Adel, Aristokratie, Elite: Sozialgeschichte von Oben 9783050050676, 9783050050669

Only quite recently has the nobility become a focus of social history. Heinz Reif, the pioneer and dean of German nobili

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German Pages 349 [350] Year 2016

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Adel, Aristokratie, Elite: Sozialgeschichte von Oben
 9783050050676, 9783050050669

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I Auf der Suche nach der composite elite
Väterliche Gewalt und „kindliche Narretei“. Familienkonflikte im katholischen Adel Westfalens vor der Französischen Revolution
Achim von Arnim auf Wiepersdorf: Gutsherr, Ökonom, Poet
Der katholische Adel Westfalens und die Spaltung des Adelskonservatismus in Preußen während des 19. Jahrhunderts
Adelspolitik in Preußen zwischen Reformzeit und Revolution 1848
Der Adel in der Revolution 1848
Bismarck und die Konservativen
Das Tiergartenviertel. Geselligkeit und „Gesellschaft“ in Berlins „Neuem Westen“ um 1900
Metropolenkultur und Elitenbildung. Harry Graf Kesslers Berliner Welten 1892–1905
Antisemitismus in den Agrarverbänden Ostelbiens während der Weimarer Republik
II Begriffe und Konzepte der Adels- und Elitenforschung
Die Ordnung der Familie. Zum Zusammenhang von Sozialstruktur, Familien- und Lebenszyklus im Westfälischen Adel in der Mitte des 18. Jahrhunderts
Von der Stände- zur Klassengesellschaft: Adel um 1800
Die Junker
„Adeligkeit“ – historische und elitentheoretische Überlegungen zum Adel in Deutschland seit der Wende um 1800
Veröffentlichungsnachweis
Bildnachweis

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Heinz Reif Adel, Aristokratie, Elite



Elitenwandel in der Moderne Elites and Modernity

Herausgegeben von / Edited by Gabriele B. Clemens, Dietlind Hüchtker, Martin Kohlrausch, Stephan Malinowski und Malte Rolf

Band / Volume 13



Heinz Reif

Adel, Aristokratie, Elite Sozialgeschichte von Oben



ISBN 978-3-005-005066-9 e-ISBN (PDF) 978-3-05-005067-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048686-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Abbildungen auf dem Einband: Siehe Bildnachweis, Seite 340 Satz: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com



für Kaspar



Inhalt Einleitung 

 1

I Auf der Suche nach der composite elite Väterliche Gewalt und „kindliche Narretei“ Familienkonflikte im katholischen Adel Westfalens vor der Französischen Revolution   15 Achim von Arnim auf Wiepersdorf: Gutsherr, Ökonom, Poet 

 43

Der katholische Adel Westfalens und die Spaltung des Adelskonservatismus in Preußen während des 19. Jahrhunderts   57 Adelspolitik in Preußen zwischen Reformzeit und Revolution 1848  Der Adel in der Revolution 1848 

 103

Bismarck und die Konservativen 

 125

 77

Das Tiergartenviertel Geselligkeit und „Gesellschaft“ in Berlins „Neuem Westen“ um 1900  Metropolenkultur und Elitenbildung Harry Graf Kesslers Berliner Welten 1892–1905 

 179

Antisemitismus in den Agrarverbänden Ostelbiens während der Weimarer Republik   229

II Begriffe und Konzepte der Adels- und Elitenforschung Die Ordnung der Familie Zum Zusammenhang von Sozialstruktur, Familien- und Lebenszyklus im Westfälischen Adel in der Mitte des 18. Jahrhunderts   267

 149

VIII 

 Inhalt

Von der Stände- zur Klassengesellschaft: Adel um 1800  Die Junker 

 293

 303

„Adeligkeit“ – historische und elitentheoretische Überlegungen zum Adel in Deutschland seit der Wende um 1800   323

