seinen Rache-Monolog, der keine Bedeutung für den weiteren Verlauf der Geschichte hat und ihn selbst in einer eher unvorteilhaften geistigen Verfassung (furiata mente *2,588) zeigt, erzählt? Würde er dadurch nicht sich selbst unnötig in ein schlechtes Licht rücken? Allerdings muss 1070 Zum Motiv von Helenas Rückkehr zu Menelaos cf. Ennius, Iph. CI 205 f. Jocelyn: pro malefactis Helena redeat, virgo pereat innocens? | tua reconcilietur uxor, mea necetur filia? 1071 Murgia 2003, 407 Anm. 5: »The Helen Episode contains the only lines where Aeneas explicitly dwells on what people will say about him as a motive for his conduct.« 1072 Vgl. Austin 1971, 137 ad 1,314: »this is not a boast«; hierzu siehe auch: 4.3.

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dem erzählten Aeneas – und den Verteidigern der Helena-Szene – zugestanden werden, dass die Tat nur erwogen, aber nicht ausgeführt wird. Für den erzählten Aeneas handelt es sich nicht einmal um gesprochene Worte, sondern lediglich um Gedanken, eine Rache-Phantasie: Er hat – vorübergehend – die Vorstellung, in Person der Helena das Gräuel des troianischen Krieges auslöschen zu können (exstinxisse nefas *2,585), um so seinen toten Mitbürgern Genugtuung zu verschaffen (cineres satiasse meorum *2,587). Es geht im Kontext der Beurteilung der Helena-Szene also weniger darum, wie ein potentieller Mord an Helena ethisch zu bewerten wäre, sondern darum, ob dem erzählten Aeneas eine solche RachePhantasie zugeschrieben werden soll und ob es passend ist, dass der erzählende Aeneas sie Dido gegenüber erwähnt. Im 20. Jahrhundert hat – soweit ich sehe – kein Herausgeber es gewagt, den Text des zweiten Buches ohne die Helena-Szene zu drucken. Kraggerud bekennt am Ende seiner Ausführungen über »Die interpolierte Helenaszene in der Aeneis«: Einen Wunsch möchte ich noch nachtragen und zwar, daß einmal ein Herausgeber den Mut haben möge, die Episode ganz aus dem Text zu bannen und ihr den ihr zukommenden Platz anzuweisen, nämlich in der praefatio critica.1073

Zwar nicht in einer Textausgabe, aber in seinem Kommentar mit Lesetext und Übersetzung von 2008 war Horsfall, der die Helena-Szene für das Werk eines Interpolators hält,1074 so konsequent, den Text ohne sie zu drucken. In einer zwischen 2,566 und 2,589 eingefügten editorischen Notiz konstatiert er eine größere Lücke: »desunt multa« (der übrige Wortlaut der editorischen Notiz sei hier übergangen) und reicht die Verse 2,567–588 (Diskussion, Lesetext, Übersetzung, Kommentar) in einer Appendix nach.1075 Zu diesem Vorgehen bemerkt Casali, dass er die klassische (!) Positionierung bevorzuge, weil sie dem Leser eher erlaube, eine eigene Meinung zu bilden.1076 Aber trifft Casalis Begründung zu? Eher ist das Gegenteil der Fall: Wenn die Helena-Szene im Text steht, bestimmt dies nicht nur den ersten Eindruck des Rezipienten, sondern prägt seine Wahrnehmung des Texts für immer. Es ist nämlich sehr schwierig, sich etwas wegzudenken, sobald es einmal da war.1077 Wer Aeneis 2 mit den Versen 1073 Kraggerud 1975, 116. 1074 Horsfall 2007. 1075 Horsfall 2008, 30. 553–586. 1076 Casali 2017, 274: »Horsfall stampa e commenta l’Episodio come Appendix 1, una buona soluzione per molti aspetti; ma, per mettere il lettore nella migliore condizione per potersi formare la sua idea, è forse preferibile la classica collocazione all’interno del testo.« 1077 »Denk dir ein Trüffelschwein | denk’s wieder weg: | Ist es auch noch so klein, | wird nie verschwunden sein, | bleibt doch als Fleck. || Was je ein Mensch gedacht, | läßt eine Spur. | Wirkt als verborgne Macht | und erst die letzte Nacht | löscht die Kontur. || Hat

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der Helena-Szene kennt, empfindet unweigerlich eine Leerstelle, wenn sie nicht mehr da sind. Daher ist verständlich, dass auch die meisten Opponenten der Helena-Szene annehmen, dass eine Lücke vorliege,1078 zumal die Annahme einer Lücke praktischerweise zugleich eine Erklärung für die Interpolation darstellt, nämlich in dem Sinne, dass die Empfindung einer Leerstelle den Interpolator dazu veranlasst habe, die Helena-Szene zu verfassen.1079 Eine Ausnahme scheint Geymonat zu sein, der in seiner Ausgabe von 1973 die Helena-Szene unter Verweis auf die Argumentation von Goold 19701080 nicht nur in auffälliger Weise als unzugehörig markiert (durch eckige Klammern, Linien, kleinere Schriftgröße, s. o.), sondern außerdem so interpungiert, dass 2,589 lückenlos an 2,566 anschließt: Die Verse 2,565 f., in denen Aeneas die Schicksale seiner Kampfgenossen beschreibt, erscheinen als Parenthese, so dass das cum inversum in 2,589 auf respicio … et lustro in 2,564 folgt. Geymonat präsentiert also den handschriftlich überlieferten Text von Aeneis  2 mit einer dem Sinn folgenden Interpunktion:1081 respicio et quae sit me circum copia lustro (deseruere omnes defessi et corpora saltu ad terram misere aut ignibus aegra dedere), [Iamque adeo super unus eram, cum limina Vestae … (*2,568–*2,587) … talia iactabam et furiata mente ferebar] cum mihi se, non ante oculis tam clara, videndam obtulit et pura per noctem in luce refulsit alma parens …

2,564 2,565 2,566 *2,567 *2,588 2,589 2,590

auch der Schein sein Sein | und seinen Sinn. | Mußt ihm nur Sein verleihn: | Denk dir kein Trüffelschwein, | denk’s wieder hin.« Robert Gernhardt, Trost im Gedicht, in: R. Gernhardt, Gedichte. 1954–1994, Zürich 1996, 146. 1078 Heinze  31915, 47: »Kurz, ich nehme die Unechtheit der Verse als erwiesen an. Aber auch ich bin der Meinung, dass sie eine wirklich vorhandene Lücke ausfüllen.« Kragge­ rud 1975, 107 (jedoch inzwischen anders, siehe Ende der Anm.); Horsfall 2008, 30. 553– 586; Casali 2017, 28. 30. Ausnahme: Kraggerud 2017, 164 f. 1079 Über eine noch größere Lücke, die in einer Phase des Schaffensprozesses bestanden haben soll, spekuliert Körte 1916 und im Anschluß an diesen Williams 1983, 284: Der Text habe zunächst in einer Version ohne die Erscheinung der Venus existiert, auf 2,566 sei direkt 2,632 gefolgt: respicio et quae sit me circum copia lustro: 2,564 Deseruere omnes defessi et corpora saltu 2,565 ad terram misere aut ignibus aegra dedere. 2,566 Descendo ac ducente deo flammam inter et hostis 2,632 expedior: dant tela locum flammaeque recedunt. 2,633 1080 Geymonat 1973, 240 ad 2,566: »abiudicaverunt Ribbeck, Mynors, Jachmann, Pasquali … et nuper claris argumentis Goold.« 1081 Geymonat 1973, 240–242.

Vermeintliche Probleme des überlieferten Textes  

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Im Kontext einer Appendix über Anzeichen für Planänderungen in der ­Aeneis schlägt Williams 1983 – allerdings ohne eingehende Diskussion des Problems und ohne sich auf Geymonat zu beziehen  – dieselbe Interpunktion vor und druckt und übersetzt die Verse 2,564–591a zusammenhängend ohne die Verse der Helena-Szene, die er für eine Fälschung hält.1082 Auch Kraggerud plädiert inzwischen dafür, den überlieferten Text zu rezipieren, ohne eine Lücke zu konstatieren.1083 Wie zu zeigen sein wird, bietet diese der Überlieferung gerecht werdende Textfassung ohne den Text der Helena-Szene einen sehr klaren Spannungsaufbau und ist erzähllogisch gut erklärbar. Zugleich ergibt sich ein deutlicheres Bild von der narrativen Funktion der Venus-Erscheinung (2,589–622a) im Kontext der vergilischen Iliupersis im Allgemeinen und der Situation des Helden in 2,559–566 im Besonderen. Die Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei der Entkräftung der Argumente, die für eine Lücke zwischen 2,566 und 2,589 vorgebracht werden. Dabei treten auch einige Probleme der Helena-Szene zutage.

11.2 Vermeintliche Probleme des überlieferten Textes Es ist schwer, wenn nicht gar unmöglich, sich Servius’ Nachricht von der HelenaSzene wegzudenken. Schließlich handelt es sich um einen spätantiken Text, der um seiner selbst willen überlieferungswert ist und der seit langer Zeit zur Tradition der Aeneis und dem sie umgebenden philologischen Narrativ gehört. Aber gesetzt den Fall, wir hätten Servius’ Nachricht nicht, würden wir an der Stelle etwas vermissen? Kämen wir auf den Gedanken, eine Lücke zu konstatieren? Da wir Servius’ Nachricht besitzen, lesen wir den Text stets in dem Bewusstsein, dass an der Stelle etwas nicht stimmt. Deshalb konstatieren auch die meisten derjenigen Interpreten, die der Helena-Szene die Zugehörigkeit zum Text absprechen, textliche Schwierigkeiten und nehmen an, dass eine Lücke vorliege.1084 Aber bestehen denn überhaupt textliche Schwierigkeiten? Im Wesentlichen geht es um folgende vier Fragen: 1) Wie ist das cum inversum in 2,589 konstruiert? 2) Was bedeutet die Erwähnung von Helena (und Paris) in 2,601–602a? 3) Was tut Venus in 2,592b–593a: dextraque prehensum | continuit? 4) Was ist mit indomitas iras in 2,594 und furis in 2,595 gemeint?

1082 Williams 1983, 283 f. 1083 Kraggerud 2017, 164 f. Für das syntaktische Problem des cum-Satzes in 2,589 bietet er eine andere als die hier vorgeschlagene Lösung: siehe unten. 1084 Ausnahme jetzt: Kraggerud 2017, 164 f.

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Krisis ohne Helena und Hilfe durch Venus

11.2.1 Das cum inversum (2,589): Glatt, glatter, Glättung In Kenntnis der Helena-Szene, zu deren letztem Vers er genau zu passen scheint, fragt man, wie der cum-Satz in 2,589–593 (cum mihi se…obtulit / refulsit / continuit / addidit) ohne die Verse der Helena-Szene direkt nach 2,566 anzuschließen ist. Die Helena-Szene endet in *2,588 mit talia iactabam et furiata mente ferebar und bietet also einen vorausgehenden Hauptsatz im Imperfekt, ganz wie es die Schulgrammatik für das cum inversum verlangt. Hingegen findet man, dass der cum-Satz nicht auf die Perfektformen deseruere, misere und dedere in 2,565 f. folgen könne, und kommt zu dem Schluss, dass er ohne die Helena-Szene in der Luft hänge.1085 Aber der Anschluss des cum-Satzes an den Text vor der Helena-Szene ist syntaktisch ohne weiteres möglich. Zunächst einmal ist es nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll und richtig, die Verse 2,565 f. mit Geymonat als Parenthese zu lesen.1086 Diese Verse mit den drei Perfecta deseruere, misere und dedere schildern die Schicksale derer, die zusammen mit Aeneas auf dem Dach gekämpft haben, und sie beantworten die von lustro abhängige Frage quae sit me circum copia. Damit bewegen sie sich inhaltlich auf derselben Ebene wie die Frage, also eine Stufe unter dem übergeordneten lustro. Genauso wenig wie man auf den Gedanken käme, der cum-Satz könne von der indirekten Frage abhängig sein, sollte man in Erwägung ziehen, ihn auf deren Beantwortung zu beziehen. Der cum-Satz in 2,589 schließt an lustro in 2,564 an. Die dazwischen stehenden 1085 Z. B. Klingner  1967, 417: »der Satz mit dem cum inversum, ›als sich mir die Mutter zeigte‹ setzt sprachlich nicht das fort, was vor dem Riß gesprochen ist: ›Alle ließen sie mich erschöpft im Stich und sprangen vom Turm‹«, allerdings erkennt er an: »Doch der innere Zusammenhang der Versreihen vor und nach der fraglichen Stelle läßt sich erkennen«; Murgia  1971, 207: »In Aen.  2 there is clearly  a lacuna in all our earliest codices of Virgil before line 589, which begins with a cum clause for which there is no logical antecedent«; Berres 1992, 73; Horsfall 2006, 13: »but any reasonably attentive reader could see that between 2,566 und 2,589 something was missing; even without further arguments (of which there are a good many), the cum-clause of 589, apparently inverted and with no clear antecedent, is quite enough to settle the point.« Goold 1970, 160 hält die überlieferte Konstruktion (mit parenthetisch aufgefasstem deseruere … dedere) immerhin für grammatisch möglich. Allerdings glaubt er, dass sie nicht der Intention des Dichters entspreche, der vor Vollendung des Abschnittes gestorben sei. 1086 In diese Richtung geht auch Kraggerud 1975, 107: »kann man die Verse 565/6 nicht anders als Abschluss des Vorhergehenden lesen: Nach dem schrecklichen Ende des Priamus denkt Aeneas an das Schicksal seiner eigenen Familie, blickt dann nach seinen Gehilfen umher und entdeckt, dass sie ihn alle verlassen haben. Asyndetisch knüpfen die Hauptsätze deseruere etc. an das Vorhergehende gleich einem verzweifelten Fazit des Kampfes an.« Inzwischen ist Kraggerud von der Annahme eines Asyndetons abgekommen und will das cum in 2,589 direkt an die drei Perfecta deseruere / misere / dedere in 2,565 f. angeschlossen wissen: Kraggerud 2017, 164 f.

Vermeintliche Probleme des überlieferten Textes  

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Verse 2,565 f. mit der Antwort auf die Frage nach dem Verbleib der anderen Kämpfer haben keine syntaktische Verknüpfung mit dem sie umgebenden Text (Asyndeton), und sie sind zudem durch den Tempuswechsel (die drei Verba im Perfekt) deutlich von diesem abgesetzt. Dadurch sind sie klar als Parenthese markiert. Es kommt hinzu, dass die Perspektive innerhalb der Parenthese anders ponderiert ist als außerhalb: Die Schilderung der grausamen Schicksale der Kampfgenossen entspricht in ihrer resümierenden Informiertheit und Gefasstheit weniger der Perspektive des erzählten Aeneas als derjenigen des erzählenden Aeneas. Das für rückblickende Ich-Erzählungen typische Changieren zwischen erlebendem und erzählendem Ich1087 bewirkt hier Distanz und eine gewisse Abgeklärtheit: Aeneas erzählt, wie er sich umschaut (äußere Handlung), und sich fragt, wer außer ihm noch da ist (innere Handlung). Sein Gewahrwerden der Antwort »und ich musste feststellen« lässt er aus; auch eine eigene Reaktion auf die Erkenntnis, dass außer ihm keiner mehr übrig ist, berichtet er nicht. Er erzählt nicht, wie ihm zumute war, als er allein auf dem Palastdach stand. Stattdessen fügt er die nüchterne Erklärung über den Verbleib der anderen Kämpfer in einer Parenthese ein: »Ich blickte mich um und schaute, wer noch bei mir war – alle haben sie aufgegeben und sich erschöpft entweder in die Tiefe oder ins Feuer gestürzt.« Hieran lässt sich nun das Erscheinen der Venus trefflich mit einem cum inversum anschließen. Der Einwand, dass die übergeordneten Verba (respicio et … lustro; 2,564) nicht im Imperfekt stehen, wiegt nicht schwer, wenn man die Verwendung des cum inversum genauer und auch diachron betrachtet. Beim cum inversum verhält es sich ja so, dass der übergeordnete Satz eine Situation oder Handlung schildert und der nachgestellte, mit cum eingeleitete Nebensatz ein vom Sprecher vor diesen Hintergrund gestelltes, plötzlich eintretendes Ereignis.1088 Aus dieser Anordnung ergibt sich, dass im übergeordneten Satz ein duratives Prädikat zu erwarten ist, im Nebensatz hingegen ein punktuelles. Entsprechend sieht die Schulgrammatik für den übergeordneten Satz Imperfekt oder Plusquamperfekt (Aspekt durativ) vor und für den cum-inversum-Satz Perfekt (Aspekt punktuell). Tatsächlich hat Chausserie-Laprée in einer Untersuchung des cum inversum oder, wie er es nennt, ›cum de rupture‹ bei Caesar (BG , BC), Sallust (Catil., Iug.), Livius (1–45), Curtius (3–10) und Tacitus (Agr., hist., ann.) gezeigt, dass der Tempusgebrauch in den untersuchten Texten ziemlich einheitlich ist: Vor dem cum steht in aller Regel Imperfekt oder Plusquamperfekt, und zwar bei Caesar und Sallust ausschließlich, bei Livius in 96 von 108 Fällen, bei Curtius in 62 von 66

1087 Vgl. oben: 8.2. 1088 Leumann-Hofmann-Szantyr, Bd. 2, 1965, 623: »hier enthält der cum-Satz den Hauptgedanken und bezeichnet meist den Eintritt einer plötzlichen oder unerwarteten Handlung.«

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Fällen und bei Tacitus in 58 von 62 Fällen.1089 Für unseren Zusammenhang sind aber vor allem zwei Befunde von Chausserie-Laprées Untersuchung relevant: 1) Das cum inversum löst erst allmählich im Laufe des ersten Jahrhunderts andere Mittel zur Darstellung von plötzlicher Unterbrechung (wie repente und subito) ab; diese Entwicklung beginnt bei Sallust und vollzieht sich insbesondere bei Livius.1090 Die früheren der untersuchten Texte weisen insgesamt nur wenige Verwendungen des cum inversum auf: Bei Caesar finden sich in BG und BC insgesamt nur 4 Verwendungen, bei Sallust in Catil. und Iug. nur 5.1091 2) Bei den untersuchten Autoren, die später als Caesar und Sallust sind, finden sich im Tempusgebrauch Abweichungen von der Schulgrammatik; vor dem cum ist die Varianz am größten bei Livius,1092 also demjenigen Autor, der Vergil zeitlich und inhaltlich am nächsten kommt. In Anbetracht dessen ist es nicht allzu kühn anzunehmen, dass Vergils Tempus­gebrauch vor cum inversum nicht unbedingt auf Imperfekt und Plusquamperfekt beschränkt zu sein braucht. Kraggerud hält auf der Basis einer Betrachtung des Gebrauchs von cum in der Aeneis für das cum in 2,589 inzwischen sogar den Anschluss an die drei Perfecta in 2,565 f. für möglich.1093 Aber weil 1089 Chausserie-Laprée  1969, 561–595. Im vorliegenden Zusammenhang unergiebig: E. A.  Hahn, A Source of Vergilian hypallage, Transactions and Proceedings of the American Philological Association 87, 1956, 147–189; dort 161–163. 179–187. 1090 Chausserie-Laprée 1969, 558. 1091 Chausserie-Laprée 1969, 594 f. 1092 Laut Chausserie-Laprée 1969, 593 steht in Liv. 1–45 vor dem cum neben Imperfekt (67×) und Plusquamperfekt (29×) auch Präsens (3×), Perfekt (8×), sowie der hist. Infinitiv (1×). In Kombination mit eindeutigem Perfekt nach dem cum steht 2 Mal Präsens vor dem cum: Liv. 4,31,9–32,1: Accito exercitu a Veiis, eoque ipso ab re mala gesta perculso, castra locantur ante portam Collinam, et in muris armati dipositi, et iustitium in foro tabernaeque clausae fiuntque omnia castris quam urbi similiora, cum trepidam civitatem praeconibus per vicos dimissis dictator ad contionem advocatam increpuit…; Liv. 26,18,6 f.: Maesta itaque civitas prope inops consilii comitiorum die tamen in campum descendit; atque in magistratus versi circumspectant ora principum aliorum alios intuentium fremuntque adeo perditas res desperatumque de re publica esse ut nemo audeat in Hispaniam imperium accipere, cum subito P.  Cornelius, qui in Hispania ceciderat, quattuor et viginti ferme annos natus, professus se petere, in superiore unde conspici posset loco constitit. 1093 Kraggerud 2017, 164 f. Allgemein zum Tempusgebrauch in der Aeneis vgl. auch v. Albrecht 1970, der zu dem Ergebnis kommt, dass der Tempusgebrauch sehr frei sei, und der dafür plädiert, »ihn aus der Struktur der Aeneis selbst bzw. aus dem jeweiligen Textzusammenhang heraus zu verstehen«, (224); vgl. auch: »Der Dichter erreicht durch den Tempusgebrauch Relief- und Tiefenwirkungen. Er ordnet zunächst bestimmte Ebenen des Geschehens bestimmten Tempora zu: Seelische Wandlung der Rutuler: Perfekt. Entscheidende Phase der Handlung: Perfekt. Einzelausführung des Seelischen wie vor allem des Äußerlichen: Präsens. Hintergrund: Imperfekt. Dabei kommt es jedoch weniger auf die Verbindung bestimmter Personen oder Vorgänge mit bestimmten Tempora an als auf die klare Reliefwirkung und die Steigerungsmöglichkeiten, die sich bieten, vor allem durch Aufsparen des historischen Perfekts auf Höhepunkte« (225); »Methodisch

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sie (wie oben ausgeführt) in Parenthese stehen und darüberhinaus inhaltlich die Antwort auf die von lustro abhängige Frage bilden, ist der Anschluss an respicio et … lustro (2,564) vorzuziehen. Der Satz schildert die Situation, in der Aeneas sich befindet, als ihm Venus erscheint. Respicio ist der Aktionsart nach punktuell und beschreibt einen Moment: Aeneas, der ein inneres Bild vor Augen hatte (die Horrorvision von seiner Familie, 2,560–563), richtet seinen Blick wieder nach außen; er fasst sich und nimmt seine Umgebung wieder wahr. Lustro hingegen ist der Aktionsart nach durativ. Es beschreibt den Vorgang des Herumschauens: Aeneas sucht mit den Augen das Dach nach seinen Kampfgenossen ab. Vielleicht suggeriert die abbildende Wortstellung (quae…copia umgibt me circum) auch ein Drehen um die eigene Achse. Die Situation ist also folgende: Aeneas ist dabei, um sich zu schauen, und ihm wird klar, dass niemand außer ihm mehr da ist, als ihm Venus erscheint. Diese Interpretation des cum innerhalb des überlieferten Textes (ohne ­HelenaSzene!) wird dadurch gestützt, dass eine inhaltlich vergleichbare1094 Szene in Aeneis 5 analog aufgebaut ist. Es handelt sich um das plötzliche Entschwinden der Iris (5,657 f.), die sich in Junos Auftrag den Troerinnen gegenüber als Beroe ausgibt und ihnen rät, die Schiffe zu verbrennen, als die Troerin Pyrgo ihre Identität anzweifelt. Dort wie hier finden wir, dass das cum auf einen mit at eingeleiteten Abschnitt folgt und einem mit tum vero eingeleiteten Abschnitt vorausgeht, wobei die Konjunktionen at, cum und tum vero1095 jeweils markant am Versanfang stehen. Erscheinung der Iris in Gestalt der Beroe: 5,654 at matres primo ancipites oculisque malignis ambiguae spectare rates miserum inter amorem 5,655 praesentis terrae fatisque vocantia regna, 5,656 cum dea se paribus per caelum sustulit alis 5,657 ingentemque fuga secuit sub nubibus arcum. 5,658 tum vero attonitae monstris actaeque furore 5,659 conclamant, rapiuntque focis penetralibus ignem, 5,660 pars spoliant aras, frondem ac virgulta facesque 5,661 coniciunt. 5,662 Erscheinung der Venus: at me tum primum saevus circumstetit horror. Obstipui; subiit cari genitoris imago, ut regem aequaevum crudeli vulnere vidi

2,559 2,560 2,561

ergab unsere Untersuchung, daß Textinterpretation den Vorrang vor fertigen Klischeevorstellungen haben sollte« (225). 1094 Zur inhaltlichen Vergleichbarkeit der Szenen: Kühn 1971, 81. 1095 Zur Verwendung von tum vero ›vor Höhepunkt‹ und dem ›Verlegen der Hauptereignisse in Nebensätze‹ (hier: cum inversum, auch: donec, nisi) in der Aeneis siehe v. Albrecht 1970, 225.

