»Absolutely Free«? - Invention und Gelegenheit in der Kunst 9783839448595

Unter der Fragestellung »Absolutely Free«? ist die Jubiläumsschrift für den Kunsthistoriker Jürgen Wiener aus interdiszi

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»Absolutely Free«? - Invention und Gelegenheit in der Kunst
 9783839448595

Table of contents :
Cover
Inhalt
Vorwort
Academic allures, die Welt der Kunstgeschichte und Jürgen Wiener
Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt
Die Paulus-Stickerei im Stift St. Michael in Beromünster
„DOCTA MANUS REPARABAT“
Das päpstliche Geschenk der Goldenen Rose und die Stadt Siena
Die Propheten und ihre „Kammer“
Dem Licht entgegen
Transformationsorte der Kunst identifizieren
Il Sugo della Nonna
Die Kirchen von Bankiers
Michelangelos inventio einer Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi in San Pietro in Montorio und ihr Fortleben in Druckgrafik, Malerei und Skulptur
Pietà cristiana als religionspolitische Gelegenheit
Exotismus im Zeichen der Szenografie
Das Problem einer klassizistischen Kunsttheorie im italienischen 17. Jahrhundert
Tiere sehen dich an
Druckgrafik als Prozess
Das Grabmal Kardinal Richelieus
Bauskulptur als semantische Optimierung
Lukas von Hildebrandt und der Hofgarten der Würzburger Residenz
Grundrisse kann jeder
„Mit der größten Freiheit“
Ernst Fries und Camille Corotin Civita Castellana
Begriffskarrieren
Das Format als „ikonographische Gelegenheit“
Glasmalerei des Historismus im Rheinland
A Token of his Extreme
Der Kunstsalonals Raumgelegenheit im Warenhaus
A champagne bottle, once upon a time in Chicago
Europa – Rhein – Atlantik
„La fascination d’Hagia Sophia“
Marginale Inventionen
„Home“ in the West?
„The dark side of the moon“
Wie groß ist eine Menge?
Floatglas
Eva Hesses Materialbilder
„Spielzeug an sich“
Zappas Xenochronie und die Ästhetik des Historischen
„Es ist langweilig zu sagen ,Gott ist tot‘, man muss sagen ‚Gott ist scheiße‘.“
Der Mann mit der Kamera
Auf der Suche nach dem Authentischen
Von Strategien (nicht nur) im unternehmerischen Sinne, samt eines Plädoyers für deren künstlerische Entwendung

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Christof Baier, Sarah Czirr, Astrid Lang, Gina Möller, Wiebke Windorf (Hg.) »Absolutely Free«? – Invention und Gelegenheit in der Kunst

Image  | Band 163

Christof Baier (Jun.-Prof. Dr. phil.), geb. 1969, lehrt Geschichte der europäischen Gartenkunst am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er promovierte am Lehrstuhl für Geschichte der Architektur und des Städtebaus am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bürgerhaus-, Städte- und Festungsbau der Neuzeit, neuzeitliche Gartenkunst in der Druckgrafik sowie urbane Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung im 20. Jahrhundert. Sarah Czirr (Dr. phil.), geb. 1979, ist Kunsthistorikerin und arbeitet in zwei Forschungsprojekten zur Skulptur und Ausstellungsinszenierung der Weimarer Republik. Sie war von 2017 bis 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts Moderne im Rheinland an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie von 2011 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der ZERO-Foundation Düsseldorf. Astrid Lang (Dr. phil.), geb. 1980, lehrt am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie promovierte in der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln über frühneuzeitliche Architekturzeichnungen als Medium des Kulturtransfers. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Architektur und Ausstattung des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, Raumtheorie und -soziologie sowie Digitalisierung und Vermittlung in Denkmalpflege und -diskurs. Gina Möller (Dr. phil.), geb. 1983, lehrt am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie promovierte als Stipendiatin im Graduiertenkolleg »Materialität und Produktion« zu römischen Papstkapellen im Cinquecento. Ihr Habilitationsvorhaben widmet sich der venezianischen Gartenskulptur im 18. Jahrhundert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Architektur und Skulptur der frühen Neuzeit, hier interessieren sie besonders Werkprozesse und Auftraggebernetzwerke sowie Berufsperspektiven für Geisteswissenschaftler_innen. Wiebke Windorf (PD Dr. phil.), geb. 1974, vertritt den Lehrstuhl für Allgemeine Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Sie habilitierte sich am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit einer Arbeit über das königliche Grabmonument als Ort von Innovation und Diskurs unter Ludwig XV. Ihre Dissertation über die Faktizität und Fiktionalität in der Altarbildausstattung Neu-St. Peters wurde mit dem Drupa-Preis ausgezeichnet. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Kunsttheorie der Neuzeit und religiöse Skulptur der Aufklärung.

Christof Baier, Sarah Czirr, Astrid Lang, Gina Möller, Wiebke Windorf (Hg.)

»Absolutely Free«? – Invention und Gelegenheit in der Kunst Für Jürgen Wiener zum 60. Geburtstag

Gedruckt mit Unterstützung - der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf - der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V. - des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) - des Dekanats der Philosophischen Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf - der Institute für Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf - des Kreises der Freunde des Instituts für Kunstgeschichte, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf e.V.

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Inhalt

Vorwort  Christof Baier, Sarah Czirr, Astrid Lang, Gina Möller und Wiebke Windorf  | 11

Academic allures, die Welt der Kunstgeschichte und Jürgen Wiener.  Ein Prélude flasque oder: „In diesem Werk drücke ich mein angebrachtes und natürliches Erstaunen aus.“ Sarah Czirr  | 13

Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt. Decus regni, ornatus regis und ornamenta ecclesiae in Einhards Vita Karoli Magni Peter Seiler  | 37

Die Paulus-Stickerei im Stift St. Michael in Beromünster Patricia Strohmaier | 65

„DOCTA MANUS REPARABAT“. Ein unbekanntes Taufbecken des 12. Jahrhunderts aus dem Veneto Albert Dietl | 83

Das päpstliche Geschenk der Goldenen Rose und die Stadt Siena Monika Butzek  | 99

Die Propheten und ihre „Kammer“. Objekt, Raum und Rezeption am Beispiel der Kölner Rathauspropheten Astrid Lang, Iris Metje | 115

Dem Licht entgegen. Anmerkungen zum spätgotischen Hallenumgangschor Michael Overdick | 153

Transformationsorte der Kunst identifizieren. Überlegungen zu Untersuchungsansätzen der mittelalterlichen Kunstproduktion in Mecklenburg und Sønderjylland/Dänemark Julia Trinkert | 167

Il Sugo della Nonna. Originale in der Kochkunst? Johannes Röll | 189

SUSPENSION OF DISBELIEF. Für Jürgen Lars Breuer | 198

Die Kirchen von Bankiers. Die Medici-Bank und die Kunst der Unternehmenskultur im Quattrocento Dietrich Erben | 205

Michelangelos inventio einer Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi in San Pietro in Montorio und ihr Fortleben in Druckgrafik, Malerei und Skulptur Claudia Echinger-Maurach | 225

Pietà cristiana als religionspolitische Gelegenheit. Die Caetani in Santa Pudenziana Gina Möller | 245

Exotismus im Zeichen der Szenografie. Graf Friedrich Casimirs Ansichten des Festsaals von Schloss Ortenburg 1628 K arl Möseneder | 261

Das Problem einer klassizistischen Kunsttheorie im italienischen 17. Jahrhundert. Giovan Pietro Belloris idea-Konzeption und der Hl. Andreas François Duquesnoys Wiebke Windorf | 273

Tiere sehen dich an. Berninis Vierströmebrunnen als Provokation Martin Raspe | 295

Druckgrafik als Prozess. Rembrandts Halbbekleidete Frau am Ofen sitzend Stefanie Knöll | 321

Das Grabmal Kardinal Richelieus Ursula Ströbele | 339

Bauskulptur als semantische Optimierung. Aspekte der Baukunst im Alten Reich um 1700 Roland K anz | 357

Lukas von Hildebrandt und der Hofgarten der Würzburger Residenz Stefan Kummer | 369

Grundrisse kann jeder. Eine Kinderzeichnung, der Kunzische Riss E.T.A. Hoffmanns und ein Grundriss Goethes vom 5.7.1776 Alexander Markschies | 381

„Mit der größten Freiheit“. Goethe über die Villa Palagonia in Bagheria bei Palermo Joachim Poeschke | 395

Ernst Fries und Camille Corot in Civita Castellana. Die Erfindung der Wirklichkeit Johannes Myssok | 409

Begriffskarrieren. Geschmack und ästhetische Erziehung in Kunstdiskursen des 19. Jahrhunderts Anja Schürmann | 427

Das Format als „ikonographische Gelegenheit“. Carl Spitzwegs exzentrische Bildformate Hans Körner | 443

Glasmalerei des Historismus im Rheinland. Die Situation nach Weltkriegen und Bildersturm der Nachkriegszeit Iris Nestler | 473

grüner Marmor/weißer Marmor Sebastian Freytag | 494

A Token of his Extreme. Ein fotografischer Seitenblick auf Orvieto Ute Dercks | 507

Der Kunstsalon als Raumgelegenheit im Warenhaus. Das Beispiel des Warenhaus Tietz in Düsseldorf Andrea von Hülsen-Esch | 519

A champagne bottle, once upon a time in Chicago. Das Carbide and Carbon Building der Burnham Brothers Regina Deckers | 539

Europa – Rhein – Atlantik. Ein Essay zum Erkenntniswert fluider Topografien Gertrude Cepl-K aufmann | 559

„La fascination d’Hagia Sophia“ … ein etwas anderer Blick auf die Kapelle von Ronchamp Manuela Klauser | 579

Marginale Inventionen. Anmerkungen zur Geschichte des Gartenhauses Stefan Schweizer | 595

„Home“ in the West? Jean Prouvés Maisons tropiques aus Niamey und Brazzaville Angela Stercken | 611

„The dark side of the moon“. Freiheit und Raum in Calvinos Blick auf unsichtbare Städte Vittoria Borsò | 633

Wie groß ist eine Menge? Die Repräsentation von Menge im politischen Bild des 20. Jahrhunderts Manja Wilkens | 653

Floatglas Reinhard Köpf | 667

Eva Hesses Materialbilder. Der Weg zur Dreidimensionalität – eine Ausstellung in Düsseldorf Marliesa Komanns | 681

„Spielzeug an sich“. Georg Penkers Porphyrlandschaft am Sprengel-Museum in Hannover Christof Baier | 697

Zappas Xenochronie und die Ästhetik des Historischen Achim Landwehr | 711

„Es ist langweilig zu sagen ,Gott ist tot‘, man muss sagen ‚Gott ist scheiße‘.“ Religiöse Motive in Siegfried Anzingers Malerei Guido Reuter | 723

Der Mann mit der Kamera. Apparate, Objektive, Subjektivitäten Svetlana Chernyshova | 735

Auf der Suche nach dem Authentischen. Essay über Damien Hirst, den Kunstmarkt und die Erfindung der Provenienz Ulli Seegers | 743

Von Strategien (nicht nur) im unternehmerischen Sinne, samt eines Plädoyers für deren künstlerische Entwendung Timo Skrandies | 759

Vorwort Jürgen Wiener anlässlich seines 60. Geburtstages mit einer Festschrift zu ehren, gehört zu den besonderen Freuden im akademischen Alltag. Diese Ansicht teilten zahlreiche KollegInnen und WeggefährtInnen, denn der Zuspruch auf unsere Anfrage war enorm. Wir können heute mit diesem Sammelband ein Geschenk überreichen, das nicht nur die weit gefächerten wissenschaftlichen Diskurse widerspiegelt, in denen sich Jürgen Wiener bewegt, sondern auch und vor allem von Herzen kommt. Ohne das Engagement einer großen Anzahl an Personen und die finanzielle Förderung einer Reihe von Institutionen und Stiftungen hätte dieses Großprojekt nicht realisiert werden können. Ihnen gilt deshalb unser ganz besonderer Dank. Für die großzügige Unterstützung bei den Druckkosten möchten wir uns ganz herzlich bei der Gerda Henkel Stiftung, der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V., dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) sowie dem Dekanat der Philosophischen Fakultät, den Instituten für Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaften und dem Kreis der Freunde des Instituts für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bedanken. Für kollegialen Rat und Beistand am Institut für Kunstgeschichte danken wir Andrea von Hülsen-Esch, Hans Körner, Ulli Seegers und Timo Skrandies. Ebenso möchten wir uns bei Michaela Kalusok bedanken, die uns stets konspirativ unterstützt und bei den Planungen der Feier zur Übergabe des Bandes geholfen hat. Lars Breuer und Sebastian Freytag, beide ehemalige Studenten von Jürgen Wiener und der Kunstakademie Düsseldorf, waren sofort bereit, diesen Sammelband mit zwei künstlerischen Arbeiten zu bereichern – vielen Dank hierfür. Dank gilt auch Hannah Schiefer: Sie hat nicht nur den Satz für diese Publikation übernommen, sondern war auch stets eine gute Ansprechpartnerin in allen Belangen des Layouts. Neben den Beitragenden in diesem Band möchten auch ganz herzlich Pater Elias Füllenbach, Gabriele Genge, Manfred Luchterhandt und Candida Syndikus gratulieren.

Düsseldorf, im Juni 2019 Christof Baier, Sarah Czirr, Astrid Lang, Gina Möller und Wiebke Windorf

Academic allures, die Welt der Kunstgeschichte und Jürgen Wiener Ein Prélude flasque oder „In diesem Werk drücke ich mein angebrachtes und natürliches Erstaunen aus.“1 Sarah Czirr

Ouvertüre: The Perfect Stranger, Over-Nite Sensation oder : The Best Band You Never Heard in Your Life „Without music to decorate it, time is just a bunch of boring production deadlines or dates by which bills must be paid.“ (Frank Zappa)

Als ich mich beim Lesen des Beitrags von Achim Landwehr zu dieser Festschrift immer wieder dabei ertappte, dass ich mich doch allzu gerne davon inspirieren ließ, zur passenden Stelle im Text das erwähnte Stück von Frank Zappa zu hören – und das, obwohl Zappa bei seiner Höranweisung zu The Chrome Plated Megaphone Of Destiny auf der We’re Only In It For The Money eindeutig formuliert hatte: „DO NOT READ & LISTEN AT THE SAME TIME“2 –, beschloss ich, mir eine Musik zu suchen, die anders war: ruhig, konzentriert, aber ebenfalls inspirierend. Mir fiel Erik Satie ein. Auf ihn war ich Jahre zuvor bei einer Reise ins Burgund gestoßen, danach war er für mich noch einmal auf theoretischer Ebene während eines Gespräches mit Jürgen Wiener in der Pariser Métro Thema – dann geriet er für mich wieder in Vergessenheit. Durch eine glückliche Fügung wurde mir ein Veranstaltungshinweis des Skulpturenparks Waldfrieden geschickt. Auch hier war man der Meinung, dass Karneval durchaus ein Gegenprogramm braucht, sodass wir entschieden, uns in die Höhen von Wuppertal3 aufzumachen, um dem Programm Chansons contre

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Sarah Czirr

Raison mit Werken von Luciano Berio, Viktor Suslin, Unsuk Chin, György Ligeti und eben Erik Satie zu lauschen und danach den Abend bei Wein und Essen mit den Musikern in der Villa Walfrieden im wahrsten Sinne des Wortes ausklingen zu lassen. Es war ein Abend, der das Wort synästhetisch – wenn auch nicht Gesamtkunstwerk – verdient hat: Der gläserne Pavillon war erfüllt von Musik, die Augen geschlossen und dann wieder schweifend über die Skulpturen von Tony Cragg oder die sich im Wind schaukelnden Bäume – auch das Essen und die Gespräche, etwa mit der Cellistin oder dem Veranstalter der Reihe Klangart, enttäuschten nicht. Satie sei zwar nicht zeitgenössische Musik, so wie es das Programm von Klangart eigentlich vorsieht, aber an Satie kommt man nicht vorbei, so der Veranstalter. Das bestätigte mich in meiner laienhaften Wahrnehmung dieser Musik: Diese unglaubliche Abstraktion – später las ich, dass der Begriff Minimal Music hier verwendet wurde – oder auch die Bezüge zu DADA – etwa in Spielanweisungen der Art „wie eine Nachtigall mit Zahnschmerzen“ oder „öffnen Sie den Kopf“, „vergraben Sie den Ton in Ihrer Magengrube“, „beinahe unsichtbar“ oder „sehr christlich“, die der Pianist an dem Abend ebenfalls vortrug – triggerten mein historisches Verstehenwollen, sodass mich erstaunte, wie modern Satie für diese Zeit war.4 Satie wollte musique d’ameublement komponieren und schrieb ein kurzes, 840-mal zu wiederholendes Stück, wohlweislich Vexations benannt, das John Cage faszinierte. Er sammelte Regenschirme, gründete eine eigene Kirche (Église métropolitaine d’art de Jésus conducteur) mit ihm als einzigem Mitglied, drehte den Film Entr’acte mit Francis Picabia. Zwei Tage später, Veilchen-Dienstag, die Museen hatten wieder auf, erzählte ich Jürgen Wiener zwischen dem gemeinsamen Besuch der Ausstellungen Ihrer Zeit voraus – Heinrich Campendonk, Heinrich Nauen, Johan Thorn Prikker und „Zu schön, um wahr zu sein“. Das Junge Rheinland von diesem Konzert. Er stimmte mir zu, auch wenn er Debussy (im Übrigen ein Bekannter von Satie) und Mahler für durchaus genialer hielt, wie bemerkenswert Satie den Ton als Ton – man könnte sagen das Musikmaterial schlechthin – in den Vordergrund rückte. Meine – damals noch – These, Zappa habe sich ganz sicher mit Satie auseinandergesetzt, hielt er keineswegs für unwahrscheinlich. Und wenn man es nur auf die humoristische Ebene reduzieren wollte – Does humor belong in music? –, die Geistesverwandtschaft schien mir gegeben. Und bei der Internetrecherche mit der Stichwortkombination Satie und Zappa kam selbstredend heraus, dass auch andere Menschen schon auf diese Idee gekommen waren. Zappa hatte sich immer offen zu seinen Auseinandersetzungen mit der klassischen Musik bekannt: Edgar Varèse beispielsweise wird von ihm nicht nur auf dem bereits genannten Album We’re Only In It For The Money im Innencover5 zitiert – „THE PRESENT DAY COMPOSER

Academic allures, die Welt der Kunstgeschichte und Jürgen Wiener

REFUSE TO DIE! Edgar Varèse, July 1921“ –, sondern er machte ihn gleichsam zum Idol of My Youth: „On my fifteenth birthday my mother said she’d give me $5. I told her I would rather make a long-distance phone call. I figured Mr. Varèse lived in New York because the record was made in New York (and because he was so weird, he would live in Greenwich Village). I got New York Information, and sure enough, he was in the phone book. His wife answered. She was very nice and told me he was in Europe and to call back in a few weeks.“6

Varèse – wie könnte es anders sein – wurde im Übrigen von Satie beeinflusst, und beide kannten Picabia.7 Gewohnt pointiert beschreibt Zappa sein Verhältnis zur klassischen Musik folgendermaßen: „All the good music has already been written by people with wigs and stuff.“

Standortbestimmung : D oes in academics ?

humor belong



„,Aber wie komme ich denn dazu, ein Buch schreiben zu müssen?!‘ meinte Ulrich. ,Mich hat doch eine Mutter geboren und kein Tintenfaß!‘“8

Was will uns die Autorin mit ihren anekdotenhaften Ausführungen zu Beginn sagen? Die Frage ist vielleicht berechtigt – oder auch nicht –, aber im vorauseilenden Gehorsam oder nach guter wissenschaftlicher Praxis, wie es das verpflichtende Seminar für DoktorandInnen an der Heinrich-Heine-Universität lehrt, erläutere ich im Folgenden meine Problemstellung, meine Ausgangshypothese, mein Vorgehen beziehungsweise meine Methoden(-entwicklung) und den Aufbau des folgenden Textes. Zunächst zum Grundlegenden: Die Autorin lebt und weiß das auch – vielleicht hat René Descartes seinen Beitrag dazu geleistet, aber das soll hier keine weitere Rolle spielen. Der sprichwörtlich gewordene Tod des Autors hilft als Konzept wenig bei der Lektüre dieses Textes und ist ebenso wie der sprichwörtlich gewordene Tod Gottes nicht mehr state of the art – ich zitiere hier Siegfried Anzinger, dem Guido Reuter einen Beitrag in diesem Band gewidmet hat: „Es ist langweilig zu sagen ,Gott ist tot‘, man muss sagen ‚Gott ist scheiße‘.“9 Das epistemische Setting zu diesem Text stellt sich wie folgt dar: Genau vor 20 Jahren, als ich an das Institut kam, wurde es auf Seiten der Dozierenden vor allem durch – in alphabetischer Reihenfolge und so halte ich es zukünftig bei allen Auf-

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zählungen von Personen, auch wenn man sich über die dadurch entstehende Platzierung schon in der Schule ärgern konnte – Gabriele Genge, Roland Kanz, Hans Körner, Elisabeth Trux und Jürgen Wiener geprägt.10 Seither habe ich das Institut als Studierende und Hilfskraft, aber auch als Doktorandin von Jürgen Wiener und seine Mitarbeiterin erlebt. Andere Disziplinen würden das als Langzeitfeldforschung akzeptieren. Heute feiern wie den 60. Geburtstag von Jürgen Wiener und überreichen ihm zu Ehren diesen Band – zum 50. war es nur eine eigens in Auftrag gegebene Tapete mit Querschnitten von mittelalterlichen Pfeilern –, für den mir die Aufgabe zuteilwurde, eine Einleitung – nennen wir es mal so – zu verfassen. Die Expertise – um diesen aus dem Englischen entnommenen Begriff, der sich bei uns für Kompetenz eingebürgert hat, zu verwenden –, das Thema beziehungsweise den Forschungsgegenstand (Jürgen Wiener) zu bearbeiten, mag so gegeben sein. Auf Nachfrage etwa von Manuela Klauser, die für diesen Band einen Aufsatz zu einem der Kernforschungsfelder von Jürgen Wiener beigetragen hat – zum modernen Kirchenbau –, konnte ich aber zunächst zu meinem Vorhaben nur äußern: Es wird eine skurrile Reise, bei der ich mir weder über Ziel noch Weg ganz sicher bin. Dasselbe erzählte ich auch Timo Skrandies in einem Gespräch, wenn auch etwas ausführlicher: Ich wollte dem Anlass gerecht werden und etwas über Jürgen Wiener als Wissenschaftler und Mensch schreiben, es sollte ein wissenschaftlicher und persönlicher Text werden. Zudem vertrete ich seit langem die These, dass man mit Zappa die ganze Welt erklären könne. Es galt, etwas gerecht zu werden, jemanden ins rechte Licht zu rücken, das heißt gerecht zu sein, und am Ende auch noch rechtzuhaben. Als Form für diesen Text schwebten mir Techniken vor, die sich eher dem Bereich der Kunst zuordnen lassen – Collage, Improvisation. Timo Skrandies riet mir daraufhin, doch mal in Walter Benjamins Exposé Paris, die Hauptstadt des XIV. Jahrhunderts zu schauen. Gesagt, getan und weitere Recherchen schlossen sich an, bereits Gelesenes fiel mir wieder ein. So etwa die unglaublich befreienden Bemerkungen von Michel Foucault zu Beginn von Die Ordnung der Dinge,11 die verdeutlichen, wie relativ – heute würde man auch sagen eurozentristisch – unsere Konventionen von Ordnen und Strukturieren sind. Wobei man sich dem auch widersetzen konnte, denn schließlich wurde Paris bei Benjamin auch zur Hauptstadt einer Epoche. „Die Vernunft findet nur den kürzesten Weg, nicht das Ziel“, könnte man mit George Bernard Shaw sagen. Ich las zum pensée sauvage bei Claude Lévi-Strauss und zum Konzept des Bricoleur, zum Note-gegen-Note-Satz als Prinzip des Kontrapunkts, ich las, dass Improvisation auch den spontanen praktischen Gebrauch von Kreativität zur Lösung auftretender Probleme meint12 – also eine echte Strategie (siehe dazu den Text von Timo Skrandies in diesem Band). „Sei doch mal spontan“, beinhaltet wohl aber ähnliches Paradoxalitätspotenzial wie die Aufforderung an

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eine Wissenschaftlerin, im Medium Text kreativ zu sein – auch wenn Joseph Beuys Anderes sagt und man ihm vielleicht doch mehr glauben sollte. Im Mann ohne Eigenschaften heißt es: „Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig ,weil‘ und ,damit‘ hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen ,Lauf‘ habe, irgendwie im Chaos geborgen.“13

Und wieder: Was will uns die Autorin damit sagen? Schreiben ist ein performativer Akt – das hört und liest man so oft, jetzt praktiziere ich es und befreie mich von den von Musil genannten Zwängen. Ich habe versucht, den Text möglichst in einem Fluss zu schreiben, wenig die Textbausteine hin und her zu schieben, aber an der passenden Stelle doch immer anzubauen, ich versuche durch das Anekdotische an einem Findungsprozess teilhaben zu lassen, weil er selbst schon eine Aussage, ein Ergebnis darstellt: Er offenbart, wie sich das Leben von KunsthistorikerInnen gestaltet: als Lesende, als Recherchierende, als Schreibende, als Arbeitende,14 als BesucherInnen von Ausstellungen (zum allergrößten Teil auch von Konzerten), als sich Austauschende (auch in seiner sogenannten oder auch echten Freizeit), als Reisende und als sich Hinter- und Befragende, immer aufgefordert, sich zu erklären und das teilweise sogar in ganz existenziellem Sinne – You Are What You Is. Und das heißt für diesen Text: Ich widme mich im Folgenden dem Untersuchungsgegenstand15 Jürgen Wiener als Kunsthistoriker-Mensch und lasse mich bei dieser Publikationsgattung gleichermaßen von dem Wort „Amicus“ als auch vom Titel Absolutely free16 leiten. Ich nutze eine der Gelegenheiten, meine Perspektive – geschenkt seien hier weitere Ausführungen zum (philosophischen) Perspektivismus – in eine Form17 zu bringen, die sich nur augenscheinlich an den wissenschaftlichen Standards zur Textproduktion orientiert. Ein Verstoß gegen das Dekorum? – auch das eine Frage des Betrachterstandpunktes. Der Text gliedert sich neben einem Vorspiel und einem Abgesang in die Abschnitte System Wissenschaft, Forschung, Vorträge, Lehre, Exkursion, die als zentrale habituelle Felder des wissenschaftlichen Lebens ausgemacht wurden. Zu den academic allures (hier im doppelten Sinn von Verführungen und Allüren gemeint)18 zählen die vielen Konzepte, Ideen, Theorien, Zitate, Methoden etc. nicht nur kunsthistorischer Disziplinen oder gar der Künste, in denen man sich gleichermaßen verlieren und finden kann – es kommt immer darauf an, welche Reise man im Sinn hat: „If you wind up with a boring, miserable life because you listened

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to your mom, your dad, your teacher, your priest, or some guy on TV telling you how to do your shit, then YOU DESERVE IT.“ (Frank Zappa) „Zappa zeigt uns also unter anderem, dass es eine Kunst ist, Wirklichkeit zu haben. Mit Blick auf diese Wirklichkeit und auf den möglichen Umgang mit ihren Zeiten sind wir wohl nicht absolutely free – aber doch relatively free […]“, so Achim Landwehr im vorliegenden Band.19 Die Kunst von Zappa wiederum dient mir als Erklärungsmodell für Wirklichkeit, als Fußnote, als ironischer Kommentar, als Befreiungsstrategie20 aus den wissenschaftlichen Konventionen, hin zu mehr Inventionen.21 Frank Zappa dazu: „The creation and destruction of harmonic and ,statistical‘ tensions is essential to the maintenance of compositional drama. Any composition (or improvisation) which remains consistent and ,regular‘ throughout is, for me, equivalent to watching a movie with only ,good guys‘ in it, or eating cottage cheese.“

Und: „On a personal level, Freaking Out is a process whereby an individual casts off outmoded and restricting standards of thinking, dress, and social etiquette in order to express creatively his relationship to his immediate environment and the social structure as a whole.“

Oder um es mit Timo Skrandies im vorliegenden Band zu sagen: „So entstehen ungeplante, unvorhersehbare Muster von Handlungen, die flexibel bleiben.“ Das wissenschaftliche Instrumentarium – ich nenne es mal quotes and footnotes, weil es vom Klang so was Rhythmisches hat und mir in diesem assoziativen Schreibprozess zum ersten Mal aufgefallen ist, dass der Begriff Note als das Zeichensystem der Musik bei uns WissenschaftlerInnen auch eine Note ist – soll freigiebig, aber gleichermaßen beliebig, das heißt eben auch nicht immer den wissenschaftlichen Standards entsprechend, genutzt werden.22 Ein ganz postmodernes Prinzip – more is more –, gelebter Bataille. Dem Zitat wird eine große Rolle eingeräumt werden, denn, so Stanislaw Jerzy Lec: „Von der Mehrzahl der Werke bleiben nur die Zitate übrig. Ist es dann nicht besser, von Anfang an nur die Zitate aufzuschreiben?“ Und zum Schluss noch ein paar Zitate, die mich aus der Verantwortung entlassen, an diesem Text – er mutet für mich jetzt schon, das heißt, ohne ihn zu Ende geschrieben zu haben, wie ein Kopffüßler an, also etwas aus der Phase zwischen Kritzeln und Werkreife23, wie es die Pädagogik formuliert – gescheitert zu sein: „Erfolg sollte stets nur die Folge, nicht das Ziel des Handelns sein.“ (Gustave Flaubert) Auch ganz wichtig: „A goal is a dream with a deadline“ (Napoleon Hill), das bedeutet, dieser Text ist unter den aktuellen Bedingungen – „Being cynical is the

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only way to deal with modern civilization – you can’t just swallow it whole“ (Frank Zappa) – (leider) der beste aller (aktuell?) möglichen.

Das System Wissenschaft : We ’re only in it for the money, S onatine B ureaucratique oder D ie O rdnung der D inge „To me, absurdity is the only reality.“ (Frank Zappa) „In der Südsee gibt es ein Volk, das einen Cargo-Kult praktiziert. Während des Krieges haben sie gesehen, wie Flugzeuge mit jeder Menge guter Sachen landeten; nun möchten sie natürlich, das [sic!] das gleiche wieder passiert. Also haben sie so etwas Ähnliches wie Landebahnen angelegt und neben ihnen Signalfeuer angezündet; […]. Und jetzt warten sie darauf, daß ein Flugzeug landet. Sie machen alles richtig. Der Form nach einwandfrei. Alles sieht genauso aus wie damals. Aber es haut nicht hin.“ 24

Mit diesem Zitat wird ein Phänomen beschrieben, für das Richard Feynman 1974 den Begriff cargo cult science geprägt hat – Wissenschaft, bei der der Form nach alles ordnungsgemäß abläuft, der Nutzen aber durchaus infrage gestellt werden kann. Symbolischer Profit wie Erfolg oder Anerkennung stehen im Vordergrund, das Kapital der Wissenschaft. Bruno Latour schlägt in Die Hoffnung der Pandora – Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft in eine ähnliche Kerbe, wenn er darauf hinweist, dass sich Fetisch und Fakt „auf die gleiche sprachliche Wurzel“ zurückführen lassen.25 Es gilt, so Markus Lilienthal in seinen Anmerkungen zu Latour, „den jeweilig verfolgten Strategien in der Forschergemeinschaft Geltung zu verschaffen, nach außerwissenschaftlichen Allianzen zu suchen, welche die Basis der Forschungsarbeit zu erhalten oder gar zu verbreitern versprechen, und die medial repräsentierte Öffentlichkeit von der gesellschaftlichen Relevanz der Projekte zu überzeugen. Mit jedem dieser notwendigen Übersetzungsschritte, so Latour, verschiebe sich der begriffliche Inhalt der Wissenschaft“. 26

Der Kultraum der Wissenschaft – positiv mit Foucault gesprochen: die Heterotopien –, der Elfenbeinturm, muss geräumt werden: „Die Entwicklung der Produktivkräfte legte die Wunschsymbole des vorigen Jahrhunderts in Trümmer noch ehe die sie darstellenden Monumente zerfallen waren. Diese Entwicklung hat im XIX. Jahrhundert die Gestaltungsformen von der Kunst emanzipiert wie im XVI. Jahrhundert sich die Wissenschaften von der Philosophie befreit haben. Den An-

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fang macht die Architektur als Ingenieurkonstruktion.“27 Voltaire – „Da ich nun einmal nicht imstande war, die Menschen vernünftiger zu machen, war ich lieber fern von ihnen glücklich“ – hätte die Einzellage des Turms gefallenen.28 „Heute überwiegt der negative Beigeschmack des Begriffs. Dieser bezieht sich auf einen Habitus von Fachleuten, der darin besteht, dass die innerhalb der Disziplinen herrschende extreme Spezialisierung in Bezug auf die fachfremde Außenwelt nicht als kommunikatives Problem erkannt werden will“, so die globale und barrierefreie Bildungsplattform Wikipedia.29 Ein Wissenschaftler, „der einzig für seine Aufgabe lebt und sich nicht um die gesellschaftlichen Folgen seiner Tätigkeit kümmert, sondern nur nach wissenschaftlicher und künstlerischer Wahrheit sucht“, verhält sich demnach asozial.30 Also raus aus den Höhen des Turms, hinab ins demokratische Erdgeschoss, weg von elitär hin zu Elite31 oder Exzellenz mit großangelegter Initiative (beziehungsweise seit 2017/2018 heißt es nun: Strategie). „Ich möchte herausfinden, wie die Wissenschaften zugleich realistisch und konstruiert, unmittelbar und vermittelt, robust und fragil, nah und fern sein können. Hat der Diskurs der Wissenschaften eine Referenz?“, so Latour.32 Referenz und Relevanz, Relevanz aufgrund bestimmter Referenzen? Das wissenschaftliche Feld sieht heute einen Habitus vor, der statt eines grübelnden Professors einen Global Networker mit Verkaufsstrategien33 und Managementqualitäten fordert – und das natürlich alles zum Allgemeinwohl einer Gesellschaft, die nach komplexer Bildung jenseits der durch Twitter34 festgelegten Zeichenzahlen giert und für die man Veranstaltungen an Orten wie Museen, Theatern oder ehemaligen Privatbanken35 organisiert. Universitäten treten neben Bürgeruniversitäten. Muss es einem zu denken geben, dass für Foucault Universitäten zu den Topografien des Überwachens und Strafens gehören? „Auf diese Weise gewährleistet sie in der Form der Stetigkeit und des Zwanges sowohl Steigerung wie Beobachtung und Qualifizierung. Bevor die Übung diese eigentlich disziplinäre Form annahm, hatte sie schon eine lange Geschichte gehabt: man findet sie in den Praktiken des Militärs, der Religion, der Universitäten – als Initiationsritual, Vorbereitungszeremonie, Theaterprobe, Prüfung. Ihre lineare und stetig fortschreitende Organisation und ihr evolutiver Ablauf in der Zeit sind religiösen Ursprungs – in der Schule und in der Armee sind sie erst später eingeführt worden.“36

Der Forschende spielt auch in Kafkas In der Strafkolonie – jener Text, den Zappa unerlässlich für das Verständnis seines Liedes The Chrome Plated Megaphone Of Destiny hält – eine Rolle:

Academic allures, die Welt der Kunstgeschichte und Jürgen Wiener „,Es ist ein eigentümlicher Apparat‘, sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat. Der Reisende schien nur aus Höflichkeit der Einladung des Kommandanten gefolgt zu sein, der ihn aufgefordert hatte, der Exekution eines Soldaten beizuwohnen, der wegen Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten verurteilt worden war.“37

Wissenschaft als das per se Andere zu sehen, entspringt aber demselben Wunschdenken, das Kunst zu einem außergesellschaftlichen Phänomen macht: Eine Ästhetik des Widerstands – „Without deviation, progress is not possible.“ (Frank Zappa) – existiert durchaus, aber Widerständigkeit ist kein Wert von Kunst a priori. Nicht Kunst muss die Welt retten. Auch ein kunsthistorisches Institut – es könnte in Düsseldorf sein – kommt im 21. Jahrhundert an und leistet bewusst oder unbewusst keinen Widerstand, denn es ist ja nicht einmal geklärt (man denke an die weisen Worte Karl Valentins „Die Zukunft war früher auch besser“), ob das überhaupt vonnöten ist.38 In jüngster Zeit steht alles auf dem (medialen) Prüfstand: Neue Formen39 der Partizipation eröffnen Möglichkeiten, über alles und jeden zu diskutieren (scheinbar gesetzte Selbstwerte wie Wachstum,40 aber auch alltäglichste Trivialitäten), alte und neue Formen der Medien41 setzen die Dinge und Menschen ins (un)rechte Licht – hierzu beispielsweise der Aufsatz von Manja Wilkens in diesem Band. „,Wahr‘ und ,Falsch‘, das sind die Ausreden derer, die nie zu einer Entscheidung kommen wollen. Denn die Wahrheit ist ein Ding ohne Ende“, heißt es zynisch – oder realistisch je nach Betrachterstandpunkt – bei Musil.42 Diesen unbequemen Kategorien kann man, und das nicht nur in der Wissenschaft, entkommen: Man spricht von Relativismus, man nennt es komplex, sichert sich auf – besser vielleicht sogar: durch – eine Metaebene mit Konzepten ab, die da beispielsweise – Achtung: das ist kein Luhmann-Bashing – „blinder Fleck“ heißen. Schnell fragt man insgesamt, wie der Wikipedia-Artikel zeigt, lieber nach der gesellschaftlichen Relevanz von Wissenschaft und betrachtet beispielsweise das Historische unter dem Aspekt von Aktualisierungsmöglichkeiten:43 Was können wir heute daraus lernen? Wie sind die Parallelen zu heute? „Sie machen alles richtig. Der Form nach einwandfrei.“44 Bei einer privaten Exkursion in die Niederlande fasste Jürgen Wiener unsere Überlegungen zum liken, teilen, posten auf sozialen Netzwerken – zirkulierende Referenzen?45 – und seinen NutzerInnen46 ironisch zusammen: „Der Druck ist enorm.“47 Es sind grundlegende, strategische Entscheidungen von universitärer Seite, die etwa vorsehen, dass Institute sich über Imagefilme verkaufen, um den jungen Menschen von heute in einem für sie rezipierbaren Format ein Orientierungsange-

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bot zu bieten und damit im Kampf um Neueinschreibungen bestehen zu können. Es sind Entscheidungen, die – um es mal euphemistisch zu formulieren – unerwartete Wandlungen in Kauf nehmen, wenn man für ein Forschungsprojekt zu Künstlerbiografien Helge Achenbach als Kooperationspartner auswählt. Der Druck war ebenfalls enorm48 – für AntragstellerInnen wie DoktorandInnen gleichermaßen –, als es um die erste und zweite Antragstellung für das Graduiertenkolleg Materialität und Produktion an die DFG ging. Drittmitteleinwerbungen sind die Währung der Wissenschaft, Antragsrhetorik Fremdsprachenkenntnis Nummer Eins. Universität ist in der theoretischen Nachfolge Latours Akteur, so Frank Meier, und untersucht, wie in Zeiten des institutionellen Wandels jene als verantwortliche Handlungsträger verstanden werden49 – man sollte meinen, sie seien es ganz selbstverständlich. Universitäre Infrastrukturen und ihre Handlungen muten zuweilen aber eher kafkaesk denn als ein funktionierendes Akteur-Netzwerk an. Hochschule zwischen fremdgesteuertem Veränderungsdruck und selbstgesteuerten Entwicklungskonzepten. Anmerkungen zu einem unerledigten Thema, so der Titel des Beitrags von Gertraude Buck-Bechler aus dem Jahr 2000 zu diesem Problem. Hier heißt es: „Das gerade zu Ende gegangene Jahrhundert hat deutlich vor Augen geführt, wie eng die Verflechtung des Hochschulsystems mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen geworden ist, welchen Druck gesellschaftliche Herausforderungen für Hochschulen erzeugen können – besonders auch in Zeiten tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen – und wie unumgänglich es deshalb für Hochschulen sein muss, darauf mit sich wandelnden Leistungen und Strukturen zu antworten.“50

Und weiter: „Die Ziele, an denen sich die einzelnen Akteure in ihrer Leistungserbringung orientieren, sind sehr stark von einer individuellen Sicht auf Erkenntnisfortschritt (orientiert an der Fachgemeinschaft, die sich zumeist außerhalb der jeweiligen Einrichtung befindet), auf gesellschaftliche Verantwortung, auf Berufspraxis, auf bewährte Traditionen (beispielsweise in der Lehre), auf Netzwerkgestaltung, Kundenzufriedenheit usw. geprägt.“51

Die Verantwortung gegenüber Studierenden – Stichwort Lehre – gehört bei Buck-Bechler zu den bewährten Traditionen, Netzwerkgestaltung und Kundenzufriedenheit scheinen die aktuellen Kriterien zu sein. Auf der Seite der Studierenden liegt der verantwortungsvolle Umgang mit dem Gelernten – und das ist hier tatsächlich einmal gesamtgesellschaftlich gemeint. Im besten Fall sind es Studieren-

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de, die sich auf den wunderbaren Weg der academic allures begeben und von denen es nicht heißt: „People are just waiting around to get certified.“ (Frank Zappa)

F orschung : U tility M uffin R esearch K itchen  (UMRK), „A mind is like a parachute . I t doesn ’ t work if it is not open “ oder „S o many books , so little time .“ (Frank Z appa) „Information is not knowledge Knowledge is not wisdom Wisdom is not truth Truth is not beauty Beauty is not love Love is not music Music is THE BEST…. Wisdom is the domain of the Wis (which is extinct). Beauty is a French phonetic corruption Of a short cloth neck ornament Currently in resurgence…” (Frank Zappa, Packard Goose auf dem Album Joe’s Garage (Act III), 1979) „Die Professur Kunstgeschichte V vertritt schwerpunktmäßig die Architektur und Bauskulptur des Mittelalters, die Skulptur der Frühen Neuzeit mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Gartenskulptur, die regionale Architekturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart und die Sakralkunst der Moderne.“52

Diesen Informationen auf der Homepage des Instituts zur Person Jürgen Wiener ist nichts hinzuzufügen, aber doch so vieles mehr. Den wissenschaftlichen Werdegang eines Menschen zu beschreiben, ist weniger ein inhaltliches, denn ein formales Problem: Es hört sich immer nach Bewerbungsschreiben an. Deshalb möchte ich an dieser Stelle nur einige Punkte herausgreifen – die Fakten sind bekannt beziehungsweise leicht an anderer Stelle nachzulesen – und das Ganze weniger im Duktus des von Jürgen Wiener gehassten werbenden Anschreibens, sondern pragmatisch und sachlich, ganz frei nach Jürgen Habermas: Faktizität bringt Geltung. Sein Lebenslauf auf der Homepage beginnt mit dem Hinweis auf seine Schreiner-

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lehre und den Zivildienst: Das eine erklärt sich aus seinen familiären Hintergründen, das andere hat – zumal Ende der 1970er Jahre – Bekenntnischarakter. Sein Studium in Würzburg schloss Jürgen Wiener nach nur beachtlichen sieben Jahren mit einer Dissertation über Die Bauskulptur von San Francesco in Assisi ab. Fast nahtlos begann 1990 dann schon seine Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut in Düsseldorf, das noch heute von seiner Person profitiert. 2002 erfolgte die Habilitation mit der Schrift Lorenzo Maitani und der Dom von Orvieto.53 Themen aus dem Feld der Moderne kreisen in erster Linie um die Gattung Architektur – etwa zu den Bauten der GeSoLei oder jüngst zum Museumsbau – und vor allem zum Kirchenbau. Mit Hans Körner hat Jürgen Wiener zur Sakralkunst der Moderne einen Schwerpunkt ins Leben gerufen, der seit 2008 das (oftmals so rezipierte) Spannungsfeld aus Frömmigkeit und Moderne beleuchtet. „A lot of people don’t bother about their friends in the VEGETABLE KINGDOM“ – anders Jürgen Wiener, für den Gärten und ihre Ausstattung54 zum wichtigen Bestandteil seiner Forschungen zählen. Entführte Elemente. Ikonographische Gelegenheiten, Verlegenheiten und Vorwände der Raptusgruppen in Salzburg und Versailles55 – ist nicht nur Teil von Jürgen Wieners Forschungsergebnissen zur Gartenskulptur, sondern auch titelgebender Leitgedanke des vorliegenden Bandes.

Vorträge : B roadway the H ard Way You C an ’t D o That on Stage

oder



„The torture never stops“, so der Hinweis von Jürgen Wiener bei einem Vortrag, als der Vorstellende den Vorzustellenden – hier Jürgen Wiener – darauf hinwies, dass nun schon drei Bände in der Reihe zu Moderne und Sakralkunst erschienen sind. Das Performen auf der Bühne – im Fall von WissenschaftlerInnen: das Halten von Vorträgen – gehört zum Alltag (Vorlesungen sind schließlich auch Vorträge) eines Universitätsprofessors. Die einen lieben es weniger, die anderen noch weniger, manche genießen das vermeintliche Rampenlicht – das ist wohl in erster Linie eine Frage der Persönlichkeit und in zweiter beispielsweise eine des Publikums beziehungsweise des Anlasses. Die Antrittsvorlesung von Jürgen Wiener zum Thema der Macht des Maßwerks in der hochgotischen Architektur Frankreichs – ein Jahr später publiziert als fünfter Band der Düsseldorfer kunsthistorischen Schriften – gehörte sicherlich zu den schönsten Anlässen, auch weil sich das gesamte Auditorium – darunter auch Michaela Kalusok mit dem kleinen Franz im Arm – mit dem Vortragenden freute. Zahlreich sind die Vorträge im In- und Ausland, ob nun im Alltag der Lehre, bei Tagungen oder Vorlesungsreihen wie beispielsweise als Mitglied (seit 2002) des Forschungsinstituts für Mittelalter und Renaissance

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(FIMUR) der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Einleitende Worte als Redner am Anfang einer Tagung können auch schon mal damit enden, dass man der Veranstaltung nur das Beste wünscht, aber ein weiteres Verbleiben aufgrund eines Heimspiels der Fortuna leider nicht möglich ist.

L ehre : „H e turns to E at That Q uestion

us and speaks

[…]“:

„Questions, Questions, Questions, flooding into the mind of the concerned young person today. Ah, but it’s a great time to be alive ladies and gentlemen. And that’s the theme of our program for tonight. It’s so FUKING GREAT to be alive!“ (Frank Zappa, Call Any Vegetable auf dem Album Just Another Band From L.A., 1972)

„Die heißesten Orte in der Hölle sind reserviert für jene, die in Zeiten moralischer Krisen nicht Partei ergreifen“ (Dante Alighieri) – das ist das erste von Jürgen Wiener genannte Zitat, an das ich mich erinnern kann, gleichsam ein Lebensmotto und eines, was in so vielen Kontexten gelebt werden sollte. In seiner ethischen Dimension spielte es damals kaum eine Rolle. Jürgen Wiener wollte, dass sich die Studierenden im Methoden- und Formenseminar positionieren sollten, wenn es etwa darum ging, zu sagen, welches Kunstwerk besser oder schlechter sei. Eine Frage, der man als KunsthistorikerIn gerne mal ausweicht, letztlich aber nicht nur seinen persönlichen Geschmack offenbart, denn sie fordert dazu heraus, genau hinzusehen, zu analysieren und zu verbalisieren. Der Hinweis Goethes, man sehe nur, was man weiß, sollte ergänzt werden durch: Man sieht nur, was man gelernt hat zu sehen, wenn man gelernt hat zu sehen. Historisieren – Kunst kommt von Kunst und nicht nur von Können, wie es uns die theoretischen Geniediskurse oder sich als Avantgarde stilisierende KünstlerInnen bis heute glauben machen wollen – und verstehen sind nachfolgende Schritte. „Für Jürgen, der mich gelehrt hat, 1,5 Stunden auf ein Kapitell zu gucken, ohne es langweilig zu finden“ – so hat es Anja Schürmann in ihrem Beitrag für diese Festschrift formuliert56 –, nicht ohne Grund nannten wir Studierenden ihn Kapitell-Wiener. Bei solchen Gelegenheiten konnte man den fachkundigen Ausführungen von ihm lauschen57 oder sich den Dingen in einem durch Fragen geleitetem Diskurs langsam annähern – man denke an Sokrates und Phaidros bei Platon. Angeleitet zur Selbstständigkeit – das beschreibt eine Seminarform, die jetzt viele Jahre von Jürgen Wiener und Hans Körner praktiziert wur-

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de: Es sind die Projekte rund um den Kirchenbau der Moderne, bei der Studierende an der Konzeption einer Ausstellung beteiligt sind, ihre ersten Aufsätze schreiben oder Vorträge halten – alles ganz analog, erfrischend oldschool könnte man sagen. Und letztlich – hier würde mir Jürgen Wiener sicher zustimmen – ist Lehre nur ein Teil von Studium und kann das Eigenstudium nicht ersetzen: „If you want to get laid, go to college. If you want an education, go to the library.“ (Frank Zappa)

E xkursionen : 200 M otels , C ruising with R uben [s] & The J ets oder B urnt W eeny S andwich „By two o’clock, when the bars are already closed down Billy had broken the big news to Ethel. And with dust and boulders everywhere, Billy, choked with excitement, announced: ,Ethel, we’re going on a vacation!‘ Yes, and they were going on a vacation!“ (Frank Zappa, Billy the Mountain auf dem Album Just Another Band From L.A., 1972)

Die sicherlich eindrucksvollste Performance pädagogischen Könnens liefert Jürgen Wiener – jahrelang vor allem auch mit Hans Körner an seiner Seite – im Format der Exkursion.58 Nirgends hat man die Chance, sich in so verdichteter Form mit den Kunstwerken auseinanderzusetzen – Aspekte wie die Aura des Originals mal ganz beiseitegelassen. Aber Exkursion ist noch viel mehr, ein Potpourri aus Hot Plate Heaven at the Green Hotel59, Cruising for Burgers, Wonderful Wino, Holiday in Berlin, Full-Blown, Uncle Meat, Dancin fool etc. – um ganz bildhaft zu sprechen. Exkursionen gehen bei Wind und Wetter, Regen und Sonne über Tage, in seltenen Fällen über Wochen, sie haben einen Tag und einen Abend, oftmals auch eine Nacht mit wenig Schlaf, bei Exkursionen kommt vieles zusammen: Hier ist Jürgen Wiener nicht nur Wissender und Lehrender, sondern beispielsweise auch Weinkenner,60 Restaurantbesucher,61 Picknicker, selten Koch, Gesprächspartner oder Musikhörer, und irgendwann – mir ist es in diesem Ausmaß 2006 in Versailles zum ersten Mal bewusst geworden – war er Der Mann mit der Kamera (so auch der gleichnamige Beitrag von Svetlana Chernyshova in diesem Band). Auch Sport spielte immer wieder auf Exkursionen eine zentrale Rolle62: „Man läßt andere Leute sich anstrengen, während man auf einem Sitzplatz zuschaut, das ist der Sport; man läßt Leute die einseitigsten Übertreibungen reden, das ist der

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Idealismus; man schüttelt das Böse ab und die davon bespritzt werden, das sind die Unwunschbilder“63, so Musil. Man’s Favorite Sport? Diese Frage kann eindeutig beatwortet werden: Fußball. Bei Zappa heißt es zu diesem aus US-amerikanischer Sicht europäischem Phänomen: „Millions of people believe football is God, but, it is said (at least in Torino), ,God is a liar.‘ -- Dio Fa.“64 Zappa zeigt hier durchaus eine skeptische Distanz – gleiches gilt für Religion und Kirche: „Organized religions by their very natures are misleading“ oder „Keep him or her as far away from a church as you can“. Dennoch wollt er mit Dio Fa ein „PROPOSAL FOR A WORLD CUP FOOTBALL OPERA“65 produzieren, das aber nur Teil von Civilization Phaze III wurde. Die Bekenntnisse Jürgen Wieners haben sich zwar im Laufe der letzten 20 Jahre gewandelt oder einen anderen Ausdruck erhalten, aber die Leidenschaft zum jeweiligen Kult ist von gleichbleibender Intensität. Der gelebte Aberglaube könnte dann zu Aussagen bei ihm führen – „There is no hell. There is only France“ –, wie sie auch Zappa formulierte, wenn die deutsche Nationalmannschaft nur deshalb verliert, weil zufällig eine Exkursion nach Frankreich ging. Ist es Zufall oder Fügung, dass sogar ein wichtiger Forschungsbeitrag von Jürgen Wiener zumindest auf dem Buchcover das Wort „Sport“ im Titel trägt?66

A bgesang : A uf der S uche nach der verlorenen Z eit 67, der greise P rimaticcio oder „D och das soll als Thema der Festschrift für J ürgen Wiener zum 80. vorbehalten bleiben .“ (M anja W ilkens) „This is the CENTRAL SCRUTINIZER... As you can see, MUSIC can get you pretty fucked up... Take a tip from Joe, do like he did, hock your imaginary guitar and get a good job... Joe did, and he’s a happy guy now, on the day shift at the Utility Muffin Research Kitchen, arrogantly twisting the sterile canvas snoot of a fully-charged icing anointment utensil. […] And if this doesn’t convince you that MUSIC causes BIG TROUBLE... then maybe I should turn off my plastic megaphone and sing the last song on the album in my regular voice...“ (Frank Zappa, Watermelon in Easter Hay auf dem Album Joe’s Garage (Act III), 1979)

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„I’m probably more famous for sitting on the toilet than for anything else that I do.“ So viel ist klar, das trifft auf Jürgen Wiener nicht zu. „I don’t give a fuck if they remember me at all“, so Zappa ebenfalls – ob hier der Tatbestand der affektierten Bescheidenheit68 vorliegt, ist schwer zu sagen. Ganz bescheiden wünschen wir uns alle noch mindestens 20 weitere gemeinsame Jahre, in denen es nicht heißt Any kind of pain, Trouble Every Day oder Torture never stops, sondern: You don’t have to do that on stage anymore und „ABSOLUTELY FREE Discorporate & come with me Shifting; drifting Cloudless; starless VELVET VALLEYS & A SAPPHIRE SEA: Wah Wah Unbind your mind There is no time To lick your stamps And paste them in DISCORPORATE And we will begin . . .WAH WAH! (Flower Power Sucks) Diamonds on velvets on goldens on vixen On comet & cupid on donner & blitzen On up & away & afar & a go-go Escape from the weight of your corporate logo! UNBIND YOUR MIND THERE IS NO TIME Boin-n-n-n-n-n-g TO LICK YOUR STAMPS AND PASTE THEM IN DISCORPORATE AND WE’LL BEGIN FREEDOM! FREEDOM! KINDLY LOVING! YOU’LL BE ABSOLUTELY FREE ONLY IF YOU WANT TO BE“ (Frank Zappa, Absolutely Free auf dem Album We’re Only in It for the Money, 1968)

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A nmerkungen 1 | Erik Satie, zit. nach: Hagedorn, Volker: „Von wem ist eigentlich Satie?“, in: ZEIT ONLINE, 12.05.2016, Nr. 21, https://www.zeit.de/2016/21/erik-satie-komponist-150-geburtstag-minimal-music [07.04.2019]. 2 | Zappa nimmt hier Bezug auf den Text In der Strafkolonie von Franz Kafka. 3 | Vielleicht sollten sich die Stadtplaner von Wuppertal auch musikalisch inspirieren lassen und statt des heftig diskutierten Projektes einer Seilbahn, die vertikale Ergänzung zur horizontalen Schwebebahn, doch gleich die Escalator over the Hill wagen – hingegen nicht, so der Hinweis von Jürgen Wiener in einem Gespräch anlässlich der zu evakuierenden Wohnhäuser in Wuppertal, sollten sich die Verantwortlichen an den Einstürzenden Neubauten orientieren. 4 | Hagedorn 2016: „Unter den Komponisten nach 1900 ist Satie der ewige Geheimtipp, der Popstar der Musikwissenschaft und der Musikszene zugleich. Er verträgt sich mit Jazz und Rock, mit Satire und Strawinsky, mit Postmoderne und Pazifismus. Mit feinem Lächeln scheint er die posthume Bürde zu tragen, Pionier von rund 80 Prozent der musikalischen Innovationen der Moderne gewesen sein zu sollen. […] Vielleicht wäre es besser, es lastete nicht auf jeder dieser verspielten Noten die Zukunft der Minimal Music, der Performatitivät und der Multimedialität, die Rettung der französischen Musik (Cocteau), die Befreiung von Beethoven (Cage), die Vorahnung von Kubismus, Dada und Surrealismus.“ 5 | Das Innencover bietet neben den Texten zahlreiche interessante Hinweise und Informationen zum Verständnis dieser Platte von Zappa selbst, etwa auch als Fußnote, wenn er schreibt: „NOTE: All the music heard on this album was composed, arranged & scientifically mutilated by Frank Zappa (with the exception of a little bit of surf music).“ In meinem Besitz, aus dem hier zitiert wurde, befindet sich leider nur die Version des Albums, bei dem sich der Titel des Albums gleichsam erfüllt: Die Parodie auf das Cover des Albums Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band der Beatles musste auf Veranlassung von Verve Records nach innen weichen – scheinbar hatte man wohl Angst vor der eigenen Courage und wollte möglichen Rechtsstreitigkeiten aus dem Weg gehen. 6 | Zappa, Frank: „Edgar Varèse. Idol of My Youth. A reminiscence and appreciation“, in: Stereo Review 26.1971, Nr. 6, S. 62–63, hier S. 63. 7 | Vgl. zu diesem Themenkomplex Leggio, James (Hg.): Music and Modern Art, New York 2002. 8 | Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und Zweites Buch. Herausgegeben von Adolf Frisé, Hamburg 1997, S. 490. 9 | Siegfried Anzinger in einem Gespräch mit Guido Reuter am 21.03.2018 im Kölner Atelier des Künstlers über die Verwendung religiöser Ikonografie in seinen Gemälden.

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Sarah Czirr 10 | Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle, dass alle genannten Personen weiterhin mit Jürgen Wiener verbunden sind und sich in die Liste der GratulantInnen, fast alle auch mit einem schriftlichen Beitrag, einreihen. Nur Elisabeth Trux fehlt – es ist sehr traurig, dass sie nicht mehr da ist. 11 | Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974, S. 17: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörende, i) die sich wie Tolle gebärden, j) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, k) und so weiter, l) die den Wasserkrug zerbrochen haben, m) die von Weitem wie Fliegen aussehen.“ 12 | Leider konnten die interessanten und inspirierenden Erkenntnisse aus einer Tagung, die ich am 3. Mai 2019 mit Jürgen Wiener und seinem Freund besucht habe – Titel der Veranstaltung war Improvisation als Gestaltungspraxis, die nicht nur Vorträge, sondern auch zwei kleinere Konzerte mit unter anderem Chris Cutler und Tim Hodgkinson umfasste – an dieser Stelle nicht verarbeitet werden. Es lohnt sich unbedingt, diesem Thema weiter nachzugehen, zumal es in diesem Jahr bereits die zweite Veranstaltung mit einem Musiker des Free Jazz, Peter Brötzmann, war, der ich beiwohnen durfte. 13 | Musil 1997, S. 650. 14 | Zum Wert der Arbeit vgl. Wiener, Jürgen (Hg.): Der Wert der Arbeit. Annäherungen an ein kulturelles Paradigma in Mittelalter, Neuzeit und Moderne, Düsseldorf 2015. 15 | Die Sprache der Wissenschaft zeigt in diesem speziellen Fall doch sehr, wie Dinge, aber auch Menschen zu Objekten gemacht werden. Sprache von Wissenschaft als Jargon der Eigentlichkeit offenbart Ideologien von Wissenschaft. 16 | Wie problematisch es mit der Freiheit auch oder vor allem in der Kunst ist, beschreibt Zappa zur Entstehung des Albums. Zappa, Frank/Occhiogrosso, Peter: The Real Frank Zappa Book, New York 1999, S. 82: „When it came time for us to do our second album, Absolutely Free, MGM proclaimed that we couldn’t spend more than eleven thousand dollars on it. The recording schedules were ridiculous, making it impossible to perfect anything on the album. It was typical of the kind of bullshit we had to put up with until I got my own studio. Gail and I moved to New York in 1967 to play in the Garrick Theater on Bleecker Street. The first place we stayed, before we could find an apartment, was the Hotel Van Rensselaer on Eleventh Street. We were living on a small room on one of the upper floors. I was working on the album cover illustration for Absolutely Free at a desk by the window. I remember the place being so dirty I couldn’t keep the soot off the artwork.“ 17 | Ziemlich schnell war deshalb klar, dass wir für diese Festschrift auch künstlerische Beiträge einbeziehen wollten. Lars Breuer und Sebastian Freytag, beide ehemalige Studenten von Jürgen Wiener, haben sofort zugesagt.

Academic allures, die Welt der Kunstgeschichte und Jürgen Wiener 18 | Ich danke Astrid Lang, Mitherausgeberin dieser Festschrift, für ihren Rat bei der Konstruktion dieses Begriffes und den sinnvollen Hinweis, dass es durchaus auch moot allures heißen könnte. 19 | Der Wirklichkeit in der Kunst, Wirklichkeit durch Kunst – ein breites und gleichsam existentielles Feld – widmet sich auch Johannes Myssok unter dem Titel Ernst Fries und Camille Corot in Civita Castellana: Die Erfindung der Wirklichkeit in diesem Band. 20 | Zu Normierungen in anderen Bereichen in diesem Band Peter Seiler mit Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt: Decus regni, ornatus regis und ornamenta ecclesiae in Einhards Vita Karoli Magni. 21 | Zu dem Begriff der inventio in diesem Band: Claudia Echinger-Maurach mit Michelangelos inventio einer Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi in San Pietro in Montorio und ihr Fortleben in Druckgrafik, Malerei und Skulptur. 22 | Die Massen an Fußnoten und Zitate waren Thema des Gutachtens von Jürgen Wiener zu meiner Dissertation. Sie sind Methode geworden, um Plagiatsvorwürfen, wie sie auch an der Heinrich-Heine-Universität auftraten, aus dem Weg zu gehen, aber auch meine Möglichkeit, um Platz zu sparen und meiner Vorliebe für die Sprache der Anderen frönen zu können. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu diesem Thema liegt selbstverständlich auch vor, und symptomatischer Weise ist es eine tragische Geschichte. Vgl. Grafton, Anthony: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, Berlin 1995. Endnoten sind im Übrigen ein Beispiel für die misslungene Dominanz von Design, konkret: Layout. Für diese Belange stand uns Hannah Schiefer gewohnt unermüdlich zur Seite. 23 | Der Text von Alexander Markschies in diesem Band (Grundrisse kann jeder: Eine Kinderzeichnung, der Kunzische Riss E.T.A. Hoffmanns und ein Grundriss Goethes vom 5.7.1776) zeigt, wie originell gerade Kinderzeichnungen in einem fremden Genre sein können. 24 | Feynman, Richard: „Cargo-Kult-Wissenschaft: Einige Bemerkungen zu Wissenschaft, Pseudowissenschaft und wie man lernt, sich selber nichts vorzumachen“, in: Jeffrey Robbins (Hg.), Richard P. Feynman. Es ist so einfach. Vom Vergnügen, Dinge zu entdecken. Mit einem Vorwort von Freeman J. Dyson. Aus dem Amerikanischen von Inge Leipold, München/Zürich 2001, S. 221–235, hier S. 225. 25 | Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Aus dem Englischen von Gustav Roßler, Frankfurt a. M. 2000, S. 334. 26 | Redaktion Neue Politische Literatur TU Darmstadt: Rezension zu: Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2000, in: H-Soz-Kult, 20.11.2001. https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-765 [07.04.2019]. 27 | Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. V: Das Passagen-Werk. Herausgegeben von Ralf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1991, S. 59. 28 | Musil 1997, S. 250: „Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals

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Sarah Czirr ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist. Was sollte er da Besseres tun können, als sich von der Welt freizuhalten, in jenem guten Sinn, den ein Forscher Tatsachen gegenüber bewahrt, die ihn verführen wollen, voreilig an sie zu glauben! Darum zögert er, aus sich etwas zu machen; ein Charakter, Beruf, eine feste Wesensart, das sind für ihn Vorstellungen, in denen sich schon das Gerippe durchzeichnet, das zuletzt von ihm übrig bleiben soll.“ 29 | Artikel zum Stichwort „Elfenbeinturm“ bei Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Elfenbeinturm [07.04.2019]. 30 | Ebd. 31 | „US-Prominente bestachen Eliteunis für Aufnahmeprüfungen“, titelt DIE ZEIT am 13.03.2019, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-03/elite-universitaeten-usa-prominente-bestechung-betrugsskandal [07.04.2019]. 32 | Latour 2000, S. 43. 33 | Schon Gottfried Semper spricht 1852 von Wissenschaft, Industrie und Kunst. 34 | Zu den formvollendeten Nutzern dieses Mediums gehört Donald Trump. Bei Zappa finden sich zahlreiche Zitate, die sich kritisch zu den republikanischen Politikern (damals hieß das Feindbild noch Ronald Reagan) äußern: „The biggest threat to America today is not communism. It’s moving America toward a fascist theocracy, and everything that’s happened during the Reagan administration is steering us right down that pipe […]. I really think that. […] When you have a government that prefers a certain moral code derived from a certain religion and that moral code turns into legislation to suit one certain religious point of view, and if that code happens to be very, very right wing, almost toward Attila the Hun […].“ 35 | Zur Geschichte und Architektur des Hauses der Universität vgl. Wiener, Jürgen/Pretzler, Georg: Haus der Universität, Düsseldorf 2014. Die Bezeichnung dieses zentralen Ortes – auch für die Initiative Bürgeruniversität – als Haus der Universität schreibt die Geschichte von Soll und Haben, die sich auch an der sprechenden Fassade zeigt, (nicht nur symbolisch) weiter. Sehr passend hierzu ist in diesem Band der Aufsatz Die Kirchen von Bankiers. Die Medici-Bank und die Kunst der Unternehmenskultur im Quattrocento von Dietrich Erben enthalten. 36 | Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1994, S. 139. 37 | Kafka, Franz: In der Strafkolonie. Herausgegeben von Alain Ottiker, Ditzingen 2017, S. 5. 38 | Musil 1997, S. 324: „Es ist natürlich nicht einfach so, daß man anfängt, konservativ zu werden, wenn man zu bequem für Ausschweifungen geworden ist; sondern, wenn wir auch alle als Revolutionäre geboren werden, eines Tages bemerkt man, daß ein einfach guter Mensch, wie immer seine Intelligenz zu bewerten sein möge, ein verläßlicher, heiterer, tapferer, treuer Mensch also, nicht nur einen unerhörten Genuß bereitet, sondern auch der wirkliche Erdstoff ist, in dem das Leben ruht. Das ist eine Altvordernweisheit, aber sie bedeutet den entschei-

Academic allures, die Welt der Kunstgeschichte und Jürgen Wiener denden Wechsel des Geschmacks, der in der Jugend natürlich auf das Exotische gerichtet ist, zum Geschmack des Mannes.“ 39 | Benjamin 1991, S. 55: „Das Neue ist eine vom Gebrauchswert der Ware unabhängige Qualität. Es ist der Ursprung des Scheins, der den Bildern unveräußerlich ist, die das kollektive Unbewußte hervorbringt. Es ist die Quintessenz des falschen Bewußtseins, dessen nimmermüde Agentin die Mode ist. Dieser Schein des Neuen reflektiert sich, wie ein Spiegel im andern, im Schein des immer wieder Gleichen. Das Produkt dieser Reflexion ist die Phantasmagorie der ,Kulturgeschichte‘, in der die Bourgeoisie ihr falsches Bewußtsein auskostet.“ 40 | Randers, Jørgen/Maxton, Graeme: Ein Prozent ist genug. Mit wenig Wachstum soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Klimawandel bekämpfen, München 2016. Massenwirksam kann man jedoch relativieren, denn immerhin handelt es sich um eine Publikation des Club of Rome, gleichermaßen elitär und erfolglos – oder sagen wir lieber, sie haben den Status des einsamen Rufers in der Wüste –, wenn man bedenkt, dass ihre Gründung nun schon mehr als 50 Jahre zurückliegt und bereits 1972 ihre Publikation Die Grenzen des Wachstums erschien. 41 | Bei Zappa in I Am The Slime auf dem Album Over-Nite Sensation von 1973: „I am gross and perverted / I’m obsessed ’n deranged / I have existed for years / But very little has changed / I am the tool of the Government / And industry too / For I am destined to rule / And regulate you […] Your mind is totally controlled […] I am the slime from your video“. 42 | Musil 1997, S. 918. 43 | Der Aktualisierungswahn zeigt sich beispielsweise deutlich im Bauhaus-Jubiläum: „Das Bauhaus war revolutionär und inspiriert und prägt uns bis heute. […] 100 jahre bauhaus im westen: Feiern Sie mit!“ https://www.bauhaus100-im-westen.de/de/ [18.04.2019]. 44 | Feynman 2001, S. 225. Schon 1874 setzte sich jedoch auch Friedrich Nietzsche in Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben mit der Bedeutung der Geschichtswissenschaften auseinander. 45 | Vgl. hierzu Kapitel 2 bei Latour 2000. 46 | Musil 1997, S. 638: „Durch diese zur Virtuosität ausgebildete ,Indirektheit‘ wird heute das gute Gewissen jedes Einzelnen wie der ganzen Gesellschaft gesichert; der Knopf, auf den man drückt, ist immer weiß und schön, und was am anderen Ende der Leitung geschieht, geht andere Leute an, die für ihre Person wieder nicht drücken. Finden Sie es abscheulich? So lassen wir Tausende sterben oder vegetieren, bewegen Berge von Leid, richten damit aber auch etwas aus!“ 47 | Verweigerer gelten wohl heute als Anhänger eines Obskurantismus. 48 | Während der Exkursion mit Jürgen Wiener und Hans Körner an die Côte d’Azur erreichte uns die ernüchternde Ablehnung zur Verlängerung des Graduiertenkollegs beziehungsweise Forschungsprojektes, an dem Jürgen Wiener bereits seit 2005 mitgearbeitet hatte. Einige Vertreter dieser Gruppe – Vittoria Borsò, Andrea von Hülsen-Esch, Hans Körner, Achim Landwehr, Timo Skrandies – tragen zu diesem Band einen Aufsatz bei.

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Sarah Czirr 49 | Vgl. Meier, Frank: Die Universität als Akteur. Zum institutionellen Wandel der Hochschulorganisation, Wiesbaden 2009. 50 | Buck-Bechler, Gertraude: „Hochschule zwischen fremdgesteuertem Veränderungsdruck und selbstgesteuerten Entwicklungskonzepten. Anmerkungen zu einem unerledigten Thema“, in: Beiträge zur Hochschulforschung 1/2.2000, S. 31–45, hier S. 31. 51 | Ebd. S. 35. 52 | http://www.kunstgeschichte.hhu.de/professuren/kun-v-kunstgeschichte-prof-dr-juergen-wiener.html [08.04.2019]. 53 | Ich erinnere mich noch gut, wie Hans Körner dem aufgeregten Habilitanden während eines Besuchs bei Gertrud Krüskemper Mut zugesprochen hat. 54 | Stefan Kummer liefert in diesem Band mit Lukas von Hildebrandt und der Hofgarten der Würzburger Residenz auch einen Beitrag zu diesem Gebiet. 55 | Hans Körner greift diesen Begriff in seinem eigenen Beitrag in diesem Band auf: Das Format als „ikonographische Gelegenheit“. Carl Spitzwegs exzentrische Bildformate. 56 | Erinnert sei hier an die Exkursion nach Neapel 2001 und seine Ausführungen (die Zeitangabe von Anja Schürmann stimmt auffallend genau) zu den Kapitellen der Porta Capuana. 57 | Regelmäßig veranstaltet Jürgen Wiener auch heute noch sogenannte Kathedralenexkursionen, bei denen er sein Wissen zur Bauplastik des Mittelalters freigiebig mit den Studierenden teilt – für manchen Studierenden zu freigiebig, wenn man nach ein paar Stunden auf die müde am Boden sitzende Masse blickt. Die Gespräche mit Jürgen Wiener in jüngster Zeit haben gezeigt, dass weiterhin ein großes Interesse daran besteht, sich in diese Themen zu vertiefen und die Moderne auch mal Moderne sein zu lassen. In diesem Band haben sich ihm zu Ehren etwa Albert Dietl („DOCTA MANUS REPARABAT“. Ein unbekanntes Taufbecken des 12. Jahrhunderts aus dem Veneto) oder Astrid Lang und Iris Metje (Die Propheten und ihre „Kammer“: Objekt, Raum und Rezeption am Beispiel der Kölner Rathauspropheten) mit mittelalterlichen Skulpturen auseinandergesetzt. Jürgen Wieners Interessen an Themen der Moderne jüngster Zeit widmen sich Reinhard Köpf (Floatglas) und Iris Nestler (Glasmalerei des Historismus im Rheinland – die Situation nach Weltkriegen und Bildersturm der Nachkriegszeit) in diesem Band. 58 | Die Ziele der universitären Exkursionen, an denen ich mit Jürgen Wiener teilnehmen durfte, reichen von Paris, Chartres, Mailand, Bamberg, Dessau, Basel über Wien, Versailles, Noyon, Soisson, Straßburg, Baden-Baden, Latium etc. An meiner ersten längeren Exkursion 2000 nach Madrid, die neben Jürgen Wiener auch von Hans Körner und Roland Kanz geleitet wurde, nahm auch Wiebke Windorf teil, die hier Mitherausgeberin der Festschrift ist und einen Beitrag zum Problem einer klassizistischen Kunsttheorie im italienischen 17. Jahrhundert. Giovan Pietro Belloris idea-Konzeption und der Hl. Andreas François Duquesnoys verfasst hat. Jüngst geplant: Fontainebleau im Mai 2019 zusammen mit Christof Baier, Mitherausgeber dieser Festschrift und qua Amt, aber vor allem durch Kenntnis, Experte für Gartenkunst. Sein Vorgänger, Stefan Schweizer, ist mit dem Aufsatz Marginale Inventionen. Anmerkungen zur

Academic allures, die Welt der Kunstgeschichte und Jürgen Wiener Geschichte des Gartenhauses ebenfalls in diesem Band vertreten. Wie Jürgen Wiener ist er ein guter Gesprächspartner in Sachen Musik: Ich erinnere mich da an eine hitzige Diskussion über Captain Beefheart und Tom Waits am Abend einer Exkursion im Veneto unter Leitung der beiden. 59 | Mit A champagne bottle, once upon a time in Chicago – Das Carbide and Carbon Building der Burnham Brothers widmet sich Regina Deckers einem Hotel – so zumindest die heutige Nutzung des Gebäudes. 60 | Frank Zappa, WPLJ auf dem Album Burnt Weeny Sandwich, 1970: „I say WPLJ, really taste good to me / WPLJ, won’t you take a drink with me / Well, it’s a good good wine / It really make you feel so fine / (So fine, so fine, so fine)“. 61 | Zu kulinarischen Themen in diesem Band sei auf Johannes Röll mit Il Sugo della Nonna – Originale in der Kochkunst? verwiesen. 62 | Fast verpassten wir den Anpfiff zum Endspiel der Fußball WM 2014, weil sich die Autofahrt auf dem Rückweg von Naumburg nach Düsseldorf doch unerwartet in die Länge gezogen hatte. 63 | Musil 1997, S. 513. 64 | Das Projekt wird in Kapitel 18 des Real Frank Zappa Book von Zappa/Occhiogrosso 1999 vorgestellt. 65 | Ebd. 66 | Stercken, Angela (Hg.): Kunst – Sport – Körper. Die Gesolei von 1926. Dokumentation. Unter Mitarbeit von Jürgen Wiener und Lars Breuer, Weimar 2004. Angela Stercken ist in diesem Band mit dem Aufsatz „Home“ in the West? Jean Prouvés Maisons tropiques aus Niamey und Brazzaville vertreten. 67 | Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1979, S. 63: „In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen.“ Ich wünsche Dir schon jetzt mehr Zeit für Tee und Kuchen und Lebensprojekte wie dieses Buch. 68 | Vgl. zu diesem Begriff etwa Müller, Marika: Die Ironie: Kulturgeschichte und Textgestalt, Würzburg 1995, S. 166 f.

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Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt Decus regni, ornatus regis und ornamenta ecclesiae in Einhards Vita Karoli Magni* Peter Seiler Die Diskussionen um Möglichkeiten, das Gemeinsame eines Stils des Frühmittelalters oder der karolingischen und ottonischen Zeit zu definieren, sind gescheitert. Für die karolingische Kunst hat die Problemlage am eindrücklichsten Wilhelm Messerer verdeutlicht, ohne die Vorstellung einer epochalen Einheit aufzugeben.1 Die Frage, ob und wie man eine Epoche beziehungsweise einen Epochenstil definieren könne,2 versuchte er phänomenologisch mit der Diagnose elementarer Gestaltungsphänomene zu bewältigen, die sich auch „im morphologisch Verschiedenen“ durchsetzten und dadurch eine spezifische „Struktur des Karolingischen“ erkennen ließen.3 Ausgehend von den Kategorien „Fülle und Kontraktion“ deutete er „das Karolingische“ als „erste Verdichtung einer neuen, allgemeinen Lebendigkeit“, und schrieb ihm als „Anfang“ der Kunst des Abendlandes historische Bedeutung zu.4 Die Resonanz war begrenzt. Die bereits von der älteren Kunstgeschichte genutzte, theoretisch weniger ambitionierte morphologische Stilbestimmung5 und mit ihr gewonnene Einsichten und historiographische Modelle zeigten ein beachtliches Beharrungsvermögen. Sie spielen selbst bei Autoren eine Rolle, die sich inzwischen mehr oder weniger nachdrücklich von stilgeschichtlichen Forschungskonzepten distanzieren. Zu nennen ist der Versuch, ästhetische Programme und Gestaltungsprinzipien zu ermitteln.6 Die bereits in stilhistorisch orientierten Beiträgen vertretene Auffassung, dass die karolingische Kunst und insbesondere die Hofkunst Karls des Großen nur als fester Teil seiner politischen Ambitionen und Reformbestrebungen zu begreifen sei, ist geblieben. Die Schlüsselbegriffe Ordnung, Klarheit, Einheitlichkeit, Normierung und vor allem die Begriffe Richtigkeit (rectitudo) und Berichtigung (correctio) werden teilweise mit neuer Energie zur Unterscheidung von Karolingischem vom Vorkarolingischem zum Einsatz gebracht und

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auf einen Gegenstandsbereich angewendet, der als Kunstproduktion, symbolische Kommunikation, visuelle Kultur oder Dingpolitik nur unscharf bezeichnet wird.7 Fokussiert werden von kunsthistorischer Seite materielle Dinge, weniger rituelle und zeremonielle Handlungen und Inszenierungen.8 Trotz der nicht mehr als bindend aufgefassten Normen neuzeitlicher Ästhetik bleibt der Kanon der Objekte, denen die Hauptaufmerksamkeit gewidmet wird, weiterhin dem traditionellen exklusiven Kanon der als Kunst eingestuften Werke verpflichtet. An erster Stelle stehen – neben den „anspruchsvollen Pfalzen“9 in Aachen, Ingelheim und Nimwegen – eine kleine Gruppe von Erzeugnissen der sogenannten Hofschule Karls des Großen (Buchmalerei, Elfenbeine, Bronzewerke),10 die als aussagekräftigste Materialien und aufgrund eines als epochal eingestuften Innovationsschubs figuraler Bilder nicht selten mit offenkundig imagozentrisch orientierter Arbitrarität als Grundlagenwerke abendländischer (Bild-)Kultur präsentiert werden.11 Der seit jeher aufgrund seiner klassizistisch geprägten Befangenheit von kritischen Einwänden begleitete Begriff der karolingischen Renaissance hat eine schwindende Zahl von Anhängern. Ersetzt wird er überwiegend durch den Begriff der renovatio.12 Eine Kontinuität älterer Thesen ist gleichwohl auch hier zu erkennen. Wird nicht nur generell vom „Einfluss der geistigen Haltung der renovatio“ gesprochen,13 ist weiterhin in erster Linie die Rede von der Dominanz zweier Orientierungsgrößen: der vor allem durch die Kirche getragenen lateinischen Kultur sowie dem „Imperium Romanum als Leitidee“ (renovatio imperii).14 Durch die Abgrenzung einer offiziellen Leitkultur15 von nichtoffiziellen Tendenzen werden letztere als nur partiell und untergeordnet relevant, minderwertig, provinziell, konservativ, wenn nicht rückständig eingestuft.16 Die „Erneuerung der klassischen Kunst“, „in der sich das eigentliche künstlerische Ziel der Zeit Karls des Großen, der ‚style Charlemagne‘, manifestiere“,17 wird dagegen als integraler Bestandteil der allgemeinen Erneuerung aufgefasst. Man ist überzeugt, dass Karls Wille „weite Teile der Lebenswirklichkeit“ erfasste.18 Das von Historikern immer wieder beschriebene „Bestreben nach staatlicher Zusammenfassung, Ordnung und Einheit“19 – der „politische Auftrag der renovatio“ – wird vorbehaltlos auf die Kunstproduktion übertragen, obwohl entsprechende Vorstellungen in zeitgenössischen Quellen nicht artikuliert wurden.21 Der Nukleus der Bildungsreform, der in der Epistula de litteris colendis, um 784, und vor allem in der Admonitio generalis von 789 zutage tritt, ist die philologisch fundierte Textpflege im Dienst des Textverständnisses.22 Die generell plausible Annahme, dass die von Karl versammelten Gelehrten in die Kunstproduktion involviert waren,23 kaschiert durch pauschale Überbeanspruchung das Problem, dass die konkreten Zuständigkeiten und Modalitäten der Zusammenarbeit nicht überliefert sind.24 Suggestive Formulierungen, denen zufolge Kunst und Reform „Hand in Hand“ realisiert wurden25

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sowie umfassende Begriffe wie Karls Kulturpolitik blenden nicht zuletzt die Diversität der Akteure aus.26 Es waren vor allem Fremde (Langobarden, Angelsachen, Iren, Westgoten), die zeitgenössischen Gedichten zufolge durchaus miteinander konkurrierten27 und nicht immer zu einem Ausgleich differierender Denkweisen und Positionen gelangten. Kritik an Vereinfachungen ist nicht neu. So sah sich auch Messerer angesichts der gängigen Hinweise auf Karls kulturelles Lenkungspotential zu der Bemerkung veranlasst, „daß nicht alle Stränge der kulturellen Neuordnung durch seine Hände gelaufen sind“. Er verwies als Beispiel auf die viel beachtete Errungenschaft der karolingischen Minuskel.28 In jüngeren Forschungsbeiträgen sind Hinweise auf die Grenzen der Reform- und renovatio-Bemühungen Karls auch in anderen Bereichen (Liturgie,29 Recht, militärische Ausrüstung30 usw.) häufiger anzutreffen.31 Wichtig erscheinen bereits Komposition und Gebrauch von Karls Herrschertitel. Im unantiken Nebeneinander von Kaiser- und Königstitel manifestierten sich heterogene politische Interessen und in Dokumenten ging der Frankenherrscher situationsbezogen und flexibel mit seinem Titel um. Bei der Münzprägung hielt er sogar (von einigen, wenn überhaupt, dann nur sehr eingeschränkt als Zahlungsmittel genutzten Denaren abgesehen) „an dem Usus fest, der bereits vor 800 etabliert gewesen war“; d. h. auf den weit verbreiteten Münzen blieb Karl nach seiner Kaiserkrönung ein König der Franken und Langobarden.32 Aufschlussreich für kulturelle Diversität sind aber auch die seltenen Denare. Deren nach antiken Vorbildern geschaffene Profilbilder Karls zeigen ihn in antiker Chlamys und bekränzt mit einem Lorbeerkranz, aber auch mit einem „essentiellen Bestandteil fränkischer Identität“: dem Schnurrbart.33 Einheimische Traditionen wurden von Karl gepflegt. So richteten sich seine Initiativen nach Einhards Schilderung nicht nur auf lateinische Texte: „Auch die uralten volksprachlichen Lieder, in denen die Kriegstaten der alten Könige besungen wurden“, habe er aufschreiben lassen.34 Die Heterogenität der visuellen Kultur wird gleichwohl weiterhin unterschätzt, da man wichtige Bereiche nicht genauer in den Blick nimmt.35 In den Hintergrund gerückt wird nicht nur alles, was nicht zur sogenannten Hofkunst gehört beziehungsweise aufgrund der lückenhaften Überlieferung nicht mit ihr in Verbindung gebracht werden kann (profane Metallarbeiten,36 älteren Traditionen verpflichtete Bauten usw.), sondern auch ein weiterer Schlüsselbereich der materiellen Kultur: die Kleidung. Die Überlieferungsbestände sind zwar minimal, aber schriftliche Zeugnisse sind vorhanden.37 Angesichts der lebensweltlichen Omnipräsenz der Trachten der Franken und anderer germanischer sowie romanischer gentes38 erscheint es unangemessen, der Rezeption antiker Kultur einen dominanten Stellenwert zuzuschreiben. Schlaglichtartig lässt sich dies mit dem Paderborner Epos von 799 erhellen. Dessen Autor legt durchaus Wert darauf, Antikenbezüge auch dann hervorzuheben, wenn sie in Wirklichkeit

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nicht immer in vollem Umfang sichtbar waren (allzu detailreich beschreibt er die Aachener Pfalz als Roma secunda), jedoch betonte er auch die zeitgenössische kulturelle Vielfalt in Verbindung mit der Ankunft Leos III. in Paderborn: „ [...] staunend sieht er die Völker (gentes), verschieden an Aussehen (habitu) und Sprachen (linguis), Kleidung (vestis) und Waffen (armis) aus den verschiedensten Teilen der Erde.“39 Es ist nicht entscheidend, ob Leo III. tatsächlich beeindruckt war, sondern die Tatsache, dass im Epos nicht nur antike, sondern auch zeitgenössische kulturelle Vielfalt in Verbindung mit Karl dem Großen positiv gewürdigt wird. Das anhand von Phänomenen der Antikentransformationen skizzierte Panorama kultureller Fusionen40 bedarf einer Ergänzung durch nicht minder intensive Forschungen zur Erfassung kultureller Diversität. Das Reich Karls des Großen war ein Raum kultureller Vielfalt, und gerade den Zeugnissen kultureller Vielfalt sollte angesichts des heutigen Umgangs mit kultureller Alterität Aktualität zugebilligt werden. Vielfalt resultierte jedoch nicht nur aus ethnischer Zugehörigkeit, sondern hatte eine Vielzahl von Ursachen.41 Unter Vielfalt werden im Folgenden alle Phänomene gestalterischer Differenzierung und Diversität verstanden. Mein Anliegen ist angesichts des skizzierten Problemhorizonts begrenzt, nicht aber peripher. Ich möchte deutlich machen, dass die avisierte Verlagerung der Aufmerksamkeit auf Phänomene der Vielfalt nicht nur generell für die visuelle Kultur der damaligen Zeit, sondern bereits für das unmittelbare Umfeld Karls des Großen relevant ist und insbesondere Anlass liefert, das begriffliche Konstrukt eines durch normative Vorgaben von ihm einheitlich gelenkten höfischen Kunstbetriebs, der sogenannten Hofschule, zu überdenken. Als Quelle zur Fundierung dieser Problematik ziehe ich einige Passagen aus Einhards Vita Karoli Magni heran, die, obwohl vielfach zitiert, hinsichtlich ihres Zeugniswerts zum Verständnis visueller Vielfalt nicht ausgewertet wurden. Es handelt sich um Stellen, in denen sehr unterschiedliche Objekte materieller Kultur als decus/decor oder ornatus erwähnt oder im Zusammenhang mit den Verben ornare/adornare genannt werden (Kap. 17; Kap. 23/ Kap.33; Kap. 26; Kap. 27). Bei der Frage nach der Diversität in verschiedenen Bereichen der visuellen Kultur kommt dem Begriff des ornamentum, Schmucks, besondere Bedeutung zu: sei es in der profanen oder sakralen Baukunst, der Buchkunst oder der Kleidung. Im ornamentum, im Schmuck, wird durch Material und Form bedingt durch unterschiedliche Faktoren Diversität generiert. Die Materialwahl kann Status und Wertschätzung des geschmückten Artefakts oder des mit dem Gegenstand Beschenkten visualisieren und zugleich metaphorische Bedeutungen transportieren. Die Form vermittelt, geprägt durch ethnische Bindung oder programmatische Selektion, Rückschlüsse auf den soziokulturellen beziehungsweise religiös-ethischen Hintergrund des Auftraggebers oder Adressaten, kann Traditionslinien fortführen oder Innovationen markieren,

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das Eigene betonen, das Fremde ausgrenzen oder aneignen. Die fünf im Folgenden eingehender behandelten Passagen der Vita Karls des Großen sind für das decus beziehungsweise ornamentum-Konzept aufschlussreich, da sie sowohl die große Bandbreite der zu den ornamenta gezählten Objekte als auch das Vorhandensein hierarchischer Ordnungskriterien zur Bestimmung von Rangunterschieden der Objekte dokumentieren. Basierend auf Ciceros rhetorischer Lehre vom decorum42 und ihrer Transformation für die Architektur bei Vitruv43 spiegeln sie das Vorhandensein von Regeln der Angemessenheit des materiellen und ästhetischen Qualitätsniveaus der Objekte ebenso wie die Vielfalt der Faktoren, die den Gebrauch von ornamenta prägten. In Kapitel 17 berichtet Einhard, dass Karl zahlreiche Bauwerke ad regni decorem et commoditatem errichten ließe. In Kapitel 23 beschreibt er Karls Herrschergarderobe, ohne diese explizit ornatus regis zu nennen. Diesen Begriff verwendet er jedoch in Karls Testaments (Kap. 33). In Kapitel 26 beschreibt er ausführlich die Ausstattung, mit der Karl die Aachener Marienkirche ausschmückte (adornavit) und in Kapitel 27 betont er, dass es für diesen eine Herzensangelegenheit gewesen sei, die Kirche des heiligen Petrus in Rom „zu verschönern und zu bereichern“ (esset ornata atque ditata). Wie für Sueton, auf dessen strukturelles Muster der Cäsarenviten Einhard sich stützt, gehört auch für ihn die Würdigung der Bautätigkeit Karls (Kap.17) zur Profilierung seiner Herrscherleistungen und seiner pietas: „Aber er begann auch zahlreiche Bauwerke, die dem Königreich zur Zierde und zum Nutzen gereichten; (opera tamen plurima ad regni decorem et commoditatem pertinentia diversis in locis inchoavit), einige vollendete er auch. Als die wichtigsten gelten wohl nicht zu Unrecht die Kirche der Heiligen Mutter Gottes in Aachen, die auf bewundernswerte Art und Weise gebaut wurde (opere mirabili constructa), und die Rheinbrücke bei Mainz, die fünfhundert Schritt lang war, da der Fluss an dieser Stelle so breit ist. Ein Jahr vor Karls Tod verbrannte sie und wurde, da der König bald darauf starb, nicht wieder aufgebaut, obwohl er beabsichtigt hatte, sie durch eine steinerne zu ersetzen. Auch begann Karl mit dem Bau von zwei herrlichen Palästen (palatia operis egregii): der eine war nicht weit von Mainz in der Nähe seines Gutes Ingelheim, der andere in Nymwegen am Flusse Waal, der südlich der Bataverinsel fließt. Karls Hauptinteresse galt aber den Kirchen (aedes sacras): wenn er in seinem Reich alte, verfallene Kirchen fand, befahl er den verantwortlichen Bischöfen und Priestern, sie zu restaurieren (ut restaurarentur), und vergewisserte sich durch Boten, daß seine Befehle auch ausgeführt wurden.“44

Auf der theoretischen Ebene werden die antiken literarischen Vorbilder Einhards bereits in dieser Passage greifbar. Die Abfolge der Bauwerke folgt der Rangfolge