Veröffentlichungsnachweis  Bildnachweis 

 340

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Einleitung Die in diesem Band vereinigten Aufsätze sind ein Querschnitt aus meiner fast vierzigjährigen Beschäftigung mit der Geschichte des Adels und der Elitenbildung in Deutschland. Die für diesen Band ausgewählten Aufsätze und Vorträge übergreifen mehr als zwei Jahrhunderte dieser Geschichte. Sie erheben  – eigentlich unnötig, dies zu sagen – nicht den Anspruch, dieses inzwischen so vielfältig und produktiv gewordene Forschungsfeld in seiner Entwicklung und Gänze mit quasi-exemplarischen Texten zu repräsentieren. Mit dieser Auswahl sollen zum einen die Anfänge der modernen deutschen Adelsforschung in den 1980er und 1990er Jahren akzentuiert werden. Zum anderen stehen die Aufsätze für die schnell fortschreitende Dynamisierung und Ausdifferenzierung dieses Forschungsfeldes, zu dem die von mir herausgegebene Reihe „Elitenwandel in der Moderne“ und der Kreis von Historikern, die diese Reihe bis heute und fernerhin tragen, mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten kontinuierlich und nachhaltig beigetragen haben. Da das Profil des Berliner und Hallenser Beitrags zur modernen Adelsforschung in starkem Maße von meiner Arbeit als Hochschullehrer, Organisator, Teammitglied und Kollege mitgeprägt worden ist, sei hier ein kurzer Rückblick auf die nachhaltig prägenden Kontexte dieser Arbeit erlaubt.

Anfänge und Entwicklung der modernen deutschen Adelsforschung Unter den Stationen (Bochum, Münster, Bielefeld, Essen, Berlin) meiner mehr als vier Jahrzehnte währenden Hochschullaufbahn waren ohne Zweifel Bielefeld und Berlin die prägendsten und wissenschaftlich ergiebigsten. Ohne die Bielefelder Jahre wäre ich weder zum Adel als Gegenstand sozial- und kulturgeschichtlicher Forschung gekommen noch zu der Art und Weise, wie ich seitdem Adelsforschung betrieben und dieses Forschungsfeld thematisch wie methodisch mit anderen fortentwickelt habe. Berlin verdanke ich insbesondere die Einsicht in das hohe, kreative Potenzial Generationen übergreifender intensiver Zusammenarbeit in Forscherteams, in den DFGProjekten „Elitenwandel in der Moderne“ und „Adels-Autobiographien“ einerseits, dem Graduiertenkolleg Berlin-New York zur „Geschichte und Kultur der Metropolen“ andererseits. Der „Bielefelder Schule“ ist in den vergangenen Jahren viel zugeschrieben und vorgeworfen worden. Für meine wissenschaftliche Arbeit waren zwei Bielefelder Erfahrungen von nachhaltiger Bedeutung: Einerseits die starke Faszination, die von den auf 1933 und seine Folgen ausgerichteten Thesen und Erklärungsansätzen des amerikanischen, in Berkeley lehrenden Emigranten Hans Rosenberg ausging, zumal diese von Hans Ulrich Wehler gegen die damaligen Traditionalisten des Faches, aber DOI 10.1515/9783050050676-001