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vitam exhalantem, subiit deserta Creusa 2,562 et direpta domus et parvi casus Iuli. 2,563 respicio et quae sit me circum copia lustro 2,664 – deseruere omnes defessi, et corpora saltu 2,665 ad terram misere aut ignibus aegra dedere –, 2,666 2,589 cum mihi se, non ante oculis tam clara, videndam obtulit et pura per noctem in luce refulsit 2,590 alma parens, confessa deam qualisque videri 2,591 caelicolis et quanta solet, dextraque prehensum 2,592 continuit roseoque haec insuper addidit ore: 2,593 … (Direkte Rede der Venus) … 2,594–620 dixerat et spissis noctis se condidit umbris. 2,621 apparent dirae facies inimicaque Troiae 2,622 numina magna deum. 2,623 tum vero omne mihi visum considere in ignis 2,624 Ilium et ex imo verti Neptunia Troia: 2,625 … (Gleichnis) … 2,626–631 descendo ac ducente deo flammam inter et hostis 2,632 expedior: dant tela locum flammaeque recedunt. 2,633

Bei der Erscheinung der Venus sind die einzelnen Abschnitte zwar merklich umfangreicher als beim Entschwinden der Iris, aber wie dort stehen auch hier keine Funktionswörter dazwischen, welche die Gliederung der Erzählung durch at, cum und tum vero unterbrächen. In beiden Fällen leitet at die Schilderung der menschlichen Situation ein (at … primo 5,654/at … tum 2,559), cum die Offenbarung der Göttin (beim Entschwinden / beim Erscheinen) und tum vero die menschliche Reaktion auf die Göttererscheinung. Im Hinblick auf den Tempusgebrauch beim cum stellen wir fest, dass in 5,655 vor dem cum ein narrativer Infinitiv steht (spectare) und innerhalb des cum-Satzes in 5,657 das erwartete Perfekt (sustulit / secuit). Wie bei lustro in 2,564 ist auch bei spectare in 5,655 die Aktionsart durativ; nebenbei fügt es sich, dass die beiden Wörter lustrare und spectare zum selben Wortfeld gehören (»sehen«). In den cum-Sätzen entsprechen sich se … sustulit in 5,657 und se … obtulit in 2,589 f.: Die beiden Szenen gleichen einander inhaltlich und haben dieselbe narrative Struktur. In Hinsicht auf das cum handelt es sich bei der Lesart mit Helena-Szene um die glattere Version. Der Verfasser der Helena-Szene hat mit talia iactabam et furiata mente ferebar (*2,588) einen unauffälligen, weil gewöhnlichen und erwartbaren Anschluss für cum mihi se … obtulit (ab 2,589) geschaffen. Aber es kommt zudem ein homerischer Prätext ins Spiel. Wenn im antiken Epos einem Helden eine Göttin erscheint und Zorn dabei eine Rolle spielt, liegt es nahe, an eine der ersten Szenen der Ilias zu denken: Wie Athene dem zürnenden Achill erscheint, als dieser gerade überlegt, ob er Agamemnon, von dem er sich um die Beutefrau betrogen fühlt und mit dem er in einen heftigen Streit geraten ist, töten soll (Il. 1,193–222). Der geschwätzige Hauptsatz talia iactabam et furiata

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mente ferebar (*2,588) kann seine Nähe zu ἧος ὁ ταῦθ’ ὥρμαινε κατὰ φρένα καὶ κατὰ θυμόν (Il. 1,193) nicht verleugnen. Entsprechend wird die Stelle in der Helena-Szene mindestens seit 1586 als eine Imitatio Homeri geführt: Laut Knauer ist die Parallele zuerst im Vergilius collatione scriptorum Graecorum illustratus (Antwerpen 1568) des Fulvio Orsini benannt.1096 De la Cerda bietet einen ausführlichen Vergleich der beiden Texte; er schreibt, dass er einzelne Punkte von Scaliger übernimmt.1097 In Heynes Ausgabe steht zu 2,588–593:1098 Aeneae Venus apparuit, non nube obducta, aut alia forma assumta, sed specie sua divina; fere ut in Hymno in Venerem 171 sq. Imitatio Homeri manifesta Iliad. α,193 sq., ubi Minerva Achilli soli in conspectum venit eumque ab ira et impetu revocat.

Dieser Tradition nicht achtend spricht Conte, der sich seit 1978 darum bemüht, die Parallele als Argument für die Autorschaft Vergils geltend zu machen,1099 2006 besitzergreifend von »seiner« Parallele: »il mio parallelo«, »il modello iliadico da me indicato«1100 sowie »nella scena iliadica che io ho indicato come modello«.1101 Einen solchen Besitzanspruch erhebt er 2017 in der jüngsten Fassung seiner Position zur Helena-Szene zwar nicht mehr, aber seine den cum-Satz betreffende Argumentation ist prinzipiell dieselbe wie schon 1978. Die Ähnlichkeit zwischen Aen. *2,588 in Verbindung mit 2,589–591 und Il.1,193–195a ist offensichtlich: talia iactabam et furiata mente ferebar *2,588 cum mihi se… | obtulit… | alma parens… 2,589.590.591 Solches erwog ich und ließ mich von der Wut hinreißen, als mir meine gütige Mutter… erschien … ἧος ὁ ταῦθ’ ὥρμαινε κατὰ φρένα καὶ κατὰ θυμόν Il. 1,193 ἕλκετο δ’ ἐκ κολεοῖο μέγα ξίφος, ἦλθε δ’ Ἀθήνη Il. 1,194 οὐρανόθεν· Il. 1,195 Während er dies erwog im Sinn und in dem Mute, | Und schon aus der Scheide zog das große Schwert, da kam Athene | Vom Himmel herab: (W. Schadewaldt)

Conte schließt aus dem Umstand, dass der letzte Vers der Helena-Szene (*2,588) und der erste Vers des überlieferten Textes (2,589) zusammengenommen Il. 1,193–195a imitieren, dass Helena-Szene und überlieferter Text zusammengehören müssen. Er vergleicht die Imitation mit dem Joch einer Brücke, das auf zwei Pfeilern ruht, und meint, weil die Imitation von Il. 1,193–195a in Aen. *2,588 1096 Knauer 1964, 433. 1097 de la Cerda, Ed. Köln 1628, vol. 1, 239. 1098 Heyne 41832, vol. 2, 350. 1099 Conte 1978, 57–60 ≈ Conte 1984, 113–116, ähnlich auch Conte 1986; Conte 2006, 165 f.; Conte 2016, 100 f. 1100 Conte 2006, 165. 1101 Conte 2006, 166.

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und 2,589–591 den Übergang zwischen Helena-Szene und überliefertem Text überlappe, seien deren Zugehörigkeit und die Autorschaft Vergils gesichert.1102 Dabei übersieht er, dass gerade ein Interpolator, der ja seine eigenen Verse möglichst mit dem übrigen Text verschmelzen will, eine solche Überlappung angestrebt haben muss. Conte begeht den methodischen Fehler, das eigene Vergil-Verständnis einem potentiellen Interpolator nicht zuzutrauen. Aber was Conte erkennen kann, konnte auch ein Interpolator erkennen. Was Conte jedoch nicht erkennt: Wie der cum-Satz ohne Helena-Szene funktioniert und dass er zu einer syntaktischen Struktur gehört, die in der Aeneis eine Parallele hat. Die Textversion mit Helena-Szene (talia iactabam et furiata mente ferebar | cum mihi se… | obtulit… | alma parens (*2,588. 2,589–591) ist glatter als diejenige ohne Helena-Szene, weil sie eine Glättung ist.

11.2.2 Nennung der Helena in 2,601: Im Kontext des göttlichen Plans Venus’ Erwähnung von Helena in 2,601 wird in Kenntnis der Helena-Szene als direkte Reaktion auf Aeneas’ Monolog und auf seine Wut auf Helena, wie die Helena-Szene sie darstellt, aufgefasst. Im Vergleich wird dann festgestellt, dass der überlieferte Text ohne Helena-Szene keinen direkten Anknüpfungspunkt für eine Erwähnung der Helena biete. Hieraus wird geschlossen, dass der überlieferte Text unvollständig sei. Aber die Erwähnung der Helena – und des Paris! – in 2,601–602a setzt überhaupt keine voherige Erwähnung der Helena voraus. Sie steht im überlieferten Text sinnvoll an ihrem Platz und gehört in den argumentativen Zusammenhang von Venus’ Rede, die wie folgt aufgebaut ist: Am Anfang stehen zwei Verse, in denen die Sprecherin sich ihrem Sohn zuwendet, indem sie in Form von rhetorischen Fragen mitfühlend seine emotionale Verfassung benennt (2,594 f.); dabei gibt sie sich im ersten Wort (nate) als seine Mutter zu erkennen. Es folgen fünf Verse, in denen sie ihm die Befürchtung nimmt, dass seine Familie in Feindeshand gefallen sei, indem sie erklärt, dass sie selbst für deren Schutz gesorgt habe (2,596–600). Im Anschluss an diese Aeneas persönlich betreffende, beruhigende Information folgt in achtzehn Versen die Entwicklung des Arguments, dass es die Götter sind, die Troias Untergang herbeiführen, und dass dieser unausweichlich ist (2,601–618). Die Rede endet mit zwei Versen, in denen Venus Aeneas zur Flucht auffordert und ihm ihren Schutz zusagt (2,619 f.). Den Hauptteil von Venus’ Erläuterung der göttlichen Dimension des Krieges bildet die Götterschau (2,608–618): Venus kündigt sie an, indem sie deren ›Funktionsweise‹ offenlegt sowie die Absicht, die sie damit verfolgt (2,604–607), um dann die übernatürliche Sicht zu beschreiben, die sich Aeneas bietet, nämlich auf das Wirken der 1102 Conte 2006, 165 f. ≈ Conte 2016, 100 f.

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Götter in Troia (2,608–618). Am Beginn dieser Erklärung aber steht die Feststellung, dass nicht Paris und Helena, sondern die Unerbittlichkeit der Götter (divum inclementia, divum) Troia zugrunde richtet: non tibi Tyndaridis facies invisa Lacaenae 2,601 culpatusve Paris, divum inclementia, divum 2,602 has evertit opes sternitque a culmine Troiam. 2,603 Nicht die verhasste Schönheit der Tochter des Tyndarus aus Sparta oder der schuldig gewordene Paris, nein, die Unerbittlichkeit der Götter bringt dir diese Pracht zum Einsturz und wirft Troia von seiner Höhe hinab.

Die Nennung der Griechin und des Troianers, deren Vereinigung nach der mythologischen Tradition den Anlass für den troianischen Krieg bildet, repräsentiert in Venus’ Argumentation die menschliche Ebene des Krieges, die – so verkündet Venus – für den Ausgang irrelevant ist, weil es die Götter sind, die Troias Zerstörung bewirken. In diesem Satz gehört das vorangestellte tibi als Dativus ethicus zum Hauptsatz: non tibi … has evertit opes sternitque a culmine Troiam:1103 – »nicht Helena oder Paris, die Unerbittlichkeit der Götter zerstört dir Troia.« Man kann in Kenntnis der Helena-Szene auch darauf kommen, es auch auf invisa und culpatus zu beziehen.1104 Allerdings legt die Wortstellung eine solche Mehrdeutigkeit nicht nahe: Tibi steht an der Anfangsposition direkt nach der emphatischen Verneinung und außerhalb des durch ein Hyperbaton geschlossenen Ausdruckes Tyndaridis facies invisa Lacaenae. Tyndaris ist als Bezeichnung für Helena nicht ungewöhnlich.1105 Allerdings macht Tyndaris Lacaena in 2,601 das bloße Tyndaris in *2,569 (Tyndarida aspicio) insofern unwahrscheinlich, als zu erwarten wäre, dass die präzisere Benennung bei der früheren Erwähnung der Figur erfolgt und nicht bei der späteren.1106 Die Erwähnung von Helena in der wörtlichen Rede der Venus (2,601) setzt keine voherige Erwähnung der Helena voraus und ist damit kein Argument für die Zugehörigkeit der Helena-Szene. Umgekehrt aber kann der Umstand, dass Helena nach der Rede der Venus nicht mehr erwähnt wird, als Argument gegen die Zugehörigkeit der Helena-Szene gewertet werden. Denn in einem Text mit Helena-Szene wäre eigentlich zu erwarten, dass die Schilderung von Aeneas’ 1103 Vgl. Kraggerud 1975, 110. 1104 Siehe Casali 2017, 284, Traina zitierend. 1105 ›Tyndaris‹ für Helena: Lucr.1,464. 473; Prop. 2,32,31. 3,8,30; nicht bei Catull (›Helena‹); nicht bei Horaz (›Helena‹, ›Lacaena‹). 1106 In diesem Zusammenhang kann man bei einigen modernen Kommentatoren eine Inkonsequenz beobachten: Sie erklären den Ausdruck Tyndaris erst zu 2,601, obwohl sie dem Text mit der Helena-Szene als *2,567–588 linear folgen. Damit stehen sie – ohne dies zu reflektieren – in der Tradition des Servius-Kommentars.

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Reaktion auf die Rede seiner Mutter das Ablassen von Helena in irgendeiner Form berücksichtigte, dass es etwa hieße, dass Aeneas keinen weiteren Gedanken mehr an Helena verschwendet und sie ihrem Schicksal überlässt. Helena kommt aber in dieser Schilderung (2,624–632) nicht vor. Wenn die VenusErscheinung im Sinne der Helena-Szene von Aeneas’ Räsonnement gegen Helena motiviert wäre, müsste sich dies in Aeneas’ Reaktion bemerkbar machen. Aber von ihm heißt es lediglich, dass er die Unausweichlichkeit des Untergangs von Troia erkennt (im Gleichnis vom Umkippen des professionell gefällten Baumes, 2,624–631, vgl. 10.4.8), vom Dach hinuntersteigt und göttlich gelenkt Flammen und Feinden entkommt (2,631 f.).

11.2.3 Dextraque prehensum continuit: Mutter und Sohn Die mit dextraque prehensum | continuit beschriebene Handlung der Venus wird meist mit Servius so verstanden, dass Venus ihren Sohn an seiner rechten Hand ergreift (dextra prehensum) und davon abhält (continuit), etwas zu tun, und zwar in der Regel davon, Helena (aus einer gewissen Ferne) zu drohen.1107 Diese Interpretation hat aber Schwächen. Zunächst ist die Vorstellung, dass Aeneas vom Palastdach aus Helena droht, die sich zu ebener Erde befindet,1108 und dass seine Mutter ihm dabei in den Arm fällt, einigermaßen theatralisch. Wenn Aeneas tatsächlich gerade zum Schlag gegen Helena ausholte, hätte es einen Sinn, ihn körperlich davon abzuhalten. Aber die geschilderten räumlichen Verhältnisse (Aeneas auf dem Dach, Helena zu ebener Erde) lassen nicht mehr als eine Drohgebärde in ihre Richtung zu. Sollte Venus ihrem Sohn also bei einer bloßen Geste, mit der er Helena ohnehin nicht erreichen kann, in den Arm fallen? Dass die praktische Umsetzbarkeit von Aeneas’ Morddrohung gegen Helena aus räumlichen Gründen nicht direkt gegeben ist, lässt sie als Anlass für die Götter-Erscheinung unwahrscheinlich werden. Aber selbst wenn man einmal annimmt, Venus hindere Aeneas mit ihrem Eingreifen am wütenden Drohen vom Palastdach aus, so stört, dass die Drohgeste im Text nicht vorkommt. Servius setzt sie bei seiner Erklärung einfach voraus. Bei ihm reagiert Venus also auf eine Handlung des Aeneas, die weder im überlieferten Text noch in der Helena-Szene erwähnt wird. Wohl unter dem Einfluss von Servius’ Erklärung gehen viele davon aus, dass mit dextra die rechte Hand des Aeneas gemeint sei, die Venus ergreife, um ihn zurückzuhalten. Mit dextra kann aber ebenso gut die rechte Hand der Venus 1107 Klingner 1967, 418; Conte 1978, 58 ≈ Conte 1984, 114: »Atena tratteneva Achille, come Venere ferma la mano del figlio« ≈ Conte 1986, 202: »Venus constraints Aeneas just as Athena holds back Achilles.« 1108 limina Vestae | servantem (2,567 f.); zu den räumlichen Verhältnissen vgl. Anm. 1024.

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gemeint sein,1109 gemäß der Konstruktion manu prehendere: mit der (eigenen) Hand etwas ergreifen. Darüberhinaus erhebt sich die Frage, ob dextra zu prehensum gehört oder zu continuit oder zu beiden. Die Behandlungen der Stelle im TLL sind jedenfalls uneinheitlich: (1) s.v. ›dexter, (dext(e)ra)‹ wird dextra als Ablativus instrumentalis erklärt; die Stelle steht bei mehreren Beispielen mit teneo und Komposita (contineo [nur ein weiteres Mal: Z. 55 f., in Klammern], retineo und sustineo); vol. V,1, fasc. IV, Sp. 929, Z. 54 f. → dextra continuit (2) s.v. ›prehendo‹ erscheint die Stelle zusammen mit Servius’ Erklärung als erstes (!) Beispiel in der Rubrik »ab inhibentibus, retinentibus« (vol. X,2, fasc. VIII , Sp. 1163, Z. 41–44); es wird aber auch die Einordnung unter »-ere aliquem manu« (Sp. 1161, Z. 21) in Betracht gezogen, wie durch Hin- und Her-Verweise angedeutet ist; dort findet sich als weiteres Beispiel: Cic. de orat. 1,240: deinde ipsum Crassum manu prehendit et ›heus tu‹ inquit, ›quid tibi in mentem venit ita respondere?‹ → dextra prehensum Es könnte der Eindruck entstehen, dass sich in 2,592b–593a zwei Ausdrücke überlagern: dextra prehendere und dextra continere. Aber der Eindruck täuscht, denn bei prehensum continuit handelt es sich um einen zusammengehörigen Ausdruck: Das Partizip fungiert als Ergänzung des Verbalbegriffs, wie es bei den Verben habeo und teneo (sowie auch deren Komposita) zur Bezeichnung eines »aus einer vollendeten Handlung hervorgegangenen dauernden Zustands«1110 vorkommt. So verstanden bedeutet prehensum continere soviel wie ›gefasst halten‹ oder auch ›ergreifen und festhalten‹. Daraus ergibt sich, dass dextra syntaktisch auf prehensum bezogen ist. Außerdem ergibt sich, dass die Bedeutung ›zurückhalten, hindern, abhalten‹ für continere auszuschließen ist. Kurioserweise entspricht diese Beobachtung der dritten (chronologisch ersten) Behandlung von dextraque prehensum continuit im TLL : s.v. ›contineo‹ wird die Stelle unter »3. i. q. tenere, retinere (opp. solvere) a. proprie« eingeordnet, und gerade nicht unter »8 i. q. cohibere, coercere, frenare«.1111 Servius hat sich geirrt 1109 Vgl. z. B. de la Cerda Ed. Köln 1628, 1, 239: referri potest aut ad Venerem aut ad Aeneam, ut dicat, tenuit me prehensum dextra sua vel tenuit me prehensum dextra mea. In postremum inclino; hierzu siehe auch: Casali 2017, 281. 1110 R. Kühner / C . Stegmann, Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache, Zweiter Teil: Satzlehre, Erster Band, 21914, 763 f.; Beispiele: Plaut. Poen. 720: duc me intro; addictum tenes; Cic. dom. 11: Frumentum provinciae frumentariae partim non habebant, partim in alias terras, credo, propter avaritiam venditorum miserant, partim, quo gratius esset tum cum in ipsa fame subvenisset, custodiis suis clausum continebant, ut subito novum mitterent; Cic. div. 1,36: condemnemus inquam hos aut stultitiae aut vanitatis aut inpudentiae qui quadringenta septuaginta milia annorum ut ipsi dicunt monumentis conprehensa continent. Cic. Mil. 38: cuius vis omnis haec semper fuit, ne P. Clodius, cum in iudicium detrahi non posset, vi opressam civitatem teneret. 1111 TLL vol. IV, fasc. III, 704 (i. q. tenere…), Z. 33 bzw. Sp. 708 (i. q. cohibere…).