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der öffentlichen Bauten bei Vitruv (Sakralbau, dem Gemeinwohl dienende Profanbauten, Palast).45 Die Koppelung von decor et commoditas steht in der Tradition von Ciceros utilitas Begriff in Verbindung mit dem decorum und aptum oder einer Junktur des Horaz’schen delectare aut prodesse. Auf der praktischen Ebene befassen sich mehrere Gesetze mit der Erhaltung und Wiederherstellung alter Bauwerke. Das Capitulare des Conventus in Aachen 802 belegt, dass Karl als Gesetzgeber dafür sorgte, dass Kirchenschmuck wie die Armen- und Fremdenfürsorge mit einem Drittel des Zehnten finanziert werden sollte.46 Es ist beachtenswert, dass Einhard die Aachener Marienkirche zweimal mit dem Konzept decus beziehungsweise ornamentum in Verbindung bringt: Zunächst dient in Kapitel 17 die Errichtung der Kirche als Beleg für die vorbildliche, den decus regni steigernde öffentliche Bautätigkeit, die zu den Herrscherpflichten Karls gehörte, und in Kapitel 26 gilt die Ausschmückung der Kirche als Ausdruck seiner persönlichen Frömmigkeit. In Kapitel 2347 beschreibt Einhard Karls Gewandung: „Er kleidete sich nach der nationalen Tracht der Franken (vestitu patrio, id est Francico): auf dem Körper trug er ein Leinenhemd, die Oberschenkel bedeckten leinene Hosen; darüber trug er einen Rock, der mit Seide eingefasst war;48 die Unterschenkel waren mit Gamaschen umhüllt. Sodann umschnürte er seine Waden mit Bändern und seine Füße mit Schuhen. Im Winter schützte er seine Schultern und Brust durch ein Wams aus Otter- oder Marderfell. Darüber trug er eine blauen Umwurf.49 Auch gürtete er sich stets ein Schwert um, dessen Griff und Gehenk aus Gold oder Silber waren. Nur an hohen Feiertagen oder bei Empfängen von Gesandten aus fremden Ländern trug er ein Schwert, das mit Edelsteinen besetzt war. Ausländische Kleider ließ er sich fast niemals anziehen, auch wenn sie noch so elegant waren, denn er konnte sie nicht leiden. Ausnahmsweise sah man ihn bei zwei Anlässen in Rom in langer Tunika, Chlamys und römischen Schuhen: das erste Mal dem Papst Hadrian, das zweite Male seinem Nachfolger Leo zuliebe. (Peregrina vero indumenta, quamvis pulcherima, respuebat nec umquam eis indui patiebatur, excepto quod Romae semel Hadriano pontifice petente et iterum Leone successore eius supplicante longa tunica et clamide amictus, calceis quoque Romano more formatis induebatur). An hohen Festtagen trug er goldgewirkte Kleider und Schuhe, auf denen Edelsteine glänzten. Sein Umhang wurde dann von einer goldenen Spange zusammengehalten, und er schritt im Schmucke eines Diadems aus Gold und Edelsteinen einher. An anderen Tagen unterschied sich seine Kleidung nur wenig von der des gewöhnlichen Volkes (Aliis autem diebus habitus eius parum a communi ac plebeio adhorrebat).“50

Auf die Zeichensprache der Kleidung und die mit ihr verbundenen Ordnungsvorstellungen wurde vielfach hingewiesen.51 Die Wertigkeit der Objekte wird in erster Linie durch die Kostbarkeit der Materialien bestimmt: erwähnt werden wertvol-

Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt

le Stoffe, Felle und Edelmetalle usw.52 Unterschiedliche Macharten werden nach ihrer Herkunft bestimmt: allgemein inländisch/fränkisch oder ausländisch (peregrina) sowie präzise römisch (more romano). Man wüsste gerne Genaueres über den Grad der Detailliertheit dieser Differenzbestimmungen, insbesondere über den Umfang einer bewussten Differenzierung von Ornamentmustern verschiedener kultureller Prägung. Wichtig ist auch, dass generell zwischen Alltagsgebrauch und Festtagsgebrauch unterschieden wird beziehungsweise zwischen besonderen Anlässen (Rom)53 und ihrem jeweiligen Bedeutungsgrad. Man geht davon aus, dass Karl chlamys, longa tunica und calcei romano more formati zur Salbung seiner Söhne zu Unterkönigen Ostern 781 und zu seiner eigenen Krönung Weihnachten 800 trug.54 Diese Angleichung an Rom erscheint bei Einhard aber keineswegs als Grundverlangen Karls,55 denn dass Hadrian und Leo auf entsprechender Gewandung – dem Ornat des Patricius56 – insistiert hätten (petere/supplicare), unterstreicht eher Karls – mit dem Verb respuere akzentuierte – Abneigung gegen diese. Unklar ist, wie die von Einhard erwähnte römische Tracht zum Bericht des Theophanes passt, Leo habe Karl mit kaiserlichen Gewändern bekleidet.57 Von einer Kopfbedeckung ist nicht die Rede. An einen Lorbeerkranz wie ihn einige antikisierende Denare zeigen, ist nicht zu denken. Ebenso wird die Barttracht Karls nicht erwähnt. Hier sind Münzen aufschlussreich: sie zeigen ihn mit Schnurbart. Es ist daher unwahrscheinlich, dass sich Karl seinen fränkischen Schnurbart in Rom abrasieren ließ, d. h. trotz der römischen Kleidung war er für jedermann als Franke erkennbar. Mit Schnurbart war er später auch auf der Pariser Kaiserbulle (806) dargestellt. In zwei römischen Mosaiken, die nur durch neuzeitliche Nachzeichnungen überliefert sind, war Karl in fränkischer Tracht mit Schnurbart zu sehen. Es handelt sich um die Bilder der Palastaula Leos III. und um das Apsisprogramm von Santa Susanna. Es ist nicht zuletzt die fränkische Tracht, die in beiden Fällen eine Datierung vor 800 hat annehmen lassen, obwohl das für das Mosaikbild in Santa Susanna keineswegs sicher ist.58 Herrschertopik und allgemeine Regeln stehen neben persönlichen Präferenzen: so Karls Abneigung gegenüber ausländischer Kleidung59 und seine Bevorzugung einheimischer, fränkischer60 sowie seine Bescheidenheit im Alltag.61 Es ging nicht allein darum, mit Kleidung, Schmuck und Waffen sowie auch durch Urkunden und Bücher“ und Raritäten, generell kaiserliche Disktinktion zu demonstrieren.62 Die Machart der Objekte wurde auf ihre Funktion abgestimmt. So umfassten auch die utensilia des herrscherlichen Haushalts ein breites Spektrum wertvoller und weniger wertvoller Dinge. Das Ranggefüge herrschaftlicher Requisiten war flexibel und komplex, was bereits anhand seines in Kapitel 33 zitierten Testaments ersichtlich ist:

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Peter Seiler „Um das zu erreichen, teilte er daher sein gesamtes Eigentum und alle Gegenstände aus Gold, Silber, die Edelsteine und den königlichen Schmuck (ornatu regio), die man, wie gesagt, an jenem Tage in seiner Schatzkammer findet, zunächst in drei Teile. […] Zu dem dritten Hauptteil, der wie die anderen aus Gold und Silber besteht, sollen nach seinem Willen auch alle andere Geräte und Gebrauchsgegenstände aus Erz, Eisen und anderen Metallen geschlagen werden, die Waffen, Kleider und der übrige teils kostbare, teils wertlose (aut pretioso aut vili) Hausrat mit seinen verschiedenen Verwendungszwecken, nämlich Vorhänge, Decken, Teppiche, Woll- und Lederzeug, Saumsättel und was sonst noch in der Schatzkammer und in den Kleidertruhen vorgefunden wird.“63

Einhard erwähnt die weltliche Ausstattung Karls des Großen in Verbindung mit mehreren Kapiteln, macht jedoch keine Angaben zu Zuständigkeiten. Die Schrift De ordine palatii des Erzbischofs Hinkmar von Reims64 weist auf das Amt des Kämmerers hin, rechnet aber auch mit situationsgebundenen herrschaftlichen Eingriffen.65 Häufig wurde versucht, Einhard selbst eine „leitende künstlerische Funktion“ zuzuschreiben, da er von Alcuin und Theodulf Beseleel genannt wurde.66 Der Hintergrund für die Adaption des Namens des alttestamentlichen Werkmeisters der Stiftshütte ist nicht hinreichend geklärt.67 Zunächst wird man weniger an die Ausstattung des Palasts als an die Marienkirche denken. Ein Hinweis in den Gesta abbatum Fontanellensium, demzufolge Abt Ansegis von St. Wandrille zum „exactor operum regalium in Aquisgrani palatio regio sub Einhardo abate, viro doctissimo“ bestimmt worden sei, ist kaum hilfreich, da nähere Angaben zu den opera fehlen.68 Zum ornatus palatii, den König Arnulf 893 dem Kloster St. Emmeram schenkte, gehörten nach den Angaben der von Arnold von St. Emmeram in den dreißiger Jahres des 11. Jahrhunderts verfassten Vita des Heiligen vor allem liturgische Ausstattungsstücke.69 In Kapitel 26 beschreibt Einhard ausführlich die Ausstattung, mit der Karl die Aachener Marienkirche ausschmückte: „Die christliche Religion, mit der er seit seiner Kindheit vertraut war, hielt er gewissenhaft und fromm in höchsten Ehren. Deshalb erbaute er die wunderschöne Kirche in Aachen (plurimae pulchritudinis basilicam Aquisgrani exstruxit), die er mit Gold und Silber, mit Leuchtern und Gittern und Türen aus massivem Metall ausschmückte (auroque et argento et luminaribus atque ex aere solido cancellis et ianuis adornavit). Für diesen Bau ließ er Säulen und Marmor aus Rom und Ravenna bringen, da er sie sonst nirgends bekommen konnte. Er besuchte die Kirche regelmäßig morgens und abends, nahm an den nächtlichen Horen und an den Messen teil, solange es seine Gesundheit erlaubte. Er bestand darauf, daß alle dort abgehaltenen Gottesdienste mit möglichst großer Feierlichkeit zelebriert wurden. Oft ermahnte er die Kirchendiener, daß nichts Ungebührliches oder Unreines in die Kirche gebracht werden

Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt oder dort verbleiben dürfe. Er schenkte der Kirche viele heilige Gefäße aus Gold und Silber (sacrorum vasorum ex auro et argento) sowie eine große Zahl von Priestergewändern (vestimentorumque sacerdotalium): nicht einmal die Türsteher, die die niedrigsten Kirchenämter versahen, mußten während des Gottesdienstes ihre alltäglichen Kleider tragen. Größte Aufmerksamkeit widmete er der Verbesserung des liturgischen Lesens und des Psalmengesanges (Legendi atque psallendi disciplinam diligentissime emendavit). Er war in beidem selbst wohl bewandert, wenngleich er in der Öffentlichkeit nie vorlas und nur leise im Chor mitsang.“70

In Kapitel 27 betont Einhard, dass es für Karl eine Herzensangelegenheit gewesen sei, die Kirche des heiligen Petrus in Rom „zu verschönern und zu bereichern“ (esset ornata atque ditata). „Er verehrte die Kirche des heiligen Apostels Petrus in Rom vor allen anderen heiligen und verehrungswürdigen Stätten und beschenkte ihre Schatzkammern mit großen Mengen von Gold, Silber und Edelsteinen (in cuius donaria magna vis pecuniae tam in auro quam in argento necnon et gemmis ab illo congesta est). Auch an die Päpste sandte er zahllose Geschenke. Während seiner ganzen Regierungszeit lag ihm nichts so sehr am Herzen als der Wunsch, die Stadt Rom durch seine Bemühungen wieder zu ihrem alten Ansehen zu bringen, die Kirche des heiligen Petrus zu verteidigen und zu beschützen und sie durch eigene Mittel zu verschönern und zu bereichern, so daß sie unter allen Kirchen hervorragte. Obwohl er sie so hoch verehrte, kam er im Laufe seiner siebenundvierzigjährigen Regierung jedoch nur viermal nach Rom, um dort seine Gelübde zu erfüllen und seine Andacht zu verrichten.“71

Einige konkrete Informationen über Karls kaiserliche Stiftungen liefert der Liber Pontificalis.72 Man würde gerne wissen, „wie denn wohl die Votivkrone, die Kelche, Patenen und mensae, das Prozessionskreuz, der Altar mit silbernen Säulchen und Ziborium sowie das evangelium cum battaci ausgesehen haben möchten.“73 Objekte fremdartiger Machart sind nicht auszuschließen, da Karl bereits 795 einen Teil der Beute aus dem Sieg über die Awaren nach Rom gesandt hatte.74 Die Bandbreite und Vielfalt der zum Kirchenschmuck gerechneten Gegenstände reicht von Elementen der Bauornamentik bis zur Kleidung der Türsteher. Wie beim profanen Hausrat ist auch hier eine Materialhierarchie erkennbar. Gold-, Silber-, und Bronzewerke werden zunächst in der üblichen Staffelung genannt,75 dann erst die marmornen Säulen, die ebenfalls als schmückender Beitrag zur herausragenden Schönheit der Kirche erwähnt werden.76 Die gesonderte Hervorhebung liturgischer Gefäße passt zu dem Bekenntnis zum Schmuck der Kirchen in der Admonitio generalis77 und in den Libri Carolini, wo liturgische Gefäße als vasa sacrata von den anderen Ausstattungsgegenständen abgehoben werden.78 Rang und Status werden auch als Kriterien für angemessene Staffelung von Kleidung

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erwähnt. Wie bei Karls Gewandung werden Alltag und Feiertag sowie besondere Anlässe unterschieden. Die Vermeidung von Unschicklichem und Unreinem wird als Anliegen hervorgehoben, zunächst allgemein, später wird auf Bemühungen zur „Verbesserung des liturgischen Lesens und des Psalmengesangs hingewiesen“. Von Bildschmuck jeglicher Art79 und von liturgischen Büchern spricht Einhard nicht, obwohl er selbst die Gewänder der Türsteher, also rangniedrige Schmuckobjekte, erwähnt. Erst im Testament Karls (Kap. 33) wird auf dessen Bücherbesitz und die Bibliothek hingewiesen: „Ferner hat der Besitzer bestimmt, dass seine Kapelle, beziehungsweise deren Eigentum, d. h. alles, was er selbst gestiftet und dafür gesammelt hat, sowie das von seinem Vater ererbte Gut darin, durch keine Teilung zersplittert werde. Sollten dort aber Geräte, Bücher oder andere Gegenstände vorhanden sein (aut vasa aut libri aut alia ornamenta), von denen man sicher weiß, dass er sie der Kapelle nicht geschenkt hat, so könnte jeder, der wolle, diese für einen entsprechenden Preis kaufen. Dasselbe gilt auch für die Bücher, von denen er eine große Anzahl in seiner Bibliothek gesammelt hat (Similiter et de libris, quorum magnam in bibliotheca sua copiam congregavit, statuit): sie sollen nach ihrem Werte an Leute verkauft werden, die sie erwerben wollen, und der Erlös an die Armen verteilt werden.“80

Es steht außer Frage, dass auch Bilder und Bücher zu den ornamenta ecclesiae gehörten. Die überlieferten Handschriften und ihre Widmungsgedichte zeigen, welchen der bereits erörterten Kriterien des ornare Buchproduktion und Buchgebrauch folgten beziehungsweise welche hinzukamen. Buchgestaltung jeglicher Art hatte Ornatfunktion und wurde im Rückgriff auf die Dekorumslehre als passender Schmuck legitimiert. Religiöse Texte rechtfertigten höchste Auszeichnung, da es das Wort Gottes zu schmücken galt. Aber auch bei ihnen war die Höhe des Aufwands abhängig vom Gebrauch und gegebenenfalls vorhandenen zusätzlichen repräsentativen Ansprüchen. Auch der philologischen Emendation des Bibeltextes wurde wie der Verbesserung der Lesequalität und des Psalmengesangs in der Marienkirche in Aachen Schmuckqualität zugeschrieben, da, wie in der Rhetorik, auch in Liturgie, Musik und Philologie die Güte der Form dem Wert des Inhalts angemessen zu sein hatte.81 Für die Buchkunst exemplarisch sind der Dagulf-Psalter und seine Widmungsgedichte,82 deren erstes vom Schreiber Dagulf an seinen königlichen Auftraggeber Karl die Funktion des Buchschmucks definiert: „Goldene Buchstaben malen die Gesänge Davids (aurea Daviticos en pingit littera cantus) / Es ziemte sich, solche Lieder so schön zu schmücken (ornari decuit tam bene tale melos). / Goldene Worte ertönen, sie verheißen goldene Reiche und besingen ein Gut, das ewig wird wäh-

Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt ren. / Zu Recht werden schön (cultim) sie geschmückt mit Tafeln aus Elfenbein,/die geschnitzt wunderbar eine begabte Hand.“83

Die im Bildprogramm des Einbandes dargestellte Geschichte des Psalmentextes, seiner Offenbarung und Überlieferung, setzt Dagulf in seinem Widmungsgedicht über die Lobpreisung der Emendationen des Hieronymus bis zum Auftrag der Prachthandschrift durch Karl fort.84 Ähnliches philologisches Selbstbewusstsein dokumentiert auch ein Gedicht Theodulfs,85 was unterstreicht, dass die Gelehrten selbst als Schmuck des Hofes verstanden wurden, da sich in ihnen das geistige Potential des weisen Herrschers personalisierte. So dichtet Angilbert, Laienabt von St. Riquier: „David [gängiges Pseudonym für Karl] wünscht Lehrer in der Königshalle zu haben, weise im Geist, zum Schmuck, zum Ruhm jedweder Wissenschaft, damit er fleißigen Geistes die Weisheit der Alten erneuere.“86 Die Spitze der Schmuckhierarchie bildet der Herrscher selbst. Im Paderborner Epos wird er als „Haupt der Welt“ sowie als „Liebe und Schmuck des Volkes“ (caput orbis, amor populique decusque) gepriesen.87 Vor dem Hintergrund, dass sich Karl auf Hadrians Bitte in Rom ein erstes Mal more romano kleidete, erscheint beachtenswert, dass er in Verbindung mit seiner Romreise ein liturgisches Buch, das Godescalc Evangelistar, in Auftrag gab, zu dessen Gestaltung spätantike Vorlagen herangezogen wurden. Auch für die zweite Handschrift, die mit Karl in Verbindung gebracht werden kann, den bereits erwähnten Dagulf-Psalter, ist ein Rombezug überliefert. Er sollte dem nachträglich eingebundenen Widmungsgedicht zufolge ein reich geschmücktes, anspruchsvolles Geschenk für Hadrian sein.88 Mehr oder weniger zeitnah entstand aber auch der Codex der Libri Carolini, mit dem Hadrian über die fränkische Position im Bilderstreit informiert werden sollte. Die Würde des Papstes stand hier nicht im Vordergrund. Da der Text in polemischem Ton eine theologische Argumentation und nicht das geoffenbarte Wort Gottes transportieren sollte, wurde der Codex dem angemessen mit bescheidenem Buchschmuck ausgestattet, der durch seine antikenferne nordische Ornamentik zugleich geeignet war, dem Papst auch visuell die eigenständige Haltung der Franken zu signalisieren.89 Man hat es also mit zwei annähernd zeitgleichen Hofhandschriften zu tun, die für denselben Adressaten bestimmt waren, aber aufgrund unterschiedlicher Anlässe verschiedenartig gestaltet wurden.90 Das Beispiel zeigt deutlich, dass von einer Marginalisierung oder gar programmatischen Verdrängung insularer Traditionen nicht die Rede sein kann.91 Die prunkvollen Initialen der aufwendigsten Evangeliare sind mehr als ein konservatives Relikt insularer Traditionen. Sie dürften neben den spätantiken Vorlagen entstammenden Evangelistenbildern als kulturelle Identitäts- beziehungsweise Inklusionsmarkierung nicht weniger prägnant gewesen sein als der fränkische

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Schnurbart der ansonsten antikisierenden Münzprofilbildnisse Karls. Zudem wurden nicht nur Handschriften hergestellt, mit deren Bildschmuck „eine neue Epoche anbrach,“92 es gab auch solche, in deren Buchschmuck älteres beziehungsweise weniger aufwendiges Formengut gepflegt wurden. So lässt das Getty-Evangelistar, an dem einer der Schreiber der vatikanischen Handschrift der Libri Carolini beteiligt war, nicht nur ein weit geringeres Qualitätsniveau als das zum Vergleich herangezogene Godescalc-Evangelistar erkennen, sondern es weist in ornamentalen Details in ähnlicher Weise wie der Codex der Libri Carolini eine Mischung aus kontinentalen und insularen Reminiszenzen auf.93 Angesichts der hier bereits erkennbaren Bandbreite und Flexibilität sollte es nicht verwundern, „dass gleichzeitig an demselben Hof Karls des Großen noch Raum und Möglichkeit für eine ganz anders geartete Kunst war“: die Handschriftengruppe, die nach dem Wiener Krönungsevangeliar benannt wird.94 Man hat angesichts ihrer hellenistischen Züge auf eine programmatische Differenz zur vorhandenen Hofkunst geschlossen.95 Wichtiger erscheint es jedoch, dass die zwischen den Texten der Handschriften nachgewiesenen Beziehungen zeigen, dass die Bemühungen um korrekte und einheitliche Texte generell mit einer Diversität künstlerischer Buchausstattungsarten einherging.96 Auch die Verwendung unterschiedlicher Schrifttypen lässt regulierte Vielfalt erkennen. Die Prachthandschriften sind häufig auf purpurfarbenem Pergament mit goldener und silberner Tinte in Unicialschrift oder in der neuen karolingischen Minuskel geschrieben. Weiterhin wurden auch Capitalis-Varianten als Auszeichnungsschriften eingesetzt. Normierte Vereinheitlichung war nicht das Ziel, sondern regulierte Vielfalt, die dem Prinzip hierarchischer Staffelung folgte.97 Das schloss die Favorisierung einer einzigen Schriftart nicht aus, wenn es angemessen erschien: Das Epitaph für Papst Hadrian I. ist hier das prominenteste Beispiel. Materialästhetik war auch bei diesem Monument im Spiel: „Die mit höchster Sorgfalt gemeißelten Buchstaben waren in der Tradition antiker litterae aureae offenbar mit Gold ausgemalt. In einem zweiten Grabtext auf Hadrian, angefertigt von Theodulf in Konkurrenz zu Alkuin, wird dies explizit erwähnt: ,die goldene Schrift enthält das Grabgedicht, und es ertönt die goldene Farbe von tränenreichen Worten‘98, eine Formulierung, die an das Widmungsgedicht des Godescalc-Evangelistars erinnert.“99 Vor dem Hintergrund der in unterschiedlichen Bereichen erkennbaren Vielfalt der visuellen Kultur, stellt sich angesichts der auch in den Prunkhandschriften vorhandenen Unterschiede die Hofschulfrage. An dem Konstrukt wird trotz ungeklärter Fragen überwiegend festgehalten.100 Die Unsicherheiten der Koehlerschen Auffassung, dass die ehemals sogenannte Ada-Gruppe aus der Hofschule Karls des Großen hervorging und wesentlich von seinem Herrscherwillen geprägt wurde, werden insbesondere von seinen orthodoxen Anhängern nicht ernst genommen. Man darf jedoch bezweifeln, dass es über drei Jahrzehnte hin-

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durch in besonderer Weise geschulte Schreiber und Maler gab, die innerhalb eines „größeren Schreibbetriebs“ eine „deutlich abgegrenzte Gemeinschaft“ bildeten101 und dauerhaft über privilegierte Arbeitsmöglichkeiten verfügten.102 Die Arbeitsorganisation dürfte komplexer und vor allem weniger schulmäßig gewesen sein.103 Die These der Sonderstellung der Hofschule als eines von klösterlichen Traditionen losgelösten höfischen Betriebs verliert an Plausibilität, wenn man Diversitäten ernst nimmt. „Hof“ kann, wie Messerer bereits zu bedenken gab „zu dieser Zeit gar nicht verstanden werden ohne seine Verflechtung mit Bischofssitzen und Klöstern [...]. Mag der Kreis der Kulturträger auch klein gewesen sein, und mag ihre Aktivität auch vom Herrscher gestärkt, gelenkt Ziele worden sein, ganz kann sie nicht von ihm ausgegangen sein, denn für sie sind Einfälle nötig, wie sie in den Werken sichtbar sind.“104 Außer Einfällen waren freilich in jedem Fall eine Reihe funktionaler Faktoren wichtig. Die Revisionsbedürftigkeit der These eines zentral gelenkten und einheitlichen Zielen verpflichteten karolingischen beziehungsweise karlinischen Kunstbetriebs zeigt sich nicht nur, „sobald sie in einen weiteren Rahmen gestellt wird“.105 An Karls Hof entstanden auch Werke, die unterhalb des höchsten höfischen Anspruchsniveaus lagen, weil sie frei von höchsten Repräsentationszwecken durch seine Vorlieben oder die anderer Hofangehöriger geprägt wurden. Die forcierten Versuche, Schulzusammenhänge und Traditionen, langjährige Lernprozesse,106 die „bewusste und konsequente Ausbildung und Durchführung eines künstlerischen Programms“107 oder gar „Ziele einer Entwicklung“ beziehungsweise „schrittweise Entfaltung eines Potentials“108 zu bestimmen, sind hier wenig hilfreich. Man muss mit personellen Fluktuationen rechnen,109 wechselnden Zuständigkeiten, ad hoc zustande kommenden Gelegenheiten, äußeren Impulsen, temporären Vorlagenbeschaffungen im Rahmen des Leihverkehrs der klösterlichen Bibliotheken,110 individuellen Spielräumen bei der Ausgestaltung von Details, die bei Büchern z. B. auch formale Unterschiede zwischen elfenbeinernem Deckelschmuck und dem inneren Buchschmuck zuließen usw.111 Zweifellos war die Gestaltung der Werke von vielfältigeren Faktoren abhängig, als die Suche nach Gemeinsamkeiten der Hofschule zutage zu fördern vermag. Es lassen sich noch weitere Gesichtspunkte aufzeigen, die es sinnvoll erscheinen lassen, das in Handbüchern und Ausstellungen kanonisierte Bild von „Karls Kunst“112 beziehungsweise auch das Konstrukt einer von dynastischer Hofkunst einheitlich gelenkten und geprägten „karolingischen Kunstepoche“ durch ein umfassenderes und komplexeres Bild der Vielfalt der visuellen Kultur des westeuropäischen Frühmittelalters zu ersetzen.113 Dabei scheint es sinnvoll, auf dem Weg zu einem differenzierteren Erklärungsmuster insbesondere dem Konzept des ornamentum noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen.114 Der in den Quellen immer wieder anzutreffende Ornamentbegriff zeigt auch, dass sozialgeschichtlich inspi-

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rierte methodische Konzepte wie das der „Dingpolitik“ wesentliche Phänomene der visuellen Kultur nicht erfassen, wenn die Vielfalt form- und materialästhetischer Macharten ausgeblendet bleibt.115 So groß der Abstand heutiger ästhetischer Analysen „zu den geschichtlich rekonstruierbaren Erfahrungsmöglichkeiten“ erscheinen mag116 – Annäherungen sind möglich, machen aber viel Arbeit.

A nmerkungen * | Die hier skizzierten Überlegungen zu einer Neuausrichtung der Forschungen zur visuellen Kultur zur Zeit Karls des Großen ergaben sich im Rahmen des DFG-Projekts „Bildkritik und pragmatische Bildkultur im europäischen Mittelalter: Die Libri Carolini und die karolingische Bildkunst“. Für wichtige Hinweise und die Übersetzung lateinischer Zitate danke ich Ursula Rombach. Für eine kritische Lektüre des Manuskripts danke ich auch Nadine Stuhlmann und Michail Chatzidakis. 1 | Messerer, Wilhelm: Karolingische Kunst, Köln 1973, bes. S. 21–24 sowie S. 77. 2 | Vgl. hierzu die Beiträge in: Gumbrecht, Hans-Ulrich/Link-Heer, Ursula: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur und Sprachtheorie, Frankfurt a. M. 1985; Herzog, Reinhart/Koselleck, Reinhart: Epochenschwelle und Epochenbewusstsein (=Poetik und Hermeneutik, Bd. 12), München 1987. 3 | Messerer 1973, S. 9 und S. 88. 4 | Messerer 1973, S. 24 und S. 45. Zur gängigen Vorstellung, dass die karolingische Kunst den Anfang des Mittelalters markiere vgl. u. a. Mütherich, Florentine: „Die Buchmalerei am Hofe Karls des Großen“, in: Wolfgang Braunfels/Hermann Schnitzler (Hg.), Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 3: Karolingische Kunst, Düsseldorf 1965, S. 45. 5 | Messerer 1973, S. 25 betonte demgegenüber, dass sich mit morphologischer Stilbestimmung das Eigentümliche der karolingischen Kunst nicht erschließen lasse. 6 | Vgl. hierzu z. B. Bredekamp, Horst: Der schwimmende Souverän. Karl der Große und die Bildpolitik des Körpers, Berlin 2014, insbesondere die in Kapitel IV „Verlebendigen“ verfolgte These, dass die „Grenzaufhebung von Anorganik und Organik das tragende Element der Bildpolitik des Kaisers“ gewesen sei. 7 | Reudenbach, Bruno: „Rectitudo als Projekt: Bildpolitik und Bildungsreform Karls des Großen“, in: Ursula Schaefer (Hg.), Artes im Mittelalter, Berlin 1999, S. 283–308; Reudenbach, Bruno: „Kulturelle Fusionen. Herkunft, Formung und Aufgaben der Kunst im frühen Mittelalter“, in: ders. (Hg.), Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 1: Karolingische und ottonische Kunst, München/Berlin/London/New York 2009, S. 9–31, bes. S. 20 und 29; Cordez, Philipp: „Karl der Große, die Dinge und das Reich. Reliquiensammlungen und Kirchenschätze“, in: Peter van den Brink/Sarvenaz Ayooghi (Hg.), Karl der Große/Charlemagne. Karls Kunst.

Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt Katalog der Sonderausstellung Karls Kunst vom 20.06.–1.09.2014 im Centre Charlemagne, Aachen/Dresden 2014, S. 47–55. 8 | Zu diesem Feld visueller Kultur der Zeit Karls des Großen siehe Hack, Achim Thomas: „Ritual und Zeremoniell um 800“, in: Frank Pohle (Hg.), Karl der Große/Charlemagne. Orte der Macht, Ausst.-Kat. Dresden 2014, S. 266–275; McCormick, Michael: „Paderborn 799: Königliche Repräsentation – Visualisierung eines Herrscherkonzepts“, in: Christoph Stiegemann/ Matthias Wemhoff (Hg.), 799 Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, Bd.3: Beiträge zum Katalog der Ausstellung, Mainz 1999, S. 71–81. 9 | Jacobsen, Werner: „Herrschaftliches Bauen in der Karolingerzeit. Karolingische Pfalzen zwischen germanischer Tradition und Antikenrezeption“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 3 Beiträge, S. 91–94, S. 93. 10 | Little, Charles T.: „A new Ivory of the Court School of Charlemagne“, in: Katharina Bierbrauer/Peter K. Klein/Willibald Sauerländer (Hg.), Studien zur mittelalterlichen Kunst 800– 1250. Festschrift für Florentine Mütherich zum 70. Geburtstag, München 1985, S. 11: „However, in spite of all that has been written about the Carolingian ‚renovatio‘ there are relatively few monuments to survive with which we can define its character.“ Together there are hardly more than two dozen existing illuminated manuscripts and ivories produced within the court school of Charlemagne.“. 11 | Messerer 1973, S. 28: „In der karolingischen Kunst geht es um noch Elementares: um das Figursein überhaupt.“ Vgl. ebenda auch S. 49, 59, 70. Die Hervorhebung einer neuen Bedeutung anthropomorpher Darstellung war bereits in der älteren Literatur geläufig, vgl. u. a. Koehler, Wilhelm: Buchmalerei des Mittelalters. Fragmente und Entwürfe aus dem Nachlass hg. von Ernst Kitzinger/Florentine Mütherich, München 1972, S. 105; Fillitz, Hermann: Das Mittelalter I (= Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 5), Nachdruck, Frankfurt/Berlin/Wien 1984, S. 24. 12 | Vgl. hierzu Messerer 1973, S. 29–31; McKitterick, Rosamond: „Die karolingische Renovatio. Eine Einführung“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 2 Ausst,-Kat., S. 668–685. Es ist hier an zwei ältere kunsthistorische Beiträge zu erinnern, die in den umfangreichen Literaturverzeichnissen der Ausstellungen in Paderborn 1999 und Aachen 2014 fehlen: Paatz, Walter: „Renaissance oder Renovatio? Ein Problem der Begriffsbildung in der Kunstgeschichte des Mittelalters“, in: Beiträge zur Kunst des Mittelalters. Vorträge der Ersten Deutschen Kunsthistorikertagung auf Schloss Brühl 1948, Berlin 1950, S. 16–27; Panofsky, Erwin: Renaissance und Renascences in Western Art, New York/Evanston/San Francisco/London 1972. 13 | Jülich, Theo: „Fragen an die Hofschule“, in: van den Brink/Ayooghi 2014, S. 57–73, S. 59. 14 | B. Reudenbach 2009, S. 16 und S. 17. 15 | Mütherich 1965, S. 12 betont, dass die höfische Buchkunst „Muster und Vorbild im Reiche sein konnte“; ähnlich Mütherich, Florentine: „Einführung“, in: Florentine Mütherich/Joachim E. Gaehde, Karolingische Buchmalerei, München 1976, S. 7–18, S. 8; Mütherich, Florentine: „Die Erneuerung der Buchmalerei am Hof Karls des Großen“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999,

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Peter Seiler Bd. 3 Beiträge, S. 561–609, S. 560. Die explizite Hervorhebung des offiziellen Charakters der Hofschule findet sich z. B. bei Grimme, Ernst Günther: Europäische Malerei im Mittelalter (= Ullstein Kunstgeschichte, Bd. 12) Frankfurt a. M. 1963, S. 12; Elbern, Viktor H.: „Die bildende Kunst des frühmittelalterlichen Imperiums“, in: Erich Kubach/Viktor H. Elbern, Das frühmittelalterliche Imperium (Kunst der Welt), Baden-Baden 1968, S. 107–237, S. 128. 16 | Messerer 1973, S. 14 sagt (in Verbindung mit dem älteren Lindauer Buchdeckel) von der Völkerwanderungskunst, dass sie „im Grunde noch keiner Hochkultur zugehörige Stile entfaltet hat.“ 17 | Mütherich 1965, S. 11; vgl. auch Mütherich 1976, S. 9; Mütherich 1999, S. 562: „Entscheidend in dieser Verbindung der beiden Welten, der nördlichen und der südlichen, aber ist es, dass die neue Einheit nicht nur antike Motive und Muster übernommen hat, sondern dass sie auch von den Gesetzen der klassischen Kunst bestimmt ist. Sie trennt Ornament und Figurenwelt [...].“ 18 | Wolter von dem Knesebeck, Harald: „Godescalc, Dagulf und Demetrius. Überlegungen zu den Buchkünstlern am Hofe Karls des Großen und ihrem Selbstverständnis“, in: van den Brink/Ayooghi 2014, S. 31–45. S. 37; vgl. z.B. auch Erkens, Franz-Reiner: „Karolus Magnus – Pater Europae? Methodische und historische Problematik“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 1 Ausst.-Kat., S. 2–9, S. 7; Reudenbach 2009, S. 18; Müller, Rebecca: „Antike im frühen Mittelalter. Erbe und Innovation,“ in: B. Reudenbach, Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 1: Karolingische und ottonische Kunst, München/Berlin/London/New York 2009, S. 190–215, bes. S. 191. Diffuse Hinweise auf die große Reichweite der Reformbemühungen Karls des Großen waren bereits in der älteren Literatur geläufig; Braunfels, Wolfgang: „Die Polarität zwischen germanische Tradition und klassische Antike am Hof Karls des Großen“, in: Roma e l’età carolingia : atti delle Giornate di studio, 3–8 maggio 1976, a cura dello Istituto di storia dell’arte dell’Università di Roma, Rom 1976, S. 20: „Es gehörte zu den Wesenszügen der Persönlichkeit von Karls dem Großen, daß er auf vielen Gebieten des Lebens Normen setzen wollte. Er befahl Ordnungssysteme. Ein staatlicher Zentralismus sollte viele Bereiche des Lebens in vorgeschriebene Bahnen lenken.“ 19 | Boussard, Jacques: Die Entstehung des Abendlandes. Kulturgeschichte der Karolingerzeit, München 1968, S. 7, zit. nach Messerer 1973, S. 26. 20 | Jülich 2014, S. 72. 21 | Kurze, weitgehend folgenlose Hinweise auf dieses selten intensiver reflektierte Problem u.a. bei Reudenbach 1999, S. 284 und R. Müller 2009, S. 191. Vgl. dagegen Jacobsen, Werner: „Spolien der karolingischen Architektur“, in: Joachim Poeschke, (Hg.), Antike Spolien in der Architektur des Mittelalters und der Renaissance, München 1996, S.155–177, S. 156. 22 | MGH Leges, Capitularia regum Francorum I, Karoli Magni Capitularia, Admonitio generalis Kap. 70, S. 59: Ut episcopi diligenter discutiant per suas parrochias presbyteros, eorum fidem, baptisma et missarum celebrationes, ut et fidem rectam teneant et baptisma catholicum observent et missarum preces bene intellegant, et ut psalmi digne secundum divisio-

Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt nes versuum modulentur et dominicam orationem ipsi intellegant et omnibus praedicent intellegendam, ut quisque sciat quid petat a Deo; et ut‚ Gloria Patri‚ cum omni honore apud omnes cantetur; et ipse sacerdos cum sanctis angelis et populo Dei communi voce‚ Sanctus, Sanctus, Sanctus‚ decantet. Vgl. Hartmann, Wilfried: „Aachen als Zentrum der karolingischen Kirchenpolitik“, in: Pohle 2014, S. 346–353, S. 346. 23 | Reudenbach 2009, S. 24. 24 | Vgl. Mütherich 1999, S. 569. 25 | Mütherich 1965, S. 12. 26 | Von Kulturpolitik spricht bereits Grabar, André/Nordenfalk, Carl: Das frühe Mittelalter vom vierten bis zum elften Jahrhundert (Die großen Jahrhunderte der Malerei, hg. von Albert Skira), Genf 1957, S. 133, 158; vgl. z. B. auch Pippal, Martina: Kunst des Mittelalters – Eine Einführung. Von den Anfängen der christlichen ‚Kunst‘ bis zum Ende des Hochmittelalters, Wien/Köln/Weimar 2002, S. 159, 170; Stiene, Heinz Erich: Die Literatur am Hofe Karls des Großen. Lateinische und volkssprachliche Dichtungen, in: Pohle 2014, S. 316–325, S. 322. 27 | Vgl. Fried, Johannes: Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie, München 2014, S. 280; die in diesem Zusammenhang immer wieder beachtete Quelle ist Theodulfs Carmen XXV Ad Carolum regem, MGH Poetae latini Carolini aevi I, S.483; vgl. Stiene 2014, S. 318–320; Bischoff, Bernhard: „Theodulf und der Ire Cadac-Andreas“, in: Historisches Jahrbuch 74, 1955, S. 92–98. 28 | Messerer 1973, S. 26 und S. 119–120, vgl. Bischoff, Bernhard: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 24), Berlin 1986, bes. S. 154–155; Ganz, David: „The Preconditions for Caroline Minuscule“, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 18.1987, S. 23–43; Schmid, Anne: „Schriftreform – Die karolingische Minuskel“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 3 Beiträge, S. 681–691; Lohrmann, Dietrich: „Textwissenschaft am Karlshof“, in: Pohle 2014, S. 296–305. 29 | Schneider, Herbert: „Karolingische Kirchen- und Liturgiereform – Ein konservativer Aufbruch“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 2 Ausst.-Kat, S. 772–781. 30 | Steuer, Heiko: „Bewaffnung und Kriegsführung der Sachsen und Franken“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd.3, S. 310–322, Westphal, Herbert: „Zur Bewaffnung und Ausrüstung bei Sachsen und Franken. Gemeinsamkeiten und Unterschiede am Beispiel der Sachkultur“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 3 Beiträge, S. 323–327. 31 | Zur Liturgie siehe Hen, Ytzack: „Die karolingische Liturgie und Rom“, in: Pohle 2014, S. 343, 345. Stachura, Norbert: „Das Epitaph Papst Hadrians I.: zum Gestaltungsprinzip“, in: Kunstchronik 62.2009, S. 5–9, S. 9 kommt in seinen Studien zu den Maßeinheiten des Epitaphs für Hadrian I. zu dem Ergebnis, „[…] dass es keinen oft vermuteten im Reichsgebiet einheitlichen ‚karolingischen Fuß‘ gegeben hat, sondern dieser regional bedingt variierte“. 32 | Patzold, Steffen: Die Kaiseridee Karls des Großen, in: Pohle 2014, S. 154–155; Garipzanov, Ildar: The Symbolic Language of Authority in the Carolingian World (c. 751–877), Leiden/Bosten 2008, S. 123–140, bes. S. 138; vgl. auch Kluge, Bernd: „Nomen imperatoris und Christiana

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Peter Seiler Religio. Das Kaisertum Karls des Großen und Ludwigs des Frommen im Licht der numismatischen Quellen“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 3 Beiträge, S. 82–90, bes. S. 85–87. 33 | Bredekamp 2014, S. 46–49; Dutton, Paul Edward: Charlemagne’s Mustache and other Cultural Clusters of a Dark Age, New York/Houndsmills 2004, bes. S. 24–26. 34 | Einhardi Vita Karoli Magni, ed. O. Holder – Egger, Leipzig 1911, ND 1947 Kap. 29, S.33. Erhalten ist nichts, die Einschätzung der Nachricht daher kontrovers, vgl. Stiene 2014, S. 322. 35 | Elberns Ratschlag, neue Wege durch Einbeziehung der gesamten materiellen Kultur der Zeit einzuschlagen, wurde bisher, wenn überhaupt, nur außerhalb des Fachs Kunstgeschichte befolgt. Elbern, Victor H.: „Frühmittelalter. Einführung: Periodisierung – Probleme – Forschungsgeschichte“, in: Fructus Operis, Bd. 3: Ausgewählte kunsthistorische Schriften aus den Jahren 1961–2007, Regensburg 2008, S. 366–377, S. 373. 36 | Elbern, Victor H.: „Liturgisches Gerät in edlen Materialien zur Zeit Karls des Großen“, in: Braunfels/Schnitzler 1965, Bd. 3, Karolingische Kunst, Düsseldorf 1965, S. 115–167; Elbern, Victor H.: „Einhard und die karolingische Goldschmiedekunst“, in: Hermann Schefers (Hg.): Einhard. Studien zu Leben und Werk, Darmstadt 1997, S. 155–178, S. 155. 37 | Müller, Mechthild: Die Kleidung nach Quellen des frühen Mittelalters. Textilien und Mode von Karl dem Großen bis Heinrich III., Berlin/New York 2003, S.31–43. 38 | Zur Problematik der Interpretation ethnischer Sammelbezeichnungen siehe Springer, Matthias: „Geschichtsbilder, Urteile und Vorurteile“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 3 Beiträge, S. 224–232; Pohl, Walter: „Franken und Sachsen: die Bedeutung ethnischer Prozesse im 7. und 8. Jahrhundert“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 3 Beiträge, S. 232–236. 39 | Brunhölzl, Franz (Hg.): De Karolo rege et Leone papa, Beiheft: Text und Übersetzung Franz Brunhölzl (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte, Beiheft 36), Paderborn 1999, S. 45. Als Ausdruck der Stammesverwandtschaft verstand man Gemeinsamkeiten des Aussehens (habitus), der Sitten und Gebräuche, der Sprache, der Tracht und Bewaffnung. Vergil, Aeneis VIII 722–723: incedunt victae longo ordine gentes/ quam variae linguis, habitu tam vestis et armis findet sich fast unverändert im Karlsepos wieder: die Völker seien varias habitu, linguis, tam vestis et armis, unterschiedlich im Aussehen, den Sprachen, ebenso in Kleidern und Waffen. MGH Poetae laitini aevi Carolini I, Angilbert, Carm. (ed. Dümmler) S.378 vv. 495– 496. Vgl. Pohl, Walter: Franken und Sachsen, S. 235, und M. Müller 2003, S. 67 sowie S. 275 den Hinweis auf die Schwierigkeiten anhand der vorhandenen Quellen Kleidungsmerkmale ethnischer Gruppen, „die zwischen Nordsee und Süditalien lebten,“ zu ermitteln. 40 | Reudenbach 2009, S.9. 41 | Vgl. Jacobsen 1999, S. 91–94, dessen nicht näher spezifizierter Hinweis auf die „germanische Tradition“ jedoch wenig hilfreich ist. Vgl. auch Braunfels 1976, S. 15–25, operiert mit einer eher groben Gegenüberstellung von vorkarolingischer Vielfalt und karolingischer Einheit sowie germanischer und römischer Elemente. Einblicke in den Umgang mit den Katego-

Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt rien Einheit/Vielfalt bei Historikern bietet Borgolte, Michael: „Wie Europa seine Vielfalt fand. Über die mittelalterlichen Wurzen für die Pluralität der Werte“, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a. M. 2005, S. 117–163. 42 | Zu Einhards Cicero-Kenntnis siehe Ganz, David: „The Preface to Einhard’s ‚Vita Karoli‘“, in: Schefers 1997, S. 299–310, S. 308–310. Vgl. auch Ganz, David: „Einhard’s Charlemagne: The Characterization of Greatness“, in: Joanna Story, (Hg.), Charlemagne. Empire and Society, Manchester/New York 2005, S. 38–51. Dass De oratore, De inventione und die Rhetorica ad Herennium in Einhards Besitz waren bezeugt ein Brief des Lupus von Ferrières, s. Kempshall, Matthew S.: „Some Ciceronian models for Einhard’s Life of Charlemagne“, in: Viator 26.1995, S. 11–37; hier S. 12–13. Cicero, De oratore 3,38; 3,52–55 zum ornatum und decorum. Cicero, Orator 22: Denn „sollen“ (oportere) zeigt eine vollkommene Pflicht an, die immer und von Allen (semper utendum est et omnibus) in Ausübung gebracht werden muss, „schicklich“ (decere) heißt, der Zeit und der Person passend und angemessen (aptum esse consentaneumque tempori et personae) sein. 43 | Vitruv, De architectura I, 2. 44 | Einhardi Vita Karoli 1911/1947, S. 20–21; Einhard, Vita Karoli Magni – Das Leben Karls des Großen. Lateinisch und Deutsch, Übersetzung, Nachwort und Anmerkungen von Evelyn Scherabon Firchow, Stuttgart 1996, S. 39. 45 | Zu Einhards Vitruv-Kenntnissen siehe Belting, Hans: „Der Einhardsbogen“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 36 (Heft 2/3).1973 S. 93–121, S. 113–114. Vgl. Patzold, Steffen: „Kunst und Politik. Visualisierung von Status und Rang des Herrschers“, in: Reudenbach, Bruno, Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 1: Karolingische und ottonische Kunst, S. 239–259, S. 244 erwähnt ohne Rangfolge der Bauaufgaben; R. Müller 2009, S. 201. 46 | MGH Leges LL nat. Germ. Capitularia regum Francorum I, S. 106. Synodus et conventus exeunte anno 802 Aquisgranae habita Capitulare cap. 7: Die Priester des Volkes sollen den Zehnten erhalten (suscipiant dicimas) und sie sollen die Namen derer, wer auch immer gegeben hat, aufschreiben und gemäß der kanonischen Autorität und in Anwesenheit von Zeugen aufteilen. Und zum Schmuck der Kirchen sollen sie den ersten Teil erwählen (Et ad ornamentum aecclesiae primam elegant partem), den zweiten aber für die Armen und Fremden verwenden, […] der dritten aber mögen die Priester allein für sich selbst bewahren. Vgl. Wolf Di Cecca, Christiane: „Belege für denkmalpflegerische Gesetze und Maßnahmen in Antike und Mittelalter“, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 112.1995, S. 440–43, S. 440 ff und S. 441–442. 47 | Einhardi Vita Karoli 1911/1947, S.27–28. Vgl. Wolf, Gunther: Einige Beispiele für Einhards hofhistoriographischen Euphemismus, in: Schefers 1997, S. 311–321, S. 320. 48 | Zu dem Besatz mit seidenen Streifen vgl. M. Müller 2003, S. 155 und S. 269–272 zu Muster und Verzierungen.

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Peter Seiler 49 | Zur Farbe Blau vgl. M. Müller 2003, S. 217. 50 | Einhardi Vita Karoli 1911/1947, Kap. 23, S. 28. Einhard, Vita, S. 51. Vgl. M. Müller 2003, S. 33 und S. 65–66. 51 | Keupp, Jan: „Macht und Mode. Politische Interaktion im Zeichen der Kleidung“, in: Archiv für Kulturgeschichte 86, 2004, S. 251–281, S. 256; Keupp, Jan: Die Wahl des Gewandes. Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters, Ostfildern 2014. 52 | Vgl. M. Müller 2003, S. 205 zu Karls Höchstpreisverordnung zu Pelzröcken. 53 | Vgl. hierzu M. Müller 2003, S. 168–169, 170; Hack 2014, S. 272. Vgl. Deér, Josef: „Die Vorrechte des Kaisers in Rom (772–800)“, in: Gunther Wolf (Hg.), Zum Kaisertum Karls des Großen. Beiträge und Aufsätze Darmstadt 1972, S. 20–115, S. 94–102, 115. 54 | M. Müller 2003, S.170. Unzutreffend die Wiedergabe Einhards bei McCormick 1999, S. 74. 55 | Fried 2014, S. 277. 56 | Siehe hierzu ausführlich Deér 1972, S. 94–104. 57 | Deér 1972, S. 100 vermutet, „daß Karl auch das zweite Mal auf die Bitte des Papstes nur im Ornat des Patricius an dem Gottesdienst des 25. Dezember 800 erscheinen war, wo er dann ablato patricii nomine imperator et augustus est appellatus, und erst danach mit den kaiserlichen Gewändern – wie Theophanes und die Annales Northumbrani berichten – bekleidet worden ist.“ 58 | Davis-Weyer, Cäcilia: „Das Apsismosaik Leos III. in S. Susanna. Rekonstruktion und Datierung“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 28.1965, S. 177–194; Davis-Weyer, Cäcilia: „Die Mosaiken Leos III. und die Anfänge der karolingischen Renaissance in Rom“: in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 29.1966, S. 111–132; Davis-Weyer, Cäcilia: „Eine patristische Apologie des Imperium Romanum und die Mosaiken der Aula Leonina“, in: Tilmann Buddensieg/Matthias Winner (Hg.), Munuscula Disciplinorum. Kunsthistorische Studien Hans Kauffmann zum 70. Geburtstag, Berlin 1968, S. 71–83. Belting, Hans: „I mosaici dell’Aula Leonina come testimonianza della prima ‚renovatio‘ nell’arte medievale di Roma“, in: Roma e l’età carolingia, Atti delle giornate du studio 3–8 maggio 1976, Rom 1976, S. 167–182; Belting, Hans: „Die beiden Palastaulen Leos III. im Lateran und die Entstehung einer päpstlichen Programmkunst“, in: Frühmittelalterlichen Studien 12.1978, S. 55–83; Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 2 Ausst.Kat., Kat.-Nr. IX.22 und Kat.-Nr. IX.23 (Ursula Nilgen); Nilgen, Ursula: „Die römischen Apsisprogramme der karolingischen Epoche“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 3 Beiträge, bes. S. 544–546; Luchterhandt, Manfred: „Famulus Petri. Karl der Große in den römischen Mosaikbildern Leos III.“, in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 3 Beiträge, S. 54–70, S. 58 und ders., in: Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd.1 Ausst.-Kat., S. 48–50, Kat.-Nr. II.9 und II.10. Die Kopfbedeckung Karls des Großen in S. Susanna ist nicht hinreichend präzise überliefert. C. Davis-Weyer, Das Apsismosaik, S. 189–190 identifizierte einen „bekrönenden Helmbusch“ und vermutete, dass eine Kaiserbulle als Vorlage fungierte. M. Luchterhand, Famulus Petri, S. 58 hält dies nicht

Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt für stichhaltig: „Der eigenartige Helm mit dem lilienartigen Stirnbesatz entspricht zwar der Pariser Bulle aus der Kaiserzeit Karls des Großen, doch erwähnt bereits das Karlsepos einen ‚goldenen Helmbusch‘ (aurea christa).“ 59 | Vgl. dagegen Karl der Kahle, s. M. Müller 2003, S. 171; MGH Scriptores rerum Germanicum in usum scholarum separatim editi Bd. 7 (ed. Kurze): Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis, S. 86: Zum Jahr 876: „Als König Karl aus Italien nach Gallien zurückkehrte, nahm er ein neues und ungewohntes Aussehen (habitus) an, denn er trug einen dalmatischen Talar (talari dalmatica) darüber war er mit dem Wehrgehenk gegürtet, das ihm bis zu den Füßen hing, und er verhüllte nicht nur sein Haupt mit einem seidenen Schleier, sondern setzte auch ein Diadem darauf, (diademate inposito) und pflegte so an den Festtagen des Herrn (dominicis festisque diebus) in die Kirche zu gehen. Er verachtete jede Sitte (consuetudinem) der fränkischen Könige und hielt die griechischen Ehren für die Höchsten, so dass er, um die Erhebung seines Geistes zu zeigen, den Königstitel ablegte (ablato regis nomine) und befahl, ihn Imperator und Augustus aller Könige um das Mittelmeer zu nennen.“ 60 | Vgl. W. Pohl: Franken und Sachsen, S. 234. 61 | Einhardi Vita Karoli 1911/1947, S. 28: Bescheidenheit in Bezug auf die Kleidung; S.29: Gemäßigt (temperans) und sparsam (parcus) in Bezug auf die Ernährung. 62 | Keupp 2004, S. 251–254; Patzold 2009, S. 251, 257. 63 | Einhardi Vita Karoli 1911/1947, S. 38; 39; Einhard 1996, S. 69; 71. 64 | Vgl. Becher, Matthias: „Hof und Herrschaft Karls des Großen“, in: Pohle 2014, S. 256–265, S. 258. 65 | Hinkmar von Reims, De ordine palatii, MGH Fontes iuris 3, cap. 5, S. 72/74; Übers. ebd. S. 73/75: „Für die rechte Ausstattung des Hofes und für den Schmuck des Königs, aber auch für die Jahresgaben der Vasallen – abgesehen von der Versorgung mit Speis und Trank und dem Unterhalt der Pferde – waren vornehmlich die Königin und unter ihr der Kämmerer zuständig; und nach der Eigenart einer jeden Sache waren sie bestrebt, immer rechtzeitig den künftigen Bedarf vorauszusehen, damit nichts im gegebenen Augenblick, wenn es benötigt wurde, irgendwo fehlte. Auch die Geschenke der vielfältigen Gesandtschaften verwaltete der Kämmerer, falls es nicht nach Weisung des Königs um Dinge ging, die angemessener von der Königin und mit ihm zusammen behandelt werden sollten.“ 66 | Alkuin,,Carm. XXVI, MGH Poetae Latini aevi Carolini I, (ed. Dümmler) S. 245; Alkuin, Ep 112, S. 459, Theodulf, Carm. XXVII 45, MGH Poetae Latini aevi Carolini I, (ed. Dümmler) S. 492. Vgl. hierzu u.a. Knesebeck, Godescalc, Dagulf und Demetrius, S. 36. 67 | Buchner, Max: Einhard als Künstler. Forschungen zur karolingischen Kunstgeschichte und zum Lebensgange Einhards (=Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Heft 210), Straßburg 1919; Buchner, Max: Einhard Künstler- und Gelehrtenleben, Berlin 1922; Binding, Günther: „Multis in arte fuit utilis. Einhard als Organisator am Aachener Hof und als Bauherr in Steinbach

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Peter Seiler und Seligenstadt“, in: Mittellateinisches Jahrbuch 30, 1995, S. 29–46, Schefers, Hermann: Einhard und die Hofschule, in: Schefers 1997, S. 155–178; Patzold, Steffen: Ich und Karl der Große. Das Leben des Höflings Einhard, Stuttgart 2013. 68 | Gesta abbatum Fontanellensium, MGH Scriptores II, S. 293: Praeterea dum praedictum Flaviacense coenobium iure precarii ac beneficii teneret exactor operum regalium in Aquisgrani palatio regio sub Heinhardo abbate, viro undecunque doctissimo, a domino rege constitutus est. Quod nobilissime administravit […]. Buchner 1919, S. 6–7; Binding 1995, S. 35; Elbern 1997, S. 156; Erkens 1999, S. 9 „ein Kenner antiker Architekturtheorien und daher der Oberaufseher über die Bauten des Hofes.“ 69 | Ex Arnoldi libris de S. Emmerammo, ed. Georg Waitz, MGH SS 4, 1841, S. 543–574, S. 551; vgl. Boeckler, Albert: „Das Erhardbild im Utakodex“, in: Dorothy Miner (Hg.), Studies in Art and Literature for Belle da Costa Greene, Princeton 1954, S. 219–230, S. 226; vgl. Elbern 1965, S. 125; Lasko, Peter: Ars Sacra 800–1200, New Haven/London 1994, S. 56–57; Stein-Kecks, Heidrun: „Totus palatii ornatus. Das Ziborium aus dem Schatz Arnolfs von Kärnten“, in: Fuchs, Franz/Schmid, Peter, Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts. Regensburger Kolloquium 9.–11.12.1999, München 2002, S. 389–415, S. 395. 70 | Einhardi Vita Karoli 1911/1947, S.30–31 Einhard 1996, S. 55. 71 | Einhardi Vita Karoli 1911/1947, S. 32. Einhard 1996, S. 57. 72 | Liber Pontificalis, ed. L. Duchesne, Bd. 2, Paris 1955, Neudruck, S. 7–8. Vgl. Elbern 1965, S. 116; Bauer, Franz Alto: Das Bild der Stadt Rom im Frühmittelalter. Papststiftungen im Spiegel des Liber Pontificalis von Gregor dem Dritten bis zu Leo dem Dritten, Wiesbaden 2004, S. 102–104; Labusiak, Thomas: „‚Er schenkte der Kirche viele heilige Gefäße aus Gold und Silber.‘ Goldschmiedekunst in der Zeit Karls des Großen“, in: van den Brink/Ayooghi, S. 75–93, S. 75–76. 73 | Elbern 1965, S. 117. In seiner Ausgabe des Liber Pontificalis von 1752 schreibt Giovanni Vignoli in seinem Glossar s.v. battacis, battacium, S. 353, es habe sich um ein „ornamentum ex purpura et gemmis“ gehandelt und verweist auf Ducange Tom. I col. 1074/1075. 74 | MGH Scriptores, Annales regni Francorum […] dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi, A. 796, S. 99: Missus est ad hoc Angilbertus, abbas monasterii sancti Richarii; per quem etiam tunc ad sanctum Petrum magnam partem thesauri, quem Ericus dux Foroiuliensis spoliata Hunorum regia, quae hringus vocabatur, eodem anno regi de Pannonia detulerat, misit; reliquum vero inter optimates et aulicos ceterosque in palatio suo militantes liberali manu distribuit. Vgl. Abel, Sigurd/Simon, Bernhard: Jahrbücher des Fränkischen Reiches unter Karl dem Großen 2: 789–814, Leipzig 1883, S. 104 Anm. 2; Elbern 1965, S. 117. 75 | Die Tatsache, dass die Gold- und Silberarbeiten nicht erhalten blieben, hat dazu geführt, allein die Bronzewerke in den Fokus zu rücken, vgl. z. B. Gramaccini, Norberto: „Die karolingischen Großbronzen. Brüche und Kontinuitäten in der Werkstoffikonographie“, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums und Berichte aus dem Forschungsinstitut für

Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt Realienkunde, 1995, S. 130–140; R. Müller 2009, S. 198–200; Bredekamp 2014, S. 89, schreibt den Bronzegittern und Bronzetüren trotz Einhards Staffelung „höchstes Prestige“ zu. 76 | Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang Isidor von Sevilla, der in seinen Etymologiae drei Bestandteile von Gebäuden unterscheidet – dispositio, constructio, venustas – und venustas folgendermaßen definiert: „Venustas est aliquid illud ornamenti et decoris causa aedificiis additur, ut tectorum auro distincta laquearia et pretiosi marmoris crustae et colorum picturae.“ (Etymologiae 19,11,1) Weigel, Thomas: „Spolien und Buntmarmor im Urteil mittelalterlicher Autoren“, in: Poeschke 1996, S. 117–153, S. 120 und S. 123–124, hebt nicht zuletzt mit Blick auf Isidor zutreffend hervor, dass es Einhard vor allem darum gehe, die Säulen als Schönheitselement zu erwähnen. Den Aspekt der Materialhierarchie lässt jedoch auch er unkommentiert. Die Einschätzung der Säulen als Spolien ist kontrovers (vgl. T. Weigel, Spolien und Buntmarmor im Urteil mittelalterlicher Autoren, S. 123 Anm. 58 und 59 mit ausführlichen Literaturhinweisen). Überwiegend werden sie als Träger konkreter politischer Botschaften interpretiert. R. Müller 2009, S. 197 betont die Problematik, dass sich die Aachener Spolien nicht ohne weiteres einen imperialen Deutungsrahmen fügen, glaubt dabei aber die bei Einhard offenkundige ästhetischen Bedeutung der Säulen leugnen zu können: „Freilich findet auch eine Bewertung der Spolien, die ihre Semantik ganz verneint und einzig auf den ästhetischen Reiz und ihre Kostbarkeit abhebt, in den zitierten zeitgenössischen Texten keine Grundlage – Einhard hebt eben die Herkunft, nicht die Schönheit hervor.“ 77 | MGH Leges, Capitularia regum Francorum I, Karoli Magni Capitularia, Admonitio generalis Kap. 71, S. 59. 78 | Opus Caroli regis contra Synodum (Libri Carolini) ed. Freeman, Ann, MGH Concilia Tom. II, Suppl. I, Hannover 1998. Zu den vasa sacrata siehe LC IV 16 (S. 529); LC IV 3, (S.495–496); LC II 29, (S. 301). 79 | Fried 2014, S. 421, stellt die Frage, ob Einhard von Bildschmuck nicht redet, weil er für diesen nicht zuständig gewesen war. 80 | Einhard, Vita Kap. 33 (ed. Holder Egger) S. 40; Einhard 1996, S. 71. 81 | Einhardi Vita Karoli 1911/1947, S. 31; Einhard 1996, S. 55. 82 | MGH Poetae latini aevi Carolini I, Versus libris saeculi VIII adiecti (ed. E. Dümmler) S. 91–92. 83 | MGH Poetae latini aevi Carolini I, Versus libris saeculi VIII adiecti (ed. E. Dümmler) 92. 84 | MGH Poetae latini aevi Carolini I, Versus libris saeculi VIII adiecti (ed.E. Dümmler) 92.: „Auf ihnen ist die Herkunft des Psalters abgebildet und wie der weise sprechende (rex doctiloquax) König selbst im Chore singt und wie die Schönheit (der Psalmen) einst zurückkehrte nach Beseitigung der Dornen (decus rediit sublatis sentibus), / was durch den wachsamen Eifer eines Mannes (Hieronymus) geschah (quod fuerat studio pervigilante viri). / Goldener Spross, leuchtender als funkelndes Gold (Aurea progenies, fulvo lucidior auro), Karl, unser Leuchtturm, vom Volk über alles Geliebter, / gottesfürchtiger König, weiser Fürst (dux sapiens), berühmt durch Tapferkeit und Waffenkunst, / dem alles wohl ansteht, was in der Welt gefällt,

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Peter Seiler / nimm die Arbeit Deines geringen Dieners Dagulf / gnädig an und lese sie nachsichtig mit Deinem weisen Mund.“ Mit ausführlicher Interpretation siehe Mettauer, Adrian: „Orthokratie und Orthodoxie. Der Dagulf-Psalter als Geschenk Karls des Großen an Papst Hadrian I.“, in: Michael Stolz/Adrian Mettauer (Hg.), Buchkultur im Mittelalter. Schrift-Bild-Kommunikation, Berlin/New York 2005, S. 41–63. 85 | Theodulf von Orléans, Carmina XLII 1, MGH Poetae Latini aevi Carolini I, (ed. E. Dümmler) S. 540: „Me quicumque vides, Theodulfi sis memor, oro, / Cuius me studium condidit, aptat, amat, / Et foris argento, gemmis ornavit et auro, / Cuius et interius lima polivit, ave.“ „Wer immer mich sieht – Theodulfs gedenke, ich bitte / Dessen Bemühen mich schuf, der mich bereitet, liebt, / Ausschmückte außen mit Silber, mit Gold und Gemmen, Dessen Feile darin auch polierte – sei gegrüßt.“ 86 | Angilbert, Carmina, ed. Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini I, S.360–361: „David habere cupit sapientes mente magistros, Ad decus , ad laudem cuiuscumque artis in aula, ut veterum renovet studiosa mente sophiam.“ Übers. Fried 2014, S. 276. 87 | Paderborner Epos, v. 93, Übers. Brunhölzl, De Karolo rege et Leone papa, S. 16; bereits zur vor in den vv. 57–58 heißt es: Omne decus pariter famulis, ornatus et omnis / Extat, honor populi et plebis spes, gloria summa / Nominis. MGH Poetae latini aevi Carolini I, Angilbert Carm, VI, S. 367, vv. 57–59. 88 | MGH Poetae latini aevi Carolini I, Versus libris saeculi VIII adiecti (ed. E. Dümmler) S. 91. 89 | Eine kritische Haltung zum Gebrauch religiöser Bilder wird seit Schnitzler, Hermann: „Das Kuppelmosaik der Aachener Pfalzkapelle“, in: Aachener Kunstblätter 29.1964, S. 17–44, S. 23–24 wiederholt auch anhand der Elfenbeintafeln des Dagulfpsalters angenommen. Ob die kunsthistorischen Unterscheidungen von merowingischen, insularen und kontinentalen Ornamentformen von Zeitgenossen registriert wurden, und was als „einheimisch“ oder „fremd“ wahrgenommen wurde, ist fraglich. Aber man wird nicht völlig leugnen können, dass Unterschiede wahrgenommen wurden. Bierbrauer, Katharina: „Der Einfluß insularer Handschriften auf die kontinentale Buchmalerei“, in: Kunst und Kultur der Karolinger, S. 465– 481, S. 474, erwähnt ausschließlich insularen Buchschmuck aufweisende Handschriften aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, die von einem Angelsachsen geschrieben wurden, der sich ausdrücklich „Peregrinus“ nennt. 90 | Mütherich 1965, S. 11, thematisiert in diesem Zusammenhang nur die Bekanntheit der Hofschulmaler innerhalb des „größeren Schreibbetriebes“. Überlegungen einer gezielten Abstufung und Variation der Ausstattung räumt sie kaum Raum ein. Lediglich in Verbindung mit einer Münchener Handschrift (Evangeliar, München, Universitätsbibliothek 2° 29, Cim. 1), weist sie auf diese Möglichkeit hin. Vgl. Mütherich 1999, S. 564. 91 | Vgl. Mütherich 1965, S. 14; Bering, Kunibert: Kunstepochen, Bd. 2 Kunst des frühen Mittelalters, Stuttgart 42017, S. 248. Ähnlich problematisch ist die anhand der von Braunfels getroffenen Unterscheidung „fränkischer“ und „klassizistischer Gitter“ der Aachener Pfalzkapelle allzu rasch der Schluss gezogen worden, „daß die Aachener Gußhütte, folgte sie auch römi-

Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt schen Vorbildern, zunächst ihr fränkisches Erbe ablegen musste.“ Gramaccini 1995, S. 133. Müller 2009, S. 200, bezweifelt eine „Entwicklung zugunsten antik-imperialer Vorbilder“ und nimmt eine auf varietas zielende Konzeption an. 92 | Mütherich 1999, S. 561. 93 | Evangelistar, Los Angeles, Getty-Museum, Ludwig IV.1, siehe Mütherich 1965, S. 11; Bischoff, Bernhard. „Eine karolingische Prachthandschrift in Aachener Privatbesitz.“ Aachener Kunstblätter 32.1966, S. 46–53; Euw, Anton von/Plotzek, Joachim M.: Die Handschriften der Sammlung Ludwig. 4 Bde, Köln 1979–1985, Bd. 1, 1979, S. 203–5; Stiegemann/Wemhoff 1999, Bd. 2 Ausst.-Kat, Bd. 2, S. 805, Kat.-Nr. XI.17 (Katharina Bierbrauer). 94 | Mütherich 1965, S. 45. 95 | Vgl. Mütherich 1965, S. 11, 45–46, 53; Mütherich 1976, S. 10; Mütherich 1999, S. 564, 568. Crivello, Fabrizio:“ Das Wiener Krönungsevangeliar und die Gruppe verwandter Handschriften“, in: van den Brink/Ayooghi 2014, S. 155–169, folgt im Wesentlichen den Auffassungen von Koehler und Mütherich. Eine Tendenz angesichts von „Phänomenen stilistischer Differenz“ unmittelbar auf eine „grundsätzliche Änderung in den Tendenzen des Hofes“ zu schließen spielt auch in anderen Bereichen eine Rolle, siehe Fillitz, Hermann: „Habens tabulas eburneas. Der Elfenbeinsschmuck des Lorscher Evangeliars“, in: Hermann Schefers (Hg.), Das Lorscher Evangeliar, Luzern 2000, S. 103–110, S. 108. 96 | Auch außerhalb der Hofkunst wurden Beziehungen zwischen Reformideen und Buchschmuck angenommen, siehe Holter, Kurt: „Der Buchschmuck in Süddeutschland und Oberitalien“, in: Karl der Große, Bd. 3, 1965, S. 74–114, bes. S. 111. Vgl. auch Bierbrauer 1999, S. 465–481. 97 | Ganz 1987, S. 32. Ganz, David: „‚Roman Books‘ reconsidered: The Theology of Carolingian Display Script“, in: Julia M. H. Smith (Hg.), Early Medieval Rome and the Christian West. Essays in Honour of Donald A. Bullough, Leiden/Boston/Köln, S. 297–315. 98 | Theodulf von Orléans, Carm. XXVI vv 1–2, MGH Poetae latini aevi Carolini I, S. 489: Aurea funereum complectit littera carmen / verba tonat fulvus et lacrimosa color. In Vers 9 wird Hadrian selbst als decus ecclesiae bezeichnet. In dem von Alcuin verfassten, schließlich in Rom angebrachten Epitaph wird Hadrians Bemühen um den Kirchenschmuck hervorgehoben: Epitaphia Caesarii et Hadriani Papae IX, MGH Poetae latini aevi Carolini I, S.113: Exornare studens devoto pectore pastor / Semper ubique suo templa sacrata deo. 99 | Gramaccini 1995, S. 133–134; Müller 2009, S. 212–213, S. 236–237 Kat.-Nr. 34; Ausst.-Kat. Carlo Magno a Roma, Roma 2001, S. 120, Kat.-Nr. 10 (Franz Alto Bauer); Scholz, Sebastian: „Karl der Große und das Epitaphium Hadriani“, in: Rainer Berndt, (Hg.), Das Frankfurter Konzil von 794. Kristallisationspunkt karolingischer Kultur (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 80), 2. Bde., Trier 1997, Bd. 1, S. 373–394; Story, Joanna/Bunbury, Judith/Fronterotta, Gabriele/Piacentini, Mario/Nicolais, Chiara/Scacciatelli, Daria/Sciuti, Sebastiano/Vendittelli, Margherita: „Charlemagne’s Black Marble: the origin of the epitaph of Pope Hadiran I“, in: Papers of the British School in Rome 73.2005, S. 157–190. https://doi.

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Peter Seiler org/10.1017/S0068246200003019 [04.04.2019]; Hartmann, Florian: Hadrian I. (772–795): Frühmittelalterliches Adelspapsttum und die Lösung Roms vom byzantinischen Kaiser, Stuttgart 2006, S. 256–265; Stachura 2009, S. 5–9. 100 | Jakobi-Mirwald, Christine: Text – Buchstabe – Bild. Studien zur historischen Initiale im 8. und 9. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 153–163, bes. S. 162 plädierte für einen Verzicht auf den Begriff „Schule“. Denzinger, Götz: Die Handschriften der Hofschule Karls des Großen. Studien zu ihrer Ornamentik, Langwaden 2001, S. 5 lehnt dies ausdrücklich ab. Weitere Hinweise auf die Problemlage bei Nees, Lawrence: „Imperial Networks“, in: Medieval Mastry. Book Illumination form Charlemagne to Charles the Bold/800–1475, Ausst.-Kat. Stedelijk Museum Vander Kelen-Mertens, Leuven 2002, S. 91–101, S. 92–95; Reudenbach 2009, S. 29; McKitterick, Rosamund: „Bildung und Bücher am Hof Karls des Großen“, in: Pohle 2014, S. 286–295, S. 291, 293. Zur Zusammensetzung der Hofkapelle und ihrer verschiedenen ausbildungsorientierten oder „auch nicht mit Unterricht verbundenen Abteilungen“ vgl. H. Schefers, Einhard und die Hofschule, in: Schefers 1997, bes. S. 90–91. Gestützt auf Alkuins Briefgedicht Nr. 26 betont Schefers, dass die Hofschule nicht mir der Hofkapelle identisch ist, und man nur in ausbildungsorientierten Zweigen der Hofkapelle „die Hofschule“ erkennen sollte. 101 | Mütherich 1965, S. 11; vgl. auch Mütherich 1999, S. 560. 102 | Mütherich 1965, S. 12. 103 | Jülich 2014, S. 61, zieht zwei Modelle in Betracht: „Entweder ist mir sehr großen Werkstätten zum Kopieren und Ausschmücken von Büchern einschließlich der Prachthandschriften der Hofschule in Aachen zu rechnen, oder wechselnde Mönche von außerhalb zogen für eine Zeit nach Aachen, wo sie anhand der Referenzwerke kopierten und illuminierten und dann mit der Kopie für ihre eigene Bibliothek wieder in ihre Heimat zurückkehrten, wie es Bernhard Bischoff für die Texte suggeriert.“ 104 | Messerer 1973, S. 27. 105 | Messerer 1973, S. 27. 106 | Mütherich 1965, S. 14. 107 | Mütherich 1965, S. 13; Mütherich 1976, S. 9. 108 | Messerer 1973, S. 50–53. Dem kanonischen Entwicklungsmodell Koehlers folgt im Wesentlichen auch Denzinger, Götz: Die Handschriften der Hofschule. Bemerkungen zu ihrem Buchschmuck und ihrer Ornamentik, in: van den Brink/Ayooghi 2014, S. 109–129. 109 | Messerer 1973, S. 27. 110 | McKitterick 1999, S. 671. 111 | Vgl. hierzu Fillitz 1984, S. 21; Fillitz, Hermann: „Die Elfenbeinreliefs zur Zeit Karls des Großen“, in: Aachener Kunstblätter 32, 1966, S. 14–45; Fillitz 2000, S. 107; Kahsnitz, Rainer: „‚Die Elfenbeinskulpturen der Ada-Gruppe‘. Hundert Jahre nach Adolph Goldschmidt. Versuch einer Bilanz der Forschung zu den Elfenbeinen Goldschmidt I, 1–39“, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 64.2010, S. 9–172; Jülich 2014, S. 62–64. Jülich wies in seinem Beitrag einige Problemfacetten der „notorischen Gleichsetzung von Hofwerkstät-

Normierte Einheit oder regulierte Vielfalt ten gleich Hofschule gleich Produktionsort in Aachen“ nach, sprach sich jedoch gleichwohl für eine Beibehaltung des Begriffs „Hofschule“ aus. 112 | So der Titel des Katalogs der Aachener Ausstellung von 2014. 113 | Es ist bezeichnet, dass es Karl dem Großen immer wieder als Defizit angerechnet wird, dass sein Streben nach Vereinheitlichung begrenzt war und er nicht vollständig „zur Beseitigung von historisch und regional bedingten Unterschieden beitrug“ (Erkens 1999, S. 8). 114 | Die Libri carolini sind hierfür in besonderer Weise geeignet, da sie Bilder nicht nur durch ihre Memorialfunktion, sondern gleichermaßen als Schmuck legitimieren. Eine Analyse ihres Ornamentbegriffs wird an anderer Stelle erfolgen. 115 | Cordez 2014, S. 47; vgl. Latour, Bruno: Von der Realpolitik zur Dingpolitik, Berlin 2005. 116 | Warnke, Martin: Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt a. M. 1976, S. 149.

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Die Paulus-Stickerei im Stift St. Michael in Beromünster Patricia Strohmaier Auf einem blautürkisfarbenen Seidengewebe in Leinwandbindung steht eine Figur in langem Gewand, per Inschrift als heiliger Paulus ausgewiesen (Abb. 1).1 In der rechten Hand trägt Paulus einen kurzen Stab mit einem Krückenkreuz, während er die linke Handfläche flach vor der Brust hält. Er ist mit weißer Seide gestickt und mit roter Seide sowie vergoldeten Lederstreifen konturiert und binnendifferenziert. Paulus steht unter einer Arkade, deren Bogen ein, aufgrund seiner Abstraktion mit einiger Mühe erkennbarer, weißer Akanthus-Fries ziert. Basis, Kapitell und Kämpferplatte der tragenden Säule sind weiß. Eine rote Weinranke mit weißen Blättern windet sich um die Säule. Über der Arkade und rechts von ihr ist mit roter Seide ein Rautenband als Rahmenbordüre gestickt. Am unteren und linken Rand offenbart sich, dass der Stickerei eine untere Rahmenbordüre und nach links noch mindestens ein weiterer Bogenansatz fehlt. Nach dieser ersten Bestandsaufnahme fällt auf, dass Paulus gänzlich ungewöhnlich dargestellt ist. Während er bereits im Frühchristentum in der Regel wie Petrus als älterer bärtiger Mann abgebildet wurde, ist er hier bartlos. Das, was zunächst wie ein breiter Nimbus aussieht, stellt sich als eine durch drei feine Striche nur wenig strukturierte Haarkappe heraus. Der Kreuzstab in seiner Hand müsste, korrekt ausgeführt, bis zum Boden reichen. Die Heiligenfigur macht einen solch unspezifischen Eindruck, dass man versucht ist, die Inschrift als nachträglich anzusehen. Stichart und Seidengarn stimmen jedoch, dem Blick durch die Lupe nach, mit dem Rest der Stickerei überein. Diese kleine Stickerei in Blau, Weiß, Rot und Gold gilt als älteste Schweizer Stickerei.2 Es gibt nur wenige Vergleichswerke. Erschwerend kommt hinzu, dass die Entstehungszeit des Paulus kaum als gesichert gelten kann. Auch die Funktion ist bisher nicht bekannt. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass die Autorin definitive

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Abbildung 1: Paulus unter einer Arkade, Seide und Leder vergoldet, Beromünster, Stift St. Michael

Fotografie: Patricia Strohmaier, mit Unterstützung des Stifts St. Michael, Beromünster (Schweiz)

Die Paulus-Stickerei im Stift St. Michael in Beromünster

Antworten auf diese Fragen nicht hat, aber eine erneute Auseinandersetzung mit dem Objekt und generell mit den teils wenig erforschten früh- und hochmittelalterlichen Stickereien anregen möchte.

I. Im Jahre 1957 fand der Leutpriester Robert Ludwig Suter in einem Sakristeischrank der Stiftskirche St. Michael in Beromünster (Kanton Luzern) ein Konvolut von Reliquien und ihren textilen Hüllen.3 Neben gemusterten Seidengeweben aus der Zeit von der Spätantike bis zum Spätmittelalter und den Regionen von Südwesteuropa bis Zentralasien4 diente die 28,5 x 20,7 Zentimeter messende Stickerei des Apostels Paulus als Reliquienbündel. Der Priester entfernte die Reliquien, leider ohne genauere Angaben zu machen, ob sie zum Beispiel noch cedulae besaßen, und sandte die Stickerei ins Landesmuseum Zürich, wo sie restauriert wurde. Als Brigitta Schmedding für die Abegg-Stiftung in Riggisberg Textilien aus Schweizer Klöstern und Kirchen zusammentrug, schaffte es diese Stickerei sogar auf den Umschlag der Publikation.5 Die losen Reliquien und ihre Hüllen stammen aus den Reliquiaren, die geleert wurden, bevor sie im Rahmen der französischen Kontributionszahlungen 1798 nach Luzern geschickt wurden.6 Von elf Kisten mit Reliquiaren kamen nur sechs zurück. Die Reliquien und ihre Hüllen gerieten zunächst in Vergessenheit. Der Kustos Josef Stutz fand den kleinen Schatz wieder und übergab 1897 die säuberlich ausgeschnittene Stickerei eines barfüßigen Christus auf dem Thron mit Buch und Segensgestus an das Landesmuseum Zürich (Abb. 2).7 Im Eingangsbuch des Museums erhielt das Objekt die Nummer 2848 und wurde als „Applikation eines Messgewandes“ bezeichnet.8 Schon auf den ersten Blick offenbart sich die Zusammengehörigkeit von Christus und Paulus. Farbschema, Materialien, Stichart und Stil stimmen überein. Der sitzende Christus ist mit 19,5 x 10,8 Zentimetern zudem etwa so groß wie der stehende Paulus (19,4 x 7,8 Zentimeter). Die große Kämpferplatte neben Paulus bietet Platz für einen weiteren Bogen (oder Giebel?), sodass aufgrund der christlichen Ikonografie eine Dreierarkade mit Christus zwischen Petrus zur Rechten und Paulus zur Linken suggeriert wird – ähnlich einem frühchristlichen Säulensarkophag, zum Beispiel dem des Barbatianus.9 Dessen Vorderseite ist durch fünf Säulenarkaden gegliedert. In den beiden äußeren Interkolumnien steht jeweils ein Kantharos, in den drei inneren wird der stehende und ein geöffnetes Buch haltende Christus von Petrus und Paulus flankiert, die mit Kreuzstab und Buch ausgestattet sind. Das Bildprogramm ist allerdings so verbreitet in der christlichen Kunst, dass sich genauso der romanische Schrein Sigismunds und

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Abbildung 2: Thronender Christus, Seide und Leder vergoldet, Zürich, Landesmuseum

Fotografie: Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, Inv.-Nr. LM-2848

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seiner Kinder im Schatz der Abtei Saint-Maurice d’Agaune zum Vergleich heranziehen ließe.10 Auf dessen Dach thront unter einer Fünferarkade ein barfüßiger Christus im Zentrum mit segnender rechter und einem Buch in der linken Hand. Neben ihm steht je ein, ebenfalls barfüßiger, bartloser Heiliger, als Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist gedeutet. Die Figur rechts von Christus hält eine Kreuzblume in der linken Hand und scheint mit der rechten auf Christus zu weisen. Die drei Figuren werden links und rechts von je einem Erzengel ergänzt. Diese anzunehmende Dreierarkade würde die Stickerei auf eine ursprüngliche Größe von mindestens 30 x 60 Zentimetern erweitern. Dass dieses Werk nicht ursprünglich als Reliquienhülle diente, ist offensichtlich.11 Wann sie dazu umfunktioniert wurde, lässt sich nicht rekonstruieren. Die sehr gut erhaltene Farbigkeit der Paulus-Stickerei und ihr insgesamt recht guter Zustand lassen vermuten, dass sie nicht viele Jahrhunderte in ihrer ursprünglichen Funktion verwendet wurde. Da die Christus-Stickerei separat überliefert ist und nur sie nach Zürich ging, muss die Stickerei – für ihre Verwendung als Reliquienhülle? – in mehrere Teile zerschnitten worden sein. Der Zustand der Christus-Stickerei ist zudem etwas schlechter. Der Trägerstoff war offensichtlich so zerschlissen, dass man ihn kurzerhand wegschnitt.12 In dem spätmittelalterlichen Reliquienverzeichnis des Kaplans Johann Dörflinger13 und seinen neuzeitlichen Kopien und Ergänzungen wird der Inhalt jedes Reliquiars genauestens aufgelistet. Der Chorherr Johann Rudolf Dürler († 1683) ging sogar so weit, im Anschluss an sein Inventar alle Reliquien, von Knochenstaub bis zu Textilien, zu zeichnen.14 Zwischen der Nennung des Reliquiars und seines Reliquieninhalts sind an wenigen Stellen auch Reliquienbeutel genannt. Sie werden als viridus saculus, serica bursa oder nur als bursa bezeichnet15 − demnach so unspezifisch, dass sie sich kaum mit den erhaltenen Reliquienbeuteln in Verbindung bringen lassen. Dazu kommt noch ein Manipel mit 17 Reliquienpartikeln,16 das anscheinend ebenfalls als Reliquienbeutel verwendet wurde. Umnutzungen waren also üblich. Hypothetisch lässt sich schließen, dass die Stickerei zu einem unbekannten Zeitpunkt in ihrem Erscheinungsbild so beeinträchtigt war, dass sie zerschnitten und der neuen Nutzung als Reliquienhülle zugeführt wurde. Darin drückt sich keine Abwertung, sondern eine anhaltende Wertschätzung für einen offenbar in seiner ursprünglichen Funktion nicht mehr benötigten oder verwendbaren Stoff aus. Die Textilien, in die Reliquien gehüllt wurden, waren in der Regel kostbare Seidenstoffe.17

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Abbildung 3: Maiestas domini, Holz, Kupfer vergoldet, Konstanz, Münster

Fotografie: Albert Hirmer / Irmgard Ernstmeier-Hirmer, © Bildarchiv Foto Marburg, Bilddatei-Nr. fmc1852340

II. Adolf Reinle hält die Datierung aufgrund der „Primitivität des Stils“ für schwierig, schreibt aber – ohne nähere Begründung: „[T]rotz altertümlicher Elemente kommt wohl am ehesten das 11.−12. Jahrhundert in Frage.“18 Für Leonie von Wilckens sind „die großen Gestalten in ihrer eigenartigen Unfestigkeit, mit ihren breiten, schwingenden Linien der vergoldeten Majestas der großen Konstanzer

Die Paulus-Stickerei im Stift St. Michael in Beromünster

Kupferscheibe […] nah verwandt“, sodass sie mit deren Neudatierung zwischen dem Beginn und der Mitte des 11. Jahrhunderts eine ähnliche Entstehungszeit in der Region Oberrhein-Nordschweiz vermutet (Abb. 3).19 Damit läge es nahe, die Herstellung der Stickerei mit der Weihe der durch Ulrich von Lenzburg neu errichteten Stiftskirche St. Michael im Jahre 1036 in Verbindung zu bringen.20 Textilschenkungen gehen aus der Urkunde Ulrichs, zugleich die älteste überlieferte des Stifts, nicht hervor, es werden aber andere kostbare Stiftungen genannt.21 Ulrich berief sich auf eine zuvor erfolgte Gründung seiner Eltern oder Vorfahren.22 Wann der Namensgeber des Ortes, Bero, lebte und wann er einen ersten Kirchenbau erreichten ließ, bleibt unsicher. Die Bauforschung schließt eine spätkarolingische Kirchengründung nicht aus.23 Stets wurden der Gründer Bero und der Kirchenstifter Ulrich gemeinsam erinnert, wie sich beispielsweise in dem im Chor gelegenen Tischgrabmal von 1469 mit einer 1882 erneuerten Bodenplatte von 1636 zeigt.24 Schmedding folgt Wilckens und datiert die Stickerei ins 11. Jahrhundert, wobei sie sich zusätzlich auf ein Gutachten über die Inschrift beruft.25 Die Inschrift gibt jedoch nur Indizien. Das wichtigste Datierungsmerkmal, der Ligatur-Strich mit Ausbuchtung, sei „in frühmittelalterlicher und ottonischer Zeit selten, am Ende des 11. und zu Beginn des 12. Jh. häufiger anzutreffen“, so Philipp Kalbermatter und Wilfried Kettler.26 Sie bestätigen, dass die Schrift den bisherigen Datierungsvorschlägen nicht entgegenstehe. Das heißt aber auch, dass eine frühere (oder spätere) Datierung möglich wäre. Das Gespräch mit zwei Forschenden und dem Gefeierten ergab drei verschiedene Einschätzungen zum Stil beziehungsweise der Entstehungszeit: karolingisch, ottonisch und romanisch.27 Die Ornamentformen an Säule, Bogen und Rahmenbordüre weisen Parallelen zur karolingischen Buchmalerei auf,28 aber die frontal gestellte Figur selbst wirkt nicht karolingisch. Sie ist blockhaft und flächig, ihr Faltenwurf schematisch, dekorativ und annähernd symmetrisch. Die senkrechte Mittelfalte in der unteren Gewandhälfte und die dort ansetzenden waagerechten Gewandfalten erinnern an romanische Reliefplastik, zum Beispiel die Äbtissinnengräber in der Quedlinburger Stiftskirche St. Servatius aus der Zeit vor oder um 112929 oder das Tympanon des Westportals von Saint-Julien in Mars-sur-Allier, das um 1146/55 entstand.30 Als ottonisch möchte man den herrschaftlich thronenden Christus bezeichnen, der allerdings auch schon in der karolingischen Kunst so dargestellt wird. Die Ähnlichkeit mit der von Wilckens angeführten spätottonischen Kupferscheibe mit der maiestas domini in Konstanz ist nicht von der Hand zu weisen. Der streng frontal ausgerichtete barfüßige Christus segnet mit der rechten Hand und hält in der linken ein Buch. Die Zeichnung seines ovalen Gesichts ist vereinfacht: Nasen und Augenbrauen bilden eine zusammenhängende Linie, die an den Augenbrauen etwas dicker ist. Die Augen werden

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durch zwei Bögen und einen Punkt gebildet, wobei sie nach innen an die Nasenlinie stoßen. Zwischen Nasenspitze und Mund, einem geraden Strich mit kurzen Strichen als Mundwinkel, vermittelt eine kurze senkrechte Linie. Das Kinn wird mit einem Bogen angedeutet. Die Haare der Christus-Figur bilden eine Art Kappe, in der Scheibe jedoch stärker konturiert. Der Halsausschnitt ist viereckig. Die Falten der Kleidung werden durch dicke Linien gebildet. An den Unterschenkeln wirft die Kleidung parallel verlaufende Schüsselfalten. Selbst die bauschigen Ärmel, deren Volumen durch einen darüber gelegten Umhang verstärkt wird, sehen sich ähnlich. Alles, was an dem Konstanzer Werk zu erkennen ist, zeigt sich in dem gestickten Christus, allerdings teils nur angedeutet. Der Faltenwurf stimmt nicht überein, sondern ähnelt sich nur. Insgesamt wirkt der gestickte Christus schmaler und blockhafter. Wilckens’ Vergleich der Stickerei mit einer Metallarbeit, in der sie dieselbe „mit flächigen Mitteln erfaßte […] Monumentalität“ erkennt, 31 ist durchaus überzeugend. In der Wirkung der dicht bestickten Flächen der Paulus-Figur, der goldenen Lederstreifen und der intensiven Farben ähnelt das Werk mehr noch als der zweifarbigen Konstanzer Scheibe einem kleinen Email-Schrein im Hildesheimer Domschatz32 und dem sogenannten starkfarbigen Reliquiar aus dem Welfenschatz.33 Beide werden in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert und würden die Stickerei damit um 100 Jahre verjüngen. An den Langseiten des Hildesheimer Kästchens, das ebenfalls als Kreuzfuß interpretiert wird, stehen jeweils sechs Apostel in Arkaden. An der einen Schmalseite thront Christus zwischen zwei Engeln, auf der anderen wird er gekreuzigt. Die Gesichtszeichnung aller Figuren ist sehr einfach, fast grob. Die Gewandfalten wirken durch die breiten vergoldeten Stege starr, schematisch und an einigen Stellen verunklärend. Die Farbflächen sind groß und voneinander durch breite Konturen abgesetzt. Blau, Gold, Weiß und Grün dominieren. In der Paulus-Stickerei besteht die Farbpalette aus Blau, Gold, Weiß und Rot. Dass hinter der grob wirkenden Ausführung kein Unvermögen steckt, zeigen die feinen Weinranken der Säule. Die dicht gestickten Flächen und die mit hellem Garn fast unsichtbar fixierten flachen Lederstreifen erwecken einen massiven Eindruck. Beeinflusste eine Email-Arbeit die Gestaltung der Stickerei, um eine ähnliche Oberflächenwirkung zu erzielen? Über die Vorlagen früh- und hochmittelalterlicher Stickereien ist nur wenig bekannt. Deshalb lässt sich nicht sicher sagen, ob die Stickerei alt oder altertümlich ist, weil für sie zum Beispiel eine ältere Vorlage (bewusst oder unbewusst) verwendet wurde. Die Zahl früh- und hochmittelalterlicher Stickereien ist im Vergleich mit den überlieferten Seidengeweben, insbesondere aus Byzanz, gering. Ob dies ein Zufallsbefund ist, mit einer schlechteren Erhaltung zu tun hat oder auf einer tatsächlich geringeren Zahl beruht, ist eine offene Frage. Die überlieferten Werke bilden

Die Paulus-Stickerei im Stift St. Michael in Beromünster

Abbildung 4: Annus, Seitenteil der sog. Ewaldi-Decke, Seide und Leder vergoldet, Köln, St. Kunibert

Fotografie: © Achim Bednorz, Köln

zudem eine äußerst heterogene Gruppe, sodass sich Vergleiche schwer ziehen lassen. Einige Parallelen weist die Standarte des heiligen Ot/Oth aus der Kathedrale von La Seu d’Urgell/Seo de Urgel auf.34 Die Seidenstickerei in Rot, Gold, Weiß und Rosa auf einem Leinengewebe zeigt im oberen Feld eine von dem Tetramorph umgebene maiestas domini. Auf die drei Wimpel (39−46 x 18,4−19,4 Zentimeter) sind

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stehende Stifterfiguren gestickt, die ihre ovalen, sehr einfach gezeichneten Gesichter nach oben wenden. Der Faltenwurf ihrer Gewänder ist schwer nachvollziehbar, wenn auch nicht so unrealistisch, symmetrisch und ornamenthaft wie bei Paulus. Hände und Füße der Figur auf dem rechten Wimpel sind mit Rot konturiert. Vergleichbar wirkt auch die Haarkappe unter der Kopfbedeckung, wenn es sich nicht um eine Kombination aus zwei Schleiern handelt. Die maiestas domini wird von einer (Wein-)Rankenbordüre gerahmt, die wie der Akanthus-Fries in der Arkade und die Weinranke der Säule in der Paulus-Stickerei mit roten Stichen konturiert und mit weißen ausgefüllt ist. Dass sie differenzierter wirkt, ist sicherlich der Größe der Fahne geschuldet (105 x 69 Zentimeter). Das Werk wird in die Zeit zwischen 1095 und 1122 datiert. Mit der in ihrer Datierung umstrittenen Ewaldi-Decke in St. Kunibert, Köln,35 teilt die Paulus-Stickerei das kontrastreiche Farbschema mit einem blauen Trägerstoff und einer Bildstickerei mit viel Rot und Gold (Abb. 4). Dazu kommt, dass auf der Ewaldi-Decke ebenfalls vergoldete Lederstreifen verwendet wurden, allerdings mit dem Unterschied, dass sie schmaler, um eine Seidenseele gewickelt und mit deutlich sichtbaren roten Heftfäden fixiert wurden.36 Bei der Paulus-Stickerei sind die unterschiedlich breiten Lederstreifen flach angelegt und zwar mit einem hellen Seidenfaden, der möglichst wenig sichtbar ist. Dadurch macht das Gold einen massiveren Eindruck und selbst in der Fernsicht tritt es deutlicher hervor. Die Bildstickerei der Ewaldi-Decke wirkt insgesamt filigraner und feiner und damit nicht so kräftig wie die Paulus-Stickerei. Die vergoldeten Lederstreifen treten in Stickereien so vereinzelt auf, dass sie keine Datierungshilfe bieten.37 Der Schuh des heiligen Desiderius in Delémont/Delsberg (Kanton Jura), der mit flachen vergoldeten Lederstreifen verziert ist, allerdings mit deutlich sichtbaren roten Überfangstichen, wird ins 12. Jahrhundert datiert.38 Im Fall der Paulus-Stickerei lässt sich vermuten, dass die Ledergoldstreifen im Gegensatz zu einem Metallfaden ein geringeres Eigengewicht aufwiesen und dadurch auf eine Verstärkung des Trägerstoffs verzichtet werden konnte, ohne auf Goldfäden gänzlich verzichten zu müssen.