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 Einleitung

auch in der medialen Öffentlichkeit, sprachgewaltig in Stellung gebracht wurden. Ein Kernelement dieses liberal-sozialdemokratischen Struktur- und Prozesskonstrukts vom Deutschen Sonderweg war der „ostelbische Junker“, einer der Hauptakteure des Wegs in die deutsche Katastrophe, eine zwischen Imagination, Stereotypisierung und wissenschaftlich greifbarer Realität schwankende „Figur“ der deutschen Geschichte, die mich bis heute beschäftigt. Andererseits gab es in Bielefeld ein starkes Antidot gegen jede dogmatische Fixierung auf die hier präferierten analytischen Konzepte und Begriffe: das in den so genannten Freitagskolloquien praktizierte Verfahren einer konsequent agonalen internen Kritik, das nicht zuletzt zu einem Wettbewerb1 im Auffinden, Ausdiskutieren und Erproben stets neuer, wissenschaftlich ergiebiger Methoden, Theorien mittlerer Reichweite und gesamtgesellschaftlicher Erklärungsansätze führte, nicht nur von Marx bis Weber, sondern, für meine Studie zum katholischen Adel Westfalens wichtiger, von Schumpeter und Halbwachs bis zu Simmel. Ebenso anregend wie nachhaltig wirksam war das großzügig budgetierte Bielefelder Programm an Gastvorträgen, zu denen gerade auch solche junge Historiker und Historikerinnen eingeladen wurden, die – wie zum Beispiel David Blackbourn und Geoff Eley – die zentralen Aussagen der „Bielefelder Schule“ besonders scharf kritisierten oder gar ablehnten. Für mich wurde so die Zusammenarbeit mit den in Bielefeld auftretenden Historikern des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen, mit Hans Medick, Jürgen Schlumbohm, Peter Kriedte, David Sabean, Robert Berdahl und Heidi Rosenbaum, und – vermittelt über Göttingen – mit den Berlinerinnen Karin Hausen, Barbara Duden und Regina Schulte einerseits, den Wienern Michael Mitterauer, Reinhard Sieder, Josef Ehmer und Hannes Stekl andererseits von besonderer Bedeutung, weil durch sie schon früh familiensoziologische, historischanthropologische und mikrohistorische Perspektiven in meine Adelsstudien Eingang gefunden haben. Das führte im Grunde schon Ende der siebziger Jahre zu einer Sozialgeschichte des Adels in kulturgeschichtlicher Erweiterung sowie zur schrittweisen Abkehr von jeglichen strikt dualistischen Analysekonzepten und der Vorstellung eines eindeutig strukturierten, Jahrhunderte übergreifenden, linear-zielgerichtet auf Demokratisierung zuschreitenden Geschichtsprozesses, der jedoch in Deutschland angeblich durch schwerwiegende ständische Verwerfungen und Abweichungen vom „westlichen“ Normalweg gravierend gestört worden war. Das befreite vom Druck zu abstrakter Begriffssysteme und schützte vor einem Analysieren wie Erklären, das, von komplexen Theorievorgaben vorbestimmt, nicht selten auch simplifiziert wurde und allzu oft den zwischen Strukturen und Prozessen vermittelnden historischen Akteuren, ihren handlungsleitenden Werten, Deutungsmustern und gesellschaftli-

1 Jürgen Kocka, zusammen mit Hans-Ulrich Wehler das intellektuelle und organisatorische Zentrum dieser Schule, spricht in diesem Zusammenhang in einem zurückblickenden Interview sehr positiv, aber durchaus treffend von einem >hohen Maß an Experimentierbereitschaft< (Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 3, 2014, 95-108).