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und andere mit ihm. Wenn man außerdem beachtet, dass das Partizip prehensum ein Maskulinum ist, das sich nur auf den Sprecher beziehen kann, lautet die Antwort auf die Frage, was für eine Handlung von Venus in 2,592b–593a geschildert wird: ›sie ergriff mich und hielt mich fest‹,1112 sei es nun ›mit ihrer Rechten‹ oder ›an meiner Rechten‹. Venus berührt Aeneas und hält ihn gefasst, um sodann zu ihm zu sprechen.1113 Bei der Konzentration auf die Authentizität der Helena-Szene ist in den Hintergrund geraten, welch entscheidende Bedeutung die Begegnung auf dem Palastdach hat, und zwar sowohl innerhalb der Fiktion für die Figur des Aeneas und für seine Erzählung als auch im Kontext der vergilischen Iliupersis und der Aeneis überhaupt: In 2,589–621 beschreibt Aeneas, wie seine Mutter sich ihm so klar wie nie zuvor in ihrer göttlichen Gestalt zeigt.1114 Diese erste richtige Begegnung mit seiner Mutter ist ein großer Augenblick für ihn. In der Schilderung, wie er ihres Erscheinens gewahr wird (2,589–593), macht er dies auch explizit. In der Aeneis kommt nur noch eine weitere direkte und unverstellte Begegnung von Mutter und Sohn vor, und zwar als sie ihm in Italien die neu angefertigte Ausrüstung übergibt (8,608–616). Wie bei der ersten Begegnung auf dem Palastdach in Troia spricht Venus auch hier Aeneas als Sohn an (nate 8,613, cf. 2,594), und wie dort stellt sie auch hier durch Berührung einen Körperkontakt her, und zwar indem sie ihn in den Arm nimmt (amplexus nati Cytherea petivit 8,615), während sie ihn dort mit (oder an, s. o.) der rechten Hand gefasst hält: dextraque prehensum continuit. Von diesen beiden Begegnungen grundverschieden und kontrastiv zu ihnen angelegt ist die in der Reihenfolge der Erzählung erste Begegnung von Venus und Aeneas in 1,314–417: Als Venus ihrem Sohn nach dem Schiffbruch bei Karthago begegnet, gibt sie sich ihm nicht zu erkennen, sondern erscheint ihm in Gestalt und Person einer tyrischen Jägerin.1115 Aeneas erkennt sie erst, als sie im Begriff 1112 So die Übersetzung von Holzberg 2015, 127: »meine Rechte ergriff sie, hielt sie fest und sprach«. 1113 Vgl. hierzu das Verhalten der Thetis, als Achill sie weinend anruft: χειρί τέ μιν κατέρεξεν, ἔπος τ’ ἔφατ’ ἔκ τ’ ὀνόμαζε (Il. 1,361). 1114 Hierzu vgl. Thome 1986, 57. 1115 Die Verstellung der Göttin in Aen. 1,314–417 ähnelt strukturell derjenigen im homerischen Aphrodite-Hymnos (hym. 5); auch der Gesprächsverlauf weist Entsprechungen auf (Vermutung und Abstreiten der Göttlichkeit, Anbieten göttlicher Verehrung). Zur Intertextualität siehe Thome 1986, 303–305. Fuhrer 2010, 69, Anm. 20 nennt hym. 5 »a direct model« für die Begegnung von Venus und Aeneas in Aen. 1,314–417. Prinzipiell ähnlich, allerdings mit Zurückhaltung in Hinsicht auf die Verfügbarkeit des Textes: Olson 2011, 61: »if a copy existed anywhere in the Roman world in the late first century BCE – as it certainly did, since it has survived to us today – it is impossible to believe that it did not make its way somehow to Augustus, and from him presumably, to Vergil. (…) Vergil a generation or so earlier (scil. than Ovid), at any rate, certainly knew the Homeric Hymn to Aphrodite and used it in composing the Aeneid«; hierzu auch: Gladhill 2012. Weitere traditionell als homerische Vorbilder angeführte Stellen sind

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ist, wieder zu entschwinden, und es bleibt ihm nur, ihr hinterher zu rufen und sich zu beklagen, dass sie sich ihm nicht in ihrer wahren Gestalt zeige, ihm nicht die Hand reiche und nicht unverstellt mit ihm spreche: »Quid natum totiens, crudelis tu quoque, falsis 1,407 ludis imaginibus? Cur dextrae iungere dextram 1,408 non datur, ac veras audire et reddere voces?« 1,409 »Warum narrst Du auch so oft grausam deinen Sohn mit Trugbildern? Warum ist es uns nicht vergönnt, unsere Hände ineinander zu legen und wahrhaftig miteinander zu sprechen?«

Das Verlangen des Aeneas, seine Mutter wirklich zu sehen, von ihr berührt zu werden und wahrhaftig mit ihr zu sprechen, ist nach deren Auftritt als tyrische Jägerin, bei dem sie sich verleugnet, nur allzu verständlich. In vollem Umfang aber erschließt Aeneas’ Wunsch sich dem Rezipienten erst, wenn er die VenusErscheinung in Aeneis  2 kennt.1116 Rückblickend versteht er, dass Aeneas im Wald von Karthago den Wunsch hat, seiner Mutter wieder so zu begegnen wie bei ihrer Begegnung in der letzten Nacht von Troia, als all das, was ihm jetzt versagt ist, geschieht: Sie gibt sich unverstellt zu erkennen, fasst ihn bei der Hand und spricht aufrichtig mit ihm. Die beiden Szenen mit den Begegnungen zwischen Aeneas und seiner Mutter in 1,314–417 (bei Karthago) und 2,589–621 (in Troia auf dem Palastdach) sind in der Erzählung der Aeneis aufeinander bezogen und ergänzen einander.1117 Dabei bewirkt die Analepse von Aeneis 2–3 reizvollerweise, dass die Richtung Od. 6,186–197 (Nausikaa, hierzu siehe Freund 2013) und Od. 7,19–81 (Begegnung von Odysseus mit Athene in Gestalt eines kleinen Mädchens) und Od. 13,221–365 (Athene erscheint Odysseus in Gestalt eines Hirtenjungen); de La Ville de Mirmont 1894, 641; Thome 1986; Fuhrer 2008 (≈ 2010), Anm. 17 und 26. 1116 Vgl. hierzu Thome 1986, 57: »Im brennenden Troja erscheint Venus dem Sohn unverhüllt (Aen. 2,589–621), und wenn die Szene von Aeneas in der Erzählung hervorgehoben ist, so bezieht sich dies m. E. weniger auf die Tatsache der Erscheinung an sich als auf die so nie zuvor erlebte Klarheit der Erscheinung, mit der sich die Göttin dem Menschen ganz unverhüllt wie sonst nur den ihr Gleichen, den Göttern, zeigt; die extreme Situation läßt sie entsprechend zu äußersten Mitteln greifen. Aeneas ist sich also des wesensmäßigen Unterschieds und damit auch der daraus entspringenden Folgen für ihre Beziehung sehr wohl bewußt, seine zunächst noch vor allem dahin zielende Klage in unserer Szene basiert aber eben auf dem Vorwurf des falsis ludis imaginibus und erhält nun, vor dem Hintergrund der Troiabegegnung, im nachhinein noch viel stärker den Ton persönlicher, situationsbezogener Anklage.« 1117 Den intratextuellen Bezug sieht: Thome 1986, insbesondere 57, vgl. die vorige Anm. Kühn 1971, 44 stellt zutreffend fest: »Ihre unverhüllte, großartige Erscheinung, die derjenigen im 1. Buch so entgegengesetzt ist, läßt für das Folgende umso Bedeutsameres erwarten«, beschränkt sich damit aber auf die Perspektive des Rezipienten. Unberücksichtigt bleibt der gerade für Aeneas’ viel diskutierten Vorwurf in 1,407–409 entscheidende intratextuelle Bezug z. B. bei: Wlosok 1967, vgl. insbesondere 86; Harrison 1973; Reckford 1995; Smith 2005, 26–28; Gutting 2008; Fuhrer 2008, 227–230 (≈ 2010, 67–72).

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der Bezugnahme für Protagonisten und Rezipienten einander entgegengesetzt ist: Während Aeneas im Wald von Karthago an die Begegnung auf dem Palastdach zurückdenkt, erinnert sich der Rezipient der Aeneis bei der Erscheinung der Venus auf dem Palastdach in Troia an ihre Erscheinung im Wald von Karthago und an Aeneas’ Klage dort, die er nun rückblickend besser versteht. In der Reihenfolge der beiden Szenen, wie sie sich dem Rezipienten der Aeneis bietet, ergibt sich eine Steigerung von offenbarter Göttlichkeit und Nähe, wohingegen der Protagonist deren Verminderung als Enttäuschung erfährt. Der Zusammenhang zwischen beiden Szenen ist durch deren strukturelle Ähnlichkeit gegeben: Venus kommt zu Aeneas, der sich in einer verzweifelten Lage befindet, und erteilt ihm einen Rat, den sie an einer optischen Erscheinung anschaulich macht (aspice 1,393: Schwäne-Orakel; 2,603: Götterschau). In beiden Fällen stellt sie fest, dass ihr Sohn seelischen Schmerz empfindet (medio dolore 1,386; quis dolor 2,594). In beiden Fällen spendet sie ihm Trost, indem sie ihm zusichert, dass ein befürchteter Verlust nicht eingetreten ist: Im Wald von Karthago glaubt Aeneas 13 Schiffe seiner Flotte verloren (bis denis Phrygium conscendi navibus aequor |…| vix septem convulsae undis Euroque supersunt 1,381.383. huc septem Aeneas collectis navibus omni | ex numero subit 1,170 f.); auf dem Palastdach in Troia hat er die Schreckensvision, dass seine Familie inzwischen in Feindeshand gefallen sei (2,560–563).1118 In beiden Fällen erklärt sie ihm, dass seine Lage besser ist als er annimmt: dass zwölf der dreizehn verloren geglaubten Schiffe sicher landen respektive dass das erobert geglaubte Haus nicht in Feindeshand gefallen und die Familie am Leben ist. Darüberhinaus gibt Venus ihrem Sohn Informationen über den größeren Zusammenhang seiner aktuellen Situation. Im Wald von Karthago sind dies vor allem landeskundliche Einzelheiten: Aeneas erfährt (und mit ihm der Rezipient), was er über die Gegend, in der er gelandet ist, und vor allem über die Königin Dido wissen muss. Auf dem Palastdach in Troia verschafft Venus ihrem Sohn Einsicht darüber, dass der Untergang Troias von den Göttern betrieben wird und nicht mehr aufzuhalten ist. Aber trotz ähnlicher struktureller Voraussetzungen ist Venus’ Auftreten und Verhalten bei den beiden Gelegenheiten sehr unterschiedlich, in manchem sogar gegensätzlich. Im Wald bei Karthago verstellt sie sich (virginis os habitumque gerens 1,315) und verleugnet gegenüber ihrem Sohn, der etwas ahnt (1,327–329), ihre Göttlichkeit (haud equidem tali me dignor honore 1,335). Als Aeneas seine Mutter schließlich erkennt (ille ubi matrem agnovit 1,405 f.), erhebt er den berechtigten Vorwurf, dass sie ihn mit Trugbildern täuscht (falsis ludis imaginibus 1,407 f.). Im Kontrast dazu zeigt Venus sich ihrem Sohn auf dem Palastdach in Troia in völliger Klarheit (clara videndam 2,589) als Göttin (confessa deam 2,591). Im Wald bei Karthago tut Venus so, als wisse sie nicht, wer Aeneas ist (quisquis

1118 Zur Intervention der Venus auf dem Palastdach siehe 9.2.8.

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es 1,387). In Troia hingegen spricht sie ihn unmissverständlich als ihren Sohn an, ihr erstes Wort lautet: nate (2,594). Während Venus Aeneas im Wald von Karthago abrupt verlässt und sich nach Paphos zurückzieht (ipsa Paphum sublimis abit 1,415), gibt sie ihm in Troia das Versprechen, nicht von ihm zu weichen (nusquam abero 2,620). Entsprechend nennt Aeneas seine Mutter im Wald bei Karthago grausam (crudelis 1,407), wohingegen er sie in seiner Erzählung von der Begegnung auf dem Palastdach in Troia als gütig bezeichnet (alma 2,591). Es ist deutlich zu erkennen: Diese beiden Begegnungen von Aeneas und Venus sind aufeinander abgestimmt und kontrastiv zueinander gestaltet. Die beiden Szenen erhellen einander, wenn sie zusammen betrachtet werden. So lässt sich auch dextraque prehensum in 2,592 besser verstehen, wenn man berücksichtigt, dass Aeneas sich in 1,407–409 darüber beschwert, dass er und seine Mutter nicht ihre rechten Hände ineinanderlegen (dextrae iungere dextram non datur 1,407 f.). Er beschreibt nämlich hier genau die Art von Berührung, die er bei seinem zweiten Treffen mit seiner göttlichen Mutter vermisst, eben weil er sie bei ihrem ersten Treffen erfahren hat: dass sie ihn an der Hand hält.

11.2.4 Indomitas iras (2,594) und furis (2,595): Zorn der Verzweiflung Die wörtliche Rede der Venus beginnt mit den Fragen »nate, quis indomitas tantus dolor excitat iras? | quid furis?« (2,594 f.). In Kenntnis der Helena-Szene werden diese Fragen und insbesondere die Ausdrücke indomitas iras und furis in ihrem direkten Kontext gesehen: Venus beziehe sich hier auf ira aus subit ira cadentem | ulcisci patriam et sceleratas sumere poenas (*2,575b–576: dass ein plötzlicher Zorn Aeneas befällt und er sich für den Untergang Troias an Helena rächen und sie bestrafen will) und auf furiata aus talia iactabam et furiata mente ferebar (*2,588: dass Wut ihn zu solchen Erwägungen hinreißt).1119 Ohne die Helena-Szene, so wird argumentiert, fehle ein Zusammenhang, in dem die Ausdrücke iras (2,594) und furis (2,595) sinnvoll seien.1120 Wer die Helena-Szene für einen integralen Bestandteil der vergilischen Iliupersis hält, wertet dies als Argument für die Zugehörigkeit. Wer sie hingegen für eine Interpolation hält, schließt daraus, dass zwischen 2,566 und 2,589 im überlieferten Text etwas fehle. Nicht selten werden auch die Fragen der Venus als Vorwürfe aufgefasst,1121 und

1119 Das Adjektiv furiatus erscheint sonst in der Aeneis genau ein weiteres Mal, und zwar in derselben Junktur furiata mente in 2,406 über Coroebus, der den Anblick nicht erträgt, wie die Griechen seine Braut Cassandra wegzerrren. 1120 So stellt z. B. Casali 2017, 28 fest, dass ohne die Helena-Szene vor der Venus-Erscheinung in 2,559–566 von Zorn keine Rede sei: »Prima dell’apparizione di Venere, in 559–66, non si è parlato di ira di Enea«. 1121 Mit Vorwürfen der Venus argumentieren u. a. Otis 1964, 241; Fish 2004.

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iras und furis werden als Ausdrücke für unangemessene Affekte des Aeneas (angesichts und gegenüber der Helena) interpretiert.1122 Mit der Helena-Szene wird der Text also so verstanden, dass Aeneas, der Helena zufällig erblickt, Wut in sich aufwallen fühlt (exarsere ignes animo *2,575) und den Drang verspürt, an ihr, der er in einem Selbstgespräch die Schuld am Krieg um Troia zuschreibt, Rache zu üben, und dass er durch die Erscheinung seiner Mutter davon abgehalten wird, diese Rache tatsächlich zu vollziehen. Als homerischer Prätext für eine derartige Konstellation wird wieder die Erscheinung der Athene am Beginn der Ilias angeführt (Il. 1,188–224).1123 Die grundsätzliche strukturelle Ähnlichkeit ist offensichtlich: Dem »zornigen«

1122 Siehe z. B. Fish 2004, besonders 120–129. Fish ist der Ansicht, dass Aeneas eine Wandlung zum Epikureer durchmache: Sein Zorn gegen Turnus (am Schluss der Aeneis) sei epikureisch geläutert, aber sein Zorn gegen Helena sei noch der unvernünftige Zorn eines homerischen Helden, für den er von seiner Mutter (als einer epikureischen Weisen!) getadelt werde. Fish gründet seine Überlegungen auf seine Interpretationen von Philodem (De ira und De bono rege secundum Homerum): »If I have reconstructed the text correctly, Odysseus undergoes a kind of moral correction; and this is not a trivial discovery for the history of the interpretation of ancient epic, especially given the now-proven association of Philodemus and Vergil«, 113. Er endet: »I have argued that the Helen Episode and Venus’ rebuke, taken together, reflect Philodemus’ depiction of the fool’s anger, and that such correspondence must result from the intentions of Vergil rather than of an interpolator. Venus’ therapy works, and whatever imperfections remain in Aeneas, the nature of his anger is not the same after his encounter. It seems strange for a god in the poem to take on the role of an Epicurean sage, when it is the gods themselves in the Aeneid who often stand more in need of philosophical therapy than the human characters. But here an Epicurean Venus has stepped in to become the great directress of the future of Rome and of the ancestor of Vergil’s patron Augustus«, 129. Tatsächlich seltsam ist aber in Wahrheit die Vorstellung, dass eine Göttin, die das Wirken der Götter in Troia beschreibt, als ›epikureische Weise‹ agieren soll, weist doch Epikur die Vorstellung, dass die Götter auf das Leben der Menschen Einfluss nehmen, zurück. Kohärenter in dieser Hinsicht ist Delvigo 2005, die in der ›Erleuchtung durch Venus‹ eine durch einen ›deutlichen Lukrezbezug‹ markierte ›grundlegende ideologische Wende‹ (74) gegenüber der epikureischen Vorstellung konstatiert: »La rivelazione tragica di Venere dischiude invece la prospettiva di una condizione umana infelice, in balia di irresistibili forze superiori (quelle da cui Epicuro aveva eroicamente liberato gli uomini), che ne determinano il destino e possono distruggerne la vita al di là di ogni considerazione di merito o colpa, in quel cupo orizzonte della Iliou persis virgiliana, in cui realizzarsi il destino è racchiuso nella rhesis di un protagonista che lo vive dolorosamente come la contraddizione di ogni teodicea«, 75. 1123 Vgl. Conte 2006, der in der Lesart mit Helena-Szene eine Ilias-Imitation sieht, wie sie in Kombination mit Anlehnungen an dramatische Sprache, die der Rache-Monolog aufweise, für Vergil typisch sei. Conte nimmt für sich in Anspruch, was er Murgia (Murgia 1971 und Murgia 2003) abspricht, nämlich, bei einer Imitation zwischen ›wesentlichen‹ und ›nebensächlichen‹ oder ›veränderlichen‹ Elementen unterscheiden zu können (166), allerdings ohne Kriterien dafür auch nur anzudeuten. Statt dessen beruft er sich allgemein und wenig überzeugend auf ›hergebrachten Brauch‹.

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Protagonisten, der jemanden töten will, erscheint eine Göttin und hält ihn davon ab. In der Rede der Venus werden am Anfang die Affekte dolor und ira genannt, letzterer wird in furere variiert: quis indomitas tantus dolor excitat iras? | quid furis? 2,594 f. Von Achill heißt es ebenfalls, dass er einen Schmerz habe (Il. 1,188: Πηλεΐωνι δ’ ἄχος γένετ’), und auch bei ihm ist der Ausdruck für Zorn variiert: χολός und θυμός in Il. 1,192 (ἦε χολόν παύσειεν ἐρητύσειέ τε θυμόν) sowie μένος in Il. 1,207 (ἦλθον ἐγὼ παύσουσα τὸ σὸν μένος). Im weiteren Verlauf der Szene gibt es aber neben einigen Übereinstimmungen auch deutliche Abweichungen. − Gegenstand des Zorns In der Ilias ist Achill persönlich beleidigt und zürnt Agamemnon, weil dieser sich ihm gegenüber ehrabschneidend verhalten hat. In der Helena-Szene zürnt Aeneas Helena, weil er sie als Ursache des troianischen Krieges ansieht. − Äußerung des Zorns In der Ilias erwägt Achill zum Zeitpunkt der Götter-Erscheinung, ob er Agamemnon, mit dem er (im Beisein anderer) in Streit geraten ist, töten soll oder nicht (Il. 1,188b–193), er hat das Schwert gezogen (ἕλκετο δ’ ἐκ κολεοῖο μέγα ξίφος Il. 1,194a). In der Helena-Szene überlegt Aeneas, wie es zu rechtfertigen wäre, Helena zu töten, um an ihr die Seinen zu rächen, und eventuell auch in ihr den Kriegsgrund, zu dem er selbst seinen Beitrag geleistet hat (indem er Paris beim Raub der Helena begleitet hat), vom Erdboden zu tilgen. Während Achills Erwägung vom Erzähler berichtet wird, handelt es sich bei Aeneas’ Rache-Monolog um einen längeren Abschnitt in direkter Rede; er ist allein; über sein Schwert wird nichts gesagt. − Kontaktaufnahme durch die Göttin In der Ilias packt Athene Achill von hinten am Haar. In der Aeneis fasst Venus Aeneas an der Hand.1124 − Interaktion zwischen Göttin und Mensch In der Ilias wendet Achill sich zu Athene um und spricht sie an. Diese antwortet und darauf spricht Achill noch einmal. Athene ist nur für Achill sichtbar, obwohl andere Personen anwesend sind. In der Aeneis spricht Venus zu Aeneas, er spricht nicht.1125 Venus ist mit Aeneas allein. − Auflösung der Situation In der Ilias entscheidet Achill sich mit der Aussicht auf späteren, um so größeren Lohn, der Göttin zu gehorchen; sein Zorn ist nicht vorbei (Il. 1,224: καὶ οὔ πω λῆγε χόλοιο), aber er sieht von Gewalt ab und verlegt sich aufs Schimpfen. In der Aeneis mit Helena-Szene denkt Aeneas wie Achill über künftigen Ruhm nach. Als Venus ihm Einsicht in das Göttergeschehen gibt, begibt er sich nach Hause, ohne dass Helena oder sein Zorn auf sie noch einmal erwähnt würden.