III. Die eben vorgestellten Vergleichsbeispiele gewähren einen Einblick in die Verwendung früh- und hochmittelalterlicher Stickereien: als Fahne, die man aufgrund ihres religiösen Kontexts zu den Paramenten zählen kann,39 ebenso wie das zur (Altar?-)Decke umfunktionierte Werk in St. Kunibert, als Besatz von (liturgischer) Kleidung, die gleichzeitig eine textile Reliquie bildete. Hinzu kommt die Zweitverwendung der Schweizer Stickerei als Reliquienhülle. Weitere, bekannte

Die Paulus-Stickerei im Stift St. Michael in Beromünster

Abbildung 5: Besatz einer Dalmatik, Seide und Metall, Lübeck, St. Annen-Museum

Fotografie: © St. Annen-Museum, Lübeck

Gebrauchszusammenhänge sind Bucheinbände, (Reliquien-)Bursen und Wandbehänge.40 Wofür die Paulus-Stickerei zuerst diente, ist schwer zu beantworten. Die ursprünglichen Maße, falls sie stimmen und die Stickerei nicht etwa zwei Register besaß, sind für ein Antependium oder einen Wandbehang zu klein.41 Für einen Einsatz als seitlicher Behang einer Altardecke war das Bildmotiv zu zentral und auch zu kurz, wenn die Mensahöhe mit ungefähr einem Meter gedacht wird.42 Schmedding diskutiert die Verwendung der Paulus-Christus-Stickerei als Albenbesatz, wobei sie jedoch zu keinem eindeutigen Ergebnis kommt.43 Eine figürliche Stickerei befindet sich als Querbesatz am unteren Saum einer römischen Dalmatik in Lübeck, die ins 13. Jahrhundert datiert wird (Abb. 5).44 Die Maße von 31 x 63 Zentimetern stimmen auffallend mit der ursprünglichen Größe der Christus-Paulus-Stickerei überein.45 Das Bildprogramm zeigt unter einer Arkadenstellung den thronenden Christus zwischen einem jungen und einem alten Heiligen oder Apostel. Die Arkade, die nicht zwischen Säule, Kapitell und Bogen unterscheidet, sondern wie ein breiter Rahmenstreifen wirkt, wird von einer gewundenen Weinranke geziert. Die stehenden, barfüßigen Figuren wenden sich auf ihn weisend

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Christus zu, der in der Linken ein Buch hält und mit der Rechten segnet. In den Arkadenzwickeln sind Engel zu sehen, die Weihrauchfässer schwingen. Die ganze Darstellung umgibt eine Bordüre mit einem einfachen Flechtbandmuster. Bis auf Köpfe, Hände und Füße ist die Stickerei mit Goldfäden auf einem roten Seidenstoff ausgeführt. Birgit Borkopp-Restle und Barbara Schellewald stellen einen Kontrast zwischen gut sichtbaren „kompakten Figurendarstellungen“ und dahinter zurücktretenden „feinlinigen Ornamenten“ fest46 − ein Befund, der auch auf die Paulus-Stickerei passt. Stilistisch haben die Stickerei in Lübeck und jene in Beromünster und Zürich nichts miteinander gemein. Die sehr ähnliche Anlage beider Werke ist jedoch auffällig.47 Ein Problem besteht in der unterschiedlichen Zeitstellung, da die Schweizer Stickerei deutlich vor dem 13. Jahrhundert entstanden ist. Annemarie Stauffer betont, dass die Beschaffung von ungemusterten Seidengeweben und Stickgarnen im frühen und hohen Mittelalter eine „Herausforderung“ darstellte, zumal über deren Handelswege nichts bekannt ist.48 Betrieb der oder die Auftraggebende einen solchen Aufwand, um das Material für die Herstellung eines Besatzes, wenn auch für ein liturgisches Gewand, zu verwenden?49 Die Fahne des Ot/Oth misst ohne die Wimperge 62,4 Zentimeter in der Höhe und 69 Zentimeter in der Breite. Die zu rekonstruierende Christus-Apostel-Stickerei in Beromünster entspricht diesen Maßen in der Breite, jedoch nicht in der Höhe. Ein anderes als Fahne angesprochenes Objekt, die Stickerei der Gerberga, hat mit 37 x 37 Zentimetern eine geringere Größe als die Schweizer Stickerei.50 Die Bezeichnung als Fahne ist in diesem Fall vermutlich ein Hilfsbegriff, da die charakteristischen Wimpel an der Fahne fehlen und sie auch keine Spuren einer Aufhängung aufweist. Beide Werke besitzen eine me fecit-Inschrift und sind dadurch mit einer bestimmten Person, bei Gerberga sogar mit einem bestimmten Ereignis, verbunden51 – ob es eine solche Inschrift auf dem Werk in Beromünster gab, lässt sich nicht sagen. In diesem Zusammenhang sei auch eine Reliquienhülle in Tongeren genannt, die aber nicht von vornherein dafür gefertigt worden sein muss.52 Sie ist nur fragmentarisch überliefert, woran sich die Frage anschließt, ob, wie in Beromünster, für eine beschädigte, aber geschätzte Stickerei eine würdige Zweitverwendung gefunden wurde – die Maße von 38,5 x 22 Zentimetern passen annähernd dazu. Es ist natürlich möglich, dass die Stickerei eine Funktion innehatte, die weder in Objekten noch in Quellen fassbar ist. Annemarie Stauffer hat zum Beispiel für die beiden Seitenteile der sogenannten Ewaldi-Decke (82,5/83,5 x 94/95 Zentimeter) eine Verwendung als textile Wandbilder vorgeschlagen, bevor sie durch die Verbindung mit dem breiten Mittelstück einer neuen Funktion zugeführt wurden.53

Die Paulus-Stickerei im Stift St. Michael in Beromünster

Es lässt sich zusammenfassen: Die Datierung der Paulus-Christus-Stickerei bleibt nach wie vor offen. Es finden sich textile und nicht-textile Vergleichsbeispiele sowohl aus dem 11. als auch aus dem 12. Jahrhundert. Eine frühere Datierung erscheint vor diesem Hintergrund als schwer beweisbar, eine spätere ist auszuschließen. Aufgrund der zu rekonstruierenden geringen Größe der Stickerei ist ihre Verwendung als Altarschmuck unwahrscheinlich. Die Vergleichswerke legen eine Funktion als Gewandbesatz oder individuelle Stiftung nahe. Letzteres sagt jedoch nichts über die Gebrauchsweise aus. Die Lederstreifen bilden ein schwaches Relief, weshalb sich die Stickerei als Unterlage für liturgische Geräte oder Reliquiare eher nicht eignete. Ihre Ausführung in wenigen, kontrastreichen Farben mit Goldlederstreifen unterstützt die Vermutung, dass die Stickerei auch gut sichtbar sein sollte. Die Verwendung von Lederstreifen statt von im Vergleich schwereren Metallfäden spricht dafür, dass eine Hängung der Stickerei vorgesehen war. Diese Funktion erfüllte sie wohl über keinen langen Zeitraum, da sie sich offensichtlich in einem Zustand befand, der in ihre Umnutzung als Reliquienhülle mündete.

A nmerkungen 1 | Die Forschung zum Thema dieses Aufsatzes wurde durch einen Aufenthalt in der AbeggStiftung, Riggisberg (Schweiz), und eine Reisebeihilfe der Fritz Thyssen Stiftung gefördert. 2 | Wanner, Anne/Richard, Jean: „Textiles: Embroidery“ (Art. Switzerland, XI.2), in: Grove Art Online: https://doi.org/10.1093/gao/9781884446054.article.T082681 [08.03.2019]. 3 | Reinle, Adolf: „Entdeckung frühmittelalterlicher Stoffe in Beromünster“, in: Unsere Kunstdenkmäler 9.1958, S. 10−12; Suter, Robert Ludwig: „Ein Reliquienfund in Beromünster 1957“, in: Der Geschichtsfreund 120.1967, S. 178−185; Suter, Robert Ludwig: „Frühe Textilien im Stift Beromünster“, in: Helvetia Archaeologica 14.1983, S. 241−252. 4 | Schmedding, Brigitta: Mittelalterliche Textilien in Kirchen und Klöstern der Schweiz, Bern 1978, S. 17−46, Kat.-Nrn. 1−32. 5 | Schmedding 1978, Umschlagfoto. Die Stickerei wurde anlässlich der zum Katalog gehörenden Ausstellung (Abegg-Stiftung, 6. Mai bis 14. Oktober 1973) noch einmal, diesmal in der Abegg-Stiftung, restauriert. Es existieren keine Dokumente über die erfolgten Restaurierungen, sondern nur Fotografien. 6 | Suter 1983, S. 241. 7 | Reinle, Adolf: Das Amt Hochdorf. Nachträge zu den Bänden I−V (= Die Kunstdenkmäler des Kantons Luzern, Bd. 6), Basel 1963, S. 339; Schneider, Jenny: Textilien. Katalog der Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums Zürich, Zürich 1975, S. 40, Kat.-Nr. 55.

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Patricia Strohmaier 8 | Ich danke Andrea Franzen, Zürich, die mir die entsprechende Seite aus dem Eingangsbuch gezeigt hat. 9 | Barbatianus-Sarkophag aus der ehem. Laurentius-Kirche in Caesarea, Marmor, Ravenna, 5. Jh., Ravenna, Dom: Dresken-Weiland, Jutta: Italien mit einem Nachtrag Rom und Ostia, Dalmatien, Museen der Welt (= Repertorium der christlich-antiken Sarkophage, Bd. 2), Mainz 1998, S. 119, Nr. 384. Ein ähnliches Beispiel mit Christus zwischen Petrus und Paulus unter Arkaden ist der Geminus-Sarkophag, Arles, Anfang 5. Jh., Arles, Saint-Trophime: Christern-Briesenick, Brigitte: Frankreich, Algerien, Tunesien (= Repertorium der christlich-antiken Sarkophage, Bd. 3), Mainz 2003, S. 75−76, Nr. 120 und Taf. 33.4−7. 10 | Schrein Sigismunds und seiner Kinder, Holz, Silber vergoldet, Saint-Maurice d’Agaune, 2. Hälfte 12. Jh. und 1. Viertel 13. Jh., Saint-Maurice d’Agaune, Schatzkammer, Inv.-Nr. 1: Mariaux, Pierre Alain (Hg.): L’abbaye de Saint Maurice d’Agaune 515−2015, Bd. 2: Le trésor, Gollion 2015, S. 61−71, hier S. 67−68 (Pierre Alain Mariaux). 11 | Die Reliquienbeutel in der Stiftskirche von Beromünster sind in der Regel kleiner, vgl. Schmedding 1978, S. 29−30 Kat.-Nr. 14 (14,3 x 14 Zentimeter), S. 32−33; Kat.-Nr. 17 (11,5 x 10,2 Zentimeter), S. 44−45; Kat.-Nr. 30 (8,1 x 6,1 Zentimeter). 12 | Der fotografisch festgehaltene Zustand der Paulus-Stickerei vor der Restaurierung zeigt Löcher im Seidengewebe, demnach war es in seiner Erscheinung auch beeinträchtigt (Archiv der Abegg-Stiftung, Riggisberg). Ich danke Evelin Wetter und Caroline Vogt, Riggisberg, für die Auskunft und die Fotos. 13 | Lütolf, Konrad: „Dörflingers Reliquienverzeichnis von Beromünster“, in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 12.1918, S. 157−197. Das Verzeichnis ist im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts entstanden. 14 | Dürler, Johann Rudolf: Descriptio ss. Reliquiarum eccl. colleg. Beronensis, Beromünster, Stiftsarchiv, Sti.AB.01.01.708. 15 | Lütolf 1918, S. 181−183. 16 | Lütolf 1918, S. 180. 17 | Vgl. Schorta, Regula: „Hülle und Zier. Eine Ausstellung mittelalterlicher Textilreliquien und textiler Reliquienverpackungen in der Abegg-Stiftung“, in: Das Münster 67.2014, 2, S. 151−155; dies.: „Central Asian Silks in the East und West during the Second Half of the First Millenium“, in: Juliane von Fircks/dies. (Hg.), Oriental Silks in Medieval Europe (= Riggisberger Berichte, Bd. 21), Riggisberg 2016, S. 46−63. 18 | Reinle 1963, S. 339. 19 | Maiestas-Scheibe, Holz, Kupfer vergoldet, Konstanz (?), 11. Jh., Konstanz, Münster: Suevia Sacra. Frühe Kunst in Schwaben, Ausst.-Kat. Augsburg, Rathaus, Augsburg 1973, S. 147−148, Kat.-Nr. 128 und Abb. 119, dort Mitte 12. bis Anfang 13. Jahrhundert datiert; Sauerländer, Willibald: „Suevia Sacra. Frühe Kunst in Schwaben“, in: Kunstchronik 26.1973, S. 350−359, hier S. 359; Wilckens, Leonie von: „Mittelalterliche Textilien aus Schweizerischen Kirchen und Klös-

Die Paulus-Stickerei im Stift St. Michael in Beromünster tern“, in: Kunstchronik 27.1974, S. 9−14, hier S. 13. Dies ist die Besprechung der Ausstellung in der Abegg-Stiftung 1973. 20 | Die Anfänge des Stifts liegen im Dunkeln und sind daher Gegenstand einiger Untersuchungen. Siehe dazu die Zusammenfassung bei: Büchler-Mattmann, Helene/Lienhard, Heinz: „St. Michael in Beromünster“, in: Helvetia sacra. Abt. II. T. 2. Die Weltlichen Kollegiatsstifte der deutsch- und französischsprachigen Schweiz, Bern 1977, S. 162−214. 21 | Genannt werden ein goldener Kelch (zyphus aureus) und ein Epistolar mit Elfenbein und Gold (eburneus, auro suffocatus): Liebenau Theodor von: Urkundenbuch des Stiftes Bero-Münster, Bd. 1, Stans 1906, S. 31, Nr. 1. Die zwei frühmittelalterlichen Elfenbeintafeln mit Petrus und Paulus könnten den Einbandschmuck des Epistolars gebildet haben: Riek, Markus/Goll, Jürg/Descœudres, Georges (Hg.): Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz, Ausst.Kat. Zürich, Landesmuseum, Sulgen 2013, S. 277 (Marina Bernasconi Reusser). 22 | Liebenau 1906, S. 31 Nr. 1: „Ulricus Comes de Lenzburg restauravit hanc Ecclesiam Ao 1036 […]“. 23 | Eggenberger, Peter: Das Stift Beromünster. Ergebnisse der Bauforschung 1975−1983, Luzern 1986, S. 27−34. 24 | Aus den dort angebrachten Inschriften geht hervor, dass sich das Grabmal auf einen Vorgänger bezieht, der 1036 anscheinend nach der Translation der Gebeine von Bero entstand: Aebi, Joseph Wilhelm Ludwig: „Das Grabmal der Grafen Bero und Ulrich von Lenzburg in der Stiftskirche zu Beromünster, und dessen Inschriften“, in: Der Geschichtsfreund 22.1867, S. 227−236, hier S. 227 f. 25 | Schmedding 1978, S. 40. 26 | Kalbermatter, Philipp/Kettler, Wilfried: Die Inschriften der Kantone Luzern, Unterwalden, Uri, Schwyz, Zug, Zürich, Schaffhausen, Thurgau, St. Gallen und des Fürstentums Liechtenstein bis 1300 (= Corpus inscriptionum medii aevi Helvetiae. Die frühchristlichen und mittelalterlichen Inschriften der Schweiz, Bd. 4), Freiburg (CH) 2017, S. 34−35, Nr. 8, hier S. 34. 27 | Ich danke Michael Peter, Riggisberg, Susanne Wittekind, Köln, und Jürgen Wiener für ihre jeweiligen Einschätzungen. 28 | Vgl. die Säulenarkaden bei Köhler, Wilhelm/Mütherich, Florentine: Die karolingischen Miniaturen, Berlin 1933, Bd. 1.2, Taf. I.1a, 9b, 16a, 67a; die Rahmenbordüre in: Bd. 1.2, Taf. I.118b; die Arkaden in: Wiesbaden 2009, Bd. 7.2, Taf. VII.167b. 29 | Grabplatten der Quedlinburger Äbtissinnen Adelheid I., Beatrix und Adelheid II., Stuck, Quedlinburg, um 1129, Quedlinburg, St. Servatius: Wittekind, Susanne (Hg.): Romanik (= Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 2), München 2009, S. 403, Kat.-Nr. 170 (Tanja Michalsky). 30 | Anfray, Marcel, L’architecture religieuse du Nivernais au moyen âge. Les églises romanes, Paris 1951, S. 172−196, S. 287, 291, 293, Taf. XXV.1; maiestas domini (Bilddatei-Nr. fm39879), in: Bildindex der Kunst und Architektur: https://www.bildindex.de/document/obj20076471 [08.03.2019].

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Patricia Strohmaier 31 | Wilckens 1974, S. 13. 32 | Kreuzfuß, Kupferkasten (modern), Kupfergrubenschmelz, Nord- oder Ostseeraum, 1. Hälfte 12. Jh. Hildesheim, Dommuseum, Inv.-Nr. DS 21: Brandt, Michael/Höhl, Claudia/Lutz, Gerhard (Hg.): Dommuseum Hildesheim, Regensburg 2015, S. 68, Abb. und S. 69, Kat.-Nr. 27 (Claudia Höhl); Reliquiar (Bilddatei-Nr. dmhds21_06), in: Bildindex der Kunst und Architektur: https://www.bildindex.de/document/obj20313185 [28.02.2019]. 33 | Sogenanntes starkfarbiges Reliquiar, Holz, Kupfergrubenschmelz, Dänemark oder Norddeutschland, 1. Hälfte 12. Jh., Berlin, Staatliche Museen, Kunstgewerbemuseum, Inv.-Nr. W16: Kötzsche, Dietrich, Der Welfenschatz im Berliner Kunstgewerbemuseum, Berlin 1973, S. 73, Kat.-Nr. 17 und Farbtaf. III. Nach Brandt/Höhl/Lutz 2015, S. 69 (Claudia Höhl) gehört der Hildesheimer Kreuzfuß zu einer Gruppe von zehn Email-Kästchen, die in derselben Werkstatt hergestellt wurden. Das Berliner Kästchen gehört nach Stil, Technik und Ikonografie dazu, enthielt aber auch Reliquien: Schorta, Regula: „Reliquienhüllen und textile Reliquien“, in: Ehlers, Joachim/Kötzsche, Dietrich (Hg.), Der Welfenschatz und sein Umkreis, Mainz 1998, S. 139−176, hier S. 141−146 und S. 158−159, Nr. 3, 4. 34 | Fahne des heiligen Ot/Oth, Leinen und Seide, Katalonien, um 1095−1122, Barcelona, Museu del Disseny, Inv.-Nr. MTIB 49422: Müller-Christensen, Sigrid/Schuette, Marie: Das Stickereiwerk, Tübingen 1963, S. 27, Nr. Kat.-Nr. 38 und S. 25, Abb. 38;. Vigué, Jordi (Hg.): Alt Urgell. Andorra (= Catalunya Romànica, Bd. 6), Barcelona 1992, S. 358 (Rosa M. Martín i Ros); Penó de Sant Ot, in: Museu del dissenu de Barcelona. Colleccio: http://cataleg.museudeldisseny.cat/ fitxa/mtib/H301097/?lang=ca [04.03.2019], dort auch mit Bibliografie. 35 | Ewaldi-Decke, Leinen, Seide, Leder, Köln (?), 9.−12. Jh., Köln, St. Kunibert: Reudenbach, Bruno (Hg.): Karolingische und ottonische Kunst (= Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 1), München 2009, S. 306−307, Kat.-Nr. 80 (Christoph Winterer), mit Bibliografie. Zuletzt: Stauffer, Annemarie: „Die geordnete Welt – Ein antikes Himmelsbild. Die Decke aus dem Schrein der heiligen Ewalde in St. Kunibert“, in: Colonia Romanica 31.2016, S. 33−52. 36 | Stauffer 2016, S. 36. 37 | Vgl. Járó, Márta: „Gold Embroidery and Fabrics in Europe: XI−XIV Centuries“, in: Gold Bulletin 23.1990, S. 40−57. In der Übersicht von Járó finden vergoldete Lederstreifen keine Erwähnung. Wilckens, Leonie von: Die textilen Künste. Von der Spätantike bis um 1500, München 1991, S. 84 listet vier Objekte auf, die ins 6. bis 12. Jahrhundert datieren. In der Seidenweberei war Riemchengold dagegen verbreiteter: Wilckens 1991, S. 84−87. 38 | Schorta, Regula: „Textil- und Lederreliquien aus der Kirche Saint-Marcel in Delsberg“, in: Jean Rebetez (Hg.), Pro Deo. Das Bistum Basel vom 4. bis ins 16. Jahrhundert, Ausst.-Kat. Basel, Museum Kleines Klingental, Delsberg 2006, S. 155−160, hier S. 158. 39 | Bei Braun, Joseph: Handbuch der Paramentik, Freiburg i. Br. 1912, S. X gehören zu den Paramenten der Kirche Kissen, Decken und Wandbehänge, Fahnen nennt er unter den Paramenten „für besondere Gelegenheiten und Funktionen“.

Die Paulus-Stickerei im Stift St. Michael in Beromünster 40 | Einband der Vorderseite eines Evangeliars mit maiestas domini aus der Abtei Alspach, Leinen, Seide, Alspach oder Hirsau (?), Mitte 12. Jh., Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Inventar-Nr. Cod. bibl. fol. 71: Legner, Anton, Deutsche Kunst der Romanik, München 1982, Taf. 494. − Reliquienbeutel, Seide, Metallfäden, Trier, um 993, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. KG562: Wilckens 1991, S. 174 Abb. 194 und S. 175. − Fragment eines Wandbehanges, Leinen, Seide, Niedersachsen (Halberstadt?), um 1160/70, Berlin, Staatliche Museen, Kunstgewerbemuseum, Inv.-Nr. 1888.470: Lambacher, Lothar (Hg.): Schätze des Glaubens. Meisterwerke aus dem Dom-Museum Hildesheim und dem Kunstgewerbemuseum Berlin, Ausst.-Kat. Berlin, Staatliche Museen, Kunstgewerbemuseum, Regensburg 2010, S. 84−85, Kat.-Nr. 36 (Heidi Blöcher). 41 | Das Antependium aus der Abtei Rupertsberg (Mainz, um 1220, Brüssel, Musée de Cinquantenaire, Inv.-Nr. 1784) hat die Maße 96,5 x 234 Zentimeter: Wittekind 2009, S. 400−401, Kat.-Nr. 166 (Tanja Michalsky). Der fragmentarisch überlieferte Wandbehang in Berlin ist 118,5 x 120 Zentimeter groß. Antependien mit einer maiestas domini im Zentrum und zwei Registern weisen mehrere Arkaden links und rechts auf. Da Paulus und Petrus in der Heiligenhierarchie so weit oben stehen und Paulus nachweislich den rechten Rand bildete, ist schwer vorstellbar, dass noch weitere Heilige zwischen Paulus und Christus gestickt waren. Zudem sind Christus und Paulus beinahe gleich groß, bei den Antependien mit zwei Registern ist der thronende Christus jedoch ungefähr doppelt so groß. Vgl. die Vorderseite der Arca Santa, Spanien, Ende 11./Anfang 12. Jh., Oviedo, San Salvador, Cámara Santa: O’Neill, John (Hg.): The Art of medieval Spain, A.D. 500−1200, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New York 1993, S. 259−260, Kat.-Nr. 124 (Julie A. Harris). 42 | Vgl. Braun, Joseph: „Altar, A: In der Katholischen Kirche“, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 1, Sp. 412–429. 43 | Schmedding 1978, S. 40. Sie bezieht sich auf Braun, Joseph, Die liturgische Gewandung im Occident und Orient, Freiburg i. Br. 1907, S. 82, wenn sie als Gegenargument die Entwicklung von Zierbesätzen auf Alben ab dem 12. Jahrhundert nennt. 44 | Dalmatik, Leinen, Seide, Metallfäden, Byzanz (Samitgewebe) und Rom (Besätze), 2. Hälfte 13. Jh., Lübeck, St. Annen-Museum, Inv.-Nr. 97a: Borkopp-Restle, Birgit/Schellewald, Barbara: „Ein Ornat für den Lübecker Dom. Hinrich II. Bocholt – Inszenierung im Leben und nach dem Tode“, in: Zeitschrift für Lübeckische Geschichte 91.2011, S. 9–27. 45 | Baltzer, Johannes/Bruns, Friedrich, Kirche zu Alt-Lübeck. Dom. Jakobikirche. Ägidienkirche (= Bau- und Kunstdenkmäler der Freien und Hansestadt Lübeck, Bd. 3), Lübeck 1920, S. 294. Ich danke Bettina Zöller-Stock, Lübeck, für den Hinweis. 46 | Borkopp-Restle/Schellewald 2011, S. 15. 47 | Auf der Rückseite der Dalmatik ist ein im Bildaufbau identischer Querbesatz angebracht. In der mittleren Arkade steht Maria mit dem Kind, links und rechts Petrus und Paulus. 48 | Stauffer 2016, S. 41.

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Patricia Strohmaier 49 | Nach Braun 1907, S. 265−266 entwickelten sich Saumbesätze an Dalmatiken seit karolingischer Zeit, doch scheint es in den von ihm angeführten Bildwerken des 10. und 11. Jahrhunderts mit Darstellungen von Dalmatiken eher um schmale Besätze und keine größeren Bildstickereien zu gehen. 50 | Sogenannte Kriegsfahne der Gerberga, Seide, Metallfaden, Laon (?), um 960, Köln, Domschatzkammer, Inv.-Nr. Clemen 132: Puhle, Matthias (Hg.): Otto der Große. Magdeburg und Europa, Ausst.-Kat. Magdeburg, Kulturhistorisches Museum, Mainz 2001, S. 455−457, Kat.-Nr. VI.40 (Regula Schorta). 51 | Auf der Fahne des Ot/Oth steht „ELIS/AVA/MEF/[E]CIT“, auf der Gerberga-Fahne „GERBERGA ME FECIT“. 52 | Reliquienhülle, Leinen, Seide, Metallfäden, Westeuropa, 9.−10. Jh., Tongeren, Basiliek van O.-L.-Vrouw Geboorte, Schatzkammer: Ceulemans, Christina (Hg.): Tongeren, Basiliek van O.L.-Vrouw Geboorte. Textiel van de vroege middeleeuwen tot het concilie van Trente, Leuven 1988, S. 133−137, Kat.-Nr. 5. Auf dem Trägerstoff befinden sich die Reste einer nicht mehr rekonstruierbaren Inschrift. 53 | Stauffer 2016, S. 50.

„DOCTA MANUS REPARABAT“ Ein unbekanntes Taufbecken des 12. Jahrhunderts aus dem Veneto Albert Dietl Mit Blick auf die bevorstehende Eröffnung des neu errichteten Kaiser-Friedrich-Museums in Berlin, die am 18. Oktober 1904 stattfinden sollte, dem Geburtstag des 1888 verstorbenen Kaisers, erwarb der Berliner Museumsmogul Wilhelm von Bode (1845–1929) im Jahr 1902 einen inschriftlich auf 1170 datierten, sarkophagförmigen und allseitig mit eingeritztem Dekor versehenen Marmorkasten Abbildung 1: Taufbecken, Berlin, Staatliche Museen, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst

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Abbildung 2: Taufbecken, Berlin, Staatliche Museen, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst

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„aus Rom“, so die Auskunft der beiden frühen Berliner Bestandskataloge (Abb. 1–3).1 Schon in den 1890er Jahren hatte Bode begonnen, zielgerichtet Skulpturen für die noch stark unterrepräsentierte frühchristlich-byzantinische Sammlung zu akquirieren, eine Sektion der seit 1885 eigenständigen, ihm unmittelbar unterstehenden „Abteilung der Bildwerke der christlichen Epochen“, der auch der Bereich der italienischen Plastik vom Frühmittelalter bis zum 13. Jahrhundert zugeordnet war.2 Dank eines 1901 bewilligten Sonderfonds in Höhe von zwei Millionen Reichsmark konnte er im folgenden Jahr seine Ankaufspolitik im italienischen Kunsthandel auch auf diesem Sammlungsgebiet erheblich intensivieren.3 Im April 1902 lernte er auf seiner Frühjahr-Stippvisite in Rom zur Auktion der Sammlung Guidi den tschechisch-österreichischen Archäologen Leopold Pollak (1868–1943) kennen, der seit 1893 als Privatgelehrter in Rom lebte und nun bis 1914 zum wichtigsten Kunstagenten Bodes im römischen Kunsthandel für die frühchristlich-byzantinische Abteilung wurde. Noch im gleichen Jahr startete Pollak umfangreiche Aktivitäten zum Ankauf von frühchristlichen Sarkophagen, aber auch von frühund hochmittelalterlichen Skulpturen für Berlin.4 Zu den damaligen Erwerbungen Pollaks dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit auch der von den Sammlungskata-

„DOCTA MANUS REPARABAT“

Abbildung 3: Taufbecken, Berlin, Staatliche Museen, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst

Berlin, Staatliche Museen, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst

logen nach Rom lokalisierte Marmorkasten zählen, dessen genaue Erwerbungsumstände nicht mehr dokumentierbar sind.5 Im Rückblick seiner Erinnerungen hob Bode hervor, dass „die Abteilung der mittelalterlichen Plastik Italiens, welcher ich von vornherein meine Aufmerksamkeit zugewandt hatte, […] noch kurz vor der Eröffnung des Kaiser-Friedrich-Museums und seither durch regelmäßige Vermehrungen zu einer der reichhaltigsten und instruktivsten Sammlungen ihrer Art ausgestaltet werden“ konnte.6 Als die frühchristlich-byzantinische Abteilung schließlich im neuen Museumsbau in zwei Erdgeschoss-Sälen des spreeseitigen Flügels erstmals über eigene Schauräume verfügte, präsentierte sie im östlichen Drittel des „Byzantinischen Saals“ (Saal 6) auch plastische Bildwerke des italienischen Mittelalters bis zum Beginn der Gotik, ohne dabei das künstlerisch wenig prominente Marmorbecken der Romanik zu berücksichtigen.7 Die Außenwände des länglichen, an den Ecken abgefasten Kastens umzieht eine einheitliche, architektonische Ritzgliederung aus mit Volutenkapitellen bekrönten Pilastern, zwischen die an den Längsseiten je zwei, an den Schmalseiten je eine – nur hier mit einem flachreliefierten Rautenband ausgezeichnete – Rundbogenarkade eingestellt sind (Abb. 1–3). An drei der Kastenwände umfangen die Arkaden jeweils ein gleicharmiges, auf Scheiben stehendes Kreuz mit Kreisen sowohl in der Vierung wie an den Enden der Arme sowie diagonal zwischen den Armen schwebenden, lanzettförmigen Blättern. Einzig und allein auf der zweiten, stark abgeriebenen Längsseite (Abb. 3), die partielle Ausbrüche an der oberen Kante schräg über den Volutenkapitellen der äußeren Pilaster zusätzlich beeinträchti-

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gen, sitzen in den beiden Arkaden achtblättrige Rosetten: Links umschließt ein doppelrilliger, einem getreppten Sockel eingelassener Kreis einen Kranz gleichlanger Lanzettblätter, deren Zwickel gegenständige, dreifingrige Blätter füllen; rechts durchstoßen die kräftigeren Diagonalblätter einen freischwebenden, einrilligen Kreis. In allen vier Ecken des Kastens wachsen baumartige Stauden mit links und rechts des Stammes herabhängenden Blättern auf. Wie ein Gebälk sitzt auf der architektonischen Gliederung ein am oberen Kastenrand umlaufendes, durch untere und obere Zeilenlinierung markiertes Inschriftenband auf, das an jeder Kastenwand links und rechts durch den Pilastern entwachsende, an den Kanten der abgefasten Ecken emporlaufende und an der Spitze eingerollte Ritzungen zusätzlich in den Gesamtdekor eingebunden wird. Ein kreisrundes Loch im Boden und ein allseitiger Falz am oberen Rand der Innenwände ermöglichten den Ablauf und die Abdeckung des Beckens. Die völlig textidentischen Katalogeinträge in den beiden älteren, nach wie vor maßgeblichen Berliner Bestandsverzeichnissen der mittelalterlichen Bildwerke aus Byzanz und Italien, bis heute die Basisliteratur des wenig bekannten Artefakts, bedürfen in mehrfacher Hinsicht der Korrektur. Die grundlegende Erschließung im ersten, 1911 erschienenen Bestandskatalog unternahm Oskar Wulff (1864– 1946), den Bode auf Empfehlung des Archäologen Theodor Wiegand (1864–1936) als Experten für byzantinische und ostkirchliche Kunst 1899 nach Berlin geholt hatte und der 1904 für die Erstpräsentation der frühchristlich-byzantinischen Sammlung samt des italienischen Mittelalters im Kaiser-Friedrich-Museum verantwortlich war.8 Bald darauf zum Direktorialassistenten der Abteilung aufgestiegen, konnte Wulff 1911 dank seines Bestandskatalogs den Professorentitel für seine angestrebte Universitätslaufbahn erwerben.9 Bei der Transkription der Inschrift kapitulierte er allerdings vor der korrupten, inhaltlich für die Bestimmung der Funktion aber wichtigen dritten Zeile, die er in einer völlig verballhornten Lesung wiedergab; er verbuchte daher den Marmorkasten zwangsläufig falsch als „Brunnentrog (oder Kelter?)“.10 In seiner 1930 vorgelegten Neuauflage des Wulffschen Bestandkatalogs übernahm Wolfgang Fritz Volbach (1892–1988), seit 1917 Mitarbeiter, seit 1927 Nachfolger Wulffs als Direktor der Frühchristlich-Byzantinischen Sammlung, vollständig und ohne Änderung den einschlägigen Katalogeintrag seines Vorgängers zum „Brunnentrog“.11 Die an allen vier Seiten des Beckenrandes umlaufende, einzeilige Inschrift in romanischer Majuskel, die mit dem Invokationskreuz an der linken Kante der vorderen Längsseite einsetzt, gibt durch ihre Leserichtung im Gegenuhrzeiger-Sinn ihrem Trägerobjekt überhaupt erst eine Ausrichtung. Die hier vorgelegte, korrigierte Lesung des Inschriftenabschnitts auf der dritten Seite, der Rückseite, lässt an der einstigen liturgischen Funktion des Kastens als Taufbecken wenig Zweifel.12

„DOCTA MANUS REPARABAT“ + ANNO • MILLENO CENTENO S[EP]TVAGENO • MARCIVS INSTABAT • / NVNC • DOCTA • MANVS • REPARABAT / FO[NTEM] • QVO NATI CRISTO FIVNT CORONATI • G[RA]CIA / CVRREBAT FONS INDICIOQ(VE) FIEBAT /

Die vier Seitenabschnitte der Inschrift, in denen durch eine geschickte ordinatio immer ein Wortende mit dem Zeilenende zusammenfällt, ergeben eine Versinschrift aus vier leoninischen, doppelsilbig gereimten Hexametern, die in Vers 1 und 2 die Datierung und die Herstellung des Beckens, in Vers 3 und 4 seine taufliturgische Zweckbestimmung thematisieren.13 ANNO MILLENO CENTENO SEPTVAGENO

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MARCIVS INSTABAT NVNC DOCTA MANVS REPARABAT

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FONTEM QVO NATI CRISTO FIVNT CORONATI

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GRACIA CVRREBAT FONS INDICIOQVE FIEBAT

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Die ungewöhnliche Monatspräzisierung (Vers 2) auf den März, die auf die Jahresdatierung 1170 mit ihrer einleitenden anno-Formel (Vers 1) folgt, steht möglicherweise in einem Zusammenhang mit der Berechnung des beweglichen Termins des Oster- und implizit damit auch des vom Ostertermin abhängigen Pfingstfestes.14 Auch wenn damals die veralltäglichten, privatisierten quam primum-Taufen der Kleinkinder zeitnah nach der Geburt längst gängige Praxis waren, kamen der Oster- und Pfingstvigil, den einst exklusiven, traditionsmächtigen Taufterminen, nach wie vor ein liturgisch eminenter Rang in der Feier der zeremoniellen, öffentlichen Repräsentativtaufen und der Taufwasserweihe zu.15 Im Jahr 1170 fiel die sogenannte incensio lune paschalis, also der Frühjahrsneumond, der den folgenden Vollmond der sogenannten Ostergrenze (terminus paschalis; luna quarta decima pasche) festlegte und damit die Grundlage für die Terminberechnung des Osterfestes abgab, auf den 15. März.16 Der zweite Versteil bemühte nicht nur mit dem metaphorischen Sprachbild der docta manus eine seit der Antike tradierte, weit verbreitete Formel des literarischen und des epigrafischen Künstlerlobs.17 Mit der auffälligen Verbwahl könnte er auch einen Fingerzeig auf die spezifische Art der Betätigung dieser ungenannten docta manus geben, nämlich auf die Reparatur, die Wieder-in-Dienstnahme eines älteren, vorgefundenen Trogs für den liturgischen Zweck, den die folgenden taufthematischen Verse formulierten. Anders als die Berliner Bestandskataloge wohl aus dem Ankaufsort kurzschlossen, stammt das Taufbecken aber nicht aus Rom, sondern aus dem Veneto. In seiner 1696 erschienenen Sammlung religiöser und profaner Inschriften des Paduaner Umlands verzeichnete der Dominikaner und Antiquar Jacopo Salomo-

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Abbildung 4: Zianigo, Pieve Santa Maria Natività

Fotografie: Albert Dietl

nio (1626–1710) nämlich das Taufbecken samt seiner Inschrift in der Pieve Santa Maria Natività in Zianigo (Com. Mirano; Prov. Venedig) (Abb. 4).18 Der Paduaner Bischof und Kardinal Gregorio Barbarigo (1625–1697) hatte den aus Candia auf Kreta gebürtigen Salomonio, den er aus gemeinsamen Studienjahren an der Universität in Padua kannte, 1665 als Theologieprofessor und Studienpräfekten an sein Paduaner Priesterseminar geholt, das er zu einer weithin beachteten Musteranstalt der Klerikerausbildung und der humanistischen Studien formte.19 In diesem Klima historisch-philologischer Gelehrsamkeit des Seminars wandte sich Salomonio in seinen späten Jahren mit drei Inschriftensammlungen dem Gebiet antiquarisch-epigrafischer Studien zu, die seit langem gerade im Paduaner Raum grassierten und dabei auch die heimatlichen Denkmäler der großen kommunalen Vergangenheit des Mittelalters berücksichtigten.20 In diese Tradition rückte er denn auch ausdrücklich sein 1696 in der berühmten tipografia des Paduaner Seminars gedrucktes Erstlingswerk der Agri Patavini inscriptiones, das er mit dem Titel in die Nachfolge der Paduaner Inschriftensyllogen eines Giacomo Filippo Tommasini (1595–1655) stellte.21 Salomonio begann seine Auflistung der elf in der

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Kirche von Zianigo verzeichneten Inschriften von Westen her; das an zweiter Stelle notierte Taufbecken dürfte demnach damals unweit des Westportals platziert gewesen sein: „Ad Baptisterii circumferentiam: Currebat, indictioq,. fiebat. Anno Milleno Centeno . Septuageno Martius instabat. Hanc docta manus reparabat“.22 Allerdings fehlt in Salomonios Wiedergabe der Inschriften auf der Wandung des Taufbeckens gerade der schwer lesbare Abschnitt auf der Rückseite, die damals wohl gegen eine Mauer gerückt oder auf andere Weise nicht einsehbar war. Als bedeutende Pieve im Süden der Diözese Treviso erscheint Zianigo erstmals in einer auf Bitten des Ortsbischofs Bonifatius (1148–1153) am 3. Mai 1152 in Signa ausgestellten Urkunde Papst Eugens III. (1145–1153) zum apostolischen Schutz und zur Besitzbestätigung des detailliert aufgelisteten Trevisaner Patrimoniums, die das Netz der Taufkirchen innerhalb der Diözesanstruktur Trevisos erkennen lässt (Abb. 5): Sie führt die „plebem Sancte Marie de Zulianigo cum pertinentiis suis“ innerhalb des Pfarrverbandes von San Lorenzo in Mestre auf, des südöstlichen der vier diözesanen Archipresbyteriate Trevisos.23 Zur Zeit der Entstehung des Taufbeckens hatte die nahe gelegene, expandierende Kommune Padua ihr Territorium auf diese Zone ausgedehnt: Zu den 109 milites und 212 kleineren bischöflichen Vasallen und Familiaren, die sich 1178 vor dem neuen Trevisaner Bischof Odericus (1178–1180) zum Treue- und Lehnsschwur einfanden, gehörte auch eine größere Gruppe von Vasallen mit Paduaner Bürgerrecht, die ihren Lehnsbesitz im Gebiet der vier, unter Paduaner Hegemonie geratenen Sprengel der Taufkirchen von Zeminiana, Zianigo, Borbiago und Mirano hatte.24 Das Prestige der Pieve spiegelte die Bestellung ihres Plebans Engefridus, nach dem Tod des Bischofs Enricus (1196–1199) das Archipresbyteriat Mestre im 20-köpfigen Gremium der Elektoren zu vertreten, das die Wahl des neuen Trevisaner Bischofs durchzuführen hatte.25 Nach dem durch Bischof Giovanni D’Acri da Soana (1478–1485) genehmigten Abriss der alten Pieve fand das alte Taufbecken als Denkmal der Vergangenheit Zianigos auch in dem 1490 geweihten Neubau Platz, der nach einer tiefgreifenden Modernisierung seit den späten 1790er Jahren im Jahr 1810 erneut geweiht wurde (Abb. 4).26 Als das Langhaus der Kirche ab 1895 nach Westen verlängert und eine neue Fassade vorgesetzt wurde, dürften wohl nicht nur Teile der 1799 gelieferten Freskenausstattung des Malers Giandomenico Tiepolo (+ 1804), der seit 1772 die von seinem Vater erworbene Landvilla der Tiepolo in Zianigo bewohnte, abhanden gekommen sein, sondern vielleicht auch das Taufbecken, das dann wenige Jahre später auf dem römischen Kunstmarkt auftauchte.27 Wie kein anderer Formtyp musste der längliche Kasten das paulinische Urverständnis der Taufe als Nachvollzug von Tod und Begräbnis des in der Taufe gegenwärtigen Christus in Röm 6, 3–5 in Erinnerung rufen (Abb. 1–3).28 Die sarkophagförmige Gestalt des Berliner Beckens machte die Vorstellung des sepulcrum

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Abbildung 5: Das Patrimonium der Diözese Treviso nach der Bulle Papst Eugens’ III. 1152

Quelle: Storia di Treviso, Bd. 2: Daniela Rando/Gian Maria Varanini (Hg.), Il Medioevo, Venedig 1991

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Christi unmittelbar augenfällig, in dem der Täufling in Christus mitgestorben und mitbegraben ist und ein neues Leben in der Teilhabe am Heilsgeschehen der Auferstehung Christi gewinnt.29 Auf einer elementaren, gleichsam vorikonografischen Ebene visueller Kommunikation offerierte aber auch das auf knappste Kürzel reduzierte Ritzvokabular einen Verständnishorizont bildsprachlicher, taufthematisch wirksamer Gemeinplätze: An allen vier Ecken wachsen taufassoziative, den fons vitae des Beckens umstehende Lebensbäume auf, die durch die lebensspendende Kraft des Taufwassers austreiben und die paradiesischen, fruchttragenden Bäume an den Ufern des unter Gottes Thron entspringenden Stroms mit dem Wasser des Lebens vergegenwärtigen (Apk 22, 2). Sie verweisen zudem auf den heilsgeschichtlich im Kreuz wirksam gewordenen arbor vitae in der Mitte des irdischen Paradieses, an dem die vier Paradiesflüsse entspringen (Gen 2, 10).30 Die Quaternität der Lebensbäume memorierte die Quaternität der die gesamte Erde in allen Himmelsrichtungen bewässernden Paradiesflüsse, die in den Weiheformeln und Zeichenhandlungen der Taufwasserweihe der Osternacht aufgerufen wurden.31 Wenn der Zelebrant im Weihegebet der benedictio fontis der vier Flüsse gedenkt, das Wasser in Kreuzesform vierteilt und dann in der Form eines Kreuzes „versus quattuor mundi partes“ aussprengt, wird das Taufbecken als Träger des die Erde umfassenden Lebensquells des Taufwassers gleichsam zum mundus quadratus, dessen Ecken die Lebensbäume markieren.32 Zwischen den Lebensbäumen reihen sich unter der Hoheitsform der Arkade die Zeichen des taufexegetisch und taufliturgisch omnipräsenten Kreuzes; die unübersehbar zwischen die Kreuzarme eingefügten, großformatigen und „grünenden“ Lanzettblätter machen die lebendig machende, regenerative Macht des auf den Tod und das Blut Christi vollzogenen Taufakts unmittelbar anschaulich. In ihrer plakativen, iterativen Abfolge verstetigten, memorierten und monumentalisierten die Kreuze der Beckenwandungen die Vielzahl performativer, exorzistischer und benedizierender Kreuzessignierungen, die das komplexe Ritengefüge der Taufliturgie von den Skrutinien über die benedictio fontis bis zur Salbung des Täuflings durchzogen.33 Sie versiegelten als apotropäische Schutzzeichen das Becken nach außen gegen den Einfluss des Bösen und verwiesen als Bildchiffren des paulinischen Taufkerygmas nach innen auf das Heil des Taufwassers. Die auf der Beckenwandung umlaufende Inschrift reaktualisierte in ihrer Textsequenz und in jedem Leseakt das rituelle Umschreiten des Taufbeckens im Akt der benedictio fontis. Es ist vermutlich nicht allein dem Anliegen einer varietas des Dekors geschuldet, dass nur auf derjenigen Wandungsseite Rosetten versammelt sind, auf der diese figürlichen Blattkränze in einen intermedialen Dialog mit dem

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inschriftlichen Wortbild der Täuflinge als „Bekränzte“ eintreten konnten: FONTEM QVO NATI / CRISTO FIVNT CORONATI (Abb. 3). Der Vers verspannt über den Binnenreim NATI / CORONATI engstens die Motive der Wiedergeburt und der Krönung, die im neutestamentlichen, eschatologischen Wortgebrauch von corona den Siegeskranz als jenseitigen Lohn assoziieren ließ, als Krone des ewigen Lebens (Apk 2,10).34 Die gallikanische Taufliturgie des 8. Jahrhunderts im Missale Gothicum hatte in der Schlussoration der postbaptismalen Salbung die Motive Taufe und Krönung über das tertium comparationis des Chrisma verbunden: „Baptizatis et in Christo coronatis, quos dominus noster a crisma petentibus regeneracione donare dignatus est, praecamur“ etc.35 Das Thema der (Neu-, Wieder-) Geburt in der erlösenden, sündenabwaschenden Kraft des fons vitae, das Grundaxiom christlicher Initiation, gehörte denn auch von Anfang an zum Urbestand inschriftlicher Grundaussagen an Taufanlagen und Taufgefäßen: Nach einem Distichon im monumentalen Taufgedicht der Anlage Papst Sixtus’ III. (432–440) im Lateransbaptisterium in Rom, das leitmotivisch die Erneuerungsthematik durchspielt, sind es nur die HOC FONTE RENATI, die auf das ewige Leben hoffen können.36 Die überlieferten Verse der Piscina wohl aus dem 5. Jahrhundert in San Lorenzo in Damaso in Rom luden dazu ein, die „Befleckungen des alten Lebens“ abzuwaschen, um anschließend – RENATVS AQVA – einen Glückwunsch entgegenzunehmen.37 Die Inschrift auf einem Architrav einer unbekannten Taufanlage in Otricoli (Umbrien) hob in der Zeit um 600 auf die Immersion im Taufwasser ab, aus dem der RENOVATVM CORPVS des Neophyten wieder auftauchen würde.38 Nach den Versen eines Taufsteins im schwedischen Fjelie (Skåne) aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts mit der Szene der Taufe Christi haben diejenigen, die FONTE RENATI von den Fesseln der Sünde gelöst sind, die Auferstehung mit Christus zu erwarten.39 Die leoninischen Hexameter eines englischen Taufbeckens derselben Zeit in Newark-on-Trent (Nottinghamshire) konfrontieren die fleischliche Geburt mit der spirituellen Neugeburt, die die FONTE RENATI erfahren haben.40 Im Einleitungsvers einer Inschrift des frühen 13. Jahrhunderts aus dem Dombaptisterium in Florenz, die den Text eines älteren Taufhymnus reproduziert, werden die Neugetauften, die eben im Taufakt mit Chrisma gesalbt und mit Weihwasser besprengt wurden, als diejenigen begrüßt, die AD FONTES VIVOS RENATI sind.41 In elementarer Form gab also das Berliner Taufbecken visuell und textiert eine knappe Katechese christlicher Taufe.

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A nmerkungen 1 | Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, Inv.-Nr. 6376, H. 48 cm x B. 87 cm x L. 128 cm; vgl. Wulff, Oskar: Altchristliche und mittelalterliche, byzantinische und italienische Bildwerke (= Königliche Museen zu Berlin. Beschreibung der Bildwerke der christlichen Epochen, Bd. 3, Teil 2: Mittelalterliche Bildwerke), Berlin 1911, S. 35, Nr. 1783; Volbach, Wolfgang Fritz: Mittelalterliche Bildwerke aus Italien und Byzanz, 2. Aufl. (= Staatliche Museen zu Berlin. Bildwerke des Kaiser-Friedrich-Museums, Bd. 3), Berlin/Leipzig 1930, S. 74, Nr. 6376; Dietl, Albert: Die Sprache der Signatur. Die mittelalterlichen Künstlerinschriften Italiens, Bd. 2 (= Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 4. F., Bd. 6/2), Berlin/München 2009, S. 632 f., Kat-Nr. A 87. 2 | Zur Frühgeschichte der frühchristlich-byzantinischen Abteilung vgl. Wessel, Klaus: Rom – Byzanz – Russland. Ein Führer durch die Frühchristlich-byzantinische Sammlung, Berlin 1957, S. 7–9; Irmscher, Johannes: „Zur Geschichte der Frühchristlich–byzantinischen Sammlung“, in: Forschungen und Berichte. Staatliche Museen zu Berlin 26.1978, S. 75–80; Effenberger, Arne/Severin, Hans-Georg: Das Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst. Staatliche Museen zu Berlin, Mainz 1992, S. 12. 3 | Vgl. Ohlsen, Manfred: Wilhelm von Bode. Zwischen Kaisermacht und Kunsttempel. Biographie, Berlin 1995, S. 194 f., 204; Knuth, Michael: „Wilhelm von Bodes Ausstellungsinszenierung in der ‚Basilika‘ des Kaiser-Friedrich-Museums“, in: Bernd Wolfgang Lindemann (Hg.), Bode-Museum. Architektur – Sammlung – Geschichte, München 2010, S. 101–137, hier S. 103. 4 | Vgl. Merkel Guldan, Margarete: Die Tagebücher von Ludwig Pollak. Kennerschaft und Kunsthandel in Rom 1893–1934 (= Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom 1, Bd. 9), Wien 1988, S. 96 f., 157–161. Für diese Zusammenarbeit zum Aufbau der Sammlung im Spiegel der Memoiren vgl. Bode, Wilhelm von: Mein Leben, Bd. 2, Berlin 1930, S. 115–117 beziehungsweise Gaethgens, Thomas W./Paul, Barbara: Wilhelm von Bode. Mein Leben (= Quellen zur deutschen Kunstgeschichte vom Klassizismus bis zur Gegenwart, Bd. 4), Bd. 1: Textband, Berlin 1997, S. 271–273; Merkel Guldan, Margarete (Hg.): Ludwig Pollak. Römische Memoiren. Künstler, Kunstliebhaber und Gelehrte 1893–1943 (= Studia Archaeologica, Bd. 72), Rom 1994, S. 177, Pollak spricht hinsichtlich der weitblickenden Ankäufe Bodes für die frühchristlich-byzantinische Abteilung ausdrücklich von „den langobardischen und karolingischen und etwas späteren Skulpturen“, ,,die damals „in ihrer Roheit eher abschreckten als zu Erwerbung lockten“. 5 | Nach freundlicher Mitteilung (5. Februar 2019) von Dr. Neville Rowley, Berlin, Kurator für Italienische Kunst vor 1500, dem ich an dieser Stelle herzlich danke, ist weder im Inventarbuch eine Information zur Herkunft des Stücks zu finden noch in der Stückakte, die leer ist. Auch die Tagebücher Pollaks ergeben keinen Hinweis zu Inv.-Nr. 6376, vgl. Merkel Guldan 1988, S. 157, Anm. 168 beziehungsweise S. 160, Anm. 180 mit der Dokumentation von 25 einschlägigen Erwerbungen Pollaks bis 1914 aufgrund der Mitteilungen von Arne Effenber-

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Albert Dietl ger, dem damaligen Direktor des Museums für Spätantike und Byzantinische Kunst, der den Eingang weiterer Stücke über Pollak für durchaus möglich hielt. 6 | Bode 1930, S. 117 beziehungsweise Bode 1997, S. 273. 7 | Für die ausgestellten Objekte des italienischen Früh- und Hochmittelalters vgl. Führer durch die Königlichen Museen zu Berlin: Das Kaiser Friedrich Museum. Amtliche Ausgabe, 1. Aufl., Berlin 1910, S. 31–35. 8 | Für das Schreiben Wiegands an Bode 1898 mit dem Vorschlag, Wulff vom Russischen Archäologischen Institut in Konstantinopel abzuwerben, einem Berliner Konkurrenten in Sachen Museumsankäufe aus der Türkei vgl. Ohlsen 1995, S. 197 f.; zur Ausführung der Präsentation durch Wulff 1904 vgl. Bode 1930, S. 117 beziehungsweise Bode 1997, S. 273. 9 | Zur Karriere Wulffs vgl. Feist, Peter H.: „Wulff, Oskar“, in: Peter Betthausen/Peter H. Feist/ Christiane Fork (Hg.), Metzler Kunsthistoriker Lexikon. 210 Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, 2. aktualisierte Aufl., Stuttgart/Weimar 2007, S. 528–532; Schellewald, Barbara: „Der Blick auf den Osten – eine Kunstgeschichte à part. Oskar Wulff und Adolph Goldschmidt an der Friedrich-Wilhelms-Universität und die Folgen nach 1945“, in: Horst Bredekamp/Adam S. Labuda (Hg.), In der Mitte Berlins. 200 Jahre Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität (= Humboldt-Schriften zur Kunst- und Bildgeschichte, Bd. 12), Berlin 2010, S. 207–228, hier S. 208–218. 10 | Vgl. Wulff 1911, S. 35, Nr. 1783 mit der Transkription: „+ ANNO MILLENO CENTENO SEPTUAGENO MARCIUS INSTABAT / NUNC DOCTA MANUS REPARABAT / FO …. QUONAN CRISTO FIUNT CORONAM T.TING / CURREBAT EIUS INDICIO Q(UE) FIEBAT.“ 11 | Vgl. Volbach 1930, S. 74, Nr. 6376. Zur Tätigkeit Volbachs in Berlin vgl. Ehler, Elisabeth/ Fluck, Cäcilia/Mietke, Gabriele: Wissenschaft und Turbulenz. Wolfgang Fritz Volbach, ein Wissenschaftler zwischen den beiden Weltkriegen, Wiesbaden 2017. 12 | Zur Bestimmung als Taufbecken vgl. Dietl 2009, S. 632 f., Kat-Nr. A 87, dort noch mit der Wiedergabe der sinnwidrigen Transkription nach Wulff 1911, S. 35, Nr. 1783 beziehungsweise Volbach 1930, S. 74, Nr. 6376. 13 | Im Jahr 1170 brach der März an. Nun hat eine kunstfertige Hand den Brunnen wiederhergestellt, in dem die durch Christus Geborenen (durch Christus) die Krone erlangen; durch die Gnade lief der Brunnen und diente zum Zeichen. 14 | Zu den inschriftlichen Datierungskonventionen vgl. Glaser, Maria/Bornschlegel, Franz-Albrecht: „Datierungen in mittelalterlichen Inschriften des deutschen Sprachraumes. Ein Zwischenbericht“, in: Archiv für Diplomatik 42.1996, S. 525–556; Favreau, Robert: „La datation dans les inscriptions médiévales françaises“, in: Bibliothèque de l’École des Chartes 157.1999, S. 11–39. 15 | Vgl. Schlegel, Silvia: Mittelalterliche Taufgefässe. Funktion und Ausstattung (= Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst, Bd. 3), Köln/Weimar/Wien 2012, S. 72–112; Schlegel, Silvia: „Festive Vessels or Everyday Fonts? New Considerations on the Liturgical Functions of Medie-

„DOCTA MANUS REPARABAT“ val Baptismal Fonts in Germany“, in: Harriet M. Sonne de Torrens/Miguel A. Torrens (Hg.), The Visual Culture of Baptism in the Middle Ages. Essays on Medieval Fonts, Settings and Beliefs, Farnham 2013, S. 129–147. 16 | Vgl. Grotefend, Hermann: Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 12. Aufl., Hannover 1982, S. 4–6. 17 | Für die Herkunft und Verbreitung des Topos der docta manus vgl. Dietl, Albert: „In arte peritus. Zur Topik mittelalterlicher Künstlerinschrift bis zur Zeit Giovanni Pisanos“, in: Römische Historische Mitteilungen 29.1987, S. 75–125, hier S. 96–99; Vaiani, Elena: „Il topos della ,dotta mano‘ dagli autori classici alla letteratura artistica attraverso le sottoscrizioni medievali, in: Maria Monica Donato (Hg.), L’artista medievale (=Annali dell Scuola Normale Superiore di Pisa, ser. 4, Quaderni 16), Pisa 2003, S. 345–364. 18 | Salomonio, Jacopo: Agri Patavini inscriptiones sacrae, et prophanae etc. Padua 1696, S. 279 f.: „ZIANIGO. In Ecclesia Archipresbyteriali Nat. B. V.“. Zur Biografie Salomonios vgl. Jöcher, Christian Gottlieb: Allgemeines Gelehrten-Lexikon, Bd. 4, Leipzig 1751, S. 156; Pianton, Pietro: Enciclopedia ecclesiastica, Bd. 6, Venedig 1860, S. 725. 19 | Für die Beziehung Salomonio und Kardinal Barbarigo vgl. Gios, Pierantonio: „Santa Maria in Vanzo. Da priorato benedettino a seminario diocesano“, in: Pierantonio Gios/Anna Maria Spiazzi (Hg.), Il Seminario di Gregorio Barbarigo. Trecento anni di arte, cultura e fede, Padua 1997, S. 11–28, hier S. 21 f.; Gios, Pierantonio: „Il giovane Barbarigo: dal contesto familiare al Cardinalato“, in: Liliana Billanovich/Pierantonio Gios (Hg.), Gregorio Barbarigo patrizio veneto vescovo e cardinale nella tarda controriforma (1625–1697) (= San Gregorio Barbarigo – Fonti e ricerche 3, Bd. 1), Bd. 1, Padua 1999, S. 3–26, hier S. 17 f. 20 | Zum Fieber epigrafisch-antiquarischer Sammlungen im Padua des 17. Jahrhunderts vgl. Pomian, Krzysztof: „Antiquari e collezionisti“, in: Storia della cultura veneta, Bd. 4/1: Girolamo Arnaldi/Manlio Pastore Stocchi (Hg.), Dalla controriforma alla fine della repubblica: Il Seicento, Bd. 1, Vicenza 1983, S. 493–547, hier S. 515–517; Benzoni, Gino: „La storiografia e l’erudizione storico-antiquaria. Gli storici municipali“, in: Storia della cultura veneta, Bd. 4/2: Girolamo Arnaldi/Manlio Pastore Stocchi (Hg.), Dalla controriforma alla fine della repubblica: Il Seicento, Bd. 2, Vicenza 1984, S. 67–93, hier S. 88–90. 21 | Vgl. Bellini, Giuseppe: Storia della Tipografia del Seminario di Padova 1684–1938, Padua 1939, S. 413. Später erschienen Salomonio, Jacopo: Urbis Patavinae inscriptiones sacrae et prophanae, Padua 1701; Salomonio, Jacopo: Inscriptiones Patavinae sacrae et prophanae tam in urbe quam in agro post annum MDCCI inventae, Padua 1708. 22 | Salomonio 1696, S. 279, Nr. 2. 23 | Vgl. Kehr, Paul Fridolin: Regesta Pontificum Romanorum. Italia Pontificia VII: Venetiae et Histria, Bd. 1: Provincia Aquileiensis, Berlin 1923, Nachdruck: Berlin 1961, S. 102, Nr. 6; Tramontin, Silvio: „La diocesi e i vescovi dall’alto Medioevo al secolo XIII. Linee di sviluppo“, in: Storia di Treviso, Bd. 2: Daniela Rando/Gian Maria Varanini (Hg.), Il Medioevo, Venedig 1991,

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Albert Dietl S. 359–374, hier S. 360 f., 371–374 (Edition der Bulle Eugens III.); Bottazzi, Marialuisa: „Treviso nel Patriarcato di Aquileia“, in: Paolo Cammarosano (Hg.), Treviso e la sua civiltà nell Italia dei comuni (= Edizioni CERM. Collana Atti, Bd. 2), Triest 2010, S. 61–91, hier S. 81 f. 24 | Vgl. Biscaro, Gerolamo: „Le temporalità del vescovo di Treviso dal secolo IX al XIII“, in: Archivio Veneto n.s. 5, 18.1936, S. 1–72, hier S. 25 f. 25 | Vgl. Marchesan, Angelo: Treviso medievale, Bd. 2, Treviso 1923, S. 340–342; Rando, Daniela: „Le elezioni vescovili nei secoli XII–XIV. Uomini, poteri, procedure, in: Storia di Treviso, Bd. 2: Il Medioevo 1991, S. 375–397, hier S. 376–380. 26 | Zur Kirche vgl. Bonamico, Emilio: Mirano, Padua 1874, S. 125–128; Agnoletti, Francesco: Treviso e le sue pievi. Illustrazione storica nel XV Centenario della Istituzione del vescovato Trivigiano (CCCXCVI–MDCCCXCVI), Bd. 2, Treviso 1898, Nachdruck: Bologna 1968, S. 128–133; Stangherlin, Antonio: Ville venete nel comune di Mirano, Mirano 1970, S. 36–39. 27 | Zu Tiepolos Werk in der Pfarrkirche Zianigo vgl. Mariuz, Adriano: Giandomenico Tiepolo (= Profili e saggi di arte veneta, Bd. 9), Venedig 1971, S. 73 f., 152 f.; Pedrocco, Filippo: Giandomenico Tiepolo a Zianigo (= I salici, Bd. 3), Treviso 1988, S. 18 f. 28 | Paulus, Röm 6, 3–5: „An ignoratis quia quicumque baptizati sumus in Christo Iesu, in morte ipsius baptizati sumus? Consepulti enim sumus cum illo per baptismum in mortem, ut, quomodo Christus surrexit a mortuis per gloriam Patris, ita et nos in novitate vitae ambulemus. Si enim complantati facti sumus similitudini mortis eius, simul et resurrectionis erimus.“ 29 | Zu Taufbeckenformen und ihren Verbindungen zur Vorstellung des sepulcrum Christi vgl. Nordström, Folke: Mediaeval Baptismal Fonts. An Iconographical Study (= Acta Universitatis Umensis, Bd. 6), Stockholm 1984, S. 21–26; Schlegel 2012, S. 253–261; Widmaier, Jörg: Artefakt – Inschrift – Gebrauch. Zu Medialität und Praxis figürlicher Taufbecken des Mittelalters (= Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie, Bd. 7), Büchenbach 2016, S. 73–76. 30 | Zur taufliturgischen Relevanz vgl. Bauerreiss, Romuald: Arbor vitae. Der „Lebensbaum“ und seine Verwendung in Liturgie, Kunst und Brauchtum des Abendlandes (= Abhandlungen der Bayerischen Benediktiner-Akademie, Bd. 3), München 1938, S. 43–64; Bruderer Eichberg, Barbara: „Die Erneuerung des Lateranbaptisteriums durch Sixtus III. (432–440) als Sinnbild päpstlicher Tauftheologie und Taufpolitik. Die Apsismosaiken des Vestibüls und das Taufgedicht Sixtus’ III.“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 30.2003, S. 7–34, hier S. 12–17. 31 | Für Überblicke über die Taufliturgie und die benedictio fontis, jeweils mit weiterführender Literatur vgl. Angenendt, Arnold: „Der Taufritus im frühen Mittelalter“, in: Segni e riti nella chiesa altomedievale occidentale (= Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo, Bd. 33/1), Bd. 1, Spoleto 1987, S. 275–336; Bärsch, Jürgen: Die Feier des Osterfestkreises im Stift Essen nach dem Zeugnis des Liber Ordinarius (zweite Hälfte 14. Jahrhundert). Ein Beitrag zur Liturgiegeschichte der deutschen Ortskirchen (= Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen, Bd. 6), Münster 1997, S. 179–188; Wahle, Stephan: „Gestaltung und Deutung der christlichen Initiation im mittelalterlichen lateinischen Westen“, in: Christian Lange/Clemens Leon-

„DOCTA MANUS REPARABAT“ hard/Ralph Olbrich (Hg.), Die Taufe. Einführung in Geschichte und Praxis, Darmstadt 2008, S. 29–48; Schlegel 2012, S. 72–81. Zur Quaternität als fundamentaler Strukturform des Bild- und Inschriftenprogramms des Hildesheimer Bronzetaufbeckens (um 1220–1230) vgl. Favreau, Robert: „Les inscriptions des fonts baptismaux d’Hildesheim. Baptême et quaternité“, in: Cahiers de civilisation médiévale 38.1995, S. 116–140. 32 | Vgl. Stommel, Eduard: „Die benedictio fontis in der Osternacht“, in: Liturgisches Jahrbuch 7.1957, S. 8–24; Lengeling, Emil Joseph: „Die Taufwasserweihe der römischen Liturgie. Vorschlag zu einer Neuformung“, in: Walter Dürig (Hg.), Liturgie. Gestalt und Vollzug. Festschrift Joseph Pascher, München 1963, S. 176–251. 33 | Vgl. Angenendt 1987, S. 305 f., 307 f., 317 f . 34 | Vgl. Engemann, Josef: „Kranz (Krone)“, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 21, Stuttgart 2006, Sp. 1006–1034, hier Sp. 1016 ff. 35 | Mohlberg, Leo Cuniberg (Hg.): Missale Gothicum (Vat. Reg. Lat. 317) (= Rerum Ecclesiasticarum Documenta. Series Major. Fontes, Bd. 5), Rom 1961, S. 68, Nr. 265; vgl. Levesque, Joseph L.: „The Theology of the Postbaptismal Rites in the Seventh and Eighth Century Gallican Church“, in: Maxwell E. Johnston (Hg.), Living Water, Sealing Spirit. Readings on Christian Initiation, Collegeville 1995, S. 159–200, hier S. 180 f. 36 | Diehl, Ernst: Inscriptiones Latinae Christianae Veteres, Bd. 1, Berlin 1925, S. 289, Nr. 1513: „CAELORVM REGNVM SPERATE HOC FONTE RENATI / NON RECEPIT FELIX VITA SEMEL GENITOS“; für einen Vergleich der Inschriften mit dem Text der benedictio fontis im Gelasianum vetus vgl. Underwood, Paul: „The Fountain of Life in Manuscripts of the Gospels“, in: Dumbarton Oaks Papers 5.1950, S. 41–138, hier S. 58–61; zur Anordnung der Verse im Kontext der Taufliturgie vgl. Bruderer Eichberg 2003, S. 17–24. 37 | Cuscito, Giuseppe: „Epigrafi di apparati nei battisteri paleocristiani d’Italia“, in: Daniela Gandolfi (Hg.), L’edificio battesimale in Italia. Aspetti e problemi, Bd. 1, Bordighera 2001, S. 441–466, hier S. 453, 465, Nr. 14, Vers 5–6: „ABLVE FONTE SACRO VETERIS CONTAGIA VITAE / O NIMIVM FELIX VIVE RENATVS AQVA.“ 38 | Cuscito 2001, S. 452 f., 465, Nr. 13, Vers 3: „IMMERSVM(VE) SACRIS RENOVATVM EXSVRGERE CORPVS.“ 39 | Tynell, Lars Petersson: Skånes medeltida dopfuntar, Stockholm 1913–1921, S. 35–38; Nordström 1984, S. 22: „+ VINCVLA PECCATI SOLVVNTVR FONTE RENATI / SVRGET CVM CHRISTO FVERIT QVI MERSVS IN ISTO.“ 40 | Tyrrell-Green, Edmund: Baptismal Fonts classified and illustrated, London 1928, S. 158: „CARNE DEI NATI SVNT HOC IN DEO FONTE RENATI.“ 41 | Gramigni, Tommaso: Iscrizioni medievali nel territorio fiorentino fino al XIII secolo, Florenz 2012, S. 181–183, Nr. 20, Vers 1: „BAPTIZATI ESTIS CRISMA P(ER)VNCTI ESTIS / HISOPO EMVNDATI AD FONTES VIVOS RENATI.“

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Das päpstliche Geschenk der Goldenen Rose und die Stadt Siena Monika Butzek Kaum ein Zeitgenosse weiß noch, was es mit dem päpstlichen Ehrengeschenk der Goldenen Rose auf sich hat, obgleich diese Auszeichnung, die auf eine mehr als tausendjährige Tradition zurückblicken kann, auch heute noch vergeben wird. Selbst der gegenwärtige Papst Franziskus hat sich in diese Tradition eingereiht: er verlieh im Jahr 2013 der portugiesischen Wallfahrtskirche Fatima (oder besser: Unserer lieben Frau von Fatima) eine Goldene Rose wie vor ihm schon, in Jahr 1965 Papst Paul VI. Seit dessen Pontifikat sind die Empfänger der Ehrung ausschließlich Wallfahrtskirchen, häufig Marienheiligtümern. Was zeichnet die Goldene Rose aus? Es handelt sich dabei um überaus kunstvoll gearbeitete Werke der Goldschmiedekunst, die naturnah einen belaubten Rosenzweig mit einer Hauptblüte sowie mehreren Nebenblüten und Knospen nachahmen. Der Zweig endet nach unten in einem szepterartigen Handgriff. Der Fuß, in dem die erhaltenen Rosenzweige heute stecken, gehörte nicht zum Geschenk, sondern es waren die Empfänger, die ihn hatten anfertigen lassen, um die Rose aufstellen zu können. Die Rosen verströhmten ursprünglich einen starken Duft. Sie waren nämlich mit Balsam gesalbt und mit zerstoßenem Moschus ausgestattet worden. Dazu war das Innere der Hauptblüte oder auch mehrerer Blüten als gelochte Kapsel gearbeitet, die Blüte selbst abschraubbar. Die Kapseln konnten mit den ätherischen Essenzen gefüllt werden, wodurch dann aus den Perforationen der Duft ausströmte. Außerdem war die Hauptblüte − zumindest seit dem 13. Jahrhundert − mit einem großen Saphir bestückt, der sich in der Regel jedoch nicht erhalten hat, sondern durch einen blauen Glasstein ersetzt wurde. Von den hunderten von Goldenen Rosen, die während des Mittelalters angefertigt wurden, haben sich gerade einmal drei erhalten. Als ältestes Exemplar gilt die lange im Münsterschatz von Basel aufbewahrte Rose, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Musée Cluny in Paris befindet (Abb. 1). Nach den 1986 vorgeleg-

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Abbildung 1: Die Goldene Rose von 1330

Paris, musée de Cluny (Inv. CL2351, Fotografie: Jean-Gilles Berizzi)

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ten Erkenntnisssen von Karel Otavsky wurde sie im Jahr 1330 von Papst Johannes XXII. dem Grafen Rudolph von Neuchâtel, Herrn von Nidau, geschenkt. Der Graf war ein Parteigänger des Papstes in dessen Streit mit dem römisch-deutschen Kaiser Ludwig dem Bayer. Damit ist bereits eine der Funktionen der Goldenen Rose benannt. Sie war jedoch nicht von Anfang an als diplomatisches Geschenk gedacht, mit dem die Päpste hochgestellte Persönlichkeiten wegen ihrer besonderen Verdienste um Kirche und Kurie auszeichnen wollten. Die Ursprünge der Ehrengabe sind in der stadtrömischen Papstliturgie der Stationsgottesdienste zu suchen und betrafen das Verhältnis des römischen Bischofs zu den weltlichen Autoritäten der Urbs. Tatsächlich war der erste Adressat der römische Stadtpräfekt, der im Übrigen eine Rose im Wappen führte. Der Übergaberitus war fest mit dem Sonntag Laetare verbunden. Dementsprechend kennen wir die näheren Umstände der Verleihung aus den Zeremonialbüchern der römischen Kurie, die von Mabillon publiziert wurden. Den Anfang macht dabei der Ordo des Kanonikers Benedikt (Nr. XI der Sammlung), der etwa in den Jahren 1140/43 entstand. Andere Ordines Romani, so der des Cencio Savelli von 1198 oder das Caeremoniale Gregors X. aus den siebziger Jahren des 13. Jahrhunderts, schließen sich an. Wir erfahren daraus, dass der Ritus der Goldenen Rose immer am vierten Sonntag der Fastenzeit stattzufinden pflegte, ein Sonntag, der im Deutschen Mittfastensonntag heißt, weil er etwa in der Mitte der 40tägigen Fastenzeit liegt. Dieser Sonntag trägt nach dem Introitus der Messfeier den Namen Laetare. Das Eingangsgebet beginnt nämlich mit den Worten Laetare Jerusalem, freue dich Jerusalem. Der Text erinnert an die Freude des Volkes Israel, als es aus der Babylonischen Gefangenschaft nach Jerusalem zurückkehrte, ein Ereignis, das als Präfiguration für die Freude des Gläubigen verstanden wurde, der durch Passion und Auferstehung Christi das Himmlische Jerusalem wiedergewonnen hat. Obwohl der Sonntag mitten in der Fastenzeit liegt, einer Periode also, die durch Trauer, Bußübungen und Fasten gekennzeichnet ist, steht er ganz im Zeichen der Freude, der Vorfreude auf das Osterfest. Die liturgische Farbe des Tages ist denn auch nicht das Violett der Fastenzeit, sondern rosa, die Farbe der Rose. Der Stationsgottesdienst findet an diesem Sonntag in der römischen Basilika Santa Croce in Gerusalemme statt, ein Ort, der sich in zweifacher Hinsicht als Ausdruck der freudigen Erwarung auf die Erlösung anbietet, einmal durch den Besitz einer Kreuzreliquie, zum anderen aber bereits durch den Namen, der auf das Himmlische Jerusalem verweist. Santa Croce in Gerusalemme liegt nicht weit vom Lateran entfernt, wo di Päpste in voravignonesischer Zeit ihre Residenz hatten. Der Ritus der Liturgie am Sonntag Laetare begann denn auch im Lateranspalast mit dem Ankleiden Papstes für den Stationsgottesdienst. Nachdem ihm der

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Kammerherr den rosa Mantel umgelegt und die goldbestickte Mitra auf Haupt gesetzt hatte, reichte er ihm die Goldene Rose, die der Papst salbte, mit Moschus versah und segnete. Mit der Rose in der Hand verließ er dann den Palast und begab sich zu Pferd in feierlicher Prozession zur Stationskirche. Auch während der Messfeier dort hielt er die Rose fast ununterbrochen in der Hand, und zwar selbst dann, wenn er die Messe selbst zelebrierte. Nach der Verlesung des Evangeliums bestieg er mit der Rose in der Hand die Kanzel und hielt eine Predigt, die – nach den Worten des genannten Diakons Benedikt – von der Blume, der Röte der Rose und von ihrem Duft handelte („de flore, de rubore rosae et odore“). Mit anderen Worten: der Papst erklärte den Teilnehmern an der Messe den symbolischen Sinn der Goldenen Rose. Zwei solcher Predigten aus der Zeit um 1200 sind uns im Wortlaut überliefert, die eine gehalten von Papst Innozenz III., die andere von dessen Nachfolger Honorius III. im Jahr 1216. Außerdem kennen wir von Eugen III. (um 1150) und Alexander III. (1163) zwei Briefe zum Thema. Die mittelalterliche Sinndeutung der Goldenen Rose läßt sich nach diesen Texten wie folgt zusammenfassen: Die Rose stellt Christus dar, von dem es im Hohen Lied heißt „Ego flos campi“ (ich bin die Blume des Feldes). Das strahlende Rotgold, aus dem sie gefertigt ist, die vornehmste Materie überhaupt, versinnbildlicht das Königtum Christi, seine göttliche Natur, wie sie bereits in den Gaben der Weisen aus dem Morgenland ihren Ausdruck fand. Der Duft des Moschus hingegen wurde als Hinweis auf die menschliche Natur Christi, seinen irdischen Leib, verstanden. Der Balsam schließlich, der an die Frauen mit den Salbgefäßen erinnert, die am Ostermorgen zum leeren Grab Christi kamen, galt als Symbol für die Auferstehung. Die verschiedenen Sinnschichten, die hier der Goldenen Rose beigemessen werden, passen sich also vollkommen in den liturgischen Charakter des Sonntags Laetare ein, nämlich inmitten des Jammertals der Fastenzeit einen freudigen Ausblick auf Passion und Auferstehung Christi und damit auf die Erlösung der Menschheit zu gewähren. Vom symbolischen Sinn des Saphirs ist in den zitierten Predigten und Briefen keine Rede, denn es scheint so, als wären die frühesten Rosen noch nicht mit einem Saphir ausgestattet gewesen; dieser kam wohl erst im Laufe des 13. Jahrhunderts hinzu. Der Sinn des Saphirs läßt sich aber auf der Grundlage von symbolisch-emblematischen Enzyklopädien, etwa dem Mundus Symbolicus des Filippo Picinelli von 1687, relativ einfach erschließen. Danach wurde der Saphir wegen seiner blauen Farbe immer als Sinnbild des Himmels verstanden, und zwar des heiteren Himmels, der in den Menschen den Sinn für pietas und devotio, Frömmigkeit und Hingabe, wecke. Schon in der Bibel ist der Saphir mit dem Himmel verknüpft. Aus Saphir werden nach Isaias 54,11 und der Offenbarung des Johannes 21,19 die Grundsteine des zukünftigen bzw. himmlichen Jerusalems sein. Der Saphir ver-

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körperte also das Ziel des irdischen Weges, das allen Gläubigen vor Augen gestellt ist: den Himmel oder das himmlische Jerusalem. Die Einfügung des Saphirs in den Aufbau der Goldenen Rose bedeutete demnach keine prinzipielle symbolisch-allegorische Sinnerweiterung, sondern lediglich die Akzentuierung einer zuvor schon intendierten Aussage. Nach dem Ende der Messfeier in Santa Croce in Gerusalemme formierte sich wiederum eine Prozession, um den Papst in den Lateran zurückzugeleiten. Diesmal nahm auch der Stadtadel und alle Großen, die der Messe beigewohnt hatten, daran teil. Der Stadtpräfekt von Rom, dem innerhalb der Hierarchie der Magistraten der erste Rang gebührte, führte dabei das Pferd des Papstes am Zügel, leistete also den Stratordienst, die symbolische Unterwerfung des weltlichen Arms unter die Kirche. Beim Lateranspalast angekommen, stieg der Papst ab und überreichte dem vor ihm knienden Stadtpräfekten die Goldene Rose. Dabei sprach er eine rituelle Überreichungsformel, in der noch einmal von der Freude der beiden Jerusalem, der ecclesia militans und der ecclesia triumphans, die Rede war. In Erinnerung an die Heimführung aus der babylonischen Gefangenschaft und im Gedenken an das himmlische Jerusalem jubelt die gesamte Kirche in diesem Zeichen der Freude. Als Ausdruck der Freude wurde auch der anschließende Umritt verstanden, auf dem der Stadtpräfekt die Goldene Rose dem Volk zur Schau stellte und anschließend in seinen Palast überführte. Die Ordines Romani kennen nur den römischen Stadtpräfekten als Empfänger der Goldenen Rose. Doch geht aus anderen Quellen hervor, dass – hielt sich der Kaiser oder ein König am Sonntag Laetare in Rom auf – selbstverständlich dieser das Pferd des Papstes am Zügel führte und anschließend die Rose überreicht bekam. Auch in den gar nicht so seltenen Fällen, in denen der Papst zur Fastenzeit fern von Rom weilte, konnte der Empfänger der Rose naturgemäß nicht der Praefectus Urbis sein. Einen solchen Fall stellt z.B. die älteste überhaupt bekannte Verleihung der Goldenen Rose dar. Sie fand im Jahr 1096 statt. Damals machte Papst Urban II. auf der Rückreise vom Konzil von Clermont in Angers halt und feierte dort den Sonntag Laetare. Dabei schenkte er die Goldene Rose dem Grafen Fulco von Anjou, dem Herrn des Gebietes, auf dem der Papst sich befand. Einen anderen Fall erzählt die Chronik des Ulrich von Richental, in der die Ereignisse geschildert werden, die sich von 1414 bis 1418 während des Allgemeinen Konzils von Konstanz zugetragen haben (Rosgarten-Museum Konstanz, um 1464/65). Dieses Konzil war unter der Schirmherrschaft des deutschen Königs und designierten Römischen Kaisers Sigismund zusammengetreten, um das Große Abendländische Schisma zu beenden. Damals gab es ja gleich drei Päpste, die sich gegenseitig die Rechtmäßigkeit streitig machten. Zeitweilig anwesend auf dem Konstanzer Konzil war jedoch nur einer von ihnen, nämlich Johannes XXIII. (ein

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Abbildung 2: Die Verleihung der Goldenen Rose an König Sigismund, 1414

Aus: Ulrich Richental, Chronik des Konzils von Konstanz, 1414–1418, fol. 37 rechts. Rosgartenmuseum Konstanz

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Abbildung 3: Der Umritt König Sigismunds mit der Goldenen Rose, 1414

Aus: Ulrich Richental, Chronik des Konzils von Konstanz, 1414–1418, fol. 39 links. Rosgartenmuseum Konstanz

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Papst, den die Kirche als Schismatiker offiziell nicht zählt, weshalb es in neuerer Zeit noch einmal einen Johannes XXIII. gab). Dieser erste Johannes XXIII. feierte am 10. März 1415 in Anwesenheit von König Sigismund und dessen Hofstaat den Sonntag Laetare im Dom zu Konstanz und schenkte im Anschluß daran die gesegnete Goldene Rose dem König. Die Chronik widmet diesem Ereignis insgesamt nicht weniger als vier Miniaturen (Abb. 2–3). Es läßt sich also von Anfang an der Brauch feststellen, dem jeweils ranghöchsten und mächstigsten Herrn, der sich am Sonntag Laetare in der Umgebung des Papstes aufhielt, vor aller Öffentlichkeit die Goldene Rose zu verleihen und ihn damit – so läßt sich die Geste politisch deuten – an seine Schutzpflicht gegenüber Papst und Kirche zu gemahnen. Spezifischere politische Botschaften lassen sich erst dann ausmachen, nachdem die Päpste dazu übergegangen waren, die Rose nicht mehr einem am Sonntag Laetare am Sitz der Kurie Anwesenden zu übertragen, sondern sie zu einem späteren Zeitpunkt an eine Persönlichkeit zu übersenden, die sie nach eigenem freien Ermessen oder nach Beratung mit dem Kardinalskollegium dafür ausgewählt hatten. Diese Entwicklung bahnte sich an, nachdem der Papsthof nach Avignon verlegt worden war. Dort war die stadtrömische Papstliturgie obsolet: weder gab es Stationskirchen noch einen Stadtpräfekten. Der Ritus am Sonntag Laetare wurde nun immer häufiger anstatt in der Öffentlichkeit in der päpstlichen Privatkapelle zelebriert. Nach der Messfeier brachte der Papst die Goldene Rose wieder in die Paramentenkammer zurück, wo sie aufbewahrt wurde bis er eine geeignete Gelegenheit sah, sie als Ehrengeschenk auszusenden. Der vorher einheitliche, an den Festtag gebundene Ritus zerfiel dadurch in zwei getrennte Akte: einmal die Segnung der Rose und die anschließende Messfeier, zum anderen die Aussendung der Rose und ihre Verleihung meist durch einen speziellen päpstlichen Legaten. Erst durch diese Entwicklung wurde die Goldene Rose zu einem diplomatischen Geschenk, konnte sie je nach dem speziellen politischen Kontext mehr oder weniger präzise Botschaften übermitteln. Zum Beispiel übersandten die Päpste der Republik Venedig mehrmals die Goldene Rose, und zwar immer in Zeiten, in denen sie einen Kreuzzug gegen die Türken planten und die Seestadt zu tatkräftiger Unterstützung mit Schiffen und Mannschaften bewegen wollten. Die Stadt Siena bekam zweimal die Goldene Rose verliehen. Beide Rosen haben sich erhalten, was angesichts der extremen Fragilität der Werke und der daraus resultierenden Lückenhaftigkeit ihrer Erhaltung exzeptionell ist. Die frühere der beiden Rosen (Abb. 4) datiert aus dem Jahr 1459 und war ein Geschenk von Papst Pius II. aus dem alten Sieneser Adelsgeschlecht der Piccolomini. Sie wird im Pa-

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Abbildung 4: Die Goldene Rose Papst Pius’ II. (1459)

Siena, Museo Civico (Fotografie: Lensini Siena)

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Abbildung 5: Die Goldene Rose Papst Alexanders VII. (1658)

Siena, Museum dell‘Opera della Metropolitana (Fotografie: Lensini Siena)

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lazzo Pubblico aufbewahrt. Die andere Rose (Abb. 5) ist fast genau zweihundert Jahre jünger und gelangte 1658 als Gabe Papst Alexanders VII. aus der gleichfalls sienesischen Familie der Chigi nach Siena. Heute ist sie Teil des Museo dell’Opera della Metropolitana. Die Verleihung der Goldenen Rose an die Republik Siena nahm Pius II. persönlich vor. Der Papst war nämlich Ende Januar 1459 zu einer Reise von Rom nach Mantua aufgebrochen, wohin er einen Fürstenkongress einberufen hatte, von dem er sich den Beschluß zu einem Kreuzzug gegen die Türken erwartete. Der Weg führte ihn über Spoleto, Assisi und Perugia. An letzterem Ort legte er einen längeren Halt ein und verkündete, die Reise über Arezzo und Florenz fortsetzen zu wollen, ohne Siena zu berühren. Mit Siena hatte er nämlich noch eine Rechnung offen: Schon in den frühen 50er Jahren, als Enea Silvio Piccolomini noch Bischof von Siena gewesen war, hatte er alles darangesetzt zu erreichen, dass eine jahrhundertealte Bestimmung in den Statuten der Stadt außer Kraft gesetzt werde. Die Bestimmung verwehrte den Mitgliedern der alten Adelsfamilien, darunter auch den Piccolomini, den Zugang zu allen wesentlichen Regierungsämtern der Stadtrepublik. Die damals regierende Partei der Popolaren hatte sich aber diesem Thema gegenüber als völlig unzugänglich erwiesen. Nur unmitelbar nach der Wahl des Piccolomini zum Papst hatte sie beschlossen, seinen engeren Familienangehörigen den Zugang zu den Regierungsämtern zu eröffnen. Doch dieses partielle Zugeständnis genügte dem Papst nicht. Pius II. suchte nicht nur Vorteile für seine eigene Familie, sondern er erhoffte sich mit der Wiederzulassung des alten Adels eine allgemeine Befriedung der Stadt, eine dauerhafte Überwindung der ständigen Parteienkriege, die stets mit langjährigen Verbannungen ganzer Bevölkerungsgruppen einherzugehen pflegten. Um das Stadtregiment zu größeren Zugeständnissen zu bewegen, drohte er nun also, Siena auf seinem Weg nach Norden auszulassen. Die Taktik hatte Erfolg. In aller Eile beschloss die Stadtregierung ein Gesetz, das den alten in Siena ansässigen Adelsfamilien unter gewissen Bedingungen und mit vielen Einschränkungen die Teilhabe an der Regierung ermöglichte. Zwar gefielen dem Papst die erschwerten Bedingungen und die Einschränkungen nicht, doch wertete er das Gesetz als Zeichen des guten Willens und sagte seinen Besuch in Siena zu. Am 24. Februar 1459 zog er unter dem Jubel der Bevölkerung in der Stadt ein. Volle zwei Monate, bis zum 23. April, blieb er dort. In diesen Zeitraum fiel auch der Sonntag Laetare, den Pius II. ganz gemäß dem stadtrömischen Zeremoniell beging. Im Bischofspalast, wo er Wohnsitz genommen hatte, benedizierte er die Goldene Rose (die er im Reisegepäck mitgebracht haben muss), anschließend

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zog er im Dom ein, sang dort in Anwesenheit der sechs ihn begleitenden Kardinäle, der internationalen Gesandtschaften, die ihm auf seinem Zug entgegengeeilt waren und aller Großen der Stadt ein feierliches Hochamt und hielt die Predigt. Nach Abschluss der Messe überreichte er die Rose dem ranghöchsten Magistratsmitglied, dem Capitano del Popolo. Auch dieser verhielt sich ganz gemäß dem römischen Ritus. In einer feierlichen Reiterprozession, an der auch die Kardinäle teilnahmen, überführte er die Rose in den Palazzo Pubblico, wo die Mitglieder der Stadtregierung während ihrer kurzen Amtszeit zu residieren pflegten, und dort fand anschließend ein Festbankett statt. Den Abschluss des Tages bildete der Umritt des Capitano del Popolo durch die gaze Stadt, auf dem er die Rose dem Volk zur Schau stellte. Vom Ablauf des Ereignisses her gesehen war die Sieneser Rosenverleihung also eine recht genaue Kopie des in den Römischen Ordines beschriebenen Zeremoniells am Sonntag Laetare. Und doch wird offensichtlich, dass nicht nur das im Kirchenjahr fixierte Datum die Verleihung bewirkt hat, sondern dass diese Ehrung einen Mosaikstein in der politischen Strategie des Papstes darstellte. In seiner Predigt nämlich ging Pius II. nur recht kurz auf Sinn und Tradition der Goldenen Rose ein, um dann um so länger über seine „dulcissima patria“ zu sprechen, die er mit der Rose selbst verglich. Er pries die glänzende Herrlichkeit der Stadt, die Pracht der Gebäude, die so überaus reiche Ausstattung der Kirchen und ganz besonders der Kathedrale, die ihresgleichen in Europa nicht habe. Er ging auf den mythischen Ursprung Sienas in römischer und gallischer Zeit ein, beschwor die Anfänge der Republik als Werk des alten konsularischen Adels und sprach über die vielen hervorragenden Persönlichkeiten, die Siena hervorgebracht habe. In seiner Aufzählung finden sich Namen jeder sozialen Herkunft und Parteizugehörigkeit, besonders viele aber aus dem alten Adel. Daneben werden Juristen, Philosophen und Poeten genannt, der Mediziner Ugo Benzi, die Heiligen Katharina und Bernhardin. Von den bildenden Künstlern hob er Simone Martini hervor, dessen Kunst der des Florentiners Giotto in nichts nachstehe. Es ist eine ganz erstaunliche Rede, die Pius II. am Sonntag Laetare hielt, eine Rede, die viel vom Städtelob und eigentlich wenig von einer Predigt hat. Die Absicht des Papstes scheint gewesen zu sein, in den Sienesen einen so glühenden Stolz auf ihr Gemeinwesen und seine Vertreter zu wecken, dass sie darüber endlich das kleinliche Parteiengezänk vergessen würden. Wenige Tage nach dem Ereignis präsentierte der Papst den Sieneser Magistraten dann die Rechnung: In einer langen Rede verlangte er von ihnen einen klaren und eindeutigen Beschluss ohne Klauseln und Einschränkungen, der die Adligen in Zukunft zur Teilnahme an der Regierung berechtige. Und diesmal gaben sie

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nach, auch wenn sie dazu mehrere äußerst tumultuöse Sitzungen nötig hatten: Sie fassten das geforderte Dekret, das mit den Worten beginnt: „Per far cosa grata a Sua Santità“, also um den Heiligen Vater einen Gefallen zu tun, und damit deutlich macht, dass sie durchaus nicht zu besserer Einsicht gelangt waren, sondern nur dem Druck nachgaben, den der Papst auf sie durch das Wechselbad aus Drohungen Konzessionen ausgeübt hatte. Pius dankte ihnen vier Tage später mit einer weiteren Konzession: Er erhob die Bischofskirche von Siena zur Erzbischofskirche, das Bistum zum Erzbistum. Den Frieden, den der Papst zwischen den zerstrittenen Parteiungen der Stadt hatte stiften wollen, hielt nicht lange an. Kaum war Pius II. 1464 gestorben, wurde das genannte Dekret wieder aufgehoben, der alte Hochadel erneut von den Regierungsämtern ausgeschlossen. Die Goldene Rose aber hielten die Sienesen immer in hohem Ansehen, und sie hatten auch eine Idee, wie man diesem Geschenk einen gewissen rituellen Gebrauchswert verleihen könne. Während der Fronleichnachsprozession, die ja traditionell an verschiedenen, an Straßen und Plätzen aufgebauten Altären haltmacht, pflegten sie den Altar vor dem Palazzo Pubblico mit der Goldenen Rose zu schmücken. Knapp 200 Jahre später, im Juni 1658, bekam Siena ein zweites Mal eine Goldene Rose verliehen. Wiederum saß ein Sienese auf dem Stuhl Petri, nämlich Alexander VII. Chigi. Anders als Pius aber hat Alexander als Papst seine Heimatstadt nie mehr betreten, konnte also die Verleihung nicht persönlich vornehmen. Stattdessen betraute er seinen Kammerherrn Michelangelo Bonci mit dieser Aufgabe. Gleichzeitig mit der Ankündigung der beabsichtigten Ehrung traf in Siena auch ein Schreiben des päpstlichen Zeremonienmeisters ein, das genaue Anweisungen für den Empfang des Geistlichen und alle weiteren Zeremonien enthielt. Die Sienesen befolgten diese Anweisungen genau. Am Ankunftstag des päpstlichen Sonderlegaten empfingen ihn die Nobiles der Stadt, Laien wie Geistliche, mit allen verfügbaren Kutschen etwa eine Meile vor den Toren. Hier stieg Monsignor Bonci aus seiner Reisekalesche in die vornehmste Kutsche um, in der außer ihm nur noch der Repräsentant des Erzbischofs und der Rektor der Dombauhütte (Opera) saßen. Am Pfingstsonntag, der für die Rosenverleihung ausersehen war, holten ihn wiedrum die Großen der Stadt, diesmal alle zu Pferde, an seinem Sieneser Wohnsitz ab und geleiteten ihn in geordneter Prozession zur Kathedrale. Monsignor Bonci, der mit beiden Händen die Goldene Rose hielt, ritt dabei zwischen dem Vertreter des Erzbischofs und dem Rektor der Opera. Während der Messe, die der Erzbischof sang, stand die Goldene Rose auf dem Altar. Anschließend wurde eine Indulgenz verkündet, die der Papst mit der Rose verbunden hatte, dann nahm Monsignor Bonci die Rose vom Altar, reichte sie dem Erzbischof, der sie in die Sakristei trug und

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dort dem Rektor der Domopera übergab. Dabei wurde das Motu Proprio verlesen, das Alexander VII. zu diesem Anlass mitgesandt hatte und das in gewisser Weise die Predigt ersetzte, von der wir nichts hören. Der Papst führt darin aus, dass er die Goldene Rose der Metropolitankirche seiner Heimatstadt zugedacht habe und dass er während ihrer Benediktion am Sonntag Laetare zu Gott für Klerus und Volk der Stadt und Diözese Siena gebetet habe. Er geht auf die vom Erzbischof gesungene Messe ein sowie auf die Indulgenz, und er beschließt sein Schreiben indem er anordnet, der Rektor der Domopera, den er dilectus filius, also seinen geliebten Sohn, nennt, solle im Namen der Metropolitankirche die Goldene Rose empfangen, sie im Domschatz niederlegen und sie dort immer bewahren. Das mag nun Manchen verwundern. Nach unserem modernen Verständnis würden wir annehmen, dass der Repräsentant einer Domkirche der Erzbischof oder das Domkapitel ist, dass also die einem Dom verliehene Rose in geistliche Hände übergeht. Genau das aber schloss Alexander VII. mit seiner sehr genauen Formulierung aus. Als Repräsentanten der Kathedrale sah er den Rektor der Domopera an, einen Laien, der für dieses auf Lebenszeit vergebene Amt von der Kommune vorgeschlagen worden war. Die Ernennung war dann allerdings durch den Großherzog von Toskana erfolgt, eine Konsequenz aus dem Untergang der Republik Siena und ihrer Einverleibung als abhängiger Teilstaat in das Herrschaftsgebiet der Medici. Seinem Ursprung und seiner Besetzung nach war das Amt des Rektors der Domopera jedoch eine kommunale Würde, genauso wie der Dom kommunales Besitztum, Eigentum aller Bürger der Stadt war. Die Kommune hatte ihn erbauen und ausstatten lassen, die Kommune sorgte für seine Erhaltung, der ausführende Arm der Kommune war dabei der Rektor der Domopera. Indem der Rektor die Goldene Rose empfing, empfing sie die gesamte Bevölkerung der Stadt, Laien wie Geistliche, ein Konzept, das sich schon im Zeremoniell selbst ausgedrückt hatte wie auch im Gebet, das Alexander VII. anläßlich der Benedizierung der Rose gesprochen hatte. Was aber war der Anlass für eine solche Ehrung? Soweit ich die Ereignisse in Siena im Pontifikat Alexanders VII. überblicke, kann ich nur einen einzigen Anlass entdecken: Wenige Monate bevor der Papst seiner Heimatstadt die Goldene Rose übersandte, hatte der Rektor der Domopera den Beschluss gefasst, Alexander durch die Errichtung einer Portraitstatue im Dom zu ehren, eine Geste, die Alexander offenbar sehr zu schätzen wusste, beauftragte er doch seinen Lieblingskünster Gianlorenzo Bernini mit dem Entwurf für seine Statue. Ausgeführt von Antonio Raggi in Rom sollte sie 1664 in der Kathedrale aufgestellt werden (Abb. 6).