Anfänge und Entwicklung der modernen deutschen Adelsforschung 

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chen Ordnungsvorstellungen zu wenig Aufmerksamkeit einräumte. Das Gespür für individuelle Sinnhorizonte und Motive, insbesondere für abweichendes und alternatives Verhalten ging so leicht verloren. Dem freien Erzählen wurde die Luft zum Atmen genommen . Meine Studie zum katholischen Adel Westfalens ergab auf der Grundlage einer Vielzahl gut geordneter Adelsarchive (die es für den altpreußischen Adel leider nicht mehr gibt) im Kontrast zur „Junkererzählung“ Hans Rosenbergs ein deutlich abweichendes Bild: Hier war der Adel aufgrund seiner festen Einbindung in die Führungspositionen der katholischen Laienbewegung, des politischen Katholizismus und der westfälischen Bauernverbandsbewegung schon um 1860 als politische wie gesellschaftliche Elite seiner Region voll anerkannt. Zwar lehnte er weitere Demokratisierungsschritte zumeist ab, akzeptierte aber die Parlamente als „Arenen der Elitenvergesellschaftung“ (Michael G. Müller) und trieb – wie Markus Raasch in seiner jüngst erschienenen Studie über den Zentrumsadel gezeigt hat2 – über diese den Modernisierungsprozess in zahlreichen Politikfeldern wirksam voran. Erst nach 1928 wechselte dann auch ein großer Teil dieses Adels ins autoritäre Lager über. In den achtziger Jahren kam neue Dynamik in die Adelsforschung: Historiker west- und südwestdeutscher Universitäten (Elisabeth Fehrenbach, Volker Press, Lothar Gall, Christof Dipper, Bernd Wunder, Wolfgang von Hippel, Walter Demel u. a.) kritisierten die Preußen-Lastigkeit der bisherigen, überwiegend sozialgeschichtlichen Adelsforschung und brachten damit verstärkt den Adel des Rheinbündischen und „Dritten Deutschland“ auf die Forschungsagenda. Zugleich wuchs die Kritik an einer Sozialgeschichte, die mit ihren weit reichenden, auf generalisierbare Ergebnisse ausgerichteten sozialwissenschaftlichen Theorien und abstrakten Begriffsarsenalen den Blick auf das historische Geschehen unzulässig zu verengen drohte. Kurz: die Suche nach neuen Wegen der Adelsforschung gewann an Momentum. Die ersten Arbeitsschwerpunkte nach meinem Wechsel an die TU Berlin ergaben sich aus diesen Befunden und Kritiken: ein Resümee des bisher erreichten Forschungsstands, eine empirische Überprüfung der dem Rosenbergschen Junker-Narrativ zu Grunde liegenden Struktur- und Prozessaussagen sowie die thematische, konzeptuelle und begriffliche Fundierung einer Sozialgeschichte in kulturgeschichtlicher Erweiterung. Dies mit dem übergreifenden Ziel, dem gesellschaftlichen Wandel, in den der Adel eingebunden war, einen Teil seiner Komplexität zurückzugeben, durch Abkehr von kurzschlüssig-linearen Entwicklungs- wie dichotomischen Strukturkonzepten und durch verstärkte Berücksichtigung der zwischen Strukturen und Prozessen vermittelnden Akteure mit ihren jeweiligen Werte-, Deutungs-, Motiv- und Handlungswelten.

2 Markus Raasch, Der Adel auf dem Weg der Politik. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871-1890), Düsseldorf 2015.