Unterschiede bestehen nicht nur in der Art und Weise, wie die beiden Gottheiten jeweils mit den menschlichen Protagonisten interagieren, sondern vor allem auch in der jeweiligen Motivation ihres Rachebedürfnisses. Achills Zorn ist persönlich: Er will sich in eigener Sache für einen erlittenen Ehrverlust rächen, und zwar 1124 Hier ist die unzutreffende Erklärung von prehensum continuit, vgl. 11.2.3, vorausgesetzt. 1125 Vgl. Kühn 1971, 30, im Kontext der Begegnung in 1,314–417: »Die Initiative zum Gespräch geht vom Gott aus; kein Mensch wird in der Aeneis je zuerst den Gott ansprechen, auch den verwandelten nicht.«

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direkt an der Person, die ihm diesen Ehrverlust zugefügt hat. Der Aeneas der Helena-Szene hingegen macht sich anheischig, für ein überpersönliches Ereignis – Troias Niederlage – nicht nur im eigenen Namen, sondern auch im Namen der übrigen Troianer an einer Einzelperson – Helena – Rache zu nehmen. Mit Helena als derjenigen Person, an der Aeneas diese Rache vollziehen will, ist ein für Menelaos überliefertes Motiv, nämlich die (letztlich nicht zur Ausführung gelangende) Absicht, Helena zu töten, auf Aeneas übertragen. Wie bei Achill ist auch bei Menelaos das Rachebedürfnis ein persönliches; es gilt der Frau, die ihn für einen anderen verlassen hat. Die Vorstellung, dass in den jeweiligen Zusammenhängen die Ehre des Achill respektive des Menelaos durch den Tod des Agamemnon respektive der Helena wiederhergestellt wäre, hat eine gewisse Kohärenz, wenn man entsprechende kulturelle Konzepte voraussetzt. Bei Aeneas hingegen wird die Tötungsabsicht ausdrücklich und ein wenig umständlich motiviert: Aeneas’ Überlegung dazu nimmt fast fünf Verse ein (*2,583b–587) und bildet den zweiten Teil seines Monologs. Die hier entwickelte Argumentation wird für uns dadurch verunklart, dass in *2,587 das von den Servius-Handschriften überlieferte famam nicht zu passen scheint; die späteren Handschriften haben an der Stelle famae oder flammae. Jedenfalls läuft Aeneas’ Überlegung in etwa darauf hinaus, dass mit der Strafe, die an einer Frau vollzogen wird (feminea in poena), eigentlich kein Ruhm zu gewinnen sei, ihm aber in diesem Fall die Bestrafung – als Auslöschung eines Unrechts (exstinxisse nefas)1126 und als Genugtuung für den Tod der Seinen (cineres satiasse meorum) – doch positiv angerechnet werden würde. Aus der persönlichen Rache (des Achill und des Menelaos) wird also bei dem Aeneas der Helena-Szene ein überpersönliches Vergeltungsbedürfnis, das sich an einem gesellschaftlichen Konsens über Gerechtigkeit und Strafe zu orientieren scheint (wie auch immer dieser genau geartet sein mag). Der Umstand, dass Aeneas in der Helena-Szene monologisierend Überlegungen über die ethischen Implikationen seiner Rache anstellt, ist auffällig und scheint ein Bewusstsein dafür widerzuspiegeln, dass diese einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Man kann ein solches Bewusstsein dem Protagonisten der Aeneis wohl zuschreiben, wenn auch die Artikulation desselben im Epos singulär wäre. Sehr gut vorstellbar ist aber vor allem, wie der Verfasser der Helena-Szene (wer auch immer es war) die aus den beobachteten Unterschieden zum homerischen Prätext resultierende Schräglage zwischen ›Modell‹ und ›Imitation‹ in dem bewussten Monolog des Aeneas auszugleichen versucht und dabei die genannte Singularität entweder nicht bemerkt oder in Kauf nimmt.

1126 Die auf Helena bezogene persönliche Deutung von nefas als ›Gräuel‹ oder ›Scheusal‹ ist verbreitet, aber sie passt nicht zu der abstrakt gehaltenen Formulierung des Arguments (vgl. inbesondere: feminea in poena 2,584).

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Hingegen fällt ohne Helena-Szene die Übernahme des Motivs der verhinderten Rache weg und damit auch das Räsonnement des Helden über deren Angemessenheit. Die Übereinstimmung mit dem besagten homerischen Prätext beschränkt sich darauf, dass eine Göttin mit ihrem Erscheinen auf die emotionale Verfassung des Helden reagiert. Dabei besteht ein wesentlicher Unterschied darin, dass es sich bei der intervenierenden Göttin im Fall der Aeneis um die Mutter des Helden handelt, die dieser in seiner rückblickenden Erzählung als alma parens (2,591) bezeichnet, während es von Athene heißt, dass sie dem Achill als »furchtbar dreinblickend« (δεινὼ δέ οἱ ὄσσε φάανθεν Il. 1,200) erscheint. Tatsächlich ähnelt Venus in ihrem Auftreten eher der Thetis, wie sie sich in Il. 1,357b–363 ihrem Sohn zuwendet, als er im Zorn weinend nach ihr ruft (Il. 1,348b–357a): Wie Thetis den Achill fasst Venus Aeneas bei der Hand1127 und beginnt mit der Verwandtschaftsbezeichnung als Anrede (τέκνον – nate). Im weiteren Verlauf aber folgt unsere Szene auch diesem homerischen Prätext nicht weiter, insofern Venus ihren Sohn nicht auffordert zu erzählen, was ihn bedrückt. Sie weiß nämlich, wie es um Aeneas steht. Seine aktuelle Situation und Verfassung sind der Anlass für ihr Erscheinen. Anders als Thetis wird sie ja auch nicht von ihrem Sohn herbeigerufen, sondern kommt von sich aus, weil sie merkt, dass er sie braucht. Entsprechend sind ihre einleitenden Worte nicht als echte Fragen zu verstehen, sondern als rhetorische Fragen respektive als teilnehmende Ausrufe. Venus wendet sich tröstend an Aeneas, den in diesem Moment der Schmerz übermannt.1128 Der Anblick des toten Königs hat ihm bewusst gemacht, dass Troia verloren ist. Er muss erkennen, dass sein Kampf in den letzten zehn Jahren und in dieser Nacht vergeblich gewesen ist. Außerdem befürchtet er, dass seine Familie in Feindeshand gefallen sei (2,559–563), und er hat gerade festgestellt, dass er der letzte überlebende Kämpfer auf dem Palastdach ist (2,564–566). Aeneas ist am tiefsten Punkt der Verzweiflung angelangt, als seine Mutter ihm erscheint. Das zentrale Wort (und Subjekt) des Satzes, mit dem sie sich – als alma parens (2,591) – an ihn wendet, ist dolor; dieser bewirkt das excitare der irae und auch das furere1129 bei Aeneas. In diesem Kontext beschreiben die Ausdrücke indomitas iras (2,594) und furis (2,595) seine emotionale Reaktion darauf, dass er sich seiner verzweifelten Lage bewusst wird. Es handelt sich dabei um Emotionen, die kein konkretes direktes Objekt (wie Helena eines wäre) haben und auch keines brauchen:

1127 Hierzu siehe auch 11.2.3. 1128 Zur geschilderten Situation siehe 9.2.8. 1129 Siehe hierzu die Einordnung von furis 2,595 in TLL, vol. VI, I, fasc. VIII, 1624, unter »B latiore sensu i. q. affectibus nimis concitatis quasi insanire, nimis efferri«, Z. 39: »ira, iracundia, rabie, luctu, dolore concitari, permoveri«.

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Krisis ohne Helena und Hilfe durch Venus

›nate, quis indomitas tantus dolor excitat iras? 2,594 quid furis? aut quonam nostri tibi cura recessit? 2,595 ›Mein Sohn, was für ein gar großer Kummer erweckt in dir unbändigen Zorn, was bist du wütend, hast Du denn vergessen, dass ich doch auch noch da bin?1130

Die aus der Interpretationstradition der Helena-Szene stammende Vorstellung, dass Venus ihrem Sohn wegen seines Schmerzes (seiner ›Affekte‹) Vorwürfe mache, ist nicht nur angesichts der Situation, in der er sich befindet, unangemessen. Sie passt auch nicht zur Venus der Aeneis: Wenn diese nämlich dolor bei Aeneas feststellt, so ist das für sie jedes Mal ein Anlass, in das Geschehen einzugreifen, um denselben zu lindern. Außer hier auf dem Palastdach in Troia ist das auch bei der Begegnung im Wald von Karthago der Fall, als sie es nicht länger erträgt, den Schmerz ihres Sohnes über den vermeintlichen Verlust eines Teils seiner Flotte mitanzusehen (nec plura querentem | passa Venus medio sic interfata dolore est 1,385 f.), sowie im Rahmen der letzten großen Schlacht der Aeneis, als Aeneas nach einer Verletzung physischen Schmerz empfindet (hic Venus indigno nati concussi dolore ǀ dictamnum genetrix Cretaea carpit ab Ida 12,411). Venus erscheint als Mutter des Helden, die sich um ihn sorgt, nicht als vorwurfsvolle Stoikerin, die ihn für seine Empfindungen tadelt.

11.3 Venus in der Aeneis Ganz gleich, wer die Helena-Szene wann geschrieben hat: Der Text des zweiten Buches der Aeneis ist ohne sie vollständig und kohärent. Jedoch führt die Konzentration der Interpreten auf den zusätzlichen Textabschnitt und seine Überlieferung dazu, dass der folgerichtige Aufbau der Erzählung, die mit der Krise des Helden auf dem Dach des Priamus-Palastes einen ihrer Höhepunkte erreicht, verkannt wird. In der Logik des erzählten Geschehen ist die Erscheinung der Venus durch die Lage ihres Sohnes in 2,559–566 hinreichend motiviert: Die göttliche Mutter des Helden hilft ihm zu einem Zeitpunkt, da er allein nicht mehr weiter weiß. Hier würde die Rache-Phantasie der Helena-Szene von seiner verzweifelten Situation ablenken und dadurch die sinnvolle Abfolge der Erzählung stören: Auf dem Dach des erstürmten Palastes stehend hat Aeneas beim Anblick des toten Priamus eine Horrorvision, die ihm, entspräche sie der Wirklichkeit, jeden Grund nähme, nach Hause zu streben. Außerdem befindet er sich in einer ausweglosen strategischen Position: Wann, wenn nicht jetzt, soll Venus zur Rettung ihres Sohnes erscheinen? Sie kommt und hilft ihm genau damit, was er zu diesem Zeitpunkt braucht: Als erstes nimmt sie ihm seine schlimmste Befürchtung (2,560b–563), indem sie ihm versichert, dass seine Familie noch unversehrt ist (2,596–600), dann gibt sie ihm einen übergeordneten Einblick in das 1130 Zu dieser Übersetzung von aut quonam nostri tibi cura recessit? siehe Anm. 727.

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Geschehen in Troia, um ihn zur Aufgabe und zur Flucht zu bewegen (2,601–619), und schließlich sagt sie ihm zu, dass er sicher nach Hause gelangen werde (2,620). Das Motiv der ›Hilfe durch die Mutter‹ ist in der Aeneis so umgesetzt, dass es die Selbständigkeit des Aeneas möglichst wenig beeinträchtigt. Wie es in dieser Hinsicht den erzähllogischen Erfordernissen der vergilischen Aeneas-Gestalt angepasst ist, kann der Vergleich mit einem extremen Gegenbeispiel verdeutlichen. In Triphiodors Ἰλίου ἅλωσις werden Aineias und Anchises genau ein Mal erwähnt:1131 Αἰνείαν δ’ ἔκλεψε καὶ Ἀγχίσην Ἀφροδίτη Triph. 651 οἰκτείρουσα γέροντα καὶ υἱέα, τῆλε δὲ πάτρης Triph. 652 Αὐσονίην ἀπένασσε· θεῶν δ’ ἐτελείετο βουλὴ Triph. 653 Ζηνὸς ἐπαινήσαντος, ἵνα κράτος ἄφθιτον εἴη Triph. 654 παισὶ καὶ υἱωνοῖσιν ἀρηιφίλης Ἀφροδίτης. Triph. 655 Aineias und Anchises aber brachte Aphrodite verstohlen in Sicherheit, denn sie erbarmte sich des Greises und seines Sohnes. Fern der Heimat schenkte sie ihnen in Ausonien eine neue Heimstatt. Mit Billigung des Zeus erfüllte sich der Ratschluß der Götter, auf daß den Kindern und Kindeskindern der von Ares geliebten Aphrodite unvergängliche Macht verliehen sei.1132 (U. Dubielzig)

Der Themenstellung des Gedichts entsprechend kommt Aineias’ Schicksal als ein untergeordneter Aspekt zur Sprache. Dabei sind die Rettung aus der umkämpften Stadt und die Ansiedlung in der neuen Heimat in einer Weise erwähnt, dass sie gänzlich durch die Mutter eingefädelt und durch sie ausgeführt erscheinen. Innerhalb der Ἰλίου ἅλωσις, wo mehrfach einzelne Götter direkt in das Geschehen eingreifen, stellt die aktive Rolle der Aphrodite keine Besonderheit dar.1133 Jedoch fällt auf, dass Aineias gar nicht als handelnder Akteur in Erscheinung tritt, sondern nur als Objekt des Handelns seiner Mutter. Eine solche Passivität des Aineias bei Triphiodor steht in starkem Kontrast zum vergilischen Helden 1131 Zur Ἰλίου ἅλωσις des Triphiodor im Vergleich mit Aeneis 2 siehe auch 7.5. 1132 Text und Übersetzung: Dubielzig 1996, 120–123. 1133 Athene hilft Odysseus, indem sie seine Stimme für seine Rede ›mit Honig bestreicht‹ (Triph. 111–114), und sie hilft, das Pferd in die Stadt zu ziehen (Triph. 331b–335); Hera reißt den Torflügel des Dardanischen Tores ein, um dem Pferd die Durchfahrt zu ermöglichen (Triph. 337–338a); Poseidon stößt den Pfosten beiseite (Triph. 338b–339); Pallas spricht zu Helene (Triph. 488–496); Poseidon hilft, die Überfahrt der Griechen von Tenedos nach Troia zu beschleunigen (Triph. 527b–529). Fast alle göttlichen Eingriffe befördern die Einnahme Troias und also die Sache der Griechen, indem sie einzelne Handlungen der Menschen beschleunigen oder vereinfachen. Die einzige Ausnahme hierzu bildet Aphrodite: In der Absicht, die Troianer auf die im Pferd versteckten Griechen aufmerksam zu machen, erscheint sie Helene und sagt ihr, dass Menelaos sich zusammen mit anderen Griechen im hölzernen Pferd befindet (Triph. 454–462). Daraufhin begibt Helene sich zum Pferd in das Athene-Heiligtum und ruft dort die Namen der Ehefrauen der im Pferd befindlichen Krieger, bis Athene sie vertreibt, ihr droht und ihr aufträgt, von ihrem Fenster aus den bei Tenedos wartenden Griechen Leuchtzeichen zu geben (Triph. 487–499).

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Aeneas, der tapfer für Troia kämpft, bis er schließlich durch Venus vom Kampf dispensiert wird. Der langwierigen, gefahrvollen und entbehrungsreichen Suche nach der neuen Heimat, die in Aeneis 3 ausführlich aus der Sicht des Helden dargestellt ist, steht bei Triphiodor die knappe Nachricht über die Zuteilung Ausoniens durch Aphrodite gegenüber: τῆλε δὲ πάτρης | Αὐσονίην ἀπένασσε (Triph. 652 f. ). Hinzu kommt, dass bei Triphiodor die überlebenden Troianer, von denen es in seiner Version der Iliupersis insgesamt kaum welche gibt, unschmeichelhaft mit Dieben verglichen werden: Innerhalb des Katalogs von unterschiedlichen Todesarten der Troianer (Triph. 574–612) heißt es: παῦροι δὲ στεινῆς διὰ κοιλάδος, οἷά τε φῶρες Triph. 590 πατρίδος ὀλλυμένης ἔλαθον χειμῶνα φυγόντες. Triph. 591 Nur wenigen gelang es, dem Sturme, in dem ihre Vaterstadt unterging, wie Diebe unbemerkt durch ein enges Schlupfloch in der Mauer zu entrinnen.1134 (U. Dubielzig)

Zwar werden Aineias und Anchises durch die später im Text erfolgende Bemerkung über Aphrodites Eingreifen und den Ratschluss der Götter (s. o.) aus dem Kreis der ›Diebe‹ gewissermaßen ausgenommen, eine besonders heldenhafte Rolle fällt ihnen dadurch aber auch nicht zu. Jedenfalls gibt der Aineias, der in Triphiodors Ἰλίου ἅλωσις geschildert ist, keinen allzu markanten Ahnherrn ab, weder für die Römer im Allgemeinen noch für die Iulier im Besonderen. In der Aeneis hingegen, wo Aeneas von Anfang an als Vorfahr der Römer vorgestellt wird (1,1–11a; 33), musste die Hilfe durch Venus in einer Weise eingesetzt werden, die ihn weder als Deserteur noch als bloße Marionette (sei es des fatum oder seiner Mutter) erscheinen lässt. Folglich ist das göttliche Eingreifen in einer Weise gestaltet, die es dem Helden erlaubt, Tapferkeit zu beweisen und eigene Entscheidungen zu treffen. Daher erscheint Venus ihrem Sohn in Aeneis 2 nicht etwa, bevor dieser sich in den Kampf stürzt, um ihn gänzlich davon abzuhalten, sondern erst, als die Eroberung Troias mit der Erstürmung der Burg (arx) und des Königspalastes (domus Priami) vollendet ist und er sich in der ausweglosen Situation auf dem Palastdach befindet. In der Schilderung dieser Szene wiederum liegt das Hauptaugenmerk darauf, dass Venus Aeneas mithilfe der Götterschau die Einsicht vermittelt, dass Troias Schicksal besiegelt ist. Ihre konkrete, die äußere Handlung betreffende, göttliche Hilfe, die darin besteht, dass er unversehrt vom Palastdach zu seiner Familie gelangt, die er dank ihrem Schutz ebenfalls noch unversehrt vorfindet, tritt in der Erzählung dahinter zurück. Auch wird die konkrete Hilfe, die in übernatürlichem Wirken der Venus besteht, in ihrer Ausführung nicht in direkter Handlungsschilderung benannt. Aeneas erzählt nicht: ›Meine Mutter wehrte die Geschosse der Feinde und die Flammen von mir ab und geleitete mich nach Hause. Dort traf ich meine Familie wohlbehalten an, weil sie von meiner Mutter beschützt worden war.‹ Statt 1134 Text und Übersetzung: Dubielzig 1996, 114 f.