Das päpstliche Geschenk der Goldenen Rose und die Stadt Siena

Abbildung 6: Antonio Raggi nach einem Entwurf von Gianlorenzo Bernini: Statue Papst Alexanders VII, Siena Dom

Fotografie: Luigi Artini, Kunsthistorisches Institut Florenz

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In diesem Fall scheint die Verleihung der Goldenen Rose also ein Dankeszeichen gewesen zu sein. Zum Abschluss noch einige Worte über die weitere Entwicklung dieses Ehrengeschenks: Schon seit dem 16. Jahrhundert lässt sich die die Tendenz feststellen, die Goldene Rose immer seltener an Könige und Herrscher zu verleihen (denen nun ein geweihtes Schwert zukam) und dafür immer öfter an Frauen. Handelte es sich bei diesen anfangs noch immer um regierende Königinnen, so genügte es bald, die Frau eines Königs oder eines anderen bedeutenden Herrn zu sein, um mit einer Rose geehrt zu werden. Das Geschenk scheint sukzessive an Bedeutung und Wertschätzung verloren zu haben. Von der diplomatischen Auszeichnung wurde es zu einem Akt der Huldigung, zur Tugendrose. Als 1727 die verwitwete Großherzogin von Toskana aus der Hand Benedikts XIII. die Goldene Rose empfing, wurden gleichzeitig sieben andere Witwen aus höchsten Kreisen mit silbernen Rosen beschenkt. Von hier ist der Schritt zur völlig säkularisierten silbernen Rose in Richard Strauss‘ Rosenkavalier nicht mehr weit. Mit der modernen Praxis, nur noch Wallfahrskirchen, und zwar bevorzugt Marienheiligtümer, mit der Goldenen Rose auszuzeichnen, wurde ein neues Kapitel in der Jahrhunderte alten Tradition aufgeschlagen. Nun steht Maria, die „mystische Rose“ der lauretanischen Litanei, im Fokus des Ritus. Statt einer Goldenen oder Silbernen Rose sind diese Zeilen Jürgen Wiener gewidmet.

L iteraturhinweise Gaetano Moroni, Dizionario di erudizione storico-ecclesiastica, Bd. 59, Venedig 1852, S. 111–149. Texier/Migne, Dictionnaire d’orfévrerie, Paris 1857. Eugène Müntz, Les Roses d’Or pontificales, in: Revue de l’art chrétien, 44 (1911), S. 1–11. Eugène Müntz, Les arts à la cour des papes pendant le Xvième et XVIième siècles, 5 fasc., in: Bibliothèque des Écoles Française de Rome et d’Athènes, 1878, 1879, 1882, 1884, 1889. Paolo Ludovici, La Rosa d’oro nella tradizione plurisecolare della Chiesa, in: L’Illustrazione Vaticana, VIII, 5 (März 1937). Elisabeth Cornides, Rose und Schwert im päpstlichen Zeremoniell von den Anfängen bis zum Pontifikat Gregors XIII., Wien 1967. Monika Butzek, Il Duomo di Siena al tempo di Alessandro VII. Carteggio e disegni (1658–1667), München 1996, S. 21–22.

Die Propheten und ihre „Kammer“ Objekt, Raum und Rezeption am Beispiel der Kölner Rathauspropheten Astrid Lang und Iris Metje „The most important thing in art is The Frame. For painting: literally; for other arts: figuratively – because without this humble appliance, you can’t know where The Art stops and The Real World begins. You have to put a ‚box‘ around it because otherwise, what is that shit on the wall?“1

Frank Zappa äußert sich hier zu einem Phänomen, mit dem sich Jürgen Wiener in seinen Forschungen, speziell in denen zur (Garten)skulptur, immer wieder auseinandergesetzt hat, nämlich zur Interrelation von Kunst(werk), „realer“ Welt und der Frage nach der Grenzziehung zwischen beiden. Zappa scheint zunächst mit seiner Gegenüberstellung von Kunst und realer Welt genau jenes „exkludierende […] Bedingungsverhältnis von Kunst und Natur“2 zu konstruieren, das bereits Simmel Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Text Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch (1902) zu etablieren versuchte, und das Jürgen Wiener stets als ahistorisches Konzept ablehnte.3 Ihm fehlte bei einer Definition, die von Kunst als einer Welt an sich, aber gleichzeitig von einer ritualisierten Praxis der Kunstbegegnung an heterotopen Orten wie dem Museum ausgeht, das „Rahmenüberschreiten“, der „Einbezug der außerbildlichen Lebenswelt“,4 die Anerkennung der Tatsache, dass Kunst immer auch ins Leben hineinreicht und umgekehrt. Frank Zappa illustriert jedoch direkt im Anschluss sein Statement zu Kunst und Rahmen mit der Beschreibung einer Performance von John Cage:

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Astrid Lang und Iris Metje „[If he,] for instance, says, ‚I’m putting a contact microphone on my throat, and I’m going to drink carrot juice, and that’s my composition,‘ then his gurgling qualifies as his composition because he put a frame around it and said so. ‚Take it or leave it, I now will this to be music.‘ After that it’s a matter of taste. Without the frame-as-announced, it’s a guy swallowing carrot juice.“5

Aus dieser Beschreibung wird deutlich, dass Zappa im Prinzip – obwohl er als Künstler die Rolle des Kunst-Schaffenden in den Vordergrund rückt – wie Jürgen Wiener von einem osmotischen Kunstbegriff ausgeht, bei dem der Betrachter nicht nur objektives Gegenüber, sondern auch handelndes Subjekt sein kann:6 Die Transformation des Karottensafttrinkens von der banalen Alltagshandlung in eine Kunstperformance ist letztlich ja nicht primär einer autonomen Aktion des Künstlers, sondern vielmehr einer erfolgreich vollzogenen Interaktion von Künstler, Handlung und Auditorium geschuldet. Das Publikum bildet den Rahmen für die Kunst und ist gleichzeitig Teil derselben.7 Zappa betont mit seiner Äußerung die Relevanz der Markierung der Grenze zwischen Kunst und der Natur des Lebens in diesem Zusammenhang, die „Rahmung“, welche das „Hineinreichen“ vom einen ins andere als solches erst erkennbar macht.8 Wir möchten daher im Folgenden die Gelegenheit nutzen und – wie wir hoffen ganz im Sinne Jürgen Wieners – eine Skulpturengruppe, die sich inzwischen als Exponat in einem Museum befindet, dadurch für den zeitgenössischen Rezipienten als Teil der Kunstwelt kenntlich gemacht ist und somit der Lebenswelt des Betrachters ein Stück weit entzogen ist, in den räumlichen und situativen Kontext ihrer historischen Aufstellung zurückführen, um mehr über ihre Beziehung zur außerbildlichen Lebenswelt der Zeit und deren Hineinreichen in die ursprüngliche Rezeption der Objekte zu erfahren. Es handelt sich um die sogenannten Kölner Rathauspropheten, die erst kürzlich verstärkt mediale Beachtung erfuhren, da aufgrund einer Entscheidung der amtierenden Oberbürgermeisterin im 3D-Druck entstandene, handbemalte Kopien der Figuren für eine Aufstellung im sogenannten Hansasaal des Rathauses angefertigt wurden.9 Dort sollen die Repliken auf Konsolen an der Nordwand den Platz einnehmen, an dem die Originale seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts positioniert waren, bevor sie 2012 ins Museum Schnütgen kamen. Die Berichterstattung um die Aufstellung von Kopien wenige hundert Meter von den Originalen entfernt lässt erahnen, dass deren heutige Wahrnehmung vor allem symbolhaft in der – auch aus anderen spätmittelalterlichen Rathäusern bekannten – Funktion von Propheten als weise Mahner zur guten Regierungsführung gesehen wird, und dass die „Rückführung“ der Propheten in Form von Repliken in den Handlungsraum der aktuellen Stadtverwaltung als

Die Propheten und ihre „Kammer“

Wertschätzung gegenüber der ästhetischen Qualität und kulturhistorischen Relevanz der Originale verstanden sein will. Ob die Verdopplung der Skulpturen, um sie gewissermaßen zusätzlich ihrem vermeintlich ursprünglichen Umfeld wieder hinzuzufügen, auch der heutigen Rezeption der mittelalterlichen Objekte dienlich sein kann, bleibt abzuwarten.10 Sicher ist, dass die „Verschränkung von Kunst und Lebenswelt“11 – um erneut Jürgen Wiener zu zitieren – und somit auch die Wahrnehmung der Skulpturen als Kunstwerke im Falle der mittelalterlichen Kölner Propheten entstehungszeitlich deutlich komplexer gewesen sein muss – dies möchten wir im Folgenden anhand der Objekte selbst sowie anhand ihrer räumlichen Kontextualisierung darlegen.

D ie P ropheten Der Prophetenchor aus dem Kölner Rathaus besteht aus acht polychrom gefassten Eichenholzfiguren (Abb. 1). Mit dieser Gruppe hat sich ein qualitativ herausragendes Ensemble profaner Kölner Skulptur aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vollständig erhalten. Lange, teils bis auf die Schultern und die Brust herabwallende Haare und Bärte, die schlichten bodenlangen Gewänder unter locker um die Körper geschlungenen Mänteln, weichfallende Kopfbedeckungen sowie ausgerollte Schriftbänder weisen sie als Propheten oder weise Männer aus. Die sieben Bärtigen und ein glattgesichtiger junger Mann sind zwischen 113 und 116 Zentimeter groß; die Figuren sind eher schmal angelegt und verdanken einen großen Teil ihrer raumgreifenden und bewegten Wirkung den Gewanddrapierungen. Sie wurden jeweils aus einem massiven Werkstück geschnitzt und sorgfältig vollrund ausgearbeitet. Die anhand des heutigen Bestandes nachzuweisende entstehungszeitliche Fassung entspricht sowohl in ihrem Aufbau und den verwendeten Materialien als auch im Farbkanon einer für die Region und die Datierung typischen Gestaltung.12 Demnach war das farbliche Erscheinungsbild der Propheten ursprünglich einheitlich durch glänzend weiße Mäntel mit blauem Futter über roten Gewändern charakterisiert; Gewandsäume, Haar- und Barttrachten waren vergoldet. Auf den Schriftbändern stand, nach Überlieferung aus der Entstehungszeit, in schwarzer Schrift auf weißem Grund zu lesen: 1. Primum querite regnum dei et iustitiam eius 2. Inicium sapiencie tymor domini 3. Oportet operari consiliata velociter, consiliare autem tarde 4. Utilitas publica private est semper praeferanda

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Abbildung 1: Acht Propheten aus dem Kölner Rathaus an ihrem Aufstellungsort 2019 auf der Westempore von Sankt Cäcilien im Museum Schnütgen in Köln

Rheinisches Bildarchiv, Köln/Wolfgang F. Meier 2012, rba d032623 50

5. Derogare cupientes vincit integritas actionis 6. Equum est necis artificem arte perire sua 7. Fidum sit rey publice consistorium sylentique salubritate munitum 8. Qui pro re publica perierunt perpetuo vivere intelliguntur13

Für eine jahrhundertelange Wertschätzung der Figuren sprechen die mehrfachen Überarbeitungen der Skulpturen, die sich zeitlich mit überlieferten Umbau- und Modernisierungsarbeiten im Rathaus in Verbindung bringen lassen.14 Fassmalerische Maßnahmen der Auffrischung oder Veränderung wurden stets an der gesamten Gruppe vorgenommen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein blieben dabei die Grundzüge des entstehungszeitlichen Erscheinungsbildes beibehalten, insbesondere die charakteristischen weißen Mantelaußenseiten, die seit dem frühen 16. Jahrhundert mit Applikationen aus Pressbrokat zusätzlich verziert worden waren. Die historistischen Neuinterpretationen der Figuren in den 60er und den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts nahmen auf diese Konzeption keine Rücksicht.15 Das heutige Erscheinungsbild der Skulpturen zeigt, nach einer umfänglichen Freilegungsmaßnahme in den 1930er Jahren, ein Zusammenspiel von Fassungsresten

Die Propheten und ihre „Kammer“

unterschiedlicher historischer Bearbeitungsphasen sowie von mehreren konservatorischen Eingriffen im 20. Jahrhundert (Abb. 2).16 Eine umfassende Würdigung in der kunsthistorischen Forschung erfuhren die Rathauspropheten zu Beginn der 1950er Jahre mit der Dissertation von Eduard Trier.17 Trier bestimmte die Funktion der Propheten18 im Kontext mittelalterlicher Rathausprogramme seit dem 14. Jahrhundert19 als mit moralischen Sentenzen ausgestattete Autoritäten und weise Mahner zur guten Regierungsführung und nahm zudem eine stilistische Einordung der Kölner Skulpturengruppe vor. Er datierte die großformatigen Figuren in die Zeit der Fertigstellung des gotischen Ratsturms um 1414 und sah sie in unmittelbarer Abhängigkeit von den Propheten im Freskenzyklus des Hansasaals,20 deren Bedeutung die Skulpturen für Trier in die neu entstandenen Räumlichkeiten für den Rat im Turm beziehungsweise in den angrenzenden Zugangsbereich überführten. Aus Vergleichen mit Werken der Holz- und Steinskulptur der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts schloss er auf einen Werkstattzusammenhang mit dem Mittelrelief des Palanter Altars (zwischen 1419 und 1425; Kolumba – Kunstmuseum des Erzbistums Köln) und einer stehenden Madonna im Neusser Quirinusmünster (Trier: um 1415–1425),21 zudem verwies er auf tendenziell konservative südniederländische Einflüsse auf die Kölner Skulptur dieser Zeit.22 Seit den späten 1980er Jahren wurden Triers Untersuchungen mehrfach aufgegriffen, vertieft und in einigen Punkten korrigiert.23 Reiner Dieckhoff betonte die Bedeutung „frankoflämischer“24 Kunst, vermittelt über das Werk André Beauneveus. Dieser neue Stil aus dem Westen werde in Köln zuerst in den geschnitzten Rathauspropheten fassbar, deren Entstehung er stilkritisch am Ende der 1410er Jahre ansetzte.25 Er verwies auf die Nähe der Kölner Skulpturen zu den steinernen Prophetenfiguren von der Sainte-Chapelle in Bourges, die der Werkstatt des André Beauneveu zugeschrieben werden.26 Deutlich früher, bereits Ende des 14. Jahrhunderts, ordnete dagegen Ulrike Surmann die Rathauspropheten ein. Sie betonte die inhaltlich enge Verwandtschaft der Prophetensprüche zum Kölner Verbundbrief, dem 1396 nach der Beendigung der Vorherrschaft der Patrizier ausgefertigten verfassungsgebenden Dokument, und auf die motivische Nähe der Figuren zum Typar der Gaffel Eisenmark.27 Zu einer ähnlichen Einschätzung kam Stephan Altensleben, der aufgrund von Bezügen in den Sprüchen der Figuren zu zeitgenössischen Ereignissen von einer Entstehung kurz nach 1398 ausging.28 Walter Geis schloss sich wiederum der von Trier vorgeschlagenen Datierung der Propheten um 1414 an und hob den Einfluss der (nur fragmentarisch überlieferten) Bauplastik des zu dieser Zeit vollendeten Ratsturms auf die Figurenbildung der Propheten hervor.29 Neue Erkenntnisse für die Diskussion der Entstehungszeit der Skulpturengruppe hat die jüngste technologische Untersuchung erbracht: Nach der dendro-

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Abbildung 2: Prophet aus dem Kölner Rathaus, Köln, um 1430/40, Eiche, polychrom gefasst, Köln, Museum Schnütgen, Inv.-Nr. Loan 2012-001 a

Rheinisches Bildarchiv, Köln/Patrick Schwarz 2017, rba d045876 01

Die Propheten und ihre „Kammer“

chronologischen Analyse von sechs der acht Figuren wurden sie frühestens um 1430, wahrscheinlicher erst um 1440 geschnitzt.30 Die neue Datierung der Propheten hat nicht nur Auswirkungen auf ihre stilgeschichtliche Einordnung innerhalb des vergleichsweise kleinen erhaltenen Bestandes an Kölner Bildwerken aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, auch der unmittelbare zeitliche Zusammenhang mit dem Neubau des Ratsturms ist somit nicht mehr gegeben. Mit der Ausfertigung umfassender verfassungsordnender Rechtsaufzeichnungen der Stadt in den sogenannten Kölner Statuten von 1437 vier Jahrzehnte nach dem Verbundbrief, lässt sich jedoch ein weiteres, zur Neudatierung passendes stadtgeschichtliches Ereignis benennen, das als Anlass für die Herstellung einer repräsentativen Skulpturengruppe für den inneren Bereich des Rathauses gedient haben könnte.31 Stein geht zudem davon aus, dass die Kompilation Stadtrecht und Bürgerfreiheit aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, in der sich die erste bekannte Abschrift der Prophetensprüche findet, ebenfalls in Zusammenhang mit den Statuten von 1437 entstanden ist.32 Die Neudatierung wirft abgesehen davon ein ganz neues Licht auf einen Aspekt, der im Zusammenhang mit den Propheten seit jeher besondere Beachtung erfuhr: Die Frage nach ihrer ursprünglichen Verortung im Rathaus.

D ie „ camera

prophetarum “

Ihren letzten Aufstellungsort im Rathausbau – vor der Überführung ins Museum Schnütgen im Jahre 201233 – hatten die Skulpturen erst 1972 bezogen: Nach dem Wiederaufbau des stark kriegsbeschädigten Rathauses wurden sie auf Konsolen an der Nordwand des Hansasaals angebracht. Zuvor befanden sie sich jedoch stets – mit einer kurzen Unterbrechung im 18. Jahrhundert – in der nach ihnen benannten Prophetenkammer, einem Raum im Obergeschoss des Verbindungsbaus zwischen Saalbau und Ratsturm (Abb. 3).34 Die älteste Schriftquelle, die die Prophetenfiguren mit diesem Anbringungsort im Rathausbau verbindet, stammt – wie wir heute wissen – aus einer Zeit kurz nach ihrer Fertigstellung. 1448 berichtet ein Gesandter Friedrichs III. von seinem Besuch im Kölner Rathaus und erwähnt mehrfach eine „camera prophetarum.“35 Mit den dendrochronologischen Befunden rückt die Entstehungszeit der Skulpturengruppe also in unmittelbare Nähe zur ersten Überlieferung ihrer Aufstellung in der damals schon so bezeichneten Prophetenkammer, folglich dürften auch die unterschiedlichen Thesen für die Anbringung der Figuren an einem anderen, ersten Ort – die auf ihrer Frühdatierung fußten – obsolet sein.36 Plassmann weist darauf hin, dass die Bezeichnung der camera prophetarum im oben genannten Bericht so beiläufig und selbstverständlich erfolgt, dass sie bereits einige Zeit gebräuchlich gewesen sein dürfte,37

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Abbildung 3: Abraham Aubry nach Johann Toussyn, Ansicht des Rathauses von Osten (Turm, Zwischenbau und Saalbau mit Rathauslaube), 1655, Kupferstich

Kölnisches Stadtmuseum Graphische Sammlung, AI 3/733, Rheinisches Bildarchiv, Köln, rba 128 976, 89 515

jedoch geht auch er noch von einer früheren Fertigung der Propheten aus. De facto kann die „Kammer“38 erst wenige Jahre unter diesem Namen bekannt gewesen sein, ein Umstand, der umso deutlicher macht, wie eng der betreffende Raum und die Skulpturen in der Rezeption der Zeitgenossen von Anfang an miteinander verknüpft gewesen sein müssen.

Die Propheten und ihre „Kammer“

Abbildung 4: Grundriss des Rathauses auf der Ebene des Obergeschosses des Saalbaus mit neu gestalteter Treppe in der Prophetenkammer, 1903

SKK Plankammer B 301/2/14, verbracht ins Historische Archiv der Stadt Köln, Rheinisches Bildarchiv, Köln, rba L 15 357/3,4

B augeschichte

und

Datierung

Die Baugeschichte einzelner Bauteile des Kölner Rathauses nachzuvollziehen ist unter anderem so diffizil und letztlich nur lückenhaft möglich, da der Gebäudekomplex sich – wie schon Bellot betonte – bereits im 15. Jahrhundert als ständig wachsendes und sich veränderndes Konglomerat diverser An- und Umbauten darstellte.39 Dies gilt auch für den zwischen Saalbau und Ratsturm gelegenen Bau, in dessen Obergeschoss sich die Prophetenkammer befand (Abb. 4). Während die Datierungen von Saalbau (1310 bis um 1330) und Turm (1407–1414) relativ eindeutig gesichert sind, gab es für den Zeitpunkt der Errichtung des Zwischenbaus stets unterschiedliche Vorschläge: Nußbaum plädierte für eine Eingliederung „spätestens“ mit dem Bau des Turms40 und folgte damit dem Bericht von Ennen, dem zufolge das ursprünglich in jüdischem Besitz befindliche Grundstück nördlich des Saalbaus nach dem Pogrom 1349 durch den Rat erworben worden und von Beginn

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Abbildung 5: Rathaus zu Köln, rekonstruktiver Schnitt von Norden nach Süden, Treppe in der Prophetenkammer aus dem 18. Jahrhundert, 1903

SKK Plankammer B 301/3/5, verbracht ins Historische Archiv der Stadt Köln, Rheinisches Bildarchiv, Köln, rba L 14 714/3,4

an in den Bau des Turms integriert gewesen sei.41 Kier vermutet einen Baubeginn nach 1424,42 eine Datierung, die jedoch Plassmann bei seinen jüngsten Überlegungen zur Funktion der Prophetenkammer Probleme bereitete.43 Ein wichtiger Indikator für die Datierung des Zwischenbaus ist in der Tat die architektonische Funktion der Prophetenkammer, über die heute und auch – wie im Folgenden gezeigt werden wird – bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts der Zugang zu dem im ersten Obergeschoss des Turms gelegenen Ratssaal erfolgte beziehungsweise erfolgen musste. Während sich die Kammer auf derselben Geschosshöhe wie der Hansasaal im ersten Obergeschoss des Saalbaus befindet, muss zum an der Nordwand der Prophetenkammer gelegenen Eingang in den Ratssaal im Obergeschoss des Turms eine Höhendifferenz von ca. drei Metern überwunden werden (Abb. 5) – eine Aufgabe, die über die Jahrhunderte auf unterschiedliche Weise gelöst wurde. Im aktuellen Neubau des Rathauses führt eine einläufige

Die Propheten und ihre „Kammer“

Abbildung 6: Zustand der Prophetenkammer 2019: Blick nach Norden zum Eingang der Ratskammer und Blick nach Süden zum Eingang in den Hansasaal

Fotografien: Astrid Lang

Freitreppe von der Prophetenkammer aus zum Portal der Ratskammer, während der Wendelsteig des Turms in der nordöstlichen Ecke zwischen Turm und Prophetenkammer ausschließlich von der Fußbodenebene der Prophetenkammer zugänglich ist (Abb. 6) – der Raum bildet also den einzigen Übergang vom Erdgeschoss des Turms zu dessen Obergeschoss, über den Wendelstein selbst ist der Ratssaal nicht zu erreichen. Sehr aufschlussreich für die bauzeitliche Situation ist eine Nachkriegsfotografie, die den zerstörten Ratsturm von Norden zeigt und den Blick auf das Mauerwerk hinter dem Wendelstein freigibt (Abb. 7): Auf Höhe des Zugangs in den Ratssaal von der Prophetenkammer aus sind keinerlei Baufugen zu sehen, die als Anzeichen für eine ehemalige Öffnung in den Treppenturm gedeutet werden könnten. Die teilweise großformatigen Steinblöcke binden sehr einheitlich durch, und auch ein Sturz ist nicht zu erkennen. Dies deutet darauf hin, dass der Wendelstein zu keinem Zeitpunkt, auch nicht bauzeitlich, Zutritt in den Ratssaal ermöglichte – dieser musste also über einen außen gelegenen Zugang erschlossen werden, was deutlich für eine Einbindung des Zwischenbaus bereits während des Turmbaus spricht. Eine solche Einbindung würde wiederum bedeuten, dass der Raum im Obergeschoss des Zwischenbaus in seiner Funktion als Vorraum der Ratskammer schon gut zwanzig Jahre existiert hatte bevor die Prophetenskulpturen in Auftrag gegeben beziehungsweise angefertigt wurden.

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Abbildung 7: Ruine des Ratsturms von Norden, 1946

Rheinisches Bildarchiv, Köln, rba 620 226

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N utzung

und zeremonielle

Funktion

Dass die Prophetenkammer in ihrer Funktion weit mehr als nur ein reiner Durchgangsraum gewesen sein muss, argumentiert erstmalig Plassmann. Er geht davon aus, dass sie dazu diente, „diskrete Beratungen oder Rechtsgeschäfte abseits des Rats durchzuführen“,44 gleichzeitig aber auch eine Art symbolischen Rahmen von Öffentlichkeit herstellen sollte, um eben diese Geschäfte zu legitimieren.45 Er weist zudem speziell auf die Relevanz des kleinen „Kämmerchens“ innerhalb der Prophetenkammer für besagte Amtsgeschäfte hin und betont dessen Rolle als diskreter und intimer Ort rechtlicher Machtausübung des Rates.46 Dieses „kleyne kemergyn binnen der Propheten-Kammer“47 taucht in zahlreichen Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts auf,48 wird allerdings nicht genauer innerhalb des Raumes lokalisiert. Äußerst aufschlussreich für die Interpretation der Nutzung und Zugänglichkeit der Prophetenkammer sind die sogenannten Türwärtereide, die Plassmann diesbezüglich als eine grundlegende Quelle ansieht. In einem Zusatz zu einer auf die Mitte des 15. Jahrhunderts datierten Version des Eidspruchs aus dem Jahr 1472 wird die Prophetenkammer ebenfalls als solche benannt, und zudem wird klar, dass der Zutritt zu dieser streng reglementiert war: „Vort soilen sij in die prophetenkamer nyemant laissen ghayn dan greve ind scheffenen ind der zo raide gegangen hedde off zertzijt were in den vase heren deden inheysschen ind der steide dienere, der man degelichs zo deme raide behoefft, [neymlich der stat boiden mit den silveren ind holtzen bussen, de drij overate wercklude, der geweldrichtere boiden ind de boyden zo Airsberg ind zo Nyederich], ind off yemant anders dairenboyven ingegangen were, den soilen sij heasschen weder uyssghayn“49

Es werden also ausschließlich die aktuellen Mitglieder des Rates und einige Bedienstete sowie vom Rat vor- beziehungsweise eingeladene Personen regulär in den Raum vorgelassen – alle anderen sollen durch die Türwärter dezidiert des Raumes verwiesen werden.50 Den oben zitierten Passus übernimmt der wenige Jahre später neu verfasste „Eid der Thürwärter“,51 spezifiziert jedoch an weiteren Punkten das Protokoll um die Prophetenkammer: „Item soillen sij vur der prophetenkamer tuschen beyden doeren syn ind geyne parthijen alda laissen sitzen, sonder den guetlichen sagen, dairbuyssen zo blijven.“52 Vor der Prophetenkammer existiert offenbar zu diesem Zeitpunkt ein Ort „zwischen zwei Türen“, an dem die Türwärter Wache halten, der aber von weiteren Personen nicht zum Aufenthalt genutzt werden soll. Plass-

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Abbildung 8: Grundriss des Rathauses auf Ebene des Erdgeschosses, Mitte 18. Jahrhundert

Rheinisches Bildarchiv, Köln, rba L 14 701/1,2

mann deutet diesen Passus als einen Hinweis auf eine Art „Schleusensituation“ vor der Prophetenkammer, möglicherweise war ein kleiner Teil der Grundfläche im ersten Obergeschoss des Zwischenbaus flurartig abgeteilt.53 Dies ist auch angesichts eines Erdgeschossgrundrisses aus dem 18. Jahrhundert nachvollziehbar (Abb. 8): Die dort in der Südostecke eingezeichnete Wendeltreppe hätte folglich nicht direkt ins Innere der Prophetenkammer, sondern in einen kleinen Vorraum geführt. Da die Kammer ebenfalls direkt über das Obergeschoss betretbar war, wie der Bericht des Gesandten Friedrichs III. aus dem Jahr 1448 illustriert, 54 muss ein Zugang zu diesem Vorraum entweder über die Ost- oder Südwand der Kammer bestanden haben. Somit wären die „beyden doeren“, zwischen denen sich die Türwärter aufhalten sollten, die Tür zur Prophetenkammer an der Nordwand des kleinen Vorraums und eine Tür, die entweder vom Hansasaal oder von der Ostwand aus in diesen Vorraum führte.55 Ein Aspekt, der unseres Wissens noch nicht diskutiert wurde, ist die Tatsache, dass die Prophetenkammer der einzige Raum im Inneren des gesamten Ratskomplexes ist, dessen Bewachung in den Türwärtereiden aus dem 15. und 16. Jahr-

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hundert überhaupt gesondert reglementiert wurde. Weder der Zugang zum eigentlichen Ratssaal, zum Hansasaal, zur goldenen Kammer noch zu weiteren Räumen fallen in den Aufgabenbereich der „Türwärter“, sie sind neben ihren anderen Diensten für den Rat primär zur Bewachung eben dieser Prophetenkammer verpflichtet. Die Quellen weisen somit deutlich darauf hin, dass die Prophetenkammer eine zentrale Position in der Hierarchie der Räume des Rathauses innehatte, ihre Schwelle markierte offenbar den Übergang in eine hoheitlich ausdifferenzierte Raumebene, den Übertritt in den zentralen Herrschaftsbereich des Rates56 – daher musste sie bewacht und der Zutritt reglementiert werden. Diese These wird gestützt durch die bereits mehrfach erwähnte Quelle aus dem Jahr 1448, in der ein Gesandter Friedrichs III. seinen Besuch im Kölner Rathaus dokumentiert. Der Bericht wurde unseres Wissens bislang lediglich in der immer wieder zitierten Abschrift bei Keussen berücksichtigt, die allerdings nur kurze und teilweise nicht zusammenhängende Abschnitte der Aufzeichnungen wiedergibt.57 Der Text enthält jedoch einige interessante Informationen, die weit über die erstmalige Nennung der Prophetenkammer hinausgehen:58 Der Gesandte und Notar Ulrich Vogel besucht das Kölner Rathaus, um dem Rat zwei Papierurkunden Friedrichs III. vorzulegen. Er wird vom Bürgermeister Johannes Schymmmelpenninck zunächst über eine Treppe beziehungsweise Stufen vor der camera aurea in diese – den oben erwähnten Raum im Obergeschoss des Anbaus östlich des Saalbaus (vgl. Abb. 4) – hinaufgeführt, dann in eine kleinere Kammer, die an die goldene Kammer angrenzt beziehungsweise sich innerhalb der goldenen Kammer befindet. Dort bittet Bürgermeister Johannes den Gesandten, zu warten, er wolle seinen Ratsherren Bescheid geben. Später wird Vogel von einem „Diener der Prophetenkammer“ („servitor seu familiaris camere prophetarum“) – also sehr wahrscheinlich von einem Türwärter – namens Wollffhard in die Prophetenkammer gebeten. Dort warten bereits die Ratsherren auf ihn, und der Gesandte übergibt feierlich die Urkunden zur Abschrift vor diversen namentlich genannten Zeugen.59 Vogels Beschreibung verdeutlicht, dass der Zutritt in die Prophetenkammer ein zentrales Moment im Zeremoniell des Rates darstellte: Der Bürgermeister beruft die städtischen Autoritäten hierhin ein und empfängt den königlichen Gesandten erst in der Kammer, nachdem die camera aurea als Aufenthaltsort und ein Diener der Kammer als Bote zwischengeschaltet wurden. Der offizielle Akt der Lektüre und Abschrift der Urkunden – der Höhepunkt des Zeremoniells – findet in der Prophetenkammer statt. Diese scheint also, im Gegensatz zu dem innerhalb des Raums befindlichen „Kämmerchen“ mitnichten als Ort diskreter Amtsgeschäfte, sondern vielmehr als hierarchisch herausgestellter Repräsentationsraum genutzt worden zu sein. Diese Erkenntnis muss auch bei der Frage nach der Rolle der Propheten innerhalb der Kammer mit einbezogen werden.

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A ufstellung der S kulpturen in der P rophetenkammer Neben der Benennung der Räumlichkeiten als Prophetenkammer sind die Figuren in diesem Bereich durch eine zweite schriftliche Überlieferung belegt: Es existieren zwei Versionen einer Beschreibung der Skulpturen aus der Zeit um 1600,60 denen zufolge die Propheten sich „uff hulzen peilleren uff der Treppen Inn der Propheten Chammer alß man Inn die Ratz Chammer will ghain“61 befanden. Die Textstelle wurde als Beschreibung der konkreten Aufstellungssituation der Skulpturen um 1600 gelesen und galt somit lange als Beleg für eine nachträgliche Zweitverwendung, die zwei – keineswegs zwingend zusammenhängende – Faktoren beinhaltet: zum einen die Platzierung der Figuren im Kontext einer in der Quelle erwähnten „Treppen“, zum anderen eine freie, allansichtige, nicht an eine rahmende Architektur gebundene Position. Trier ging von einer solchen Umnutzung der Skulpturen aus und wies darauf hin, dass eine von allen Seiten sichtbare Präsentation auf Treppenpfosten – wie sie die überlieferte Beschreibung suggeriere – zur Entstehungszeit der Figuren (für Trier: um 1414) kaum möglich sei, „vor allem im konservativen Köln!“62 Dieser Auffassung folgten Dieckhoff, Surmann, Geis und Westermann-Angerhausen, immer mit Verweis auf die Überlieferungen zur Aufstellung aus nachmittelalterlicher Zeit. In der vermuteten nachträglichen und allansichtigen Positionierung der Skulpturen in der Prophetenkammer, an oder auf der Treppe zur Ratskammer, sahen sie vielmehr eine modernisierende Umdeutung eines älteren Konzepts, „ganz im Sinne der Renaissance“63 beziehungsweise „charakteristisch für das Verständnis neuzeitlicher Skulptur“.64 Max Plassmann wies in seiner Analyse der mittelalterlichen Bedeutung und Nutzung der Prophetenkammer jedoch darauf hin, dass die oben erwähnte Beschreibung der Skulpturen auf eine Quelle zurückgeht, die bereits aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammt.65 Schon Otto Isphording hatte auf den betreffenden Text in der Kompilation Stadtrecht und Bürgerfreiheit verwiesen, doch seit Trier war diese frühe Version nicht mehr berücksichtigt worden. Die Formulierung lautet hier wie folgt: „so wanne burgemeister ind raitzheren in den rait suyllen gaen, 8 verssen, de de 8 propheten, de da stant up den hoeltzeren pylren up der trappen, ass man in de raitzkammer gayn sall, so hait eyn eycklich prophete synen spruch in synre hant, als herna geschreven steit, eyn eycklich besonder, ind dat iss genoemen uyss der hilligen schryfft tzo eynme gedechteniss:“67

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Die beiden Beschreibungen um 1600 sind dementsprechend Abschriften der älteren Quelle, die sich auf dieselbe Aufstellungssituation beziehen, welche – und das ist eine grundlegend neue Erkenntnis – als die entstehungszeitliche gelten darf und seit der Mitte des 15. Jahrhunderts offensichtlich unverändert geblieben war. Dies macht die Textstelle als Beleg für eine Anbringung der Propheten frei und allansichtig auf oder an einer Treppe aus kunsthistorischer Perspektive äußerst problematisch, wenn nicht unmöglich. Eine Positionierung von Einzelskulpturen – zumal von einer Gruppe von acht Figuren in einer Größe von über einem Meter – auf einem Handlauf, an einer Brüstung oder an einer Treppenwange ist nicht nur für das 15. Jahrhundert nicht belegt, sie wäre sogar für das 16. Jahrhundert im Rheinland extrem ungewöhnlich, wenn nicht einzigartig.68 Zudem erfordert die spalierartige Aufstellung einer so großen Gruppe von Figuren auf einer Treppe69 eine idealerweise geradläufige Freitreppe – zwei Aspekte, die wir im Folgenden kurz diskutieren werden.

A llansichtigkeit Angesichts der Beschreibung der Aufstellung der Propheten aus der Mitte des 15. Jahrhunderts und aufgrund der Ergebnisse ihrer technologischen Untersuchungen sprach sich auch Grimberg für eine schon ursprünglich allansichtige Aufstellung der Rathauspropheten auf Pfeilern entlang eines Treppenaufgangs aus.70 Sie begründete diese Annahme mit der vollplastischen schnitzerischen Ausarbeitung der Figuren sowie der allseitigen Farbfassung. Grimbergs Analysen haben ergeben, dass die entstehungszeitliche fassmalerische Behandlung der Skulpturen allseitig gleich und in übereinstimmend hoher Qualität ausgeführt war.71 Zudem verwies sie in ihrer Argumentation auf ein konstruktives Detail: Die acht Figuren verfügen über eine zentrale Bohrung in der Standfläche, die bei einem Durchmesser von rund vier Zentimetern bis zu 68 Zentimetern tief in die Holzblöcke hineinragt. Dabei handelt es sich nach Grimberg um entstehungszeitliche Maßnahmen zur Arretierung mittels eines Zapfens, über den die Figuren gestülpt und so gesichert wurden.72 Konstruktion und Ausfertigung der Rathauspropheten stehen einer freien Aufstellung somit nicht entgegen, wie es etwa bei ausgehöhlten oder nur grob bearbeiteten Rückseiten, zum Beispiel bei Holzskulpturen aus Retabeln, der Fall wäre.73 Allerdings ist fraglich, ob der Befund einer allseitigen Bearbeitung der Figuren ausreicht, um eine freie Aufstellung – ohne eine Bindung an eine Archi-

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Abbildung 9: André Beauneveu und Werkstatt, Zwei Propheten aus der SainteChapelle in Bourges, um 1390/1400, Kalkstein, Bourges, Musée du Berry

Quelle: Nash 2007, S. 150, 151

tektur – als wahrscheinlich anzunehmen. Zumal die überlieferte Beschreibung der Propheten in der Prophetenkammer aus der Mitte des 15. Jahrhunderts eine rundansichtige Position, die für diese Zeit höchst außergewöhnlich wäre, nicht erwähnt. Schon Trier hatte eine solche Positionierung der Figuren für eine Entstehung um 1414 als „unmöglich“ erachtet und auch für die neue Datierung wenige Jahrzehnte später wäre eine architektonische Anbindung der großformatigen Skulpturen wahrscheinlicher. Mit den Neun guten Helden im angrenzenden Hansasaal war in unmittelbarer Nähe zum Aufstellungsort zudem ein Vorbild für die Einbindung einer großformatigen Figurengruppe mit repräsentativer Funktion in die Raumausstattung vorhanden: Diese Steinskulpturen sind auf Konsolen unter Baldachinen in die Maßwerkgliederung der Südwand des Saals integriert.74 Eine Vorstellung davon, wie sich der Charakter eine solchen architektonischen Umfassung von der Entstehungszeit der Helden-Wand um 1330 bis zur Aufstellung der Rathauspropheten gut hundert Jahre später in Köln verändert haben kann, gibt der Ratsturm, der mit seinem Skulpturenprogramm an Fassade und Portal um 1414 fertiggestellt worden war (Abb. 3): Die Gliederung der schmalen Mauerflächen zwischen den Fenstern des Turms, vor denen die Skulpturen aufgestellt sind, ist hier flacher und reduzierter; statt in Nischen stehen die Figuren vor glatten

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Wandstreifen. Auch die sie tragenden Konsolen und die bekrönenden Baldachine sind in den Dimensionen zierlicher, sodass sie stärker auf die einzelnen Skulpturen bezogen erscheinen und weniger als ein die Wand überziehendes Maßwerkgeflecht. Das Portalprogramm des Turms bestand ebenfalls aus Figuren, die mit einer körperhaften Präsenz und Bewegtheit, die mit den Propheten der inneren Kammer vergleichbar ist, vor der Architektur aufgestellt waren.75 Mit der Verkündigungsgruppe in Sankt Kunibert (1439) ist ein Beispiel in Köln für die Aufstellung von Skulpturen auf Konsolen ohne einen sie bekrönenden Baldachin bezeugt, das in großer zeitlicher Nähe zu den Prophetenfiguren steht.76 Die vollrunde Bearbeitung der Propheten steht zudem nicht im Widerspruch zu einer Aufstellung in Bindung an eine Architektur. Insbesondere bei der Platzierung der Figuren vor einer Wand(vertäfelung) oder einer Säule, ohne ein sie einfassendes Gehäuse (wie bei den Neun guten Helden im Hansasaal), wären die Seiten der Figuren und die Übergangsbereiche zu den Rückseiten mindestens teilweise sichtbar gewesen, sodass eine allseitige Bearbeitung sinnvoll erscheint. Einige der Prophetenfiguren bieten von schräg-seitlichen Standpunkten aus betrachtet reizvolle Motive der Gewanddrapierung und Profilansichten der Gesichter.77 Insgesamt weisen die Skulpturen, vor allem mit ihren Schriftbändern, aber auch in ihren Körperhaltungen dem Betrachter jedoch ihre Front als Hauptansichtsseite aus (Abb. 2). Aus dieser Perspektive sind die Bewegungsmotive besonders gut erfahrbar und sie fügen sich zu einer sprechenden Gruppe zusammen. Zudem fällt die schnitzerische Behandlung der Rückseiten trotz der sorgfältigen Ausarbeitung der Oberflächen auffällig flacher aus als die der Vorderseiten.78 Eine allseitige Ausarbeitung findet sich zudem auch bei einigen Skulpturen aus dem Umfeld der Kölner Rathauspropheten, die vor Wänden oder an Pfeilern aufgestellt waren: Die fünf erhaltenen steinernen Prophetenfiguren aus der Sainte-Chapelle in Bourges (erbaut um 1391–1397), die schon Dieckhoff vergleichend herangezogen hatte,79 sind durchgängig vollrund ausgearbeitet (Abb. 9). Zur Befestigung an einem architektonischen Hintergrund tragen sie rückseitig eiserne Ösen.80 Ebenfalls vollplastisch gearbeitet ist die mit den Rathauspropheten verwandte Muttergottes mit Kind aus der Marienkapelle der Kölner Kartäuserkirche (1426/27; Abb. 10). Das Motiv des sich um den Körper schraubenden Gewandes verbindet die Figur gleichfalls mit dem Propheten in Bourges und klingt in den Kölner Rathauspropheten nach.81 Bei dieser Madonna ziehen sich die Mantelfalten mit besonders üppigem Volumen bis auf die Rückseite der Figur. Ihre ursprüngliche Position wurde rekonstruiert: Sie stand erhöht auf einer Engelskonsole am mittleren Pfeiler der Marienkapelle.82 Vielleicht sollte diese Parallele zur zeitgenössischen Steinskulptur, eine an Steinplastik erinnernde Anmutung der Propheten, die ihnen mehr-

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Abbildung 10: Madonna mit Kind aus der Kölner Kartäuserkirche, um 1426/27 in Köln, Kalksandstein mit Fassungsresten, Köln, Museum Schnütgen, Inv.-Nr. K 159

Rheinisches Bildarchiv, Köln/Marion Mennicken 2015, rba d038889

Die Propheten und ihre „Kammer“

fach zugeschrieben wurde,83 verstärken. Aber auch in der Holzplastik lassen sich Beispiele finden: Eine den Propheten stilverwandte, heute abgelaugte Maria mit Kind im Museum Schnütgen, ist ebenfalls rundplastisch geschnitzt und war ehemals allseitig gefasst.84 Für diese Figur nahm Karrenbrock zwar eine freie Aufstellung im Raum auf einer Säule an, doch erscheint dies ebenso wie für die Propheten unwahrscheinlich, da das raumgreifende Bewegungsmotiv die straff vertikal verlaufende Kontur des Rückens in den Profilansichten völlig unberührt lässt.85 Diese Art einer „unnötigen“ vollständigen Ausarbeitung lässt sich bereits an älteren Skulpturen Kölner Produktion finden. So sind die Figuren der Anbetung der Könige vom Kölner Dreikönigenpförtchen, die in den 1320/30er Jahren für die Torarchitektur am Lichhof geschaffen wurden, vollrund ausgeführt, obwohl ihre Rückseiten in erhöhter Position im Tor vor einer Mauer standen. Gleiches gilt für die sogenannte Friesentormadonna aus der Zeit um 1360/70.86 Wie sich zeigt, war die vollplastische Ausführung von Skulpturen kein Hinderungsgrund für eine Aufstellung vor einem architektonischen Hintergrund; für eine allansichtige Aufstellung lassen sich für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts im Kölner Raum dagegen bisher keine Beispiele sicher belegen. Für eine vielfigurige Gruppe vom Format der Rathauspropheten ist eine Position ohne Bindung an die Architektur, die geradezu als Charakteristikum für gotische Skulptur gilt,87 äußerst unwahrscheinlich.

„U p

der trappen “

Über Treppenaufgänge im Kontext von mittelalterlichem Turm, Saal- und Zwischenbau haben sich insgesamt nur wenige Überlieferungen erhalten. Die Geschosse des Ratsturms waren – mit der eben genannten Einschränkung der Ratskammer – über den an der Südseite außen angesetzten Treppenturm zu erreichen.88 Auch der zweigeschossige Saalbau muss seit seiner Entstehung um 1310 bis um 1330 über eine Treppe verfügt haben, um den Hansasaal im Obergeschoss zugänglich zu machen – ein repräsentativer Zugang von außen wurde erst mit dem Bau der Renaissancelaube (1569–1573) geschaffen. Zuvor war das Obergeschoss vermutlich über eine innenliegende Wendeltreppe in einem Raumwinkel erreichbar,89 eine schematische Grundrisszeichnung von 1817 dokumentiert einen solchen Aufgang im nordöstlichen Winkel des Hansasaals.90 Belegen lässt sich eine Innentreppe im Kölner Rathaus erstmals 1395/96, sie erschloss in Form einer steinernen Wendeltreppe die sogenannte Goldene Kammer, gelegen in einem um 1360 entstandenen Anbau östlich des Saalbaus.91 Über diese Treppe scheint auch der Gesandte Friedrichs III. in das Obergeschoss gelangt zu sein, wenn er

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von der „gradus ante auream cameram“, der Treppe vor der goldenen Kammer berichtet.92 Ende des 15. Jahrhunderts wird eine weitere innenliegende Wendeltreppe erwähnt, die aus dem Erdgeschoss in die Prophetenkammer selbst hinaufführte,93 möglicherweise ist diese identisch mit dem oben diskutierten Aufgang in den Vorraum der Kammer (vgl. Abb. 8). Bei den quellenhistorisch belegten Aufgängen im mittelalterlichen Kölner Rathaus handelt es sich somit ausschließlich um Wendeltreppen, und diese sind für das 15. und auch noch für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts in dieser Region sicherlich für Aufgänge im Inneren von Gebäuden als Standard anzusehen.94 Eine Diskussion um die Treppe als raumgestaltendes Element ist im Kontext des Kölner Rathauses erstmals im Zusammenhang mit der Treppenanlage der Renaissancelaube belegt. Hier zeigt der Austausch zwischen Ratsherren und Architekten recht eindeutig, dass es sich um eine ganz neue und damit eben auch neu zu verhandelnde Bauaufgabe handelt.95 Dass die Relevanz der Treppe als Teil des Zeremoniells im 15. Jahrhundert noch keine oder eine vernachlässigbare Rolle gespielt haben muss, wird ebenfalls am oben zitierten Bericht des Gesandten Ulrich Vogel deutlich: Während es ihm offensichtlich äußerst wichtig ist, genau zu dokumentieren, in welchem Raum welche Handlung vollzogen wird und auch, in wessen Begleitung und auf wessen Geheiß er in diese Räume vorgelassen wird, findet die Gestaltung der Übergänge zwischen den Räumen (Flure, Treppen etc.) keine genaue Erwähnung innerhalb seines Berichts. Es scheint von gewissem Interesse zu sein, dass er ins Obergeschoss geleitet wird, da der Aufstieg und auch die Treppe beziehungsweise Stufen betont werden. Eine Wahrnehmung der Treppe als Element der Inszenierung von Hierarchie und Status jedoch, wie es für das spätere neuzeitliche Zeremoniell zu konstatieren ist, ist hier noch nicht festzustellen. Schließt man jedoch eine repräsentative und raumbestimmende Freitreppe als Aufgang zum Ratssaal innerhalb der Prophetenkammer für das 15. Jahrhundert aus, wird schnell deutlich, dass eine sekundäre Einbautreppe in Form einer hölzernen Wendeltreppe oder einer geradläufigen Wandtreppe weder gestalterischen noch konstruktiven Sinn macht. Da der Zwischenbau offenbar bereits während des Turmbaus als Übergang von der Geschossebene des Saal- und Zwischenbaus zur Ebene des Turmobergeschosses geplant war beziehungsweise errichtet wurde, ist vielmehr anzunehmen, dass der Höhenunterschied zwischen dem Fußbodenniveau der Prophetenkammer und dem Fußbodenniveau des Ratssaales im Turm über den in der gleichen Bauphase errichteten Wendelstein des Turms, der sich im nordöstlichen Winkel der Kammer befand, überwunden wurde. Dieser machte eine zweite Treppe funktional obsolet, und ein ästhetischer oder inszenatorischer Bedarf bestand, wie oben erläutert, wahrscheinlich frühestens 100 Jahre später. Der Treppenturm wäre somit zu Beginn des 15. Jahrhunderts sowohl von der

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Prophetenkammer als auch auf Höhe des Ratssaales zugänglich gewesen, letzterer hätte folglich über einen emporen- oder laufgangartigen Einbau erschlossen werden müssen. Möglicherweise gab es auch im 15. Jahrhundert bereits den bei Toussyn erkennbaren Austritt in der Prophetenkammer auf Höhe des Ratssaales (Abb. 3), dieser wäre dann ebenfalls über die Empore zu erreichen gewesen. Die Treppe allerdings, die auf die Empore führte, also der Wendelstein, ist innerhalb einer solchen Gestaltung von der Prophetenkammer aus nicht zu sehen. Lediglich die Ausbuchtung des Treppenturms im Raumwinkel und die beiden Türen auf den jeweiligen Ebenen hätten auf den Aufgang hingewiesen, jedoch sicherlich nicht dazu geführt, die auf oder an der Empore angebrachten Figuren „up der trappen“ zu verorten. Wie könnte also die Beschreibung aus der Mitte des 15. Jahrhunderts noch interpretiert werden?96 Die Propheten stehen „up den hoeltzeren pylren up der trappen, ass man in de raitzkammer gayn sall“. Aufgrund der oben skizzierten Spätdatierung wurden die Phrasen „up den hoeltzeren pylren“ und „up der trappen“ stets direkt aufeinander bezogen, da man die Propheten auf Stützen auf einer Treppe vermutete. Gruppiert man jedoch die beiden Phrasen „up der trappen“ und „ass man in de raitzkammer gayn sall“, wird „up der trappen“ zur genaueren Erläuterung des Ortes, von dem aus man in die Ratskammer geht – die Formulierung könnte in diesem Fall im Sinne des im Englischen geläufigen upstairs (= die Treppe hoch beziehungsweise im ersten/nächsten Geschoss) gelesen werden. Für eine solche Verwendung gibt es im rheinischen und auch gesamtdeutschen Sprachraum der Zeit einige Beispiele,97 und auch die frühneuhochdeutsche Bezeichnung stiege – bei trappe handelt es sich erneut um eine regionale Variante – wurde ebenfalls zur Bezeichnung eines Stockwerks verwendet.98 Die Formulierung „up der trappen“ würde also in diesem Fall lediglich näher definieren, wo „man in de raitzkammer gayn sall“, nämlich die Treppe hoch beziehungsweise im ersten Geschoss – eben in der Prophetenkammer. In der Abschrift der Beschreibung um 1600 wird genau diese Ergänzung vorgenommen und der Raum „uff der Treppen“ durch „Inn der Propheten Chammer“ konkretisiert: „So wanne Bürgermeister unnd Ratzherren Inn den Ratt sollen ghain die acht versen, die die Propheten sprechen die da saint uff hulzen peilleren uff der Treppen Inn der Propheten Chammer alß man Inn die Ratz Chammer will ghain So hatt ein Jeglich Prophet seinen Spruch in seiner Hant als hernae geschreuen stehet unnd is genommen auß der heiliger schrifft zu einer gedechtnisse.“99

Die Prophetenfiguren werden also mit der Beschreibung „up der trappen“ möglicherweise lediglich im Obergeschoss und damit vor dem Ratssaal beziehungsweise

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Abbildung 11: Jean Fouquet, Verkündigung aus dem Stundenbuch des Étienne Chevalier, um 1452–1461, Chantilly, Musée Condé

Quelle: Reynaud 2006, S. 55

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innerhalb der Prophetenkammer verortet, nicht allerdings – wie bislang angenommen – konkret im Kontext einer dort gelegenen Innentreppe platziert, welche es zur Zeit der Anbringung der Propheten höchstwahrscheinlich ohnehin noch nicht gab. Da die Figuren sich „up hoeltzeren pylren“ befinden, könnte man sich die Aufstellung der Skulpturen an oder vor Wandpfeilern – vielleicht unter Einbeziehung der Brüstung der Empore – vorstellen. Eine solche Anbringung bei allseitiger Ausarbeitung der Figuren ist – wie oben beschrieben – schon für die Prophetenfiguren aus der Sainte-Chapelle in Bourges anzunehmen (Abb. 9). Vielleicht hat Jean Fouquet diese Propheten aus der Beauneveu-Werkstatt in der Miniatur der Verkündigung im Stundenbuch des Étienne Chevalier festgehalten. Der Innenraum eines gotischen Kirchenbaus, der an die Sainte-Chapelle in Bourges erinnert,100 bildet darin den Hintergrund für die Begegnung von Maria mit dem Erzengel Gabriel (Abb. 11). Die erste gemalte Skulptur rechts hinter Gabriel gleicht in ihrer Haltung und Bekleidung auffällig einer der erhaltenen Steinskulpturen im Musée du Berry.101 Zumindest aber gibt die Miniatur ein zeitgenössisches Beispiel, wie eine Aufstellung der Kölner Propheten „up den hoeltzeren pylren“ vorstellbar sein kann: In der Sockelzone unter den Lanzettfenstern der Kirche stehen die Figuren auf gedrehten Säulen vor der flachen Wand, jeweils bekrönt von einem Baldachin. Nach Gaucherys Rekonstruktion des Innenraums waren die Prophetenskulpturen in der Sainte-Chapelle zwar vor den gebündelten Diensten, die zwischen den großen Fenstern zum Gewölbe hinaufstreben, aufgestellt, doch auch er ging davon aus, dass die Figuren auf Pfeilern aufgestellt waren.102 Wären diese säulen- oder pfeilerartigen Sockel in der Kölner Prophetenkammer wie die Propheten ebenfalls aus Holz gewesen, würde die von Grimberg vermutete ursprüngliche Arretierung der Figuren – mit den bodenseitigen Bohrungen über Dorne gestülpt – wieder Sinn ergeben: Sie wäre eine der Einheitlichkeit des Materials von Skulptur und Stütze geschuldete Methode zur Befestigung auf den Sockeln, ohne eine direkte Verbindung der Propheten zur steinernen Architektur zu benötigen.103

Fazit Aus diesen Überlegungen ergibt sich ein völlig neuer Vorschlag für die ursprüngliche Aufstellungssituation der Kölner Rathauspropheten in der Prophetenkammer, der sich mit den architektonischen Begebenheiten des frühen 15. Jahrhunderts – soweit sie sich noch nachvollziehen lassen – und auch mit der Bedeutung und Funktion der Prophetenkammer in einen sinnvollen Bezug setzen lässt. Der Raum verfügte nach dieser These zur Mitte des 15. Jahrhunderts noch nicht über eine

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innenliegende Treppe, die zum erhöht angebrachten Portal zur Ratskammer im Turm führte (und somit auch nicht der Anbringung der Skulpturen gedient haben konnte).104 Der Zugang in das Obergeschoss des Turms erfolgte über den Wendelstein, der vom Bodenniveau der Prophetenkammer betreten wurde und auf Höhe des Ratssaals einen Zugang zu einer Art Empore an der Nordwand der Prophetenkammer eröffnete, über die die Tür zur Ratskammer zu erreichen war. Unter dieser Empore befand sich möglicherweise das mehrfach erwähnte „Kämmerchen“ innerhalb der Prophetenkammer. Die Beschreibung „up der trappen“ wäre folglich nicht als Beschreibung einer Treppe innerhalb des Raumes, sondern stattdessen als Lokalisierung der Prophetenkammer im Obergeschoss zu verstehen. Für diese Lesart spricht, dass Innentreppen zu dieser Zeit noch nicht mit repräsentativen Funktionen belegt waren und sich für das Kölner Rathaus zudem nur Wendeltreppen nachweisen lassen. Diese Zugangssituation zum Ratssaal dürfte seit der Fertigstellung des Ratsturms um 1414 bestanden haben, da kein anderer Zugang als eben diese Tür zur Prophetenkammer bekannt ist. Um 1440 wurden nach der neuen Datierung die Prophetenskulpturen geschaffen, vermutlich im Kontext der Festschreibung der Statuten von 1437. Als sie in der nach ihnen benannten Kammer aufgestellt wurden, war dieser Raum also bereits gut zwei Jahrzehnte im Gefüge des Rathauses in Benutzung. Ihre Anbringung dort ließe sich gut auf Säulen vor den Wänden vorstellen, zum Beispiel zwischen den Fenstern der Westwand und eventuell auch vor den Stützen der an der Nordwand vermuteten Empore für den Übergang zur Ratskammer. Eine Verteilung der großformatigen Skulpturen im Raum erscheint schon durch dessen geringe Größe geboten (Triers Vorschlag einer Gruppierung der acht Figuren seitlich des Portals zur Ratskammer lässt sich daher dagegen schon aus Platzgründen kaum vorstellen, Abb. 6). Eine derartige Anbringung macht umso mehr nachvollziehbar, dass für den Ort ihrer Aufstellung zeitnah die Bezeichnung camera prophetarum gebräuchlich wurde: Die großformatigen, qualitätvoll ausgeführten und allseitig sorgsam schnitzerisch und fassmalerisch behandelten Eichenholzfiguren prägten mit ihren strahlend weißen Mänteln und goldenen Haartrachten sicherlich den Raum und entsprachen seiner zentralen repräsentativen Bedeutung. Ob die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts zu belegende Funktion der Prophetenkammer im Zeremoniell des Rates, etwa beim Empfang von Gästen, bereits vor dem Einzug der Skulpturen bestand, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ist jedoch sehr wahrscheinlich, da bereits in den 20er Jahren des 15. Jahrhunderts offizielle Amtshandlungen für den Raum „in domo consulatus ante cameram consilii“ nachweisbar sind.105 Diese Aufstellung der Skulpturen dürfte seit ihrer ursprünglichen Anbringung über einen langen Zeitraum unverändert geblieben sein, zumindest noch bis

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zu der Zeit um 1600, als die entstehungszeitliche Beschreibung der Propheten in der Prophetenkammer erneut mehrfach kopiert wurde. Mit der durch die Quellen – sowohl durch den Gesandtenbericht als auch durch die Türwärtereide – nachzuweisenden Bedeutung der Prophetenkammer als geschützter Raum der Repräsentation des städtischen Rates mit offiziellem Charakter und bedeutenden Funktionen im Zeremoniell106 dürfte auch die Zielgruppe der Prophetenfiguren anders zu bewerten sein als bisher vorgeschlagen: Weniger die Ratsherren selbst und weitere Bürger der Stadt wie Greven und Schöffen, die hier Zutritt hatten, die die lateinischen Sentenzen aber nicht unbedingt hätten lesen können,107 waren die Adressaten der „weisen Mahner“, sondern eher ein Publikum wie der königliche Gesandte Vogel, der das Rathaus im Kontext zeremonieller Handlungen aufsuchte. Für solche und vergleichbare Rezipienten beziehungsweise Rezeptionssituationen wurde die Prophetenkammer mit den Figuren ausgestattet, die die betreffenden Handlungen gleichsam „rahmten“.108 Die einleitend diskutierte „Verschränkung von Kunst und Lebenswelt“ wird folglich in Bezug auf die mittelalterliche Funktion der Propheten zweifellos zu einem zentralen Faktor: Die Kunstwerke waren in ihrer Gestaltung und Ikonografie untrennbar verbunden mit dem räumlichen und situativen Kontext, für den sie geschaffen wurden, sie ermöglichten es den Ratsherren, sich performativ als Nachfolger der Propheten und gute Regierungsführer zu inszenieren und ihre Handlungen im Zuge dessen symbolisch zu autorisieren und zu legitimieren. Es scheint also, als sei der aktuelle Wunsch, die Prophetenskulpturen wieder möglichst nah an die Amtsgeschäfte des Kölner Rates heranzuholen – wenn auch nur in Form von Repliken und mit anders gewichteten Bedeutungszuschreibungen – gar nicht so weit von der historischen Zielsetzung des mittelalterlichen Rates entfernt. Dass nach den oben aufgeführten Erkenntnissen nun umso mehr, sowohl aus kunsthistorischer als auch aus denkmalpflegerischer Perspektive, die Anbringung der Kopien im Hansasaal intensiv diskutiert werden sollte – ähnlich wie es bereits Geis bezüglich der dortigen Aufstellung der Originale einforderte109 – ist ein weiteres Resultat unserer Überlegungen.

A nmerkungen 1 | Zappa, Frank/Occhiogrosso, Peter: The Real Frank Zappa Book, New York 1989, S. 140 [Hervorhebungen im Original]. 2 | Wiener, Jürgen: „Natur als Skulpturenrahmen, Skulptur als Naturrahmen, Rahmen als Naturskulptur. Rahmenphänomene in der Gartenplastik und das Labyrinth von Versailles“, in:

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Astrid Lang und Iris Metje Hans Körner/Karl Möseneder (Hg.), Rahmen. Zwischen innen und außen – Beiträge zur Theorie und Geschichte, Berlin 2010, S. 131–168, hier S. 131. 3 | Simmel, Georg: „Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch“, in: Rüdiger Kramme u. a. (Hg.): Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen, Frankfurt a. M. 1995, S. 101, vgl. auch Wiener 2010, S. 131 und Anm. 1. 4 | Wiener 2010, S. 131 f. 5 | Zappa/Occhiogrosso 1989, S. 140. 6 | Wiener 2010, S. 132. 7 | Ebd., S. 135. 8 | Ebd., S. 133. 9 | Vgl. die Berichte in der regionalen Tagespresse, zum Beispiel im Kölner Stadtanzeiger, der Kölner Rundschau, der WZ vom 13.12., im Kölner Wochenspiegel vom 19.12.2018. 10 | So bilden die Repliken auch den heutigen Oberflächenzustand der Originale detailliert nach, der aber gerade nicht ihre mittelalterliche Erscheinung widerspiegelt, sondern aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Ebenen von Polychromie, deren Alterung, Überarbeitungen, Freilegungen und Überzügen aus nahezu 600 Jahren resultiert, s. dazu auch unten. 11 | Wiener 2010, S. 160. 12 | 2013 bis 2014 erfolgte eine umfassende kunsttechnologische Untersuchung der Skulpturen durch Sarah Grimberg. Die Ergebnisse wurden zusammenfassend publiziert, Grimberg, Sarah: „Die mittelalterlichen Kölner Rathauspropheten. Vergleichende kunsttechnologische Untersuchungen des farbig gefassten Skulpturenensembles“, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 30.2016, Heft 1, S. 83–108. Der vollständige Untersuchungsbericht in Form einer Masterarbeit befindet sich im Archiv des Museum Schnütgen, Grimberg, Sarah: Die mittelalterlichen Kölner Rathauspropheten. Vergleichende kunsttechnologische Untersuchungen des farbig gefassten Skulpturenensembles, unveröffentlichte Masterarbeit, Köln 2014. 13 | Vgl. Stein, Walther (Hg.): Akten zur Geschichte der Verfassung und der Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert, Bd. 1 (= Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 10), Bonn 1893, S. 716–723, hier S. 718. Stein ediert hier die erste Erwähnung der Prophetenfiguren aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die die Sprüche in lateinischer Sprache auflistet und mit deutschen Erläuterungen versieht. Übersetzungen nach Max Plassmann: 1. Zuerst suchet das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit. – 2. Der Anfang der Weisheit ist die Gottesfurcht. – 3. Es gebührt sich, Beschlüsse schnell auszuführen, aber langsam zu beraten. – 4. Das gemeine Beste ist dem persönlichen immer vorzuziehen. – 5. Die es [das Gesetz] abzuschaffen wünschen, überwindet die Unversehrtheit der Gerichtsverhandlung/Klage. – 6. Es ist billig, dass ein Meister des Todschlages durch sein eigenes Handwerk umkommt. – 7. Vertraulichkeit herrsche im Rat, und er sei geschützt durch heilbringendes Schweigen. – 8. Wer für die Allgemeinheit stirbt, soll ewig leben. Zit. nach: Woelk, Moritz/

Die Propheten und ihre „Kammer“ Beer, Manuela: Museum Schnütgen. Handbuch zur Sammlung, München 2018, Kat.-Nr. 156, S. 240 f., hier S. 241. Zu den Sprüchen, ihren Quellen und Bedeutungen vgl. auch Plassmann, Max: „Zur Funktion der Prophetenkammer im Kölner Rathaus“, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 77.2013, Heft 1, S. 59–72, hier S. 61. 14 | Vgl. hierzu Metje, Iris: „Acht Propheten aus dem Kölner Rathaus“, in: Manuela Beer/Iris Metje (Hg.), Unter der Lupe. Ausst.-Kat. Museum Schnütgen, Köln 2018, S. 40–49. 15 | Zu Abbildungen der verschiedenen Fassungsrekonstruktionen von Grimberg vgl. Metje 2018. 16 | Bei Prophet Nr. 2 – nach der von Trier vorgeschlagenen, an der oben zitierten schriftlichen Überlieferung der Prophetensprüche orientierten Reihenfolge – ist die Neufassung des frühen 17. Jahrhunderts weitgehend erhalten. Diese Fassung zeigte ebenfalls schmückende Metallfolienapplikationen. 17 | Trier, Eduard: Die Propheten des Kölner Rathauses. Unveröffentlichte Dissertation, Bonn 1952. Ergebnisse seiner Dissertation publizierte Trier in zwei Teilen im Wallraf-Richartz-Jahrbuch: ders.: „Die Prophetenfiguren des Kölner Rathauses“, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 15.1953, S. 79–102; ders.: „Die Prophetenfiguren des Kölner Rathauses II. Ein Beitrag zur Profan-Ikonographie des Mittelalters“, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 19.1957, S. 193–224. 18 | Die Bezeichnung der Kölner Figuren als Propheten ist mittelalterlich, nachzuweisen in der Erstnennung der camera prophetarum 1448, Historisches Archiv der Stadt Köln (HAStK), Best. 55: Actus et Processus, 2, fol. 252 r. Es handelt sich allerdings nicht um namentlich zu benennende alttestamentarische Propheten, sondern allgemeiner um Autoritäten, vgl. Altensleben, Stephan: „Politische Ethik im späten Mittelalter: Kurfürstenreime, Autoritätensprüche und Stadtregimentslehren im Kölner Rathaus“, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 64.2003, S. 125–185, hier S. 167. 19 | Als Ausgangspunkt galten ihm die gemeinhin um 1360/70 datierten Wandmalereien von der Nordwand im Hansasaal. Zu den wenigen erhaltenen Fragmenten, heute im Wallraf-Richartz-Museum, zählen die Köpfe von vier bärtigen Gestalten mit Spruchbändern, in denen Trier die ältesten nordalpinen Prophetenbilder in einem Rathaus sah. Zu Ikonografie und verwandten Darstellungen in Rathäusern u. a. in Brüssel, Brügge, Bremen, Erfurt und Lübeck vgl. Trier 1957, besonders auch S. 211–218. Zu den Freskenfragmenten, ihrer Deutung im Kontext des Gesamtprogramms des Hansasaals und einer abweichenden Datierung der Malereien um 1396 siehe Altensleben 2003, bes. S. 127–130. 20 | Stilistisch, im Typus und auch ikonografisch, vgl. Trier 1957, S. 199. 21 | Beide Werke entstanden nach Triers Datierungsvorschlägen nach den Rathauspropheten. Eine abgelaugte Eichenholzmadonna in der Sammlung des Museum Schnütgen (um 1430, Inv.-Nr. A 841; Karrenbrock, Reinhard: Die Holzskulpturen des Mittelalters II, 1, 1400 bis 1540. Teil 1: Köln, Westfalen, Norddeutschland (= Sammlungen des Museum Schnütgen, Bd. 5), Köln 2001, Kat.-Nr. 5, S. 150–155) sah er zudem in der Nachfolge dieser Gruppe, vgl. Trier 1953, S. 94 f., Abb. S. 89, 91.

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Astrid Lang und Iris Metje 22 | Wichtigstes Vergleichsbeispiel waren ihm hierfür die steinernen Propheten vom Portal des Brüsseler Rathauses, vgl. Trier 1953, S. 95–98. 23 | Siehe vor allem Dieckhoff, Reiner: „Acht Propheten aus der ehemaligen Prophetenkammer des Rathauses“, in: Werner Schäfke (Hg.), Der Name der Freiheit 1288–1988. Aspekte Kölner Geschichte von Worringen bis heute, Ausst.-Kat. Kölnisches Stadtmuseum, Köln 1988, Kat.-Nr. 5.19.a–h, S. 411–414; ders.: „Die Engelskapelle und die Marienkapelle in der Kölner Kartause“, in: Werner Schäfke (Hg.), Die Kölner Kartause um 1500. Eine Reise in unsere Vergangenheit, Ausst.-Kat. Kölnisches Stadtmuseum, 2 Bde., Köln 1991, S. 426–477; Surmann, Ulrike: „Vom städtischen Umgang mit Bildern. Die Bildprogramme des Kölner Rathauses“, in: Hiltrud Kier/Bernd Ernsting/Ulrich Krings (Hg.), Köln: Der Ratsturm. Seine Geschichte und sein Figurenprogramm (= Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 21), Köln 1996, S. 166–201; Geis, Walter: „Die Propheten als Rechtssymbole“, in: Walter Geis/Ulrich Krings (Hg.), Köln: Das gotische Rathaus und seine historische Umgebung (= Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 26), Köln 2000, S. 439–458 ; Westermann-Angerhausen, Hiltrud: „Die acht Propheten des Kölner Rathauses“, in: Ivo Rauch/Dagmar Täube/Hiltrud Westermann-Angerhausen (Hg.), Die gute Regierung. Vorbilder der Politik im Mittelalter, Begleitheft zur Ausstellung im Schnütgen-Museum Köln, Köln 2000, Kat.-Nr. 3, S. 16 f.; Karrenbrock 2001, S. 11, 153 f.; Hensolt, Thomas: „Acht Propheten aus dem Kölner Rathaus“, in: Dagmar Täube/Miriam Verena Fleck (Hg.), Glanz und Größe des Mittelalters. Kölner Meisterwerke aus den großen Sammlungen der Welt, Ausst.-Kat. Museum Schnütgen Köln, München 2011, Kat.-Nr. 114–121, S. 364 f. 24 | Dieckhoff 1991, S. 460; zur Begriffsverwendung siehe ebd. mit Anm. 146. 25 | Ebd., S. 460 f. 26 | Zu diesen Skulpturen siehe Nash, Susie: „No equal in any land“. André Beauneveu – Artist to the Courts of France and Flanders, London 2007, S. 149–154. 27 | Surmann 1996, S. 186. Zum Typar vgl. Täube/Fleck 2011, Kat.-Nr. 51, S. 297–299. 28 | Nach seiner Analyse der Inschriften datierte Altensleben auch die Wandmalereien im Hansasaal in die Zeit des Verbundbriefs von 1396. Für die Sprüche der Prophetenfiguren ging er davon aus, dass sich diese nicht nur auf den Verbundbrief beziehen, sondern teilweise auf Justizfälle aus den Jahren 1397/98 reagieren, Altensleben 2003, S. 170 f., zu den Skulpturen insgesamt S. 167–171. 29 | Geis vergleicht Haltung und Gewanddrapierungen der Propheten mit Figuren vom Portal des Turms. Geis 2000, S. 440. 30 | Grimberg 2016, S. 90. 31 | Siehe auch Grimberg 2016, S. 96. Zu den Statuten vgl. Heppekausen, Ulf: Die Kölner Statuten von 1437. Ursachen, Ausgestaltung, Wirkung (= Rechtsgeschichtliche Schriften, Bd. 12), Köln/Weimar/Wien 1999. 32 | Stein 1893, S. 716–723, hier S. 717.

Die Propheten und ihre „Kammer“ 33 | Nach ihrer Präsentation in der Ausstellung Glanz und Größe des Mittelalters. Kölner Meisterwerke aus den großen Sammlungen der Welt (November 2011–Februar 2012) im Museum Schnütgen verblieben die Propheten aus konservatorischen Gründen als Leihgabe in der Sammlung. 34 | Geis 2000, S. 439, S. 445–456. Geis kritisiert daher auch die Aufstellung der Figuren im Hansasaal, die seiner Meinung nach ihrer „Bedeutung als Denkmale der zukünftigen Verfassung und ihres ursprünglichen räumlichen Zusammenhangs […] nicht gerecht“ würden. Geis 2000, S. 455 f. 35 | HAStK Best. 55: Actus et Processus, A2, fol. 252 r. Der Bericht ist auf den 30. Oktober 1448 datiert. 36 | Altensleben vermutete, dass die Skulpturen zuerst im großen Saal im Erdgeschoss des Saalbaus aufgestellt waren, vgl. Altensleben 2003, S. 167–171. Geis nahm sie zunächst in der Ratskammer an, vgl. Geis 2000, S. 450; so auch Westermann-Angerhausen 2000, S. 17. Trier ging von einer ursprünglichen Aufstellung in der Prophetenkammer am Portal zur Ratskammer aus. Trier 1957, S. 202. 37 | Plassmann 2013, S. 66. 38 | Plassmann stellt klar, dass das Wort „Kammer“ zeitgenössisch nicht wie heute einen kleinen Raum bezeichnete, sondern eine Finanzverwaltung und im erweiterten Sinne auch den Sitz einer amtlichen Einrichtung. Vgl. hierzu Plassmann 2013, S. 65 f. und Anm. 33. 39 | Eine ausführliche und hervorragend belegte Abhandlung über die Baugeschichte des Rathauses liefert Bellot, Christoph: „Zur Geschichte und Baugeschichte des Kölner Rathauses bis ins ausgehende 14. Jahrhundert“, in: Geis/Krings 2000, S. 197–336. Zu den An- und Umbauten folgender Jahrhunderte vgl. die weiteren Beiträge des Sammelbandes sowie Kier/ Ernsting/Krings 1996; Kirgus, Isabelle: Die Rathauslaube in Köln (1569–1573). Architektur und Antikerezeption, Bonn 2003; Fuchs, Peter: Das Rathaus zu Köln. Berichte und Bilder vom Haus der Bürger in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 1973. 40 | Nußbaum, Norbert/Hagendorf-Nußbaum, Lucia: „Der Hansasaal“, in: Geis/Krings 2000, S. 337–386, hier S. 342. 41 | Ennen, Leonard: „Das kölner Rathhaus", in: Organ für christliche Kunst 14.1864, S. 245 f. 42 | Kier, Hiltrud: „Das Rathaus zu Köln“, in: Kier/Ernsting/Krings 1996, S. 40–69, hier S. 46. Kier bringt den Bau in Zusammenhang mit der endgültigen Vertreibung der Juden 1424, jedoch ohne weitere Erläuterung. 43 | Plassmann 2013, S. 66. Plassmann zitiert eine Urkunde vom 19. November 1421, die den Verzicht eines Vikars an St. Gereon auf eine Kapelle „in domo consulatus ante cameram consilii“ dokumentiert (Anm. 35). Plassmann bemerkt zutreffend: „Falls mit der Bezeichnung ,vor der Ratskammer‘ der später als Prophetenkammer bezeichnete Raum gemeint gewesen sein sollte, so wäre sein Bau […] entsprechend vorzudatieren.“

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Astrid Lang und Iris Metje 44 | Ebd., S. 71. 45 | Vgl. ebd., S. 69–72. 46 | Vgl. ebd., S. 68 f. 47 | Keussen, Hermann: Topographie der Stadt Köln im Mittelalter, 2 Bde. (= Preis-Schriften der Mevissen-Stiftung, Bd. 2), Bd. 1, Bonn 1910, S. 144. 48 | Plassmann 2013, S. 68 f. besonders S. 69 mit Anm. 49–51. 49 | Der komplette Passus ist überschrieben mit „Eid der Thürwärter. Juramentum janitorum“. Vgl. Stein 1893, S. 349 f. 50 | Siehe hierzu auch Plassmann 2013, S. 67. 51 | Stein 1893, S. 446 f., [c. 1475]: Drittes Eidbuch des 15. Jahrhunderts, AIV5, fol. 53, Nachträge. 52 | Ebd. 53 | Plassmann datiert diese Situation erst ins 17. Jahrhundert. Plassmann 2013, S. 71. Der Passus aus den Türwärtereiden, auf den er sich bezieht, ist jedoch eine Abschrift des o. g. Eides um 1475. 54 | Vgl. Anm. 35 im vorliegenden Text. 55 | Zur Frage nach der Datierung des Durchbruchs zwischen dem sogenannten Hansasaal im Obergeschoss des Saalbaus und der Prophetenkammer vgl. Lang, Astrid: „Die Baumaßnahmen am Kölner Rathaus 1597–1617: Tür, Portal und Tor als Grenzorte und Kommunikationsräume“, in: INSITU 5/2.2013, S. 175–199, hier S. 189–195. 56 | Vgl. hierzu auch Plassmann 2013, S. 67–69, besonders S. 67: „In den vertraulichen Schutzbereich des Rates war somit auch die Prophetenkammer ausdrücklich einbezogen, und zwar noch jenseits einer allgemeinen Zugangskontrolle zum Rathaus. Die Prophetenkammer wurde so als eine Erweiterung der Ratskammer etabliert“. 57 | „[D]omum consulatus civitatis Col. ascendimus et intravimus; ascendendo gradus ante auream cameram et parvam cameram dicte auree camere contiguam; camera prophetarum.” Keussen 1910, S. 144. 58 | Für die Transkription und Übersetzung sowie zahlreiche äußerst hilfreiche Hinweise bedanken wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bei Alexander Sembdner (Leipzig). Für die kollegiale Unterstützung bei der Entschlüsselung der Quelle bedanken wir uns ebenfalls bei Patricia Strohmaier und Andrea von Hülsen-Esch sowie bei Jürgen Wiener – der nicht wusste, dass er an seiner eigenen Schrift arbeitete. 59 | „Nos itaque notarii publici infrascripti ut filii obediencie ac serenissimi et invictissimi principis et domini domini (!) nostri dominum Romanorum regis antedicti ac imperiali auctoritate notarii iurati cum dicto Ulrico Vogell nuntio quacum testibus infrascriptis dictam domum consulatus civitatis Coloniensis ad eius requisitorum ut preferetur ascendimus et initiavimus. Quo facto ad statim supervenit honorabilis et discretus vir, dominus Johannis Schymmelpennick pro tempore magistri civium dicte alme civitatis Coloniensis supra dictam domum consulatus ascendendo gradus ante auream cameram et parvam cameram dicte

Die Propheten und ihre „Kammer“ auree camere contiguam. Cui dictus Ulricus nuntius prefatas duas litteras dare obtulit et paratum se assignavere prebuit dicens hec verba vel eis similia in effectu: ‚Erwirdige lieve herre, Ich komen van unsem alre gnedigsten herren des roemschen konings genaden, und bin zo uch irsant mit desen brieven, uch die zo geven, und zo kuenen(?) und dat ir die vort dem raide sult hantricken und geven.‘ Quo audito prefatus dominus Johannes [232r] burgermeister respondit et dixit prefato Ulrico nuntio hec verba vel eis similia in effectum: ‚Halt die brieve and beyde imme. Ich wilt an unse hern brengen und yn dat sagen.‘ Quo facto post hoc quasi per midiam horam supervenit dictus Gracht(?) Wollffbach servitor seu familiaris camere prophetarum dictorum dominorum consulatus memorate civitatis Coloniensis et vocavit dictum Ulricum nuntium cum dictis duabus litteris intrare [eingefügter Nachtrag, unleserlich] cameram prophetarum eorundem dominorum consulatus prefatis et intravit statim, post modicum tempore venit dictus Ulricus nuntius de dicta cameram prophetarum consulatus prefatis asserens nobis notariis et testibus infrascriptis qualiter ipsem eisdem litteras infrascriptas dicto domino Johanni magistro civium ad manus suas porrexit tradidit et realitur cum effectum assignavit. Quasquidem litteras subscriptas prefatus dominus Johannes Burgermeister cum ea reverencia qua decuit ad se recepit et illas memoratis dominis de consilio dicte civitatis Coloniensis praesentare se velle dixit. Super quibus omnibus et singulis prefatus Ulricus nuntius petiit a nobis notariis publicis infrascriptis et a quolibet in solidem sibi fieri unam vel plura instrumenta tot quot sibi nuntia fuerint et oportuna in meliori forma acta fuerunt hec Colonie. Sub anno domini indictione mense die hora loco et regno quibus super presentibus ibidem honestus et discretis viris domino Arnoldo de Drochhage pastor in Langel(?), Johanne de Aquis et Wilhelmo de Aldenkirchen studentibus alme universitatis studii Coloniensis clericis Leodiensis civitatis et diocesis testibus fidedignis ad premissa vocatis specialiter et rogatis. Tenor vero dictarum litterarum de quibus super sic mentio et presentum prime littere sequitur et est talis.” Transkription: Alexander Sembdner. 60 | Ms. 75 a, Chron. und Darst., fol. 24 b; Cronica der heiliger statt Coellen, Ms. um 1600, Chron. und Darst. 32, fol. 265, beide im Historischen Archiv der Stadt Köln, so bei Trier 1957, S. 196, Anm. 18. 61 | HAStK Best. 7030 (Chroniken und Darstellungen) 32 (Koelhoffsche Chronik), fol. 254 r. Zit. nach: Trier 1957, S. 201. 62 | Trier 1957, S. 201 f. Bei Vogts fehlt eine Datierung der Quelle, Vogts, Hans: Die profanen Denkmäler (= Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln, Bd. 2, Abteilung 4), Düsseldorf 1930, S. 227. Trier hatte bemängelt, dass so der Eindruck entstanden sein, dass die Skulpturen seit ihrer Entstehung „ursprünglich schon auf den Treppenpfosten, also freiplastisch, gestanden haben.“ Trier 1957, S. 201. 63 | Dieckhoff 1988, S. 412. 64 | Geis 2000, S. 451. 65 | Plassmann 2013, S. 65.

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Astrid Lang und Iris Metje 66 | Isphording, Otto: Zur Kölner Plastik des XV. Jahrhunderts. Unveröffentlichte Dissertation, Bonn 1912, S. 86. Vielleicht bezog sich auch Vogts auf diese Version, die Trier anscheinend nicht bekannt war. 67 | Im Anschluss werden die lateinischen Sprüche aufgezählt und erläutert, vgl. Stein 1893, S. 718. 68 | Die Beispiele, die Geis in diesem Kontext für „repräsentative Treppen mit Figurenschmuck“ nennt, stammen frühestens aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, darüber hinaus handelt es sich bei allen Vergleichsobjekten um Einzelfiguren oder maximal Figurenpaare wie Mars und Neptun vor dem Palazzo Ducale in Venedig (1554–1567) oder Iustitia und Pax im Lüneburger Rathaus (um 1600). Vgl. Geis 2000, S. 451. 69 | Plassmann 2013, S. 64 und Anm. 28. 70 | Grimberg 2016, S. 98. Bereits Isphording schlug eine solche Aufstellung vor: „Die Figuren sind vollrund gearbeitet, wahrscheinlich waren sie in der alten Aufstellung von allen Seiten sichtbar.“ Isphording 1912, S. 86. 71 | In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass sich einzeln applizierte Verzierungen aus Metallfolie teilweise auch auf den Rückseiten der Figuren nachweisen ließen. Diese Schmuckmuster in Form von Pressbrokat und vergoldeter Zinnfolie gehörten zwar nicht zur entstehungszeitlichen Oberflächengestaltung der Skulpturen, wurden jedoch bei Überarbeitungen im 16. und 17. Jahrhundert aufgebracht und zeugen von fortgesetzt rundherum gleich aufwendigen Bearbeitungen der Figuren. 72 | Auf diese Art sind die Propheten auch heute auf ihren Sockeln in der Dauerausstellung im Museum Schnütgen vor dem Herunterkippen gesichert. Zur Herstellung der Figuren waren die Bohrungen nicht notwendig, weitere Spuren an den Unterseiten belegen eingeschlagene Krampen zum Einspannen in der Werkbank. Grimberg 2016, S. 89. 73 | Als spätes Beispiel großformatiger mittelalterlicher Holzskulptur seien die in der Vorderansicht überaus plastisch wirkenden Heiligen Drei Könige des Meisters Tilman (um 1500– 1505) genannt, die, rückseitig ausgehöhlt, ursprünglich in einem Altarschrein aufgestellt waren, vgl. Karrenbrock 2001, Kat.-Nr. 39–41, S. 256–270. 74 | Auch die gemalten Figuren an der Nordwand des Hansasaals, für Trier zentrale Vorbilder für die späteren Holzskulpturen, waren in eine flache Maßwerkgliederung der Wand eingefügt. Vgl. die Rekonstruktionszeichnung aus den 1920er Jahren in Rauch/Täube/Westermann-Angerhausen 2000, S. 14. 75 | Eine Fotografie von 1867 zeigt den Zustand vor den Renovierungsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts, siehe Kier/Ernsting/Krings 1996, S. 128, Abb. 147a. 76 | „[F]ür eine ursprüngliche Platzierung unter Baldachinen – wie sie dem gängigen Aufstellungsprinzip der gotischen Pfeilerfigur entspräche – sind keine Hinweise vorhanden.“ Regenberg, Günter: „Die Verkündigungsgruppe in St. Kunibert zu Köln“, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 61.2000, S. 41–68, hier S. 41.