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 Einleitung

Ein wichtiger Ausgangs- und inspirierender Treffpunkt der neuen Adelsforschung war über die nun folgenden Jahre hinweg das Doktoranden-Kolloquium am Institut für Geschichtswissenschaft der TU Berlin. Getragen wurde dieses Forschungsseminar wie auch die Projekte „Elitenwandel“ und „Adels-Autobiographien“ unter meiner Leitung von Stephan Malinowski, Marcus Funck, Rainer Pomp, Wolfram Theilemann, Thierry Jacob (Lyon), Martin Kohlrausch, René Schiller, Kay-Uwe Holländer, Katrin Wehry, Jan Bockelmann und Mischa Klemm. Hinzu traten mit der Zeit, als assoziierte Doktoranden bzw. Promovierte Gunter Heinickel und Hartwin Spenkuch. Das Berliner Forschungskolloquium wurde, nicht zuletzt wegen der außergewöhnlich hohen Vernetzungs- und Einladungsaktivitäten seiner Doktoranden, zu einem wichtigen Begegnungsort für alle, die damals mit neuen Ansätzen an einem Adelsthema arbeiteten und ihre Forschungen zur Diskussion stellen wollten. Es wurde, zusammen mit den von Berlin aus organisierten Adelstagungen in der Werner Reimers Stiftung Bad Homburg (1998,1999 und 2000) und der seit 2000 im Akademie Verlag Berlin, danach im Verlag de Gruyter/Oldenbourg München erscheinenden Buchreihe „Elitenwandel in der Moderne“ zu einem institutionellen Zentrum des heute so polyzentral bestellten Felds der deutschen Adelsforschung: Josef Matzerath (Dresden) stellte hier seine innovativen Zugriffe auf den Forschungsgegenstand Adel ebenso vor wie Eckart Conze (Tübingen/Marburg), Ewald Frie (Essen/Tübingen) und Michael G . Müller (Florenz/Halle).3 Feste Kontakte entwickelten sich insbesondere zur englischen und amerikanischen Junker-, Konservatismus-, Monarchie- und Preußen-Forschung: zu Dominic Lieven (London), John C. G. Roehl (Sussex), Roger Chickering (Washington), Shelley Baranowsky (Akron), Larry Eugene Jones (Buffalo) und James Retallack (Toronto). Meine Zusammenarbeit mit den Agrarhistorikern der Akademie der Wissenschaften der DDR blieb auch nach der Wende erhalten, nicht nur mit Hartmut Harnisch (HU Berlin), sondern auch mit der leider viel zu früh verstorbenen Ilona Buchsteiner (Rostock), mit Hans-Heinrich Müller, Volker Klemm und Wolfgang Jacobeit (Berlin) sowie Jan Peters (Berlin/Potsdam). Zu Forschungsaufenthalten und längeren Besuchen erschienen zudem in Berlin, mehr oder weniger regelmäßig, unter anderem die zum Adel forschenden Scott Eddie (Toronto), Fusao Kato (Hiroshima), Wlodzimierz Stepinski (Stettin), Ives Lequin und Claude Isabel Brelot (Lyon) und Bo Strath (Göteborg/Florenz). Die Projektgruppe „Elitenwandel“ arbeitete, und das war zweifellos auch nachwirkender Bielefelder Einfluss, entschieden theorie-, methoden- und kritikorientiert. Sie

3 Als Studien dieser Autoren seien hier hervorgehoben: Joseph Matzerath, Adelsprobe in der Moderne. Sächsischer Adel 1763-1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation, Stuttgart 2006; Eckart Conze, Vom deutschen Adel. Die Grafen von Bernstorff im 20.  Jahrhundert, Stuttgart 2000; Ewald Frie, August Ludwig von der Marwitz 1777-1837. Biographien eines Preußen, Paderborn 2001; Michael G. Müller, Der polnische Adel von 1750-1950, in: Hans Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, 217-242.

Zu den Aufsätzen in diesem Band 

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war dabei zugleich, wegen der hier zusammen arbeitenden, sehr unterschiedlichen Forscherpersönlichkeiten, wegen des hohen Gruppenzusammenhalts und wegen der gezielten Einbindung in nationale wie internationale innovative Forschungszusammenhänge außerordentlich flexibel und kreativ in der Rezeption wie Entwicklung von neuen analytischen Konzepten und Begriffen sowie neuen, Sozial- und Kulturgeschichte zusammenführenden Ansätzen. Eine ganze Reihe ihrer Begriffe, Konzepte und Leitmetaphern sind heute Allgemeingut nicht nur der deutschen Adelsforschung, zum Beispiel: Verlusterfahrungen, Suchbewegungen, Adelsreform und Adelspolitik, Familienordnung, Familienstrategien, „neuer Adel“, Meister der Sichtbarkeit, Master of Memory, Kultur der Kargheit, Regimentskulturen, Elitenreservoir, Mehrzweckelite, composite elite, Elitenkompromiss, amphibische Existenzen, vagierender Monarchismus, aber auch das Konzept „Adeligkeit“, das in der Adelsforschung bis heute eine ungeahnte Karriere erlebt. Hierzu einige klärende Sätze: Am Anfang stand hier auf Einladung Michael Müllers ein Vortrag von mir über das Berliner Projekt „Elitenwandel“ und eine daran anschließende Diskussion mit Stephan Malinowski und Gunter Heinickel, damals Stipendiaten des Europäischen Hochschulinstituts. Im Verlauf dieser Diskussion schlug Michael Müller vor, die Einheit des Adels im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in Analogie zu den Ergebnissen des Bielefelder Bürgertum-Projekts, in seiner Teilhabe an einer ihm eigenen, gemeinsamen Kultur zu suchen, also neben der kulturell konstituierten „Bürgerlichkeit“ auch von einer kulturell konstituierten „Adeligkeit“ auszugehen und diese forschend zu erschließen. Dieser Ansatz wurde von der Projektgruppe „Elitenwandel“ in Berlin aufgenommen und in der Folge Schritt für Schritt thematisch wie analytisch ausgearbeitet, eingegrenzt, operationalisiert und erfolgreich angewandt. In einer ersten Zusammenfassung habe ich die Ergebnisse dieser Arbeit dann 1997 in einem Vortrag am Institut für Europäische Geschichte in Mainz vorgestellt. Dieser Text wurde in der Folge mehrfach bei mir angefordert und in verschiedenen Publikationen zum Adel auch als „Mskr.“ zitiert. Er wird nun in diesem Band, ergänzt durch die damals verwendete Literatur, erstmals publiziert.