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dessen steht das, was Venus für Aeneas bewirkt, in ihrer Figurenrede: dass sie die Familie zu Hause beschützt (2,598b–600) und dass sie verspricht, Aeneas auf dem Weg nach Hause nicht von der Seite zu weichen und ihn sicher auf der Schwelle seines Vaterhauses abzusetzen (nusquam abero et tutum patrio te limine sistam 2,620). Daraus, dass Venus direkt nach diesem Satz wieder im Schatten der Nacht verschwindet (2,621), geht hervor, dass man sich darunter (trotz der persönlichen und konkreten Formulierung dieser Ankündigung) keine persönliche Begleitung vorzustellen hat. Entsprechend ist im Erzählertext von »göttlicher Lenkung« (ducente deo 2,632) die Rede und davon, dass die Geschosse der Feinde den Weg freigeben und die Flammen zurückweichen (dant tela locum flammaeque recedunt 2,633b): Göttliches Wirken sorgt dafür, dass unbelebte Dinge (Geschosse, Flammen) Aeneas’ Weg nicht behindern. Durch die unpersönlichen Formulierungen wird vermieden, dass konkrete Handlungen einer Gottheit direkt aus der Perspektive des personalen menschlichen Erzählers benannt werden.1135 Wenn die übernatürliche Hilfe der Venus nicht direkt geschildert ist, so trägt dies auch dazu bei, dass die Möglichkeiten von Venus als Helferfigur vage bleiben. Eine gewisse Verunklarung ist hier deshalb geboten, weil sich in Hinblick auf den weiteren Verlauf der Geschichte die Frage erhebt, warum dieselbe Art von Hilfe, die Venus Aeneas auf seinem Weg vom Palastdach nach Hause gewährt, ihm und den Seinen etwas später, als sie aus Troia fliehen, nicht zuteil zu werden scheint, und wie es passieren kann, dass Creusa auf dem Weg verloren geht. Der entrückten Creusa selbst ist die Erklärung in den Mund gelegt, dass »die große Mutter der Götter« (magna deum genetrix 2,788) sie, »die Troianerin und Schwiegertochter der göttlichen Venus« (Dardanis et divae Veneris nurus 2,787), in »diesem Land« (his oris 2,788) zurückhalte – eine Erklärung, die eigentlich mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet.1136 Genau darin aber liegt 1135 Insbesondere ist ducente deo (2,632 »göttlich gelenkt«) gegenüber dem von einigen erwarteten ducente dea (»von meiner Mutter geleitet«) auch der unbestimmtere und neutralere Ausdruck, der besser zu der Zurückhaltung passt, mit der Aeneas über Göttliches spricht. Das Genus von deo in ducente deo wird bereits im Serviuskommentar diskutiert, der die Ansicht referiert, Götter seien utriusque generis; Servius ad Aen. 2,632 (Ed. Thilo / Hagen, vol. 1, 311 f.). Zu ducente deo siehe Casali 2017, 294 f. Für eine (über Naevius auf Stesichoros verweisende) Identifikation des deus in 2,632 mit Hermes: Scafoglio 2011. 1136 Vgl. Horsfall 2008, 542 ad 2,788: »Heinze, 58 f. (with n.) and Lundström, 29, indulge in learned speculation about the sort of status that Cr. will enjoy among the goddess’s handmaidens or assistants, but V. is careful to discourage the reader from filling in this sort of detail.«; Gall 1993, 53: »Es scheint so, als sei Vergil geradezu darauf aus, den Leser im Ungewissen zu lassen.«; 95: »Vergil erspart Creusa das Los der Gefangenschaft; welches Schicksal ihr aber stattdessen beschert ist, bleibt auf seltsame Weise unklar und widersprüchlich. (…) Wichtiger aber ist, daß Vergil offensichtlich kaum Wert darauf gelegt hat, ihr Geschick eindeutig zu machen. (…) In ihrer Erscheinungsform, die zwischen Tod und Vergöttlichung in der Schwebe bleibt, kann Creusa mit hoher

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ihre narrative Funktion: Den göttlichen Interventionen wird in der Andeutung, dass die orientalische Muttergottheit Cybele Creusa nicht aus ihrem Hoheits­ gebiet entlässt, eine nicht weiter zu hinterfragende Unbestimmtheit verliehen. Die Erwähnung der Venus in diesem Zusammenhang deutet deren Beteiligung oder Einverständnis an dem übernatürlichen Geschehen an, ohne jedoch detailliert darauf einzugehen. Auch später, auf dem langen Weg nach Italien und während der schwierigen Entwicklungen dort, könnte Venus’ Hilfe für Aeneas und die Seinen nützlich sein. Aber wenn ihr Einfluss und ihre Macht als uneingeschränkt zu denken wären und sie beständig über ihren Sohn wachte, ergäbe sich daraus ein Aeneas, der mit Hilfe seiner Mutter alles mühelos erreichte. So ein Protagonist wäre nur bedingt heldenhaft und vor allem auch eine wenig interessante Figur: Die Erzählung seiner Abenteuer wäre nicht besonders spannend. Deshalb wird das Motiv der ›Hilfe durch die Mutter‹ nur sparsam und situativ eingesetzt. Gleichzeitig werden genaue Angaben darüber, wieweit Venus’ Einfluss reicht und was sie für ihn zu tun vermag, vermieden. Die in der Erzählung vorausgehende, aber in der Chronologie der Geschichte nächste persönliche Begegnung von Venus und Aeneas, die sich nach dem Schiffbruch bei Karthago ereignet, erhält Unbestimmtheit dadurch, dass Venus nicht als sie selbst, sondern in der Gestalt einer tyrischen Jägerin erscheint (1,314–417).1137 Ihre Hilfe besteht wieder darin, dass sie ihm Zuversicht spendet und Wissen vermittelt: Venus erklärt Aeneas, dass die meisten seiner Schiffe entgegen seiner Erwartung wohlbehalten gelandet sind. Darüberhinaus erfährt er von ihr, was er über die Gegend, in die er vom Sturm getrieben wurde, und über Dido wissen muss, um als Gastfreund auftreten zu können und nicht für einen Feind gehalten zu werden. Weil Venus hier nicht als sie selbst auftritt, sondern als tyrische Jägerin, und weil sie sich ihrem Sohn erst im Entschwinden zu erkennen gibt, entsteht aus der epistemischen Differenz zwischen Venus und Rezipienten einerseits und Aeneas andererseits eine gewisse Komik, die nach der unheilvollen Einführung des Helden mitten im Seesturm entlastend wirkt.1138 Dabei wird die Verstellung der Venus im Text nicht eigens begründet und die Interpreten erklären sie unterschiedlich. Hier ist die Erklärung auf der Handlungsebene innerhalb des fiktionalen Geschehens von Erklärungen auf der Darstellungsebene zu trennen.1139 Autorität und in einer nicht zu sehr von der Trauer des Verlustes überschatteten letzten Hinwendung zu Aeneas seine glückliche Zukunft verkünden«. 1137 Zu dieser Begegung in ihrem intratextuellen Bezug zur Epiphanie der Venus auf dem Palastdach siehe 11.2.3. 1138 Vgl. Fuhrer 2008, 236, Anm. 41 (≈ Fuhrer 2010, 78, n. 41). 1139 Harrison 1973, 20 f. beschreibt folgenden produktionsästhetischen Prozess, der von der innerfiktionalen Notwendigkeit der Verstellung ausgeht: »I have suggested that Virgil disguised Venus in the first place as an elementary precaution from Juno, and that he

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Offensichtlich entsteht durch Venus’ Charade eine Situation mit vielschichtigen erzählerischen Möglichkeiten. Darüber darf jedoch nicht übersehen werden, dass sie innerhalb der Fiktion schlüssig damit zu erklären ist, dass Venus ihrem Sohn den Plan, mit dem sie Juno auszutricksen beabsichtigt, schlecht offenlegen kann. Sie müsste ihm ja dann explizit nahelegen, eine Affäre mit Dido anzufangen, um sich deren Gastfreundschaft zu sichern.1140 Wenn sie aber nicht als sie selbst, sondern als jemand anderes erscheint, kann sie ihn auf die Bekanntschaft mit Dido vorbereiten, ohne ihn in ihre wahren Beweggründe einweihen zu müssen. Indem sie sich nur kurz im Entschwinden zu erkennen gibt, beglaubigt sie die Informationen, die sie ihm gegeben hat, so dass er diese gleich richtig einzuordnen weiß und sie nicht einer Zufallsbekanntschaft zuschreibt, der er sonst in dem Moment, da er erkennt, dass die Angaben über seine Schiffe zutreffen, einen übernatürlichen Status zuerkennen müsste. So kann Aeneas am Ende dieser Begegnung zwar sicher sein, dass seine Mutter um seine schwierige Lage nach dem Seesturm weiß und dass sie irgendwie über ihn wacht, aber er bleibt im Unklaren darüber, ob sie etwas unternimmt und was genau. In 1,407–409 verleiht er seinem Missfallen über die Unsicherheit, in die sie ihn versetzt, Ausdruck. Venus’ Verleugnung der eigenen Identität bewirkt aber nicht nur auf der Handlungsebene beim Protagonisten, sondern zugleich bei den Rezipienten der Erzählung eine Verunsicherung über ihre Rolle in der erzählten Geschichte.1141 Weil diese Begegnung von Venus und Aeneas in der Reihenfolge der Erzählung die erste ist, prägt sie die Vorstellung der Rezipienten. Venus bleibt so als Helwent on from there to exploit the disguise to the full with the Dido tragedy in mind. First, he saw in the form of the disguise an opportunity for introducing the vital motif of the hunt symbolism; next he chose to make the disguise incomplete in order to bring to its climax the emotional isolation of Aeneas; and, finally, he chose a booted rather than a sandalled figure for Venus’ disguise because this allowed him to introduce  a tragic prologue with an ingenious combination of word-placing and dress-symbolism.« Wenn Harrison 1973,14 die Verstellung auf der Handlungsebene damit erklärt, dass Venus im Hoheitsgebiet ihrer Widersacherin Juno Vorsicht walten lassen müsse (»It is scarcely surprising, then, that Venus takes the elementary precaution of disguising herself before venturing to trespass on such a deity’s preserve«, 14) fehlt dafür, dass eine Göttin sich vor einer anderen Göttin verstellen könnte (und das auch nur wollte), der Beleg. 1140 Dies würde implizieren, dass Aeneas Anteil an Venus’ Intrige hätte, und dass er Dido von Anfang an unaufrichtig gegenüber träte. 1141 Mit anderer Gewichtung konstatiert Gutting 2008 in der Aeneis eine Spannung zwischen Venus als Mutter und Venus als erotischer Liebesgöttin. Er setzt allerdings unreflektiert eine bestimmte (eher moderne) Vorstellung von Familie voraus, vgl. 41: »In Venus’ first appearance of the Aeneid, her interview with Jupiter at 1.224–296, she plays roles typical for an upper-class-matrona.« Inwiefern ist es typisch für eine matrona, die Sache ihres Sohnes vor ihrem eigenen Vater zu vertreten? Überhaupt ist es missverständlich, Venus in diesem Kontext ohne weitere Erklärung als matrona zu bezeichnen, weil sie ja gerade nicht mit dem Vater des Aeneas, sondern mit Vulcanus verheiratet ist.

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ferfigur hinreichend vage, um Aeneas als eigenständig handelnde Figur nicht einzuschränken. Dazu passt umgekehrt, dass die Verstellung der Venus auch dazu dient, das Selbstbewusstsein der Figur des Aeneas zu konturieren, indem die sich aus der Rolle als Unbekannte folgerichtig ergebende, an Aeneas und Achates gerichtete Frage, wer sie seien, eine Selbst-Identifikation des Helden relativ früh im Epos ermöglicht.1142 Außerdem hilft sie, den Rezipienten zu verdeutlichen, an welchem Punkt der Geschichte die Handlung des Epos einsetzt.1143 Überdies erfahren sie hier auch, dass Aeneas zum diesem Zeitpunkt sein Ziel bereits kennt (Italiam quaero patriam 2,380), und erhalten damit eine Information über seinen aktuellen Wissensstand, seine Bestimmung betreffend. Mit fortschreitender Lektüre werden sie in Aeneis 2–3 aus seinem eigenen Munde erfahren, wie er zu diesem Punkt gelangt ist. Der Umstand, dass Venus hier nicht als sie selbst erscheint, dient aber noch einem weiteren Zweck, nämlich die Figur in ihrer speziellen Rolle als Mutter des Aeneas in der Aeneis und damit als Stamm-Mutter der Römer (Venus Genetrix) in das Epos einzuführen. Das sich bei der Nennung der Venus sonst spontan 1142 Vgl. Thome 1986, 66. Zu sum pius Aeneas siehe auch: 4.2. 1143 Fuhrer 2008, 229 (≈ Fuhrer 2010, 71) erwägt, darin den ›perlokutionären Effekt‹ der Sprechhandlung des Aeneas zu sehen, die auf der Figurenebene misslinge: »Aeneas wählt das falsche rhetorische Ziel und damit die falsche illokutionäre Rolle für seine Rede, die rhetorische Handlung misslingt. Man könnte höchstens sagen, dass Aeneas’ Vorstellungsrede einen perlokutionären Effekt hat, indem sie den Leser / die Leserin über die gegenwärtige Situation der Trojaner informiert; dies entspricht jedoch nicht der von Aeneas intendierten Wirkung der Rede. Venus hat zwar mit ihren Reden ihr Ziel, die Instruktion des Sohnes, erreicht, aber sie hat ihn durch ihre Maskerade falsche rhetorische Ziele setzen und falsch handeln lassen.« Aber hier ist der ›erzählte Sprechakt‹ vom ›Sprechakt der Erzählung‹ zu trennen: Dass Aeneas’ Figurenrede dazu dient, das Lesepublikum der Aeneis darüber zu informieren, an welchem Punkt der Geschichte die Erzählung der Aeneis einsetzt, ist perlokutionärer Effekt des ›Erzählaktes‹ (der Sprechhandlung des Erzählens). Was nun aber die Wirkung der Figurenrede in der ›erzählten Sprechhandlung‹ betrifft: Insofern Venus die Äußerung ihres Sohnes als Klage versteht und sich darum bemüht, sein Leid zu lindern, gelingt seine Sprechhandlung durchaus, und zwar trotz Venus’ Verstellung: Die erzählte Kommunikationssituation wird dadurch bestimmt, dass Venus sich ihrem Sohn nicht zu erkennen gibt, sondern sich ihm in Gestalt einer tyrischen Jägerin nähert, so dass sie Diana ähnlicher sieht als sich selbst. In seiner Selbstvorstellung in 1,372–385a will Aeneas sich gegenüber der vermeintlichen Fremden, von der er (richtig) annimmt, dass es sich um eine Göttin handelt, als jemand identifizieren, der ein angemessenes Verhältnis zum Göttlichen hat (sum pius Aeneas 1,378 etc.) und dem es dennoch (unverdientermaßen) schlecht geht (ipse ignotus, egens, Libyae deserta peragro ǀ Europa atque Asia pulsus 1,384–385a). Venus täuscht in ihrer Reaktion auf Aeneas’ Äußerung zwar falsche extralinguistische Bedingungen vor, indem sie ihre Verstellung aufrechterhält. Die Perlokution von Aeneas’ Äußerung aber besteht darin, dass Venus den Schmerz ihres Sohnes lindern möchte und dies auch tut, indem sie ihm zu verstehen gibt, dass fast alle seiner Schiffe – anders als er annimmt – wohlbehalten gelandet sind (1,395b–401).

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einstellende, übliche Bild von der Göttin der erotischen Liebe, ihrer Aura und Wirkung (auf Aeneas und Achates, aber auch auf die Rezipienten) wird dadurch überblendet.1144 Hierzu dient insbesondere die Erwähnung von Venus’ Bekleidung in ihrer Verkleidung als Jägerin. Das zuweilen begegnende Interpretament, dass Venus’ Auftreten an dieser Stelle eine betont erotische Komponente habe,1145 geht, vor allem was die Kleidung betrifft, von falschen Voraussetzungen aus. Wenn Venus hier ein kniefreies Gewand trägt, ist sie nämlich deutlich zurückhaltender gekleidet als sonst: In der griechisch-römischen Bildkunst, deren ikonographische Konventionen bei den primären Rezipienten der Aeneis als dominant vorauszusetzen sind, erscheint Aphrodite / Venus nämlich entweder in einem langen, aber körperbetonten Gewand oder, seit Praxiteles, sehr häufig auch nackt.1146 In der hellenistischen und römischen Kunst ist Nacktheit ihr Erkennungszeichen, das sie von Hera / Juno, Athene / Minerva, Artemis / Diana und anderen mythischen Damen (sowie den meisten allegorischen Figuren) unterscheidet, insofern jene in der Regel bekleidet dargestellt sind. Wenn also im Text eigens erwähnt wird, dass Venus im Rahmen ihrer Verstellung ihr Gewand über die Knie hochgerafft hat (nuda genu nodoque sinus collecta fluentis 1,320), so geschieht dies, um deutlich zu machen, dass sie ihrem Sohn weder nackt noch in einem lasziven langen Gewand gegenübertritt, sondern im Stil der gleichermaßen zweckmäßig (für die Jagd)  wie dezent gekleideten Diana,

1144 Vgl. de La Ville de Mirmont 1894, 641: »C’est, on le sait, l’habitude des divinités grecques d’apparaître aux mortels sous une forme empruntée. {Heyne, Excursus XIII ad librum I Aeneidos} Athéné, qui veut guider Ulysse, se manifeste à lui avec l’aspect d’un jeune berger {Od. 13,221} ou d’une jeune fille {Od. 7,19}. Héra se montre à Jason, pour éprouver ses bonnes dispositions, sous les traits d’ une vieille femme infirme. Mais Virgile a, semble-t-il, une intention quand il fait apparaître à Énée Vénus semblable à la chaste Diane: la mère du pius Aeneas commetrait une sorte d’inconvenance en se montrant à son fils sous les traits de la déesse lascive de Cypre ou de Cythère, telle que les humains se la représentent.« Auch auf dem Palastdach in Troia erscheint sie nicht so, wie die Menschen sie abbilden, sondern so, wie die anderen Götter sie sehen: »Le péril est pressant: la déesse n’a pas pris le soin de revêtir un de ces déguisements dont les dieux ont l’habitude, quand ils veulent conseiller les mortels. La mère s’est hâtée de se montrer, telle qu’elle apparaît aux Olympiens, pour que son fils n’ait aucune raison de douter de sa vraie personnalité«, (638). Harrison 1973 hält die Annahme, dass ein Aufeinandertreffen zwischen einer nackten Venus und ihrem erwachsenen Sohn vermieden werden soll, für unzutreffend: »His idea is that Virgil disguised Venus for modesty’s sake; it would have been inappropriate for the lascivious goddess of Cyprus, as he calls her, to reveal herself to her son in the voluptuous nudity with which people tend to associate her«; 12; »the notion that Virgil disguised Venus to spare Aeneas’ blushes is surely untenable«, 13. 1145 Zum Beispiel bei Harrison 1973; Reckford 1995; Gutting 2008, zur Kleidung inbes.: 20, unter Verweis auf Heuzé 1985, 329–331; Gladhill 2012; Oliensis 2019, 438. 1146 Vgl. T. Hölscher, Klassische Archäologie. Grundwissen, Darmstadt 2002, 321.

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was ja auch bewirkt, dass dieser sie tatsächlich für die eben gerade nicht erotisch konnotierte, eher burschikos1147 auftretende Diana hält: an Phoebi soror? 1,329a. Die Beschreibung von Venus’ Bekleidung bei diesem in der Reihenfolge der Erzählung ersten Treffen mit ihrem Sohn dient dem Zweck, die Vorstellung einer verführerischen Venus im Kontext der Begegnung mit ihrem Sohn zu vermeiden, und zwar programmatisch für alle ihre Begegnungen in der Aeneis. Entsprechend wird auch in der Schilderung ihres Verschwindens, bei dem ihre wahre Gestalt kurz für Aeneas sichtbar wird, ein bis zu den Füßen herabwallendes Gewand erwähnt (pedes vestis defluxit ad imos 1,404b): Sie hat dann zwar ihre wahre Gestalt,1148 um sich zu erkennen zu geben, aber, und das wird dadurch eben auch deutlich gemacht, sie zeigt sich ihrem Sohn auch jetzt nicht nackt.1149 So ist durch das Motiv von Venus’ Verstellung die Begegnung zwischen Mutter und Sohn so unerotisch wie möglich gehalten. Mit neuzeitlichen Rezipienten, die in ihren einsamen Studierstuben bereits durch die Vorstellung von entblößten weiblichen Knien in erotische Spannung versetzt werden (und Aeneas erotische Verwirrung, emotionale Verkrüppelung und einen besonders stark ausgeprägten Ödipuskomplex attestieren),1150 konnte Vergil kaum rechnen, und er hatte sie jedenfalls sicher nicht im Sinn, als er die Aeneis verfasste.1151 1147 Vgl. Fuhrer 2008, 227 (≈ Fuhrer 2010, 69): »Tatsächlich sind sichtbare Knie eher ein Zeichen von Androgynität, während Aphrodite / Venus oft mit langem Gewand dargestellt wird und gerade dadurch erotisch wirkt.« 1148 Hierzu siehe Wlosok 1967, 84 f.; Smith 2005, 28; Fuhrer 2008, 226 f. (≈ Fuhrer 2010, 67). Erotisch fantasierend sieht Reckford 1995, 4 in pedes vestis defluxit ad imos 1,404b eine Doppeldeutigkeit: »It is like a trompe l’œil effect: we may have it both ways. Yes Venus’s robe falls to its full length – what the respectable goddess will wear in public; and yes, too, her clothing slips, or flows down to her feet, leaving her erotically on display.« 1149 Vgl. de La Ville de Mirmont 1894, 642: »Il faut le remarquer, quand elle se manifeste à Énée, ce n’est pas sous la forme d’une déesse nue, comme la Vénus du Capitole, ou d’une déesse à demi-nue, comme la célèbre Vénus de Milo, que la mère du héros troyen se laisse deviner par son fils. Elle apparaît dans le costume de l’Aphrodite Ourania, cette déesse à la physionomie sérieuse, strictement vêtue du long chiton qui descend jusque’aux pieds.« 1150 So Reckford  1995, 23 f. Ähnlich auch: Gladhill  2012. Übrigens: Das Wort sinus in dem Ausdruck nuda genu nodoque sinus collecta fluentis 1,320 (»nackt am Knie und geschnürt mit einem Gürtel am wallenden Gewandbausch«) als Hinweis auf Venus’ Busen zu lesen (Reckford 1995, 20: »I suggest, moreover, that sinus is a slippery word in Latin poetry, and that these particular sinus fluentis indicate not only the folds of Venus’ garment that are gathered up here, but also the characteristic swell of her bosom by which, elsewhere, the goddess is recognized«), ist in etwa ebenso pennälerhaft, wie über den Ausdruck ›Meerbusen‹ zu kichern. 1151 Das Inzest-Tabu war und ist auf der Welt weit verbreitet (es gibt nur wenige, als solche aber klar markierte und die Gültigkeit der Norm bestätigende Ausnahmen wie z. B. dynastischen Inzest, z. B. bei den Pharaonen, allerdings Geschwister betreffend und nicht Eltern und ihre Kinder); hingegen hält das populäre Freudsche Konzept des ›Ödipus-Komplex‹ empirischer Überprüfung nicht stand; vgl. Zimmer 21990, 189–213 (»Der Komplex, den selbst Ödipus nicht hatte: Über Inzestwünsche«).