Die Propheten und ihre „Kammer“ 77 | Dies gilt beispielsweise für die Propheten 1 (vgl. hier Abb. 2) und 3 (nach der bei Trier festgelegten Nummerierung), die zudem von besonderer und vergleichbarer bildschnitzerischer Qualität innerhalb der Gruppe sind. Bei diesen Figuren sind auch die Faltentiefen auf den Rückseiten stärker ausgeprägt als bei den übrigen Propheten. 78 | Dies bemerkten bereits Surmann 1996, S. 182; Geis 2000, S. 450; Westermann-Angerhausen 2000, S. 17. 79 | Dieckhoff 1991, S. 460 f. mit Abb. 186, 187. 80 | Nash betont die Besonderheit dieser rückseitigen Ausführung als Indiz für eine Aufstellung „within an architectural structure like a screen, that would allow them to be seen, or at least glimpsed, in the round“. Nash 2007, S. 152. Eine freie Aufstellung nimmt sie nicht an. 81 | Zur Madonna und ihren stilistischen Voraussetzungen vgl. Woelk, Woelk/Beer 2018, Kat.Nr. 155, S. 238 f. 82 | Dieckhoff 1991, S. 456 f. 83 | Die „,wie in Stein gedachten‘ acht Prophetenfiguren“, ebd., S. 460. „Obwohl sie aus Holz geschnitzt sind, erinnern ihre sanft geschwungenen Körper eher an die Steinskulptur der ersten Hälfte des 15. Jhs.“, Hensolt 2011, S. 364. 84 | Siehe hierzu auch Anm. 21 im vorliegenden Text. 85 | Karrenbrock 2001, S. 151, mit Abb. der Figur im Profil S. 153 f. 86 | Ob diese großformatige und rundum gefasste Holzfigur tatsächlich an einem Stadttor aufgestellt war, ist fraglich; eine Aufstellung mindestens im Kontext einer Rückwand oder eines Pfeilers wird jedoch anzunehmen sein. Zu den genannten Skulpturen vgl. Woelk/Beer 2018, Kat.-Nr. 116, S. 182, beziehungsweise Kat.-Nr. 139, S. 214. 87 | Vgl. auch Evers, Hans-Gerhard: „Die acht Seiten der spätgotischen Skulptur“, in: Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth (Hg.), Variae formae veritas una. Festschrift für Friedrich Gerke, Baden-Baden 1962, S. 149–162, hier S. 149, auch mit weiteren vollplastischen Beispielen für architekturgebundene Skulptur der Spätgotik wie die Madonna des Erasmus Grasser, um 1480, im Bayerischen Nationalmuseum, hier S. 158–161; Paatz, Walter: Von den Gattungen und vom Sinn der gotischen Rundfigur, Heidelberg 1951. 88 | Treppentürme waren in Köln auch an bürgerlichen Häusern verbreitet, Mielke betont ihre Bedeutung als „Symbol eines Geltungsanspruches“. Das älteste bekannte Exemplar datiert 1481 bis 1509 (Haus Lichhof 14), vgl. Mielke, Friedrich: Die Geschichte der deutschen Treppen, Berlin/München 1966, S. 78 f. 89 | Bellot 2000, S. 251, 270 f.; Hagendorf-Nußbaum/Nußbaum 2000, S. 354. 90 | Hagendorf-Nußbaum/Nußbaum 2000, S. 369, Abb. 322. 91 | Vgl. ebd., S. 378, Anm. 15. 92 | Dies bringen auch Hagendorf-Nußbaum/Nußbaum in Zusammenhang. Ebd., S. 378, Anm. 15. 93 | 1494. Ebd., S. 342 mit Anm. 15.

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Astrid Lang und Iris Metje 94 | Vgl. hierzu Mielke 1966 und Mielke, Friedrich: Treppen der Gotik und Renaissance (= Scalalogia. Schriften zur internationalen Treppenforschung, Bd. 9), Fulda 1999. 95 | Zu der Diskussion um Entwurf und Bau der Treppe 1571 vgl. Kirgus 2003, S. 111 f. und Appendix I, Nr. 50–54. Die Ausgestaltung der Treppe scheint dem Rat besonders wichtig gewesen zu sein, da sie während des Baus erneut verhandelt wird. 96 | Wir bedanken uns an dieser Stelle ganz besonders herzlich bei unseren Kolleginnen Katrin auf der Lake und Nina Scheibel, die uns bezüglich der frühneuhochdeutschen Übersetzung intensiv unterstützt und beraten haben. 97 | Im gerichtlichen Verzeichnis der freien Stühle der Freigrafschaft von Soest (1505) befindet sich ein Freistuhl „up der trappen vor dem Rhathuyse“, vgl. Wigand, Paul: Das Femgericht Westfalens, aus den Quellen dargestellt, und mit noch ungedruckten Urkunden erläutert, Hamm 1825, S. 62; Hermann von Weinsberg schreibt 1582 in seinen Kölner Denkwürdigkeiten über den verstorbenen Discantsmeister in der Hardenrath-Kapelle zu St. Maria im Kapitol: „War auch des stiftz organist gewesen, hat die freihe wonong uff der trappen bei s. marien, wilche haus zu der Hardenraitz capllen gehoirt.“ Zit. nach: Lau, Friedrich (Hg.): Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, Bd. 3 (= Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 16/3), Bonn 1897, S. 148. 98 | Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, „stiege“, Bedeutung 2: „Geschoß, Stockwerk (entsprechend der Höhe einer Treppe)“, http://fwb-online.de/go/stiege.h1.1f_1545617895 [30.04.2019]. 99 | HAStK Best. 7030 (Chroniken und Darstellungen) 32 (Koelhoffsche Chronik), fol. 254 r. Zit. nach: Trier 1957, S. 201. 100 | Reynaud nimmt an, dass Fouquet hier allgemeiner eine zeittypische Sainte-Chapelle-Architektur und -Ausstattung dargestellt hat, die von der Kirche in Bourges inspiriert war, diese aber nicht direkt wiedergibt. Reynaud, Nicole: Jean Fouquet. Les Heures d‘Étienne Chevalier, Dijon 2006, S. 59. Die Sainte-Chapelle wurde im 18. Jahrhundert abgebrochen; neben Beschreibungen existieren ein Modell aus der Zeit kurz nach dem Abbruch und eine Rekonstruktion des Inneren von Paul Gauchery vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Vgl. Wessel, Ruth: Die Sainte-Chapelle in Frankreich. Genese, Funktion und Wandel eines sakralen Raumtyps. Unveröffentlichte Dissertation, Düsseldorf 2003, S. 135–146. 101 | Prophet A, vgl. Nash 2007, S. 150. 102 | Vgl. Wessel 2003, S. 140, Abb. 60. Nash verweist weder auf die Miniatur von Fouquet noch auf die Rekonstruktionszeichnung. Sie hält den Aufstellungskontext der Skulpturen an der Sainte-Chapelle für unbekannt und eine Positionierung am Außenbau ebenfalls für möglich. Nash 2007, S. 149, 152. 103 | Die Befestigung an der Wand wäre dann über die den Skulpturen untergeordneten Stützen erfolgt. Zur Einheitlichkeit der Materialien von Skulpturen und der sie umgebenden Architektur vgl. auch Geis 2000, S. 450.

Die Propheten und ihre „Kammer“ 104 | Eine solche Treppe – mit geradem Lauf – ist in dem Raum erst für das 18. Jahrhundert nachweisbar. 105 | Vgl. Anm. 43 im vorliegenden Text. 106 | Auch an dieser Stelle bedanken wir uns nochmals ganz herzlich bei Alexander Sembdner für seine hilfreichen Anmerkungen. 107 | Plassmann 2013, S. 62. 108 | Vgl. hierzu Wiener 2010, S. 133 f., der in Bezug auf die Gartenskulptur feststellt: „Andererseits sind linear aufgestellte Statuenreihen in Gärten von Anfang an, d. h. seit den Hermenserien in der Villa Cesi in Rom oder im Schloß Gaillon, selbst mehr Rahmen, als daß Rahmen auf sie als Bildwerke bezogen wären. […] Zugleich kann der Rahmen den Handlungsort eines Gartens abstecken für ein Fest, ein Theater, eine Oper, einen Kunstgenießer. Dann sind auch die Benutzer die gerahmten und als solche in der Kunst.“ 109 | Geis 2000, S. 455 f.

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Dem Licht entgegen Anmerkungen zum spätgotischen Hallenumgangschor Michael Overdick Die Münchner Frauenkirche gehört zweifellos zu den monumentalsten und markantesten Bauwerken der Spätgotik. Errichtet wurde sie in den Jahren 1468 bis 1522 nach Plänen von Jörg von Halspach.1 Die Gesamtanlage erscheint von lapidarer Einfachheit (Abb. 1): Im Westen eine hoch aufragende Doppelturmanlage, daran anschließend eine dreischiffige Halle mit Umgangschor und einem fortlaufenden Kranz relativ flacher Einsatzkapellen zwischen den Strebepfeilern. Die Abbildung 1: München, Frauenkirche, Grundriss

Aus: München und seine Bauten, hg. vom Bayerischen Architekten- und Ingenieur-Verein, München 1912, S. 65

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Einsatzkapellen sind fast so hoch wie die Seitenschiffe. Im Inneren nimmt man sie von daher nicht als selbständige Raumeinheiten wahr, sondern als nischenartige Erweiterungen des Hauptraumes. Die Rückwände der Kapellen mit ihren langgestreckten Fenstern bilden somit die eigentliche Raumgrenze. Im Osten werden Seitenschiffe und Einsatzkapellen über 5 Seiten eines 10-Ecks um den Chor herumgeführt. Die Wandabschnitte sind hier im Vergleich zu den Längsseiten etwas breiter angelegt, ganz im Sinne einer hierarchischen Differenzierung. In einem offenkundigen Gegensatz zu dem äußeren 5/10-Polygon steht nun die Bildung des Binnenchorschlusses. Dieser Umstand ist an sich nicht weiter überraschend. Die streng radiale Anlage von Chorschluss, Umgang und Kranzkapellen, wie sie von der französischen Kathedralgotik formuliert worden war, hatte im mitteleuropäischen Raum bereits gegen Ende des 14. Jahrhunderts ihre normative Autorität verloren.2 Die Kongruenz zwischen dem inneren und dem äußeren Polygon war zur Disposition gestellt. Und es ist immer wieder von hohem Reiz, den vielfältigen, mitunter irrational anmutenden Lösungen nachzuspüren, die die Baumeister der Spätgotik für die Bauaufgabe Umgangschor entwickelt haben. Im Falle der Münchner Frauenkirche aber stellt sich die Frage, ob überhaupt ein Binnenchorschluss vorhanden ist. Ein solcher scheint ja lediglich angedeutet, und zwar dadurch, dass das östliche Pfeilerpaar leicht zusammengerückt wurde. Dieses Zusammenrücken ist derart zaghaft, dass es zu einer deutlichen Verengung des Chorumgangs kam. Auf keinen Fall lässt sich aus der Positionierung der Pfeiler eine geometrisch eindeutige Polygonfigur ablesen. Wohl eher wird man von einem trapezförmig verzogenen Joch sprechen können. Hinzu kommt noch ein viel wesentlicherer Aspekt. Er wird allzu leicht übersehen, da die in fast allen Publikationen verwendete Grundrisszeichnung in hohem Maße irreführend ist. Gemeint ist die Tatsache, dass zwischen den beiden östlichen Freipfeilern kein Scheidbogen gespannt ist.3 Es gibt also von der Gewölbebildung her tatsächlich keinen Binnenchorschluss. Dafür ist zu beobachten, dass die Folge der Scheidbögen bis zu den Wandpfeilern zu Seiten der Scheitelkapelle verlängert ist. In der Flucht des trapezförmigen Joches folgt somit noch ein zweites, ebenfalls trapezförmig angelegtes Joch. Und mit diesem läuft das Mittelschiff der dreischiffigen Halle durch bis zum Scheitelabschnitt des äußeren Polygons. Kurzum: Der Chor durchdringt mit seinem Abschluss den Chorumgang. Die Funktion des Chorumgangs aber bleibt von dieser Durchdringung unberührt, denn der von Schranken eingefasste liturgische Chor erstreckt sich ja weiterhin nur bis zu den beiden östlichen Freipfeilern. Die Münchner Frauenkirche ist natürlich nicht der einzige und schon gar nicht der erste Bau, bei dem eine derartige Durchdringung von Chor und Chorumgang zu beobachten ist. Parallelen zeigen sich insbesondere zu jenen Bauten, die in der

Dem Licht entgegen

Abbildung 2: Brandenburg/Havel, St. Katharinen, Grundriss

Aus: Nikolaus Zaske: Gotische Backsteinbauten Norddeutschlands, Leipzig 1968, S. 145

Forschung mitunter als ‚reduzierte Hallenumgangschöre‘ bezeichnet werden.4 Ein frühes Beispiel für diesen Typus bietet die 1386–1421 errichtete Benediktinerstiftskirche St. Lambrecht in der Steiermark.5 Im Vergleich zu München fehlt hier das östliche, leicht zusammengerückte Stützenpaar. Das Chormittelschiff wird daher von einem einzigen, langgestreckten Trapezjoch an den mittleren Wandabschnitt des äußeren 5/12-Polygons angeschlossen. Noch einfacher erscheint die Chorschlussbildung der 1427 begonnenen Georgskirche in Nördlingen.6 Die Außenmauern formen hier drei Seiten eines 8-Ecks. Für das Innere bedeutet dies, dass das Chormittelschiff gerade durchläuft und einen flachen Abschluss findet. Die Seitenschiffe wiederum laufen gegen die diagonal ausgerichteten Wandabschnitte. Als Umgangschor mag man diese Lösung kaum noch ansprechen. Fakt ist jedoch, dass der Hochaltar im vorletzten Joch platziert ist und man somit tatsächlich um ihn herum gehen kann. Folgt man Ulrike Gentz, dann wäre auch der Münchner Bau als reduzierter Hallenumgangschor anzusprechen.7 Doch dies erscheint wenig sinnvoll. Schließlich zeigt die Frauenkirche gegenüber einem ‚klassischen‘ Hallenumgangschor ja keine Vereinfachung. Deutlich wird dies etwa im Vergleich mit dem in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts errichteten Chor der Katharinenkirche in Brandenburg an der Havel (Abb. 2).8 Nicht anders als der Münchner Bau, so zeigt auch dieser einen Ostabschluss in Form eines 5-seitigen äußeren Polygons, dem im

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Inneren 4 Freipfeiler gegenübergestellt sind. Allerdings gibt es in Brandenburg tatsächlich einen in Stützenstellung und Gewölbebildung eindeutig formulierten Chorumgang. Der Münchner Grundriss- und Gewölbebildung am nächsten kommt sicherlich die 1429 begonnene Marienkirche im oberlausitzischen Wittichenau.9 Ein unmittelbarer Zusammenhang aber ist auszuschließen. Für das ambitionierteste Kirchenbauprojekt Altbayerns wird man sich sicherlich nicht an der bescheidenen Pfarrkirche einer rund 500 Kilometer entfernten Kleinstadt orientiert haben. Hinzu kommt, dass es sich bei dem Oberlausitzer Bau nicht um eine normale Halle, sondern um eine Staffelhalle handelt. Schließlich sei noch auf eine basilikale Anlage verwiesen: den 1356 begonnenen und gegen 1410 vollendeten Ostchor des Augsburger Domes (Abb. 6).10 Wie im Grundriss immer noch deutlich zu erkennen ist, sollte hier ursprünglich ein Chor nach Maßgabe des voll ausgebildeten französischen Kathedralschemas entstehen. Unmittelbares Vorbild war vermutlich der Kölner Dom. Doch der geplante Binnenchorschluss in Form eines 7/12-Polygons kam nicht zur Ausführung. Stattdessen setzte der Baumeister in der Achse der Scheidarkaden ein weiteres, deutlich nach Osten gerücktes Pfeilerpaar. Und von diesem aus schlug er zwei konvergierende Scheidbögen über den Chorumgang hinweg zu den beiden Rundvorlagen, die die Öffnung der Scheitelkapelle flankieren. Somit entstand auch hier ein in den Chorumgang eingeschobener dreiseitiger Abschluss. Die angeführten Beispiele sind keineswegs als Vertreter eines eindeutig definierbaren Bautypus zu verstehen. Ihnen gemein ist zwar der Umstand, dass Binnenchor und Umgang sich durchdringen, doch letztendlich bedeutet dies ja nichts anderes, als dass wir es – rein funktional betrachtet – mit Varianten des Umgangschores zu tun haben. Und natürlich wäre es falsch anzunehmen, all diese Varianten hätten ihren Ursprung in einem gemeinsamen Vorbild. Vielmehr ist davon auszugehen, dass man an unterschiedlichen Orten unabhängig voneinander zu vergleichbaren Lösungen gelangte. Darüber hinaus offenbart sich bei näherer Betrachtung ein breites Spektrum an typologischen Bezügen und möglichen Herleitungen. Für St. Lambrecht etwa hat man auf die dreischiffigen, flach geschlossenen Hallenchöre österreichischer Zisterzienserkirchen verwiesen.11 Für St. Georg in Nördlingen wiederum wurde eine Interpretation als dreischiffig unterteilter „Hochchor“ vorgeschlagen.12 Man könnte den Nördlinger Ostabschluss aber ebenso gut als einen zu kompakter Einheit verschliffenen Staffelchor begreifen.13 Doch diese typologischen Bezüge sollen hier nicht weiter interessieren. Vielmehr wollen wir uns einem anderen Aspekt zuwenden, wobei die Münchner Frauenkirche erneut als Ausgangspunkt dienen soll. In der westlichen Eingangshalle zwischen den Türmen findet sich im Fußboden eine Fliese, die den Abdruck eines

Dem Licht entgegen

Fußes aufweist: der sogenannte Teufelstritt. Der Teufelstritt ist Gegenstand einer in verschiedenen Versionen überlieferten Sage. Ludwig Bechstein erzählt sie folgendermaßen: „In der Liebfrauenkirche zu München giebt es mehr als ein Wahrzeichen und geht mehr als eine Sage von ihr. Es ist ein herrliches stattliches Gebäu, zu dessen Grunde und Aufbau man den Mörtel mit bayrischem Wein bereitete. Die Kirche erhielt 30 prächtige hohe Fenster, die zum Theil mit den herrlichsten Glasmalereien verziert sind. Als der Teufel einst voll Aergers über den neuen schönen Tempel durch das Portal unterm Chore hinein trat, kam er auf eine Stelle zu stehen, wo er kein einziges von den Fenstern erblickte, und murmelte: kein Fenster? kein Licht? Daran erkenn’ ich meine Münche – bon! – wandte zufrieden um und brannte nur seine Fußtapfe zum freundlichen Andenken in den Boden, die noch heute zu sehen. Hatte sich aber stark geirrt, der dumme Teufel.“14

Vom Teufelstritt aus betrachtet scheinen sich die relativ eng gestellten Achteckpfeiler tatsächlich zu einer undurchdringlichen Wand zusammenzuschließen, sodass keines der seitlichen Fenster mehr sichtbar ist (Abb. 3). Aber ein Fenster ist doch zu sehen, nämlich das Fenster der Scheitelkapelle. Die Teufelstrittsage verrät somit ihre Entstehung zu einer Zeit, als der Blick nach Osten durch den sogenannten Bennobogen und den monumentalen Hochaltar des 17. Jahrhunderts verstellt war.15 Seit der Entfernung der barocken Chorausstattung Mitte des 19. Jahrhunderts aber ist wieder deutlich zu erkennen, dass dem Fenster der Scheitelkapelle eine nicht unerhebliche Bedeutung für die Wahrnehmung des Raumes zukommt. Der Besucher der Frauenkirche wird natürlich nicht wie der Teufel in der Vorhalle verharren. Er wird weiter in den Raum hinein gehen, er wird sehen, dass es doch eine große Anzahl von Fenstern gibt, und möglicherweise wird er sich daran erfreuen, dass sich in der Diagonalen reizvolle Durchblicke eröffnen. Doch ebenso wird er das bestätigt finden, was sich bereits vom Teufelstritt aus in zugespitzter Form offenbarte. Er befindet sich in einem Raum, der von seinem Rhythmus und von seinen Proportionen her eine geradezu bedingungslose Richtungsbetonung aufweist.16 Gerstenbergs These vom richtungslos fließenden sondergotischen Einheitsraum greift hier in keiner Weise.17 Und im Zusammenhang mit dieser Richtungsbetonung wird das Fenster der Scheitelkapelle zum optischen Fluchtpunkt. Man möchte sogar meinen, der Tiefenzug auf dieses Fenster hin habe das in der Stützenstellung und Gewölbebildung vollzogene Vordringen des Chores in den Chorumgang hinein geradezu erzwungen. Das Beispiel der Münchner Frauenkirche führt uns zu einem gestalterischen Problem, das dem Bautypus des Hallenumgangschores gewissermaßen immanent ist. Der Binnenchor hat keine abschließenden Wände und damit auch keine eige-

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Abbildung 3: München, Frauenkirche

© Bildarchiv Foto Marburg/Karl Franz Keller

Dem Licht entgegen

nen Fenster. Die Inszenierung des Sanktuariums als lichtdurchflutete Capella Vitrea, wie wir sie beispielsweise in der Soester Wiesenkirche oder im Erfurter Dom vorfinden, ist somit schlichtweg nicht möglich. Doch wie bereits Hans Joachim Kunst in seiner wichtigen Arbeit zur Entstehung des Hallenumgangschores hervorgehoben hat, macht sich ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zunehmend das Bestreben bemerkbar, „die Außenwand optisch für den Binnenchor wirksam zu machen“18. Eine entscheidende Voraussetzung hierfür war die Loslösung von der Tradition der basilikalen Umgangschöre. Beim Dom zu Verden an der Aller, wo die Bauform des Hallenumgangschores um 1300 erstmals realisiert wurde, ist diese Tradition noch unmittelbar spürbar. Chorschluss und Umgang sind hier nach Art der Reimser Kathedrale als 5/10-Polygon mit Halbjoch angelegt. In dem 1351 begonnenen Chor des Heilig-Kreuz-Münsters in Schwäbisch Gmünd ergibt sich ein völlig anderer Eindruck.19 Statt eines eng gestellten 5/10-Schlusses erscheint hier ein luftiger 3/6-Schluss, der einen ungehinderten Blick auf die zweigeschossig gegliederte Außenwand erlaubt. Die Schlankheit der Stützen und die zurückhaltende Profilierung der Scheidbögen tragen das ihrige dazu bei, Chor und Umgang als räumliche Einheit wirken zu lassen. Hervorzuheben ist insbesondere, dass der Wandabschnitt im Scheitel des Umgangs in der axialen Ansicht geradezu passgenau von den beiden östlichen Gewölbestützen gerahmt erscheint. Doch auch die rechts und links anschließenden Wandfelder sind bereits aus der Entfernung gut zu erkennen und suggerieren somit dem Betrachter, dass sich dieses Aufrisssystem an den Längsseiten des Chores nahtlos fortsetzt, was ja auch tatsächlich der Fall ist. Ein vergleichbarer Eindruck ergibt sich in den Chören von St. Sebald in Nürnberg und St. Marien in Frankfurt an der Oder (Abb. 4). Auch hier gewinnt der Betrachter den Eindruck einer quasi zweischaligen Struktur, ganz so, als sei der Binnenchor als baldachinartiges Gebilde in den von den Außenwänden definierten Raum eingestellt worden.20 Was Nürnberg und Frankfurt gegenüber Schwäbisch Gmünd auszeichnet, ist die durch den eingeschossigen Wandaufbau bedingte größere Dominanz der Fensterflächen.21 Natürlich wäre es verfehlt, wollte man hier den Begriff der Capella Vitrea bemühen – dafür geht die Auflösung der Wand nicht weit genug –, eine Annäherung aber ist zweifellos gegeben. Ganz andere Tendenzen zeigen sich dagegen im Falle der bereits erwähnten Katharinenkirche in Brandenburg an der Havel (Abb. 5). Der Eindruck einer Capella Vitrea will sich in diesem Bau nicht einmal ansatzweise einstellen. Ein entscheidender Grund hierfür liegt in der geometrischen Anlage des Grundrisses. Deutlich wird dies im Vergleich mit der Frankfurter Marienkirche. Beiden Bauten gemein ist die Bildung des Binnenchorschlusses als 3/6-Polygon. Anders sieht es aus bei der Anlage des Umgangs. In Frankfurt wurde die Außenwand über 7 Seiten eines 14-Ecks konstruiert. In Brandenburg hingegen haben wir 5 Seiten eines 10-

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Abbildung 4: Frankfurt/Oder, St. Marien

J.-H. Janssen [https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Frankfurt_Oder_Marienkirche_01. JPG], „Frankfurt Oder Marienkirche 01“, Ausschnitt, https://creativecommons.org/licenses/ by-sa/3.0/legalcode

Ecks. Die Wandabschnitte sind damit – proportional gesehen – um einiges breiter. Und das hat Auswirkungen darauf, wie sich dem Betrachter in der axialen Ansicht – also von Westen her – das Verhältnis von Binnenchor und Außenwand darbietet. Mit Frankfurt vergleichbar ist lediglich der ungehinderte Blick auf das Fenster im Scheitel des Chorumgangs. Die rechts und links anschließenden Wandabschnitte

Dem Licht entgegen

Abbildung 5: Brandenburg/Havel, St. Katharinen

Fotografie: Michael Overdick

aber sind derart weit nach außen gerückt, dass sie sich dem Betrachter nahezu vollständig entziehen. Der für Frankfurt so bestimmende Eindruck einer kontinuierlich umlaufenden Lichtfolie stellt sich nicht ein. Hierbei sei angemerkt, dass neben den Spezifika der Grundrissgeometrie noch ein weiterer Punkt zu berücksichtigen ist: In Brandenburg sind die Wände zwischen den Strebepfeilern nach außen gerückt. Auch dadurch sind die seitlichen Fenster weniger präsent als in Frankfurt. Umso stärker erscheint nun der Akzent, den das Scheitelfenster setzt. Es bildet von Westen her betrachtet die einzige uneingeschränkt sichtbare Lichtquelle des Chores und zieht somit zwangsläufig die Aufmerksamkeit auf sich. Es ist durchaus anzunehmen, dass wir es mit einer bewussten, auf die Hervorhebung des Sanktuariums abzielenden Inszenierung zu tun haben. Unterstützt

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wird diese Annahme nicht zuletzt dadurch, dass der Wandabschnitt im Scheitel des Polygons etwas breiter angelegt ist. Und auch das Fenster ist größer. Es zeigt als einziges eine Gliederung in 5 Bahnen; alle anderen Fenster des Chores sind lediglich 4-bahnig. Es dürfte kaum verwundern, dass es Hallenumgangschöre gibt, bei denen die gestalterische Hervorhebung des Ostfensters noch wesentlich deutlicher ausfällt. Ein geradezu extremes Beispiel bietet der im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts errichtete Chor der Jakobikirche in Stettin. Für das Verständnis der baulichen Gesamtkonzeption ist von Bedeutung, dass die Anlage des Binnenchores durch die Fundamente des einschiffigen Vorgängerbaus bestimmt wurde.22 Damit erklärt sich die für die Zeit eher altmodisch anmutende Bildung des Binnenchorschlusses als eng gestelltes 5/10-Polygon. Für die Anlage des Chorumgangs übernahm man dieses Brechungsverhältnis. Allerdings unterteilte man die Polygonseiten in jeweils zwei Abschnitte. Nur im Scheitel unterblieb diese Unterteilung zu Gunsten eines riesigen Fensters. Im Inneren entfaltet dieses Fenster eine ungemeine Dominanz, und das nicht nur aufgrund seiner Größe, sondern auch, weil die anderen Fenster – ähnlich wie später in Brandenburg – in der axialen Ansicht kaum in Erscheinung treten.23 Dass das Ostfenster dabei von den beiden Pfeilern im Scheitel des Binnenchorschlusses optisch überlagert wird, beeinträchtigt dessen Wirkung in keiner Weise. Ganz im Gegenteil. Es entfaltet sich ein höchst effektvolles Zusammenspiel. Die Pfeiler erscheinen wie vor einen immateriellen Lichtraum gestellt. Gleichzeitig findet der von ihnen beschränkte Durchblick seine gestalterische Resonanz darin, dass die drei mittleren Bahnen des Fensters unter einem überfangenden Spitzbogen zu einer kleineren, vollständig sichtbaren Gliederungseinheit zusammengefasst sind. Nicht ganz so monumental, aber kaum weniger eindrucksvoll erscheint die Inszenierung des Ostfensters im Chor der Mauritiuskirche im ca. 40 Kilometer südöstlich von Stettin gelegenen Pyritz. Der Pyritzer Chor ist kein vollständiger Neubau. Vielmehr wurde in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein bestehender, einschiffiger Chor nachträglich durch ein umlaufendes Seitenschiff erweitert.24 Hierbei entschied man sich in Anlehnung an das Langhaus für Form einer Staffelhalle, d. h. der Umgang wurde um einiges niedriger angelegt als der Chor selbst. Aus diesem Grund wurden die zu Scheidarkaden umfunktionierten Fensteröffnungen oberhalb der neu eingezogenen Scheidbögen vermauert. Von der Raumstaffelung ausgenommen ist das Scheiteljoch des Umgangs. Als einziges ist es in seiner Höhe an den Binnenchor angeglichen. Dementsprechend ist die Scheidarkade hier vollständig geöffnet und gibt den Blick frei auf das großflächig angelegte Ostfenster. Entstanden ist somit eine Art Lichtschacht, der in seiner dramatischen Wirkung die Altarrauminszenierungen des Barocks vorweg zu nehmen scheint.25

Dem Licht entgegen

Abbildung 6: Augsburg, Dom, Grundriss des Ostchors

Aus: Georg Himmelheber: Der Ostchor des Augsburger Doms. Ein Beitrag zur Baugeschichte, Augsburg 1963, Abb. 1

Mit dem Hinweis auf Brandenburg, Stettin und Pyritz war keineswegs angedacht, die unmittelbaren Voraussetzungen für die in München gefundene Lösung aufzuzeigen. Diese wird man eher in Wasserburg/Inn, Straubing oder Freising finden, also im regionalen Umfeld.26 Worauf es mir vor allem ankam, ist die Feststellung, dass die konsequente gestalterische Ausrichtung des Raumes auf das östliche Scheitelfenster hin ein überregionales Phänomen darstellt. Und wie aufgezeigt werden konnte, entzündete sich diese Ausrichtung an dem für den Bautypus des Hallenumgangschores grundlegenden Spannungsverhältnis von Binnenchor und äußerer Wandhülle. Unter den Prämissen einer entwicklungsgeschichtlich ausgerichteten Betrachtung könnte man sicherlich behaupten, der Münchner Baumeister sei dadurch, dass er das Mittelschiff in den Chorumgang hinein fluchten

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lässt, einen Schritt weiter gegangen als seine norddeutschen Kollegen. Ich möchte es vorsichtiger formulieren: Jörg von Halspachs Gestaltung zielt weniger auf die bildhafte Inszenierung als auf die Richtungsdynamik des Raumes. Abschließend lohnt ein erneuter Blick auf den basilikalen Ostchor des Augsburger Domes (Abb. 6). Wie bereits erwähnt, ist dessen heutige Gestalt das Resultat eines grundlegenden Planwechsels. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang ein Befund an den Arkadenpfeilern. Einige der zum Binnenchor hin vorgelegten Dienstbündel zeigen auf Höhe der Scheidbogenkämpfer Zwischenkapitelle. Diese Zwischenkapitelle geben Anlass zu der Vermutung, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt der Ausführung die am klassischen Kathedralschema orientierte basilikale Planung aufgegeben hatte, um den Bau stattdessen in bescheidenerer Form als Halle zu vollenden.27 Dass man mit diesem Hallenprojekt zugleich auf die Idee verfiel, den Binnenchor in den Umgang hinein fluchten zu lassen, erscheint nach unseren bisherigen Ausführungen nicht weiter verwunderlich. Offenkundig suchte man den Wegfall des Obergadens zu kompensieren, indem man den Chorraum gestalterisch an die Achskapelle anschloss, damit diese die Funktion eines lichtdurchfluteten Polygonschlusses übernehmen konnte. Letztendlich kehrte man dann doch wieder zu einem – wenngleich reduzierten – basilikalen Aufbau zurück. Die im Zusammenhang mit der Hallenplanung gefundene Chorschlussbildung aber galt es aus bauökonomischen Gründen, in die neue Planung zu integrieren.

A nmerkungen 1 | Zur Baugeschichte siehe Altmann, Lothar: „Die spätgotische Bauphase der Frauenkirche 1468–1525“, in: Hans Ramisch (Hg.), Monachium Sacrum. Festschrift zur 500-Jahr-Feier der Metropolitankirche Zu Unserer Lieben Frau in München, Bd. 2, München 1994, S. 1–20. 2 | Vgl. Nußbaum, Norbert: Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik. Entwicklung und Bauformen, Köln 1985, S. 227 f.; Gentz, Ulrike: Der Hallenumgangschor in der städtischen Backsteinarchitektur Mitteleuropas 1350–1500. Eine kunstgeographisch vergleichende Studie, Berlin 2003, S. 51–59. 3 | Richtig erkannt haben dies u. a. Gerstenberg, Kurt: Deutsche Sondergotik, 2. durchgesehene und ergänzte Auflage, Darmstadt 1969 (Erstauflage München 1913), S. 166; Nußbaum 1985, S. 256; Cobbers, Arnt: „Zur Entwicklung des Hallenumgangschors“, in: Ernst Badstübner/Dirk Schumann (Hg.), Hallenumgangschöre in Brandenburg (= Studien zur Backsteinarchitektur, Bd. 1), Berlin 2000, S. 18–66, hier S. 61; Gentz 2003, S. 391; Adamski, Jakub: „Hallenkirchen mit dreischiffigem Polygonalchor ‚ohne Umgang‘. Über die Genese und Bedeutung

Dem Licht entgegen eines besonderen Kirchenbautypus der Spätgotik“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 43.2016, S. 7–24, hier S. 10. 4 | Badstübner, Ernst: Stadtkirchen in der Mark Brandenburg, Berlin 1982, S. 27 f.; Ernst Badstübner/Dirk Schumann: „Hallenumgangschöre in der Mark Brandenburg. Einführung“, in: dies. (Hg.), Hallenumgangschöre in Brandenburg (= Studien zur Backsteinarchitektur, Bd. 1), Berlin 2000, S. 9–17, hier S. 11; Gentz 2003, S. 17 f., 179–182; Herrmann, Christopher/Winterfeld, Dethard von: „Schlesien“, in: dies. (Hg.), Mittelalterliche Architektur in Polen. Romanische und gotische Baukunst zwischen Oder und Weichsel, Bd. 2, Petersberg 2015, S. 550–723, hier S. 667 ff. 5 | Vgl. Nußbaum 1985, S. 160 f. 6 | Vgl. Nußbaum 1985, S. 227. 7 | Gentz 2003, S. 391. 8 | Zur Baugeschichte siehe Cante, Andreas: „Die mittelalterliche Baugeschichte der Katharinenkirche“, in: Andreas Cante/Günther Köpping: Die Katharinenkirche in Brandenburg an der Havel. Zur Bau- und Restaurierungsgeschichte eines Hauptwerks der märkischen Backsteingotik (= Arbeitshefte des Brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege, Bd. 6), Potsdam 1996, S. 5–19. 9 | Zu Wittichenau siehe Gentz 2003, S. 194–197. 10 | Zur Baugeschichte siehe Chevalley, Denis A.: Der Dom zu Augsburg (Die Kunstdenkmäler von Bayern, N.F. 1), München 1995, S. 68 ff.; Kayser, Christian: „Der Ostchor des Augsburger Domes“, in: Jahrbuch der bayerischen Denkmalpflege 68/69.2014/2015, S. 21–78. 11 | Philipp, Klaus Jan: „Polygonale dreischiffige Hallenchöre ‚ohne Umgang‘. Anmerkungen zu einer Typologie spätmittelalterlicher Sakralarchitektur“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 22.1989, S. 51–60, hier S. 52 ff. 12 | Philipp 1989, S. 56 f. 13 | Jaacks, Günther H.: „Zur Entwicklung spätmittelalterlicher Chorschlussvereinfachungen“, in: Nordelbingen 40.1971, S. 38–42, hier S. 41. 14 | Bechstein, Ludwig: Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853, S. 791. Zu den Sagen um den Teufelstritt siehe ferner: Trautmann, Franz: Alt Münchner Wahr- und Denkzeichen, München 1864, S. 36 f.; Mayer, Anton: Die Domkirche zu U. L. Frau in München, München 1868, S. 349 f.; Legner, Anton: Der Artifex. Künstler im Mittelalter und ihre Selbstdarstellung. Eine illustrierte Anthologie, Köln 2009, S. 181 f. 15 | Vgl. Kurmann, Peter: „Die Frauenkirche des Jörg von Halspach: Beschreibung der Baugestalt und Versuch einer Würdigung“, in: Hans Ramisch (Hg.), Monachium Sacrum. Festschrift zur 500-Jahr-Feier der Metropolitankirche Zu Unserer Lieben Frau in München, Bd. 2, München 1994, S. 21–43, hier S. 42, Anm. 20. 16 | Vgl. Kurmann 1994, S. 30–32.

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Michael Overdick 17 | Vgl. Gerstenberg 1969, S. 20–26, 147–181. Zur Kritik an Gerstenberg siehe Kunst, Hans-Joachim: „Zur Ideologie der deutschen Hallenkirche als Einheitsraum“, in: Architectura. Zeitschrift für Geschichte der Architektur 1.1971, S. 38–53; Nußbaum 1985, S. 214–218. 18 | Kunst, Hans Joachim: „Die Entstehung des Hallenumgangschores. Der Domchor zu Verden an der Aller und seine Stellung in der gotischen Architektur“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 18.1969, S. 1–104, hier S. 102. 19 | Vgl. Kunst 1969, S. 92–96. 20 | Vgl. Cobbers 2000, S. 46: Cobbers spricht in Bezug auf den Nürnberger Bau von einem „doppelten, potenzierten Hochchor“. 21 | Zu St. Sebald vgl. Zaske, Nikolaus: Gotischer Backsteinbau Norddeutschlands. Beiträge zur Architektur- und Sozialgeschichte der Haupttypen dreischiffiger Choranlagen von 1200 bis 1500. Unveröffentlichte Habilitation, Greifswald 1961, S. 11. 22 | Jarzewicz, Jarosław: „Lichtführung als Bauaufgabe. Dargestellt an Beispielen des Ostseegebiets“, in: Ernst Badstübner u. a. (Hg.), Licht und Farbe in der mittelalterlichen Backsteinarchitektur des südlichen Ostseeraums (= Studien zur Backsteinarchitektur, Bd. 8), Berlin 2005, S. 98–106, hier S. 99. 23 | Vgl. Gentz, Ulrike: „Zur Lichtführung in den H. Brunsberg zugeschriebenen Hallenumgangschören“, in: Ernst Badstübner u. a. (Hg.), Licht und Farbe in der mittelalterlichen Backsteinarchitektur des südlichen Ostseeraums (= Studien zur Backsteinarchitektur, Bd. 8), Berlin 2005, S. 131–148, hier S. 136–137; Jarzewicz 2005, S. 99 f.; Jarzewicz, Jarosław: „Hinterpommern und Neumark“, in: Christopher Herrmann/Dethard von Winterfeld (Hg.), Mittelalterliche Architektur in Polen. Romanische und gotische Baukunst zwischen Oder und Weichsel, Bd. 2., Petersberg 2015, S. 724–857, hier S. 799–801. 24 | Vgl. Ober, Marek: „Die St. Mauritiuskirche in Pyritz. Raffinierte Lichtführung in reduzierter Architektur“, in: Ernst Badstübner u. a. (Hg.), Licht und Farbe in der mittelalterlichen Backsteinarchitektur des südlichen Ostseeraums (Studien zur Backsteinarchitektur, Bd. 8), Berlin 2005, S. 56–70, hier S. 61 ff. 25 | Vgl. Ober 2005, S. 66: Ober denkt, dass die Pyritzer Lösung vom Stettiner Jakobichor angeregt wurde. Siehe auch Jarzewicz 2005, S. 102: Jarzewicz verweist auf vergleichbare Lichtschächte am (basilikalen) Chorschluss des Posener Domes. 26 | Vgl. Kurmann 1994, S. 39; Gentz 2003, S. 388, 393 f. 27 | Vgl. Chevalley 1995, S. 114 f.; Kayser 2014/2015, S. 49 ff.

Transformationsorte der Kunst identifizieren Überlegungen zu Untersuchungsansätzen der mittelalterlichen Kunstproduktion in Mecklenburg und Sønderjylland/Dänemark Julia Trinkert

Einleitung Ausgangspunkt dieses Beitrages ist die Frage nach einem geeigneten wissenschaftlichen Umgang mit einer hohen Anzahl mittelalterlicher Holzskulpturen in Norddeutschland und Nordeuropa aus einem unbekannten künstlerischen Kontext, die nach ihrem stilistischen Erscheinungsbild, ihrer Ikonografie, den Motiven und Kompositionen eng verwandt zu sein scheinen. Beispielhaft konzentriert sich diese Untersuchung mit solchen Denkmalbeständen in Mecklenburg und Sønderjylland, zwei geografischen Großräumen an der Peripherie der heutigen kunsthistorischen Wahrnehmung. Einer flächendeckenden Untersuchung ist zu eigen, dass sie möglichst alle erhaltenen Werke berücksichtigt, unabhängig von ihrem heutigen Erscheinungsbild, dem Erhaltungszustand oder ihrer künstlerischen oder materiellen „Qualität“. Dieses Vorgehen mag die fraglichen Bestände um ein vielfaches heterogener erscheinen lassen als dies in anderen Kontexten der Fall ist. Deutliche Kontraste führen zu einem Bedürfnis, die Entstehungsprozesse solcher Werke nachzuvollziehen. Traditionell greift die Kunstgeschichte hier auf Interpretationsmuster zurück, die basierend auf stilistischen Vergleichen einzelner Objekte, Verbindungen zwischen diesen Gruppen erkennen wollen und hierfür meist auch Narrative zur Begründung liefern. So entstehen Konstrukte von personengebundenen Netzwerken, deren häufig fiktive Akteure einerseits (not)namentlich identifiziert und andererseits aufgrund ihrer mittels Händescheidung zugewiesenen künstlerischen Fähigkeiten hierarchisch als Meister oder Geselle klassifiziert werden. Diese Vorgehensweise befördert in ihrem kreativen Charakter das Ansinnen, große Teile eines heteroge-

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nen Bestandes letztendlich doch zu ordnen. Solche kunsthistorischen Automatismen thematisiert auch Jürgen Wiener in seinen Forschungen, etwa eindrücklich in seiner Auseinandersetzung mit den Raptusgruppen in Salzburg und Versailles, wenn er auf ikonografische Gelegenheiten und Verlegenheiten barocker Gartenskulpturen hinweist: „Indem sie [die Ikonografen] [das Bildensemble als einen Text] lesen, fragen sie nicht nach der Lesbarkeit und blenden so die historischen Schwierigkeiten beim Lesen aus, die auch die Stilgeschichte nicht interessierte.“1

Fragestellung

und

M ethode

Der Bedarf innovativer Deutungsschemata, vor allem bei einem weitgehenden Fehlen archivalischer Quellen aus der Entstehungszeit der Objekte, wird so deutlich. Zunächst müssen dazu Formen von künstlerischen Tradierungen anhand der Kunstwerke selbst benannt werden. In welchen Kontexten lassen sich spezifische Tradierungsformen generieren? Inwiefern lassen sich diese visualisieren? Dazu müssen mögliche Kunstzentren identifiziert werden und die Frage nach ihrer Funktion als Transformationsort gestellt werden. Um einen geeigneten wissenschaftlichen Umgang mit den zu untersuchenden Objekten zu entwickeln, sollen zunächst die voneinander abhängigen Ebenen der kunsthistorischen Wahrnehmung, Kennerschaft und Interpretation als Grundlage jeglicher Deutungsstrategien bewusst gemacht werden. Die physische Wahrnehmung des Erscheinungsbildes eines Kunstwerkes in seinen Formen, Farben, Oberflächen und Materialien bestimmt das Erfahren und Verstehen des Betrachtenden. Diese Merkmale werden im Bewusstsein mit bereits bekannten Mustern abgeglichen und somit ein Referenzrahmen gebildet, der den Ausgangspunkt der Anwendung des fachspezifischen Wissens für eine Interpretation bietet. Dieser subjektive Prozess im Kontext kunsthistorischer und stilkritischer Forschung sollte durch eine neutralere Methode korrigiert werden und damit zu objektiveren Forschungsergebnissen führen. Aus stilgeschichtlicher Perspektive wird so deutlich, dass fragliche Objekte in einem Untersuchungsraum nicht unter dem Drang nach Einordnung nivelliert und zugeordnet werden müssen oder dürfen. Stark verflochtene Werkgruppen können als solche daher auch nur wahrgenommen und beschrieben werden, auch wenn solche Beobachtungen durch eine Zuschreibung an fiktive Werkstätten oder Werkstattmitglieder einfacher zu bewerten wären. Um dies zu erreichen, wurden in empirischen Untersuchungen der Bestände in Mecklenburg2 und Sønderjylland jeweils sowohl ein werkzentrierter als auch ein darauf aufbauender personenzentrierter Ansatz verfolgt. Die werkzentrierte

Transformationsorte der Kunst identifizieren

Perspektive sieht das Werk selbst als Hauptquelle, die personenzentrierte Perspektive hält die Entstehungsstrukturen des Werkes und seine Tradierungsformen im Blick. Dabei spielen die individuellen Persönlichkeiten der unbekannten Spezialhandwerker, hier also der Bildschnitzer, dezidiert keine größere Rolle. Sie verantworten durch ihre Mobilität und ihre Netzwerke die Tradierungsformen spezifischer künstlerischer Merkmale der zu untersuchenden Werke. Handelte es sich bei den analysierten Werken in Mecklenburg und Sønderjylland um Retabel, ließen sich diese nicht in ihrer gesamten Morphologie an die Seite eines anderen Werkes stellen. Es hat sich hier als sinnvoll erwiesen, diese anhand der einzelnen an ihrem Entstehungsprozess beteiligten Gewerke zu unterteilen. So wurden die Anteile der Schreiner oder Kistenmacher, der Bildschnitzer und der Maler separat untersucht. Für diesen Beitrag werden die Beobachtungen für den Anteil der Bildschnitzer, also die Holzskulpturen, primär berücksichtigt. Es werden daher gattungsspezifische Werkgruppen vorgestellt und ihre Merkmale bezeichnet, die sie in einen ähnlichen Fertigungskontext setzen. Werkgruppen sind dabei nicht grundsätzlich synonym mit Werkstätten zu verstehen. Die Einordnung der Werke in entsprechende Gruppen geschieht zwangsläufig nach subjektiven Einschätzungen, die sich vor allem auch durch die künstlerische Singularität jedes Werkes nicht vereinheitlichen lassen. Ferner sind nicht immer alle Skulpturen eines Retabels einer einzigen Werkgruppe zuzuordnen, möglicherweise als Resultat mehrerer beteiligter Bildschnitzer. Zur Identifizierung möglicher Kunstzentren in den Untersuchungsgebieten, die als Transformationsorte gewirkt haben könnten, werden motivisch-typologische oder stilistische Werkgruppen objektiv kartiert.3 Dieses Vorgehen wird durch ihren heutigen Standort in ihrem ursprünglichen Funktionszusammenhang, in Stadt- und Dorfkirchen, oder den zu rekonstruierenden erlaubt. Die in der Kunstgeografie angewendete Zentralitätstheorie ermöglicht so die Visualisierung von Verbreitungsgebieten dieser Werkgruppen.4 Eine gehäufte Anzahl erhaltener Werke im Umkreis von Ober- und Unterzentren deutet auf eine Lokalisierung möglicher Werkstätten dorthin, selbst wenn die Situation archivalischer Quellen mangelhaft ist. Kritisch zu hinterfragen bleibt hier, ob etwa einheitliche Werkgruppen mit den Produkten eines einzelnen Werkstattbetriebes gleichgesetzt werden können oder ob möglicherweise mehrere Werkstätten untereinander sehr ähnliche Werke liefern konnten.5 Kann man von einem einheitlichen Werkstattstil sprechen oder konnten einzelne Werkstätten auch auf Nachfrage unterschiedliche Stile liefern? Welche Rolle übernehmen die Mitarbeiter der Werkstatt in diesem Zusammenhang? Eine solche Kartierung von Werkgruppen funktioniert unabhängig von historisch angenommenen Orten, kann durch sie aber im Umkehrschluss rückversi-

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Karte 1: Werkgruppen Neubrandenburg, Friedland und Dargun

© Julia Trinkert

chert werden. Ferner erhält man Hinweise zu möglichen räumlich begrenzten und zeitlichen Verlagerungen unterworfenen Absatzgebieten städtischer Werkstätten. Eine digitale Netzwerkanalyse kann zudem weniger offensichtliche Verbindungen aufzeigen, die dann wiederum kunsthistorisch überprüft werden können.

Werkgruppen in M ecklenburg Tradierungsformen

und

S ønderjylland :

Die Erarbeitung von Charakteristiken spezifischer Werkgruppen, anhand derer Tradierungsformen nachgezeichnet werden, erfolgt durch nur bedingt zu kombinierende motivische oder stilistische Merkmale. Die Kartierung von Gruppen mit gemeinsamen motivischen Elementen zeigt für die Identifizierung von Kunstzentren nur unscharfe Resultate, da ihre Tradierungen naturgemäß in größeren räumlichen Gebieten erfolgreich sind. Sie bieten jedoch eine Übersicht über Verbreitungsgebiete bestimmter modischer Motivtendenzen. Werkgruppen mit

Transformationsorte der Kunst identifizieren

Abbildung 1: Einhornretabel in der Kirche zu Lübbersdorf

Fotografie: Julia Trinkert

gemeinsamen stilistischen Elementen dürften dahingegen in begrenzteren geografischen Räumen zu finden sein und können daher Auskunft über mögliche Kunstzentren abseits der großen Städte einer Region geben. Als mecklenburgisches Beispiel sollen drei Werkgruppen aus einem wohl jeweils recht geschlossenen Fertigungskontext vorgestellt werden.6 Die Skulpturen dieser Gruppen entstanden an der östlichen Landesgrenze des Herzogtums Mecklenburg in den Jahren um 1500 bis zum Ende des ersten Drittels des 16. Jahrhunderts (Karte 1). Es handelt sich um Skulpturen und Reliefs aus Lübbersdorf,7 Kotelow,8 Klockow,9 aus der St. Georgenkapelle in Neubrandenburg,10 aus St. Marien zu Röbel,11 Groß Teetzleben,12 Groß Nemerow,13 Dargun,14 Groß Methling15 und Brudersdorf.16 Aufgrund der bildschnitzerischen Qualität dieser Werke kann man mit einer eher lokalen Bedeutung rechnen, was sich durch eine Ausweitung der Untersuchungen auf die angrenzende Region Vorpommerns noch genauer bestätigen ließe. Die erste dieser Werkgruppen besteht aus dem Einhornretabel (Abb. 1) und der Kreuzigungsgruppe in der Kirche zu Lübbersdorf, dem Kreuzigungsretabel der benachbarten Kirche zu Kotelow sowie der kleinen Kreuzigungsgruppe in der

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Abbildung 2: Kreuzigungsretabel in St. Johannis, Neubrandenburg

Fotografie: Julia Trinkert

Kirche zu Klockow. Stilistisch sind diesen Werken die charakteristischen Kopftypen der Skulpturen gemein, deren ovale Gesichter durch runde, pausbäckige Wangen, kleine, weit auseinanderstehende Augen, sehr kleine Nasen und Münder und undefinierte Unterkiefer Wiedererkennungswert erlangen. Die Körper und Gewänder sind schematisch gebildet, der Faltenwurf überwiegend knittrig. Bewegung wird durch geneigte Köpfe impliziert. Motivisch-typologisch folgen sie einer Rostocker Bildtradition.17 Die Kartierung dieser Werkgruppe weist auf die kleine Binnenstadt Friedland als wahrscheinlichen Entstehungsort hin (Karte 1). Zu der zweiten Werkgruppe gehören das Kreuzigungsretabel (Abb. 2) und das Relief mit dem heiligen Georg aus der St. Georgenkapelle in Neubrandenburg, heute in St. Johannis respektive im Regionalmuseum Neubrandenburg, die Triumphkreuzgruppe in St. Marien zu Röbel, ein Relief mit dem heiligen Georg in Klockow, das Kreuzigungsretabel in Groß Teetzleben sowie jenes in Groß Nemerow. Die Darstellungen orientieren sich an in Norddeutschland üblichen Bildformularen, die Ausführungen hingegen sind überwiegend schematisch gebildet. Am besten sind den Bildschnitzern die Gestaltung der Köpfe und Gesichter ge-

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Abbildung 3: Kreuzigungsretabel in der Pfarrkirche zu Dargun

Fotografie: Julia Trinkert

lungen, die durch ihre langen schmalen Nasen auf einem oval-flachen Gesichtsfeld und schlitzartige Augen auffallen. In dieser Werkgruppe sind besonders die Kruzifixe in Neubrandenburg und Röbel hervorzuheben, die stilistische Bezüge zur Triumphkreuzgruppe in der Güstrower Pfarrkirche zeigen.18 Motivisch-typologisch gehören zu den Merkmalen dieser Gruppe das Lendentuch Christi und die Spirallocken an der Stirn der Johannesfiguren. Das Absatzgebiet dieser Werkgruppe lenkt den Blick auf Neubrandenburg, wo mindestens mit einer entsprechenden Bildschnitzer-Werkstatt gerechnet werden muss.19 Die dritte Werkgruppe steht in einem engen Zusammenhang mit dem Kloster Dargun (Karte 1).20 Hier handelt es sich um das Kreuzigungsretabel in der Pfarrkirche in Dargun (Abb. 3), das Kreuzigungsretabel aus Groß Methling und den Dreifigurenschrein aus Brudersdorf, beides Dörfer im Besitz des Zisterzienserklosters,21 eine Statuette aus dem Hl. Kreuz-Kloster der Zisterzienserinnen in Rostock sowie eine Figur des heiligen Johannes Baptista mit unbekannter Herkunft, heute im Staatlichen Museum Schwerin. Diese Werke sind wesentlich qualitätvoller gefertigt, sowohl hinsichtlich der Bildkomposition als auch der schnitzerischen Aus-

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führung. In den szenischen Darstellungen ist die gelungene bühnenhafte Raumillusion und parallele Führung mehrerer Handlungsstränge nach niederländischem Vorbild bemerkenswert. Stilistische Merkmale zeigen sich in den Charakterköpfen mit ihren breiten Gesichtern, markanten Wangenknochen, länglichen Nasen, kräftigen Stirnwulsten, schräg stehenden, schlitzartigen Augen und zusammengepressten Mündern. Die variierende Mimik der Gesichter ist ein weiteres Merkmal dieser Gruppe. Die weiblichen Figuren besitzen zudem ein charakteristisches Doppelkinn und mit Blick auf die Körperproportionen eine hohe Taille. Die Körperhaltungen wirken bei beiden Geschlechtern manieriert, die stoffreichen Gewänder zeigen einen dynamischen Faltenwurf, der die Anspannung der Figuren betont. Auffällig sind ferner die übergroßen Hände und Füße. Stilistische und motivische Vorbilder finden sich in Dänemark und Schweden in Werken, die dem sogenannten Meister von Dargun zugeschrieben werden. Deutlich wird dies durch die Figur des heiligen Kjeld auf dem Aufsatz des Hochaltarretabels in Åby (Aabybro/Dänemark) wie durch das Kreuzigungsretabel aus Västra Ed (Småland/Schweden). 22 Hinsichtlich der ersten nach Friedland zu verortenden Werkgruppe zeigt sich eine stilistisch eigenständige Formensprache, während die motivischen Kompositionen und Typen einer Rostocker Bildtradition folgen. Hier lassen sich tradierte Inhalte eher in einen größeren Kontext von Errungenschaften der norddeutschen Bildschnitzkunst und ihrer Rezeption stellen als konkrete Intentionen nachzuzeichnen. Insofern handelt es sich bei dieser kleinen Werkgruppe mit ihrem Bezug zu einer kleinen, kunsthistorisch wenig berücksichtigten Stadt um ein bislang unbekanntes Kunstzentrum von lokaler Bedeutung, das in diesem engen Rahmen als Transformationsort für Kunst agiert. Wahrscheinlich ist mit einer sehr geringen Anzahl von Werkstätten zu rechnen, aufgrund der Homogenität der Gruppe vielleicht auch nur mit einer. Die zweite nach Neubrandenburg zu verortende Werkgruppe zeigt vergleichbare Mechanismen zu der vorherigen Gruppe auf. Hier scheint es eine intendierte Orientierung an Güstrower Vorbildern gegeben zu haben, die auf eine eigene Weise umgesetzt wurden. Demnach kann auch Neubrandenburg einerseits als regionales Kunstzentrum identifiziert und damit als Transformationsort von Kunst, getragen von den beteiligten Spezialhandwerkern, verstanden werden. Die Darguner Werkgruppe richtet sich nach skandinavischen Vorbildern, die ihrerseits motivisch-typologisch auf niederländische Bildtraditionen zurückzuführen sind. Die Vermittlung dieser stilistischen und motivischen Merkmale wird durch den Auftraggeber oder den Standort einer Werkstatt, das Kloster Dargun, motiviert. Intendierte künstlerische Inhalte werden gelungen rezipiert und bestimmen das Erscheinungsbild dieser relativ homo-

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Karte 2: Werkgruppe „Aller-Gruppe“

© Julia Trinkert

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Grafik 1: Netzwerkanalyse der Aller-Gruppe

© Julia Trinkert

genen Werkgruppe. Im Gegensatz zu den beiden ersten, städtisch gebundenen Werkgruppen, ist hier als Transformationsort das Kloster mitsamt seiner Infrastruktur und seinen personellen Netzwerken aufzufassen. Für Sønderjylland soll exemplarisch eine Werkgruppe vorgestellt werden, die in der Literatur als Aller-Gruppe bezeichnet wird (Karte 2).23 Die Forschung dazu ist noch nicht abgeschlossen und illustriert daher die Schwierigkeiten einer werkzentrierten Analyse in einem ländlich geprägten Großraum. Es handelt sich um zehn Retabel und ihre Fragmente, die jedoch nach einer empirischen Durchsicht der Bestände um mindestens sechs Werke ergänzt werden können. Die in Kürze zu erwartende Publikation der Bände 4 und 5 des Corpus der mittelalterlichen Holzskulptur und Tafelmalerei in Schleswig-Holstein wird das Bild zusätzlich vervollständigen. Diese Werkgruppe ist auf den ersten Blick sehr heterogen und lässt sich mithilfe einer digitalen Netzwerkanalyse schließlich in zwei stilistische

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Abbildung 4: Kreuzigungsretabel in der Kirche zu Varnæs

Fotografie: Julia Trinkert

Untergruppen differenzieren, deren Kernwerke einerseits die Retabel in Daler und in Varnæs sowie andererseits in Tating im Kreis Eiderstedt sind (Grafik 1). Zur ersten Untergruppe (orange) zählen zudem die Werke in Sønder Bork, Rinkenæs, Højst, Spandet, Nustrup, Ansager, Randerup, Vollerwiek und Schobüll, die zweite (violett) wird durch jene in Kating, Døstrup und Holbøl ergänzt.24 Das für diese Gruppe namensgebende Werk in Aller kann als ein stilistisches Bindeglied gesehen werden. Die meisten Werke sind oder waren längsrechteckige Retabel mit zweiregistrigen Flügeln für Apostelreihen, die Mittelszene zeigte oder zeigt Marienkrönungen wie in Aller, Spandet und Randerup, Kreuzigungen wie in Tating, Kating, Højst und Varnæs (Abb. 4) oder Großfiguren wie in Rinkenæs (Abb. 5) oder Sønder Bork. Hinsichtlich motivischer und kompositorischer Merkmale ließe sich diese Gruppe um unzählige Werke im Untersuchungsbereich erweitern. Es fallen charakteristische Elemente auf, die offensichtlich auf gemeinsame Vorlagen zurückgehen. Zu diesen zählen Apostel, die in einem aufgeschlagenen Buch, das sie entweder mit einer oder beiden Händen halten, lesen,25 Apostel, die ein aufgeschlagenes Buch mit flacher Hand vor den Oberkörper halten,26 sowie jene, die eine flache Hand vor den Unterkörper27 oder vor die Brust halten.28 Anhand des schräg in

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Abbildung 5: Retabel mit Großfiguren in der Gamle Kirke zu Rinkenæs

Fotografie: Julia Trinkert

einem Buch lesenden Apostels, wie wir sie bei den Paulusfiguren in Tating, Rinkenæs und Vollerwiek sowie bei den Aposteln in Nustrup und Schobüll sehen, zeigt sich die Bandbreite möglicher stilistischer Ausführungen bei einer gleichen Vorlage. Der Entwurf des Laurentius entspricht sich bei den Figuren in Randerup und Døstrup sowie in Ansager und Daler. Ebenfalls markant ist die bandartige Kopfbedeckung der Maria Magdalena, die sich nahezu identisch in Holbøl, Døstrup und Aller findet. Eine versatzstückartige, ähnliche Komposition der Kreuzigungsszenen findet sich in Kating, Tating, Nustrup, Varnæs und Vollerwiek. Anhand der Netzwerkanalyse lässt sich zudem eine enge Verbindung zwischen den Skulpturen in Spandet, Nustrup und Højst erkennen, die mehrere Merkmale dieser Gruppen in einzigartiger Weise bündeln und so ein eigenes Cluster (grün) darstellen. Stilistisch stehen sich die Werke dieser Gruppe auf vielfältige Weise nahe, auch wenn kaum eine Skulptur eines Werkes engstens mit einer eines anderen Werkes verwandt ist. Diese Erkenntnis ist dahingehend bedeutend, da es in dieser Region offensichtlich keinen allgemeingültigen Werkstattstil von infrage kommenden Werkstätten gab, den alle Bildschnitzer für die Fertigung der Aufträge berücksich-

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tigen und ausführen mussten. Das persönliche Können des individuellen Schnitzers stand wohl im Vordergrund. Charakteristisch für diese Werkgruppe sind einzelne stilistische Merkmale in der Ausführung der Gesichter und der Körper, wobei sich singuläre Tendenzen ebenfalls ablesen lassen. Zu diesen zählen markante Köpfe mit einer senkrechten Stirnfalte oberhalb der Nase sowie stoffreiche Gewänder. Die Silhouetten der Figuren variieren von schmal wie in Aller, Spandet, Varnæs und Daler, innerhalb der ersten Untergruppe, bis zu breit und kompakt wie in der zweiten Untergruppe Tating, Kating und Holbøl. Die Gewandbehandlung reicht ebenso von einem flach ausgearbeiteten, reduzierten Faltenwurf wie in Kating zu komplizieren Faltengebilden voluminöser Stoffmassen wie in Tating oder Varnæs. Die Kartierung der gesamten bislang untersuchten Werkgruppe erstreckt sich im Süden von Eiderstedt im heutigen Schleswig-Holstein entlang der Westküste bis nach Sønder Bork in Midtjylland im Norden sowie im Osten entlang der Ostseeküste von Aller bei Christiansfeld im Norden bis Rinkenæs auf der dänischen Seite der Flensburger Förde (Karte 2). Eine auffällige Häufung von Werken findet sich in der Region um die kleine Stadt Tønder. Aufgrund der verstreuten Lage lässt sich im Gegensatz zu den Beobachtungen in Mecklenburg keine konkrete Aussage über kleinstädtische Kunstzentren treffen. Dies gilt auch für eine differenzierte Betrachtung der beiden möglichen Untergruppen. Mit aller Vorsicht könnte es sich bei der einen Untergruppe um einen Werkkomplex aus Tønder handeln, bei der anderen Gruppe um einen aus Husum. Um diese Hypothese weiter zu verfolgen, bedarf es allerdings einer weiter ausgelegten Einzelstudie, die weitere Werke identifizieren kann. Bei der Tradierung der motivischen Merkmale lässt sich eine Intention erkennen, die sowohl und primär über die personellen Strukturen von Werkstätten gesteuert wurde als auch über mögliche Vorlagen, die individuell oder werkstattübergreifend weitergegeben wurden. Auffällig sind ferner die großen Hände der Figuren, die allen Werken gemein sind, und deren Rezeption kontinuierlich nachzuweisen ist. Bemerkenswert ist die Anknüpfung dieser Werkgruppe über die Marienkrönung in Randerup an die ebenso komplexe und in Nordeuropa verbreitete Werkgruppe, die in der Literatur dem sogenannten Imperialissimameister zugeschrieben wird,29 zum Beispiel durch die Verbindung zur Marienfigur in Højst. Anhand der bisherigen Studien zur Aller-Gruppe können hier die noch genauer nachzuweisenden Werkstätten mit ihren Akteuren als Transformationsorte für künstlerische Entwicklungen benannt werden, in denen sowohl bewusst organisierte Tradierungsformen, vor allem hinsichtlich der Motive und Entwürfe, als auch nicht gesteuerte Formen, vor allem bei den einzelnen stilistischen Ausführungen und ihren Prägungen oder Einflüssen, anzutreffen sind.

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M ecklenburg : Verbreitungsgebiete , A bsatzgebiete und K ooperationen von H andwerkern Die umfassende empirische Studie zur Produktion von Retabeln in Mecklenburg zwischen 1480 und 1540 gibt durch eine Identifizierung und objektive Kartierung diverser Werkgruppen eine detaillierte Übersicht über die künstlerische Situation und die Bedeutung von Transformationsorten.30 Wurde Mecklenburg in der Vergangenheit hinsichtlich dieser Fragestellungen überwiegend vernachlässigt oder der Region sogar jegliche Eigenständigkeit abgesprochen, so zeigt sich durch diese Untersuchungsmethode ein gänzlich anderes Bild.31 Die Unterteilung der Retabel in die einzelnen Anteile unterschiedlicher Gewerke öffnet die Perspektive für mögliche zu rekonstruierende Fertigungsszenarien ohne eine Vermischung von Meisterbenennungen für das Gesamtwerk. Eine Kartierung stilistischer Werkgruppen der Holzskulpturen und der Malerei bildet Cluster, die ein Hinweis auf Kunstzentren geben, auch und gerade wenn archivalische Quellen fehlen (Karte 3). Die Untersuchung der Schreinkästen hingegen verrät allgemeingültigere Konstruktionsmerkmale, charakteristische architektonische Schreindekorationen und individuelle Profildekorationen, die sich weniger deutlich zuordnen lassen. Hier weisen die Beobachtungen eher auf lokalspezifische Traditionen hin, etwa zwischen dem Grenzbereich zu Brandenburg und an den Küstenregionen. Zu erwartende Kunstzentren wie Wismar und Rostock können durch diese Methode bestätigt werden. Hier existierten offensichtlich diverse Werkstätten aller Gewerke, die kontinuierlich eine gleichbleibende Qualität liefern konnten.32 Auch bei diesen beiden Kunstzentren existieren komplexe Werkgruppen mit Verbindungen untereinander und Abhängigkeiten zu Werken außerhalb der Region, die eine auf die Mobilität der verantwortlichen Spezialhandwerker zurückzuführende große Dynamik abbilden. In Wismar lassen sich so drei größere Holzskulpturen-Werkgruppen nachweisen, während die Rostocker Gruppe in sich heterogener ist. Weiterhin zeigen sich unbeachtete Städte im Binnenland wie Güstrow, Parchim, aber auch Friedland, Neubrandenburg und Dargun als Kunstzentren und Transformationsorte. Durch die Verbindungen zwischen den Wismarer und Parchimer Werkgruppen ist zudem eine Wanderbewegung nachzuweisen, die für eine Verlagerung einer Werkstatt von der Küste ins Binnenland spricht.33 Anhand der Verbreitungskarte lassen sich auch Absatzgebiete erkennen. So lieferten Wismarer Werkstätten ihre Retabelskulpturen überwiegend in den westlichen und zentralen Landesteil von der Küste bis zur brandenburgischen Grenze, Rostock fand seinen Markt in der Mitte des Herzogtums bis zur Seenplatte im Süden, Güstrow bediente einen Umkreis von etwa 25 Kilometern, die kleineren Städte wie Neubrandenburg hatten nur eine lokale Bedeutung. Bemerkenswert ist die Entwicklung des

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Karte 3: Übersicht über die Werkgruppen der Skulpturen und Malerei in Mecklenburg zwischen 1480 und 1540

© Julia Trinkert

Absatzgebietes der drei Parchimer Werkgruppen, bei denen es sich aufgrund ihrer chronologischen Datierungen möglicherweise um Produkte einer über mehrere Generationen bestehenden Werkstatt handeln könnte.34 Die früheste Werkgruppe findet sich in einem Radius von 50 Kilometern um die Stadt, darauf folgt die zweite Werkgruppe in einem breiten Streifen im Süden des Landes zwischen der westlichen Umgebung von Parchim bis zur Grenze von Vorpommern. Die dritte und späteste Werkgruppe erstreckt sich von der Seenplatte bis zur Ostseeküste bei Warnemünde. Die Bedeutung der Werkstätten als Transformationsorte der Kunst zeigt sich deutlich in einem historischen Überblick über die Entwicklungen der einzelnen Kunstzentren in Mecklenburg. Im ausgehenden 15. Jahrhundert dominierten Wismarer Werkstätten die westlichen Landesteile bis zur Prignitz, während Rostocker Werkstätten ihren Markt in den östlichen Landesteilen bis zur Grenze nach Vorpommern fanden.35 Durch die Integration modernerer Bildsprache, deutlich von anderen Kunstregionen beeinflusst, konnte sich Wismar einerseits behaupten und andererseits einen Wettbewerbsvorteil geltend machen. Es ist davon auszu-

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gehen, dass wandernde Gesellen, etwa aus Niedersachsen, mit dem eigentlichen Ziel Lübeck aufgrund der dortigen Hochkonjunktur der Gewerke weiter bis Wismar zogen und dort eine Anstellung fanden.36 So können herausragende Retabel aus Wismarer Produktion auch die Kernabsatzgebiete der Stadt überschreiten. In den Jahren vor der offiziellen Etablierung der Reformation 1549 existierte in Mecklenburg offensichtlich nur eine geringe Anzahl von Schnitzerwerkstätten, die ihren Standort in Parchim, Güstrow und Dargun hatten.37 Im Gegensatz zu den sehr zahlreich erhaltenen Holzskulpturen und Schreinkästen der Retabel haben sich in Mecklenburg nur vergleichsweise wenige Tafelmalereien erhalten, sodass die Aussagekraft der einzelnen Werkgruppen und ihrer Verbreitung hinter jener der Skulpturen zurücksteht.38 Es zeichnen sich jedoch Werkgruppen ab, die nach Wismar und Parchim lokalisiert werden können. Führt man nun die beiden gattungsspezifischen Werkgruppen der Skulpturen und Malereien auf einer Verbreitungskarte zusammen, lassen sich bemerkenswerte Beobachtungen hinsichtlich möglicher Werkstattkooperationen zwischen Bildschnitzern und Malern ableiten. Auffallend sind hier Werkgruppen einer einzigen Stadt, etwa Wismar, die in einer häufigen Kombination erscheinen und durch ihre qualitativen Unterschiede oder Gemeinsamkeiten auf das Auftragsvolumen des Retabels oder das für den Gesamtauftrag verantwortliche Gewerk hinweisen.39 So werden für qualitätvolle, aufwendige Retabel Arbeiten bestimmter Werkgruppen, die eine hohe künstlerische Fähigkeit vermuten lassen, favorisiert. Unterscheiden sich die beiden Anteile deutlich in ihrer Qualität, erscheint also etwa die Malerei künstlerisch anspruchsvoller als die Skulptur, könnte man daraus schließen, dass eine Malerwerkstatt den Gesamtauftrag annahm und damit einen größeren Anteil der Kosten für sich beanspruchte und entsprechende preiswertere Unterverträge an eine Bildschnitzerwerkstatt vergab. Des Weiteren geht aus den gattungsübergreifenden Kooperationen der Werkgruppen hervor, dass für Retabel auch Spezialhandwerker verschiedener Städte tätig wurden. Wahrscheinlich wurden für bestimmte Arbeiten eher fähige Werkstätten in der Nähe des Aufstellungsortes beauftragt statt vollständige Retabel über weite Strecken über Land zu liefern. Es war sicher logistisch einfacher zu realisieren, Skulpturen oder Personal über solche Entfernungen zu transportieren. Demnach finden sich etwa Wismarer Skulpturen in Schreinkästen aus Südmecklenburg oder Parchimer Malereien an Güstrower Retabeln. An einzelnen Werken sind fehlende Absprachen zwischen den beteiligten Gewerken zu bemerken, indem etwa die Gefache für die Skulpturen zu klein geraten sind und die Schleierbretter die Köpfe der Figuren teils verdecken.

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Werkstätten

als

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Aus dieser werkzentrierten Untersuchungsmethode ergibt sich zwangsläufig ein personenzentrierter Ansatz, der die Werkstätten und ihre Mitglieder grundsätzlich als Räume bewusster oder unbewusster Kunsttradierung betrachtet. Dies trifft für Mecklenburg wie für Sønderjylland zu und ist bedeutend für die Genese der dortigen Retabel und ihrer heute noch erhaltenen Fragmente. Die Zuschreibung an ein- und dieselbe verantwortliche Person, etwa einen (sogenannten?) Meister, führt hier nicht weiter. Gerade in ländlichen Gebieten wie wir sie auch in Sønderjylland finden, waren die Absatzmärkte so gering, dass man hier von loseren Werkstattstrukturen ausgehen muss. Sie stellen keine isolierten Einheiten mit einer Kontinuität von mehreren Jahrzehnten dar wie dies für größere städtische Beispiele nachzuweisen ist. Die vielfältigen, stilistischen und kunsttechnischen Verknüpfungen zwischen den Werken einer Holzskulpturen-Gruppe führen direkt auf die einzelnen beteiligten Bildschnitzer, ihre Netzwerke und damit auch auf die Auftraggeber zurück und können helfen, Prozesse zwischen lokalen, regionalen und überregionalen Kunsttraditionen und damit die Entstehungsstrukturen der Werke nachzuzeichnen. Die einzelnen Bildschnitzer hinterlassen eine Spur, könnten und sollten jedoch nicht in ihrer individuellen Persönlichkeit untersucht werden, da sie sich nicht eindeutig identifizieren und benennen lassen.40 Sie verknüpfen durch ihre Mobilität Werkgruppen und ihre vielfältigen Merkmale untereinander und bilden ein komplexes Netz von Verbindungen zwischen diesen (Grafik 1). In Mecklenburg ergaben die Untersuchungen ein mehrschichtiges Bild von Verflechtungen aus den an der Küste gelegenen Oberzentren Wismar und Rostock, den im Binnenland gelegenen Mittelzentren Parchim und Güstrow sowie den Unterzentren Neubrandenburg, Friedland und Dargun.41 In diesem Geflecht fand ein Austausch von Handwerkern statt, die ihrerseits in den Werkstätten künstlerische Formen, sicher auch durch Beschreibungen von Kunstwerken durch eigene Betrachtungen, Vorlagen, Modelle und Mustersammlungen sowie Innovationen tradierten. Hier finden sich sowohl individuelle als auch gemeinschaftliche oder auf Nachahmung beruhende Tradierungsformen. Die Spezialhandwerker konnten so durch ihre Erfahrungen auf den Gesellenwanderungen das Motivrepertoire der Werkstätten bereichern und zu einem Wettbewerberfolg beitragen.42 Wir müssen ferner davon ausgehen, dass die Handschrift des einzelnen vor allem in städtischen Kontexten durch einen erforderlichen Werkstattstil nivelliert wurde,

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um eine einheitliche, von den Auftraggebern gewünschte Produktion zu gewährleisten. Auch das traditionelle hierarchische Zuschreibungsmodell an Meister und Geselle wird durch die vielfältigen, rhizomatischen Verflechtungen im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari obsolet. In der spätmittelalterlichen Kunstproduktion in Mecklenburg und Sønderjylland greift demnach primär die Form des organisierten Interessenaustauschs, um künstlerische Entwicklungen zu tradieren. Unabdingbar für die Arbeitsorganisation der an der Fertigung von Retabeln und anderen Kirchenausstattungsstücken beteiligten Spezialhandwerker waren es die in den Städten in Ämtern zusammengeschlossenen Gewerke, die als weitere Transformationsorte angesprochen werden können.

Fazit Anhand dieser Untersuchung lässt sich einmal mehr konstatieren, dass in Nordeuropa in den Jahrzehnten vor der Durchsetzung der Reformation die einzelne Künstlerpersönlichkeit für die Tradierung von künstlerischen Entwicklungen weniger ausschlaggebend war als die zumindest im städtischen Bereich institutionalisierte Werkstatt in ihrer Einbindung in das Amt ihres spezifischen Gewerkes. Diese Strukturen ermöglichten durch die Mobilität der jeweiligen Spezialhandwerker die Weitergabe und Rezeption von künstlerischen Inhalten. Es zeigt sich, dass hochkomplexe Verbindungen zwischen einer hohen Anzahl von Werken in einem geografischen Großraum bestehen, die nicht mit dem traditionellen Deutungsschema von hierarchischen Zuschreibungsversuchen an Meister und Schüler beziehungsweise Gesellen, wie es in der kunsthistorischen Literatur häufig vorgenommen wurde und auch noch wird, zu erklären sind. Hilfreich wäre für solche Fragestellungen, Wahrnehmungen von vielfältigen Inhalten wie bei der Aller-Gruppe in Sønderjylland zunächst nur zu beschreiben, auch wenn daraus kein für KunsthistorikerInnen zufriedenstellendes Resultat erfolgt. Ganz im Sinne Jürgen Wieners geht es gerade darum „gelegentlich Irritationen“ auszuhalten, statt sie für das „perfekte Ineinandergreifen“ eines Konzeptes zu ignorieren.43 Die erneute Anwendung dieser für die Untersuchung spätmittelalterlicher Retabel in Mecklenburg entwickelten Untersuchungsmethode auf einen weiteren Großraum in Sønderjylland steht noch am Anfang. Die aus den Beständen erarbeitete Werkgruppe zeigt erste Tendenzen hinsichtlich motivisch-typologischer und stilistischer Inhalte, die in einem weiten Bereich wohl durch die Mobilität zahlreicher Bildschnitzer in diversen Werkstätten tradiert wurden. Um ein deutlicheres Bild zu möglichen Kunstzentren als Sitz anzunehmender Werkstätten zu erhalten und damit zu Transformationsorten, müssen einerseits weitere

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Werkgruppen von Skulpturen und Malereien analysiert, andererseits die Bestände angrenzender geografischer Räume ergänzt werden. Aus den Resultaten für Mecklenburg können durch diese Methode hinsichtlich üblicher Mechanismen von Werkstattkooperationen allgemeingültige Erkenntnisse gewonnen werden, die die Arbeitsteilung der namentlich nicht bekannten Spezialhandwerker, die Auftragsvergabe, die Aufteilung des Auftragsvolumens unter den Gewerken sowie Verbreitungs- und Absatzgebiete von Kunstwerken betreffen. Durch die vollständige Auswertung des süddänischen Inventars könnten diese Beobachtungen verifiziert werden. Es zeigt sich, dass solche zusätzlichen methodischen Untersuchungsansätze große Bestände von mittelalterlichen Werken aus unbekannten Fertigungszusammenhängen verstehen helfen, indem objektivere Beobachtungen festgehalten werden. Ferner bieten sie auch das Potenzial, tradierte Forschungsergebnisse von vermeintlich bekannten, an Künstlerpersönlichkeiten orientierten Kunstproduktionskontexten erneut zu durchleuchten.

A nmerkungen 1 | Wiener, Jürgen: „Entführte Elemente. Ikonographische Gelegenheiten, Verlegenheiten und Vorwände der Raptusgruppen in Salzburg und Versailles“, in: Christian Hecht (Hg.), Beständig im Wandel: Innovationen – Verwandlungen – Konkretisierungen. Festschrift für Karl Möseneder zum 60. Geburtstag, Berlin 2009, S. 221–238, hier S. 226. 2 | Trinkert, Julia: Flügelretabel in Mecklenburg zwischen 1480 und 1540. Bestand, Verbreitung und Werkstattzusammenhänge (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 120), Petersberg 2014. 3 | Ebd., S. 15 f. 4 | Schmid, Wolfgang: „Kunstlandschaft – Absatzgebiet – Zentralraum. Zur Brauchbarkeit unterschiedlicher Raumkonzepte in der kunstgeographischen Forschung vornehmlich an rheinischen Beispielen“, in: Uwe Albrecht (Hg.), Figur und Raum. Mittelalterliche Holzbildwerke im historischen und kunstgeographischen Kontext [Akten des internationalen Colloquiums auf der Blomenburg bei Selent (7.–10. Oktober 1992)], Berlin 1994, S. 21–35, hier S. 23 ff. 5 | Trinkert 2014, S. 221. 6 | Ebd., S. 119 ff. 7 | Ebd., S. 119, Kat. Nr. 49. 8 | Ebd., S. 119, Kat. Nr. 35. 9 | Ebd., S. 119–120, Kat. Nr. 10; S. 121, Kat. Nr. 34. 10 | Ebd., S. 120, Kat. Nr. 54; 121, Kat. Nr. 53. 11 | Ebd., S. 120–121, Kat. Nr. 66. 12 | Ebd., S. 121–122, Kat. Nr. 23.

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Julia Trinkert 13 | Ebd., S. 122, Kat. Nr. 22. 14 | Ebd., S. 122–123, Kat. Nr. 12. 15 | Ebd., S. 123–124, Kat. Nr. 85. 16 | Ebd., S. 124–125, Kat. Nr. 80. 17 | Ebd., S. 119. 18 | Ebd., S. 121. 19 | Ebd., S. 122. 20 | Ebd., S. 122 ff. 21 | Schlie, Friedrich: Die Kunst- und Geschichts-Denkmäler des Grossherzogthums Mecklenburg-Schwerin. Die Amtsgerichtsbezirke Rostock, Ribnitz, Sülze-Marlow, Tessin, Laage, Gnoien, Dargun, Neukalen, Schwerin 1896, S. 522. 22 | Richter, Jan Friedrich: Claus Berg. Retabelproduktion des ausgehenden Spätmittelalters im Ostseeraum, Berlin 2007, S. 308, Anm. 9, S. 310–312, Anm. 306; Plathe, Sissel F./Bruun, Jens: Danmarks middelalderlige altertavler – og anden billedbærende kirkeudsmykning af betydning for liturgien og den private andagt, Odense 2010, S. 1256 ff.; Andersson, Aron/Rydbeck, Monika: Medieval wooden sculpture in Sweden. Bd. IV: The Museum Collection. Catalogue, Uppsala 1975, S.  273 ff.; Ahlström, Inger-Maria: Passionsskåpet från Västra Ed, Borås 2000, S. 11. 23 | Nationalmuseum Kopenhagen (Hg.): Danmarks kirker. Bd. 20–23: Sønderjylland. Tilføjelser og Rettelser. Kunsthistorisk Oversigt. Registre, Kopenhagen 1963, S. 2815 ff. 24 | Das Laurentius-Retabel aus Døstrup befindet sich in der Sammlung des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte, Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf, Inv. Nr. 1904/176, vgl. Albrecht, Uwe (Hg.): Corpus der mittelalterlichen Holzskulptur und Tafelmalerei in Schleswig-Holstein. Bd. 3: Schleswig. Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen auf Schloss Gottorf, Kiel 2016, S. 137–142, Kat. Nr. 38. 25 | Holbøl, Tating, Kating, Varnæs, Aller, Daler, Højst, Rinkenæs, Sønder Bork, Vollerwiek, Døstrup, Nustrup, Schobüll. 26 | Daler (Jakobus major), Varnæs (Matthias, Paulus, Matthäus, Petrus), Rinkenæs (Matthäus), Vollerwiek, Schobüll. 27 | Varnæs (Simon), Rinkenaes, Daler (Andreas), Tating, Kating, Holbøl, Sønder Bork, Vollerwiek, Schobüll. 28 | Spandet (Judas Thaddäus), Højst (Simon). 29 | Trinkert, Julia: „Von Nordschleswig bis Mecklenburg. Forschungsstrategien zum Umgang mit Werken des sog. ‚Imperialissimameisters‘“, in: Petermann, Kerstin/Rasche, Anja/Weilandt, Gerhard (Hg.), Hansische Identitäten (=Coniunctiones – Beiträge des Netzwerks Kunst und Kultur der Hansestädte 1), Petersberg 2017. 30 | Trinkert 2014. 31 | Ebd., S. 9 ff. 32 | Ebd. S. 69–95, 112–119.

Transformationsorte der Kunst identifizieren 33 | Ebd., S. 95, 138. 34 | Ebd., S. 138. 35 | Ebd., S. 138. 36 | Ebd., S. 139. 37 | Ebd., S. 138. 38 | Ebd., S. 140 ff. 39 | Ebd., S. 183 ff. 40 | Ebd., S. 14. 41 | Ebd., S. 221. 42 | Lichte, Claudia: „Meisterwerke massenhaft … – Zum Problem der Händescheidung in der Weckmann-Werkstatt“, in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hg.), Meisterwerke massenhaft. Die Bildhauerwerkstatt des Niklaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500, Ausst.-Kat. Württembergisches Landesmuseum Stuttgart, 1993, Stuttgart 1993, S. 19–29, hier S. 19. 43 | Wiener 2009, S. 226.

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Originale in der Kochkunst? Johannes Röll Der Florentiner Bildhauer Bertoldo di Lorenzo beklagt sich in einem Brief an seinen Gönner Lorenzo de’Medici vom 19. Juli 1479 bitterlich darüber, dass ein gewisser Luca Calvanese („Lucha Chalvanese“) ihm sein Kochbuch gestohlen habe und nun mit seinen Rezepten solch einen Erfolg habe, dass er deshalb sogar in den Ritterstand erhoben wurde. Dessen Gerichte seien nun höher geschätzt als alle anderen Tugenden, Wissenschaften oder Künste („piu istimate/che ttute laltre virtu o scienzie/o/arte“), obwohl er diese Wissenschaft („iscienza“) doch nur seines, Bertoldos, Kochbuch verdanke, dass dieser hinterlistig (dies eine gemäßigte Übersetzung des originalen „porcinosamente“) entwendet habe. Bertoldo schreibt weiter, stets einen ironischen Ton beibehaltend, dass er dies nun zum Anlass nähme, die Bildhauerei aufzugeben und Lorenzo de’Medici allein um den Gefallen bitte, die Amtspersonen der Grascia (dem für Lebensmittel zuständigen Komitee) dazu zu bringen, ihm wieder zu seinem Kochbuch zu verhelfen.1 Anlass und Kontext des Briefes wurden in der kunsthistorischen Literatur mehrfach erörtert, am ausführlichsten von Alessandro Parronchi2, James Draper3 und Lorenz Böninger und Luca Boschetto.4 Das Augenmerk lag hierbei vornehmlich darauf, den Dieb des Kochbuchs, Luca Calvanesi, zu identifizieren. Parronchi versuchte, in ihm mittels verschlungener Argumente den Humanisten und Florentiner Kanzler Bartolomeo Scala zu sehen, doch hält sein Vorschlag (von Draper als „ultrascholastic“ bezeichnet5) einer näheren Prüfung nicht stand.6 Denn Böninger und Boschetto gelang es, die Familie der Calvanesi urkundlich zu fassen und einen Luca Calvanesi, der 1435 geboren wurde und im Florentiner Viertel von Santo Spirito aufwuchs, als den vermutlich von Bertoldo Beschuldigten dingfest zu machen.7 Hinfällig wurde damit auch Parronchis These, dass es sich bei dem Kochbuch tatsächlich um ein Skizzenbuch gehandelt habe, das ihm ein anderer

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Johannes Röll

Abbildung 1: Brief des Bildhauers Bertoldo di Lorenzo an Lorenzo de’Medici, 19. Juli 1479

Florenz, Archivio di Stato, M.A.P. filza 37, carta 593

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Künstler entwendet habe, um die Inventionen des Donatello-Schülers – „sendo discepol di donato“, denn als solcher bezeichnet sich Bertoldo in diesem Brief – als die eigenen ausgeben zu können.8 In diesem Beitrag soll es weder um die Identität des mutmaßlichen Diebes Luca Calvanesi noch um die mehrfach auch im politischen Tagesgeschäft kontextualisierten Anschuldigungen und Bemerkungen Bertoldos gehen. Denn erstaunlich an diesem Brief ist die angesichts der biografischen Enthüllung und historischen Verwirrung übersehene Tatsache, dass Bertoldo bei seinem Kochbuch von einem Original ausgeht, das ihm ein anderer entwendet habe, um sich selbst als Urheber auszugeben. Es geht ihm in seinem Lamento um sein geistiges Eigentum, um seine eigene Erfindung, um seine Rezepte. Das Kochen bezeichnet Bertoldo sowohl als Kunst als auch Wissenschaft, den Verlust seines Kochbuches als Verlust seines Eigentums. Eine vorwiegend neuplatonistisch und mit einem obskur-elitären künstlerischen Geniebegriff im Umfeld Lorenzo de’Medicis leichtfertig argumentierende Geisteswissenschaft tat sich mit solch praktischer Haushaltsmaterie freilich schwer, musste doch ein tieferer Sinn hinter dieser profan anmutenden Anklage gefunden werden. Ein Blick auf die in diesen Jahren aufkommenden Themen des Urheberrechts und der Kochkunst lässt jedoch den zentralen Punkt Bertoldos, der bislang allein aus dem Blickwinkel der Kunstwissenschaft diskutiert wurde, in anderem Lichte erscheinen. De honesta voluptate et valetudine, das Kochbuch des Humanisten und Präfekten der Vatikanischen Bibliothek, Bartolomeo Sacchi, der sich Platina nach der lateinischen Bezeichnung seines Geburtsorts Piadena nannte, wurde zwischen 1465 und 1467 geschrieben und zwischen 1473 und 1475 erstmals gedruckt.9 Weitere Kochbücher und Traktate sind in diesen Jahrzehnten erschienen, von diesen war das Libro de arte coquinaria des Maestro Martino da Como aus den 1460er Jahren das bekannteste.10 Der am römischen Hof des Kardinals und Patriarchen von Aquileia, Lodovico Trevisan, tätige Maestro Martino hatte als Koch weitreichenden Ruhm erlangt, Platina würdigte in seiner eigenen Schrift dessen Bedeutung und verwendete viele seiner Rezepte, aus dem Volgare ins Lateinische übersetzt. Das Kochen wird hier ausdrücklich als Kunst bezeichnet, dies geht auf frühere Jahrhunderte zurück11 und hat sich bis heute in vielen Sprachen gehalten. Auch Bertoldo beruft sich auf die Kunst des Kochens nicht nur im Tenor seines Briefes, sondern im tatsächlichen Verweis, wenn er schreibt, dass er alle anderen Künste aufgeben und sich nur noch dem Kochen widmen wolle („abandonare tutte laltre arte e dar mj alla chocheria“).