Zu den Aufsätzen in diesem Band Die für dieses Buch ausgewählten Vorträge und Aufsätze behandeln die Geschichte des in Deutschland so vielfältigen Adels und seiner Traditionen fokussiert auf dessen Funktion und Leistung als Reservoir für die Bildung moderner Eliten, und dies räumlich konzentriert auf Westfalen, Preußen und die Reichshauptstadt Berlin. Meine Auswahl folgte dabei zwei Prinzipien: Zum einen galt es, den doppelten Schwerpunkt meiner Adelsforschungen abzubilden. Vier Aufsätze, davon einer noch nicht publiziert, zwei andere heute nur noch schwer erreichbar, stehen für mein kontinuierliches Interesse an Fragestellungen, Konzepten, Begriffen und Methoden der Adels- und Elitenforschung. An solchen Texten besteht m. E., trotz der anhaltenden Dynamik in

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 Einleitung

diesem Forschungsfeld, weiterhin erheblicher Bedarf. Während der von mir entwickelte und empirisch inzwischen vielfach erprobte analytische Begriff der „Familienordnung“ (s. Aufsatz S. 267 ff.) für die künftige Erforschung des Adels (und wahrscheinlich auch für einen Teil der modernen Funktionseliten) weiterhin tragfähige Ergebnisse verspricht, sollte der „Junker“ inzwischen als wissenschaftlicher Begriff inzwischen sein Ende erreicht haben (Aufsatz, S. 303 ff.). Für den Verlaufstypus „Von der Stände- zur Klassengesellschaft“ (Aufsatz, S. 293 ff.) scheint mir dies dagegen, sofern als Idealtypus genutzt und Klasse als „soziale Klasse“ in der flexiblen Definition Max Webers verstanden, noch keineswegs der Fall zu sein. Denn einerseits verwandten bürgerliche wie adlige Zeitgenossen diese Verlaufsvorstellung um 1800, wie auch später, neben konkurrierenden anderen Deutungsmustern, zur Beschreibung ihrer Lage und ihrer Zukunft in einer unübersehbar aufkommenden neuen Gesellschaftsordnung. Und darüber hinaus spricht angesichts der Vielfalt der Adelswege ins 19. und 20. Jahrhundert nicht wenig dafür, dass bestimmte Adelsgruppen, oder zumindest mächtige Adelsfamilien, sich an diesem Verlaufsmodell orientiert und zielstrebig danach gehandelt haben. Und schließlich lassen sich die Defizite, die diesem Typus als analytischem Konzept zugeschrieben und vorgeworfen werden (Dichotomie, Linearität, Ausblendung der Akteursebene), beim heutigen Stand methodischer Reflexion leicht vermeiden. Das Konzept „Adeligkeit“ (Aufsatz S. 323 ff.) hat im Unterschied dazu bis heute ungebrochen Konjunktur. Daher lohnt es sich meines Erachtens noch immer für jeden, der mit diesem Begriff arbeitet, diesen Vortragstext zu kennen, nicht zuletzt auch wegen seiner elitentheoretischen Überlegungen. Den zweiten Schwerpunkt des Bandes bilden neun Aufsätze aus meiner empirischen Adelsforschung. Die Studie zu Achim von Arnim, ein schon länger zurück liegender Vortrag, wird hier ebenfalls erstmals publiziert. Der Text zur „Gesellschaft“ des Berliner Tiergartenviertels wurde für diesen Band überarbeitet und erheblich erweitert. Die darauf aufbauende Untersuchung