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Bei der dritten und letzten persönlichen Begegnung zwischen Venus und Aeneas in der Aeneis überreicht die Göttin ihrem Sohn die Waffen (8,608–616), die sie von Vulcanus für ihn hat anfertigen lassen.1152 Hier ist die Begegnung wie auf dem Palastdach offen und direkt: Venus spricht unverstellt (nate 8,613) und umarmt ihren Sohn (amplexus nati Cytherea petivit 8,615).1153 Ihre Hilfe ist allerdings topisch und indirekt: Göttliche Waffen versprechen zwar im Allgemeinen einen Vorteil, aber doch kommt der Held nicht umhin, sich dem Kampf zu stellen und selbst zu kämpfen. Eine mögliche Überlegenheit der Waffen wird auch nicht explizit benannt. Venus erwähnt lediglich, dass ihr Mann Vulcanus sie hergestellt habe, als sie sie Aeneas überreicht und ihn dazu ermuntert, die Laurenter und Turnus bald zum Kampf zu fordern: en perfecta mei promissa coniugis arte 8,612 munera. ne mox aut Laurentis, nate, superbos 8,613 aut acrem dubites in proelia poscere Turnum. 8,614 Hier hast Du Geschenke, die mein Mann angefertigt hat in seiner Kunst, wie er’s versprach.1154 Zögere nicht, mein Sohn, bald die stolzen Laurenter oder den hitzigen Turnus zum Kampf herauszufordern.

An den Begegnungen in Aeneis 1 und 8 wird ersichtlich, dass auch außerhalb der Ich-Erzählung die Wirkung des göttlichen Eingreifens so geschildert ist, dass Aeneas Raum für eigenes Handeln bleibt. Die Hilfe, die Aeneas in der Aeneis von seiner Mutter erhält, ist dergestalt konzipiert, dass ihm dadurch nicht die Arbeit abgenommen wird. Er kann auf die Hilfe seiner Mutter nicht ohne weiteres rechnen und ruft sie z. B. auch nicht herbei,1155 worin er sich von dem weinerlichen Achill der Ilias (Il. 1,348b–357a) unterscheidet.1156 1152 Diese Intervention der Venus ist Aeneas im Voraus angekündigt, und zwar in einer Aussage der Venus gegenüber Aeneas, die lediglich referiert wird: Als bei Euander Waffen als Zeichen am Himmel erscheinen (8,520–529), sagt Aeneas, dass seine Mutter ihm angekündigt habe, dass sie ihn auf solche Weise vor dem Ausbruch eines Krieges warnen und ihm neue Waffen bringen werde (8,530–540). 1153 Hierzu Lyne 1989, 207: »And, instead of eluding her son, she actually seeks his embrace;  a gesture unparalleled in the Aeneid«; eine Parallele liegt allerdings vor in ­dextraque prehensum continuit 2,592b–593a, vgl. 11.2.3. 1154 promissā gehört zu arte. Von den meisten wird es ›en allage‹ auf munera bezogen, auch im Lichte von divae promissa parentis 8,531. Aber vgl. 8,401: (Vulcan zu Venus) quidquid in arte mea possum promittere curae. Vulcan ›verspricht‹ (promittere) Venus, alles ›in seiner Kunst stehende‹ (in arte mea) zu tun und die Waffen für Aeneas anzufertigen. In 8,612 kommt in promissā zum Ausdruck, dass Venus ihrem Sohn mitteilt, dass Vulcan (der beste Schmied der Welt) die Waffen in ihrem Auftrag angefertigt hat. 1155 Eine Ausnahme: Auf der Suche nach dem goldenen Zweig sieht Aeneas die Tauben seiner Mutter und bittet sie dann um Hilfe (6,196b–197), woraufhin die Tauben den Weg weisen. Allerdings geht die Anwesenheit der Tauben (die auch als Anwesenheit der Venus verstanden werden kann) der Bitte um Hilfe voraus. 1156 Hierzu vgl. Wlosok 1967, 83 die darin aber weniger eine literarische Technik vermutet, als dass sie vor allem ein Weltbild ausgedrückt sieht: »Der vergilische Held rechtet nicht

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Krisis ohne Helena und Hilfe durch Venus

Neben den drei Begegnungen, bei denen Venus sich Aeneas als Person zeigt (zweimal als sie selbst, einmal verstellt), kommt es in der Aeneis auch vor, dass sie konkret hilft, ohne dabei ausdrücklich in Erscheinung zu treten. Dies ist der Fall, als sie ihm jugendlichen Glanz verleiht, bevor er beim ersten Treffen für Dido sichtbar wird (1,588–593). Mit der Wolke, die ihn und Achates verhüllt (1,516–519), so dass die beiden ungesehen die Lage sondieren können, und die dann aufreißt, so dass sie im richtigen Moment unerwartet auftreten können (1,586 f.), wird Venus nicht explizit in Verbindung gebracht. Aber doch steht das Verschönern ihres Sohnes mit dem plötzlichen Aufreißen der Wolke in zeitlichem Zusammenhang. Wieder wird in der Schilderung eine allzu genaue Festlegung darauf, welche Handlungen die Göttin genau ausführt und wie weit ihr Eingriff reicht, vermieden. Jedenfalls trägt ihr Tun dazu bei, dass Aeneas bei Dido einen positiven ersten Eindruck hinterlässt. Ein weiteres Mal hilft Venus, ohne sich zu erkennen zu geben, als sie eine Heilpflanze aus Kreta herbeiholt, um eine Verletzung, die Aeneas sich in der Schlacht zugezogen hat, zu heilen, was dem Arzt Iapyx1157 nicht gelingt (12,411–429). Und zwar versetzt sie das Wasser in dessen Kessel heimlich mit Diptam vom Berg Ida, mit Ambrosia und mit Panacea, und als er Aeneas mit diesem Wasser behandelt, lässt der Schmerz nach, die Wunde blutet nicht mehr und der vorher fest darin sitzende Pfeil gleitet wie von selbst heraus. Dass Venus’ Hilfe den menschlichen mit den Göttern. Vergil macht darum die Theodizee zu einer innergöttlichen Angelegenheit. Nochmals bestätigt sich hier unsere Auffassung von der Haltung des Aeneas: er leidet gehorsam. Dazu gehört, dass er klagt, aber nicht anklagt. Und so läßt ihn Vergil auch nicht, wie Homer seinen Helden, die göttliche Mutter in seiner Not um Hilfe anflehen oder gar mit seinem Anliegen zum Göttervater schicken. Er lässt vielmehr die Göttin unaufgefordert vor Jupiter treten und ungerufen dem Sohn erscheinen.« 1157 Zur Figur des Iapyx gibt es eine Diskussion, die insbesondere um die Frage kreist, wie es um seine pietas (sowie auch die pietas des Aeneas) bestellt sei angesichts des Umstandes, dass Apollo ›nicht zu Hilfe komme‹; siehe Perkell 2018 mit weiterer Literatur. Aber dass Apollo seine Hilfe verweigere, wie Perkell behauptet, steht nicht im Text; nulla viam Fortuna regit, nihil auctor Apollo ǀ subvenit 12,405–406a heißt, dass es Iapyx nicht glückt, die Pfeilspitze zu extrahieren und seine ärztliche Kunst und Apollos Wirken (auctor: als sein Lehrer) diesmal ohne Erfolg bleiben: Es hilft alles nichts (und nicht: Apollo verweigert seine persönliche Hilfe). Der Umstand, dass Iapyx nichts ausrichten kann, bildet den Hintergund für die Notwendigkeit von Venus’ letztem Eingreifen in der Aeneis. Die Angaben zu seiner Person dienen seiner Einführung als einer vorher noch nicht erwähnten und außerhalb der Aeneis nicht belegten Nebenfigur: Als Liebling des Apollo wählte er einst die Heilkunst und wurde Arzt, um seinem Vater beizustehen. Dass Apollo Iapyx von seinen Künsten nur die Seherkunst, die Musik und die Jagdkunst, aber ausdrücklich nicht die Medizin angeboten habe, wie Perkell aus 12,393b–397 schließt (»He preferred a gift not offered«, 148), gibt der Text nicht her; entsprechend abwegig sind Perkells Schlussfolgerungen, dass der Gott der Heilkunst deshalb dem schon älteren und erfahrenen Arzt im entscheidenden Moment die Hilfe verweigere, und dass Iapyx’ Lebenswahl als un-episch oder post-episch gekennzeichnet werde und er hinsichtlich der pietas ein negatives Gegenbild zu Aeneas abgebe.

Venus in der Aeneis  

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Protagonisten hier verborgen bleibt, zeigt die Verwunderung des Arztes über die wundersam rasche Heilung (12,425–429). Wie auf dem Palastdach und wie im Wald von Karthago hilft Venus ihrem Sohn, der dolor verspürt, aber anders als dort handelt es sich diesmal nicht um den seelischen dolor der Verzweiflung, sondern um eine physische Verletzung. Venus’ Eingreifen an dieser Stelle ist konkret und physisch, und es ist für den Fortgang des Geschehens notwendig, weil dadurch Aeneas’ Kampfkraft wieder hergestellt wird. Aber die Art und Weise, wie Venus eingreift, macht ihr Wirken für die menschlichen Protagonisten nicht nachvollziehbar, so dass ihre Hilfe ihnen nicht deutlich wird. Den menschlichen Protagonisten ebenfalls verborgen bleibt das Wirken der Venus auf der Ebene der Götterhandlung. Dazu gehören neben ihrer Fürsprache bei Jupiter (1,227–253) und ihrem Redebeitrag in der Götterversammlung (10,18– 62a) zwei konkrete Aktionen: Sie tauscht vorübergehend Ascanius gegen Amor aus, um Didos Geneigtheit den Troianern gegenüber sicherzustellen (1,657–696), und sie gibt bei Vulcanus neue Waffen für Aeneas in Auftrag (8,370–453).1158 Alle in der Aeneis von Venus geschilderten Handlungen haben das Ziel, Aeneas zu helfen. Aber keine ihrer Handlungen ist für Aeneas (und die Rezipienten der Aeneis) erwartbar oder eindeutig einzuordnen. Dahinter steckt das erzählerische Prinzip, Venus als Helferfigur einzusetzen, aber in ihrer Wirkung einzuschränken, ohne die Bedingungen dafür zu explizieren. So bleibt weitgehend unbestimmt, was Venus für ihren Sohn zu tun vermag. Durch die Unbestimmtheit ihrer göttlichen Macht vergrößert sich der Entscheidungs- und Handlungsspielraum für den menschlichen Protagonisten. Diese Konstruktion erlaubt es, dass Venus ihrem Sohn im dramaturgisch erforderlichen Moment (auf dem Palastdach in Troia) die entscheidende Einsicht (in die Unausweichlichkeit von Troias Untergang) vermitteln kann, um ihn dazu zu bringen, den Kampf um Troia aufzugeben, dass er aber prinzipiell seine Selbständigkeit als Akteur behält.

1158 Diesen beiden Eingriffen der Venus ist gemeinsam, dass in ihrem Zusammenhang der traditionelle Zuständigkeitsbereich der Liebesgöttin berührt wird: Mit Hilfe ihres Sohnes Amor macht sie Dido in Aeneas verliebt und den Wunsch, dass Vulcanus neue Waffen für Aeneas schmieden solle, unterbreitet sie ihrem Mann im Bett.

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Gegenstand der Untersuchung war die Erzählung des Aeneas in Aeneis  2–3, und hier besonders Buch 2 mit der ältesten erhaltenen vollständigen Version der Geschichte von der Zerstörung Troias. Die spezifische Ausrichtung der vergilischen Version dieser viel erzählten Geschichte beginnt mit der Auswahl des Helden für das Epos. Denn der Protagonist (4) der Aeneis ist nicht einfach nur eine bekannte mythische Figur, deren Geschichte noch einmal in einem neuen Zusammenhang und aus einem neuen Blickwinkel erzählt wird. Vielmehr wird er als Vorfahr der zeitgenössischen Römer präsentiert und muss als solcher auch Kriterien der römischen und augusteischen Wirklichkeit gerecht werden. Die Hauptfigur der Aeneis soll sich in ferner mythischer Vergangenheit für die Gegenwart bewähren. Diese auf überzeitliche Wirkung ausgerichtete Konzeption des vergilischen Aeneas hat erzähllogische Konsequenzen, die bestimmte Besonderheiten der vergilischen Iliupersis erklären können. Eine davon ist das im Eingangkapitel (1) betrachtete Motiv des Kampfes vom Dach aus: Es erklärt sich aus der grundlegenden kompositionellen Entscheidung, Aeneas bis zum bitteren Ende in Troia kämpfend zu zeigen, um ihn nicht dem Vorwurf der Feigheit auszusetzen. Für den troianischen Helden Aeneas stellt sich zudem das allgemeinere Problem römischer Vorurteile gegenüber dem ›Osten‹. Ihnen wird dadurch der Boden entzogen, dass sie einerseits den Antagonisten in den Mund gelegt und andererseits durch indirekte Charakterisierung widerlegt werden. Zur Überzeitlichkeit der Figur des vergilischen Aeneas trägt auch seine Kennzeichnung durch pietas bei, eine als zeitlos verstandene, moralische Kategorie. Die systematische Erfassung sämtlicher Vorkommen der Wörter pietas und pius / impius in der Aeneis unter Berücksichtigung der jeweiligen Stimme, von der sie geäußert werden, lässt erkennen, wie die pietas des Aeneas durch sämtliche Instanzen (epischer Erzähler, andere Figur: eine Gottheit, andere Figur: ein Mensch, Aeneas selbst und den Rezipienten der Aeneis) als ihm eigenes Merkmal eingeführt wird. Eine besondere erzählerische Herausforderung bestand darin, den Umstand, mit dem die pietas des Aeneas sich ursprünglich verbindet, nämlich dass er seinen Vater und die Penaten aus Troia hinausträgt, in der Ich-Erzählung des Aeneas unterzubringen, ohne diese in Eigenlob ausarten zu lassen. Es gelingt in der am meisten dialogischen der dialogischen Szenen in Aeneis 2 mithilfe des (sonst nicht bekannten) Motivs, dass Anchises sich der Rettung zunächst widersetzt, wodurch sich Gelegenheit zu Widerspruch bietet (9.2.9). Bei aller pietas darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass der Aeneas der Aeneis vor allem ein Krieger ist, dessen Waffentaten besungen werden (arma

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virumque cano 1,1a), und dass er auch als solcher vor einem römischen Publikum bestehen muss. Entsprechend wird in Aeneis 2 sein Eintritt in den Kampf der letzten Nacht von Troia als selbstverständlicher Reflex geschildert, der sich aus der Situation ergibt. Dabei ist der – traditionell oft in Opposition zu pietas interpretierte – furor, der ihn befällt, kein Makel im Sinne eines irrationalen Affekts, sondern Ausdruck einer gerechtfertigten Motivation, die ihn als fähigen Kämpfer kennzeichnet, der bis zuletzt alles daran setzt, seine Stadt zu verteidigen. Wenn Vergils Epos als augusteische Propaganda funktioniert, so ist deren wesentliches Instrument der erzählerische Umgang mit der Zeit (5). Der entscheidende Kunstgriff besteht darin, dass die zu erzählende Geschichte in der mythischen Vergangenheit angesiedelt ist und in diesem Rahmen die zeitgenössische Gegenwart als historisches Ziel dargestellt wird. Die für aitiologische Erzählungen typische Technik, etwas in der Gegenwart Vorhandenes durch eine in der Vergangenheit angesiedelte Geschichte zu erklären, ist in der Aeneis auf den Gesamtzusammenhang angewandt und zur Vollendung gebracht: Der zeitliche Bogen wird in externen Prolepsen sowohl auf der Darstellungsebene als auch auf der Geschehensebene bis in die augusteische Gegenwart gespannt. An die andere Seite des Zeitspektrums ist als Beginn der für die erzählte Geschichte relevanten Zeit das Ende des troianischen Krieges gesetzt, das in einer Analepse ausgeführt wird. Beides, die Herleitung aus Troia und die Ausrichtung auf ein Ziel hin, wird aber nicht nur für die römische Geschichte insgesamt behauptet, sondern spiegelt sich zugleich in persönlicher Form im Schicksal des Protagonisten: Aeneas, der troianische Held, hat eine Bestimmung, die sich einerseits literargeschichtlich aus der Ilias als dem ›Anfang der Literatur‹ und andererseits innerhalb der Fiktion der Aeneis aus einem Versprechen Jupiters ableitet. Sie besteht darin, Troia zu verlassen und an der Westküste Mittelitaliens zu siedeln. In dem von ihm selbst in Aeneis 2–3 erzählten Teil seiner Geschichte wird der erzählte Aeneas sich dieser Bestimmung schrittweise bewusst. Auf allen Ebenen des Geschehens evoziert immer wieder der Begriff des fatum, respektive im Plural fata, die teleologische Geschichtsauffassung der Aeneis. Darin ist nicht so sehr ein Konzept zu sehen, das im Weltbild der Prot­ agonisten, des Autors oder der Rezipienten eine Rolle spielen würde, sondern vor allem eine leitmotivisch evozierte Chiffre für die in der Aeneis ausgeführte narrative Strategie, die Gegenwart als in der Vergangenheit verheißene Zukunft darzustellen. Deshalb erweist es sich als erhellend, hinsichtlich des fatum re­ spektive der fata nicht nach den religiösen oder gesellschaftlichen Implikationen respektive allgemein der ›Bedeutung‹ zu fragen, sondern nach der narrativen Funktion, also die Aeneis nicht wie das Buch einer Offenbarungsreligion zu lesen, aus dem die Frage nach der Bedeutung des römischen Weltreichs, nach dem Sinn des Lebens oder auch nach der historischen Wirklichkeit Roms in allen Einzelheiten beantwortet werden könnte. Die narrative Funktion der fata besteht

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eben gerade darin, dass ihre Wirkweise und ihr Verhältnis zu den Göttern unbestimmt sind. So bleiben einzelne Sachverhalte und erst recht die großen Fragen des Lebens  – wie zum Beispiel diejenige nach der Theodizee  – in der Aeneis ungeklärt. Eine gute Erzählung kann derartige Unbestimmtheiten aufweisen, ja sie braucht solche, wenn sie über Zeiten und Zonen hinweg Bestand haben soll. Auf der Ebene der Erzählung ersten Grades begegnet Vergil der sich aus der finalen Motivation der Aeneis ergebenden Vorhersagbarkeit der erzählten Geschichte mit kalkulierten Unbestimmtheiten, was die Macht der Götter sowie den Status und die Gültigkeit der fata betrifft. Die daraus resultierende Widersprüchlichkeit bringt es mit sich, dass die in der Aeneis grundsätzlich aufgestellte Behauptung einer teleologisch aszendenten Entwicklung der römischen Geschichte – vom Troianer Aeneas, der mit Götterhilfe einem unausweichlichen Schicksalsplan folgend nach Italien gelangt, bis zur augusteischen Gegenwart – nicht zu falsifizieren ist. Deshalb gefiel Vergils Aeneis sowohl Augustus als Narrativ seiner Herrschaft als auch den Römern insgesamt als aitiologische Begründung ihrer Weltmacht. Die fiktionale Welt (6) von Aeneis 1–5 und 7–12 ist im Wesentlichen die Erfahrungswelt der Realität, bereichert um einige zumeist aus der mythologischen Tradition bekannte übernatürliche Erscheinungen. Die in Aeneis 6 geschilderte Unterwelt gehört dazu als ein Ort, an dem Aeneas sich – mit besonderer Erlaubnis ausnahmsweise – vorübergehend aufhalten darf. Sein Aufenthalt in der Unterwelt ist eine Transzendenzerfahrung – er spricht mit seinem toten Vater –, aber es ist für die Erzähllogik nicht notwendig anzunehmen, dass Aeneas alles in der Unterwelt Erlebte gleich danach wieder vergesse, dass es sich um einen Traum handele oder dass gar er selbst sich als Traum entpuppe. Betrachtet man die Topographie des fiktionalen Troia von Aeneis 2 und die Art und Weise, wie Aeneas sich darin fortbewegt, so stellt man eine wesentliche Modifizierung gegenüber der überlieferten Aeneasgestalt fest: In der vergilischen Iliupersis bewegt Aeneas sich nicht nur von Troia weg, wie man es von ihm erwartet (Troiae qui primus ab oris | Italiam fato profugus Laviniaque venit | litora 1,1b–3a), sondern er bewegt sich auch und zunächst dieser übergeordneten Ausrichtung entgegengesetzt nach Troia hinein, und dies mehrfach. Er weicht dem Konflikt im Innern der Stadt nicht aus, sondern stellt sich ihm aktiv. In dieser Umkehrung der erwarteten Bewegungsrichtung ist ausgedrückt, dass der vergilische Aeneas Troia nur widerstrebend verlässt und nicht etwa den ›leichteren Weg‹ der Flucht wählt. In Aeneis 3 kommt der Dimension des Raums insofern eine besondere Rolle zu, als der Raum nicht nur als Schauplatz Teil der Geschichte ist, sondern zugleich ihr Thema: Geht es doch um die wesentliche räumliche Veränderung der Aeneis (von der Troas nach Westen) und um die Suche nach dem Zielort, dessen Lage den Protagonisten in mehreren aufeinander folgenden Verheißungen schrittweise offenbart wird. Da den Rezipienten zwar der Zielort bekannt

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ist, aber nicht der Weg oder die Art und Weise, wie die Protagonisten dorthin gelangen, kann die Figurenperspektive des erlebenden Ich Spannung erzeugen, wie es zum Beispiel bei der vorübergehenden Ansiedelung auf Kreta der Fall ist. Aeneas’ Erzählung (7) in Aeneis 2–3 geht nahtlos aus seinem Gespräch mit Dido hervor. Der Übergang ist so gestaltet, dass die Darstellung von gesprochener Sprache schrittweise konkreter wird, bis schließlich direkte Rede erreicht ist und Aeneas auf Didos ausdrückliche Aufforderung hin zu erzählen beginnt. Wie aus ihren informierten Fragen hervorgeht, handelt es sich bei Dido um eine interne Adressatin mit thematischem Vorwissen. Wenn man dies mit dem thematischen Aufbau der Binnenerzählung in Zusammenhang setzt, wird deutlich, dass das Vorwissen der internen Adressatin Dido durch den Einsatz einer Figur, die als Informant fungiert (Teucer), dem Vorwissen der externen Rezipienten angeglichen ist. Dadurch ist gewährleistet, dass die Variation von Erzählerperspektive (erzählendes Ich) und Figurenperspektive (erlebendes Ich) je nach Kenntnisstand der Adressaten als gleichermaßen passend für die interne wie für die externe Erzählsituation wahrgenommen wird. Eine systematische Erfassung des Tempusgebrauchs in Aeneis 2 zeigt, dass die (häufigen) Wechsel der Tempora eine inhaltliche Gliederung in Sinneinheiten abbilden; dabei wird das Präsens als wesentliches Erzähltempus durch Vergangenheitstempora eingerahmt und ›datiert‹. Weil das Präsens keine datierende Instanz impliziert, lassen sich die präsentischen Abschnitte eher der Figurenperspektive zuordnen. Auch das räumlich hinweisende ecce entspricht stärker der Figuren- als der Erzählerperspektive. Die relative Häufigkeit, mit der es in Aeneis 2 verwendet wird, ist Kennzeichen der Erzählung aus der Sicht einer beteiligten Person, die auf plötzliche und unerwartete Ereignisse reagieren muss und von diesen im Nachhinein in Figurenperspektive berichtet. Wenn man Aeneis 2 als Geschichte über die Eroberung Troias betrachtet, zeigt die vergleichende Gegenüberstellung mit der Ἰλίου ἅλωσις des Triphiodor, dass der thematische Schwerpunkt der vergilischen Iliupersis bei der Gegenwehr der Troianer und dem verzweifelten Verteidigungskampf liegt, die im Rahmen der Erlebnisse einer Einzelperson präsentiert werden. Aeneas, der Erzähler in Aeneis 2–3 (8), kann als zur erzählten Welt gehöriger, im Nachhinein erzählender, zuverlässiger Erzähler klassifiziert werden, der je nachdem, ob das erzählte Geschehen den Rezipienten bekannt ist oder nicht, entweder die Perspektive des ›erzählenden Ich‹ oder diejenige des ›erlebenden Ich‹ einnimmt. Zur Variation von Erzählerperspektive und Figurenperspektive kommt in Aeneis 2–3 eine graduelle Variation der Stellung des Erzählers zum erzählten Geschehen. Außerdem gibt es analytisch-retrospektive Äußerungen des Erzählers (»Vorgriffe, Resümees, Kommentare«), die sämtlich der Perspektive des intradiegetischen Erzählers Aeneas und folglich, bezogen auf die übergeordnete Erzählung (in Aeneis 1 und Aeneis 4–12), seiner Figurenperspektive entsprechen. 