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Bertoldos Klage bezieht sich im Kern auf die Urheberschaft des von ihm künstlerisch Erdachten, das ein anderer als seine eigene Kreation deklariert hatte. Auch die Frage nach der Autorschaft künstlerischer und kommerziell zu nutzender Artefakte war in diesen Jahren aktuell. Am 18. September 1469, zehn Jahre vor Bertoldos Brief, wurde dem deutschen Buchdrucker Johannes von Speyer von der Stadt Venedig ein Privileg gewährt, um in Venedig und seinen abhängigen Gebieten („civitate Venetiarum et districtu suo“) die Kunst des Buchdruckes („ars imprimendi libros“) monopolistisch über einen Zeitraum von fünf Jahren ausüben zu dürfen. Anderen Buchdruckern wurde bei Strafe verboten, dort Bücher zu drucken, auch der Import von in anderen Städten gedruckten Büchern war untersagt.12 Das Privileg erlosch allerdings schon ein Jahr später, da Johannes von Speyer verstorben war.13 Wir haben es hier mit unterschiedlichen, aber letztlich verwandten Auffassungen von Original und von Kunst zu tun. Die Kunst des Kochens und die Kunst des Buchdrucks haben in ihrem Kunst- beziehungsweise Originalitätsbegriff verschiedene Ursprünge, sind von ihrem Wesen her aber Reproduktionskünste. Man mag sich gerade bei der Kochkunst die Frage stellen, wo das Original zu verorten sei − beim Rezept oder beim Gericht? Was bedeutet es, wenn man vom Sugo della Nonna spricht und diesen nachkocht – kreiert man ein Original oder eine Kopie, oder eine Bearbeitung des Originals? Worin unterscheidet sich das solcherart Geschaffene von der Kopie eines Buches aus einem Druckstock? Auch beim Buch ist die Frage nach dem Original zwiespältig: zum einen geht es um den Text des Schreibenden selbst und zum anderen um den Druckstock des Druckers und das daraus Entstandene.14 Das Urheberrecht heute ist im Bereich der Kochkunst nicht oder nur bedingt zuständig, denn es schützt ausdrücklich nur Werke der Literatur, Wissenschaft und Kunst. Die Kochkunst gehört, trotz beschworener und auch angewandter Kunst und Wissenschaft, nicht dazu. Die Rechtslage erscheint in Deutschland, Italien und den USA nahezu identisch. „But there are also categories whose inclusion in copyright is controversial, they may be recognized in some countries but not in others. Examples include perfume, fashion shows, cookery recipes but also certain forms of ex tempore speech.“15

Dennoch kam es immer wieder zu Kontroversen. Besonders die Veröffentlichung von einzelnen Rezepten oder von Rezeptsammlungen im Internet oder in sogenannten sozialen Netzwerken gab Anlass zu Vorgaben, Nachfragen und meist persönlichen Meinungskundgebungen.16 Bertoldo hätte es damals wie heute also schwer gehabt, seine Urheberschaft an den Rezepten geltend zu machen und daraus einen Rechtsanspruch ableiten zu

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können. Wahrscheinlicher hätte er den Diebstahl nachweisen und Luca Calvanese hierfür zur Rechenschaft ziehen lassen können. Bertoldos Brief weist aber auch auf eine engere Verflechtung von Original- und Stilbegriff im 15. Jahrhundert hin. Die Entstehung des Stilbegriffs hat Ulrich Pfisterer bei Donatello und dessen Umfeld verortet.17 Die Anfänge der Beschreibung des Individualstils – denn um diesen geht es hier im Gegensatz zum Epochenstil – liegen bei Petrarca, doch fanden spezifischere Begriffe erst im Quattrocento Verwendung. Michael Baxandall hat exemplarisch Cristoforo Landinos Schrift Fiorentini excellenti in pictura et sculptura, die 1480 geschrieben wurde, untersucht und die von Landino verwendeten verschiedenen Termini in den Kontext der Florentiner Künstler der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gestellt.18 Eine Anerkennung und Wertung des Originals – obwohl der Begriff selbst keine Anwendung findet − durch die Künstlersignatur ist hingegen schon seit der Antike belegt.19 Im Quattrocento mehren sich jedoch, dies ist freilich auch der Überlieferungslage geschuldet, die dokumentierten Vorgaben, dass zumindest bestimmte Partien des Auftragswerkes von der Hand des Künstlers propria manu auszuführen seien.20 Die Bedeutung des Originals stieg mit dem Status des Künstlers, Eigenhändigkeit und Original implizierten Qualität. Bertoldos Insistieren auf der Originalität seiner Rezeptsammlung darf deshalb auch als ein in seiner Zeit zu verortendes Hervorheben seiner Eigenhändigkeit und seines persönlichen Kochstils bewertet werden. Er fordert Anerkennung für sein geistiges Eigentum, aber letztlich auch für dessen Ausführung. Je näher man dem Original, dem Sugo della Nonna kommt, umso richtiger ist das Gericht. Das Original ist ephemer, es existiert (zumeist) nicht als reales Objekt, sondern nur als geschriebenes oder erinnertes, als historisches Vorbild. Das sogenannte Original und seine Derivate werden deshalb stets subjektiv erfahren, in der Bearbeitung verändert sich auch die Wahrnehmung des Originals. Das Original erhält durch die Bezeichnung identitätsstiftende ephemere Gestalt, bei der zumeist auch schon Varianten mitgedacht werden können. Zum Sugo della Nonna, dem Königsberger Klops oder dem Wiener Würstchen gab es immer ein heute nicht mehr existierendes Original. Die Kochkunst ist deshalb nahezu ausschließlich Reproduktionskunst – wenn der Terminus Kunst beibehalten werden soll – und kreiert ein neues ephemeres Werk, das gleichwohl als Original angesprochen werden kann.21 Original Wiener Würstchen oder Original Wiener Schnitzel werden allenthalben angeboten, auf ein durch die Tradition historisches Urbild verweisend und sich gleichzeitig von anderen Derivaten desselben Urbildes absetzend. Walter Benjamin hat in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit dem originalen Kunstwerk eine „Aura“ zugesprochen, die durch die mechanischen Reproduktionen verkümmere. Freilich hatte er hier-

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Abbildung 2: Wiener Würstchen – Original, Reproduktion, Kopie?

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bei nicht die Kochkunst im Sinn, doch kommen ihr seine Ausführungen zum Verhältnis einer Theateraufführung zu der Reproduktion im Film nahe. „Denn die Aura ist an sein [d. i. der Mensch] Hier und Jetzt gebunden.“ Bei „historischen“ Gerichten läge, wenn man den Begriff der „Aura“ beibehalten wollte, diese in der imaginierten, erinnerten oder beschriebenen Vorstellung eines „Originals“, aber natürlich zumindest gleichberechtigt auch im „Hier und Jetzt“ der Reproduktion.22 Das „Kulinarische“ ist bei Theodor W. Adorno ein Terminus, den er abwertend in Bezug auf die musikalische Reproduktion appliziert. Das Original verortet Adorno allein in der Partitur, diese sei die „Röntgenphotographie des Werkes“.23 Auch die technisch perfekte Reproduktion sei nur eine sinnliche Erscheinung auf der Stufe des „vorkünstlerisch Kulinarischen“.24 „Die wahre Reproduktion ist die Nachahmung eines nicht vorhandenen Originals, und dieses Nichtvorhandensein, die Nichtexistenz des Werkes an sich definiert zugleich die Objektivität, die in der subjektiven Spontaneität des Interpreten gelegen ist.“25 Somit wären nach Adornos Definition den musikalischen Reproduktionen auch kulinarische ähnlich, wobei die „subjektive Spontaneität“ dem kochenden Interpreten zufällt. Ein absolutely free der Kunst – der Titel dieser Festschrift stellt dies ja zur Diskussion – ist für die Kochkunst trotz aller Möglichkeiten nur eingeschränkt denk-

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bar, allerdings geht es stattdessen fast ausschließlich um kulinarische Gelegenheiten. Bertoldos Insistieren auf der Originalität seiner Rezeptsammlung ermöglicht Reflexionen über die zu seiner Zeit aktuellen Erwägungen zu Urheberrechten, Privilegien und Originalen. Wichtiger aber erscheint eine Einbettung der Kochkunst als einer kreativen und ephemeren, letztlich aber auch historischen Kunst und Wissenschaft in größere Kontexte. Sie geht einher mit einer Neubewertung des Reproduktionswesens, wie sie beispielsweise Wolfgang Ullrich gefordert hat. Gerade dort, wo man mit dem „sakrosankten Begriff vom Original“26 nur schwer argumentieren kann, erweitert die Analyse und Kontextualisierung der Reproduktion nicht zuletzt auch dessen Kenntnis. Anhang: Auszug aus dem Brief des Bildhauers Bertoldo di Lorenzo an Lorenzo de’Medici, 19. Juli 1479, Florenz, Archivio di Stato, M.A.P. filza 37, carta 593 (http://www.archiviodistato.firenze.it/map/riproduzione/?id=50622): „Mangnificho Lorenzo […] Intendo che peverj del nostro chomandatore di prato messer lucha chalvanese so[n] piu istimate/che ttute laltre virtu o scienzie/o/arte apresso del cho[n]te girolamo poche lanno cho[n]dotto alla chavalleria e p[er]che/so/detta virtu della chocheria non/[è] p[er]/M[esser] lucha naturale ma e iscienzia aquisita p[er] vi[r]tu del mio libro delle chocherie porcinosamente che credo che lla piu pulita chosa facessj maj fu quando vi dette a monte gufonj dua menate di bechaficj choctj cho[n] mano Il perche/o/diterminato abandonare tutte laltre arte e dar mj alla chocheria e pero prego la mangnificenzia vostra che mj dia favore cho glufizialj della grascia chessono sopra e chuochj chi riabbj el mio libro che o isperanza in breve tenpo M[esser] lucha de peverj no[n] sare buono a ttenere Io staccio che volessj iddio chj fussj istato sottol chibaha piutosto che sotto donatello che veduto e tenporalj chorrono no[n] avej fatto dua gachominj/o/dua gelatine chel chonte mereb[b]e fatto priore di pisa e sse volessj dire che llavessj fatto p[er] chapo de gughantj o p[er] altro chapo, che p[er] lo meglo si tace a voj la lascio gudichare sendo discepol di donato e sopra tutto vi prego inanzJ che M[esser] lucha abbj la possissione Io riabbj el mio libro delle chocherie che rriavendolo mi basterebbe lanimo a metter luj el mulinuzo e pivi sua el beneficio In un pasticcio e choprillo di pevero sanza passarllo p[er] istacco e poi farne pallottole da maria […]“

A nmerkungen 1 | Der Brief liegt im Archivio di Stato di Firenze, ASF, MAP XXXVII, 593. Das Dokument wurde mehrfach in der Bertoldo-Literatur veröffentlicht, die zuverlässigste Transkription bei Böninger, Lorenz/Boschetto Luca: „Bertoldo di Giovanni. Nuovi documenti sulla sua famiglia

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Johannes Röll e i suoi primi anni fiorentini“, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 49.2005, S. 233–268, hier S. 266–267. 2 | Parronchi, Alessandro: „The language of humanism and the language of sculpture: Bertoldo as Illustrator of the Apologi of Bartolomeo Scala“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 27.1964, S. 108–136. 3 | Draper, James D.: Bertoldo di Giovanni, Sculptor of the Medici Household. Critical Reappraisal and Catalogue Raisonné, Columbia/London 1992, besonders S. 7–12. 4 | Siehe Anm. 1. 5 | Draper 1992, S. 10. 6 | Parronchi 1964, S. 109–112. 7 | Böninger/Boschetto 2005, S. 246–248. 8 | Parronchi 1964, S. 135–136. 9 | Carnevale Schianca, Enrico (Hg.): Bartolomeo Platina. De honesta voluptate et valitudine. Un trattato sui piaceri della tavola e la buona salute. Nuova edizione commentata con testo latino a fronte (= Biblioteca dell’ „Archivum Romanicum“, Ser. 1/Bd. 440), Florenz 2015; siehe auch Laurioux, Bruno: Gastronomie, humanisme et societé à Rome au milieu du XVe siècle. Autour du De honesta voluptate de Platina, Florenz 2006. 10 | Siehe Ballerini, Luigi/Parzen, Jeremy (Hg.): Maestro Martino. Libro de arte coquinaria, Mailand 2001. 11 | Grewe, Rudolf/Hieatt, Constance B. (Hg.): Libellus de arte coquinaria: An Early Northern Cookery Book, Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies, Tempe/Arizona, 2001. 12 | Siehe Kostylo, Joanna: From Gunpowder to Print: The Common Origins of Copyright and Patent, in: Privilege and Property. Essays on the History of Copyright, Cambridge 2010, S. 21–50, besonders S. 23–25. Das Dokument mit Kommentar und Transkription, in: Bently, Lionel/Kretschmer, Martin (Hg.): Johannes of Speyer’s Printing Monopoly, Venice (1469), Primary Sources on Copyright (1450–1900), Staatsarchiv Venedig, ASV, NC, reg. 11, c. 55r, http://www. copyrighthistory.org/cam/tools/request/showRepresentation?id=representation_i_1469. 13 | In diesem Zusammenhang sei auch auf die gerne wiederholte Anekdote verwiesen, nach der Giorgio Vasari zufolge der Kupferstecher Marcantonio Raimondi unrechtmäßig – Bertoldo würde es als porcinosamente bezeichnen – Albrecht Dürers druckgrafische Werke kopiert habe. Diese Erzählung wurde von Grischka Petri endgültig als Erfindung enttarnt. Petri, Grischka: „Der Fall Dürer vs. Raimondi. Vasaris Erfindung“, in: Künstlerische Praktiken der Vormoderne (= Kunsthistorisches Forum Irsee, Bd. 1), Petersberg 2014, S. 52–69. 14 | Die Literatur zur Kopie ist nicht mehr überschaubar, auch wird die Terminologie teilweise unscharf zwischen den Begriffen Kopie, Reproduktion, Nachahmung, Nachschöpfung, Bearbeitung oder Fälschung behandelt. Anregend für diesen Aufsatz waren Ullrich, Wolfgang: Raffinierte Kunst. Übung vor Reproduktionen, Berlin 2009; sowie Bartsch, Tatjana/Becker, Markus/Schreiter, Charlotte: „The Originality of Copies. An Introduction“, in: Tatjana Bartsch/ Markus Becker/Horst Bredekamp/Charlotte Schreiter (Hg.), Das Originale der Kopie. Kopien

Il Sugo della Nonna als Produkte und Medien der Transformation von Antike (= Transformationen der Antike, Bd. 17), Berlin 2010, S. 27–42. 15 | Van Eechoud, Mireille M.M.: „Voices near and far. Introduction“, in: Mireille Van Eechoud (Hg.), The Work of Authorship, Amsterdam 2014, S. 10. 16 | Siehe das Kapitel: Cuisine, Copying, and Creativity, in: Kal Raustiala/Christopher J. Sprigman, The Knockoff Economy. How Imitation sparks Innovation, Oxford 2012, S. 57–96. Zum Urheberrecht siehe beispielsweise für die USA, https://paleoflourish.com/recipe-copyright/,; Hendon, Louise: The definitive Guide to Recipies and Copyright; für Deutschland: https://www.urheberrecht.de/rezepte/; für Italien: https://lacuochinasopraffina.com/ ricette-copiate-copyright-e-tutela-dei-contenuti-che-si-fa. 17 | Pfisterer, Ulrich: Donatello und die Entdeckung der Stile 1430–1445 (= Römische Studien der Bibliotheca Hertziana, Bd. 17), München 2002. 18 | Baxandall, Michael: Painting and Experience in 15th Century Italy. A Primer in the Social History of Pictorial Style, Oxford 1972. 19 | Siehe beispielsweise Dietl, Albert: Die Sprache der Signatur. Die mittelalterlichen Künstlerinschriften Italiens (= Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, Max-Planck-Institut, Bd. 4, Folge 6) Berlin 2009. 20 | Siehe Pfisterer 2002, S. 57, Anm. 59; Glasser, Hannelore: Artists’ Contracts of the Early Renaissance, Ann Arbor 1968, S. 73–78. 21 | Zur Reproduktionskunst allgemein siehe Ullrich 2009. 22 | Zu Benjamins Aufsatz bemerkt Ullrich zu Recht, dass dessen Rezeption eine „Monotonie der Auseinandersetzung“ mit dem Thema der Reproduktion bedingt habe. Siehe Ullrich 2009, S. 16. 23 | Lonitz, Henri (Hg.): Theodor W. Adorno. Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata, Frankfurt a. M. 2005, S. 208. 24 | Adorno/Lohnitz 2005, S. 209. Siehe hierzu auch Ullrich 2009, S. 95–104. Zu den technisch perfekten Kopien der Kochkunst sei zum einen auf die als geheime Rezepturen verwahrten Anleitungen für Produkte wie Heinz Tomato Ketchup oder Coca-Cola verwiesen. Zum anderen aber ist gerade das Kopieren von Lebensmitteln Herausforderung und Aufgabe des 21. Jahrhunderts, wie die Forschungen nach geschmacksidentischen Alternativen zum tierischen Fleisch aufzeigen. Siehe hierzu beispielsweise https://impossiblefoods.com/food/. 25 | Adorno/Lohnitz 2005, S. 269. 26 | Ullrich 2009, S. 9.

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Die Kirchen von Bankiers Die Medici-Bank und die Kunst der Unternehmenskultur im Quattrocento Dietrich Erben Im Juli 1462 wandte sich der seinerzeit in Genf ansässige Agent des Banco Mediceo mit einem Brief an Piero de’Medici „il Gottoso“ in Florenz.1 In dem Schreiben gab Antonio di Pagolo dem damaligen Chef des Florentiner Bankunternehmens den Rat, eine kirchliche Stiftung in Genf zu tätigen. Während – so schreibt er – an den Häusern und vor allem in den Kirchen der Stadt die Wappen der anderen Florentiner Kaufleute zu sehen seien, gebe es kein Zeichen für die Anwesenheit der Medicifamilie, obwohl diese länger als die anderen Kaufleute in Genf etabliert sei und hier die größten Gewinne erziele: „e la vosta casa che ci è la più anticha e quella che ha fatto più profitti in questa città.“ Über die Absenz der Wappen wundere sich hier in der Stadt jeder, und der Agent empfiehlt daher, einen Kapellenanbau an der hiesigen Dominikanerkirche zu stiften. Der Orden sei finanziell bedürftig, seine Kirche sei schön und sie liege vorteilhaft, da sie während der Verkaufsmessen mehr als jede andere auf dieser Welt aufgesucht werde: „e visitada alle fiere quanto chiesa sia in questa terra“.2 Der Brief macht auf mindestens drei, für meine Überlegungen entscheidende Sachverhalte aufmerksam: Zum einen wurde die Repräsentation der Bank auf der Ebene visueller Mitteilung schon von den zeitgenössischen Beteiligten als unverzichtbar erachtet. Zum anderen hat man bei den entsprechenden Stiftungsinitiativen keineswegs nur die Florentiner Zentrale, sondern auch die auswärtigen Niederlassungen im Auge behalten. Und zum dritten sind neben den Profanbauten der Bank auch kirchliche Stiftungen mit einem entsprechenden Entstehungszusammenhang zu berücksichtigen. Es lässt sich davon ausgehend zeigen, dass bei den traditionellen Bautypen von Kapelle und Stadtpalast neben die ebenso etablierten Stifterabsichten von religiöser und memorialer Familienrepräsentation und der Erfüllung von Fürsorgepflichten in neuartiger Weise auch überindividuelle, auf die Repräsentation der Bank zielende Interessen hinzutreten konnten. Diese

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institutionelle Repräsentation besitzt, so lautet der zweite Teil meiner Argumentation, bis zu einem gewissen Maß dissimulatorischen Charakter. In ihm spiegelt sich wiederum eine Geschäftspraxis der Bank wider, die maßgeblich von den mit Geldgeschäften verbundenen Wertekonflikten geprägt ist, die aber auch einen normativen Rückhalt in der Kunsttheorie der Zeit fand. Im Sinn von Michael Baxandalls Konzept des period eye3 lassen sich so Aspekte einer sozialen Lebenswelt skizzierten, die auch für das Verständnis der Bildwelt einer Unternehmenskultur relevant wurden.

D ie B adia Fiesolana Der Wiederaufbau und die Erweiterung der Badia Fiesolana durch die Medici war mehr als eine fromme kirchliche Stiftung. Indem von den Stiftern für die Patronate der insgesamt acht Seitenkapellen zur Hälfte die Filialleiter der Medici-Bank verpflichtet wurden, war gleichzeitig beabsichtigt, die Kirche zu einem Ort für die Selbstdarstellung des Banco Mediceo zu machen. Bereits die Umstände der Stiftung, für die sich zunächst Cosimo und nach dessen Tod 1464 Piero de’Medici engagierten, machen die ökonomischen Hintergründe unmissverständlich klar. Papst Eugen IV. hatte 1439 den Klosterbesitz von den Benediktinern an die Augustiner-Chorherren transferiert, offenbar wurden schon zu diesem Zeitpunkt die Weichen für das Stiftungsengagement Cosimos gestellt. Denn der aus Venedig stammende Papst hielt sich seinerzeit im Exil in Florenz auf und hatte sich regelrecht unter den Schutz von Cosimo de’Medici begeben. Bekanntlich blieb seit dem Pontifikat Eugens IV. die Finanzierung der Kurie durch die Medici ein Fundamentpfeiler von deren Bankgeschäft.4 Die Erneuerungsarbeiten an der Badia Fiesolana begannen 1441 an dem völlig ruinösen Kloster, zwei Jahrzehnte später wurden die Bauarbeiten an der Kirche aufgenommen, die Errichtung der neuen Chorkapelle erfolgte bis 1466. Die Kirche wurde unverzüglich für den Gottesdienst genutzt, auch wenn der Hauptaltar und die acht Seitenkapellenaltäre erst 1496 geweiht wurden.5 Dass es sich um eine von den Kirchenbauten Filippo Brunelleschis her konzipierte Architektur handelt, steht einem deutlich genug vor Augen (Abb. 1). Die Kirche stellt sich als tonnengewölbter Saal mit Querschiff, überkuppelter Vierung und tiefem Chor dar. Das Raumkonzept ist von der unglaublichen architektonischen Disziplin des Baus mit seinen stereometrischen Volumina und spärlichen Gliederungen bestimmt. Mehrere Namen aus dem Umkreis Brunelleschis kommen als Architekten in Frage. Die früheste Überlieferung spricht hingegen die Autorschaft dem Stifter selbst zu. In der Chronik von Isaia da Este, die mit dem Weihejahr 1496

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Abbildung 1: Fiesole, Badia Fiesolana, Blick auf den Chor

Fotografie: Dietrich Erben

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endet, wird gesagt, dass unter den Klosterbrüdern die Ansicht überliefert werde, Cosimo de’Medici sei der Entwerfer eines Modells gewesen, dies sei aber aus derselben Geste der Bescheidenheit nicht publik geworden, mit der Cosimo auch seine finanziellen Belange diskret gehandhabt habe.6 Es ist nichts Ungewöhnliches, dass dem Bauherren, und nicht dem Architekten, die auctoritas für einen Bau zugeschrieben wird. Bemerkenswert ist jedoch der Vergleich zwischen dem stifterischen Gebaren Cosimos und dessen unternehmerischer Geschäftspraxis, die der Chronist als dissimulierenden Gestus ostentativer Bescheidenheit beschreibt. Die Fassade besteht nur als rohe Ziegelwand, der die Marmorschauwand vorgemauert werden sollte. Bewahrt hat man den Fassadenprospekt des romanischen Vorgängerbaus, der offenbar wie ein verehrtes Erbstück von den neuen Inkrustationen eingefasst werden sollte. Für einen solchen respektvollen Umgang mit den Zeugnissen der sogenannten Protorenaissance finden sich in Florenz mehrfach Parallelen – man denke nur an Santa Maria Novella –, und auch bei der Badia war man durch die Zuschaustellung des baulichen Relikts auf historische Traditionsbewahrung bedacht. Dies mochte darüber hinwegsehen lassen, dass Cosimo und Piero bei der Vergabe der Kapellenpatronate eine konsequente Interessenpolitik für den familialen Clan und die Führungselite der Bank verfolgten.7 Die dem heiligen Bartholomäus geweihte Chorhauptkapelle wurde für die eigene Familie reserviert. Entlang der nördlichen Flanke wurden die Patronate an einen Kreis von Parteigängern und Verwandten vergeben, vertreten sind hier Pieros Ehefrau Lucrezia Tornabuoni und der Humanist Matteo Palmieri. Die Folge der vier südlichen Kapellen wurde an die damaligen Filialleiter des Banco Mediceo vergeben. Die Patronate sind urkundlich belegt und werden auch durch die Wappen in den Kapellenkuppeln anschaulich dokumentiert. Die Reihe der Kapellen beginnt im Osten mit derjenigen von Pigello Portinari, der seit 1452 als Filialleiter der Bank in Mailand fungierte; es folgt die Kapelle des ehemaligen Filialleiters in Genf, Francesco Sassetti, der 1463 als Generaldirektor der Bank vorstand; daran schließt sich die Kapelle der Martelli an, deren Familienmitglieder in Rom und Venedig als Filialleiter fungierten; an der Eingangsseite bildet die Kapelle von Angelo Tani, dem Leiter der Filiale in Brügge, den Abschluss. Im Hinblick auf die Ausstattung der Kapellen waren die Patrone durch die strengen Vorgaben der Architektur letztlich auf Altargemälde, mit denen sich die gemauerten Stipites bestücken ließen, beschränkt. Wir wissen bislang nur von einem dieser Retabel. Es handelt sich um das Weltgerichts-Triptychon, das Angelo Tani in Brügge bei Hans Memling bestellt hatte. Die Außenseiten zeigen das Stifterehepaar mit den Wappen. Der Altar gelangte allerdings niemals in die Badia,

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denn das Schiff mit dem Retabel an Bord wurde von Seeräubern gekapert, die den Altar der Danziger Marienkirche überließen.8 Die Versammlung der leitenden Angestellten des Banco Mediceo in den Seitenkapellen unter der Führung der im Chor vertretenen Bankeigentümer vermittelt ein komplexes Bild des Bankunternehmens selbst. Die Hierarchien sind durch die bauliche Disposition und deren Heraldik zweifelsfrei geklärt. Drei großformatige Medici-Wappen an der Längstonne leiten den Blick auf den Chor, an dessen Stirnwand unterhalb einer hieratisch gegliederten Fenstergruppe ein weiterer Wappenschild und die Stifterinschrift prangen. Die direttori sind als Funktionselite des Banco Mediceo mit ihren Kapellen in einer egalisierenden Reihung nachgeordnet. Es gibt keinen Zweifel, dass für diese hierarchisch angelegte Stiftungspolitik die Familienkirche der Medici in Florenz, San Lorenzo, das Modell abgab, wo von Anfang an die Absicht bestand, die familiale Klientel der Medici aus dem Florentiner Stadtbürgertum nach außen sichtbar zusammenzuführen.9 Eine solcherart offene Instrumentalisierung des Kirchenbaus der Badia Fiesolana bedurfte offenbar der Legitimierung. Dies wird durch die berühmte Schrift von Timoteo Maffei nahegelegt, in der dieser die magnificentia des Cosimo de’Medici verteidigt.10 Maffei hatte mehrfach das Amt des Generals der Augustiner-Regularkanoniker inne und war ab 1454 Prior der Badia Fiesolana. In seiner Verteidigungsschrift für Cosimo, die in den Jahren um 1460 entstanden sein dürfte, überträgt Maffei die abstrakte Magnificentia-Konzeption des Thomas von Aquin ganz gezielt auf die Architektur und damit auf die Baustiftungen Cosimos.11 Zugleich reiht sich seine Schrift ein in eine breitere Diskussion über die Rechtmäßigkeit privater und insbesondere auf Geldgeschäften beruhender Stiftungstätigkeit. Auch letztere wird von Maffei damit gerechtfertigt, dass die finanziell entsprechend konsolidierte magnificentia primär der Religion zugutekommen könne. Angesichts der prekären Strategie bei der Vergabe der Kapellenpatronate für die Badia Fiesolana fühlte sich deren Prior unverkennbar dazu herausgefordert, den Stifter der Kirche vom Verdacht eines sozialen Dekorumsverstoßes freizusprechen. Maffei stand damit nicht allein, denn der unerhörte Umfang der Mediceischen Baustiftungen zog in einem singulären Maß auch Schriften über die Angemessenheit von magnificentia und liberalitas nach sich. Dabei ist den Autoren selbstverständlich bewusst, dass die Kulturpatronage auf Geldgeschäften beruht. So sagt etwa Vespasiano da Bisticci über die Stiftung des Neubaus von San Marco in Florenz, der Bau sei mit „danari di non molto buono acquisto“, also mit Wuchergeldern, errichtet worden.12 Die Idee einer reich ausgestatteten, die Führungselite des Banco Mediceo vereinende Unternehmerkirche kam letztlich über das Stadium eines Vorhabens nicht

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Abbildung 2: Florenz, Cappella Sassetti in Santa Trinita. Blick in die Kapelle

Fotografie: Dietrich Erben

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hinaus. Die Gründe dafür waren vielfältig. Bemerkenswert ist, dass auch die Nachfolgeprojekte, die dann von Francesco Sassetti und Pigello Portinari in Florenz und in Mailand verwirklicht wurden, zeigen, wie die Stifter nun einerseits ihren persönlichen Stiftungsinteressen zur Durchsetzung verhalfen, diese jedoch andererseits weiterhin mit der offiziellen Repräsentation der Bank und mit den korporatistischen Interessen der Firma in Einklang zu bringen suchten. Francesco Sassetti ließ ab 1479 die Familienkapelle in der Florentiner Kirche Santa Trinita ausstatten und engagierte für die Ausmalung Domenico Ghirlandaio (Abb. 2).13 Die Wandfresken entfalten thematisch Episoden aus der Vita des Namenspatrons von Francesco Sassetti, dem Heiligen Franz von Assisi. Mit den raumfüllenden Fresken wird auf ein Ausstattungskonzept zurückgegriffen, das bereits im Trecento seine Blütezeit erlebt hatte. Bei dem Rückgriff auf diesen traditionsreichen Ausstattungsmodus der Gesamtausmalung distanzierte sich Sassetti unübersehbar vom Ausstattungskonzept der Badia Fiesolana, wo die Stifter mit Restriktionen konfrontiert gewesen waren, die sie gegenüber der Unternehmerfamilie subordinierten und durch welche die einzelnen Stifter untereinander in ihrem Status nivelliert wurden. Aber auch in der späteren, aufwendigen, individuellen Stiftung seiner Grabkapelle in Santa Trinita hat sich Francesco Sassetti seinen repräsentativen Pflichten gegenüber dem Banco Mediceo nicht entzogen. So finden sich im Rahmen des Haupttextes der Fresken, also dem auf den Stifter und dessen Familie bezogenen Franziskusprogramm, zahlreiche thematische Bezugnahmen auf das unternehmerische Netzwerk. Die individuelle Thematik ist gleichsam historisch objektiviert durch die Darstellungen der Sybillen am Gewölbe und der Friedensvision des Augustus auf dem Kapitol an der Eingangsseite. Die gesamte Friedensthematik der Kapelle und die in ihr entfaltete Geschichtsteleologie von Florenz als einer nova Roma ist auf den seinerzeit aktuellen Kontext der Aussöhnung zwischen den Medici und dem Papst nach der Pazzi-Verschwörung des Jahres 1478 bezogen. Das wichtigste Ergebnis der Friedensverhandlungen zwischen Lorenzo de’Medici und Papst Sixtus IV. war die Wiederaufnahme der Finanzgeschäfte des Banco Mediceo in Rom.

D ie C appella P ortinari und der B anco M ediceo in M ailand Als Ausgleichsprodukt (Martin Warnke) zwischen persönlichen Interessen und repräsentativen Pflichten gegenüber der Bank stellt sich auch die Kapellenstiftung des Mailänder Filialleiters Pigello Portinari dar. Der Bau der Cappella Portinari

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Abbildung 3: Mailand, Cappella Portinari an Sant’Eustorgio. Blick auf den Außenbau

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war 1468 weitgehend vollendet, ihre Errichtung folgt zeitlich auf die Fertigstellung der Mailänder Bankgebäudes, für dessen Errichtung ebenfalls der Filialleiter Pigello Portinari die Verantwortung trug. Kapelle und Bankhaus, Sakral- und Profanbau stehen auch programmatisch in einem Komplementärverhältnis.

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Die Cappella Portinari wurde als dreiseitig frei gestellte Chorhauptkapelle an der Dominikanerkirche von Sant’Eustorgio errichtet und hat die doppelte Funktion einer Grabkapelle für den Stifter und einer Reliquienkapelle für den heiligen Petrus Martyr (Abb. 3–4).14 Die Freskenausmalung von Vincenzo Foppa widmet sich in den seitlichen Lünettenfeldern Szenen aus der Vita des Heiligen. Auffällig ist, dass es im Freskenprogramm keinen inhaltlichen Hinweis auf den von Portinari besonders verehrten Heiligen Ludwig von Toulouse gibt. Gewürdigt wird in den Fresken hingegen der 1253 kanonisierte Petrus Martyr, welcher der Namenspatron von Piero de’Medici war. Als solcher wurde Petrus Martyr in den Kreis der Mediceischen Familienheiligen aufgenommen; in Fra Angelicos Pala di Bosco ai Frati (um 1450/52; Florenz, Museo di San Marco) erscheint er in diesem Kreis zusammen mit Cosmas und Damian. Das Freskenprogramm der Cappella Portinari wird in den Lünetten der Hauptachse des Raumes komplettiert durch zwei Szenen aus der Vita Mariae. Die Doppelfunktion der Kapelle als Grablege für den Florentiner Filialleiter und als Andachtsort für den Mailänder Heiligen Petrus Martyr resultiert unmittelbar aus den Entstehungskontexten. Portinari machte sich mit seinem Stifterengagement ein dringliches Anliegen der Dominikaner von Sant’Eustorgio zu Eigen. Nach mehreren Vorstößen der Klostergemeinschaft für einen angemessenen Andachtsort zur Verehrung des Kopfreliquiars von Petrus Martyr reagierte erst Portinari als Florentiner Geschäftsmann auf die akute Bedarfslage des Klosters. Man wird in diesem Zusammenhang an die eingangs zitierte Aufforderung erinnert, die der Genfer Filialleiter 1462 an Piero de’Medici adressierte. Mit seiner Mailänder Stiftung folgte Pigello Portinari ebenfalls der Maxime, dass der Banco Mediceo in seinem jeweiligen Geschäftsmilieu durch Stiftungsaktivitäten repräsentiert wird, und er spekulierte damit gleichzeitig auf eine Gegenleistung von Seiten der Florentiner Bankzentrale. Denn 1464, dem Jahr, in dem mit dem Kapellenbau begonnen wurde, wandte er sich brieflich an Piero de’Medici und ersuchte darum, seine Söhne in der Mailänder Filiale in eine führende Position zu befördern. Er begründete seine Bitte schlicht mit dem Erfolg der Bank in Mailand unter seiner Geschäftsleitung, für die auch der Kapellenbau als Ausweis gelten konnte: „Le cose qui del traffico sono in buono ordine.“15 Mit den Stiftungskontexten kann auch die Gestaltung der Kapelle unter den Vorzeichen ihrer repräsentativen Funktion für den Banco Mediceo gesehen werden. Formal vermittelt der Bau zwischen dem Herkunftsmilieu seines Florentiner Auftraggebers auf der einen Seite und seinem lombardischen Entstehungs- und Empfängermilieu auf der anderen Seite. Während der Außenbau (Abb. 3) schon durch seine Materialsprache mit dem bunten Wechsel von Ziegelmauerwerk und weißen Putzflächen sowie den Zierformen der Okulirahmen und der Pilaster-

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Abbildung 4: Mailand, Cappella Portinari an Stant’Eustorgio. Blick in die Kapelle

Fotografie: Dietrich Erben

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schäfte aus Terracotta unverkennbar oberitalienische Bauformen aufnimmt, folgt die Disposition des Innenraums (Abb. 4) dem Modell der Alten Sakristei von San Lorenzo in Florenz. Der Architekt der Cappella Portinari, über dessen Identität in der Forschung bis heute gerätselt wird, übernimmt nicht nur die Gesamtdisposition, sondern auch wesentliche Aspekte im Modus der Ausstattung dieser von Brunelleschi 1428 vollendeten und von Donatello mit Reliefs dekorierten Grablege für Giovanni de’Bicci de’Medici. Die Grundrisse beider Zentralbauten, der Wandaufriss bis zur Lünettenzone und auch die Schirmgewölbe sind in ihrer tektonischen Erscheinung identisch, variiert wird die Ausgestaltung im Einzelnen. Hingegen hat sich in der Cappella Portinari das Verhältnis von Wand- und Ausstattungsflächen erkennbar gewandelt. Das gilt nicht nur für das neu eingeführte Element des Tambours mit den lebensgroßen Impresenengeln, sondern auch für die übrigen Flächen innerhalb des von der Alten Sakristei vorgegebenen Rahmengerüstes. Wie Francesco Sassetti mit seiner Kapelle in Santa Trinita war auch Pigello Portinari im Vergleich zur Badia Fiesolana an einer ungleich aufwendigeren Lösung gelegen. Mit anderen Mitteln als Sassetti, aber im Grundanliegen verwandt, suchte auch Portinari mit dem Rekurs auf die Florentiner Bauform der Alten Sakristei über die Unternehmerfamilie der Medici auch das Unternehmen das Banco Mediceo zu repräsentieren. Dieser Aspekt gewinnt durch einen Blick auf das Gebäude des ab 1455 errichteten, bis auf das Portal nicht mehr erhaltenen Banco Mediceo zusätzliches Gewicht.16 Die unmittelbare Verantwortung auch für diesen Bau trug der Filialleiter Portinari. Die Kenntnis von dem Bau beruht im Wesentlichen auf der Beschreibung im Architekturtraktat von Antonio Filarete, den dieser 1464 sowohl Francesco Sforza als auch Piero de’Medici – also den beiden eng miteinander verbundenen Geschäftspartnern – gewidmet hat.17 Am äußeren, die Pilasterädikula umschreibenden Rahmen des Portals (Abb. 5) findet sich in den Ecken das Motiv der baldachinartigen Fruchtgehänge aus Granatäpfeln. Bei ihnen handelte es sich um die Impresen Portinaris. Sie überfangen zwei weibliche Tugendpersonfikationen oberhalb von zwei männlichen Kriegern, die als Wächtergestalten des Bankhauses zu Seiten des Eingangs postiert sind. Die Impresen besetzen auch in der Kapellenausstattung einen prominenten Platz, wo die Fruchtschirme nicht nur in den Pilasterdekorationen erscheinen, sondern vor allem auch in der Tambourdekoration mit den jugendlichen Engelgestalten als reggifestoni (Abb. 4). Wie schon angesprochen ist der Tambour nicht in der Alten Sakristei vorzufinden, wodurch seine Bedeutung in der Mailänder Kapelle unterstrichen wird. Beim Impresenfries musste sich ein zeitgenössischer Betrachter der Kapelle unverzüglich an die Portaldekoration des Banco Mediceo erinnert fühlen, durch die das Motiv im Mailänder Stadtbild bereits eingeführt war.

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Abbildung 5: Portal des ehem. Banco Mediceo in Mailand. Mailand, Museo del Castello Sforzesco

Fotografie: Dietrich Erben

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Das Bankgebäude ist in erster Linie eine Dedikation an die Medici-Familie als Bauherr sowie an die Mailänder Herzogsdynastie, als deren Hauptkreditgeber die Medici fungierten.18 Die Porträtmedaillons des damaligen Mailänder Signore Francesco Sforza und dessen Ehefrau Bianca Maria Visconti sind in den Arkadenzwickeln eingelassen, das Herzogswappen im Gebälkfries. Die Portallaibungen sind mit dem Diamantring, der Imprese von Piero de’Medici, dekoriert. Das Portal präludiert in signalhaft-prägnanter Form einen Sinnzusammenhang, der auch die ehemalige Freskenausstattung des Baus im Inneren bestimmte. Die Themenkreise der Ausstattung in den Zimmerfolgen des Bankgebäudes lassen sich sowohl auf die Medici als auch auf den seinerzeitigen Herzog beziehen. Dies gilt für die Dekorationsebene der auch im Inneren ubiquitären Devisen und Wappen ebenso wie für die antik-mythologischen Themen, die in einzelnen Räumen aufgegriffen wurden. Szenenfolgen aus den Viten von Herkules und Trajan finden sowohl im Medici-Palast in Florenz als auch im Castello Sforzesco thematische Entsprechungen. Genau diese doppelte ikonographische Orientierung scheint beim Banco Mediceo Programm gewesen zu sein. Das Mailänder Bankgebäude würdigte die Unternehmerfamilie in Florenz ebenso wie deren prominenten fürstlichen Kunden in Mailand. Aus dieser Perspektive ergibt sich auch eine überraschende, institutionelle Analogie zwischen dem Bankgebäude und der Cappella Portinari. Beide Bauten waren über ihre Primärfunktionen hinaus Repräsentationsbauten der Medici-Bank innerhalb des Mailänder Geschäftsmilieus. Sie rekurrieren formal auf Florentiner Modelle, die aber auf den Bedarfs- und Verständnishorizont des Kundenmilieus zugeschnitten werden.

D issimulatio

und

U nternehmenskultur

Blickt man auf die hier angesprochenen Baustiftungen zurück, so wird deutlich, dass sich die durch die Bauten und deren Ausstattung geleistete Repräsentation des Medici-Bankhauses auf einer indirekten Ebene zeigt. Zu den religiösen und familialen Repräsentationsinhalten treten komplementär und eher verdeckt als Subtexte solche Programmanteile hinzu, die das Geschäftsunternehmen in seiner Leistungsfähigkeit als hierarchisch strukturierte Organisation, deren Ziel in der Erzeugung und Maximierung von Profiten besteht, nach außen darstellen. Diese Subtexte dokumentieren sich an dem – freilich nur aus heutiger Sicht – eher befremdlichen Sachverhalt, dass mit den Kapellenstiftungen religiöses Mäzenatentum für Geschäftsinteressen instrumentalisiert wurde. Diese Strategie einer verhohlenen Programmmitteilung lässt sich meines Erachtens am ehesten mit dem

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Prinzip der dissimulatio fassen.19 In der politischen, ethischen und rhetorischen Theorie der Zeit galt es als Zeichen von prudentia und Takt, sich der jeweiligen Situation mit absichtsvoller, kunstvoll verhüllter Verstellung anzupassen. Dissimulatio wird etwa durch vielsagende Zweideutigkeit (ambiguitas) und beredte Verschwiegenheit (reservatio mentalis) bewerkstelligt. Bevor die Verhaltenskonvention der dissimulatio im frühen 16. Jahrhundert normativ sanktioniert wurde, zeigte sie sich schon früher in der Praxis. Ein Beispiel ist Piero de’Medici „il Gottoso“, also der Gichtbrüchige, selbst, der mit seiner Gicht in dissimulierender Taktik sein Fernbleiben von den traditionellen städtischen Gremien begründete und daraufhin wiederum politische und geschäftliche Gesprächspartner nach Art eines Fürsten im Familienpalast empfangen konnte.20 Pieros Namenspatron Petrus Martyr lässt sich als beispielhafter dissimulator bezeichnen, wenn die Legenda aurea den Dominikaner-Inquisitor als „außerordentlichen Prediger“ (predicator egregius) rühmt und zugleich seine Exempel der „Verschwiegenheit“ (taciturnitas) preist.21 Man kommt kaum um die, freilich völlig anachronistische, Assoziation herum, dass hier von Ferne schon Kundenakquise und Bankengeheimnis auf’s Mal grüßen lassen. Ein dissimulierender Habitus zeigt sich auch in den Geschäftsformen und in den Zielen von Bankunternehmen jener Zeit, wie dem Banco Mediceo. Die Umgehung des kirchlichen Zinsverbotes ist zwar das bekannteste Beispiel, aber nur eines unter vielen. In der Geschäftspraxis lässt sich durchgehend eine Taktik der Kompetenzüberschreitung und der vorsätzlichen Erzeugung von Undurchsichtigkeit beobachten.22 Allein schon die Verbindung von Warenhandel und Geldverkehr machte die Sache unübersichtlich. Manche Niederlassungen der Medici-Bank nahmen entgegen der strikten Trennung von Bank- und Pfandhaus weiterhin Wertobjekte als Kreditbürgschaft entgegen. Verbotene Zinsen wurden zwar abgeschöpft, aber dann nicht als Profit in den Geschäftsbüchern ausgewiesen, sondern in der Buchhaltung versteckt. Häufig wurde die Zinserhebung als Umtauschgeschäft mit fremden Währungen abgewickelt, deshalb waren im währungspolitisch zersplitterten Italien auch die außerflorentinischen Bankfilialen so wichtig. In der Geschäftspraxis findet sich also ein langes Register von dissimulierenden Strategien, die mit der Absicht der Umgehung von Verboten und letztlich zur Abmilderung von Wertekonflikten unternommen wurden. Schließlich konnten sich die Auftraggeber und die von ihnen engagierten Künstler in diesen Strategien des kunstvollen Verschleierns einig sein, denn dissimulatio gehörte auch zum Metier des Renaissancekünstlers. Lange bevor sie – etwa in den Venedig-Briefen von Albrecht Dürer als sozialer Habitus des Künstlers beschrieben wurde – hat Leon Battista Alberti in seiner um 1437 geschriebenen Vita für die situationsadäquate Verstellung beim Auftreten des Künstlers plädiert. Hier

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Abbildung 6: Domenico Ghirlandaio, Die Bestätigung der Regel des Franziskanerordens. Fresko in der Cappella Sassetti in Santa Trinita in Florenz

Quelle: Roettgen, Steffi: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Bd. II: Die Blütezeit 1470–1510, München 1996, Tafel 63

stellt er die Maxime auf, in allen Lebenslagen im eigenen Verhalten des Künstlers „der Kunst noch die Kunst hinzuzufügen“.23 Diese Aufforderung gilt grundsätzlich auch für die Kunst selbst. Im Rahmen der Kunsttheorie des Quattrocento ist dissimulatio sowohl ein Produktionsaspekt als auch ein Gestaltungsziel, das sich mit dem Begriff der difficoltà verbindet: Der Künstler habe sich in seinen Werken Schwierigkeiten aufzugeben, die er dann mit Leichtigkeit zu meistern habe. Das künstlerische Konzept ist difficile, die Ausführung ist facile. Dieses rhetorische

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Paradox findet sich etwa in der Dichtungstheorie bei Cristoforo Landino und wird im Malereitraktat von Alberti oder in der Brunelleschi-Biografie von Antonio Manetti bestätigt.24 Ein letzter Blick auf die Fresken der Sassetti-Kapelle kann genügen, um anzudeuten, mit welch eindrucksvoller Konsequenz auch Ghirlandaio und Sassetti dieser Dialektik von difficile und facile folgten. Dort hatte sich der Maler in fast allen Freskoszenen der Herausforderung zu stellen, die historische Evidenz der Franziskuslegende mit der biographischen Evidenz der Lebensgeschichte des Stifters zu synchronisieren – und dies war vom Maler, was entscheidend ist, im Rahmen einer modernen, wirklichkeitsgetreuen, mit der Wahrnehmungsrealität des Betrachters kompatiblen Bildräumlichkeit im Bild zu vergegenwärtigen. In diesem Sinne der Kompatibilität von Bild und Lebenssphäre erfolgt die Bestätigung der Franziskaner-Ordensregel in dem entsprechenden Fresko nicht in Rom, sondern in Florenz (Abb. 6). Diese Situierung des Geschehens erlaubt es dem Maler, hochmittelalterliches und zeitgenössisches Bildpersonal gleichzeitig im Fresko zu präsentieren. Der Stifter selbst hat sich dankbar neben Lorenzo de’Medici postiert, der ihn nach dem Zusammenbruch mehrerer Bankfilialen im Zuge der Pazzi-Verschwörung auf seinem Posten als Leiter der römischen Bankfiliale belassen hatte. Das Fresko soll visuell eine historische Simultanität vorführen, aber nicht deren historische Faktizität behaupten. Die Lösung dieser schwierigen Aufgabe meistert Ghirlandaio im Sinne des Einfachen, indem er den Bildraum durch unterirdische Erschließungsgänge und durch eine Kulissenarchitektur schichtet und damit zugleich die historischen Sphären bildlich separiert. Ähnliches ließe sich bei der Szene des „Verzichts auf die irdischen Güter“ zeigen. Im Vordergrund ist die Lossagung Franziskus’ vom Vater dargestellt. Im Hintergrund wird, so ist plausibel vermutet worden, eine Stadtansicht von Genf gezeigt, wo Sassetti seinen ersten Einsatz als Filialleiter der Medici-Bank absolvierte. Wiederum ist das Vordergrundgeschehen kompositorisch und durch Sichtblenden von der aktualisierenden Stadtvedute eindeutig getrennt. Die Verarbeitung unterschiedlicher historischer Inhaltsebenen war eine zentrale Bildaufgabe des Malers; er will die Plausibilität seiner Bildinhalte dissimulierend beglaubigen, ohne aber den Betrachter zu belügen. In der Formel von der „Kunst der Unternehmenskultur“, die im Titel meines Beitrags doppeldeutig ausgesprochen ist, kommt mit den visuellen Formen der Unternehmensrepräsentanz auch die Geschäftspraxis des Unternehmens selbst in den Blick. Aus den hier skizzierten kunsthistorischen Befunden lassen sich im Hinblick auf eine Historisierung der Unternehmenskultur einige allgemeine Überlegungen ableiten, wobei diesen ein relativ offenes Verständnis des Begriffs zu Grunde liegt: Geschäftsunternehmen sind hierarchisch strukturierte Organisationen, deren Ziel in der Erzeugung und Maximierung von Profiten besteht.

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Der Begriff Unternehmenskultur umschreibt daran anschließend und grob gesagt sämtliche Formen der Kommunikation des Unternehmens zwischen der Unternehmensspitze und den Mitarbeitern sowie zwischen dem Unternehmen und den Kunden.25 Ein solches durchaus von der Gegenwart inspiriertes Verständnis von Unternehmenskultur bedarf natürlich, um nicht anachronistisch zu sein, der historischen Präzisierung. Wenigstens drei Punkte scheinen mir im Blick auf die hier erörterten Sachverhalte und Beobachtungen als wesentlich: 1. In der Kommunikation zwischen der Unternehmerfamilie und der Mitarbeiterelite der Bank sind die traditionellen Familienbindungen weiterhin prioritär, sie treten nun aber in ein Spannungsfeld zu den ökonomisch und administrativ effizienten modernen Funktionsbindungen. 2. In der Kommunikation mit dem Kundenmilieu erweist sich das Unternehmen in hohem Maß als anpassungsbereit. 3. In der Geschäftspraxis bedient sich das Unternehmen dissimulierender Strategien, die als solche durchaus gesellschaftliche Akzeptanz finden konnten, deren Anwendung aber zugleich der Absicht folgt, Verbote zu umgehen und Wertekonflikte abzumildern. Die künstlerische Repräsentation der Bank liegt als integraler und als unverzichtbar erachteter Teil der unternehmerischen Tätigkeit nicht außerhalb dieser Wertekonflikte. Das Thema der Verbindung von Kunst und Ökonomie kann über diese speziellen Zusammenhänge hinaus auf ein grundsätzliches methodisches Anliegen hinweisen, dem sich aus meiner Sicht auch der Jubilar dieser Festschrift verpflichtet fühlt: Bei aller notwendigen Betonung der Differenzen zwischen den Künsten und anderen Kulturfeldern bleibt es ebenso entscheidend, nicht nur deren jeweilige Spezifik, sondern auch das ihnen Gemeinsame, und das heißt immer auch die ihnen gemeinsame soziale Praxis, darzulegen.

A nmerkungen 1 | Der vorliegende Beitrag schließt an Überlegungen von Jürgen Wiener zum Kirchenbau an. Seine Studien haben uns mit den künstlerischen Dimensionen auch die Augen für die profanen Aspekte von Sakralbauten und von kirchlicher Ausstattung geöffnet – sei es für das Bauornament in S. Francesco in Assisi, für den Bauprozess im Dom von Orvieto, für den Repräsentationsgehalt des Grabmals des Johann von Brienne, für den Zusammenhang von Kirchenbau und Liturgie oder zuletzt für die Konzeption von „Aura“ in den Kirchenbauten von Rudolf Schwarz. 2 | Abdruck des Briefes bei Bergier, Jean-François: Genève et l’économie européenne de la Renaissance, Paris 1963, S. 284, danach die Zitate und Paraphrasen. Aus Gründen des Textumfangs beschränken sich im Folgenden die Literaturhinweise auf die wichtigsten Titel.

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Dietrich Erben 3 | Baxandall, Michael: Painting and Experience in Fifteenth-Century Italy. A Primer of the Social History of Pictorial Style (1972), Oxford/New York 1988. 4 | Zu diesen politisch-ökonomischen Zusammenhängen allgemein De Roover, Raymond: The Rise and Decline of the Medici Bank 1397–1494, Cambridge Mass./London 1963; speziell Padgett, John F./Ansell, Christopher K.: „Robust Action and the Rise of the Medici 1400–1434“, in: American Journal of Sociology 98.1993, S. 1259–1319; Weissen, Kurt: „Die Bank von Cosimo und Lorenzo de’Medici auf dem Basler Konzil (1433–1444)“, in: Vierteljahresschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte 82.1995, S. 350–386. 5 | Zur Baugeschichte unter den Medici Procacci, Ugo: „Cosimo de’Medici e la costruzione della Badia Fiesolana“, in: Commentari 19.1968, S. 80–97; Hyman, Isabelle: „Antonio di Manetto Ciaccheri and the Badia Fiesolana“, in: architectura 25.1995, S. 181–193; Mussolin, Mauro: „‚Devicta Montis Natura‘. Cosimo de’Medici, Timoteo Maffei e la ricostruzione della Badia Fiesolana per i Canonici regolari lateranensi“, in: Angela Dressen/Klaus Pietschmann (Hg.), The Badia Fiesolana. Augustinian and Academic Locus amoenus in the Florentine Hills, Wien 2016, S. 35–67. 6 | Viti, Vincenzo: La Badia Fiesolana. Pagine di storia e d’arte, Florenz 1956, S. 24–26. 7 | Zu den Patronaten Viti 1956, S. 67–71. 8 | Rohlmann, Michael: Auftragskunst und Sammlerbild – Altniederländische Tafelmalerei im Florenz des Quattrocento, Alfter 1994, S. 41–52; Lane, Barbara G.: „The Patron and the Pirate: The Mystery of Memling’s Gdańsk ‚Last Judgement‘“, in: The Art Bulletin 73.1991, S. 623–640. 9 | Hierzu insbesondere die Beiträge von Caroline Elam, vgl. zuletzt: Elam, Caroline: „Art and Cultural Identity in Lorenzo de’Medici’s Florence“, in: Francis Ames-Lewis (Hg.), Florence (= Artistic Centers of the Italian Renaissance), Cambridge u.a. 2012, S. 208–251. 10 | Zum Folgenden Jenkins, A. D. Fraser: „Cosimo de’Medici’s Patronage of Architecture and the Theory of Magnificence“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 33.1970, S. 162–170; Viti, Paolo: „Tre lettere di Timoteo Maffei a Piero dei Medici“, in: Medea 19.2000, S. 175–187; Howard, Peter: „‚In Magnificentiae Cosmi Medicei Florentini‘“. Maffei Preaching ‚against the grain‘“, in: Dressen/Pietschmann 2016, S. 117–131; zuletzt als Gesamtdarstellung der Medici-Repräsentation Leuker, Tobias: Bausteine eines Mythos. Die Medici in Dichtung und Kunst des 15. Jahrhunderts, Köln u.a. 2007. 11 | Vgl. als Edition: Timotei Maffei (…) in magnificentiae Cosmi Medicei Florentini detractors, in: Lami, Giovanni: Deliciae Eruditorum seu Veterum anekdoton opusculorum collectanea, Bd. 12, Florenz 1742, S. 150–168. 12 | Greco, Aulo (Hg.): Da Bisticci, Vespasiano: Le Vite, 2 Bde., Florenz 1976, Bd. II, S. 177. 13 | Zum Ausstattungsprogramm weiterhin maßgeblich Borsook, Eve/Offerhaus, Johannes: Francesco Sassetti and Ghirlandaio at Santa Trinita, Florence. History and Legend in a Renaissance Chapel, Doornspijk 1981 sowie die Beiträge in Rohlmann, Michael (Hg.): Domenico Ghirlandaio. Künstlerische Konstruktion von Identität im Florenz der Renaissance, Weimar 2004.

Die Kirchen von Bankiers 14 | Bernstein, JoAnne Gitlin: „A Florentine Patron in Milan. Pigello and the Portinari Chapel“, in: Craig Hugh Smith u.a. (Hg.), Florence and Milan. Comparisons and Relations, 2 Bde., Florenz 1989, Bd. I, S. 171–200; Mattioli Rossi, Laura (Hg.): Vincenzo Foppa. La Cappella Portinari, Mailand 1999. 15 | Abdruck des Briefes bei Bernstein 1989, S. 190 f. 16 | Paoletti, John T.: „The Banco Mediceo in Milan: Urban Politics and Family Power“, in: Journal of Medieval and Renaissance Studies 24.1994, S. 199–238; Martinis, Roberta: „Il palazzo del Banco Mediceo. Edilizia e arte della diplomazia a Milano nel XV secolo“, in: Annali di architettura 15.2003, S. 37–57. Jones, Howard/Kilpatrick, Ross: „Cicero, Plutarch, and Vincenzo Foppa: Rethinking the Medici Bank Fresco (London, the Wallace Collection, Inv. P 538)“, in: International Journal of the Classical Tradition 13.2007, S. 369–383. 17 | Filarete, Antonio Averlino detto il: Trattato di architettura, hg. v. Anna Maria Finoli u. Liliana Grassi, 2 Bde., Mailand 1972, Bd. II, S. 698–704. 18 | Zu den Beziehungen zwischen den Medici und den Sforza vgl. Lang, Heinrich: Cosimo de’Medici, die Gesandten und die Condottieri. Diplomatie und Kriege der Republik Florenz im 15. Jahrhundert, Paderborn 2009. 19 | Zur „dissimulatio“ aus der Fülle der Literatur nur Bredekamp, Horst u.a. (Hg.): Martin Warnke zu Ehren. Dissimulazione onesta oder Die ehrliche Verstellung. Von der Weisheit der versteckten Beunruhigung in Wort, Bild und Tat, Hamburg 2007; allgemein zum Zusammenhang von Dissimulation und politischer Fiktion vgl. Erben, Dietrich: „Die Fiktion der Politik und die Schönheit der Bürokratie. Baupolitik unter Cosimo I de’Medici in Florenz“, in: Dietrich Erben/Christine Tauber (Hg.), Politikstile und die Sichtbarkeit des Politischen in der Frühen Neuzeit, Passau 2016, S. 71–92, hier S. 84f. 20 | Brown, Alison: „Piero’s Infirmity and Political Power“, in: Andreas Beyer/ Bruce Boucher (Hg.), Piero de’Medici „il Gottoso“. Kunst im Dienste der Mediceer, Berlin 1993, S. 9–19. 21 | Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, übersetzt von Richard Benz, Heidelberg 1979, S. S. 322–337, hier S. 322 und 336.

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22 | Zur Verflechtung der Geschäftsbereiche ausführlich De Roover 1963 sowie speziell auch zu den Normkonflikten Favier, Jean: Gold und Gewürze. Der Aufstieg des Kaufmanns im Mittelalter (frz. 1987), Hamburg 1992. 23 | Alberti, Leon Battista: Vita, hg. v. Christine Tauber, Frankfurt a. M. 2004, S. 44: „(…) sed arti addendam artem“. 24 | Als Beleg Manetti, Antonio: Vita di Filippo Brunelleschi, hg. v. Carlachiara Perrone, Rom 1992, S. 61f.; vgl. auch Baxandall 1988, S, 141–143; Pfisterer, Ulrich: Die italienische Kunstliteratur der Renaissance. Eine Geschichte in Quellen, Stuttgart 2002, S. 236–241. 25 | Vgl. dazu mit einem aktuellen Beispiel Steiner, Serge: „Architektur und Corporate Identity bei der Migros. Der Einsatz von Architektur zur Schaffung einer Unternehmensidentität – die Migros als Beispiel“, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 58.2001, S. 209–216.

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Michelangelos inventio einer Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi in San Pietro in Montorio und ihr Fortleben in Druckgrafik, Malerei und Skulptur Claudia Echinger-Maurach Kunstwerke, die auf Michelangelos inventio oder auf seinen Ratschlag zurückgehen, gibt es in San Pietro in Montorio mehrere: Zu ihnen zählen die bekannten Ausstattungen der Cappella Borgherini sowie der Grabkapellen Del Monte und Ricci.1 Doch nur wenigen Spezialisten der Michelangeloforschung war es bisher vorbehalten, um ein verlorenes Werk des Florentiners in San Pietro in Montorio zu wissen. Es handelt sich um die frühe Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi in der Cappella delle Stimmate, die der Cappella Borgherini links vom Eingang gegenüberliegt.2 Heute legt sich ein gleichnamiges Fresko des Giovanni de’Vecchi in die Rundung der Nische (Abb. 1).3 Dieser ergreifenden Szene des Empfangs der Stigmata wohnt nicht nur der aus den Viten des Hl. Franz bekannte Gefährte bei, sondern es begleiten sie auch zwei Ordensbrüder und zwei Klarissen, die sich lesend in dieses Ereignis von größter Tragweite für die Auslegung der Regel versenken.4 De’Vecchis Hl. Franz entfernt sich in seiner leidenschaftlichen Bewegtheit in einer Weise von der ikonografischen Tradition, dass sich mir seit langem die Frage nahegelegt hatte, ob in dieser Konzeption nicht eine Erinnerung an das verlorene Werk Michelangelos enthalten sein könnte.5 Dieses hatte man vor Anfertigung der Fresken De’Vecchis, die 1608 erstmals erwähnt werden,6 vermutlich beschädigt in die Sakristei von San Pietro in Montorio verbracht.7 Dort hatte es Padre Resta gesehen und aus dem Gedächtnis eine winzige Skizze angefertigt.8 Die Publikation zweier bisher unbekannter Stiche nach Michelangelos Stigmatisation im Escorial erlaubt es nun, nicht nur ihre Vorbildhaftigkeit für De’Vecchis Fassung, sondern auch für weitere Kunstwerke des Cinquecento zu beweisen (Abb. 2–3).9 Möglicherweise wäre die Beschäftigung mit Michelangelos verlorenem Frühwerk intensiver gewesen, hätte man nicht mit einer etwas widersprüchlichen

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Claudia Echinger-Maurach

Abbildung 1: Giovanni de’Vecchi, Kapellenausstattung mit der Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi und weiteren Heiligen, Rom, San Pietro in Montorio

Fotografie: Peter1936F

Michelangelos inventio einer Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi

Quellenlage zu kämpfen. Der erste Bericht von 1544 eines unbekannten Pilgers über Michelangelos Werk klingt enthusiastisch: Er sah in San Pietro in Montorio „una tavola d’altare, non molto grande, che vie dentro un San Franciescho, che ha le stimmate, fatto a tempera, di mano di Michele Agnolo disegnato e forse colorito, et è una fiura tanto bene disegnata quanto sia possibile“.10

Auch wenn dieser Anonymus den disegno von der Ausführung unterscheidet, gilt sein Lob der Figur des Hl. Franz ganz uneingeschränkt, denn Sebastianos Geißelung Christi in der Kapelle gegenüber erwähnt er nur als „molto bene disegnato e colorito“. Höchstens Raffaels Transfiguration, die er als „tanto bene disegnata e colorita“ lobt, wird mit dem Zusatz „che delle cose di Raffaello è maravigliosa“ versehen; noch eine Kategorie höher rangiert zuletzt Michelangelos Moses, „che pare cosa divina, tanto è maravigliosa“.11 Diese frühe Wertschätzung der Franziskustafel teilt Vasari nicht. In der ersten Ausgabe der Viten von 1550 reiht er sie noch unter die Werke der Frühzeit ein, über die er wenig Bescheid weiß und von denen ihm das Madonnenrelief und die Kentaurenschlacht noch unbekannt sind. Die Stigmatisation erwähnt er nach dem als Antike an Kardinal Raffaele Riario verkauften Cupido, dem Crocifisso di legno, dem Herkules Strozzi und vor dem Tondo Doni: „Dipinse nella maniera antica una tavola a tempera d’un San Francesco con le stimite, che è locato di man sinistra nella prima cappella di San Piero a Montorio in Roma“.12 Condivi spricht von der Tafel verständlicherweise nicht; denn wie hätte er sie zwischen den Streit um den gefälschten Cupido, der Michelangelo veranlasst hatte, nach Rom zu gehen, und die poetische Ausdeutung des grandiosen Bacchus unterbringen sollen?13 Jean-Jacques Boissard erwähnt sie in seiner vermutlich in den 1550er Jahren konzipierten Romanae Urbis Topographiae mit den Worten: „Ex opposito [das heißt der Geißelung Christi in der Cappella Borgherini gegenüber] est historia S. Francisci, quam pinxit M. Angelus, cum adhuc esset iuvenis“.14 In seiner Orazione funebre läßt es sich auch Benedetto Varchi nicht nehmen, die Beschreibung der Tafel mit den Worten zu beschließen: „nè si può lodare degnamente se non col dire che ella fu fatta da Michelagnolo“.15 In seiner zweiten Vitenausgabe erweist sich Vasari besser informiert. Er rückt die Tafel an den Anfang des ersten Romaufenthaltes des Künstlers und füllt damit die Periode eines Jahres, in der Michelangelo untätig beim Kardinal von San Giorgio geweilt haben soll: „In quel tempo un barbiere del Cardinale, stato pittore, che coloriva a tempera molto diligentemente, ma non aveva disegno, fattosi amico Michelagnolo gli fece un cartone d’un Francesco che riceve le stimmate, che fu condotto con i colori dal barbiere in una tavoletta

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Abbildung 2: Unbekannter Stecher (nach Michelangelo), Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi, Kupferstich, El Escorial, 28-II-8, fol. 246

© PATRIMONIO NACIONAL

Michelangelos inventio einer Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi molto diligentemente; la qual pittura è oggi locata in una prima cappella, entrando in chiesa a man manca, di San Piero a Montorio.“16

Was wissen wir über diese Phase aus weiteren, sicheren Quellen? Der junge Künstler war um den 25. Juni 1496 nach Rom gereist, um wieder in den Besitz seiner Cupido-Statue zu gelangen, die der Agent Baldassare del Milanese ohne sein Wissen als Antike zu weit überhöhtem Preis an Raffaele Riario verkauft hatte.17 Riario hat dem jungen Künstler nicht nur den versuchten Betrug hinsichtlich des als antik ausgegebenen Cupidos verziehen, sondern ihn vermutlich auch mit dem Bacchus beauftragt, da er, den Bankauszügen gemäß, diese Statue ganz bezahlt hat, auch wenn sie Michelangelo in Jacopo Gallos Haus gemeißelt hat, wo sie vermutlich aufgrund von Differenzen mit dem Auftraggeber schließlich auch verblieben ist.18 Die Bezahlung erfolgte in drei Tranchen am 23. August 1496, am 8. April 1497 und am 3. Juli 1497.19 Damit ist das Jahr der Untätigkeit in Riarios Haus, von dem in den Viten zu lesen ist, widerlegt. Allerdings war Michael Hirst in den Kontoabrechnungen der Balducci-Bank ein interessanter Eintrag aufgefallen: Am 27. Juni 1497 hatte Michelangelo drei carlini für „uno chuadro di legno per dipignerlo“ abgehoben; Hirst glaubte, damit habe Michelangelo die Tafel für die Manchester-Madonna bezahlt.20 Kathleen Weil-Garris Brandt schlug dagegen vor, diese kleine Summe auf die Tafel der Stigmatisation zu beziehen, von der sie offensichtlich annahm, dass sie kleinere Maße als die Manchester-Madonna besessen habe.21 Dies würde allerdings voraussetzen, dass diese „tavola d’altare, non molto grande“ (Anonymus 1544) beziehungsweise diese „tavoletta“ (Vasari 1568) kleiner als die gerahmten Altartafeln in San Pietro in Montorio gewesen wäre.22 Die Sachlage kompliziert sich weiter durch eine Information im Discurso de la comparaciòn de la antigua y moderna pintura y escultura, die der hochgebildete Theologe, Humanist, Maler und Reliefbildner Pablo de Céspedes um 1605 verfaßt hat.23 Von ca. 1559 bis 1577 hielt er sich in Rom auf und führte dort eine Reihe von Fresken, u. a. in der Sala Regia und in der Cappella Bonfili (heute Cappella Aldobrandini) in Trinità dei Monti aus.24 Im Rahmen eines stark gerafften Überblicks über die italienische Malerei nach dem Vorbild Vasaris bemerkt er zu Michelangelos Stigmatisation des Hl. Franz: „En lo primero de su mocedad, o por mejor dezir de su ninez, [Michelangelo] labró al temple algunas obras que no parecen i un San Francisco que está en San Pedro de Montoro en Roma, aunque algunos dizen que es de mano de un cierto Pedro de Argento, discípulo o practicante suyo, la cual obra, por ser de a quella manera delicada de los templecistas en cuyo tiempo se hizo, no es tan mirada.“25

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Céspedes zieht in dieses, nach seiner Ansicht erste Werk Michelangelos gleichsam seine Lehrzeit bei Ghirlandaio hinein; erst danach soll Michelangelo die Kentaurenschlacht ausgeführt haben. Wie der Anonymus von 1544 hebt Céspedes die damals schon altertümliche Temperamalerei hervor und gibt nun dem Ausführenden einen Namen: Pietro d’Argenta. Da keine der oben zitierten Quellen zum Gemälde den Namen dieses Gehilfen Michelangelos nennt, den wir nur aus der Korrespondenz kennen, muss ihn Céspedes an anderem Ort erfahren haben, entweder von informierter Seite in San Pietro in Montorio oder durch Tommaso Cavalieri, dem er nahestand.26 Piero d’Argenta hatte als garzone bei Michelangelo in Rom gelebt; zwei Briefe an Buonarroto Buonarroti, den er wie Michelangelo in vertraulichem Ton Bruder nennt, sind aus dem Jahr 1498 erhalten.27 Gemäß den Unterlagen der Balducci-Bank hat Piero für Michelangelo Geld abgehoben und eingezahlt; nachdem Michelangelo wieder in Florenz weilte, blieb Piero weiter in Rom und richtete sich auch ein eigenes Konto ein, auf das größere Summen einbezahlt wurden, allerdings ohne Spezifikation.28 Welches Zwischenergebnis können wir nach diesen ersten Überlegungen festhalten? Die Zuschreibung der Tafel mit einer Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi an Michelangelo schwankt, aber man traute ihm wenigstens den Entwurf zu und der Zeitraum der Entstehung vor oder um 1500 steht auch nicht in Frage. Wenn ein Künstler vom Range Michelangelos den concetto dieses zentralen Ereignisses auf dem Mons Averna zu fassen sucht, wird er die einschlägigen Texte studiert und sich mit bedeutenden Fassungen dieses Themas auseinandergesetzt haben. Das frühe Fresko der Stigmatisation des Hl. Franz in der Oberkirche in San Francesco zu Assisi wird ihm aus eigener Anschauung nicht bekannt gewesen sein, doch da es in so vielen späteren Schöpfungen nachgewirkt hat, ist es nötig, es kurz vor Augen zu stellen.29 Das mäßig hohe Fresko zeigt den Heiligen in kahler Felsenlandschaft vor einem Berg mit kargen Baumbewuchs. Schroffe Abbrüche des Gesteins begrenzen das Felsplateau, auf dem Franz fast verhüllt von seiner Kutte in großartiger Haltung kniet. Nur sein rechtes Knie drückt er auf den Boden, sein linkes Bein hat er aktiv nach vorne abgewinkelt aufgestellt. Mit seinem Oberkörper weicht er mit erhobenen Händen vor der ihn machtvoll treffenden Vision des Seraphen, in dem sich der Gekreuzigte verbirgt, zurück. Mit höchster Anspannung ist sein ganzes Gesicht auf das Geschaute hin ausgerichtet. Dem Bericht des Hl. Bonaventura entsprechend, wird zwar das Einprägen der Wundmale gezeigt, doch das weitfaltige, langärmelige Kleid verhüllt sie zum großen Teil. 30 Dass der Hl. Franz nach seinem Abstieg vom Berg die Stigmata verborgen halten würde, weiß der Künstler auf diese Weise anzudeuten.31 Im Rücken des Heiligen ragt der feste Bau einer Kapelle auf. Sie ist genauso wenig verschlossen wie die Kirche auf der rechten Seite des Freskos, vor der der Begleiter des Heiligen auf dem ebenfalls

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Abbildung 3: Unbekannter Stecher (nach Michelangelo), Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi, Kupferstich, El Escorial, 28-I-1, fol. 124

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kahlen Boden sitzt und konzentriert in die Heilige Schrift blickt, die er aufgeschlagen in seinen Händen hält. Aus der Legenda maior wissen wir um die Bedeutung dieser Darstellung: Auf dem Mons Averna hatte sich Franziskus zusammen mit einem Mitbruder zu 40-tägigem Fasten zurückgezogen.32 Um den Willen Gottes zu erkunden, nahm er das Evangelienbuch vom Altar und ließ es von dem „frommen, gottgeweihten Mann“, der ihn begleitete, dreimal aufschlagen; dreimal öffnete sich das Buch bei der Leidensgeschichte des Herrn; dies bewog Franz zu der Überzeugung, dass er vor seinem eigenen Hinscheiden, Christus „in der Bedrängnis und in seinem schmerzvollen Leiden ähnlich werden“ müsse.33 Sicherlich aber kannte Michelangelo das Fresko über dem Eingang der Bardi-Kapelle, in dem Giotto zeigt, was er sich unter disegno vorstellt.34 Giottos Erfindung, verglichen mit dem früheren Fresko in der Oberkirche zu Assisi, überzeugt durch eine radikale Vereinfachung der Motive: Wir sehen nun nur eine Kirche und nicht zwei, der Begleiter des Heiligen fehlt, die kleinteiligen Felsabbrüche und Zergliederungen des Berges wichen wenigen großen Formen. In dieser Stille bewegt uns die Einsamkeit des Heiligen in besonderem Maße; vor der Vision des mit Schnelligkeit auf ihn zu eilenden Seraphen, der seine Flügel um den Gekreuzigten öffnet, schrickt er zur Seite. Sein Antlitz und die emporgerichteten Arme wendet er ihm aber mit Leidenschaft zu. Diese Gesamtgebärde des machtvoll im Innersten getroffenen Hl. Franz war so singulär erfunden, dass sie keine unmittelbare Nachfolge fand.35 In den späteren, vielfältigen Schöpfungen einer Stigmatisation des Hl. Franz variieren mehr die Landschaft, das Helldunkel und die Pose des Begleiters als die Gestalt des Heiligen, wie sie der junge Giotto in Assisi geprägt hatte. Vor diesem Problem stand der junge Künstler: Wie sollte er den Wettstreit mit den großen Vorbildern aufnehmen? Vermochte er es, noch tiefer in den spirituellen Gehalt der Szene einzudringen? Widmen wir uns daher den beiden Drucken nach Michelangelos Werk, das in zwei unterschiedlich großen Fassungen vorliegt. Die ursprüngliche Version ist schmaler und steiler (mit einem Verhältnis von ca. 3:2) als die zweite angelegt; diese ausgewogener proportionierte hatte der Herausgeber Lafreri durch einen weiteren Stecher stärker den üblichen Formaten anpassen lassen (Abb. 2–3).36 Da trotz wesentlicher Übereinstimmungen in den Hauptmotiven und in den Details die zweite Fassung doch etwas nachlässiger und formelhafter ausgefallen ist, konzentriere ich mich im Folgenden auf die kleinere Ursprungsversion (Abb. 2). Sie entspricht mit ihren steileren Proportionen vermutlich auch eher dem ursprünglichen Bildformat, das anders als Michael Hirst aufgrund von Padre Restas sehr kleiner Skizze nach dem verlorenen Michelangelo-Werk angenommen hatte,37 nicht querrechteckig, sondern hochrechteckig (man vergleiche die gerahmten Altartafeln in San Pietro in Montorio) vorzustellen ist.

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Der Stich vermittelt, welch neue Wege der junge Michelangelo bei der Gestaltung dieses wichtigen Themas beschritten hat. Trotz allem Reichtum der einzelnen Elemente beherrscht der glutvoll bewegte Heilige das ganze Bild. Er kniet von rechts her, mit dem linken Knie nach vorne drängend. Aus einer Drehung des Körpers heraus streckt er seine rechte, geöffnet erhobene Hand mit heftigem Verlangen nach dem Gekreuzigten aus, während seine linke Hand, nach hinten genommen, demütig das Mal empfängt. Der Kopf ist hingebungsvoll zur Seite gelegt, das Gesicht strebt mit aller Macht der Vision entgegen. Hände, Füße, Körperseite treffen die pfeilförmig auftreffenden Strahlen, die von einem sehr kleinen Kruzifixus ausgehen, der sich links oben im Profil vor einem dunkel verschatteten Felsabbruch abzeichnet. Wir sehen nur den Gekreuzigten am Holz, kein Seraph faltet seine Flügel um ihn.38 Diese Beobachtung läßt aufhorchen; denn Giovanni Paolo Lomazzo schreibt, als er die Serafini in seinem Trattato dell’arte della pittura, scoltura et architettura (Buch 7, Kap. 3, 1584) erläutert: „[…] il fuoco gli si ascrive, che non è altro che uno amore lucente, vanno rappresentanti risplendenti, in modo che spargono intorno raggi a guisa di soli, e con sei ali, come quello di cui fa menzione il profeta et un che apparve a s. Francesco con Cristo nel mezzo della croce, rappresentante il desiderio suo. Il qual affetto fu dimostrato dal Buonarroto nel cartone ritratto in S. Pietro in Montorio in Roma […].“39

Es ist die brennende Sehnsucht nach Gott, die nicht nur den Seraphen, sondern auch den Hl. Franziskus erglühen läßt; da genau dies Michelangelo in der neu erfundenen Haltung des Heiligen zum Ausdruck zu bringen sucht, konnte er möglicherweise den Seraphen um den Gekreuzigten fortlassen.40 Unterhalb des Kreuzes sehen wir in einer Felsennische den stillen Begleiter des Heiligen sitzen. Erregt wird er des Ereignisses gewahr und kippt dabei mit seinem Körper nach links. Dabei sinkt auch das Buch, das er in seinen Händen hält, auf den linken Schenkel, während er seinen Blick gebannt nach rechts auf den Hl. Franz richtet. Heftige contrapposti zeichnen beide Figuren aus und verknüpfen sie miteinander. In besonderer Weise weckt auch die Gestaltung der Landschaft unser Interesse. Könnte es sein, dass sie eine Zutat des Stechers ist oder lässt sie sich in ihren Merkmalen so gut in die Zeit um 1500 einordnen, dass man von einem Entwurf Michelangelos sprechen kann? Entgegen der oben geschilderten Tradition hat der Entwerfende den Heiligen nicht vor den Mons Averna, sondern zwischen zwei Felsenansammlungen gerückt. Der linke Felsblock ähnelt einem stehenden Kubus, dessen rechte Wand verschattet ist; sie führt den Blick in die Tiefe. Dunkle Aushöhlungen hinterfangen oben das Kruzifix, unten den Mitbruder des Heiligen.

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Das Felsenmassiv auf der rechten Seite setzt sich aus mehreren unregelmäßig gebildeten Blöcken zusammen und führt, nach hinten zurückweichend, stufenartig zur Höhe. Der Hl. Franz kniet auf einem welligen Boden, den kleine Pflanzen begrünen, rechts hinter ihm ragt ein kurzer Baumstumpf zur Seite. Ein gewundener Weg, auf dem Steine liegen, trennt die beiden Protagonisten. Er führt den Blick in die Tiefe hinab an das Ufer eines Gewässers; dort lugen eine kleine Kapelle und ein Baum hinter den Felsen hervor. Aus der See erheben sich drei Berge. Am Fuß des ersten auf der linken Seite liegt eine Ortschaft und ein Weg schlängelt sich zum Gipfel. Der zweite Berg ragt (über dem Kopf des Hl. Franz) mittig aus dem Wasser; auf ihm steht eine Ruine; der dritte erhebt sich über den Horizont und schließt die Lücke zwischen dem mittigen Berg und den Felsen im rechten Vordergrund. Den Blick durch solche aus Felsen gebildete Schächte in die Tiefe zu führen und die Zwischenräume mit immer kleiner werdenden, besiedelten Bergen, die an Wasser grenzen, zu füllen, ist typisch für Ghirlandaios Fresken, man denke an die Taufe Christi oder an den kleinen Johannes in der Wüste in der Cappella Tornabuoni in Santa Maria Novella, von 1486 bis 1490 ausgeführt.41 1487 und 1488 ist der junge Michelangelo in Ghirlandaios Werkstatt dokumentiert.42 Es spricht also nichts dagegen, die Landschaft der Stiche in das späte Quattrocento zu datieren und Michelangelo als Erfinder anzusprechen, auch wenn manches Detail der Vegetation auf den anonymen Stecher zurückgehen mag.43 Anders als diese Vorbilder aber rückt er seine Hauptperson nicht vor einen der Felsen, sondern zwischen sie, das heißt direkt vor den Ausblick in die Tiefe. Pesellinos Stigmatisations-Tafel im Louvre, die einst zu Filippo Lippis Predella des Noviziaten-Altar von Santa Croce gehört hatte, wies hier wohl den Weg.44 Die Einordnung von Michelangelos Gesamtkomposition, insbesondere der Landschaft in das späte Quattrocento ergibt sich aus dem instruktiven Vergleich mit zwei Stichen von Cornelis Cort nach Vorlagen des Girolamo Muziano: Im 1567 datierten Stich ist die Szene der Stigmatisation eingebettet in eine großartige Waldlandschaft mit hohen Felsen, durch die ein Wasserfall rauscht, in dem 1568 datierten Blatt erscheint die Person des Hl. Franziskus zwar größer und sie ist näher ans Auge herangerückt, doch das ihn umschließende bewaldete Felsrund setzt ein Naturstudium voraus, über das die italienischen Künstler vor und um 1500 noch nicht verfügten.45 Wenn es nun gilt, das Entstehungsdatum des Michelangelo-Entwurfes noch genauer aus seinem Œuvre zu erschließen, kann ein Vergleich mit den 1494 bis 1495 entstandenen Skulpturen für die Arca di San Domenico zu Bologna weitere Anhaltspunkte liefern.46 Diesen von vibrierender Energie durchpulsten Figuren sind die leidenschaftlich bewegten Gestalten der Franztafel verwandt, und eine große stilistische Ähnlichkeit ist auch in der Art zu konstatieren, wie der aktiv

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mit dem Knie auf den Boden drückende Oberschenkel des Hl. Franz so wie am kandelabertragenden Engel der Arca glatt und muskulös unter dem anliegenden Gewand herausmodelliert und von luftgefüllten Faltenstegen weich umrundet wird. So gesehen stünde einer Datierung des Kartons für die Stigmatisation in Michelangelos erste Monate in Rom, d. h. zwischen Juni und August 1496, nichts entgegen. Die Viten weisen uns zwar auf diesen Zeitraum hin, doch ist eine Auftragsvergabe für San Pietro in Montorio in diesen Monaten denkbar und möglich, und an wen soll sie gegangen sein? An den Barbier des Riario? Oder an den jungen, in Rom noch kaum bekannten Michelangelo? Und hat dieser dann seinen Entwurf von seinem garzone Piero d’Argenta ausführen lassen? Pietro d’Argenta hat man bisher drei Werke zugewiesen, die in mehr oder weniger großer Abhängigkeit von Michelangelos Vorlagen gedacht werden: einen Tondo in der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste, eine lesende Madonna mit ihrem Kind und dem Johannesknaben in der Kress Collection und eine Pietà in Grisaille in Rom.47 Stilistisch ist deren Nähe zur Michelangelo zugeschriebenen Manchester-Madonna in London unbestreitbar. Sieht man auf den michelangelesken Habitus der Madonna und in geringerem Maße auf den Landschaftsausblick des Tondos in Wien, so kann man sich durchaus die Stigmatisation von diesem garzone gemalt vorstellen, immer freilich unter der Voraussetzung, dass er sich genau an die Vorgaben des Kartons gehalten habe. Noch schwieriger wird die zeitliche Einordnung des Gemäldes, wenn man sich den Baufortgang in San Pietro in Montorio verdeutlicht.48 Kirche und Kloster durfte der aus der Lombardei nach Rom gereiste, aus altem portugiesischem Adel stammende Amedeo Menez da Silva mit Billigung des Papstes Sixtus IV. errichten, der ihn auch zu seinem Beichtvater erhob.49 Amedeo hatte sich durch seine prophetische Begabung nicht nur die Sforza, sondern auch das spanische Königshaus verpflichtet und war durch die Verfassung der Apocalypsis Nova, die als Papst einen „pastor angelicus“ verhieß, berühmt.50 Seine besonders strenge Auslegung der franziskanischen Regel fand viel Zuspruch. Man sollte daher bei Betrachtung der Werke in San Pietro in Montorio nicht aus den Augen verlieren, dass – abgesehen vom Marienpatrozinium der Kirche – einerseits das Martyrium des Hl. Petrus (und damit der Bezug zum Hl. Stuhl) wichtig sein, andererseits aber der Hl. Franz von Assisi (und zwar als einer der die Stigmata empfangen hatte und daher als Alter Christus angesprochen werden konnte)51 eine wichtige Rolle spielen würde: Die Darstellungen des Hl. Petrus wie des Hl. Franziskus zuseiten der Geißelung Christi in der Cappella Borgherini stellen dies deutlich unter Beweis. In zwei Bullen von 1472 und 1481 hatte Sixtus IV. Amedeo auf dem Gianicolo das Terrain mit einem verlassenen Konvent übergeben und ihm gestattet, diesen wiederherzustellen und zu erweitern.52 1494 sind liturgische Handlungen in

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Abbildung 4: Battista Lorenzi, Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi, Florenz, Ognissanti, Kanzel

Quelle: Caglioti 2000, S. 214, Abb. 2

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der Kirche dokumentiert; es wird am Dach der Kirche und am Turm gearbeitet.53 Nach einer Stockung im Weiterbau des Hauptschiffs werden die Kirche und der Hauptaltar am 9. Juni 1500 konsekriert.54 Allerdings hat davor bereits zumindest ein Begräbnis stattgefunden: Am 27. November 1499 wurde der Bischof von Sessa Aurunca – dort hatte der Hl. Franz von Assisi einst einen Knaben auferweckt – Giovanni Furacrapa begraben, der im Haus des Oliviero Carafa gestorben war.55 Weiter bezeugt ist auch die verlorene Grabplatte des Franziskaners Galcerando, Bischof von Bisarchio (Sardinien), der am 3. November 1499 verstorben war; die Platte, die ein Bildnis des Verstorbenen getragen hatte und von einer Inschrift umzogen war, lag als dritte auf der Evangelienseite in der ersten Reihe.56 Welche Schlüsse kann man aus diesen frühen Zeugnissen ziehen? Gleich, ob der Auftraggeber Michelangelos – wie Francesco Brevio, Bischof von Ceneda, der die zweite Kapelle auf der rechten Seite der Kirche gestiftet hatte57 – auch Franz geheißen hat: Der Akt der Stigmatisation muss für ihn zentral gewesen sein. Das Patrozinium der Kapelle blieb auch nach der Neuweihe der Seitenaltäre von San Pietro in Montorio im Jahr 1580 erhalten.58 Die Confraternità delle Sacre Stimmate nahm diese Kapelle zum Anlass, um sich dort am 22. August 1594 zu begründen und den Kult der Stigma als universales Fest der katholischen Kirche zu propagieren.59 Merkwürdigerweise hat weder der erste, noch der zweite Stifter im Visitationsbericht des Jahres 1628 eine Spur hinterlassen, was (von einer weiteren Ausnahme abgesehen) auf die übrigen Kapellen in San Pietro in Montorio nicht zutrifft.60 Überhaupt bleibt zu bedenken, ob die ursprüngliche Stiftung einer Tafel nicht auch ein Akt besonderer Bescheidenheit war. Alle späteren Stifter haben die ganze Kapelle freskieren oder mit Skulpturen ausstatten lassen. So weitreichend die Bedeutung der Tafel Michelangelos und ihres Ausführenden auch gewesen sein mag, ihre genaue Datierung bleibt weiter schwierig. Denn wenn es auch oben Hinweise genug gab, sie um 1496 oder 1497 anzusetzen, so scheint dieser Zeitpunkt zu früh, wenn man an den Abschluss des Baues selbst denkt. Ein Auftrag für das Gemälde lange vor der Weihe des Baus im Jahr 1500 legt sich nicht nahe, auch wenn man in Betracht ziehen sollte, dass man alles daran gesetzt haben wird, zu diesem besonders wichtigen Jubeljahr den Bau abzuschließen und mit dem ersten Schmuck zu versehen.61 Da das Gemälde nur einem so kleinen Kreis von Forschern bekannt war, hat man sich bisher zu wenig mit seiner Nachwirkung befasst. Jesús Maria Parrado del Olmo war allein aufgrund der kleinen Skizze des Padre Resta aufgefallen, dass das Relief mit der Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi rechts unten im Retablo der Pfarrkirche Santiago el Major in Cáceres, das Alonso Berruguete zusammen mit seiner Werkstatt als letztes Retabel 1557 bis 1560 geschaffen hatte, Michelangelos Stigmatisation in San Pietro in Montorio voraussetzt und den Hl. Franz in Extase noch

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Abbildung 5: Giovanni de’Vecchi, Stigmatisation der Hl. Katharina von Siena, Rom, Santa Maria sopra Minerva, Cappella Capranica

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leidenschaftlicher gestaltet; die Forschung vermutet, dieses Relief sei das einzige von ihm selbst geschaffene Relief des Retabels.62 Berruguete hatte sich von ca. 1508 bis 1517 in Italien aufgehalten; sein intensives Studium der Werke Michelangelos in diesem Zeitraum konnte durch diesen treffenden Vergleich erweitert werden.63 Es ist auch nicht auszuschließen, dass der Auftraggeber des Retabels, Francisco de Carvajal, das Gemälde in San Pietro in Montorio gekannt hat.64 Sein berühmter Onkel, Kardinal Bernardino de Carvajal, hatte ja diesen Bau seit 1488 geleitet.65 Nur wenig später ließ sich auch der Florentiner Bildhauer Battista Lorenzi durch Michelangelos inventio inspirieren, was bisher noch unbeachtet blieb; er hätte es in den Jahren 1558 bis 1559, als er mit Vincenzo de’Rossi in Rom weilte, vor Ort studieren können.66 Wie nahe Battista Michelangelo stand und wie hoch man seine Fähigkeiten einschätzte, beweist einerseits, dass er zum einen Nachfolger in Michelangelos studio in der Via Mozza wurde, in dem dieser u. a. die Skulpturen des Juliusgrabmals geschaffen hatte, und ihm andererseits die Ehre erwiesen wurde, Michelangelos Grabmal in Santa Croce auszuführen.67 Michelangelos Stigma-

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tisations-Tafel aber war ihm Vorbild für das (zwischen 1561 und 1565 entstandene) gleichnamige Relief an der Kanzel der Florentiner Kirche Ognissanti, in die 1561 die Franziskaner-Observanten eingezogen waren (Abb. 4).68 Noch vor seiner aemulatio in San Pietro in Montorio, bei der er die Figur des Hl. Franz gegengleich bildet und im Raum dreht, ließ sich De’Vecchi von Michelangelos inventio anregen, und zwar in seiner ergreifenden Darstellung der Stigmatisierung der Hl. Katharina von Siena auf einem Fresko in der Cappella Capranica in Santa Maria sopra Minerva, das nach der Auftragsvergabe von 1573 bis ca. 1586 entstanden ist (Abb. 5).69 Allen genannten Nachfolgewerken ist gemeinsam, dass sie nur die empfindungsreiche Haltung des Hl. Franz aufgreifen, in der Darstellung weiterer Figuren, der Landschaft sowie des Helldunkels ganz frei verfahren. Auch die komplizierten contrapposti in der Pose des Hl. Franz werden nicht übernommen; nur Battista Lorenzi vermag sie nachzuahmen. – Es ist zu wünschen, dass diese erste Untersuchung zu Michelangelos verlorenem, aber durch die Stiche wiedergewonnenem Werk in San Pietro in Montorio zu weiteren Entdeckungen seiner Nachwirkung anregen möge.

A nmerkungen 1 | Siehe zur Cappella Borgherini zuletzt Arroyo Esteban, Santiago/Marocchini, Bruno/Seccaroni, Claudio (Hg.): Sebastiano del Piombo e la Cappella Borgherini nel contesto della pittura rinascimentale, Florenz 2010, passim; Barbieri, Costanza: „The Borgherini Chapel“, in: Matthias Wivel (Hg.), Michelangelo and Sebastiano, Ausst-Kat., London 2017, Kat.-Nr. 31–37, S. 159–171. Zum Bezug der Grabmäler Del Monte zum Juliusgrabmal siehe Echinger-Maurach, Claudia: Michelangelos Grabmal für Papst Julius II., München 2009, S. 142 (mit Bibliografie). Zu Michelangelos Entwürfen für die Cappella Ricci siehe Echinger-Maurach, Claudia: „Michelangelos späte Entwürfe für Nischenfiguren in San Pietro in Montorio und St. Peter“, in: Nicole Riegel/Damian Dombrowski (Hg.), Architektur und Figur. Das Zusammenspiel der Künste. Festschrift für Stefan Kummer zum 60. Geburtstag, München/Berlin 2007, S. 156–171, hier S. 159–161 (mit Bibliografie). 2 | Agosti, Giovanni/Hirst, Michael: „Michelangelo, Piero d’Argenta and the ,Stigmatisation of St Francis‘“, in: The Burlington Magazine 138.1996, S. 683 f. Die Dokumentenlage bezüglich der Werke in San Pietro in Montorio ist schlecht, da das Archiv am 6. Januar 1668 nach Santa Maria in Aracoeli verbracht worden und dort verbrannt ist; siehe Grilli, Cecilia: „Il committente della cappella della Pietà in San Pietro in Montorio in Roma“, in: Bollettino d’arte 6/79.1994, 84/85, S. 157–164, hier S. 157. Auch das Archiv des Bernardino de Carvajal ist verloren. Siehe Cantatore, Flavia: San Pietro in Montorio, Rom 2007, S. 144 f.