zu Harry Graf Kessler als „amphibische“ Existenz, Konstrukteur und (scheiternder) Vermittler eines nietzscheanischen Elitenprojekts für die vornehme Gesellschaft der Reichshauptstadt wurde für diesen Band geschrieben. Die Mehrzahl der hier abgedruckten Aufsätze, die in diesem Zusammenhang noch nie publiziert worden sind, folgt einer zweiten, zentralen Leitperspektive meiner Adelsforschung: der „Suche nach der composite elite“. Seit dem Ende des 18.  Jahrhunderts wurde der Adel mit neuen, zunehmend alternativ konzipierten gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen konfrontiert. Und nach dem Umbruch um 1800 wurde ihm zunehmend bewusst, dass er im schnellen Wandel der Entwürfe und Bewegungen gesellschaftlicher Neuordnung, die das 19. und 20. Jahrhundert bestimmten, „seinen“ Platz finden, einnehmen und durch interne Anpassungs- wie nach außen gerichtete Mitgestaltungsleistungen sichern musste. Die Aufsatzfolge dieses Bandes, und meine Arbeit zu Adel und Eliten insgesamt, konzentrierten sich auf diese nach innen wie außen gerichteten Suchbewegungen unter den Bedingungen eines beschleunigten, in seiner Richtung offenen gesellschaftlichen Wandels. Wie, mit welchen allgemeinen

Zu den Aufsätzen in diesem Band 

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(„oben bleiben“, sich einfügen in neue Hierarchien, Entwicklung neuer eigener Wege) und welchen konkreten Zielen, Deutungs- und Handlungsmustern gewannen die in Deutschland so verschiedenen, stark regional geprägten Adelsformationen ihre Position zu Aufklärung und Romantik, Konservatismus, Liberalismus und Nationalismus, Agrarstaat und Industriestaat, Demokratisierung und Aristokratisierung, Kapitalismus, Sozialismus und Autoritarismus; und mit welchen Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung und für sich selbst? In diesen Suchbewegungen dominierte bis 1914 und darüber hinaus das Idealwie das konkrete Vorbild des englischen Adels als composite elite, das heißt als gelungene Synthese von Adel und höherem Bürgertum, die das Königreich vor der Revolution von 1789 bewahrte und entscheidend dazu beitrug, dass die im beschleunigten Wandel des 19.  Jahrhunderts entstehenden Spannungslagen dort durchweg konfliktarm und weitgehend konsensorientiert bewältigt wurden. Wir wissen heute, dass eine solche composite elite in Deutschland keine echte Chance hatte. Aber der forschende Blick auf Begegnungen und Kontakte ausgewählter Gruppen des Adels und höheren Bürgertums, auf deren diskursive, soziale oder gar politische Annäherungs- und Distanzierungsbewegungen, hat uns nicht nur Einsichten in deren interne wie externe Grenzlinien, sondern zugleich auch neues Wissen über den Zustand der Gesellschaft insgesamt erschlossen. Die Aufsätze dieses Bandes akzentuieren damit wichtige Rahmenbedingungen, Stationen, Weichenstellungen und gesellschaftliche Folgen eines scheiternden Elitenbildungsprozesses. Ein erster, früher Aufsatz („Väterliche Gewalt und >kindliche Narretei