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Die Textbetrachtung hinsichtlich dieser Kategorien ergibt, dass in Aeneis 2–3 eine differenzierte Erzählhaltung vorliegt, die durchgehend eingehalten ist. In inhaltlicher Hinsicht wird bei Berücksichtigung des Wissensstands zum jeweiligen Zeitpunkt des Erlebens deutlich, dass die vergilische Darstellung von Aeneas’ Verhalten in der letzten Nacht von Troia den Helden des Epos nicht negativ charakterisieren soll. Dass das Geschehen in Troia und auf dem Weg von dort nach Karthago aus der gegenüber dem extradiegetischen Erzähler eingeschränkten Sicht der Hauptfigur berichtet wird, trägt dazu bei, deren Verhalten nachvollziehbar erscheinen zu lassen, und dient dazu, Sympathie für die Seite der Verlierer zu wecken. Die Erzählung über die letzte Nacht von Troia Aeneas in den Mund zu legen, bietet den Vorteil, eine Troia-freundliche (und also Rom-freundliche) Version der Geschichte vortragen zu können, die aber dennoch dem Vorwurf der Parteilichkeit von vornherein dadurch enthoben ist, dass die Parteinahme sich aus dem Umstand, dass Aeneas selbst erzählt, sachlich ergibt. Wenn implizit andere, für Aeneas weniger günstige Überlieferungen widerlegt werden, so geschieht dies auf der Darstellungsebene. Die von einigen modernen Interpreten vorgetragene Annahme, dass Aeneas als geschickter Selbstdarsteller präsentiert werden soll, der seinen Verrat Troias an die Griechen oder seine Flucht aus Troia mit einer Lügenerzählung bemänteln will, konnte bislang nicht am Text belegt werden. Es spricht aber nichts dagegen und viel dafür, Aeneas’ Erzählung als zutreffend gemeinten Bericht über seine Erlebnisse zu verstehen. Die eigene Kommentierung des von ihm erzählten Geschehens charakterisiert Aeneas als loyalen Troianer, dem seine Führungsposition nach dem Untergang der alten Heimat ohne eigenes Zutun zuwächst – der Eindruck, dass er ein ›Kriegsgewinnler‹ sei, wird auf diese Weise vermieden. Dadurch, dass der erzählende Aeneas die eigene Bestimmung, die er im Laufe des erzählten Geschehens allmählich erkannt hat, allenfalls in Figurenrede anderer andeutet und nicht ausdrücklich selbst reflektiert, wird diese unaufdringlich und wie selbstverständlich eingeführt. Bei der Figurenrede (9) erweist es sich als instruktiv, sie nicht wie üblich nach rhetorischen Gesichtspunkten zu betrachten, sondern sie mehr in ihrem jeweiligen Zusammenhang als szenisches Erzählen zu analysieren. Weil Figurenrede im Epos stark formalisiert ist (so steht sie, wie die Aeneis insgesamt, gattungsgemäß in Hexametern), aber andererseits den Status imaginär authentischer Rede hat, fordert sie die Bereitschaft des Rezipienten, sich auf die Fiktion einzulassen, in besonderem Maße. Dies gilt für die Erzählung des Aeneas in Aeneis 2–3 als Figurenrede ersten Grades genauso wie für die Figurenrede (zweiten Grades) innerhalb von Aeneas’ Erzählung. Dabei ist eine Diskursebene möglich, die über die Köpfe der Figuren hinweggeht (z. B. Literaturzitate), ohne dass die Fiktion von authentischer Rede auf der Geschehensebene gestört würde. Diese Diskursebene besteht, wie der Fiktionalitätspakt, in dessen Rahmen die formale Erscheinung

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der Figurenrede akzeptiert wird, zwischen historischem Autor und externem Rezipienten. Wie bereits von R. Heinze beobachtet, kommt in der Aeneis nur wenig Wechselrede vor und es steht in den allermeisten Fällen ein einziger, summarischer Redebeitrag pro Figur und dialogischem Abschnitt. Diese Form der Literarisierung von natürlicher Rede bildet nicht so sehr den Wortwechsel in seinem zeitlichen Verlauf nach, als dass sie Meinung, Haltung oder Stimmung der Figuren situativ verdichtet. So werden nicht so sehr Gespräche in ihrem Verlauf nachgezeichnet, als vielmehr die ihnen zugrundeliegenden inneren oder äußeren Konflikte abstrahierend zusammengefasst. In Aeneis 2 sind die dialogischen Abschnitte – als räumlich und zeitlich fixierte Szenen – markante Angelpunkte des Geschehens. Berücksichtigt man bei ihrer Interpretation die unterschiedlichen epistemischen Perspektiven, so wird erkennbar, dass die Entscheidungen, die Aeneas in der letzten Nacht von Troia trifft, jeweils kohärent motiviert und von ihm aus gesehen sinnvoll sind. Bei der Einordnung seines Handelns ist darauf zu achten, nicht zu sehr vom bekannten Ende her zu denken. Denn während die Rezipienten (ersten und zweiten Grades) die Wandlung des Aeneas vom Verteidiger zum Auswanderer von vornherein erwarten – schließlich ist es der Auswanderer, der erzählt –, vollzieht der erlebende Aeneas diese Wandlung erst, als seine Mutter ihm erscheint und ihm vor Augen führt, dass der Untergang Troias von den Göttern bewirkt wird. Die Erscheinung der Venus auf dem Dach des Palastes ist der dramatische Höhepunkt der Erzählung in Aeneis 2: Von seiner Mutter zur Einsicht gebracht, entscheidet Aeneas sich, den Kampf um Troia aufzugeben. Mit ihrer göttlichen Hilfe gelingt es ihm, der eigentlich ausweglosen Situation, in der er sich befindet – allein auf dem Dach des erstürmten Palastes mitten in der eroberten Stadt –, zu entkommen. Bei den epischen Gleichnissen (10) hat es sich seit etwa 100 Jahren eingebürgert, die Ermittlung des Vergleichspunktes (oder tertium comparationis) bei der Interpretation gering zu achten und stattdessen weiter gefasste ›Bilder‹ und ›Bildwelten‹ assoziativ zu deuten. Jedenfalls für die Aeneis gilt, dass dabei die narrative Funktion, die ein jedes Gleichnis in seinem direkten Kontext der Erzählung hat, in unzulässiger Weise aus dem Blick gerät. Eine aus den Gleichnissen der Aeneis abgeleitete Gleichnis-Definition legt nahe, die Ähnlichkeitsrelation, die als tertium comparationis durch U. von Wilamowitz-Moellendorff und H. Fränkel zu Unrecht in Misskredit gebracht wurde und die seither bis heute in den Interpretationen oft zu wenig Beachtung findet, (wieder) als das wesentliche Moment des Gleichnisses anzusehen. In seiner offensichtlichen Anschaulichkeit scheint das epische Gleichnis zu konkretisieren, aber der entscheidende semantische Zugewinn entsteht bei den Gleichnissen in der Aeneis durch die Abstraktion, die der Rezipient beim Erfassen der Ähnlichkeitsrelation zu leisten hat. An den Gleichnissen in Aeneis 2–3 lässt sich exemplarisch nachvollziehen, dass das exakte Ausloten der Ähnlichkeitsrelation wesentlich für das Textver-

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ständnis ist und dass es zu Missverständnissen führt, wenn sie vernachlässigt wird. Letzteres gilt insbesondere für solche Interpretationen, in denen vor allem ›Bildwelten‹ betrachtet, Gleichnisbilder verselbständigt und mehr oder weniger frei assoziierend intra- und intertextuelle Zusammenhänge hergestellt werden. Negative Charakterisierungen des Aeneas, die aus solchen Deutungen abgeleitet werden, erweisen sich als unhaltbar. Die Orientierung der Interpretation an den ›homerischen Vorbildern‹ und deren Interpretationen führt in der Regel in die Irre, weil die vergilischen Gleichnisse exakt in ihren Kontext passen. Die Gleichnisse in Aeneis 2–3 entsprechen sämtlich der Perspektive des Aeneas und haben in seiner Erzählung primär die Funktion, jeweils genau einen konkreten Sachverhalt, eine konkrete Wahrnehmung oder eine konkrete Emotion zu definieren. Drei der Gleichnisse in Aeneis 2 beziehen sich auf den erlebenden / erzählten Aeneas selbst: Das Gleichnis mit dem lauschenden Hirten betrifft die Interpretation einer Sinnes-Wahrnehmung des Aeneas als eines Troianers, der sich in dem Glauben schlafen gelegt hatte, dass der Belagerungskrieg vorüber sei, und der nun mitten in der Nacht von Kriegslärm erwacht, ohne diesen sogleich einordnen zu können, das Gleichnis mit dem Wolfsrudel betrifft seinen intuitiven Drang, für Troia kämpfen und sterben zu wollen, und das Gleichnis mit dem gefällten Baum betrifft die ihm von seiner Mutter vermittelte Einsicht, dass die Götter den Untergang Troias unausweichlich betreiben. Hinsichtlich der umstrittenen Helena-Szene (11) wird die Position vertreten, dass der primär überlieferte Text keine entscheidenden Schwierigkeiten bietet, dass er ohne die lediglich sekundär überlieferten Verse *2,567–588 vollständig ist und dass durch deren Aufnahme in den Text die Folgerichtigkeit der Erzählung gestört wird. Aeneis 2 bietet – ohne die Verse *2,567–588 – eine dramaturgisch kohärent entwickelte Abfolge von Ereignissen und Handlungen, die in der Venus-Erscheinung (2,589–631) gipfelt: In dem Moment, als Aeneas nichts mehr für Troia tun kann und sich in einer aussichtslosen Lage auf dem Dach befindet, rettet ihn seine göttliche Mutter. Diese Begegnung von Mutter und Sohn, die mit einer weiteren, kontrastiv angelegten Begegnung der beiden in 1,314–417 in Korresponsion steht, bildet den Entscheidungs- und Höhepunkt der Erzählung des Aeneas. Die vermeintlich problematische Syntax des überlieferten Textes (ohne Helena-Szene) lässt sich erklären, unter anderem kann die Schilderung der Erscheinung von Iris in Gestalt der Beroe (5,654–662) als direkte Parallele gelten. Die Venus der Aeneis erweist sich angesichts der beiden genannten und ihrer weiteren Auftritte als Helferfigur, die dem Helden entscheidend die Richtung weist und ihm hin und wieder weiterhilft. Ihre Hilfe bleibt aber in ihrer Wirkweise unbestimmt und unvorhersehbar, um Aeneas’ Selbständigkeit nicht einzuschränken (auf der Figurenebene) und die Erzählung nicht vorhersagbar werden zu lassen (auf der Darstellungsebene). Der Übersicht halber seien abschließend die entscheidenden Motive der vergilischen Iliupersis rekapituliert. Das zentrale Motiv ist dasjenige von 1) Aeneas im

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Kampf. Es charakterisiert ihn als Krieger, der sich bedingungslos für seine Stadt einsetzt. Dass in der gegebenen strategischen Situation überhaupt ein Kampf stattfinden kann, wird durch das Motiv vom 2) Irrtum des Androgeos und die dadurch ermöglichte Tarnung mit griechischer Ausrüstung plausibilisiert (9.2.6) (10.4.4) (10.4.5). Bei Aeneas’ Kampf handelt es sich um den verzweifelten Versuch, eine Stadt zu verteidigen, in die der Feind bereits eingedrungen ist. In der Reihenfolge der Erzählung ist dieser Versuch der Verteidigung folgendermaßen wiedergegeben: 2,298–313 Erkennen der Situation vom Dach aus (10.4.2) (8.3) 2,314–360 Bewaffnung; Aufbruch zum Verteidigungskampf in einer Gruppe 2,361–369 Summarisch vorangestelltes Ergebnis: Troias Niederlage (8.4) 2,370–395 Tötung der Griechen um Androgeos durch die Gruppe des Aeneas; Anlegen griechischer Rüstungen auf Vorschlag des Coroebus (9.2.6) (10.4.4) 2,396–401 Jagd auf Griechen innerhalb der Stadt 2,402 Sentenz über die Macht der Götter (8.4) 2,403–409 Angriff des Coroebus auf Griechen, die Cassandra in ihrer Gewalt haben 2,410–423 Komplexe Gemengelage, die darauf beruht, dass unterschiedliche Gruppen einen unterschiedlichen Wissensstand bezüglich der Identität der als Griechen getarnten Troianer um Aeneas haben (10.4.5) 2,424–430 Katalog fallender Krieger aus Aeneas’ Trupp 2,431–434a Beteuerung, sich selbst tapfer am Kampf beteiligt zu haben (8.4) 2,434b–437 Orientierung hin zu Priamus’ Palast mit zwei verbleibenden Gefährten 2,438–450 Beim Palast tobende Schlacht 2,451–505 Unterstützung der Verteidigung des Palastes vom Dach aus bis zur Stürmung desselben und zum Tod des Königs (1) (9.2.7)

Für das in Aeneis 2 erzählte Geschehen und die Charakterisierung der Figuren, insbesondere des Protagonisten, sind außerdem folgende Motive wesentlich:1159 3) Sinons Charade Durch die detaillierte Schilderung von Sinons Auftritt als falschem Überläufer wird der Umstand betont, dass die Troianer durch eine griechische Intrige – und nicht etwa durch kriegerische Unterlegenheit – in eine äußerst ungünstige strategische Situation geraten. Die Charakterisierung von Sinon als geschicktem Lügner mit ausgefeiltem Plan hilft dabei, das Verhalten der Troianer eher arglos und unvorsichtig als dumm und leichtgläubig erscheinen zu lassen. (9.2.2) (8.2) (8.3) 4) Laocoons Warnung und Tod Die Trennung der Warnung von der Todesszene durch die Schilderung von Sinons Auftritt ermöglicht es, den Angriff der Meeresungeheuer auf Laocoon als Beglaubigung von Sinons falschen Behauptungen erscheinen zu lassen. Bei diesem Motiv kommt es in Aeneas’ 1159 Völlig anders gewichtet Schwarz 1983.

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Erzählung vor allem auf die unterschiedlichen Perspektiven an: Von den erzählten Troianern (einschließlich Aeneas) heißt es, dass sie Laocoons Tod als göttliche Strafe für seine Ablehnung des hölzernen Pferdes deuten und daher Sinons Aussagen bestätigt sehen. So ist das übernatürliche Geschehen für den vergilischen Aeneas kein Anlass, die Stadt zu verlassen. Wer – wie der erzählende Aeneas und die Rezipienten einschließlich Dido – den Ausgang der Geschichte kennt, weiß, dass die Deutung der Troianer nicht zutrifft, und kann in Laocoons Schicksal ein göttliches Vorzeichen für den Untergang Troias erkennen. (9.2.1) (10.4.1) Figurenrede des toten Hector Das Motiv des übernatürlichen Sprechers, der dem Helden eine Handlungsanweisung erteilt, ist ebenfalls aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlich zu verstehen: Auf der Figurenebene bewirken die Umstände von Hectors Auftritt (Erscheinung im Traum als Toter) eine Unbes timmtheit, die es rechtfertigt, dass der Protagonist die Anweisung nicht direkt umsetzt und sein Handeln subjektiv frei bleibt. Auf der Ebene der Erzählung wird vermittelt, dass das geschilderte Geschehen im Nachhinein als vorherbestimmt erkannt ist. Im Kontext des Gesamtzusammenhangs bedeuten die Übergabe der Verantwortung für die troianischen Penaten und die Aufforderung zur Flucht die Legitimierung des dynastischen Übergangs und der translatio imperii. (5.3) (8.4) (9.2.3) Aeneas’ Rede zu den Kampfgenossen als Gefahrenaufklärung In dieser für die Art des Anlasses (cohortatio) ungewöhnlichen Figurenrede seiner eigenen Person macht der Erzähler deutlich, dass seine Mitstreiter in der letzten Nacht von Troia sich ihm freiwillig anschließen und wissen, was sie erwartet. So wird der Eindruck vermieden, dass Aeneas als Anführer eines Himmelfahrtskommandos andere in den Tod gerissen habe. Die Rede beschönigt die Aussichtslosigkeit der Lage nicht. Hielte Aeneas an dieser Stelle eine siegesgewisse oder auch nur zuversichtlichere Rede, so entstünde der Eindruck, dass er die Situation falsch einschätzt. (9.2.5) Wolfsrudelgleichnis In diesem Gleichnis wird der Verteidigungsversuch, den Aeneas und einige Männer unternehmen, obwohl sie dessen Vergeblichkeit erkennen, als ›natürlich‹ und reflexartig definiert. (10.4.3) NB: Sie sind Bewohner einer seit zehn Jahren im Krieg befindlichen, belagerten Stadt. Intervention der Venus Die Erscheinung der Venus als dea ex machina bestätigt die Charakterisierung von Aeneas als tapferem Verteidiger Troias: Erst durch göttliche Intervention wird er davon abgebracht, bis in den Tod zu kämpfen und für seine Stadt zu sterben. Ausschlaggebend ist die Einsicht, dass der Untergang Troias von den Göttern beschlossen ist und durch sie begünstigt wird. Die Venus-Erscheinung erklärt auch die unwahrscheinliche Rettung des Aeneas mitten aus der von Feinden wimmelnden und brennenden Stadt. (9.2.8) (10.4.9) (11.2.4) (11.3)

Zusammenfassung   

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9) Weigerung des Anchises, Troia zu verlassen Dieses sonst nicht belegte Motiv bietet den Anlass, Aeneas’ Haltung gegenüber dem Schicksal seines alten und lahmen Vaters herauszustellen. Dass er ihn und die Penaten aus Troia hinausträgt, begründet traditionell die pietas des Aeneas. In Aeneis 2 erlaubt das Motiv von Anchises’ Weigerung, diese pietas aus der Perspektive des selbst erzählenden Helden gebührend hervorzuheben, ohne dass er sich selbst direkt positiv charakterisieren müsste. (9.2.9) (4.2) 10) Suche nach Creusa Durch dieses Motiv wird gezeigt, dass Aeneas sich um seine troianische Frau, von der das Schicksal ihn trennt, durchaus sorgt: Ihretwegen nimmt er das Risiko auf sich und begibt sich ein weiteres Mal ins Innere der inzwischen bereits endgültig eroberten Stadt. Das Motiv der Suche nach Creusa ermöglicht darüberhinaus, dass Aeneas Zeuge der Vollendung von Troias Eroberung wird. Er erhält Einblick in den Zustand der eingenommenen Stadt, aus der Beute abtransportiert wird und Frauen und Kinder als Gefangene abgeführt werden. Es wird deutlich, dass es Troia nicht mehr gibt und Aeneas nicht Troia verlässt, sondern lediglich den Ort, wo Troia einmal war. (9.2.10) (9.2.11) (6.2) Direkt bezogen auf die eingangs (2) aufgestellte These sei kurzgefasst festgehalten: Die Aeneas in den Mund gelegte Ich-Erzählung in Aeneis 2–3 wird den Erfordernissen einer fiktional-autobiographischen Erzählung nach allen Regeln der Kunst gerecht. In ihr nutzt Vergil die Möglichkeit, durch den Einsatz des Helden als intradiegetischen Erzählers den (im Vergleich zu ›Aeneas in Italien‹: Aeneis 7–12) mythologisch bereits stärker definierten Teil von dessen Geschichte (›Aeneas in Troia‹, ›Aeneas’ Flucht aus Troia‹, ›Aeneas’ Stationen auf dem Weg nach Latium‹) entsprechend den Erfordernissen seiner eigenen, Vergils, Version dieser Geschichte neu zu ponderieren. Dabei wechselt er zwischen Erzählerperspektive (für ›Bekanntes‹: wenn der Ausgang des Geschehens als bekannt vorausgesetzt werden kann) und Figurenperspektive (für ›Neues‹: wenn die Rezipienten den Ausgang noch nicht kennen können). Damit diese Perspektivwechsel im Rahmen der übergeordneten Erzählung und also im Rahmen der erzählten Erzählsituation ebenfalls sinnvoll sind, wird die Figur der Dido als interne Adressatin der Erzählung mit einem Informationsgrad ausgestattet, der demjenigen der externen Rezipienten in etwa entspricht. Die Erzählstimme des Aeneas ist durchgehend kohärent realisiert, während die Stimme des übergeordneten epischen Erzählers stumm bleibt und sich jeder Beurteilung über den Erzähler zweiten Grades enthält. So sprechen das geschilderte Geschehen und das Handeln des Helden für sich. Vergil lässt Aeneas solches erleben und es so erzählen, dass sein Tun gleichermaßen nachvollziehbar und tapfer erscheint und er sich vor Dido – und vor den Rezipienten der Aeneis – als würdiger Anführer der Troianer präsentiert, der zwar vorübergehend heimatlos und vom Schicksal gebeutelt ist, aber für Großes ausersehen: Aeneas bewährt sich als Held und als Erzähler.