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Claudia Echinger-Maurach 3 | Siehe zuletzt Falabella, Susanna: „Gli interventi dal tardo Manierismo al Barocco“, in: Alessandro Zuccari (Hg.), La Spagna sul Gianicolo, Bd. 1: San Pietro in Montorio, Rom 2004, S. 149–199, hier S. 157–164; Cantatore 2007, S. 123; Knorn-Ezernieks, Nicola: Giovanni de’Vecchi: seine Stellung in der römischen Malerei um 1600, Hildesheim 2013, Kat.-Nr. 11, S. 209–217; Di Loreto, Pietro: „,Una ferita come di lancia si scoprì nel suo cuore‘“, in: Valori tattili 5/6.2015, S. 153–177; Tosini, Patrizia: „Giovanni De’Vecchi, ‚amante segreto‘ di Michelangelo e il milieu del cardinale Alessandro Farnese“, in: Marco Simone Bolzone/Furio Rinaldi/Patrizia Tosini (Hg.), Dopo il 1564. L’Eredità di Michelangelo a Roma nel tardo Cinquecento/After 1564. Michelangelo’s Legacy in Late Cinquecento Rome (= Atti della conferenza annuale della Renaissance Society of America, Berlino 26–28 Marzo 2015), Rom 2016, S. 101–119, hier S. 109; Cantatore, Flavia: „La chiesa e il monastero di San Pietro in Montorio“, in: Flavia Cantatore (Hg.), Il tempietto del Bramante nel monastero di San Pietro in Montorio, Rom 2017, S. 82. 4 | Siehe Vannicelli, Primo Luigi: S. Pietro in Montorio e il tempietto del Bramante, Rom 1971, S. 137–139. Zur stark umstrittenen Szene in der Lünette, zu ihren Deutungen und den daraus resultierenden Datierungen siehe die Literaturberichte in Falabella 2004, S. 161–164; Knorn-Ezernieks 2013, S. 209–215. 5 | Die Erinnerung an das vorausgegangene Gemälde Michelangelos verbirgt sich noch in einer Notiz bei Alveri, Gasparo: Della Roma in ogni suo stato, Rom 1664, S. 310: „La quinta Cappella dalla detta parte è dedicata alle stimmate di S. Francesco, e vi è la sua imagine dipinta da Giovanni de Vecchi con il disegno del Buonaroti.“ 6 | Faciotti, Guglielmo (Hg.): Le cose meravigliose dell’alma città di Roma, Rom 1608, S. 20. Zu den ganz unterschiedlichen Datierungen der Fresken de’Vecchis, die vom Pontifikat Gregors XIII. bis ins erste Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts reichen, siehe die in Anm. 4 genannte Literatur. 7 | Der Visitationsbericht vom 11. Dezember 1628 nennt das Gemälde in der Sakristei nicht; siehe Nicolò, Rossana: „San Pietro in Montorio. Documenti“, in: Cantatore 2017, S. 335–378, hier S. 361. Zur Aufbewahrung des Werkes zuerst in der ersten Sakristei neben dem Chor, danach in der zweiten, siehe den Eintrag von Padre Resta sowie die Bemerkung von Gaspare Celio in seiner Memoria delle nomi dell’artefice delle pitture che sono in alcune chiese, facciate e palazzi di Roma, Neapel 1638, S. 78, in: Agosti/Hirst 1996, S. 684 und Anm. 14, 16. 8 | Zu Padre Restas Skizze nach Michelangelos Gemälde siehe Agosti/Hirst 1996, S. 684. Zum Codex Landsdowne, dem Padre Restas Skizze entstammt, siehe Warwick, Genevieve: „The Formation and Early Provenance of Padre Sebastiano Resta’s Drawing Collection“, in: Master Drawings 34.1996, S. 239–278, hier S. 239, 262. 9 | Alberti, Alessia/Rovetta, Alessandro/Salsi, Claudio: D’après Michelagelo. La fortuna di Michelangelo nelle stampe del Cinquecento, Ausst-Kat., 2 Bde., Mailand 2015, hier Bd. 2, Kat.-Nr. 285, 286 (ohne Seitenzählung); Alberti, Alessia: „Michelangelo nell’Indice di Antonio Lafreri (1573–1575 ca.)“, in: Bolzone/Rinaldi/Tosini 2016, S. 209–219, hier S. 216; Rubach, Birte: Ant. Lafreri Formis Romae. Der Verleger Antonio Lafreri und seine Druckgraphikproduktion (Diss.

Michelangelos inventio einer Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi HU Berlin), Berlin 2016, Kat.-Nr. 150, S. 240; Bambach, Carmen C. (Hg.): Michelangelo. Divine Draftsman and Designer, Ausst.-Kat., New York 2017, S. 56. 10 | Frey, Karl (Hg.): Il Codice Magliabechiano, cl. XVII. 17, contenente notizie sopra l’arte degli antichi e quella de’ Fiorentini da Cimabue a Michelangelo scritte da Anonimo Fiorentino, Berlin 1892, S. 129. Zur Datierung der Aufzeichnungen ins Jahr 1544 siehe ebd., S. XCVII und 126. 11 | Frey 1892, S. 129 f. Raffaels Transfiguration erhob sich von 1523 bis 1797 über dem Hochaltar von San Pietro in Montorio siehe Zuccari, Alessandro: I grandi maestri del Cinquecento, in: Zuccari 2004, S. 109–113. 12 | Barocchi, Paola (Hg.): Giorgio Vasari. La Vita di Michelangelo nelle redazioni del 1550 e del 1568, 5 Bde., Mailand/Neapel 1962, hier Bd. 1, S. 13. 13 | Nencioni, Giovanni/Hirst, Michael/Elam, Caroline (Hg.): Ascanio Condivi. Vita di Michelagnolo Buonarroti (= Tabulae Artium. Testi letterari e figurati ad uso di esercitazione, Bd. 2), Florenz 1998, S. 17–19. 14 | Auf den 1597 gedruckten Text verweisen Alberti/Rovetta/Salsi 2015, Bd. 2, im Vorwort zu Kat.-Nr. 285. Die Datierung des Textes verdanke ich einem Hinweis von Maggie Daly Davis. Der Zeitrahmen erschließt sich auch aus Boissards Nennung von Raffaels Transfiguration, der Gemälde Sebastiano del Piombos und Michelangelos sowie durch seinen Hinweis auf die Entstehung der Cappella del Monte. Die spätere Cappella Ricci erwähnt er nicht. Vgl. dazu auch oben Anm. 1. 15 | Milanesi, Gaetano (Hg.): Giorgio Vasari. Le Opere (1906 [11878–1885]), 9 Bde., Nachdruck: Florenz 1973, hier Bd. 7, S. 149, Anm. 4. 16 | Vasari/Barocchi 1962, Bd. 1, S. 16; Vasari/Milanesi 1973, S. 149. 17 | Hirst, Michael: Michelangelo. The Achievement of Fame, New Haven/London 2011, S. 27–29; Bambach 2017, S. 62. 18 | In der älteren Literatur war man Vasaris Version gefolgt und sprach von einer Beauftragung des Bacchus durch Jacopo Galli; siehe dagegen Hirst, Michael: „Michelangelo in Rome: An Altar-piece and the ‚Bacchus‘“, in: The Burlington Magazine 123.1981, S. 581–593, hier S. 592 f.; Hirst, Michael/Dunkerton, Jill: The Young Michelangelo, The Artist in Rome 1496–1501, London 1994, S. 29–32; Hatfield, Rab: The Wealth of Michelangelo, Rom 2002, S. 1–5. 19 | Hirst 1981, S. 593. 20 | Hirst/Dunkerton 1994, S. 37; Hatfield 2002, S. 5. 21 | Hatfield 2002, S. 5, Anm. 21; Hirst 2011, S. 38. 22 | Zu den Zitaten siehe oben Anm. 9 und 15. Als Maß für diese tavola d’altare stelle ich mir zum Vergleich die schmale, aber doch genügend hohe Darstellung der Anna Selbdritt in der dritten Kapelle auf der linken Seite der Kirche vor, die Antoniazzo Romano und seiner Werkstatt zugeschrieben wird. Siehe Cavallaro, Anna: „La chiesa nel primo Rinascimento“, in: Zuccari 2004, S. 19–55, hier S. 37. 23 | Siehe Céspedes, Paolo de: Discurso de la Comparación de la Antigua y Moderna Pintura y Escultura. Texto original de Pablo de Céspedes, in: Jesús Rubio Lapaz/Fernando Moreno

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Claudia Echinger-Maurach Cuadro: Escritos de Pablo de Céspedes. Edición crítica, Cordoba 1998, S. 241–298, hier S. 285. Der Text entstand in Cordoba und wird im Archivio de la Catedral de Granada, libro 58, fols. 263–275, aufbewahrt. 24 | Fallay D’Este, Lauriane: „Les fresques de Pablo de Céspedes à l’église de la Trinité-desMonts à Rome“, in: Mélanges de L’Académie de l’Ecole de Rome 102/1.1990, S. 43–76, hier S. 51–57. Siehe weiter Boubli, Lizzie: „Michelangelo and Spain: on the dissemination of his draughtsmanship“, in: Francis Ames-Lewis/Paul Joannides (Hg.), Reactions to the Master. Michelangelo’s Effect on Art and Artists in the Sixteenth Century, Aldershot 2003, S. 211–237, hier S. 225–229. 25 | Céspedes 1998, S. 285; Agosti/Hirst 1996, S. 683, Anm. 4. 26 | Fallay D’Este 1990, S. 47. 27 | Siehe Barocchi, Paola/Loach Bramanti, Kenneth/Ristori, Renzo: Il carteggio indiretto di Michelangelo, 2 Bde., Florenz 1988–1995, hier Bd. 1, S. XXIX f., 1, Bd. 2, S. 321 f. Zu Piero d’Argenta in Michelangelos Korrespondenz siehe Barocchi, Paola/Ristori, Renzo (Hg.): Il carteggio di Michelangelo, 5 Bde., Florenz 1965–1983, hier Bd. 1, S. 10, 12, 27 f., 31, 62, 86, 362, 371. 28 | Hatfield 2002, S. 10 f. 29 | Poeschke, Joachim: Die Kirche San Francesco in Assisi und ihre Wandmalereien, München 1985, S. 93; Poeschke, Joachim: Wandmalerei der Giottozeit in Italien 1280–1400, München 2003, Tafel 44. 30 | Bonaventura: Legenda maior, XIII, 3. 31 | Bonaventura: Legenda maior, XIII, 4. 32 | Ruf, P. Gerhard: Franziskus und Bonaventura. Die heilsgeschichtliche Deutung der Fresken im Langhaus der Oberkirche von San Francesco in Assisi aus der Theologie des heiligen Bonaventura, Assisi 1974, S. 195. 33 | Ruf 1974, S. 195. 34 | Poeschke 2003, Tafel 147. Vgl. Vasari/Milanesi 1973, Bd. 1, S. 374: Giotto „diede principio al buon modo di disegnare e di colorire“. 35 | Nur Pietro Lorenzetti vermochte in seinem innovativen Fresko in der Unterkirche zu Assisi etwas von dieser heftigen Bewegung, die ja eine innere ist, in die traditionelle Pose des knienden Franziskus aufzunehmen. Vgl. Poeschke 2003, S. 128. 36 | Siehe Zárate, Jose Maria Gonzales de: Real Colecciòn de Estampas de San Lorenzo de El Escorial, 10 Bde., Vitoria-Gasteiz 1992–1996, hier Bd. 7, S. 41, Nr. 9.1 (2651); Alberti/Rovetta/ Salsi 2015, Bd. 2, Kat.-Nr. 285 (29,7 x 21,2 cm), Kat.-Nr. 286 (32,5 x 25 cm). Die Autorschaft Michelangelos erschließt sich aus dem Vermerk „San Francesco di Mich. Ang.“ im dritten Teil des Index des Antonio Lafreri. Siehe Alberti 2016, S. 216. Zur Datierung der Stiche 1570–1575 siehe Bambach 2017, S. 56. 37 | Agosti/Hirst 1996, S. 684. 38 | Vgl. Alberti/Rovetta/Salsi 2015, Bd. 2, Kat.-Nr. 285.

Michelangelos inventio einer Stigmatisation des Hl. Franz von Assisi 39 | Ciardi, Roberto Paolo (Hg.): Gian Paolo Lomazzo. Scritti sulle arti, Bd. 2, Florenz 1973, S. 465. 40 | Zum Vergleich des Serafen mit dem Hl. Franz siehe Celano, Tommaso da: Vita beati Francisci, § 94–96, 112–115. Auch das Epigramm unter den Stichen hebt diesen „mirus amor“ des Heiligen hervor. Siehe Rubach 2016, S. 214. 41 | Kecks, Ronald G.: Ghirlandaio. Catalogo completo, Florenz 1995, Kat.-Nr. 15, S. 126–144, hier S. 138–139; Roettgen, Steffi: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Bd. 2: Die Blütezeit 1470–1510, München 1997, S. 163–178. 42 | Hirst/Dunkerton 1994, S. 14. 43 | Siehe Alberti/Rovetta/Salsi 2015, Bd. 2, Kat.-Nr. 285. 44 | Ruda, Jeffrey: Fra Filippo Lippi. Life and Work, with a Complete Catalogue, London/New York 1993, Kat.-Nr. 32 , S. 414–416, hier S. 416. 45 | Zu diesen beiden Stichen des Cornelis Cort siehe Rubach 2016, Kat.-Nr. 148, 149, S. 214 f. Zum Lob der Waldlandschaften mit dem Hl. Franziskus von C. Cort siehe auch Lomazzo/ Ciardi 1973, Bd. 2, S. 465. 46 | Hirst/Dunkerton 1994, S. 17–20. 47 | Hirst/Dunkerton 1994, S. 37–42; Bambach 2017, S. 55 f. 48 | Zur Architektur der Kirche und ihrer frühen Ausstattung siehe Kuhn-Forte, Brigitte: Die Kirchen innerhalb der Mauern Roms, S. Teodor bis SS. Vito, Modesto e Crescenzio. Die Kirchen von Trastevere (= Handbuch der Kirchen Roms, Bd. 4), Wien 1997, S. 951–1030; Riegel, Nicole: „San Pietro in Montorio in Rom. Die Votivkirche der katholischen Könige Isabella und Ferdinand von Spanien“, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 32.1997/1998, S. 273– 320; Cantatore 2007, S. 54–102, 114–118; Cantatore, Flavia: „San Pietro in Montorio. Vicende architettoniche tra Quattro e Cinquecento“, in: Arroyo Esteban/Marocchini/Seccaroni 2010, S. 19–28; Frommel, Christoph Luitpold: „Bramante, il Tempietto e il convento di San Pietro in Montorio“, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 41.2013/2014, S. 111–164, hier S. 115–124; Cantatore, Flavia, „La chiesa e il monastero di San Pietro in Montorio: architettura e storia“, in: Cantatore 2017, S. 67–110. 49 | Riegel 1997/1998, S. 297 f. 50 | Riegel 1997/1998, S. 298; Barbieri 2017, S. 160. 51 | Siehe Serra, Alessandro: „Le ‚Sacre Stimmate de santo Francesco‘. Una confraternità e un culto nella Roma di Cinque-Seicento“, in: Rivista di storia e letteratura religiosa 18.2012, S. 305–352, hier S. 306. 52 | Cantatore 2007, S. 34. 53 | Cantatore 2007, S. 50. 54 | Riegel 1997/1998, S. 295–297. 55 | Cantatore 2007, S. 71. 56 | Alveri 1664, S. 312.

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Claudia Echinger-Maurach 57 | Cavallaro 2004, S. 46–52. 58 | Vannicelli 1971, S. 31 f., 40. 59 | De Angelis, Gilberto: „Notizie inedite sulla prima giovinezza di Federico Cesi: una conferma delle fonti francescane della spiritualità cesiana“, in: Andrea Battistini/Gilberto De Angelis/Giuseppe Olmi (Hg.), All’origine della scienza moderna: Federico Cesi e l’Accademia die Lincei, Bologna 2007, S. 17–105, hier S. 34–40; Serra 2012, S. 320 f. und passim. 60 | Nicolò 2017, S. 360: Als Stifter werden auf der Evangelienseite genannt Giovanni Ricci, (der Spanier) Petro Cusidia, (der Carrarese) Carolo Cataneo sowie der Römer Marcello Vellio, auf der Epistelseite Papst Julius III., Francesco Brevio und die Mailänder Familie Cardelli (statt Borgherini); zwischen letzteren fehlt der Stiftername der Kapelle des Hl. Hieronymus. 61 | Kuhn-Forte 1997, S. 958. 62 | Parrado del Olmo, Jesús Maria: „La Estigmatización de San Francisco, de Alonso Berruguete, y una pintura desaparecida de San Pietro in Montorio“, in: Boletín del Seminario de Estudios de Arte y Arqueologia/Universidad de Valladolid 77.2011, S. 63–68. Zum Retabel siehe Arias Martinez, Manuel: Alonso Berruguete, prometeo de la escultura, Palencia 2011, S. 187–194. 63 | Siehe Boubli 2003, S. 212–217; Hub, Berthold: „Michelangelo in Spanien, in Holz in Prozession“, in: Georg Satzinger/Sebastian Schütze (Hg.), Antworten auf Michelangelo, Akten der internationalen Tagung vom 29.–30.04. 2015, Bonn, Münster 2019 (im Druck). 64 | Martinez 2011, S. 187–189. 65 | Riegel 1997/1998, S. 308 f.; Cantatore 2007, S. 46–54; Frommel 2013/2014, S. 124–126. 66 | Utz, Hildegard: „Skulpturen und andere Arbeiten des Battista Lorenzi“, in: Metropolitan Museum Journal 7.1973, S. 37–70, hier S. 37. 67 | Utz 1973, S. 37–39. 68 | Caglioti, Francesco: „Schede di Restauro: Pulpito. Benedetto da Maiano“, in: OPD Restauro 12.2000, S. 211–221; Schmidt, Eike: „Eine Muse von Battista Lorenzi“, in: Pantheon 58.2000, S. 73–80, hier S. 76–78. 69 | Tosini, Patrizia: „Rivedendo Giovanni de’Vecchi: nuovi dipinti, documenti e precisazioni“, in: Storia dell’arte 82.1994, S. 303–347, hier S. 313–316; Knorn-Ezernieks 2013, S. 187–201. Möglicherweise hat sich bereits Domenico Beccafumi für seine Tafel einer Stigmatisation der Hl. Caterina von Siena (ca. 1513–1515, Öl und Goldblatt auf Holz, 28,6 x 41,6 cm, Los Angeles, The J. Paul Getty Museum, Inv.-Nr. 97.PB.25) von Michelangelos inventio anregen lassen, doch De Vecchis Hl. Katharina kommt in Kopfhaltung und Körperbewegung Michelangelos Vorbild bedeutend näher.

Pietà cristiana als religionspolitische Gelegenheit Die Caetani in Santa Pudenziana Gina Möller

Bereits Zeitgenossen rühmten die Cappella Caetani kurz nach dem Tod ihres Stifters, Kardinal Enrico Caetani1 (1550–1599), als „bellissima et sopra ogni altra bella“.2 Die in jenem avviso anklingende Wertschätzung für die Pracht der Kapellenausstattung hatte einen der führenden Experten seiner Zeit, den Dominikanermönch Agostino Del Riccio, in der 1597 erschienen Istoria delle Pietre dazu bewogen, die Familienkapelle der Caetani in Santa Pudenziana in einem Atemzug mit den päpstlichen Prestigeprojekten der 1570er und 1580er Jahre zu nennen.3 Die gesellschaftliche Stellung seiner Familie zum Anlass nehmend, ließ der Stifter abseits der Grablege in Sankt Peter (rund um das Grab von Bonifaz VIII.) auch deshalb ein neues Mausoleum errichten, weil die Petersbasilika im Zuge des Neubauprozesses zu einem Ort der Ungewissheit geworden war.4 Der Diskurs zur Kapelle der Caetani in der frühchristlichen Basilika wurde von der Forschung seit Mitte der 1970er Jahre kontinuierlich geführt, bislang allerdings kaum in einen weiter gefassten, religionspolitischen Zusammenhang eingebettet.5 Zuletzt verhandelte Laura Gori neue Aspekte zur Kunstpatronage der Caetani, die auch die Kapellenstiftung zu Recht stärker in die kunstpolitischen Bestrebungen der Familie einordnet.6 Dieser zentrale Diskurs soll um die bereits angedeutete Frage nach der gesellschafts- und religionspolitischen Relevanz einer solchen Kapellenstiftung erweitert werden, die in einem halb klerikalen, halb privaten Kontext als eine der ersten unmittelbar auf den folgenreichen Buntmarmortrend der päpstlichen Prestigeprojekte in Sankt Peter (Cappella Gregoriana) und Santa Maria Maggiore (Cappella Sistina) reagierte.7 Wie diese Möglichkeitsräume auf

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die Kunstpatronage der Kurienmitglieder beziehungsweise der gesellschaftlichen Eliten Einfluss nahmen, wird exemplarisch am Fallbeispiel der Caetani diskutiert. Die Stiftung der Kapelle steht – so muss man es mit Blick auf die Ambitionen der Familie Caetani einordnen8 – erwartungsgemäß im Zusammenhang mit dem forcierten und teuer erkauften kurialen Aufstieg von Enrico Caetani. Mit seiner Ernennung zum Kardinal am 18. Dezember 1585 durch Sixtus V. und dem Erwerb des Kämmerer-Amtes im Spätsommer 1587 sowie den zahlreichen, politisch bedeutenden Legationen nahm sich das Investment zunächst durchaus positiv aus.9 Der Caetani-Spross gehörte während des Peretti-Pontifikats dem inneren Machtzirkel des Papstes an. Doch die berüchtigte Sparsamkeit des Pontifex machte auch vor den Einkünften seiner Kardinäle keinen Halt. Eine Folge dieser rigiden sixtinischen Sparpolitik bestand unter anderem in der Kürzung der bis dato äußerst lukrativen Einnahmen des Kämmerers. Dies hatte zur Folge, dass die Ausgaben für Haushaltsführung, Kunstprojekte und diplomatische Missionen schnell die Einnahmen überstiegen, sodass nicht nur das erwartete return on investment für die Caetani ausblieb.10 Die durch das Amt verursachten Verbindlichkeiten brachten die Familie vielmehr an den Rand des Ruins.11 Die sixtinische Sparpolitik bezeichnet dabei eine jener weitreichenden Maßnahmen, die durch die dringend notwendige Reform der katholischen Kirche nach dem Ende des Konzils von Trient (1545–1563) von den Päpsten in unterschiedlichem Maße umgesetzt wurden. Zunächst hatte sich die Kurie im Pontifikat von Papst Pius IV. (1559–1565) nach dem Abschluss des Konzils vor allem den frommen Stiftungen und der christlichen Nächstenliebe verschrieben. Beides zentrale religionspolitische Ziele, denen sich die pflichtbewussten Eliten nur schwer entziehen konnten.12 Im Zuge dieser Maßnahmen „wurden die Bildenden Künste für die katholische restitutio zu einem wichtigen Propaganda- und Bildungsinstrument. Sie visualisieren Roms Antwort auf die protestantische Kritik.“13 Die dringend notwendigen Instandsetzungsmaßnahmen der römischen Sakralbauten wurden deshalb noch im Pontifikat von Pius IV. begonnen und mit ihnen eine Form von künstlerischer Uniformität eingeführt, die durch gezielte Visualisierungsstrategien konfessionelle Verbundenheit vermitteln sollte. Referenzpunkt für diese Maßnahmen war nicht mehr und nicht weniger als die Geschichte selbst: Der heilige Petrus und seine Amtsnachfolger, die Ancienité der Kirche und das politische Erbe Kaiser Konstantins bargen ein wirkmächtiges historisches Potenzial, dessen sich die katholische Kirche bediente, um den Erneuerungsprozess zu legitimieren und entsprechend zu propagieren.14 Der Bau und die Ausstattung von Kirchen und Kapellen wurde dadurch zu einem Akt von Barmherzigkeit sti-

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lisiert und erfuhr auch deshalb eine gesellschaftliche Aufwertung, weil die lange betriebene Privatisierung des Kirchenraums nunmehr in den Dienst einer modernisierten Seelsorge gestellt wurde. Spätestens im Pontifikat von Gregor XIII. ab 1572 „entwickelten sich Modelle eines christlichen Mäzenatentums, die im 17. Jahrhundert bestimmend bleiben sollten“.15 Damit positionierte sich die katholische Kirche in karitativen Belangen, die auch den Ausbau der Sozialfürsorge miteinschloss, sehr deutlich gegenüber den auf Privatheit und Individualität bedachten Protestanten. Die zur Erzeugung von Pracht, Erhabenheit und Größe aufwändig betriebene magnificentia religiosa stellte sich durch die frommen Stiftungen scheinbar bedingungslos in den Dienst dieser restitutio-Bewegung.16 Doch der römischen Elite bot sich in posttridentinischer Zeit – trotz dieser inoffiziell propagierten Uniformität – im Rahmen ihrer frommen Stiftungen in vielerlei Hinsicht die Möglichkeit zur Distinktion. Dieses Spannungsfeld aus religionspolitischen und dynastischen Interessen gewinnt im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts an zunehmender Bedeutung, sodass unter diesen besonderen Bedingungen der römische Sakralraum zu einem Ort der Innovationskraft und der ikonografischen Gelegenheit avancierte. An diese vorherrschenden Tendenzen knüpfte Enrico Caetani als Kunstpatron nahtlos an. Der frisch kreierte Kardinal betraute den unter anderem in Rom überaus erfolgreich agierenden Architekten Francesco da Volterra17 (1535–1594) zunächst mit der aufwändigen, aber dringend erforderlichen Instandsetzung seiner Titelkirche Santa Pudenziana.18 Das Haus des römischen Senators Aulus Rufus Cornelius Pudens, über dem sich heute mutmaßlich die frühchristliche Basilika erhebt, galt der Legende zufolge als Wirkungsstätte der beiden Apostelfürsten Petrus und Paulus. Damit gehört die Basilika ohnehin zu den geschichtsträchtigsten Kirchenbauten der Ewigen Stadt. Mit der legendarischen Zuspitzung um Pudentiana und ihre Schwester Praxedis im Martyrologium Romanum wurde nicht nur der äußerst populäre Märtyrerkult ein- und fortgeschrieben, sondern auch ein Geschichtskonstrukt entworfen, das historisch längstens nicht mehr haltbar ist.19 Diese Orte frühchristlicher Geschichte waren allerdings für die religionspolitischen Ambitionen der Kurie im ausgehenden 16. Jahrhundert von herausragender Bedeutung, denn der Rückbezug auf die frühen Christen hatte politische Konjunktur. Dementsprechend wurden die Titelkardinäle dieser Kirchen in die Pflicht genommen, um den Erhalt der Bauten zu sichern. Dass es bei den Instandsetzungsmaßnahmen freilich selten um die Bewahrung beziehungsweise um die Konservierung des Alten unter denkmalpflegerischen Aspekten ging, dafür ist

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Abbildung 1: Grundriss von Santa Pudenziana

Quelle: Angelelli 2010, S. 198, Abb. 197

Santa Pudenziana mit ihrer eingezogenen querovalen Kuppel, für deren Bau das berühmte Mosaik beschnitten wurde, geradezu ein Paradebeispiel.20 Doch allein bei der Instandsetzung der Basilika sollte es nicht bleiben. Die Stiftung der Grabkapelle wurde in Anbetracht der Geschichtsträchtigkeit des Ortes für den Kardinal und seine Familie zu einem hochexklusiven Unterfangen, das

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Abbildung 2: Cappella Caetani, Grabmal des Stifters Enrico Caetani

Fotografie: Jürgen Wiener

einzig in seinen räumlichen Dimensionen, nicht aber im künstlerischen Anspruch und der Materialpracht den päpstlichen Projekten nachsteht. Dass der Bau der Kapelle bereits von Anfang an Bestandteil von Francesco da Volterras architektonischem Gesamtplan für Santa Pudenziana war, lässt sich anhand des Grundrisses der Basilika verdeutlichen: Drei Joche des rechten Seitenschiffs wurden zu Kapellen umgebaut, wodurch zwischen der Cappella della Vergine und der Cappella Caetani über eine zentrale Achse ein räumlicher wie inhaltlicher Bezug hergestellt und damit zugleich eine besondere Auszeichnung der Letzteren im Raumgefüge erzeugt wird (Abb. 1). An jenem Ort, wo sich der rechteckige Kapellenbau heute erhebt, befand sich einst das sogenannte Oratorium des hl. Pastor. Der kreuzgratgewölbte, rechteckige Kapellenraum wird um einen quer dazu gelagerten Altarraum und ein ebensolches Atrium (beide tonnengewölbt) ergänzt, das den fast autonomen Baukörper an die Basilika anschließt. Mit dieser Disposition wird nicht nur im Hinblick auf die Größe des Baukörpers im Verhältnis zu seiner Umgebung Exklusivität erzeugt. Es geht darüber hinaus um einen unterschwelligen architektonischen Wettstreit, an dem sich Caetani mit seinem Bauprojekt beteiligte. Dieser Wettstreit spielt mit den

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Abbildung 3: Cappella Caetani, Detail der Buntmarmordekoration

Fotografie: Gina Möller

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Faktoren des genius loci und des autarken Kapellenbaus, wie ihn zuletzt Papst Sixtus V. in Santa Maria Maggiore von Domenico Fontana rund um die Presepekapelle realisieren ließ.21 Dort gab es zwar mit der michelangelesken Cappella Sforza längstens einen vis-à-vis gelegenen Konkurrenzbau. Das alles entscheidende Vorbild beziehungsweise der Referenzpunkt in Sachen Materialität für die Sistina war die Cappella Gregoriana, die ihrerseits wiederum nur als Teil der Quincunx in Sankt Peter in Erscheinung tritt.22 Der auf den ersten Blick deutlich bescheidenere Rahmen in Santa Pudenziana barg also für Kardinal Caetani und seine Familie ein prestigeträchtiges Potenzial zur Installierung der Familiengrablege, deren Exklusivität ebenso wie bei den Papstprojekten ortsspezifisch ist und damit abermals historische Alleinstellungsmerkmale in den Blick nimmt und diese ikonografisch verarbeitet. Dabei ist das Bildprogramm integraler Bestandteil eines auf die beiden Grabmäler und den Altar bezogenen künstlerischen Konzepts (Abb. 2). Francesco da Volterra verwendete zur Gliederung des Kapellenraums – wie vor ihm Giacomo della Porta und Domenico Fontana – ein straff verspanntes, architektonisches Gerüst bestehend aus Pilastern und Säulen, in das er eine anspruchsvolle Buntmarmordekoration der aufgehenden Wandfläche ebenso einschreibt wie Figuren und Bilder. Wie schon bei den Papstkapellen geht es auch in der Cappella Caetani um die Bewältigung von technischen Herausforderungen (Marmorarbeiten), die ganz im Zeichen der Weiterentwicklung der vorangegangenen Dekorationsprogramme steht: Angefangen bei den vorwiegend geometrischen Dekorationsformen der Cappella Gregoriana über die symbolischen Formen in der Cappella Sistina wird in der Cappella Caetani neben dem Ornament das Bildhafte (auch in seiner Plastizität) weiterentwickelt. Prominentes Beispiel dafür ist die inkrustierte Darstellung eines bauchigen Gefäßes mit einem blutgetränkten Schwamm, die sich an den Seitenwänden des Altarraums über den beiden Türen befindet (Abb. 3). Diese Darstellung nimmt inhaltlichen Bezug auf die Legende von Pudentiana und Praxedis, die ihrerseits im Lünettenfeld des Kapellenraums in Form eines Mosaiks thematisiert wird und damit die bildliche Verspannung des ikonografischen Programms im Raumgefüge bereits andeutet (Abb. 4). Die beiden Schwestern, die sich der Legende zufolge zunächst in der Armenfürsorge engagierten, werden beim Aufwischen des Blutes der Märtyrer, die im Zuge der Christenverfolgung ihr Leben ließen, dargestellt.23 Damit wird nicht nur der äußerste Akt des christlichen Glaubensbekenntnisses an einem historisch bedeutsamen Ort verbildlicht,24 sondern allen voran die Vorbildlichkeit der gelebten pietà cristiana der Jungfrauen in ein religionspolitisch hochaktuelles Umfeld eingebunden.25

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Abbildung 4: Cappella Caetani, Gewölbe

Fotografie: Gina Möller

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Das allgegenwärtige Motiv der pietà cristiana wird schließlich im Altarbild zu einer Symbiose historisch bedeutsamer Ereignisse zusammengeführt (Abb. 5). Dabei handelt es sich um ein monumentales Relief des Bildhauers Pietro Paolo Olivieri, der zuvor bereits für Sixtus V. unter anderem in der Cappella Sistina tätig war.26 Es hat die Anbetung der Heiligen Drei Könige zum Thema und bezieht sich inhaltlich somit auf die unweit gelegene Kapellenstiftung des päpstlichen Förderers in Santa Maria Maggiore. Dort hatte Sixtus V. für sich und seinen Förderer Pius V. in seinem fünfjährigen Pontifikat (1585–1590) von Domenico Fontana rund um die mittelalterliche Presepe seine Grabkapelle errichten lassen. Der franziskanische Krippenkult und die Verehrung des Jesuskindes wird also in der Cappella Caetani – auch nach dem Tod des Förderers – zur ikonografischen Gelegenheit, um einerseits die persönliche Verbundenheit auszudrücken und andererseits an die religionspolitischen Ziele anzuknüpfen, die unter anderem den Reliquienkult förderten. Nicht zu vergessen die künstlerische Nachfolge, in die sich Olivieri mit seinem Relief unmittelbar einschreiben konnte, hatte doch Arnolfo di Cambio seinerzeit das Figurenensemble der Anbetungsgruppe für die mittelalterliche Presepekapelle geschaffen.27 Das Relief überzeugt in der Darstellung und der künstlerischen Technik und zeigt, dass Pietro Paolo Olivieri durchaus ein talentierter Bildhauer war. Dabei zeugen besonders die Plastizität und Ausdruckskraft der Figuren im Vordergrund von seinem Können und seinem Verständnis für die räumliche Staffelung innerhalb der Komposition. Referenzpunkt für die Darstellung waren die vier großen Reliefs in der Sistina, wobei das Caritas-Relief (Abb. 6) für das Grabmal von Sixtus V. von Antonio Paracca, genannt Il Valsoldo, Olivieri am stärksten beeinflusst haben wird. Die ikonografische Gelegenheit, die sich Auftraggeber und Bildhauer in diesem Kontext bot, war aber nicht nur die Verbindung zum Papst, sondern auch die Familiengeschichte der Caetani. Durch die Darstellung der Schlacht von Lepanto am oberen Bildrand in Form eines Flachreliefs werden die Taten seines älteren Bruders Camillo Caetani memoriert, der erfolgreich an der Seite von Marc Antonio Colonna in der Schlacht gegen die Osmanen am 7. Oktober 1571 gekämpft hatte.28 Mit dieser Darstellung wird abermals auf das ikonografische Programm der nahegelegenen Sistina angespielt, wo in einem Relief am Grabmal für Pius V. eben jene zum Mythos erhobene Schlacht von Francesco da Pietrasanta nach dem Vorbild von Giorgio Vasaris Fresko in der Sala Regia verbildlicht wurde. Diese Darstellung verfolgt den programmatischen Zweck, den aus der katholischen Perspektive argumentierenden Kampf für den rechten Glauben (auch in entfernt liegenden Gebieten) gegenüber jenen zu propagieren, die sich ihrer Verantwortung entzogen – den Protestanten. Anhand der Lepanto-Darstellung wird also die Bereitschaft

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Abbildung 5: Cappella Caetani, Altarraum, Relief der Anbetung der Hl. Drei Könige von Pietro Paolo Olivieri

Fotografie: Gina Möller

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Abbildung 6: Cappella Sistina, Caritas-Relief am Grabmal von Papst Sistus V. von Antonio Paracca, gen. il Valsoldo

Fotografie: Jürgen Wiener

des Papstes und der römischen Eliten visualisiert, den Glauben auch vor äußeren Feinden mit Nachdruck zu verteidigen, zugleich den inneren Frieden zu wahren und dabei den Primatsanspruch zu festigen. Dieses argumentative Bildertableau wird durch die prachtvolle Materialität der Kapellenausstattung in Santa Pudenziana zum Symbol für Rechtgläubigkeit und christliche Nächstenliebe. Sie ist für die Selbstwahrnehmung der Akteure ein entscheidender Faktor im Anspruchsdenken der Zeit, das sich in der künstlerischen Ausstattung des Kapellenraumes mit seiner spezifischen Historie (genius loci), der Familiengeschichte der Caetani und dem Patronageverhältnis zwischen Papst und Kardinal zu zentralen Faktoren des ikonografischen Programms entwickelt – und damit zum Ort des von Jürgen Wiener verhandelten Phänomens der ikonografischen Gelegenheit und auch des ikonografischen Vorwands wird.29 Damit reiht sich Enrico Caetani als Auftraggeber in jene Liste prominenter Mitstreiter ein, die – angeführt vom Pontifex – das Ziel verfolgten, die religiöse magnificentia durch ihre nachweislich äußerst kostspieligen Stiftungen zu mehren. Es ist diese subtile

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Mischung aus Machtdemonstration und Barmherzigkeit durch die sich „der Katholizismus als pastorale Konfession präsentieren [konnte; G. M.], die zu jener Zeit synonym für neue große und prächtige Kirchenbauten wie für neue Sozialeinrichtungen stand“.30 So wird der bereits von Plinius in der Antike scharf kritisierte Marmordurst der Superreichen zum Hauptargument einer aus der Barmherzigkeit heraus argumentierenden Elite.31

A nmerkungen 1 | Als zweitgeborener Sohn von Bonifacio Caetani und dessen Frau Caterina di Alberto Pio entstammt Enrico einem der ältesten italienischen Adelsgeschlechter, das seine Macht und seinen Einfluss durch die Pontifikate von Gelasius II. (1118–1119) und Bonifaz VIII. (1294–1303) – zwei der bedeutendsten Vertreter der Familie – bereits im Mittelalter entscheidend ausweiten konnte. Das Stammland der Familie ist das südlich von Rom gelegene Gaeta mit den umliegenden Städten Itri, Fondi, Sermoneta und Ninfa. Bereits als Kind protegiert von seinem Onkel, Kardinal Nicolò Caetani, hatte Enrico als Kardinal bei seinen diplomatisch heiklen Legationen (u. a. in Bologna, Paris, Polen) nicht immer die nötige politische Fortune. Ausführlich zur Biografie siehe De Caro, Gaspare: „Caetani, Enrico“, in: Dizionario Biografico degli Italiani, http://www.treccani.it/enciclopedia/enrico-caetani_(Dizionario-Biografico) [21.01.2019]. 2 | In einem avviso vom 25. Dezember 1599 heißt es zum Tod von Kardinal Enrico Caetani: „Il Cardinale Gaetano ha finito sua vita, et lunedì sera su le 4 hore di notte rese lo spirito, hiersera poi fu con molta pompa portato à sepelire nella sua capella, che ha fatto fare bellissima et sopra ogni altra bella, sebene nonè ancora finita nell’antichissima chiesa di santa Pudenziana.“ Zit. nach: Rossi, Ermete: „Roma ignorata“, in: Roma. Rivista di studi e di vita romana 12.1934, S. 179. 3 | Gnoli, Raniero/Seroni, Atilia (Hg.): Agostino Del Riccio. Istoria delle Pietre, Mailand 1996, S. 186: „Ma chi vuol saziare e vedere bei alabastri insieme con una infinità di pietre rare e belle, vadia alla città di Roma per tutti i palazzi e casamenti, ma in particulare in San Pietro, nella Gregoriana ed in Santa Maria Maggiore ed alla Potenziana.“ Auch Giovanni Baglione und Ottavio Panciroli stimmten in den Hymnus bei ihrer Beschreibung der kostbaren Kapellenausstattung ein. Vgl. Hess, Jacob/Röttgen, Herwarth (Hg.): Giovanni Baglione. Le vite de’ pittori, scultori et architetti. Dal pontificato di Gregorio XIII del 1572 in fino a’ tempi di Urbano VIII nel 1642, 16 Bde., Vatikanstadt 1995, Bd. 1, S. 76; Panciroli, Ottavio: Tesori nascosti dell’alma città di Roma, Rom 1625, S. 268. Zum Leitmotiv Marmor vgl. Gori, Laura: „La cappella Caetani in Santa Pudenziana. Scultura e gusto antiquario in un cantiere di fine Cinqecento“, in: Walter Cupperi/Grégoire Extermann/ Giovanna Ioele (Hg.), Scultura a Roma nella seconda metà del Cinquecento, San Casciano 2012, S. 263–298, bes. S. 263 f.

Pietà cristiana als religionspolitische Gelegenheit 4 | Möller, Gina: Römische Papstkapellen im Cinquecento, Petersberg 2018, S. 118. Die Sorge der Nachkommen von Bonifaz VIII. um den Erhalt der mittelalterlichen Papstkapelle in AltSt. Peter war durchaus berechtigt. Von der Ausstattung hat nicht sehr viel mehr als Arnolfo di Cambios hervorragende Grabmalsplastik des Papstes den Abriss überstanden. Damit ist eines der bedeutendsten mittelalterlichen Ensembles der Sepulkralkunst verloren. 5 | Cozzi Beccarini, Antonietta: „La cappella Caetani nella Basilica di S. Pudenziana in Roma“, in: Quaderni dell’Istituto di Storia dell’Architettura 22.1976, S. 143–158; Sénécal, Robert: „The Caetani Chapel in S. Pudenziana, Rome: late sixteenth-century chapel decoration“, in: Apollo 142.1995, S. 37–42; Parlato Enrico: „Enrico Caetani a S. Pudenziana: antichità cristiane, magnificenza decorativa e prestigio del casato nella Roma di fine Cinquecento“, in: Patrizia Tosini (Hg.), Arte e committenza nel Lazio nell’età di Cesare Baronio, Rom 2009, S. 143–164. 6 | Gori 2012, S. 263–298. 7 | Zwei weitere bedeutende Buntmarmorkapellen wurden von Papst Klemens VIII. bei Giacomo della Porta in Auftrag gegeben: die Cappella Aldobrandini in Santa Maria sopra Minerva (1592–1605) ist Grablege der päpstlichen Eltern, während die Cappella Clementina in Sankt Peter an das gregorianische Projekt im nordöstlichen Kuppelraum anknüpft. Dazu ausführlich Richter, Katja: „Die Cappella Aldobrandini in Santa Maria sopra Minerva: zur malerischen Ausstattung einer römischen Familienkapelle um 1600“, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 33.1999/2000, S. 303–372; Salomon, Xavier F.: „I marmi colorati della Cappella Aldobrandini“, in: Antologia di belle arti 67/70.2007, S. 7–20. Buntmarmordekorationen können dabei auch in materiell übersetzter Form wie dem Fresko ausgeführt werden, wie exemplarisch die Cappella Salviati in San Gregorio Magno al Celio oder der Innenraum von San Giacomo degli Incurabili vorführen. Für beide Projekte zeichnete Francesco da Volterra verantwortlich. 8 | Gori 2012, S. 265, 274 f., misst dem Sekretär der Familie, dem Humanisten Giovan Francesco Peranda (1529–1605), eine zentrale Rolle bei der Planung und Ausführung bei. 9 | Pastor, Ludwig Freiherr von: Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 10, Freiburg i. Br. 1926, S. 166; De Caro, Gaspare: „Caetani, Enrico“, in: Dizionario Biografico degli Italiani, http://www.treccani.it/enciclopedia/enrico-caetani_(Dizionario-Biografico) [21.01.2019]. Durch den Tod von Kardinal Filippo Guastavillani (Neffe Gregors XIII.) im August 1587 bot sich dem auf Einnahmen bedachten Sixtus V. die Möglichkeit, das vakante Amt des Kämmerers für Geld auszuschreiben. Vgl. Pastor 1926, Bd. 10, S. 88 mit Anm. 4. Die Familie Caetani, die um die Einkünfte (die erst später vom Papst reduziert wurden) und die herausgehobene Stellung des Kämmerers wusste, erachtete dies als einmalige Gelegenheit, die vielversprechende Karriere ihres Sprosses mit Nachdruck zu fördern. Unterstützt von Kardinal Alessandro Farnese, der 10.000 Scudi bereitstellte, wurde ein Bankdarlehen über 40.000 Scudi aufgenommen, das die Familie aufgrund der schließlich ausbleibenden Einkünfte aus dem kurialen Amt zusammen mit den kostspieligen Legationen im Ausland an den Rand des

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Gina Möller finanziellen Ruins führte. Vgl. Caetani, Gelasio: Domus Caietana: storia documentata della famiglia Caetani, Bd. 2, San Casciano Val di Pesa 1933, S. 188. 10 | Dieser Strategiewechsel des Papstes ist kirchenpolitisch durchaus brisant, denn er signalisierte damit, dass wer Teil des inneren Machtzirkels sein will, ausreichend finanzielle Ressourcen bereitstellen muss, um den gesellschaftlichen und kurialen Pflichten (beides ist ohneeinander hier nicht denkbar) vollumfänglich nachzukommen. Das Venedig-Prinzip machte hier sozusagen Schule. Zeiten, in denen die Kirche ein finanzieller Selbstbedienungsladen für machtbewusste Eliten war, gehörten (vorübergehend) der Vergangenheit an. Das mussten selbst die für den Papst tätigen Künstler erfahren, deren Sold nicht selten nachträglich zugunsten des Papstes reduziert wurde. Siehe dazu Möller 2018, S. 130 f. 11 | Caetani 1933, Bd. 2, S. 188. 12 | In den Konzilsdekreten werden die Bildenden Künste nur am Rand thematisiert. Vgl. Möller 2018, S. 50 f. Ausführlich zur Grundthematik ferner Jedin, Hubert: Entstehung und Tragweite des Trienter Dekrets über die Bilderverehrung, Rom 1935; ders.: Kleine Konziliengeschichte, Freiburg i. Br. 51978, hier S. 101. 13 | Möller 2018, S. 50. 14 | Möller 2018, S. 50. 15 | Dobler, Ralph-Miklas: Die Juristenkapellen Rivaldi, Cerri und Antamoro. Form, Funktion und Intention römischer Familienkapellen im Sei- und Settecento (= Römische Studien der Bibliotheca Hertziana, Bd. 22), München 2009, S. 14. 16 | Möller 2018, S. 51. 17 | Grundlegend zum Werk von Francesco da Volterra siehe Marcucci, Laura: Francesco da Volterra: un protagonista dell’architettura post-tridentina, Rom 1991. 18 | In seinem 1588 erstmals erschienen Stationsführer zu den Kirchen Roms berichtet Pompeo Ugonio von diesen umfassenden Arbeiten. In Santa Pudenziana ist man mit der historischen Substanz nicht zimperlich umgegangen, so wurde nicht nur – wie bereits erwähnt – das bedeutende Mosaik durch den Einbau der ovalen Tambourkuppel seitlich beschnitten, sondern unter anderem auch die mittelalterliche Schola Cantorum abgebrochen. Vgl. Ugonio, Pompeo: Historia delle Statione di Roma, Rom 1588, bes. S. 166–169. Siehe ferner Krautheimer, Richard: Corpus basilicarum Christianarum Romae, III, Vatikanstadt 1962; Marcucci, Laura: „Per un’ipotesi restitutiva della chiesa di S. Pudenziana a Roma prima del rifacimento cinquecentesco“, in: Palladio N.S. 7.1994, 14, S. 181–196. 19 | Acta Sanctorum Maii, IV, S. 299–303; vgl. auch Montini, Renzo Ugo: Sankt Pudentiana, Köln 1994, S. 5 f. 20 | Angelelli, Claudia: La Basilica titolare di S. Pudenziana. Nuove ricerche, Rom 2010. 21 | Ostrow, Steven: The Sistine Chapel at S. Maria Maggiore: Sixtus V and the art of the Counter Reformation, Princeton 1987; Ostrow, Steven F.: Art and Spirituality in Counter-Reformation Rome. The Sistine and Pauline Chapels in S. Maria Maggiore, Cambridge 1996; Möller 2018, S. 95–152.

Pietà cristiana als religionspolitische Gelegenheit 22 | Möller 2018, S. 46–94. 23 | Sodi, Manlio/Fusco, Robert (Hg.): Martyrologium Romanum. Editio princeps (1584), Vatikanstadt 2005; vgl. auch Schäfer, Joachim: „Pudentiana“, in: Ökumenisches Heiligenlexikon https://www.heiligenlexikon.de/BiographienP/Pudentiana.htm [07.04.2019]. 24 | Die sterblichen Überreste der Märtyrer sollen von den Jungfrauen im Haus ihres Vaters Pudens bestattet worden sein – jener Ort also, an dem sich heute der Überlieferung zufolge die Basilika der hl. Pudentiana erhebt. Vgl. Schäfer, Joachim: „Pudentiana“, in: Ökumenisches Heiligenlexikon https://www.heiligenlexikon.de/BiographienP/Pudentiana.htm [07.04.2019]. 25 | Das Martyrologium Romanum – das Verzeichnis aller Heiligen und Seligen in der römisch-katholischen Kirche – war von Papst Gregor XIII. bei Kardinal Guglielmo Sirleto in Auftrag gegeben worden, der dieses unter Mitarbeit des berühmten Kirchenhistorikers und Gelehrten Cesare Baronio verfasste. Baronio wurde 1586 von Sixtus V. wiederum mit der Erweiterung zu einem Martyrologium Universale betraut, was den religionspolitischen Stellenwert der Schrift für die katholische Kirche im Hinblick auf die Protestanten und deren Ablehnung des Märtyrerkultes unterstreicht. 26 | Coppetti, Maria Rosaria: „Pietro Paolo Olivieri scultore e architetto romano del secondo Cinquecento“, in: Stefano Valeri (Hg.), Scultori del Cinquecento, Rom 1998, S. 169–182. In der Cappella Sistina hat der Bildhauer zusammen mit Flaminio Vacca die Skulpturen der beiden Franziskanerheiligen Franz von Assisi und Antonius von Padua für die das Papstgrabmal seitlich flankierenden Figurennischen gearbeitet. Vgl. Möller 2018, S. 105–117, 124–136. 27 | Dieses Figurenensemble wurde im Zuge der sixtinischen Ausstattungskampagne in die hintere Nische der Krippenkapelle transferiert, ehe sie von dort in das Museum der Basilika verbracht wurde. Vgl. Messerer, Wilhelm: „Zur Rekonstruktion von Arnolfo di Cambios Praesepe-Gruppe“, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 15.1975, S. 25–35; Möller 2018, S. 136–140. 28 | Caetani 1933, S. 136. 29 | Wiener, Jürgen: „Entführte Elemente: ikonographische Gelegenheiten, Verlegenheiten und Vorwände der Raptusgruppen in Salzburg und Versailles“, in: Christian Hecht (Hg.), Beständig im Wandel, Berlin 2009, S. 221–238. 30 | Möller 2018, S. 51. 31 | König, Roderich/Winkler, Gerhard (Hg.): Plinius Secundus d. Ä. Naturkunde, Bd. 36, München 1992, hier besonders Kap. 11, S. 54–Kap. 13, S. 63.

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Exotismus im Zeichen der Szenografie Graf Friedrich Casimirs Ansichten des Festsaals von Schloss Ortenburg 1628 Karl Möseneder In den Jahren 1562 bis 1575 ließ Graf Joachim von Ortenburg die während des Landshuter Erbfolgekriegs in Mitleidenschaft gezogene Burganlage oberhalb des Marktfleckens bei Vilshofen in ein Renaissanceschloss umwandeln. Im Südflügel der asymmetrischen Vierflügelanlage entstand ein Saal, der 1577 als „Saletta“ bezeichnet wurde und als gräflicher Tafelsaal Nutzung fand.1 In den 1620er Jahren erhielt der Saal auf Initiative von Joachims Neffen, Graf Friedrich Casimir von Ortenburg (reg. 1628–1658), eine aufwändige Neuausstattung. Davon zeugen ein Aquarell (Abb. 1) und eine Federzeichnung des künstlerisch dilettierenden Grafen. Sein Œuvre besteht in der Hauptsache aus einer Reihe von aquarellierten Ansichten seiner Besitzungen, die die Aufmerksamkeit vor allem von Historikern gefunden haben.2 Die schlechter erhaltene Saalansicht trägt die Beischrift „Die Saletta Abbildung 1: Graf Friedrich Casimir von Ortenburg, Festsaal des Schlosses Ortenburg, 1628, Schloss Tambach bei Coburg, Ortenburgisches Archiv

Graf Ortenburg-Tambach

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in dem Gräflichen Schlos Allt Ortenburg c. Anno 1628. Fridericus Casimirus in Ortenburg Instructor et inventor.“3 Tatsächlich enthält auch eine gemalte Inschrift im Fries des erhaltenen östlichen Wandgebälks mit dem Wortlaut „Gloria patri et filio ac spiritui sancto in secula seculorum“ auf der Basis römischer Buchstaben beziehungsweise Zahlen ein Chronogramm, das das Jahr 1628 als Jahr der Fertigstellung des Saales bestätigt.4 1628 war bezeichnenderweise auch jenes Jahr, in dem Friedrich Casimir nach längeren Schwierigkeiten das Recht gewonnen hatte, den Grafentitel zu führen.5 Der Saal von 16 Meter Länge, 12 Meter Breite und 5,5 Meter Höhe ist nicht in seiner frühbarocken Gestalt erhalten, sondern wurde vielmehr unter Graf Georg Philipp (reg. 1684–1702) oder der vormundschaftlichen Regierung seiner Gemahlin Gräfin Amalia Regina von Zinzendorf (reg. 1702–1706) in eine Schlosskapelle umgestaltet. So geben nur mehr die beiden querformatigen Blätter im Gräflich Ortenburgischen Archiv Tambach bei Coburg eine Vorstellung vom ursprünglich geplanten Aussehen des Saales. Wie viele der darin gezeichneten Elemente tatsächlich ausgeführt wurden, kann nicht in vollem Umfang festgestellt werden. Erforscht ist die gut erhaltene, weithin berühmte prunkvolle Kassettendecke des Saales. Ihre ovale Mitte wird bis heute vom gräflichen Wappen eingenommen. Ansonsten prägen Achteck- und kleinere Kreuzformen sowie dazwischen liegende Binnenstrukturen den Plafond. In seiner intendierten Holzsichtigkeit zielte das Werk eines anonymen Tischlers auf das Erscheinungsbild des Walnussbaumes, mit dem man in gelehrten Kreisen materialikonologisch einen Antikenbezug verband. Als vorbildhaft wurde vor allem der Ahnensaal der Trostburg in Südtirol nachgewiesen.6 Die Mitte der westlichen Langseite nimmt in den Zeichnungen eine Tür ein, die von einer ovalen Kartusche zwischen Sprenggiebeln bekrönt und seitlich von zwei Nischenfiguren gerahmt wird. Man hat in ihnen Standbilder der Habsburgerkaiser Matthias II. und Rudolph II. vermutet.7 Die Wände waren wohl mit Tapisserien bespannt und seitlich durch Säulen begrenzt, von denen sich flache Bögen zur triumphalen Ausformung der Türe hin spannten. Nach oben abgeschlossen wurden die Abschnitte von einer Reihe rechteckiger Tafeln, die Porträtwiedergaben männlicher Mitglieder des Hauses Ortenburg zeigten. Die Gemälde des Frieses haben sich gleichfalls am heutigen Familiensitz der Ortenburger auf Schloss Tambach erhalten.8 An der in den Zeichnungen nicht wiedergegebenen durchfensterten östlichen Langseite wurde wohl zwischen 1628 und 1640 ein mit Wappen versehener Stammbaum angebracht, der die Bezeichnung des ursprünglichen Tafelsaals oder der „Saletta“ als Ahnensaal gleichfalls rechtfertigt. Das Stammbaumgemälde befindet sich ebenso auf Schloss Tambach.9

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Abbildung 2: Wendel Dietterlin, Architectura, Nürnberg 1598, Taf. 18

Heidelberg, Universitätsbibliothek

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Paul Huber, dem die konservatorische Analyse der Ortenburger Prunkdecke verdankt wird, erkannte, dass die Wiedergabe eines plastisch geformten Elefanten an der bemerkenswert dicht besetzten Nordseite auf ein Blatt aus Wendel Dietterlins Architectura zurückgeht (Abb. 2). Dessen 1598 abgeschlossenes Säulenbuch offeriert nicht nur die vitruvianischen Ordnungen in fantastischen Ausformungen, sondern auch zugehörige Fenster, Kamine, Türen Portale, Brunnen und Epitafien. Das von Graf Friedrich Casimir herangezogene Vorlageblatt des Straßburger Künstlers zeigt das mit einer Schabracke bedeckte Tier vor einem offenen Kamin. Es wird von einem gestikulierenden Exoten mit Papageienstab in Erwartung eines zweiten Mannes gelenkt, der mithilfe des Elefantenrüssels auf den Rücken des Tiers zu gelangen sucht. In diesem Bereich haben – neben Affen – in einem turmähnlichen Aufbau drei mit Lanzen bewehrte männliche Gestalten um eine Früchtevase Platz genommen. Theoretisch ordnete Dietterlin den Kaminvorbau in Elefantengestalt der toskanischen Ordnung zu, was allenfalls durch die Qualität der Stärke, die dem Tier eigen ist, begründet werden kann.10 Links und rechts dieses fremdartig-kuriosen plastischen Ensembles zeigen die Blätter Graf Friedrich Casimirs vor Türen zwei säulengestützte Baldachine mit Laternen, auf denen Putten mit Palmzweigen sitzen. Dahinter und seitlich dieser Gebilde erscheinen Wandvertäfelungen, die in den unteren Bogenfeldern Reiterbildnisse rahmen. Dank Streiflichtaufnahmen konnten diese Darstellungen, für die vielleicht ein weiteres Blatt Dietterlins eine Anregung bot, als die antiken Heroen Alexander der Große und Julius Caesar identifiziert werden.11 Ihres Statuenschmucks an den vorderen Ecken und der Kuppeln einschließlich der Laternenaufsätze beraubt, wurde eine der hölzernen Architekturen wohl im Zuge des Umbaues zur Schlosskapelle um 1700 an die Stelle des verlorenen Portals an die Westseite versetzt. Von den querrechteckigen Tafeln, die – über dem Gebälk angebracht – einst von Voluten begleitet und Obelisken bekrönt wurden, haben sich nur zwei an Ort und Stelle erhalten: Vergleichsweise nüchtern zeigen sie an den Frontseiten der Baldachine Ansichten der Schlösser von Alt- und Neu-Ortenburg. Die Architekturen vor den nördlichen Saaltüren sind ungewöhnlich und somit erklärungsbedürftig, nicht zuletzt deshalb, weil sie an Ziboriumsaltäre in christlichen Kirchenbauten erinnern. Unmittelbare Vorbilder wird man im Profanbereich kaum benennen können, doch sollte zumindest die Sphäre eruiert werden, welcher die seltsamen Schreinerarchitekturen entstammen. Es sind wiederum druckgrafische Vorlagen, nun niederländischer Provenienz, die ins Treffen geführt werden können. Stichfolgen dieser Kunstlandschaft hatte im übrigen zuvor bereits Graf Joachim von Ortenburg für sein Grabmal (1574/1575) in der Ortenburger Evangelischen Marktkirche dem Bildhauer Hans Pötzlinger zur Verfügung gestellt.12

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Abbildung 3: Hans Vredeman de Vries, Raumansicht mit Windfang, in: Scenographiae, sive perspectivae, Antwerpen 1560

London, Trustees of the British Museum

In seinen ca. 1583 in Antwerpen veröffentlichten Differents pourtraicts de menuserie, der ersten geschlossenen Schreinervorlagenserie für Möbel überhaupt, stellte Hans Vredeman de Vries Windfang-Portale vor, die er als an Vitruv orientierte raumhaltige Architekturen ausbildete.13 Säulen verschiedener Ordnungen oder Karyatiden, ferner Balustraden, Obelisken, querrechteckige Tafeln usw. werden für die Türvorbauten angeboten, in einem Fall auch mit einer Kuppelbekrönung. In seiner Scenographiae, sive perspectivae von 1560 veröffentlichte Vredeman de Vries eine Raumansicht mit Buffet, Himmelbett, Ofen und Wandbrunnen, die auch ein prächtiges Windfangportal mit Kuppel und Laterne aufweist (Abb. 3).14 Freilich wird man als wesentlichen Unterschied anmerken müssen, dass bei diesem Herleitungsvorschlag die Wandfüllungen der drei vorspringenden Seite abhanden gekommen sind und sich Friedrich Casimir auf die vier Stützen beschränkte, vielleicht unter dem Einfluss von fantastischen architektonischen Vorlageblättern

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Abbildung 4: Hans Vredeman de Vries, Perspektiventwurf für ovale Intarsie, Antwerpen 1560–1562

Archiv Karl Möseneder

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Wendel Dietterlins, die Anregung für die Ausschmückung der Aufbauten bieten konnten.15 Dass man mit dem Hinweis auf Vredeman de Vries, einen für die Spätrenaissance des Nordens eminenten einflussreichen Künstler, auf der richtigen Spur ist, bezeugt die Ansicht der sogenannten Badestube nicht allein durch den Kuppelbau und die eng nebeneinander gestellten Gebilde an der linken Seite, sondern auch durch die perspektivisch wiedergegebenen Konstruktionslinien des Fußbodens. Damit ist die Aufmerksamkeit auf das ins Auge springende Bodenraster in den Federzeichnungen Friedrich Casimirs gelenkt, ganz allgemein auch auf die Bemühungen der Malerei jener Jahrzehnte um räumlich perspektivische Vergegenwärtigung von Architekturphantasien, seien es Kirchenräume, Palasthöfe, Loggien, Straßenzüge usw.16 Eine theoretische Basis für diese Inventionen hatte Vitruv mit seinen Ausführungen über die scaenographia als Feld der perspektivisch-illusionistischen Wiedergabe gelegt – neben dem Grundriss (ichnographia) und dem Aufriss (orthographia) als ästhetischen Grundbegriffen der Architektur, genauer der dispositio.17 Vollends deutlich wird dieser Zusammenhang im Blick auf die beabsichtigte Gestaltung der Südseite des Festsaals, also den linken Rand der Zeichnungen Friedrich Casimirs. Dort bildet über einem offenen Kamin ein hochovales Gemälde mit seitlichen Vorsprüngen den Blickpunkt, indem es die perspektivische Ansicht eines dreischiffigen gewölbten Innenraums bietet. Dabei ist aus den Zeichnungen nicht ganz klar abzulesen, ob die Architekturillusion mit einem für den Betrachter exzentrischen Augpunkt rechnet oder streng axial-symmetrisch nach der Mittelachse des Saals ausgerichtet ist und so auf den Elefanten gegenüber bezogen sein will. Jedenfalls dürfte die szenografische Ansicht durch Vredeman de Vries etwa 1560 bis 1562 publizierte Perspektiventwürfe angeregt worden sein (Abb. 4).18 In den Ortenburger Zeichnungen wird die längst verschwundene (wenn jemals ausgeführte) perspektivische Raumöffnung unten von Figuren in Rechtecknischen begleitet und nach oben von einem Gebälk abgeschlossen, das sich über dem Gemälde zu einer Arkade aufschwingt. In dieser Form folgt es der Serliana, wie sie Serlio in seinem Architekturtraktat empfahl, der gleiche Serlio, der 1545 wesentliche Anregungen für die beliebten Perspektivkonstruktionen und szenografischen Ansichten des 16. Jahrhunderts lieferte.19 Im Fries sind wohl Wappenschilde wiedergegeben. Seitlich des Bogens lagern Genien mit Palmzweigen, also den gleichen Ruhm signalisierenden Attribute, wie auf den Bekrönungen der Portalvorbauten. In den Rechtecknischen ist links vermutlich Minerva (freilich mit strahlenförmigen Haarsträhnen) und rechts ein antikisch gekleideter Mann dargestellt, vielleicht Mars.

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Abbildung 5: Titelblatt zu Henrick Hondius Institutio artis perspectivae, Den Haag 1622

Utrecht, Universiteitsbibliotheek

Exotismus im Zeichen der Szenografie

Die Verbindung von Bogenarchitektur und perspektivischer Tiefenräumlichkeit ist nicht ohne Vorbild. Man findet sie etwa auf dem Titelblatt des Hendrick Hondius zu seiner Institutio artis perspectivae von 1622 (Abb. 5).20 Dort fehlen freilich die Statuen in den Nischen. Möglicherweise lässt sich ihre Existenz genetisch von einem Initialwerk der perspektivischen Raumillusion in der italienischen Hochrenaissance herleiten, Raffaels Schule von Athen (1510/1511) beziehungsweise dem Stich des Giorgio Ghisi, mit dem er die Erfindung grafisch unter dem Titel Predigt des Paulus in Athen ab 1550 in Antwerpen verbreitete. Künstler haben diese berühmte, in ihrem Verhältnis von Figur und Raum harmonisch ausgeglichene Komposition Raffaels zum Ausgangspunkt ihrer manieristisch-fantastischen Architekturansichten genommen, indem sie der Perspektive gesteigerten Eigenwert verliehen und auf die Menschendarstellungen verzichteten beziehungsweise sie auf den Vordergrund beschränkten. So etwa Hans Vredeman de Vries zusammen mit dem Figurenmaler Gillis Mostaert 1567 in einem Gemälde mit dem Titel Paulus und Barnabas in Lystra.21 Graf Friedrich Casimir ging bei seiner Triumphalarchitektur in der Abstraktion noch einen Schritt weiter und konkretisierte die bei Raffael und bei den nachfolgenden flämischen Architekturansichten durch das Medium der Malerei illusionierten göttlichen Standbilder in reale plastische Nischenfiguren. Zusammen mit dem szenografischen Gemälde in der Mitte ergaben sie eine prächtige Front, die sich den durch die aufwändigen Portalanlagen Eintretenden eröffnete. So erweist sich der untergegangene Festsaal von Schloss Ortenburg in wesentlichen Teilen als eine anverwandelnde Rezeption deutscher und niederländischer Vorlagenblätter. Durchaus selbständig hatte der Malergraf Friedrich Casimir während des Dreißigjährigen Krieges eine in ihren Elementen einigermaßen singuläre Saalausstattung erdacht und zumindest in Teilen auch realisiert.22

A nmerkungen 1 | Hausmann, Friedrich: „Neue Erkenntnisse zur Geschichte und Baugeschichte der Ortenburg“, in: Wildpark Schloß Ortenburg, Ortenburg 1974, S. 1–3; ders.: Neue Erkenntnisse zur Geschichte und Baugeschichte der Ortenburg, Manuskript Graz 1977; Wild, Stefan: „Der Ahnensaal Graf Friedrich Casimirs zu Ortenburg – Vom Tafelsaal zur Schlosskapelle“, in: Passauer Jahrbuch. Beiträge zur Geschichte und Kultur Ostbaierns 58.2016, S. 177–200. 2 | Zuletzt Grimbs, Elmar: „Die Aquarelle des Grafen Friedrich Casimir zu Ortenburg“, in: Ortenburg – Reichsgrafschaft und 450 Jahre Reformation 1563–2013, Ortenburg 2013, S. 180– 186 mit weiterer Literatur; Wild, Stefan: „Bisher unbekannte Werke Graf Friedrich Casimirs zu Ortenburg“, in: ebd., S. 187–197.

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Karl Möseneder 3 | Wild 2016, S. 180; Huber, Paul: „Festsaalarchitektur in Schloss Ortenburg – konstruiertes Prestige in Konservierung“, in: Erwin Emmerling (Hg.), Toccare – non toccare. Eine internationale Konferenz des Deutschen Nationalkomitees von ICOMOS in Zusammenarbeit mit dem Architekturmuseum und dem Lehrstuhl für Restaurierung, Kunsttechnologie und Konservierungswissenschaft der Fakultät für Architektur, TUM München, 7.–8. Dezember 2007, München 2009, S. 139. 4 | Mader, Felix/Ritz, Joseph Maria: Die Kunstdenkmäler von Niederbayern, Bd. 14: Bezirksamt Vilshofen, München 1926, S. 259. 5 | Huber 2009, S. 139 f. 6 | Ebd., S. 141, 146; Wild 2016, S. 183 f. 7 | Huber 2009, S. 148, Anm. 18. 8 | Wild 2016, S. 188 f. 9 | Ebd., S. 181. 10 | Huber 2009, S. 140 f.; Dietterlin, Wendel: Architectura von Außtheilung, Symmetria und Proportion der Fünff Seulen und aller darauß volgender Kunst, Arbeit von Fenstern, Caminen, Thürgerichten, Portalen, Bronnen und Epitaphien, Nürnberg 1598, Taf. 18. Dazu im Nachdruck (Braunschweig u. a. 1983) das Vorwort von Erik Forssman, S. 8; Pirr, Margot: Die Architectura des Wendel Dietterlin 1598, Gräfenhainichen 1939, S. 30, 51; Baum, Julius/Arndt, Karl: „Elefant“, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1958, Sp. 1249; Vgl. auch allgemeiner Luz, Christiane: Das exotische Tier in der europäischen Kunst, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 22–47. 11 | Dietterlin 1598, Taf. 132; Huber 2009, S. 148, Anm. 18. 12 | Dinzinger, Gertraud: Hans Pötzlinger und die süddeutsche Plastik in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Dissertation Regensburg 1985 (Microfiche); dies.: „Hans Pötzlinger (um 1535– 1603), ein Regensburger Bildhauer“, in: 1250 Jahre Kunst und Kultur im Bistum Regensburg, Berichte und Forschungen, München, Zürich 1989, S. 345. 13 | Fuhring, Peter: Hans Vredeman de Vries (= Hollstein’s Dutch and Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts, Bd. 48), Rotterdam 1997, S. 137, Taf. 492–495; Vgl. Jervis, Simon: Printed furniture designs before 1650, Leeds 1974, S. 28–31, Taf. 142–145; Grebe, Anja: „Die Möbelentwürfe von Hans Vredeman de Vries – Zwischen Schreinervorlagen und Sammlerwerk“, in: Heiner Borggrefe/Vera Lüpkes (Hg.), Hans Vredeman de Vries und die Folgen (= Studien zur Kultur der Renaissance, Bd. 3), Marburg 2005, S. 109–117. 14 | Fuhring 1997, Bd. 47, S. 54, Nr. 35; Vgl. die Vorzeichnung dazu, in: Borggrefe, Heiner: „Entwurfszeichnungen zu ,Scenographiae, sive perspectivae‘“, in: Heiner Borggrefe/Vera Lüpkes/ Paul Huvenne/Ben van Beneden (Hg.), Hans Vredeman de Vries und die Renaissance im Norden, München 2002, S. 203, Abb. 29b. 15 | Dietterlin 1598, Taf. 110, 152, 192. 16 | Vgl. die Literatur in Anm. 13 und 14.

Exotismus im Zeichen der Szenografie 17 | Vitruv I, II, 2; Vgl. Grassi, Luigi/Pepe, Mario: Dizionario dei termini artistici, Turin 1994, S. 835 f. 18 | Vgl. Fuhring 1997, S. 69, 72, Taf. 69. 19 | Serlio, Sebastiano: I sette libri dell’architettura, Venedig 1584, Libro quarto, S. 152 r–156 r. Serlios zweites Buch gibt Anweisungen zu Perspektivkonstruktionen. 20 | Hondius, Hendrick: Institutio artis perspectivae, Den Haag 1622. Dazu Dubourg Glatigny, Pascal: „Hans Vredeman de Vries und die Perspektive“, in: Borggrefe/Lüpkes/Huvenne/ Beneden 2002, S. 131. 21 | Borggrefe 2002, S. 201 f., Abb. 26 f. 22 | Vgl. die Festsäle in: Fürstliche Festsäle in bayerischen Schlössern, Regensburg 2013.

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Das Problem einer klassizistischen Kunsttheorie im italienischen 17. Jahrhundert Giovan Pietro Belloris idea-Konzeption und der Hl. Andreas François Duquesnoys Wiebke Windorf In diesem Beitrag wird die in den 1920er Jahren von Erwin Panofsky, Julius Schlosser und anderen formulierte und seitdem die Forschung prägende Einschätzung von Giovan Pietro Bellori als Begründer einer klassizistischen Kunsttheorie problematisiert. Außerdem soll der im Forschungsdiskurs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts postulierte Dualismus zwischen klassizistischen und barocken künstlerischen Strömungen im 17. Jahrhundert dekonstruiert werden. Dies erfolgt im ersten Teil anhand einer Relektüre von Belloris Vortrag über Die Idee des Künstlers sowie seiner Künstlerviten. In der 1664 vor der römischen Accademia di San Luca gehaltenen Rede stellte der Archäologe und Kunstkenner Bellori seine Idee des Künstlers vor, die er als ein durch die Anschauung gewonnenes geistiges Urbild der Dinge begreift (Abb. 1). Eine Realisierung der Idee erfolge im kreativen und intellektuellen Prozess des Kunstwerks, in welchem der Künstler seine Idee mit Hilfe des Studiums der Natur, der großen Renaissance-Meister wie Raffael sowie der Antike als eine bereinigte Darstellung der Natur hervorbringen könne. Belloris idea-Vorstellung wurde zusammen mit der selektiven Vorgehensweise bei seinen zwölf und damit vergleichsweise wenigen publizierten Künstlerviten als Versuch zur Etablierung einer klassizistischen Kunstanschauung gewertet. Im zweiten Teil dieses Beitrags werden Belloris Vorstellungen im Kontext kunsttheoretischer Überlegungen und künstlerischer Produktionen des 17. Jahrhunderts gelesen. Dabei basiert das Vorgehen auf einem Verständnis von Kunstgeschichte, das das Objekt als Ausgangspunkt eines Erkenntnisprozesses begreift.1 Am Beispiel der von Bellori beschriebenen Statue des Hl. Andreas, die die For-

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Abbildung 1: Giovan Pietro Belloris idea-Konzeption von 1664

Grafische Darstellung: Wiebke Windorf

schung zur gescheiterten barocken Statue degradierte, soll die als normativ-programmatisch ausgelegte idea-Theorie ebenso wie die seit der Begründung der Kunstgeschichte als Wissenschaftsfach verschärft diskutierte Polarität zwischen klassizistischen und barocken Formierungen kritisch überprüft und neubewertet werden (Abb. 2).

I Der Klassizist Bellori in der Forschung Erwin Panofsky interpretierte Belloris Konstrukt der a posteriori gewonnenen Ideen vollkommen zu Recht als eine Kampfansage sowohl gegen eine manieristische Kunstproduktion als auch gegen eine allzu sklavische, unreflektierte Naturnachahmung (Abb. 1).2 Allerdings insistierte er zu sehr auf dem programmatischen Anspruch Belloris, den Panofsky in Johann Joachim Winckelmanns Etablierung der Kunstgeschichte als Geschichte eines Ideals Ende des 18. Jahrhunderts schließlich verwirklicht sah.3 In der Nachfolge von Panofsky fasste die Forschung Belloris Schweigen über die großen barocken Protagonisten Gianlorenzo Bernini und Pie-

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Abbildung 2: François Duquesnoy, Der Hl. Andreas, 1629–1640, Rom, Petersdom

Per gentile concessione della Fabbrica di San Pietro in Vaticano

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Abbildung 3: François Duquesnoy, Die Hl. Susanna, 1629–1633, Rom, Santa Maria di Loreto

Quelle: Boudon-Machuel 2005, S. 121, Abb. 118

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tro da Cortona als eine Bestätigung von Panofskys normativer idea-Auslegung auf. Denn die beiden Künstler passten scheinbar nicht in die vermeintlich von Bellori aufgestellte Theorie einer klassizistischen Kunstanschauung. Weiter versuchte Denis Mahon die stilistischen Unterschiede in den Œuvres einzelner Künstler wie Nicolas Poussin und François Duquesnoy damit zu begründen, dass sich diese erst ab 1630 von Bernini absetzten und einer klassizistischen Formgebung zuwendeten. In Duquesnoys Werk erfolgte laut Mahon erst nach dem Hl. Andreas der stilistische Bruch, womit er den Unterschied zwischen dem barocken Hl. Andreas und der an der Antike angelehnten Susanna-Statue zu erklären suchte (Abb. 2–3).4 Auch Donald Posners postulierte Polarität zwischen den Malern Domenichino und Lanfranco sowie Rudolf Wittkowers oder Ellis Waterhouses formulierte Rivalität zwischen Andrea Sacchi und Pietro da Cortona oder Gianlorenzo Bernini wurden als Indiz für solche konkurrierenden künstlerischen Strategien im Seicento aufgeführt.5 Alle diese Faktoren sollten eine solche klassizistische Ausrichtung im Seicento, die sich mit Belloris normativer Idee deckte, im Nachhinein bestätigen. Erst in einer zweiten Forschergeneration nach Panofsky ab den 1970ern begannen Elisabeth Cropper und Giovanni Previtali in ihren maßgeblichen Arbeiten damit, Panofskys Bellori-Auslegung zu relativieren.6 Sowohl Tomaso Montanari in seiner elementaren Einführung zur englischen Übersetzung der Viten als auch jüngst Elisabeth Oy-Marra in ihrem profunden Essay über Belloris idea im Rahmen des deutschen Editionsprojekts von Belloris Viten schließen sich der von Previtali und Cropper initiierten differenzierteren Leseweise Belloris an.7 Die Kritikpunkte an Panofskys programmatischer idea-Auslegung sowie auch neue, bisher nicht formulierte Aspekte sollen hier skizziert werden.

Belloris idea und seine Viten – ein Modell über künstlerische Individualität in der Tradition Vasaris Panofskys isolierte Analyse von Belloris Akademierede führte zur Reduzierung seiner idea auf eine unveränderlich-universelle, ahistorische Vorstellung der Idee des Schönen. Ein tieferes Verständnis von Belloris idea-Rede kann jedoch nur erlangt werden, wenn diese – in formaler Anlehnung an Vasaris Vorreden – als theoretisches Fundament für sein in den Viten präsentiertes Geschichtsmodell von der Kunst im 17. Jahrhundert gelesen wird. Als Bellori 1664 die idea-Rede vor einer akademischen Zuhörerschaft vortrug, befand er sich bereits inmitten seiner Vitenschreibung.8 Bellori arbeitete im Umfeld von Francesco Angeloni als Antiquar und Archäologe in Rom und pflegte als Akademiesekretär freundschaftlichen Umgang mit Künstlern.9 Dabei spitzt sich Belloris idea-Vorstellung auf den pragmatischen und schon durch Alberti und Vasari rezipierten Hinweis zu, in der Inventions-

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findung keine zu einseitige Inspirationsquelle zu konsultieren. Er warnt aber nicht nur vor reiner Ideenschöpfung durch die Kunst oder die Natur allein, sondern setzt als Kunstkenner vor allem die Vielfalt der Antike und alten Meister als Strategie ein, um Exzellenz zu erwerben (Abb. 1).10 Dementsprechend porträtiert Bellori einen historisch reflektierten, in der Zeichnung und Naturnachahmung technisch geschulten und talentierten Künstler. Diesem wohnen aber nicht apriori die göttlichen Ideen inne und er wird auch nicht durch den göttlichen Funken, sondern mittels eines autonomen Erkenntnisprozesses schöpferisch tätig. Auf diese Weise setzt er sich entschieden von der manieristischen Kunsttheorie Lomazzos und Zuccaris ab und wendet sich wieder einem Künstlerideal Albertis und Vasaris zu.11 Es geht ihm um eine allumfassende, quasi verwissenschaftlichte Erkenntnissuche und die daraus erst resultierende Option künstlerischer Exzellenz beziehungsweise stilistischer Individualität. Seine Viten-Selektion beinhaltet die Künstler des Cinquecento, die nach einem auf Raffael erfolgten Qualitätsverlust die Reform von Annibale und Agostino Carracci vorbereiteten. Mit den Carracci zeigt er die Erneuerung der Künste und gleichzeitig deren Zenit an und präsentiert internationale Protagonisten sowie Schüler der Reform.12 So verkündet er im Vorwort, dass für ihn die künstlerische Qualität im Gegensatz zu seinen kunstgeschichtsschreibenden Konkurrenten das ausschlaggebende Kriterium darstelle.13 Insofern setzt er sich von Zeitgenossen wie Giovanni Baglione ab, der 1642 eine Chronik der Kunstproduktion nach Vasaris drittem Zeitalter schrieb, die nach Pontifikaten ohne die Aufstellung von Qualitätskriterien geordnet ist.14 Für Bellori bereitete vielmehr die Variabilität der künstlerischen Optionen erst den Boden für eine stilpluralistische Exzellenz oder anders gesagt für eine Ausprägung von künstlerischen Individuen. Dabei ist der künstlerische Rekurs mitnichten auf die Antike, Raffael und Carracci beschränkt, sondern kann ebenso Michelangelo, Correggio und Tizian umfassen. Die internationalen Folgen sind deshalb vielfältig und spiegeln eine individuelle Charakterisierung vergleichbar mit Vasaris formulierten maniere seines dritten Zeitalters wider.15 So zeichnete sich nach Bellori ein flämischer Peter Paul Rubens durch sein besonderes Kolorit und seine Licht- und Schattengebung aus,16 ein französischer Nicolas Poussin reüssierte mit seinen affektreichen Narrationen,17 ein italienischer Domenichino bestach durch seine wohl durchdachten Inventionen,18 während wiederum ein Lanfranco gerade durch seinen spontanen Pinselduktus überzeugte.19 Eine solche Auffassung vom Künstlerindividuum, das eine Vorstellung der Ideen erwerben und sich dennoch ganz individuell im Kunstwerk entfalten kann, muss vor einer akademischen Zuhörerschaft auch als Ansporn an die Schüler gemeint gewesen sein.20 Erst in der Zusammenfügung von Belloris

Das Problem einer klassizistischen Kunsttheorie

beiden Schriften relativiert sich die zu einseitig ausgelegte idea-Konzeption und wird zugleich der Zusammenhang zu einem Entwicklungsmodell der Kunst in der Tradition Vasaris evident.21

II Ist der Hl. Andreas eine gescheiterte barocke Statue? Wie wenig die Forschung Bellori gerecht wurde, zeigt sich am von Bellori beschriebenen Marmorkoloss des Hl. Andreas von François Duquesnoy, der mehrheitlich als gescheiterte barocke Statue abgelehnt wurde (Abb. 2). Nach Bellori kam es mit den Carracci zur Wiederbelebung der Malerei seit Raffael. Eine solche Reformfigur habe es für die Skulptur nicht gegeben.22 Allenfalls zwei Bildhauer erweckten die Skulptur zu neuem Leben: Duquesnoy und Algardi.23 Die hier skizzierte Inferiorität der Seicento-Skulptur gegenüber der Malerei wäre im Rahmen des dringenden generellen Forschungsdesiderats über die Kunsttheorie der neuzeitlichen Skulptur noch dezidierter zu kontextualisieren. Der Hl. Andreas ist bekanntlich Teil der ambitionierten Kuppelraumgestaltung von Sankt Peter unter der Leitung Gianlorenzo Berninis.24 Zentrum des Auftrags war die Bekrönung des Grabs Petri durch einen zu errichtenden Baldachinaltar sowie die Präsentation der vier wichtigsten Reliquien: Dabei handelt es sich um das Schweißtuch der Hl. Veronika, um Fragmente des Hl. Kreuzes, um die Lanze des Longinus und das Haupt des Apostels Andreas. Im Mai 1628 wurde ein von Bernini vorgelegter Entwurf für die Andreas-Statue akzeptiert.25 Duquesnoy, der mit der Ausführung des Stuckmodells betraut wurde, konnte dieses bis November 1629 fertigstellen.26 Erst als Papst Urban VIII. sowie die Kongregationssitzung das Stuckmodell Duquesnoys bewilligten, erfolgte im Dezember 1629 der Auftrag für die drei weiteren Stuckmodelle in den Vierungsnischen.27 Die Skulptur hat bis heute eine Reihe von Fragen aufgeworfen. Auf Unverständnis stieß vor allem die Verschiedenartigkeit zwischen der Hl. Susanna, die in stilgeschichtlicher Perspektive als Erfüllung des Klassizismus gilt, und der barocken Statue des Hl. Andreas aus derselben Schaffensperiode (Abb. 2–3).28 Dabei blieb bisher Mariette Fransolets durchweg positive und dabei die klassischen Elemente hervorhebende Beurteilung von 1933 ohne Nachfolge.29 Rudolf Wittkower vermisste ganz im Sinne Passeris die überzeugende Einheit der Skulptur.30 1962 machte Denis Mahon den Hl. Andreas zur „verfehlten barocken Statue“, die bald

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Abbildung 4: Gianlorenzo Bernini, Der Hl. Longinus, ca. 1631–1638, Rom, Petersdom

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von Berninis Longinus-Skulptur übertroffen worden sei (Abb. 4).31 Und obwohl Irving Lavin in seiner maßgeblichen Arbeit zur Vierung des Petersdoms bereits 1968 wichtige Erkenntnisse in Hinblick auf das Entwurfsprozedere liefern konnte, milderte Maddalena Spagnolo 2000 allenfalls ein wenig ab, indem sie den Hl. Andreas als einen Kompromiss zwischen dem klassizistischen Stil Duquesnoys und dem Barockstil Berninis verstand.32 Erst Marion Machuel-Boudon entwickelte in ihrer umfangreichen Duquesnoy-Monografie von 2005 ein differenzierteres Bild der Statue – auch vor dem Hintergrund des Forschungsdiskurses.33 In Bezug auf den Hl. Andreas soll hier jedoch dieser – mit solch dualistischen Kategorien operierende – Diskurs ab den 1950er in einen direkten Zusammenhang mit Belloris vermeintlich klassizistischem Programm und dessen ausführlicher Analyse der Statue gebracht werden. Wie manifestiert sich dieses von der Forschung bezeichnete Scheitern des nicht ganz klassizistischen und auch nicht ganz barocken Werks? Und impliziert die postulierte Abkehr von klassizistischer Formgebung tatsächlich ein Scheitern oder Fehlschlagen? Vor dem durch Panofsky geprägten Forschungsdiskurs müsste eigentlich in Belloris Ekphrasis ein solch barockes Scheitern der Statue deklariert worden sein, zumal in Belloris hierarchischem System die Skulptur ohnehin nicht an die reformerische Qualität der Malerei herangekommen sei. Um es vorwegzunehmen: Das Gegenteil ist der Fall – Bellori bewundert den Hl. Andreas ohne ein einziges kritisches Wort.

Zu Belloris Ekphrasis Sowohl in Belloris Beschreibung der Hl. Susanna als auch in derjenigen des Hl. Andreas nimmt die Faltenführung sehr viel Raum ein (Abb. 2–3).34 Bei der Andreas-Statue lobt er den unter der Brust gerafften Teil des Mantels und die varietà der Faltenpartien. Generell hebt er die Kunstfertigkeit in der Darstellung eines leichten und nachgiebigen Stoffes hervor, der den Körper zwar verdeckt, die darunterliegenden Glieder aber sichtbar macht und in Korrespondenz zu den Formen des Körpers verläuft.35 Während bei der Hl. Susanna der „leichte und zarte Stil“ mit dem Wesen der Märtyrerin zu korrespondieren scheint,36 arbeitet Bellori beim Apostel Andreas die dargestellten Kontraste heraus. Es handele sich um eine ganz geöffnete Figur und in ihrer Haltung großartig, was durch den rechten Arm, der das Kreuz hält, und die ausgestreckte Linke erreicht werde.37 Der Heilige richte den Kopf nach rechts, die Brust aber drehe sich ruhig-gelassen leicht nach links und auch die Schultern kommen zwischen den beiden Kreuzesarmen zur Ruhe.38 Innerhalb dieser beruhigten Haltung beobachtet er jedoch auch die robusten Formen eines starken, aber alten und erschöpften Fischers, was in der nur mäßigen Anspannung der Muskeln ausgedrückt sei.39 Bellori ist sich des narrativen Gerichtetseins

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der Statue sehr bewusst. Trotz der Ruhezonen innerhalb der Figur macht er auf die Handlung des Apostels aufmerksam und verwendet dabei eine Sprache, die die Gleichzeitigkeit von sichtbarer religiöser Erregung und Kontemplation ausdrückt: „Den Kopf erhoben, steht der Apostel in ehrfürchtiger Anschauung des Himmels. In seinem Rücken hat er das aus zwei Balken gezimmerte Kreuz, dessen einen Arm er mit der Rechten umfasst, während die geöffnete Linke ausgestreckt ist in einer Geste von Erregung und göttlicher Liebe in der Glorie des Martyriums. [...] Die gleiche Darstellungsweise gilt auch für das ausgezehrte Gesicht mit der breiten gewölbten Stirn, dem ungepflegten Bart und den in heiligem Affekt sich öffnenden Lippen.“40

Neben dem inhaltlichen Gerichtetsein der Figur bezieht Bellori die durch den speziellen Anbringungsort notwendige formale Anpassung mit ein. Da es sich um die einzige Figur handele, die Duquesnoy für einen Ort mit solchen Dimensionen geschaffen hat, sei ihre Haltung ganz geöffnet und großartig.41 So konnte bei der Darstellung eines starken, alten Apostels bei solchen räumlichen Dimensionen kaum eine Kongruenz zum zarten Stil der Hl. Susanna erwartet werden, ohne das Dekorum zu verletzen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Bellori im Resümee neben der kunstvollen Gewandbehandlung vor allem die „geordneten Entgegensetzungen“ als übergeordnetes gestalterisches Prinzip Duquesnoys entwickelt.42 Trotz dieser mit einer subtilen Differenziertheit von Bellori herausgearbeiteten Unterschiede zwischen den beiden Skulpturen versucht Norbert Huse, die Andersartigkeit und das Scheitern der Andreas-Statue in der Anlage des Auftrags selbst zu sehen. Der Hl. Andreas gehöre in zwei verschiedene Sphären, die untereinander nicht vereinbar seien. „Der niedere Stand und das Alter des Fischers waren ebenso zu zeigen wie die Würde des Apostelamtes.“43 Huse begreift die Darstellung existenzieller Situationen, die die Personen im Wesen verändern, als ein generelles Problem der Kunst Duquesnoys, dem es eher um das menschliche Ethos der Dargestellten gehe.44 Die von Passeri bereits erwähnte mangelnde Einheit der Figur wurde als Folge dieser von Duquesnoy gescheiterten Annäherung an Bernini begriffen, wie die Zitationen des Forschungsdiskurses ab den 1950er Jahren verdeutlichen. Selbst wenn der Auftrag nicht zu den präferierten Aufgaben Duquesnoys gehört hätte, bedeutet dies nicht, dass er nicht in der Lage gewesen wäre, solche Anforderungen überzeugend zu bewältigen. Dies kann nur eine Analyse zeigen, die die an die Statue gestellten inhaltlichen Anforderungen mit der Umsetzung innerhalb des Ausstattungskontexts vergleicht. Denn trotz aller bestätigten Empfänglichkeit Duquesnoys für die Antike ist das Kunstwerk zwar als ein Produkt einer Verkettung von künstlerischen Optionen, aber zunächst einmal als Teil eines

Das Problem einer klassizistischen Kunsttheorie

ganz konkreten auftragsgebundenen, örtlichen und ikonografischen Gesamtzusammenhangs zu verstehen, innerhalb dessen sich die künstlerischen Optionen erst entfalten.45

Die Praxis jenseits theoretischer Konzeptionen Berninis Einfluss Die Kuppelraumgestaltung wurde von Bernini geleitet. Dem Archivmaterial hat Lavin 1968 entnommen, dass auch das Stuckmodell Duquesnoys nach einem Entwurf Berninis angefertigt wurde.46 Bei der Betrachtung eines späteren Tonmodells für die Statue des Hl. Longinus von Bernini, Berninis ausgeführter Longinus-Statue und der Andreas-Statue wird wahrscheinlich, dass das Stuckmodell Duquesnoys in den wichtigsten Zügen auf Berninis Erfindung zurückgeführt werden muss (Abb. 2, 4–5). Dazu gehören die diagonalen Holzbalken des Andreas-Kreuzes und die kontrapostische Stellung des Andreas mit geöffneter linker Hand und schräger Kopflage. Auch die Gewandbeschreibung mit der freien Brust, dem umhüllten, aber präsentierten Arm, dem konzentrierten Faltenbündel auf Hüftebene und den geschwungenen Mantelenden scheint Berninis Entwurf zu folgen. Zweifellos wird Bernini die Ausführung in Stuck durch Duquesnoy verfolgt haben, fungierte doch das Stuckmodell als Probestück für die geplante Gestaltung des Kuppelbereichs mit drei weiteren Kolossalstatuen.47 Trotzdem sind es gerade die Elemente der Gewandauffassung, die Bellori an Duquesnoys Hl. Andreas lobt, die sich explizit von Berninis bozzetto und Longinus-Statue unterscheiden. Gemeint ist die Korrespondenz zwischen der Faltenführung und der Bewegung der Gliedmaßen oder auch die Abwechslung von beruhigten Partien und dynamischer fallenden Stoffteilen bei Duquesnoys Andreas-Statue. Im Gegensatz dazu steht die durch und durch dynamische Oberfläche des straff über den Körper gespannten Gewands vom bozzetto Berninis ebenso wie das eigenwillige Relief des Mantels von Berninis ausgeführtem Hl. Longinus. Eine zu vermutende Korrespondenz von Faltengebung und seelischer Verfassung des Heiligen ist von Duquesnoy damit auf vollkommen andere Weise als von Bernini gelöst worden.