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Indices

Index nominum et rerum Dieses Verzeichnis bildet eine pragmatische Ergänzung zur eher kategorialen Erschließung durch das Inhaltsverzeichnis. Eigennamen mit hoher Frequenz (Aeneas, Anchises, Helena, Priamus, Venus) sind nicht erfasst. Achaemenides  76, 92, 108, 110 f., 129, 135, 154, 178–181, 206, 342 Achilles/Achilleus  9, 39, 78, 107, 118, 125 f., 191, 221, 237, 240, 310 f., 322, 326, 329–331, 368, 374, 379–381, 391 aemulatio  29 Aeneas-Anchises-Gruppe  262 f. Aeneas Silvius  51 f. Aeolus  87, 91 Agamemnon  12, 17, 46, 90, 125, 186, 188, 211, 317, 327 f., 332, 356, 379, 380 Aias/Aiax – Sohn des Oileus  78, 149, 327, 332 – Sohn des Telamon  78, 124, 302, 334 Allecto  91, 279 Amata  54, 279 amens  57–65, 107, 183, 321 f. Analepse  67, 74, 76 f., 83, 177, 185 f., 375 Androgeos  101, 150, 173 f., 233–236, 278, 323–326 Andromache  16, 19, 59, 76, 81 f., 114, 129, 149, 178, 241, 268, 330 Anna  54, 283 Antenor  81, 149 Aphareus  78 Apollo  43, 53 f., 71, 77 f., 80 f., 107 f. 112, 115, 128, 172, 206, 211, 227, 256, 270, 280 f., 392 – im Gleichnis siehe Gleichnisse Arruns  51, 322 f. ars vs ingenium  30 f. arx Burg von Troia  101–104, 133, 178, 182, 207, 209, 229, 231, 249, 352, 384 Ascanius-Iulus  45 f., 51 f., 71, 82, 87, 92, 117, 140 f., 143, 193, 204, 244 f., 254, 259, 263–265, 268, 332 f., 344, 393 Astyanax  76, 81 f., 149 Atriden  12, 17, 46, 125, 188, 327 f., 332

Augustus  22 f., 38 f., 41, 47–49, 58, 70, 90, 156, 350 auspicium impetrativum/oblativum  51, 92, 254 availability heuristic  32 Bauchgefühl/gut feeling  322 Baumfällen, professionelles  278, 338–340 Berlioz, Hector  198 Botenbericht  12 f., 212 Brontë, Charlotte  162 Caesar, C. Iulius  48, 90, 130, 195, 262, 353, 355, 365 f. Camilla  51, 90, 280, 323 Capua  194 Cassandra/Kassandra/Alexandra  70, 90, 101, 107, 113, 141, 143, 146–150, 174, 176, 185–187, 328, 377 Castor und Pollux  93, 352 Celaeno  70 f., 73, 77, 91 f., 114, 129, 206 Charon  50, 57, 92 f., 100 Charybdis  92, 111, 128 f. Christentum, christlich  56 f., 60 f., 170 Cleopatra/Kleopatra  44, 353–358 Coroebus  43, 141, 143, 146, 174, 176, 185 f., 214, 231, 233–236, 324, 326–328, 377 Creusa  70 f., 77, 85, 92, 100 f., 104, 107, 112 f., 123, 128, 136, 140 f. 143, 147, 156, 160 f., 163, 170, 175, 206, 243–245, 254– 258, 260, 264–270, 343 f. 348, 368, 385 – Prophezeiung der Creusa siehe Prophezeiungen cum inversum  109, 255, 362–367 Curia Iulia  48 Deiphobus/Deiphobos  54, 81 f., 94, 127, 149, 313, 352 f.

Index nominum et rerum Desinformation  132, 215, 219 deus ex machina – Interpretament n. Heinze  259 – Venus als dea ex m.  244 Diana/Artemis  54, 107, 251, 280, 285, 289 f., 341 f. – im Gleichnis siehe Gleichnisse Dilemma, falsches  209 Diomedes  43, 51, 54, 77 f., 107, 118, 126, 212, 317, 334 Dioskuren  93, 352 epikureisch  60, 378 epistemische Differenz  22, 70 f., 161–172, 200, 208, 213, 226, 275, 310, 386 Epitaph auf Priamus  14, 191–194 Erzählen/Erzähler – autodiegetisch  173 f., 177 – extra-/intradiegetisch  19, 49, 54, 110, 117, 120, 123, 138, 152–154, 157, 194, 199, 206, 305, 340 – hetero-/homodiegetisch  91, 144, 148, 154, 172 f., 179 – metadiegetisch  74, 76, 206 Erzählerperspektive  68, 135–137, 142, 147, 167 Euander  90, 391 Euryalus  51 f., 54, 90 Eurydice  269 Fibonacci-Folge  348 fight, flight, freeze  322 Figurenperspektive  68, 115, 135–137, 144, 160, 163, 167 f., 181, 183, 186, 188, 246 Flammenwunder siehe Götterzeichen Focalisation/Fokalisierung  165 f., 168, 287 gens Iulia  38 f., 74, 171, 384 Gilgamesch-Epos  27 Gleichnisse – Ameisen 296–298 – Apollo  280 f. – Artemis  285, 289 – Baumgruppe  341 f. – Bienen  287, 298 – Diana  280, 289 f., 299 – Gefällter Baum  278, 289, 338–340, 372 – Götterbild  278, 299 – Lauschender Hirte  312–317, 324 – Schlange  284, 301, 331 – angriffslustig  303, 329–334

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– aufgestört  278, 303, 323–326 – verletzt  289 f. – Schwäne  298, 376 – Staatsmann/Respektsperson  51 f., 59, 276–280, 298 – Stieropfer  273, 280, 282, 291, 301, 307–312 – Tauben  273, 300, 303, 305, 335–338 – Überflutung  301, 303, 334 f. – Winde  301 – aus drei Richtungen  303, 326–329 – Wölfe  233, 301 f., 317–323 – Wolf, einzeln  301 f., 322 f. Gnadenlehre  55 Goldener Schnitt  348 Götterzeichen – Donner und Licht  51, 92, 175, 252–255, 258 f. – Flammenwunder – Ascanius  252, 254, 258, 333 – Lavinia  92 – Laocoons Tod  310 – Verhalten des geraubten Palladium  212 – Verwandlung der Schiffe  92 – Waffen am Himmel  92, 391 Harpyie/Harpyien  71, 91 f., 99, 108, 111, 114, 116, 128 f. Hector/Hektor  33, 39, 44, 59, 71 f., 78, 81 f., 92, 103, 106, 112, 118, 126, 141, 164, 170 f., 173–176, 206, 221–226, 230, 237 f., 241, 252, 268–270, 326, 330, 402 Hecuba  9, 11, 16 f., 90, 174, 237–239, 241, 335–337, 345 Heldenschau  66, 68 f., 73, 94–96, 99 Helenus  50, 70–73, 77, 81 f., 88, 92, 108, 111, 113 f., 129, 135, 141, 170, 180, 199, 205 f., 269 Hercules  39, 93, 260, 280 Homer  23, 28–33, 39, 313 Homer-Analyse  28 Homerische Frage  28 Homer-Vergil-Vergleich  29–31 Iarbas  45, 75 Ida mons  79, 142, 175, 254, 382, 392 Ilioneus  49 f., 53, 129 imitatio  29 f. Informant/in – Achaemenides  181 – Andromache  19, 178 – Teucer  125, 160

420

Indices

Iris  74 f., 91, 367 f. Jane Eyre  162 Jesus  170 Juno/Hera  50 f., 54, 59, 69, 72, 74, 83 f., 87, 91 f., 111, 114, 129, 158, 198 f., 242, 248–251, 280, 367, 387, 389 Jupiter/Zeus  43, 45, 49–51, 54 f., 59, 66 f., 79, 81, 83 f., 88, 91, 107, 198, 203, 229, 237, 242, 249, 251, 253–255, 259, 279, 341 f., 383, 393 Kalchas  81, 211 f., 215–219 Kleidung und Verkleidung der Venus  389 f. Kreta  72, 75, 108–116, 123, 128 f., 135, 163, 256, 270, 392 Krieg und Frieden  152 f. Kyklop/en. Kyklopenland  76, 91 f., 108 f., 111, 116, 128 f., 180 f., 341 f. Laocoon/Laokoon  42, 88, 92, 101, 104–106, 120, 127, 131, 133, 140, 143, 150, 164, 173 f., 178, 182, 188, 207–212, 221, 274, 280, 282, 307–312, 331 f. – Vatikanische Gruppe  208, 311 f. Laodike  149 Latinus  55, 65, 73, 90, 125 Lausus  50–53, 56 Lavinia  90, 92, 268 List. Kriegslist – der Griechen (hölzernes Pferd)  105, 120, 143, 164, 175, 211–222, 236, 314 – der Troianer (Rüstungsraub)  43, 101, 176, 214, 234–236 Marcellus, M. Claudius  51 f., 99 Marcus Antonius  44 Mars  280 Menelaos  12, 17, 46, 78, 125, 149, 188, 247, 324 f., 327 f., 332, 356, 360, 380 Mercur  83, 91, 159, 199 Mezentius  50, 52, 56, 280 Minerva/Pallas/Tritonis/Athene  144, 212, 216, 242, 249, 251, 307, 368 f., 375, 378 f., 381, 383, 389 – -altar  149 – -statue  178, 309, 331 – -tempel  101, 141, 146, 150, 187, 233 f., 383 Münzbilder – Aureus Octavians RRC 494/3  262 – aus Aineia/Chalkidike   263

– Denar Caesars RRC 458/1  262 – Denar des Herennius RRC 308/1  262 Musaeus  94 Nächstenliebe 56 Nausikaa  33, 161, 285, 289, 375 Neptun/Poseidon  43, 50, 77–83, 87, 106 f., 242, 249, 251, 276, 278, 280, 283, 298, 307, 383 – Prophezeiung siehe Prophezeiungen Nibelungenlied  31 Nisus  54, 90 Numanus Remulus  45–47 Odysseus/Ulixes  20, 33, 39, 46, 76 f., 92, 114, 129, 147, 149, 160 f., 177 f., 180 f., 202, 208, 211 f., 214, 216–219, 284, 375, 383 Orakel von Delos  71, 77, 108, 110, 115, 128 f., 163, 217, 256 Orpheus  93, 269 Palamedes  211, 218–220 Palinurus  60, 94, 114, 129 Pallas  90 Panthus  51 f., 64, 82, 103, 106, 141, 164, 174, 176, 205, 222, 227–231, 316, 321 Paris, -urteil  78, 81 f., 242, 247 f., 324 f., 355, 363, 370 f., 379 Penaten  10 f., 44, 48, 55–57, 77, 82, 92, 103, 106, 108–110, 112 f., 115 f., 123, 128, 135, 141, 156, 163, 206, 221 f., 224 f., 227 f., 230, 254, 259, 263, 269 f., 360 Pisander  36 Polites  9, 81, 102, 137, 141, 150, 174, 237, 239 f., 257 Polydorus  53, 76, 82, 92, 108, 110, 121, 128–130, 132, 163, 186 f., 206 Polyphem  76, 91 f., 108, 129, 178, 181, 341 f. Polyxena  76, 149 Pompeius Magnus, Cn.  192 f., 201 Prolepse  66–68, 70–73, 76 f., 94, 185, 395 Prophezeiungen  9, 169 – Anchises  68 f., 72, 94 f. – Cassandra/Kassandra/Alexandra  70, 113, 185 – Celaeno/Tischprodigium  70 f., 73, 77, 114 – Creusa  71, 77, 112 f., 123, 156, 169 f., 267–270 – Delisches Orakel  71, 77, 108, 110, 115, 128 f., 163, 256

Index nominum et rerum – Helenus  77, 123, 205 – Jupiter  55, 59, 66, 83 – Kalchas  121, 215 f., 218 – Penaten  77, 112, 115, 135 – Poseidon  78, 80, 82 f. – Schiffsnymphen  92 – Tiberinus/Sauprodigium  70 Pygmalion  54 Pyrrhus-Neoptolemus  9–11, 16–19, 51, 76, 81, 90, 102, 137, 141, 149, 172, 175, 191, 199, 237–241, 257 f., 329 f., 332 quinquaginta illi thalami  15, 17, 102, 188–190 Ring des Nibelungen  31 Rom  39, 47 f., 55, 65 f., 69, 86, 90, 100, 171, 268, 277, 340, 354 Rom-Spaziergang  90 Romulus  39

421

Theodizee  85, 88 Theseus  93 Thetis  374, 381 Tiber. Tiberinus  70, 112 f., 123, 175, 267 Tischprodigium siehe Prophezeiungen Tolstoi, Leo  152 Troianische Gruppe  263 Troyens, Les  198 Turnus  33 f., 41 f., 45, 54, 58–60, 65 f., 72, 85, 90, 125, 280, 301 f., 322 f., 391 Übersichten – Aen. 3 – Fahrtstationen  108 – Fahrtstrecken  108 – Gleichnisse – Gottheiten  280 – menschl. Verhalten/Tätigkeit  278 f. – Ortsangaben in Aen. 2–3  116 – Priamuspalast  102 – übernatürliche Phänomene  92 – Vorkommen – von ecce  140 f. – von furor  58 f. – von impius  54 f. – von pietas  50 f. – von pius  53 f. – von Redemarkern  205 – von tum  143 f.

Sauprodigium siehe Prophezeiungen Scaliger, Julius Caesar  31, 369 Schildbeschreibung  66, 109, 169 Schildweihe  90, 108 Schlange  284 f., 332 – im Gleichnis siehe Gleichnisse – Riesenschlangen/Ungeheuer bei ­Laocoon  88, 92 f., 104 f., 140, 143, 178 f., 211, 282, 307 f., 311 f., 331 – Schlangenmetaphorik n. Knox 1950  325 f., 332–334 Sibylle von Cumae  50, 54 f., 57 f., 68, 90 f., 93 f., 97 f. Sinon  16, 37, 54, 88, 104 f., 120, 127, 134, 140, 143 f., 157, 164, 172, 174, 180, 188, 196, 206, 209–221, 229, 236 Skaz  201 Stemmatologie  34 Stoa, stoisch  60–62, 85, 89, 184, 382 Suizid  150, 251, 365 sum pius Aeneas  48 f., 53, 57, 261, 360, 388 Sychaeus  54

Zweikampf – Aineias vs Achilleus  78, 107 – Aineias vs Diomedes  77–79 – Priamus vs Pyrrhus  141, 150, 172, 237–241

Tauben – der Venus  391 – im Gleichnis siehe Gleichnisse Teucer  124 f., 160, 181

εἱμαρμένη  85 ἐνάργεια  145, 147 εὐσέβεια  43, 259, 262 μίμησις  31

Venulus  51 Vida, Marco Girolamo  31 Vulcanus  67, 235, 245, 279 f., 387, 391, 393 Wagner, Richard  31 Weissagungen siehe Prophezeiungen Wirklichkeit, falsche  215

422

Indices

Index locorum Apoll. Rhod. 3,876–885

285

Catull. 66,39 33 68,89 357 Cerda, J.L. de la, in Aen. ad 2,336–338 230 ad 2,506 121 ad 2,557 192 ad 2,588–600 369, 373 Cic. Cluent. 130 277 Cic. de orat. 1,240 373 1,246 124 2,94 139 Cic. div. 1,36 373 1,114 356 1,125 85 Cic. dom. 11 373 Cic. Mil. 38 373 Cic. nat. deor. 1,2 49 Cic. Phil. 2,55 354 Cic. rep. 6,16 49 Cic. Tusc. 3,45 19 Claud. Don. in. Aen. prooemium 40 ad 2,526 140 ad 2,560–562a 243 ad 2,589–593 251 ad 2,604 247 ad 2,657 f. 261 Dion. Hal. 1,46,1–3 1,48,1 1,48,2

259 114 42, 254

Enn. ann. 422 Sk

228

Enn. trag. XVII 48 Joc XXVII 89 Joc XXVII 94 Joc CI 205 f. Joc Eur. Or. 1387–1389a 1515 Hellanik. FGrH 4 F31 Hom. hym. 5 Hom. Il. 1,188 1,192 1,193 1,193–195 1,194a 1,200 1,207 1,224 1,361 1,544 6,243b–250 16,763–771 20,307 Hom. Od. 19,562–567 Hor. ars 295. 323. 408–411 Lact. inst. 5,10,10 Liv. 2,32,9–12 4,31,9–32,1 23,49,8 26,18,6 f. 31,29,11 Luc. 10,59–62 Lucr. 1,464. 473 6,744 Lyk. Alex. 31–1460 1226–1280 1261–1269

356 102 19 360 356 356 259 374 379 379 369 369 379 381 379 379 374 203 189 328 80 97 30 60 194 366 229 366 194 354, 357 371 336 70 70 259

423

Index locorum Lykurg. in Leocr. 95 f. Macr. Sat. 5,2,4–6 Manil. 4,64b Mela 1,7,37 Mon. Ancyr. 34

262 36 194 180 48

NT Joh. 19,5

138

Ov. her. 7,81

156

Plaut. Poen. 720 Prop. 2,32,31 2,34 3,8,30 Quint. inst. 8,2,11 8,3,67–69 8,3,73 f. 10,1,46 10,1,85 f. Quint. Smyrn. 13,213–352a Sen. Ag. 273 f. Sen. de ira 1,9 Sen. Tro. 141 892 f. Serv. in Aen. praef. ad 1,343 ad 1,488 ad 1,754 ad 1,755 ad 2,136 ad 2,322 ad 2,341 ad 2,355

373 371 29 371 145 145 281 30 30 81 356 64 194 357 347, 351 124 159 126 75, 125 220 228 234 320

ad 2,516 ad 2,557 ad 2,592 ad 2,601 ad 2,632 ad 2,649 ad 2,657 ad 2,663 ad 2,761 ad 3,690 ad 5,626 ad 6,893 Soph. Laoc. F 373 Radt Suet. Aug. 79–82

338 191 352 352 385 254 261 257 147 181 74 95 42, 254 47

Triph. 590 f. 651–655 652 f.

384 383 384

Verg. Aen. 1,26 f. 1,131–156 1,170 f. 1,231–237 1,239 1,268 1,378–380 1,378a 1,381–383 1,385 f. 1,394–400 1,407–409 1,423–436 1,457 1,488 1,496–504 1,544 f. 1,588–593 1,595 f. 1,619–624 1,705 1,748–756 1,750 1,753 f. 1,754 1,755 1,755 f. 2,1–3

248 276, 298 376 83 84 193 50, 57 55, 261, 388 376 382 298 375 298 125 158 289, 299 49 299 49 124 121 118 126 120, 213 126 121 74, 128 122

424 2,35 f. 2,54–56 2,65 f. 2,106 2,107 2,160 f. 2,195–200 2,195 f. 2,196 2,201 f. 2,204 2,220–227 2,250–253 2,255–257 2,257 f. 2,268–271 2,298–313 2,309 f. 2,314–317 2,341–346 2,347–360 2,355 2,361–369 2,361 f. 2,370–385 2,390 2,392–395 2,407–423 2,420–422 2,431–434 2,469–478 2,494–499 2,499–505 2,506 2,515–517 2,554–558 2,559 2,559–595 2,559–633 2,564–591 2,567–595 2,571–574 2,588 2,594 f. 2,601–603 2,624–631 2,641 f. 2,690 2,735 f. 2,741 2,793 f.

Indices 214 182 120, 213 215 215 219 188 214 215 307 120 307 175 176 84 175 312 164, 214 62, 183 185 317 63 185 120 323 214, 234 236 326 214 183 329 334 188 14, 120 335 191 15 343 367 251 344–346 345 369 377, 382 247, 371 338 256 261 266 266 100

3,39 3,462 3,675–681 3,690 f. 3,715 3,716–718 4,128 4,141–150 4,193 4,309–311a 4,385–387 4,397–411 4,596 4,597b–599 4,598 f. 4,608 5,270–281 5,626 5,654–662 6,390 f. 6,460 6,546 6,701 f. 6,849 6,888–892 6,893–899 7,117 f. 7,653 f. 8,395 f. 8,401 8,531 8,612–614 9,595–597 10,88–93 10,151b 10,624 10,812 11,354b 11,376 12,4–9 12,45b–46a Verg. georg. 3,3–9 3,418. 426. 437. 439 3,546 f. Vida poet. 1,170–173 Xen. Kyn. 1,15

121 81 341 180 122 122 87 281 75 75 99 296 155 57 156 199 289 74 367 100 33 82 100 161 73 94 204 56 245 391 391 391 45 248 60 85 50 60 60 60 60 125 330 337 31 259