Die Angemessenheit des Orts Zwei inhaltliche Bezüge musste die Nischenstatue formal bewältigen. Zunächst musste sie den formalen Bezug herstellen zu dem, was sie präsentiert oder repräsentiert, nämlich das Andreas-Haupt beziehungsweise das Kreuz. Außerdem musste sie den Bezug zum Zentrum mit dem auferstandenen Christus beziehungsweise

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Abbildung 5: Gianlorenzo Bernini, Bozzetto für den Hl. Longinus, ca. 1630–1631, Ton mit Vergoldungen auf Kreidegrundierung, Cambridge, MA, Harvard Art Museums

Harvard Art Museums/Fogg Museum, Alpheus Hyatt Purchasing and Friends of the Fogg Art Museum Funds

Das Problem einer klassizistischen Kunsttheorie

später mit dem Kreuz als Baldachinbekrönung visualisieren. Mit der Wahl und Position des Kreuz-Attributs wird die Statue den Größenverhältnissen der Nische angepasst und gleichzeitig ikonografisch ausgewiesen.48 Der Anbetungsgestus und das mitschwingende Mantelende hinter der Figur erwirken eine Öffnung derselben innerhalb ihrer durch das Kreuz, den Sockel und die Nische vorgegebenen Grenze, wodurch die Ausrichtung zur Mitte akzentuiert wird. Innerhalb dieser wohl von Bernini entworfenen Ausrichtung hat sich Duquesnoy bei der Stoffbehandlung und der tiefen Aushöhlung der Augenpartie auf die konkrete Fernwirkung und die Lichtverhältnisse eingestellt, was bereits Scaramuccia 1674 lobend erwähnt (Abb. 6).49 Denn ursprünglich hatte Duquesnoy die Statue für die nordwestliche Nische konzipiert, auf die der Kirchgänger aus dem Langhaus kommend schräg rechts blickt.50 Hier kommen wieder Belloris kunstvolle Entgegensetzungen zum Tragen. Der helle, glatte Oberkörper wird von der bewegten Partie der Faltenbündel und des Knotens eingerahmt, darauf folgt erneut eine große helle Fläche, die wiederum von vielen schmalen Falten der darunterliegenden schattigen Partie abgelöst wird. Dieses optische Wechselspiel kulminiert in den dunklen Mantelsäumen.

Die Angemessenheit der Narration Duquesnoy hatte den Apostel darzustellen, der in der Extremsituation des nahenden Märtyrertods durch die Anbetung des Kreuzes seine religiöse Entschlossenheit und Ergebenheit kundtut.51 Duquesnoys Umsetzung spiegelt das Ereignis detailliert wider. Durch die geöffnete Haltung, den nackten Oberkörper und das leichte Herunterfallen des Stoffes an der linken Schulter, den Anbetungsgestus, die Schräglage des Kopfes mit den in die entgegengesetzte Richtung verlaufenden Bartsträhnen und dem aufgerichteten Blick werden die religiöse Entschlossenheit und gleichzeitig die Ergebenheit sichtbar gemacht. Wiederum sind es die beruhigteren Formen, nämlich der nur leicht angewinkelte linke Arm, die nur leichte Drehung im Oberkörper sowie die großen, kaum reliefierten Gewandpartien, die diese bewegteren Momente relativieren. Somit wird die religiöse Kraft des Märtyrers ebenso wie das kontemplative, ganz eigene Erlebnis eines alten Apostels dargestellt. Aufgrund dieser differenzierten künstlerischen Umsetzung wird daher nicht deutlich, weshalb Huse in der Darstellung des religiösen Erlebnisses des Apostels, der zugleich ein alter einfacher Fischer ist, ein Scheitern Duquesnoys sieht.52 Durch den Erfolg von Duquesnoys Stuckmodell ist erst der Entwurf Berninis, vier Kolossalstatuen in die Kuppelpfeilernischen zu stellen, zur Ausführung gelangt. Dies und die Tatsache, dass Duquesnoy erst nach der Fertigstellung des Stuckmodells mit der Hl. Susanna betraut wurde, sprechen zumindest nicht für einen Misserfolg des Bildhauers. Zudem sind durch Briefe und Berichte von Rubens

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Abbildung 6: François Duquesnoy, Der Hl. Andreas, ursprüngliche Ansichtsseite (vom Langhaus aus betrachtet) vor dem 1638 erfolgten Pfeilerwechsel

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Das Problem einer klassizistischen Kunsttheorie

(1640), Bellori (1672), Scaramuccia (1674), Sandrart (1675) und selbst von Winckelmann (1763) auch positive Reaktionen auf die Statue überliefert.53 Die Analyse hat gezeigt, dass die Skulptur des Hl. Andreas nicht als künstlerisches Resultat einer vorgefassten kunsttheoretischen Anschauung verstanden werden kann. Denn die künstlerischen Entscheidungen waren an ein Gestaltungskonzept gebunden, dem Duquesnoy auf verschiedenen Ebenen gerecht wird. Innerhalb dieses durch Bernini geprägten Rahmens sind aber formale Lösungen zu erkennen, die auf Duquesnoy zurückzuführen sind und die Bellori als herausragend erachtet. Belloris Ekphrasis zeugt von Sensibilität für die durch Duquesnoy zu bewältigende Aufgabe, in dem er das Changieren der Statue terminologisch mit den „geordneten Entgegensetzungen“ ausweist und für die Hl. Susanna ein entschieden anderes Vokabular einsetzt. Gerade dieses Beispiel bestätigt Belloris proklamierte Notwendigkeit einer breit aufgestellten künstlerischen Strategie, die erst zu einem überzeugenden Ergebnis führt. Deshalb stellt der Hl. Andreas für ihn keine gescheiterte Statue dar. Eine Analyse konnte erst die Komplexität der Statue herausstellen, die Bellori längst verstanden hatte. Mit der Relektüre von Bellori sollte an einem umstrittenen Skulpturenbeispiel gezeigt werden, dass ein erst viel später entstandenes theoretisches Konstrukt von stilistischen Konzeptionen und dualistischen künstlerischen Strategien in der Praxis an einer solch komplexen Skulptur scheitern muss.54

A nmerkungen 1 | Das diesem Beitrag zugrundeliegende Verständnis von Kunstgeschichte, das zunächst einmal den Erkenntniswert des Objekts anerkennt, ist auf engste Weise mit Jürgen Wieners langjähriger Forschungs- und Lehrtätigkeit verbunden, wofür ich ihm zutiefst dankbar bin. Dabei ist die Wortwahl von Michael Viktor Schwarz übernommen worden. Schwarz fasst im Vorwort die angekündigten Beiträge als Zeichen eines „iconic turn“ zurück zu den Methoden der „guten alten Kunstgeschichte“ auf, da sie „die Realie des Mediums als Ausgangspunkt für den Erkenntnisprozeß thematisieren“. Schwarz, Michael Viktor: „Vorwort“, in: Wilhelm Maier/ Wolfgang Schmid/Michael Viktor Schwarz (Hg.), Grabmäler. Tendenzen der Forschung an Beispielen aus Mittelalter und früher Neuzeit, Berlin 2000, S. 7–10, hier S. 8. 2 | Panofsky, Erwin: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie (1924), Berlin 1975, S. 62. 3 | Schlosser, Julius: Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte (1924), Wien 1985, S. 415. Vgl. auch Pochat, Götz: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln 1986, S. 343–347. 4 | Mahon, Denis: „Poussiniana. Afterthoughts arising fom the exhibition“, in: Gazette des Beaux-Arts 60.1962, S. 1–138, hier S. 71–72. Ähnlich argumentiert Mezzetti, Amalia: „François

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Wiebke Windorf Duquesnoy“, in: Francesco Arcangeli/Gian Carlo Cavalli/Andrea Emiliani u. a. (Hg.), L’Ideale classico del Seicento in Italia e la pittura di paesaggio, Ausst.-Kat. Bologna 1962, Bologna 1962, S. 361–371, hier S. 364: „Ma l’immagine colossale dell’Apostolo, questa ,statua barocca mancata‘ (Mahon), non è che un episodio senza conseguenze nel percorso artistico del Fiammingo [...].“ 5 | Posner, Donald: „Domenichino and Lanfranco: The early development of Baroque painting in Rome“, in: Marsyas. Studies in history of art, Bd. 2: Essays in honor of Walter Friedlaender, New York 1965, S. 135–146; Wittkower, Rudolf: Art and Architecture in Italy 1600– 1750 (1958), Hong Kong 1982, S. 261–266; Waterhouse, Ellis: Italian Baroque Painting, London 1962, S. 55: „Just as Algardi represents the classical opposition to Bernini in sculpture, Andrea Sacchi (1599–1661) was the classical opponent to Pietro da Cortona in painting.“ Eine kritische Zusammenfassung dieser von der Forschung konstruierten dualistischen Konzeptionen im Seicento bereits bei Harris, Ann Sutherland: Andrea Sacchi. Complete edition of the paintings with a critical catalogue, Princeton 1977, S. 26–37. 6 | Previtali, Giovanni: „Introduzione“, in: Evelina Borea (Hg.), Giovan Pietro Bellori. Le vite de’ pittori, scultori e architetti moderni, Turin 1976, S. IX–LX; Cropper, Elizabeth: „,La più bella antichità che sappiate desiderare‘: History and Style in Giovan Pietro Bellori’s ,Lives‘“, in: Peter Ganz/Martin Gosebruch/Nikolaus Meier u. a. (Hg.), Kunst und Kunsttheorie 1400–1900, Wiesbaden 1991, S. 145–173. 7 | Montanari, Tomaso: „Introduction“, in: Alice Sedgwick Wohl/Hellmut Wohl/Tomaso Montanari (Hg.), Giovan Pietro Bellori. The Lives of the Modern Painters, Sculptors and Architects (2005), Cambridge u. a. 2009, S. 1–39; Oy-Marra, Elisabeth: „Giovan Pietro Belloris Idea“, in: Elisabeth Oy-Marra (Hg.), Giovan Pietro Bellori. L’Idea del pittore, dello scultore e dell’architetto/Die Idee des Malers, des Bildhauers und Architekten und Architekten, Göttingen 2018, S. 115–185. Siehe davor bereits Kurt Gerstenbergs Übersetzung samt Kommentar. Gerstenberg, Kurt (Hg.): Giovanni Pietro Bellori. Die Idee des Künstlers, Berlin 1939. 8 | Bekanntlich schickte Bellori die vollendete Caravaggio-Vita bereits 1645 an Francesco Albani zur Durchsicht. Borea, Evelina: „Bellori 1645. Una lettera a Francesco Albani e la biografia di Caravaggio“, in: Prospettiva 100.2000, S. 57–69. 9 | Zur Bellori siehe Donahue, Kenneth: „‚The ingenious Bellori‘. A biographical study“, in: Marsyas 3.1943–1945 (1945), S. 107–138; Previtali 1976, S. IX–LX; Montanari 2005/2009, S. 4–14; zuletzt Oy-Marra, Elisabeth: „Zur Einführung: Die Viten des Giovan Pietro Bellori“, in: Bellori/ Oy-Marra 2018, S. 11–27, hier S. 11–16. 10 | Vasari hat den Terminus des disegno auf ganz ähnliche Weise als Korrektiv verstanden. Irlenbusch, Christina (Hg.): Giorgio Vasari. Das Leben des Tizian, Berlin 2005, S. 36: „[...] denn wer nicht genügend gezeichnet und ausgewählte Dinge an Antikem oder Modernem studiert hat, vermag weder allein aus der Übung heraus gut zu arbeiten noch das nach dem Leben Gemalte zu verbessern und ihm dadurch jene Anmut und Perfektion zu verleihen, die die Kunst unabhängig von der Ordnung der Natur erzeugt, die manches für gewöhn-

Das Problem einer klassizistischen Kunsttheorie lich nicht schön hervorbringt.“ Siehe auch Irlenbusch, Christina: „Einleitung“, in: Vasari/Irlenbusch 2005, S. 10; Pochat 1986, S. 277–278. 11 | Lomazzo, Giovanni Paolo: Idea del tempio della pittura, nella quale egli discorre dell’origine, & fondamento delle cose contenute nel suo trattato dell’arte della pittura, Mailand 1590; Zuccari, Federico: L’idea de’ pittori, scultori e architetti, 2 Bde., Turin 1607. Zwar ist seit Erwin Panofsky und Denis Mahon zu Recht auf den Zusammenhang zwischen Giovan Battista Agucchis (Trattato della pittura) (sowie Franciscus Junius’ De pictura veterum) und Belloris idea verwiesen worden. Dennoch macht nochmals jüngst Elisabeth Oy-Marra deutlich, dass bereits Agucchi bei seinem bello ideale im Sinne einer ideenbasierten Naturnachahmung Alberti rezipierte. Panofsky 1924/1975, Vorwort zur zweiten Auflage; Mahon, Denis: Studies in Seicento Art and Theory, London 1947; Oy-Marra: „Giovan Pietro Belloris Idea“, in: Bellori/ Oy-Marra 2018, S. 135–141. 12 | Montanari 2005/2009, S. 22. 13 | Bellori rechtfertigt nicht nur die geringe Anzahl seiner Künstlerviten, sondern differenziert deutlich zwischen dem Reformer Annibale Carracci und den zwar nicht vollkommenen, aber dennoch unter Abwägung bestimmter Aspekte würdigen Künstlern seiner Selektion. Bellori, Giovan Pietro: „Al lettore“, in: Bellori/Oy-Marra 2018, S. 36–47, hier S. 40–42: „Il perché essendomi impiegato a scrivere le vite de’ pittori, scultori ed architetti più moderni dalla ristaurazione della pittura per mano di Annibale Carracci, nel meditare le memorie loro, io mio sono trovato ristretto in così angusti confini, che quasi mi è mancato lo spazio d’impiegar la penna. Pure, avendo avuto riguardo alle difficoltà lunghissime dell’arte, mi sono alquanto disteso considerando che gli antichissimi pittori e scultori greci, li maggiori di fama, non furono del tutto perfetti, onde mi posi a scrivere, raccogliendo l’opere e li fatti di alcuni pochi artefici.“ Davor bereits Cropper 1991, S. 155. 14 | Bellori: „Al lettore“, in: Bellori/Oy-Marra 2018, S. 38–40. Bellori unterscheidet sich ebenso von Zeitgenossen wie Malvasia (Felsina Pittrice: Vite de pittori bolognesi), die eine gattungsspezifische und regionale Eingrenzung vornahmen. 15 | Montanari 2005/2009, S. 18–20; sowie Rosen, Valeska von: „Zwischen Normativität und Deskriptivität, oder: Wie sich ,Geschichte‘ nach Vasari schreiben lässt. Bellori in den 1640er Jahren“, in: Fabian Jonietz/Alessandro Nova (Hg.), Vasari als Paradigma. Rezeption, Kritik, Perspektiven, Venedig 2016, S. 163–182, besonders S. 170–173. Zu Belloris Beurteilung der Künstler als Vorbilder siehe auch Oy-Marra, Elisabeth: „Arbeiten an Vasaris terza età: Belloris modernen Künstler und ihre Leitbilder“, in: Jonietz/Nova 2016, S. 183–192. 16 | Bellori, Giovan Pietro: „Vita di Pietro Paolo Rubens d’Anversa, pittore“, in: Evelina Borea (Hg.), Giovan Pietro Bellori. Le vite de’ pittori, scultori e architetti moderni (1976), 2 Bde., Turin 2009, Bd. 1, S. 237–268, hier S. 267: „Colorí dal naturale e fu veemente nelle mistioni, radiando il lume con la contrarietà de’ corpi ombrosi, siché fu mirabile nelle opposizioni dell’ombre e

de’ lumi. Si mantenne sí unito e risoluto che sembrano le sue figure eseguite in un corso di pennello ed inspirate in un fiato, come si riconosce nella galeria di Lucemburgo, che è tutta

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Wiebke Windorf armoniosa e ritiene gli effetti piú stupendi del colore, ed è il piú bello e ’l piú glorioso parto del suo pennello.“ 17 | Bellori, Giovan Pietro: „Vita di Nicolò Pussino d’Andelí francese, pittore“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 2, S. 419–481, hier S. 434: „Era Nicolò in tal modo portato a nobilissimi componimenti, che egli si eleggeva atti alli moti degli affetti e delle espressioni e conformi al suo ricco ingegno abbondante: la qual vera laude molto pochi artefici in questi nostri secoli hanno conseguito.“ 18 | Bellori, Giovan Pietro: „Vita di Domenico Zampieri, il Domenichino Bolognese, pittore e architetto“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 1, S. 302–373, hier S. 360: „Si occupava egli in legger libri, ed avendo erudito l’ingegno, egli stesso era l’autore de’ soggetti delle sue invenzioni, le quali investigava con grandissima cura [...]. Dal suo genio era egli tirato all’azzione dell’istoria, ritrovandola nuda la vestiva, e nella proprietà cercava il piú difficile dell’espressione, ed esprimeva sino all’anima ed alla mente; nelle quali virtú dopo Rafaelle fu egli al suo tempo senza eguale.“ 19 | Bellori, Giovan Pietro: „Vita di Giovanni Lanfranco parmeggiano, pittore“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 2, S. 375–396, hier S. 394: „La sua maniera ritiene li principii e l’educazione della scuola de’ Carracci, e prevale nell’idea e disposizione del Correggio, non però con modo sí fornito e sfumato, ma risoluto di pratica. [...] Nel disegnare riconosceva il naturale con pochi segni di carbone e gesso, concepiva facilmente e subito ne formava il suo pensiero in uno schizzo [...]. Non si trattenne nella correzzione e nell’espressione de gli affetti, ma riuscí nella commodulazione e facilità [...].“ 20 | Bellori: „Al lettore“, in: Bellori/Oy-Marra 2018, S. 40: „Et in vero, come dice Plutarco, le cose non porgono utilità alcuna a coloro li quali leggono, ogni volta che essi non si risveglino ad imitarle, né si muovino a desiderare di saperle fare.“ Besonders Montanari erwähnt Belloris Wertschätzung des Verhältnisses zwischen den Meistern und deren Schülern. Montanari 2005/2009, S. 25–26. 21 | Elisabeth Oy-Marra schließt nicht aus, dass Bellori die vor der idea-Rede verfassten Viten möglicherweise nachträglich in bestimmten Partien den Aussagen der Rede angepasst habe. Oy-Marra: „Giovan Pietro Belloris Idea“, in: Bellori/Oy-Marra 2018, S. 182–184. Previtali und nach ihm zuletzt Valeska von Rosen (für die Vita Caravaggios) haben einige Inkongruenzen aufgetan, die einen nachträglichen Überarbeitungsprozess vermuten lassen. Previtali 1976, S. XLII–XLIV; Von Rosen 2016, S. 163–192; Rosen, Valeska von: „Wahrheit der Schöpfung und Neuheit in der Malerei. Bellori schreibt über Caravaggios ‚kunstlose Kunst‘“, in: Valeska von Rosen (Hg.), Giovan Pietro Bellori. Vita di Michelangelo Merigi da Caravaggio, Pittore/ Das Leben des Michelangelo Merisi da Caravaggio, Göttingen 2018, S. 81–115, hier S. 112–115. Eine solche Überarbeitung ist zwar aufgrund des Mangels an Manuskripten heute schwer zu rekonstruieren. Die beiden Schriften (Rede und Viten) vollkommen separat voneinander zu betrachten, erscheint jedoch aufgrund der ursprünglichen gemeinsamen Edition und vor

Das Problem einer klassizistischen Kunsttheorie allem der hier aufgestellten engen Bezüge zwischen der idea-Konzeption als Leitprinzip für künstlerischen Erfolg und dem Entwicklungsmodell der Kunst nach Vasaris drittem Zeitalter abwegig. 22 | Bellori: „Al lettore“, in: Bellori/Oy-Marra 2018, S. 38: „Ma alla scoltura manca sinora lo scultore, per non essersi questa inalzata al pari della pittura sua compagna, e restando privi li marmi dell’istoria, vantandosi solo di alcune poche statue, o siano di Michel Angelo, all’antiche inferiori.“ Zum Zeitpunkt der Druckfreigabe lag noch nicht der von Frank Martin kommentierte und mit einem Essay versehene sowie von Regina Deckers überarbeitete 7. Band zu Duquesnoys und Algardis Vita im Rahmen des deutschen Bellori-Editionsprojekts unter der Leitung von Elisabeth Oy-Marra vor. Zu Belloris Skulpturenkritik hat Frank Martin bereits 2013 einen wichtigen Beitrag veröffentlicht. Martin, Frank: „Bellori sulla scultura del suo tempo. Argomentazione e terminologia al servizio della normatività“, in: Leonarda Di Cosmo/Lorenzo Fatticioni (Hg.), Le componenti del Classicismo secentesco: lo statuto della scultura antica, Akten des internationalen Kongresses Pisa 2011, Rom 2013, S. 169–189; vgl. zu Belloris Skulpturkritik ebenso Boudon-Machuel, Marion: François du Quesnoy 1587–1643, Paris 2005, S. 177–179; grundlegend auch Lingo, Estelle: „Putting a Finger on It: Bellori and Sculpture Criticism“, in: Elisabeth Oy-Marra/Marieke von Bernstorff/Henry Keazor (Hg.), Begrifflichkeit, Konzepte, Definitionen. Schreiben über Kunst und ihre Medien von Giovan Pietro Belloris Viten und der Kunstliteratur der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2014, S. 173–186. Besonders Frank Martin und Estelle Lingo skizzieren den bereits vollzogenen Wandel der Wertigkeit von Skulptur in Theorie und Praxis zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert. Für die Seicento-Skulptur bieten sie damit wichtige Ansätze im Rahmen der hier geforderten Skulpturtheorie der Neuzeit. 23 | Bellori, Giovan Pietro: „Vita di Alessandro Algardi bolognese, sculptore e architetto“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 2, 397–418, hier S. 399: „Benché la scoltura fino a questo tempo sia molto indietro a gl’antichi nel poco numero delle statue moderne che meritino fama, non essendo essa pervenuta alla perfezzione del pennello, né avendoci fatto vedere lo scultore come la pittura il pittore ci ha dimostrato, con tuttociò all’età nostra si rinvigorí e ripigliò le forze con lo studio di due chiarissimi artefici, Francesco Fiammingo ed Alessandro Algardi, la cui vita siamo ora per iscrivere, nelle cui mani fu restituito lo spirito a i marmi.“ 24 | Grundlegend zur Gestaltung der Vierung siehe Lavin, Irving: Bernini and the Crossing of Saint Peter’s, New York 1968; sowie davor Pollak, Oskar: Die Kunsttätigkeit unter Urban VIII., 2 Bde., Bd. 2: Die Peterskirche in Rom (1931), Hildesheim u. a. 1981. 25 | Pollak 1931/1981, Regest 1623, 1624; Lavin 1968, S. 20. Jennifer Montagu weist in ihrer Rezension auf die wichtige Rekonstruktion des Entwurfsprozederes durch Lavin für das Verständnis der Statue hin. Montagu, Jennifer: „Rezension von Irving Lavin, ,Bernini and the Crossing of St. Peter’s [...]‘ und Heinrich Thelen ,Zur Entstehungsgeschichte der Hochaltararchitektur von St. Peter in Rom [...]‘, in: The Art Quarterly 34/4.1971, S. 490–492, hier S. 491.

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Wiebke Windorf 26 | Pollak 1931/1981, Regest 1639–1645; Lavin 1968, S. 20. 27 | Auftrag vom 10. Dezember 1629 (Pollak 1931/1981, Regest 1645 und 117); Lavin 1968, S. 21. 28 | Huse, Norbert: „Zur ‚S. Susanna‘ des Duquesnoy“, in: Argo. Festschrift für Kurt Badt zu seinem 80. Geburtstag am 3. März 1970, Köln 1970, S. 324–335, hier S. 327. 29 | Fransolet, Mariette: „Le S. André de François Duquesnoy à la Basilique de S. Pierre au Vatican“, in: Bulletin de l’Institut Historique Belge de Rome 13.1933, S. 227–290, hier S. 264: „La composition est marquée au coin du tact, de l’équilibre, du bon goût, de la juste mesure. A ces qualités, se reconnaît l’esprit classique.“ 30 | Wittkower 1958/1982, S. 275: „[...] and this monumental statue lacks the convincing oneness which in those very years he was able to give to his St Susanna.“ Passeri, Giovanni Battista: „Vita di Francesco Fiammengo, scultore“, in: Jacob Hess (Hg.), Die Künstlerbiographien von Giovanni Battista Passeri, Leipzig u. a. 1934, S. 102–116, hier S. 116: „L’Opera è bella, e non si può negare; ma, o sia per la grandezza, o per altra cagione, non è di quel sapore di tutte le altre cose sue, perche, a giudizio delli più intendenti, non ha in se una singolarità mirabile nel maneggio del marmo, nel motivo della elezione del partito, e nella esquesitezza delle parti per loro medesime.“ 31 | Mahon 1962, S. 71–72: „In fact, the Sant’Andrea, while remaining an extremely distinguished piece of work, has to be regarded as a baroque statue manqué, soon to be surpassed by the St. Longinus, rather than as an archetype of a new, ‚purist,‘ classicism.“ 32 | Spagnolo, Maddalena: „St Andrew“, in: Antonio Pinelli (Hg.), La Basilica di San Pietro – The Basilica of St. Peter’s in the Vatican, 4 Bde., Modena 2000, Bd. 1,2: Notes, S. 768–770, hier S. 769: „In a sense the Sant’Andrea represents a compromise between the classicising and meditative style typical for Duquesnoy and the contemporaneous influence of the baroque propounded by Bernini [...].“ 33 | Boudon-Machuel 2005, S. 190–191. 34 | Bereits Giovanni Previtali weist auf diese für Bellori elementare formale Kategorie der Gewandung für seine Kunstkritik hin. Marion Boudon-Machuel und Estelle Lingo führen dies in Bezug auf die Skulptur noch intensiver aus. Previtali 1976, S. LVIII–LIX; Boudon-Machuel 2005, 114–119; Lingo 2014, S. 176–185. Zu Belloris Beschreibung siehe auch Bätschmann, Oskar: „Giovan Pietro Belloris Bildbeschreibungen“, in: Gottfried Boehm/Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 279–311. 35 | Bellori, Giovan Pietro: „Vita di Francesco di Quesnoy fiammingo da Bruselles, sculptore“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 1, S. 285–302, hier S. 293: „E tale à l’industria che, imitando un panno lano non grave, anzi arrendevole e leggiero, esplica sotto le membra; e le pieghe sono a tempo e con grata corrispondenza ordinate sopra l’ignudo, seguitando la disposizione del corpo in modo elegante.“

Das Problem einer klassizistischen Kunsttheorie 36 | Bellori: „Vita di Francesco di Quesnoy“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 1, S. 291: „[...] facendosi avanti al pari de’ megliori antichi in uno stile tutto gentile e delicato, non essendovi fin ora chi l’agguagli con opera di scarpello.“ 37 | Bellori: „Vita di Francesco di Quesnoy“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 1, S. 293: „[...] l’attitudine sua è tutta aperta e magnifica, mentre il braccio destro si solleva al tronco della croce e si stende il sinistro.“ 38 | Bellori: „Vita di Francesco di Quesnoy“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 1, S. 293: „[...] il Santo nel rimirare il cielo volge la testa dal lato destro e piega soavemente il petto a sinistra con azzione quieta e riposata. Siché nell’arretrare alquanto la spalla fra l’uno e l’altro tronco della croce [...].“ 39 | Bellori: „Vita di Francesco di Quesnoy“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 1, S. 293: „[...] espone il petto formato di parti robuste in qualità di pescatore affaticato e forte, ma però estenuato da gli anni, espressa nella carne l’ossatura ed i muscoli con risentimenti moderati.“ 40 | Bellori: „Vita di Francesco di Quesnoy“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 1, S. 292–293: „Sta il Santo Apostolo con la testa elevata in atto di rimirare il cielo: dietro le spalle si attraversa la croce decussata in due tronchi, ed abbracchiandone uno con la mano destra distende aperta la sinistra in espressione di affetto e di amore divino nella gloria del suo martirio. [...] L’istessa disposizione serba ancora il volto alquanto dimagrato, ampia e calva la fronte, la barba inculta ed aperte le labbra nell’affetto divino.“ Die deutsche Übersetzung ist unter Anpassung an die neue Rechtschreibung von Norbert Huse übernommen. Huse 1970, S. 328. 41 | Bellori: „Vita di Francesco di Quesnoy“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 1, S. 293: „Et operando sola questa figura in luogo sí grande, l’attitudine sua è tutta aperta e magnifica, mentre il braccio destro si solleva al tronco della croce e si stende il sinistro.“ 42 | Bellori: „Vita di Francesco di Quesnoy“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 1, S. 293: „[...] tantoché alle ordinate contraposizioni e bellezza de’ panni e dell’ignudo l’occhio s’empie d’armoniche proporzioni e si desta alla maraviglia.“ 43 | Huse 1970, S. 329. 44 | Huse 1970, S. 329. 45 | Zu Duquesnoys Auseinandersetzung mit der Antike siehe besonders Lingo 2007; Dempsey, Charles: „Poussin, Duquesnoy, and the Greek Style“, in: Di Cosmo/Fatticioni 2013, S. 159–167. 46 | Pollak 1931/1981, Regest 1623, 1624; Lavin 1968, S. 20. 47 | Auftrag vom 10. Dezember 1629 (Pollak 1931/1981, Regest 1645 und 117); Lavin 1968, S. 21. 48 | Mariette Fransolet weist auf den dekorativen Charakter der Statue hin und stellt dabei den Bezug zur Nische her. Fransolet 1933, S. 263. 49 | Giubbini, Guido (Hg.): Luigi Scaramuccia. Le finezze de’ pennelli italiani ammirate e studiate da Girupeno sotto la scorta e disciplina del Genio di Raffaello d’Urbino (1674), Mailand 1965, S. 17: „[...] poiche quando vno entra in San Pietro, ancorche resti lontano dalla Statua,

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Wiebke Windorf nondimeno la gode, e poi sempre più di mano in mano che vi s’auuicina, il che non auuerebbe, se di maniera grande non fosse.“ 50 | Irving Lavin diskutiert die diversen Konzeptionswechsel bei der Reliquienverteilung in den Kuppelpfeilernischen von 1606 bis 1638. Lavin 1968, S. 24–27. 51 | Dargestellt werden sollte der Augenblick in den apokryphen Akten des Apostelmärtyrers, in dem der Hl. Andreas auf dem Weg zu seiner Richtstätte das für seinen Tod bestimmte Kreuz erblickt und es freudig begrüßt. Voragine, Jacobus de: „De sancto Andrea apostolo/ Der heilige Apostel Andreas“, in: Rainer Nickel (Hg.), Jacobus de Voragine. Legenda aurea. Lateinisch/Deutsch (1988), Stuttgart 2005, S. 6–35, hier S. 23: „,Sei gegrüßt, mein Kreuz [...]. Also komme ich frei von Angst und voll Freude zu Dir [...]: Denn ich habe dich immer geliebt und mich danach gesehnt, dich zu umarmen.‘“ 52 | Huse 1970, S. 329. 53 | Rubens, Pietro Paolo: „Al sig. Francesco di Quesnoy“, in: Bellori/Borea 2009, Bd. 1, S. 302: „Sento sin di qua le lodi della statua di Santo Andrea discoperta in questo tempo, ed io in particolare ed in universale con tutta la nostra nazione ce ne rallegriamo con lei, partecipando insieme della sua fama.“ Sowie Scaramuccia/Giubbini 1965, S. 16–17: „[...] ma il S. Andrea di Francesco Fiamengo parermi essere la migliore, sì per lo decoro dell’ attitudine, sì per il maneggio del Marmo, come per la gran maniera del disegno.“ Peltzer, Arthur Rudolf (Hg.): Joachim von Sandrarts Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste von 1675. Leben der berühmten Maler, Bildhauer und Baumeister, München 1925, S. 233: „[...] auf daß gedachter Papst Urbanus selbigen [den Hl. Andreas; W. W.] nach Verlangen zum ersten besichtigen konte, der ihne auch so treflich vergnügt, daß er sich über die köstliche Invention, schöne Gestalt, Proportion und Maaß, Ordnung, Kleidung, nackenden Leib und verwunderlicher Natürlichkeit zum höchsten erfreuet. Besonders, weil er dieses Heiligen gen Himmel sehendes Angesicht sehr anmutig, andächtig und natürlich befunden, wordurch dann sein Gegenpart erleget, und dieses sein Werk vor allen andern so wol Modernen als auch Antichen Statuen erhoben und gepriesen worden.“ Vgl. auch Winckelmann, Johann Joachim: Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte in derselben [...], Dresden 1763, S. 12: „Die schönsten Figuren neuerer Bildhauer neben diesen, sind der heil. Andreas von Fiamingo [...].“ 54 | Ann Sutherland Harris’ Darstellung der Konsequenzen einer in solch dualistischen Kategorien argumentierenden Kunstgeschichte kann schließlich auch in Anlehnung an den hier anfänglich formulierten Appell gelesen werden, das Kunstwerk als Ausgangspunkt eines Erkenntnisprozesses zu verstehen. Harris 1977, 29: „Another consequence of this practice is that scholars and critics, blinded by the stereotypes suggested by the two terms, overlook or minimize those qualities in a particular work that do not fit the stereotype while overemphasizing those that do.“

Tiere sehen dich an Berninis Vierströmebrunnen als Provokation Martin Raspe Tiere in der Kunst, die uns anschauen, sollen unsere Reaktion provozieren. Das gilt nicht erst seit John Heartfields beißender Fotomontage, der ich den Titel meines Beitrags entlehne.1 Was man dem Mitmenschen nicht ins Gesicht sagen mag, stellt man ihm durch das Tier vor Augen – vor allem, wenn er Gefahr läuft, zu vertieren oder gar zu pervertieren.2 Kein Werk Berninis ist üppiger von Tieren bevölkert als die Fontana dei Quattro Fiumi auf der Piazza Navona (Abb. 1, 2). Die Hauptbestandteile des Brunnens, der Obelisk und die vier marmornen Kolossalfiguren, entfalten ihre Wirkung von fern, die Tiere aber entzücken den Betrachter, der das Wasserbecken umrundet und das felsige Gebilde in der Mitte aus der Nähe in Augenschein nimmt: Pferd und Löwe treten ihm auf Augenhöhe entgegen, ein Drache und ein Gürteltier scheinen sich dem Fels entwinden zu wollen, eine Schlange krümmt sich am Fuß des Obelisken, Seegetier regt sich im Wasserbecken. Bei der Interpretation ist die kunsthistorische Forschung stets von dem Obelisk und den vier Strömen ausgegangen und hat den Tieren nur eine begleitende, illustrierende Funktion zuerkannt.3 Sie werden der Gesamtdeutung untergeordnet, die meist zeitlose, globale Aspekte hervorhebt. So interpretierte Norbert Huse den Brunnen als Verbildlichung einer philosophischen Naturordnung, die höher ist als die Macht des Papsttums;4 Rudolf Preimesberger verstand ihn als Inbegriff der Gloria und panegyrische Huldigung an Innozenz X., bei der die Tiere Teilaspekte zum Ausdruck bringen;5 Frank Fehrenbach schließlich vermutete in den figürlichen Elementen Anspielungen an Ovids Schilderung der katastrophalen Himmelstour des Phaeton und sah in dem Monument ein universelles, auf das Ende des Dreißigjährigen Krieges gemünztes Friedenssymbol.6

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Abbildung 1: Rom, Vierströmebrunnen, Ansicht von Osten

Fotografie: Martin Raspe

Ich möchte einen anderen Weg beschreiten. Wenn im Folgenden Berninis Tiere im Mittelpunkt stehen, dann nicht in erster Linie, weil die Forschung sie nur am Rande behandelt hat, sondern weil es starke Argumente dafür gibt, in ihnen zentrale Bedeutungsträger zu sehen. Eine genauere Analyse der figuralen Komposition, die bis jetzt fehlte, erweist ihre führende Rolle; zudem berichten die Quellen, dass Bernini den Löwen und das Pferd eigenhändig meißelte, und zwar aus Travertin, wohingegen er die Anfertigung der kolossalen Marmorfiguren der vier Ströme seinen Mitarbeitern überließ.7 Der Grund dafür ist nicht überliefert – vielleicht wollte der Künstler demonstrieren, dass Meisterschaft und Originalität in der Gestaltung höher zu bewerten sind als das Prestige der Aufgabe und die Kostbarkeit des Materials. Ex ungue leonem – an der Spur seiner Pranke erkennt man den Löwen. Üblicherweise gehörten Tierdarstellungen einem niederen Genre an. Warum inszenierte Bernini sie hier so prominent? Waren die Gründe rein künstlerischer Natur? Oder birgt das skulpturale Ensemble eine verhüllte, nicht offenkundige Botschaft? Bisher gibt es dafür noch keine überzeugende Erklärung. Offenbar reichen die vorhandenen Schriftzeugnisse und Archivdokumente nicht aus, um zu

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Abbildung 2: Rom, Vierströmebrunnen, Ansicht von Westen

Fotografie: Martin Raspe

verstehen, was Bernini durch die Tiere mitteilen wollte. Darum soll hier zuallererst die Primärquelle schlechthin, das Kunstwerk selbst, auf seine anschauliche Evidenz hin befragt werden. Vergleiche mit möglichst naheliegenden Werken und Quellen sollen helfen, die Besonderheiten der Gestaltung herauszuarbeiten und Anhaltspunkte für die Deutung zu gewinnen.

Das

globale

O val

Doch bevor die Tiere zur Sprache kommen, müssen wichtige formale Besonderheiten des Brunnens hervorgehoben werden, die in der Forschung kaum beachtet worden sind. Ein grundlegendes Merkmal des Beckens und der umgebenden Pflasterung entgeht den meisten Betrachtern zu ebener Erde: Beide sind nicht kreisförmig, sondern haben eine ovale Grundrissfigur.8 Von oben gesehen ist die Ovalform jedoch leicht zu erkennen (Abb. 3). Der dafür notwendige erhöhte Standpunkt ist durchaus nicht ungewöhnlich: Von der Galerie im Palazzo Pamphili aus,

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Abbildung 3: Rom, Vierströmebrunnen, Ansicht von der Terrasse von Sant’Agnese aus

Fotografie: Martin Raspe

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Abbildung 4: Caprarola, Sala del Mappamondo, Weltkarte, Fresko 1573–74

Fotografie: Martin Raspe

später auch von der Aussichtsterrasse auf der Residenzkirche Sant’Agnese, konnte die Familie des Papstes das quergelagerte Oval des Brunnens bequem als Ganzes überblicken.9 Die Ovalform, deren geometrische Konstruktion hier nicht näher untersucht werden soll,10 hat nicht nur gestalterische Konsequenzen, sondern bringt den Brunnen mit zwei römischen Traditionen in Verbindung – zum einen mit älteren Brunnenanlagen, zum anderen mit weiteren Bauten Berninis, die querovalen Grundriss haben. Ovale Brunnenbecken in Rom haben in der monumentalen Naumachie des Kaisers Domitian in Trastevere ihren Ahnherrn11 und waren vor allem in der Barockzeit beliebt. Für die große, von Domenico Fontana für Sixtus V. angelegte Peschiera in der Villa Montalto hatte Bernini 1623 die Statue des Neptun geschaffen.12 Auch an der sogenannten Barcaccia seines Vaters auf der Piazza di Spagna hat er mitgearbeitet.13 Darüber hinaus errichtete Bernini selbst mehrere Bauwerke über querovalem Grundriss: die erste Kapelle des Collegio di Propaganda Fide14, die Noviziatskirche der Jesuiten Sant’Andrea auf dem Quirinal15 und die Kolonnaden des Petersplatzes16. In allen drei Fällen wählte er das Oval unter anderem deshalb, weil es die weltumspannende Rolle des Christentums und der päpstlichen Mission zum Ausdruck bringt.17 Seit dem 16. Jahrhundert ist das Queroval die vorherrschende Konvention zur grafischen Darstellung des gesamten Erdglobus in der Fläche.18 Sie kommt um 1500 auf und wird bis heute angewendet, um Ganzheit und Rundung

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der Erdkugel zu verdeutlichen. Ein monumentales Beispiel dafür ist das Fresko in der Sala del Mappamondo im Palast von Caprarola, das von Personifikationen der vier Erdteile umgeben ist (Abb. 4).19 Ähnlich wie die Weltkarten der frühen Neuzeit zeigt der Brunnen – von oben gesehen – eine in vier Segmente aufgeteilte, vom großen Oval des Ozeans umflossene Landmasse.20 Allein durch die Form verdeutlicht Bernini, dass sein Brunnen in römischer Tradition steht und zugleich die Welt bedeutet.

Von Felsen

und

R iesen

Inmitten des Meeres steht ein Fels (scoglio). Darüber erhebt sich der Obelisk, auf dem die Taube mit dem Ölzweig sitzt. In dieser Konstellation dürfte der spirituelle Grundgedanke des Brunnens liegen: Der aus dem Weltmeer aufragende Fels verkörpert die Erde, die trocken aus den Wassermassen der Sintflut aufsteigt und sich von neuem mit Leben bevölkert.21 Der Fels setzt sich aus vier annähernd im Rechteck angeordneten Travertinpfeilern zusammen, die gemeinsam den Obelisken tragen. Infolgedessen erhebt sich dieser über einem Hohlraum, sozusagen in falso.22 Eine ähnliche Struktur aus vier Stützen, die eine große Last tragen muss, aber durch ihre Durchbrechung Leichtigkeit suggeriert, hatte Bernini zuvor am Tritonsbrunnen verwendet, und zwar in Gestalt von vier Delfinen, deren Schwänze die weit ausladende Muschel mit dem Triton stützen.23 Fehrenbach zufolge ist die Konstruktion durch den Ianus Quadrifrons angeregt;24 näher liegen meines Erachtens die technischen Erfahrungen, die Bernini gemeinsam mit Borromini an der Bekrönung des Baldachins in Sankt Peter gemacht hatte.25 Der Betrachter soll in den Felsmassiven die vier damals bekannten Erdteile erkennen: Jeder Kontinent ist durch seinen Hauptstrom in Gestalt einer überlebensgroßen, männlichen Marmorfigur vertreten.26 Allerdings bricht Bernini mit der klassischen Konvention: Seinen Flussgestalten fehlt jene majestätische Gelassenheit, die ihre prominenten antiken Vorfahren auszeichnet, etwa den Marforio auf dem Kapitol und den vatikanischen Nil. Frontalansichtig konzipiert und von gleichmütigem Gesichtsausdruck, veranlassen sie das Publikum kaum dazu, ihren bequem gelagerten Leib aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Die nackten Kolosse des Brunnens hingegen erscheinen stark bewegt, so als ob sie aus dem Gleichgewicht geraten seien. Jeder von ihnen hebt das gewinkelte linke Bein an, während der rechte Fuß auf dem Fels ruht oder herabhängt. Die Oberkörper sind

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zurückgeneigt und gegenüber der Hüfte verdreht, Arme und Hände vollführen vehemente, dramatische Gebärden. Durch sie gewinnt der Brunnen – im Zusammenspiel mit der Fülle der Wasserfluten – Lebendigkeit und eine reiche, dekorative Silhouettenwirkung. Zwar verbinden die ausgreifenden Bewegungsmotive die vier Ströme mit den vier – ebenfalls nackten – Jünglingen an der Fontana delle Tartarughe, dem einzigen Figurenensemble an einem älteren römischen Brunnen.27 Es fehlt ihnen jedoch sowohl die manieristische Eleganz der Figuren Landinis als auch die in sich gekehrte gravitas der vier Tageszeiten in Michelangelos Medicikapelle, die bisweilen als Vorbilder genannt werden. Es ist kaum zu übersehen, dass die von Bernini entworfenen Riesenfiguren im Vergleich dazu eine gewisse burleske Tollpatschigkeit an den Tag legen. Sind die ungeschlachten, scheinbar in Aufruhr geratenen Gesellen überhaupt ernst zu nehmen? Dagegen spricht vielleicht die Beobachtung, dass keiner der vier personifizierten Ströme sich dem Betrachter öffnet oder ihn gar anblickt. Obwohl sie die Hauptfiguren sind, wenden sie – bis auf den mit leerem Ausdruck in die Ferne stierenden Ganges – ihre Köpfe ab und kehren dem Publikum die Flanke oder gar den Rücken zu. Die Schmalseiten des Brunnens zeigen kaum mehr als die Rückansichten zweier Hünen, die den Hinterleib eines Tieres umrahmen, was aber Touristen nicht davon abhält, sich vor dieser ungalanten Kulisse ablichten zu lassen.28 Es verwundert auch nicht, dass Bernini die Ausführung seinen Gehilfen überlassen hat. Das gesamte Ensemble der Figuren zeugt von einer unverhohlenen Respektlosigkeit, die der Forschung bisher entgangen zu sein scheint. Kompositionell fügen sich die Figuren nicht zu Paaren. Sie bilden zwar Gegengewichte, aber keine befriedigende Einheit.29 Benachbarte Figuren korrespondieren nicht miteinander. Stattdessen scheinen strukturelle Bezüge in Diagonalrichtung eine größere Rolle zu spielen. So ist die Ponderation der Riesen überkreuz ähnlich. In ihrer Haltung folgen Rio della Plata und Ganges dem Prinzip des Kontrapost: Arme und Beine sind im Gegensinn aktiv beziehungsweise entlastet. Nil und Donau zeigen hingegen einen deutlichen Parallelismus zwischen den Gliedmaßen der gleichen Körperhälfte. Auch die Körper der beiden wichtigsten Tiere, Löwe und Pferd, gehören zu einander diagonal gegenüberstehenden Felspfeilern und sind schräggestellt. Besonders auffällig ist die Diagonalstellung bei der Pamphili-Taube auf dem Obelisken. Sie wendet sich vom Familienpalast ab, was man ebenfalls respektlos finden könnte, wenn nicht Preimesberger eine ingeniöse Erklärung dafür gefunden hätte.30 Bisher nicht beachtet wurde, dass schon der Obelisk die Betonung der

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Diagonalen vorgibt. An der Spitze jedes der vier Hieroglyphenstreifen steht ein Horusfalke, der ungefähr die Größe der Taube hat. Je zwei der Falken wenden sich einer Kante zu und blicken dadurch einander an. Indem die Taube zwischen ihnen über Eck gestellt ist, bilden die drei Vögel eine Gruppe, die in annähernd gleiche Richtung schaut. Das wirkt lebendiger und ästhetisch befriedigender, als wenn die Taube an einer der Hauptachsen von Obelisk und Brunnen ausgerichtet wäre.

A nsichtssache Betrachtet man nur die kolossalen Marmorfiguren mit ihren Diagonalbezügen, so könnte man meinen, Bernini habe das Brunnenmonument mit Absicht so angelegt, dass es dem Auge immer wieder neue, verblüffende Anblicke bietet und dadurch aus jeder Perspektive gleichermaßen überzeugt. In der Tat hat die Forschung den Brunnen grosso modo als homogenes Rundgebilde angesehen, das vor allem im Umschreiten wahrgenommen werden will.31 Es ist jedoch gerade die oval gerundete Grundrissfigur, die dem Brunnen eine gänzlich andere Wirkung verleiht: Infolge der unterschiedlichen Ausdehnung von Längs- und Querachse entstehen zwei breitere und zwei schmalere Ansichtsseiten.32 Es ist nicht zu übersehen, dass der Brunnen zwei Hauptfronten hat – die Westseite, die dem Palazzo Pamphili und der Kirche gegenüber liegt, und die Ostseite, von der aus man Brunnen und Residenz-Ensemble zusammen in den Blick nehmen kann (Abb. 1, 2). Demgegenüber haben die Schmalseiten – auch ikonografisch gesehen – entschieden geringeres Gewicht. Darüber hinaus sind die beiden Hauptansichten vollkommen unterschiedlich gestaltet. Vergleichen wir die beiden Seiten des Felsmassivs: Von Osten schauend erblickt man ein großes Felsentor, unter dem ein erschöpfter Löwe erscheint, der im Begriff ist, sein Haupt ins Wasser zu tunken, um zu trinken. Neben ihm wächst eine Palme mit windbewegter Krone empor, deren schlanker Stamm sich im Obelisk gen Himmel fortzusetzen scheint. Das Ganze ist ein Bild ungestörter Ruhe und Festigkeit; auch die Haltungen der beiden flankierenden Kolosse sind gemäßigt, neben ihnen entspringen Wasserflüsse dem Gestein und ergießen sich ruhig in das Brunnenbecken. Gegenüber verkehrt sich der ruhige Charakter in sein Gegenteil. Aus der Höhle sprengt ein junges Pferd hervor, das irritiert den Kopf zur Seite wirft; über ihm scheint der Fels ins Rutschen gekommen zu sein, mehrere Gesteinsschollen drohen herabzustürzen. Eine Schlange windet sich und reißt erregt das Maul auf, die beiden Riesen scheinen den Halt zu verlieren, die Donau bemüht sich krampfhaft,

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Abbildung 5: Circus Maximus, Kupferstich aus O. Panvinio, De Ludis Circensibus, 1600, Detail

Fotografie: Martin Raspe

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Abbildung 6: Kybele auf dem Löwen, antike Skulptur, Kupferstich aus Villa Pamphilia

Quelle: Bibliotheca Hertziana, Rom, Dv 1700–2700, Taf. 37

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das Papstwappen vor dem Herunterfallen zu retten, das Wasser sprüht in breiten Fächern aus den Felsritzen. Bernini hat alles dafür getan, um den Eindruck zu erzeugen, die gesamte Westseite des Brunnens stehe unmittelbar vor dem Einsturz und werde den Obelisken mit in die Tiefe reißen.33 Um den formalen Kontrast inhaltlich zu verstehen, müssen wir offenbar die beiden Tiere heranziehen, die in der Höhlung unter dem Obelisken erscheinen: den Löwen und das Pferd. Die Tradition, der die Forschung meist folgt, sieht in dem Pferd das Attribut Europas und ordnet den Löwen dem Nil und dem Kontinent Afrika zu.34 Die Tiere sind zwar materiell aus den Travertinmassiven herausgemeißelt, auf denen diese Ströme liegen, anschaulich jedoch bildet jedes die Mittelfigur einer Hauptansichtsseite. Paradoxerweise ist es der wilde Löwe, der zahm und geduldig wirkt, wohingegen das domestizierte Pferd ungestüm aus dem Gestein hervorbricht. Offensichtlich stehen die beiden Tiere ebenfalls im Kontrast zueinander; sie kurzerhand als gut und böse zu charakterisieren, greift allerdings zu kurz.35 Warum wählte Bernini gerade diese zwei Tiere? Diese Frage ist in der Forschung bisher nicht überzeugend geklärt worden.36 Das verwundert, denn ein Blick auf den Circus Maximus gibt die Antwort: Den Rekonstruktionen des 16. Jahrhunderts zufolge waren dort zu beiden Seiten des zentralen Obelisken die Skulpturen zweier wichtiger Götter aufgestellt, deren Heiligtümer sich auf der Spina der Rennbahn befanden: das Standbild des Neptun zu Ross und die Figur der Magna Mater (Kybele), die von einem Löwen getragen wird. Künstler und Auftraggeber dürfte diese Tatsache bewusst gewesen sein, denn beide Tiere sind auf dem großen Stich bei Panvinio dargestellt (Abb. 5).37 Zudem befand sich eine antike Kopie der auf dem Löwen reitenden Kybele in der Sammlung der Familie Pamphili (Abb. 6).38 In der Forschung herrscht Übereinstimmung darüber, dass die Versetzung des Obelisken auf die Piazza Navona den langgestreckten Platz einem antiken Zirkus angleichen sollte.39 Nur beim Circus Maximus sind Einzelheiten zur Ausstattung eines Zirkus überliefert; daher diente er allen Rekonstruktionen der frühen Neuzeit als Grundlage. Bisher ist übersehen worden, dass nicht allein der Obelisk auf der Piazza Navona den Bezug zum antiken Zirkus herstellt, sondern dass auch Berninis Tierfiguren in diesen Kontext gehören.40

N utzen

und

S chaden

des

Wassers

Um der inhaltlichen Aussage der beiden gegensätzlich aufgefassten Tiere näherzukommen, ist also ein Abstecher in die Mythologie von Neptun und Kybele notwendig. Sagenwelt und Symbolik der antiken Götter konnten zu Berninis Zeit, praktisch zusammengefasst, in dem Kompendium von Vincenzo Cartari konsultiert werden.41

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Cartari zufolge war das Pferd dem Neptun heilig, der es Vergil und Ovid zufolge durch einen Erdstoß mit dem Dreizack erschaffen und den Menschen geschenkt hatte.42 Dementsprechend wurde zu Beginn von Zirkusspielen dem Neptunus equestris gehuldigt.43 In Hengstgestalt hatte er Ceres, die sich auf der Suche nach ihrer entführten Tochter in eine Stute verwandelt hatte, vergewaltigt und mit ihr das Wunderpferd Arion gezeugt. Vor Zorn über die Schandtat geriet die Göttin außer sich und gebärdete sich als Furie; in einer Höhle versteckt, brachte sie Pest und Hungersnot über die Menschheit.44 Neptun war ein gewalttätiger Gott, der Pferde in Panik versetzt, Erdbeben auslöst und Flutwellen hervorruft.45 Bereits die griechische Philosophie kannte Tsunamis und brachte, Aristoteles zufolge, unterirdische Wassermassen mit der Entstehung von Erdbeben in Verbindung.46 Das ungezügelte, wilde Pferd, monumental vertreten durch die berühmte antike Skulpturengruppe der Rossebändiger auf dem Quirinal, galt in Rom seit dem Mittelalter zudem als Sinnbild des populus und der lokalen baroni, die es zu zähmen und an die Kandare zu nehmen galt.47 Demgegenüber erscheint Berninis Löwe als friedfertiges, durstiges Landwesen, das sich erschöpft auf beide Vorderpranken stellt, um zu trinken. Von seiner Natur her ist der König der Tiere, anders als das Pferd, kein Reittier; trotzdem trägt er im Circus Maximus die Statue der Kybele, der Magna Mater.48 Bei Bernini stützt er mit seinen knochigen Schultern Fels und Obelisk, die schwer auf seinem Rücken lasten.49 In dem Kapitel über Kybele schildert Cartari die Göttin als Personifikation der Erde und assoziiert sie mit anderen Natur- und Fruchtbarkeitsgöttinnen wie Ops, Rhea, Ceres, Vesta, Bona Dea und Proserpina.50 Mehrfach hebt er hervor, wie demütig ihr der Löwe dient. Cartari zufolge symbolisiert die freiwillige Unterordnung des Löwen die Abhängigkeit der weltlichen Fürsten von Land und Natur.51 Die Doppelgesichtigkeit des Brunnens und die unorthodoxe, geradezu antithetische Inszenierung der beiden antiken „Zirkustiere“ fordern den Betrachter heraus, über den tieferen Sinn von Berninis Gestaltungsweise nachzudenken. Das gemeinsame Thema zu erkennen, fällt nicht schwer: In beiden Fällen geht es um den Einfluss des Wassers auf das Land, dargestellt am Wirken zweier Naturkräfte, die durch Neptun und Kybele verkörpert werden. Das ungezügelte, rasende Pferd, das aus seiner Höhle hervorbricht und ein Erdbeben auslöst, das den Fels ins Rutschen bringt und die beiden Flussgiganten aus dem Gleichgewicht bringt, spielt auf die unheilvolle Seite Neptuns an und verbildlicht die zerstörerische Gewalt des Wassers. Der Löwe hingegen repräsentiert seine heilbringende Wirkung, nämlich die nährende, lebensspendende Kraft, ohne die das Reich der Magna Mater, der Erde, verdorren müsste. Auch das Wachstum der Palme wäre ohne Feuchtigkeit fruchtlos. Dass Bernini das Wasser selbst zum Gegenstand des Brunnens macht, und zwar sowohl sinnfällig durch die Fülle sprudelnder Kaskaden als auch allegorisch

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im Figurendekor, kann kaum verwundern. Was aber veranlasste ihn dazu, die negativen Eigenschaften des Wassers so prominent darzustellen und noch dazu im Blickfeld des Familienpalastes? Eine erste Antwort liegt in der Natur der Sache: Wasserkatastrophen waren im Italien des Seicento keine Seltenheit. Erst kürzlich, am 5. April 1646, hatte ein Erdbeben die Stadt Livorno erschüttert, wobei eine Riesenwelle den Hafen überflutete;52 im Dezember 1647 erlebte Rom eine verheerende Tiberüberschwemmung.53 Im gleichen und im folgenden Jahr gab es aufgrund verregneter Sommer Missernten und Hungersnöte.54 Papst und Stadtregierung oblag die Verantwortung, die Opfer zu versorgen und verbessernde Maßnahmen zu treffen55 – nicht zuletzt durch frisches, sauberes Trinkwasser.

S onnenzeiger

und

L unarium

Bernini vertiefte die Dichotomie des Brunnens durch ein weiteres Gegensatzpaar, von dem bisher nur die eine Seite gesehen wurde. In der Antike standen die Zirkusspiele kultisch unter dem Präsidium von Sonne und Mond.56 Das Wagenrennen rund um die Spina galt als Gleichnis des Kreislaufs der Himmelsgestirne: Die quadrigae verkörperten dabei den Sonnenwagen, die bigae den des Mondes.57 Die aus Ägypten nach Rom geholten Obelisken wurden in den Hippodromen aufgestellt, denn sie waren der Sonne geweiht. Auch zu Berninis Zeit war bekannt, dass der Obelisk als digitus solis einen auf die Welt herunterscheinenden, materialisierten Lichtstrahl repräsentiert. Sein wandernder Schatten lässt den Tageslauf der Sonne sinnfällig werden. In dieser Hinsicht entspricht der von Innozenz X. auf die Piazza Navona verbrachte Obelisk auch demjenigen, den Augustus nicht in einem Zirkus, sondern auf dem Marsfeld unweit der Ara Pacis und seines Mausoleums hatte aufstellen lassen. Plinius zufolge diente er als Sonnenzeiger, an dessen Schatten man mit Hilfe von Markierungen im Pflaster die Tageslänge ablesen konnte.58 Vielleicht wollte Bernini an diese astronomische Funktion erinnern, indem er das Brunnenbecken mit einem ringförmigen Pflasterstreifen umgab, der durch viereckige Felder unterteilt ist. Beim Blick von erhöhter Position, etwa vom Belvedere des Palazzo Pamphili aus, ähnelt der Ring dem Zifferblatt einer Uhr. Allerdings verkörpert der Pflasterring offenbar nicht die Anzahl der Stunden eines Tages, er ist vielmehr in 28 Abschnitte geteilt.59 Die gleiche Zahl findet sich an einem anderen antiken Bauwerk wieder, das in vergleichbarer Weise den Kreislauf der Sonne thematisiert – dem Pantheon, dessen Kuppel an der Innenseite ringförmig mit je 28 ebenfalls viereckigen Kassetten dekoriert ist. Vermutlich ist in beiden Fällen die Anzahl der Tage gemeint, die der Mond braucht, um einmal das Himmelsgewölbe zu umlaufen – ein Monat.60 Auch

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im Mondschein wandert der Schatten des Obelisken um den Platz und zeigt das Fortschreiten der Zeit an. Es ist mithin nicht auszuschließen, dass Bernini durch die Markierungen im Pflaster auf die überlieferte Präsenz des Mondes in römischen Zirkusanlagen und auf seine Rolle in der Zeitrechnung anspielen wollte.61 Zwanglos fügt sich der Mond in den concetto von den zwei Gesichtern des Wassers: Seit alters wird der Erdtrabant mit dem feuchten Element assoziiert, vor allem, weil er Ebbe und Flut regiert.62 Die Kenntnis der Mondphasen diente nicht nur der Gezeitenberechnung, sie war für alle Bereiche des Lebens wichtig, vor allem in der Landwirtschaft. Zu diesem Zweck gab es in der frühen Neuzeit Mondkalender, sogenannte Lunarien. Darin wurden auch Erdbeben und andere Unglücke prophezeit, die man mit dem negativen Einfluss des Mondes in Verbindung brachte.63 Man könnte also die beiden gegensätzlichen Hauptansichten des Brunnens als Sonnen- und Mondseite ansprechen. Auch die beiden Tiere fügen sich in die gegensätzliche Charakteristik der Gestirne und ihres Zeitmaßes: Der friedliche Löwe entspricht der Sonne,64 die im Laufe eines Jahres stetig die Himmelskugel umrundet, das rasche, nervöse Pferd dem wechselhaften Mond, der für den gleichen Weg nur einen Monat braucht. Vielleicht stehen Löwe und Pferd darüber hinaus für einen weiteren grundlegenden Dualismus der Natur, der sich auch in sol und luna ausdrückt: das männliche und das weibliche Prinzip. Allerdings ist nicht klar zu erkennen, ob mit dem Pferd tatsächlich eine Stute gemeint ist.65

D er L öwe

als

S elbstbildnis

Unter der allgemeinen, naturkundlich-mythologischen Gewandung verbirgt sich aber noch eine weitere, von der Forschung bisher übersehene Sinnschicht. Auch sie erschließt sich erst, wenn man sich den wahren Protagonisten des Brunnens zuwendet, den von Bernini bei der Ausführung bevorzugten Tieren. Schlüsselfigur ist der Löwe, dessen ausdrucksvoller, fast klagender Blick zu näherer Betrachtung herausfordert (Abb. 7). Es würde sich lohnen, ihm weitere Löwen – von Berninis Hand, aber auch von anderen Bildhauern – zum Vergleich gegenüberzustellen. Das muss hier aus Platzmangel unterbleiben. In jedem Fall erweist sich Berninis Löwe als unvergleichliches Einzelstück. Er ist weit und breit das einzige Exemplar, das nicht vor Kraft strotzt. Der Durst ist ihm anzusehen, sein Körper ist knochig – er leidet. Noch individueller erscheint der Löwe, wenn man sich der artfremden physiognomischen Merkmale seines Antlitzes bewusst wird. In zwei länglichen Zotteln hängt die Mähne beiderseits des Gesichts herab. Dazu kommt der Spitzbart, der das schmale Kinn ziert: Es wirkt, als sei der Löwe nach der Mode des siebzehnten

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Abbildung 7: Rom, Vierströmebrunnen, Kopf des Löwen Abbildung 8: Bernini, Selbstbildnis, 1630/40, Rom, Villa Borghese

Fotografie: Martin Raspe Quelle: Ausstellungskatalog Bernini scultore, Rom: De Luca 1998, S. 231

Jahrhunderts frisiert. Nimmt man die länglich-dreieckigen Gesichtskonturen hinzu, die breite, im oberen Abschnitt leicht geknickte Nase, die kantig vortretenden Wangenknochen und vor allem die kugelförmigen, den Betrachter intensiv, ja stechend anblickenden Pupillen, dann kommt man kaum umhin, festzustellen: Der Löwenkopf trägt die Züge Berninis. Ein Vergleich mit dem bekannten Selbstbildnis in der Villa Borghese (Abb. 8) bestätigt diesen Eindruck unmittelbar.66 Über die Gesichtszüge hinaus ist es der dunkle, durchdringende Blick, der beide Werke verbindet: Er war ein besonderes Kennzeichen des Künstlers.67 Ist diese aus der Anschauung gewonnene Erkenntnis historisch plausibel? Wir wissen, dass Bernini gelegentlich seinen Skulpturen die eigenen Züge verliehen hat. Überliefert ist es vor allem für den David in der Villa Borghese. Bernini studierte sein eigenes Gesicht, um den Ausdruck der Affekte festzuhalten und wiedergeben zu können; angeblich hat ihm sogar Urban VIII. als Kardinal den Spiegel gehalten.68 Bernini war nicht nur ein gesuchter Porträtist,69 sondern darüber hinaus ein Meister der Karikatur, dem es gelang, mit wenigen Strichen einzelne Merkmale so zu übertreiben, dass die gemeinte Person wiedererkennbar war.70 Wenn also Bernini der eigenhändigen, virtuos gemeißelten Figur des Löwen die eigenen Züge verlieh, dann liegt es nahe, nach seinen Beweggründen zu fragen. Enthält der Brunnen womöglich eine persönliche Aussage des Künstlers im Mantel der Tierdarstellung? Eine erste Antwort deutet sich an, wenn man das künstlerische Vorbild für die ungewöhnliche Haltung des Löwen mit den parallel

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Abbildung 9: Chimäre von Arezzo, um 400 v. Chr., Florenz, Museo Archeologico Nazionale

Fotografie: Carole Raddato, Lizenz: cc-by-sa-2.0

ausgestreckten, gespreizten Vorderpranken berücksichtigt – die berühmte, 1553 in Arezzo gefundene etruskische Bronzefigur eines Löwen mit Schlangenschwanz und zusätzlichem Ziegenkopf, die sogenannte Chimäre (Abb. 9). Vasari berichtete darüber, dass die Haltung des Tieres seinen Schmerz ausdrücke, und wertete den Fund als Beleg für die Vorrangstellung der alten Etrusker in der Skulptur.71 Ein Löwe, der Marzocco, war zudem das Wahrzeichen von Florenz, mustergültig gemeißelt von keinem Geringeren als Donatello. Keine andere Tierart hätte sich für den aus Florentiner Familie stammenden Bildhauer Bernini besser geeignet, um die historische Herkunft seines Könnens und zugleich seine künstlerische Überlegenheit zum Ausdruck zu bringen. Für das Motiv des ausgezehrten, leidenden Löwen, der sich anschickt zu trinken, gibt es meines Wissens keine ikonografischen Vorbilder. Es liegt daher nahe, den Grund für diese Gestaltungsweise in Berninis persönlicher Lebenssituation zu sehen, die stets im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte des Brunnens referiert wird. Infolge der statischen Probleme mit den Campanili der Peterskirche war der Künstler bei Innozenz X. in Ungnade gefallen; nur durch die taktische

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Allianz mit Niccolò Ludovisi, der zur rechten Zeit dem Papst das Silbermodell präsentierte, gelang es dem Künstler, den Auftrag für den Brunnen zu erhalten.72 „Achi non vuol porre in opera le sue cose, bisogna non vederle“, soll der Papst resignierend geäußert haben.73 Wer im Löwen die Gesichtszüge Berninis wahrnimmt, der erkennt das Bild des Künstlers, der – ausgedörrt nach Jahren ohne Auftrag – endlich wieder vom Wasser des Papsttums trinken darf.

P rovozierende Tiere Es wäre allzu verlockend, nun auch die anderen Tiere des Brunnens physiognomisch identifizieren zu wollen. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass sich unter ihnen weitere Porträts finden lassen, und wenn doch, dann wären sie ohne verlässliche Referenzbildnisse nur schwer glaubhaft zu machen. Gleichwohl tragen die Tiere ohne Zweifel karikaturhaft überzeichnete, ja humoristische Züge, was dazu Anlass gibt, sie versuchsweise mit dem Löwen in Beziehung zu setzen. Dem trinkenden Löwen Bernini steht das kostbare, lebensspendende Wasser zu – nicht nur als König der Tiere, als primus unter den Künstlern, sondern auch, weil er das gewaltige Werk praktisch allein auf seinem Rücken trägt. Zwar gibt es auch andere Tiere, denen ein Teil der Felslast aufgebürdet ist, nämlich den Drachen und das Gürteltier, aber diese befinden sich in Randpositionen, ihre Anstrengungen sind unerheblich, vielleicht sogar nutzlos. Man mag darin eine Bespöttelung beteiligter Konkurrenten sehen – wie Borromini, der die Wasserzufuhr des Brunnens gelegt hatte, oder Virgilio Spada, in dessen Händen die Finanzierung lag. Ähnlich wird man das fette, gefräßige Untier deuten können, das den Abfluss bildet und das gesamte Wasser schluckt – ein Schmarotzer, der nichts für sein Geld leistet.74 Vielleicht ist es nicht ganz aus der Luft gegriffen, in der Tierwelt des Brunnens eine satirische Metapher für die Verhältnisse an der päpstlichen Kurie zu sehen, wo Intrigen und Nepotismus die Stabilität gefährden, Leistung und Loyalität aber nicht genügend gewürdigt werden.75 Besonders pikant wird eine solche Lesart, wenn man diejenigen Tiere einbezieht, die gefährlich sind oder gar zerstörerische Wirkung entfalten, wie die reizbare Schlange oder das zügellos hervorpreschende Pferd. Beide sind dem Palazzo Pamphili zugewandt, was den Verdacht weckt, es handle sich um einen konkret auf die Familie des Papstes gemünzten Kommentar. Sollte das Pferd tatsächlich als Stute anzusehen sein, dann könnte dies als ironische Warnung vor dem fatalen Einfluss des weiblichen Elements am päpstlichen Hof zu verstehen sein. Die fragwürdige Rolle von Donna Olimpia, der Schwägerin des Papstes „che governò la chiesa“, war Stadtgespräch, und es wäre nicht das erste Mal, dass Bernini sie und

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ihren Sohn Camillo bloßstellte.76 Demgegenüber verbildlicht der Löwe eine dem Papsttum dienende, wahrhaft aristokratische Rolle, die der Künstler für sich selbst in Anspruch nahm, die aber auch dem erst vor kurzem geschaffenen Fürstenhaus der Pamphili angemessen wäre. Anscheinend hat Bernini die bissige Pointierung seiner Tierdarstellungen erst im Laufe der Arbeit vorgenommen.77 Dies kann kaum ohne Wissen und Billigung Innozenz’ X. geschehen sein. Der Papst hat den Brunnen vor seiner Enthüllung genau studiert; er dürfte den von Bernini untergeschobenen Subtext des Brunnens sehr wohl wahrgenommen und verstanden haben.78 Vermutlich teilte er ihn sogar, denn die Schwierigkeiten, die er in seinem Pontifikat mit Neffen und Schwägerin und deren hochfahrenden dynastischen Plänen hatte, führten immer wieder zu heftigen Verwerfungen.79 Man kann den Brunnen also vielleicht auch als Vermächtnis des Papstes an seine allzu weltlich orientierte Familie ansehen, der er im Bild der Tiere die Gefahren ihres kapriziösen Verhaltens subtil, aber dauerhaft und für alle Zukunft vor Augen stellen wollte. Es ist für die öffentlichen Brunnen Roms durchaus charakteristisch, dass sie nur wenig christliche Symbolik zeigen. In der volatilen Gestalt der unschuldigen Pamphili-Taube mit dem Ölzweig, die sich auf der Spitze des Obelisken niedergelassen hat, sich aber von der Familienresidenz abwendet, mag man die Verkörperung des Papstes selbst erblicken, der sich dessen bewusst war, dass seine gelegentliche Anwesenheit auf der Piazza Navona für die Familie kaum Gewicht hatte. Wie wenig Innozenz X. seiner Familie bedeutete, wurde deutlich, als es um seine Bestattung in Sant’Agnese ging: Erst 1729 wurde sein Grabmal über dem inneren Kirchenportal fertiggestellt.80 In seinen späten Lebensjahren hat sich Bernini für sein Werk geschämt. Er zog die Vorhänge seiner Kutsche zu, um den Brunnen nicht sehen zu müssen.81 Der gekränkte Stolz und das Selbstmitleid des Künstlers, die sich im Löwen und in der zur gleichen Zeit entstandenen Veritas ausdrücken, waren auf lange Sicht keine Tugenden, derer sich der cavaliere Bernini öffentlich rühmen mochte.82 Er hatte das decorum des öffentlichen Monuments einer zwar unterhaltsamen, aber allzu persönlichen und zeitbezogenen, theatralischen Satire geopfert.83 Sein mangelndes Vertrauen in die Belastbarkeit des Papsttums, das sich in dem artistisch fingierten Erdbeben äußert, hatte sich als grundlos erwiesen. Ebenso kurzlebig blieben Berninis Vorbehalte der Familie Pamphili gegenüber. Schon bald nach dem Hinscheiden von Donna Olimpia und Don Camillo konsolidierte sich die Dynastie und blieb bis heute ein Fels im Wasserstrudel des römischen Gesellschaftslebens. Fortan sorgte das Mäzenatentum der Pamphili zuverlässig dafür, dass in Rom Kulturlöwen wie Bernini keinen Durst leiden mussten.

Tiere sehen dich an

So verloren die Tiere des Brunnens mit der Zeit ihren Biss. Obelisk und Erdteile boten den Interpreten genügend enigmatisches Potenzial für allegorische Sinnfindung, Berninis Tierleben aber geriet zu einer hübschen Randverzierung.

A nmerkungen 1 | Tucholsky, Kurt: Deutschland, Deutschland über alles, Berlin 1929, S. 63. Die Fotomontage zeigt die Physiognomien verschiedener Militärs; ihr Titel ist übernommen von Eipper, Paul: Tiere sehen dich an, Berlin 1928, einem erfolgreichen Tierbuch mit Fotografien. – Ich danke Felicitas Raspe für ihre Führung zu den Brunnen Roms, Thomas Weigel, der sich als Gratulant anschließt, für Gespräche über säulentragende Löwen, Stephanie Hanke für sachkundigen Rat in Pferdefragen, Christof Thoenes † und Eva Menasse für die Ermutigung, meine Beobachtungen und Überlegungen zu publizieren, und Julia Speerschneider für Hilfe bei der Recherche. 2 | „Lupus homini homo […] per insegnarli l’umanità“. Rosignoli, Carlo Gregorio: Maraviglie di Dio nei suoi santi, Venezia 1705, S. 320. Tierfabeln, Tiergeschichten, Tierszenen haben traditionell didaktischen oder moralisierenden Charakter, von Äsop über den Physiologus zu Reineke Fuchs. 3 | Grundlegend zum Brunnen: Voss, Hermann: „Berninis Fontänen“, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 31.1910, S. 99–129; Kauffmann, Hans: Giovanni Lorenzo Bernini. Die figürlichen Kompositionen, Berlin 1970, S. 174–193; D’Onofrio, Cesare: Le fontane di Roma, 3. Auflage, Roma 1986, S. 395–439; Fagiolo, Marcello: „Piazza Navona e la Fontana dei Fiumi“, in: Marcello Fagiolo/Paolo Portoghesi (Hg.), Roma Barocca. Bernini, Borromini, Pietro da Cortona, Milano 2006, S. 200–207. Zu Zeichnungen, Modellen und dem Entwurfsprozess: Bernardini, Maria Grazia/Fagiolo dell’Arco Maurizio (Hg.): Gian Lorenzo Bernini, Regista del Barocco, Milano 1999, S. 375–81, Kat. 108–117; D’Amelio, Maria Grazia/Marder, Tod A.: „La Fontana dei Quattro Fiumi a Piazza Navona. Iconologia e costruzione“, in: Bernard, Jean-François (Hg.): Piazza Navona, ou Place Navone, la plus belle & la plus grande. Du stade de Domitien à la place moderne, Roma 2014, S. 393–413. 4 | Huse, Norbert: Gianlorenzo Berninis Vierströmebrunnen, München 1967, hier S. 53–54. 5 | Preimesberger, Rudolf: „Obeliscus Pamphilius. Beiträge zu Vorgeschichte und Ikonographie des Vierströmebrunnens auf Piazza Navona“, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 25.1974, S. 77–162, hier S. 145–146. 6 | Fehrenbach, Frank: „Discordia concors. Gianlorenzo Berninis Fontana dei Quattro Fiumi (1648–51) als päpstliches Friedensmonument“, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie, politische Zäsur, kulturelles Umfeld, Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 715–740; Fehrenbach, Frank: Compendia Mundi. Gianlorenzo Berninis Fontana dei

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Martin Raspe Quattro Fiumi (1648–51) und Nicola Salvis Fontana di Trevi (1732–62), München 2008, S. 149–168. 7 | Bernini, Domenico: Vita del Cavalier Gio. Lorenzo Bernino, Rom 1713, S. 89. 8 | Schon Baldinucci, Filippo: Vita del Cavaliere Gio. Lorenzo Bernino, Florenz 1682, S. 32 und nach ihm Cancellieri, Francesco: Il mercato, il lago dell’Acqua Vergine e il Palazzo Pamphiliano nel Circo Agonale detto volgarmente Piazza Navona, Rom 1811, S. 36 sprachen lediglich von einem gran tondo. Zur Ovalform nur: Abbate, Domenica M. T.: „La vasca ovata della Fontana dei Fiumi. Geometria in movimento“, in: Marcello Fagiolo/P. Portoghesi (Hg.), Roma Barocca: Bernini, Borromini, Pietro da Cortona, Mailand 2006, S. 213. 9 | Schon Virgilio Spada hob die Möglichkeit hervor, die Piazza von oben zu betrachten: Güthlein, Klaus: „Quellen aus dem Familienarchiv Spada zum römischen Barock“, 1. Folge, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 18.1979, S. 218 (Dok. 34); Fehrenbach 2008, S. 37, Abb. 27. Der Neubau von Sant’Agnese begann erst 1652; wie weit die Planungen zurückreichen, ist unbekannt; vgl. Raspe, Martin: „Borromini und Sant’Agnese in Piazza Navona. Von der päpstlichen Grablege zur Residenzkirche der Pamphili“, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 31.1996, S. 313–368. 10 | Zum Oval in der barocken Architektur, seiner Konstruktion und Symbolik: Müller, Johann Heinrich: Das regulierte Oval, Bremen 1967; Raspe, Martin: Das Architektursystem Borrominis, München 1994, S. 97–98, 101–102; Tabarrini, Marisa: Borromini e gli Spada, Rom 2008, S. 79–121, hier S. 112–114, Anm. 166. 11 | Panvinio, Onofrio: De ludis circensibus, Venedig 1600, S. 109–112. 12 | Kauffmann 1970, S. 39–43; Quast, Matthias: Die Villa Montalto in Rom. Entstehung und Gestalt im Cinquecento, München 1991, S. 104–106. 13 | Hibbard, Howard: „Bernini’s Barcaccia“, in: The Burlington Magazine, 106.1964, S. 159–171; C. D’Onofrio, Le fontane, S. 356–370; Kessler, Hans-Ulrich: Pietro Bernini (1562–1629), München 2005, S. 405–409, 456–459. 14 | Antonazzi, Giovanni: Il Palazzo di Propaganda, Rom 1979, S. 23–32; Connors, Joseph: „Propaganda Fide“, in: Richard Bösel/Christoph Luitpold Frommel (Hg.): Borromini e l’universo barocco, Mailand 2000, S. 296–315. 15 | Hopkins, Andrew: „Sant’Andrea al Quirinale“, in: Christina Strunck (Hg.), Rom. Meisterwerke der Baukunst von der Antike bis heute, Petersberg 2007, S. 403–408. 16 | Kitao, Timothy Kaori: Circle and Oval in the Square of Saint Peter’s: Design and meaning in Bernini’s plan, New York 1974; Thoenes, Christof: „Atrium, Campus, Piazza. Zur Geschichte des römischen Petersplatzes“, in: Alessandro Nova/Cornelia Jöchner (Hg.), Platz und Territorium, Berlin 2010, S. 65–88. Auf dem Petersplatz wird der Bezug zur Welt zusätzlich durch die in das Pflaster eingelassenen Symbole der Windrose sinnfällig gemacht. 17 | Zur Frage, ob der Missionsgedanke auch im Vierströmebrunnen vertreten ist, vgl. Kauffmann 1970, S. 192.

Tiere sehen dich an 18 | Daneben gibt es die Darstellungsweise mit zwei Kreisen, die den Globus gewissermaßen von zwei Seiten gesehen zeigt. Sie bewahrt den kreisförmigen Querschnitt der Erdkugel, dafür geht die Anschauung der Ganzheit verloren. 19 | D’Amelio/Marder 2014, S. 396 brachten die Struktur mit der kreisförmigen (!) Darstellung des mundus subterraneus bei Athanasius Kircher in Verbindung. 20 | Bernini 1713, S. 88 beginnt seine Beschreibung mit der Bemerkung, dass das Brunnenbecken „un gran Mare“ darstelle. Der russische Seefahrer Semjon Iwanowitsch Deschnjow hatte zwar schon 1648 nachgewiesen, dass Amerika und Asien keine Landverbindung haben, diese Entdeckung wurde aber erst 1736 bekannt. Salentiny, Fernand: DuMonts Enzyklopädie der Seefahrer und Entdecker, Köln 2002, S. 144–145. 21 | Genesis 8. 22 | Baldinucci 1682, S. 33. 23 | Kauffmann 1970, S. 170–174; D’Onofrio 1986, S. 371; zur scheinbaren Gewichtslosigkeit bei Bernini Fehrenbach 2008, S. 43–48. 24 | Fehrenbach 2008, S. 93–96. 25 | Am Baldachin sollten ursprünglich zwei sich kreuzende Halbkreisbögen die Salvatorfigur tragen; diese Konstruktion musste abgeändert werden. Vgl. Kummer, Stefan: „Ein kritischer Moment in der Entstehungsgeschichte des Bronzebaldachins von G. L. Bernini“, in: Stefan Kummer/Georg Satzinger (Hg.), Studien zur Künstlerzeichnung. Festschrift für Klaus Schwager, Stuttgart 1990, S. 188–205. Die Travertinmassive am Brunnen wurden durch Schwalbenschwanz-Verzahnungen gegen das Ausweichen gesichert: Bernini 1713, S. 90. 26 | Die heutige Identifikation folgt zeitgenössischen Beschreibungen, ist aber nicht ganz sicher. Während Nil (NO) und Rio della Plata (NW) anhand ihrer Attribute eindeutig zu bestimmen sind, werden Donau (SW) und Ganges (SO) mitunter vertauscht. 27 | Fehl, Philipp: „Schönheit, Schicklichkeit und Ikonographie: Bemerkungen zur ‚Fontana delle Tartarughe‘ in Rom“, in: Frank Neidhardt Steigerwald (Hg.), Martin Gosebruch zu Ehren, München 1984, S. 126–137; Eser, Thomas: „Der ‚Schildkrötenbrunnen‘ des Taddeo Landini“, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana, 27/28.1991/92, S. 201–282; Morét, Stefan: Der italienische Figurenbrunnen des Cinquecento, Oberhausen 2003, S. 130–132, Kat. Nr. 11, S. 273–281. 28 | Die Schmalseiten fallen den Passanten auch deswegen besonders ins Auge, weil sie auf dem längsgestreckten Platz aus größerer Distanz zu sehen sind. Zudem ist die südliche Schmalseite die am besten beleuchtete Ansicht des Brunnens. 29 | Diese Beobachtung gilt nicht für die Entwurfszeichnungen und den Bozzetto, die in vieler Hinsicht anders gestaltet sind als der ausgeführte Brunnen. Für eine detaillierte Gegenüberstellung fehlt hier der Raum. 30 | „Als wäre sie von dem Palast, der Geburtsstätte des Papstes, hergeflogen“: Preimesberger 1974, S. 116; Fehrenbach 2008, S. 21.

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Martin Raspe 31 | Zur Vielansichtigkeit und der Notwendigkeit, den Brunnen zu umrunden vgl. Fehrenbach 2008, S. 15–22. 32 | Die Forschung hat diesen Sachverhalt meist ignoriert und stattdessen die Rundum-Ansichtigkeit betont. Selbst Abbate 2006, S. 213, die den ovalen Grundriss wahrnahm und darüber reflektierte, erkannte darin nur das movimento rotatorio. 33 | Tatsächlich entstand kurz nach der Fertigstellung das Gerücht, der Unterbau sei nicht stabil genug und die guglia drohe einzustürzen. Der scheinbar besorgte Bernini begegnete der Panik, indem er den Obelisken mit vier dünnen Bändern (quattro deboli spaghi) an den gegenüberliegenden Hausecken befestigen ließ: Bernini 1713, S. 91–93. 34 | Bernini 1713, S. 88–89 schrieb hingegen, der Löwe befinde sich zu Füßen der Donau und das Pferd neben dem Ganges. 35 | So fasste Fehrenbach 2008, S. 91 die Deutungen des Pferdes als Hippopotamus (Rivosecchi 1982) und „equus marinus“ (Fagiolo dell’Arco 1997) zusammen. 36 | Fehrenbach 2008, S. 88–93: „Jede Deutung des Löwen muss die allusive Symmetrie mit dem Pferd der Gegenseite berücksichtigen“. 37 | Panvinio 1600, S. 49, Taf. M ; abgesehen von den Delfinen, die zum Zählen der Runden dienten, sind keine weiteren Tierskulpturen auf der Spina dargestellt. 38 | Villa Pamphilia eiusque palatium […], Rom o. J. (ca. 1660), Taf. 37; Calza, Raissa (Hg.): Antichità di Villa Doria Pamphilj, Rom 1977, Nr. 117; Baldassari, Paola: „La decorazione scultorea all’interno del Casino del Bel Respiro“, in: Beatrice Palma Venetucci (Hg.), Villa Doria Pamphili. Storia della collezione, Rom 2001, S. 85–111, bes. S. 98, Abb. 79. Der Bezug zum Circus Maximus ist auf dem Stich durch den Obelisken im Hintergrund deutlich gemacht. 39 | Huse 1967, S. 10–12; Preimesberger 1974, S. 85–91; Fehrenbach 2008, S. 20, 43, 53–58, 66–72, 84–86. Aus dem länglichen, im Norden abgerundeten Umriss des Platzes schloss man auf einen antiken circus agonalis an dieser Stelle. Mitunter wurde auch der circus Flaminius hier lokalisiert. 40 | Fehrenbach 2008, S. 86 erwähnte zwar die auf dem Löwen reitende Kybele im Circus Maximus, sah darin aber anscheinend keine ernstzunehmende Anregung für Berninis figürliche Konzeption des Brunnens. 41 | Cartari, Vincenzo: Immagini degli dei degli antichi, Venezia 1556; die hier verwendete Ausgabe Padua 1608. 42 | Vergil, Georgica 1, 12–14: „tuque o, cui prima frementem fudit equum magno tellus percussa tridenti, Neptune“ (o du, dem die Erde das erste brausende Roß ausrang, durchbebt vom gewaltigen Dreizack, komm, Neptunus). Ovid, Metamorphosen 6, 75–78; V. Cartari, Immagini, S. 236. 43 | V. Cartari, Immagini, S. 237–238. Der im Zirkus verehrte Gott Consus und Neptun wurden dabei gleichgesetzt, vgl. Fehrenbach 2008, S. 84–86, Anm. 264. Bereits Fehrenbach erklärte das Pferd durch den Bezug zu Neptun, ordnete es jedoch in Ovids Phaeton-Erzählung ein, die er aufgrund motivischer Ähnlichkeiten in dem Brunnen dargestellt sah.

Tiere sehen dich an 44 | Descrittione della Grecia di Pausania, Ferrara 1594, S. 328–29; V. Cartari, Immagini, S. 213– 215; Ovid, Metamorphosen, 6, 118–119; Roscher, Wilhelm Heinrich: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd. 1, Sp. 475–476, s. v. Areion. 45 | V. Cartari, Immagini, S. 238–240. 46 | Aristoteles, Meteorologica 2, cap. 7–8; Plinius, Naturalis historia 2, 201–202. 47 | Thielemann, Andreas: „Roma und die Rossebändiger im Mittelalter“, in: Kölner Jahrbuch 26.1993, S. 85–131; zum Pferd Konstantins, das bei Bernini ebenfalls ungezäumt und ungesattelt erscheint: Raspe, Martin: „Berninis ‚Scala Regia‘ und die Reiterfigur des Konstantin“, in: Nicole Riegel/Damian Dombrowski (Hg.), Architektur und Figur, München, 2007, S. 277–294, hier S. 288–290. 48 | Zur Ikonografie und Symbolik des Löwen in der Antike vgl. den Artikel „Löwe“ in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 23, Stuttgart 2010, Sp. 257–286; zur Verbindung mit Kybele bes. Sp. 262. 49 | Ob eine Verbindung zu den säulentragenden (Portal-)Löwen des Mittelalters besteht, muss offen bleiben. Zu dieser Ikonografie vgl. La Bretèque, François de: „Les lions porteurs de colonnes. Evolution de la forme et du contenu d’un motif de l’art roman“, in: Le moyen âge 85.1979, S. 211–243; Poeschke, Joachim: Die Skulptur des Mittelalters in Italien, Bd. 1: Donatello und seine Zeit, München 1998, S. 33–34; Kloss, Günter: Der Löwe in der Kunst in Deutschland, Petersberg 2006, S. 164–170; Pastoureau, Michel: „Pourquoi tant de lions dans l’Occident médiéval?“,  in: Michel Pastoureau (Hg.), Les signes et les songes études sur la symbolique et la sensibilité médiévales, Florenz 2013, S. 5–23. Vier vergleichsweise kleine, liegende Bronzelöwen, die Wappentiere Papst Sixtus’ V., erscheinen am Sockel des vatikanischen Obelisken. 50 | V. Cartari, Immagini, S. 190–202. 51 | V. Cartari, Immagini, S. 193: „i Signori del mondo parimente sono soggetti alle leggi della natura, et che così hanno essi bisogno dell’aiuto della terra, come gli altri“. 52 | Magri, Nicola: Discorso cronologico della origine di Livorno in Toscana dall’anno della sua fondazione fino al 1646, Neapel 1647, S. 256–259; Oberhausen, Giorgio: Istoria della miracolosa immagine di Nostra Signora di Montenero, Lucca 1745, S. 164–170. Nach heutigen Maßstäben hatte das Seebeben eine Stärke von etwa 5,2 http://www.meteopisa.net/dati_live/ terremoti.php. 53 | Gigli, Giacinto: Diario di Roma (hg. v. Manlio Barberito), 2 Bde., Rom 1994, S. 509. 54 | Karsten, Arne: Bernini. Der Schöpfer des barocken Rom, München 2006, S. 141. 55 | Vgl. dazu die Kontroverse zwischen Bonini, Filippo Maria: Il Tevere Incatenato Ovvero l’Arte di Frenare l’Acqua Correnti, Rom 1663 und Martinelli, Fioravante: Il Tevere scatenato e ’l freno delle sue acque deluso, 1664, Ms. Siena, Biblioteca Comunale; D’Onofrio, Cesare, Roma nel Seicento, Rom 1968, S. xvii, xxv. 56 | Panvinio, 1600, S. 5; Kircher, Athanasius : Obeliscus Pamphilius, Roma 1650, S. 16–17.

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Martin Raspe 57 | Panvinio, 1600, S. 44: „[obeliscus] soli dicatus erat, quod per medium orbem terrarum, et coelum Sol curreret, cuius similitudinem circus significabat“; ibd., 79: „biga quasi Lunae, quadriga Solis imitatione reperta est“; ibd., 15: „[bigae] currentes Lunam imitari putabantur, quae gemino cursu cum Sole contendit, sive quod nocte videatur, et die, ideoque bigis alterum equum nigrum, alterum candidum jungebant, qui noctem, et diem representabant“. Bigae und Quadrigae sind beide auf Tafel M bei Panvinio dargestellt. 58 | Plinius, Naturalis historia 36, 72.1–73.7. Interessanterweise erwähnt Plinius, dass der Obelisk durch Tiberüberschwemmungen und Erdbeben ins Wanken geraten sei und deshalb nicht mehr korrekt ablesbar sei; möglicherweise hat diese Nachricht Bernini als Anregung gedient. Zu seiner Zeit waren die Bruchstücke nicht sichtbar, sie wurden erst Ende des 18. Jahrhunderts ausgegraben, zusammengesetzt und auf der Piazza Montecitorio aufgestellt. 59 | Ich konnte nicht mit Sicherheit feststellen, ob die Pflasterung original ist. Auf zeitgenössischen Stichen ist die Felderung nicht wiedergegeben; auch auf historischen Fotografien ist sie nicht zu erkennen. Dies kann daran liegen, dass der Pflasterring tiefer als das Bodenniveau des Platzes liegt und zudem aufgrund seiner Glätte bei Sonne sehr stark reflektiert. Die 28 colonnette aus Granit, die den Brunnen umgeben und die eisernen Geländerstangen halten, sind jedoch auf allen alten Ansichten wiedergegeben. Daher nehme ich an, dass auch die 28er-Teilung des Pflasters auf Bernini zurückgeht. 60 | Joost-Gaugier, Christiane L.: „The Iconography of Sacred Space: A Suggested Reading of the Meaning of the Roman Pantheon“, in: Artibus et Historiae 19, 38.1998, S. 21–42, hier S. 30; Brackett, Marion Conway Farmer: The coffering of Hadrian’s Pantheon, M.A. Thesis, University of Georgia 2004, S. 84–86 (https://athenaeum.libs.uga.edu/handle/10724/21436). 61 | Bei Panvinio, 1600, S. 49, Taf. M steht auf der Spina des Circus Maximus auch ein kleinerer obeliscus lunae. Nur Kauffmann 1970, S. 175, Anm. 24 erwähnte den Bezug des Pamphili-Obelisken zum Mond. 62 | Durch ihre Begleiterinnen, die Nymphen, steht auch die Mondgöttin Diana mit dem Wasser in Beziehung. 63 | Beispiele: Leonardi, Camillo: Lunario al modo de Italia calculato. Composto nella citta de Pesaro, Venezia 1524; Rotilenzi, Alberto: Lunario e pronostico dell’anno bisestile 1640, Florenz 1640. 64 | Fehrenbach 2008, S. 88–93 sah einen Zusammenhang mit dem Tierkreis-Sternbild des Löwen und der danach benannten Sommerhitze, dem solleone. Ein direkter Bezug zwischen Pferd und Mond scheint nicht zu bestehen – außer dadurch, dass beide mit dem Element des Wassers assoziiert sind. Pferde erkrankten häufig am mal della luna, einer vorübergehenden Augentrübung, die – wie auch das mal caduco, die Epilepsie – dem wechselhaften Einfluss des Mondes und der Feuchtigkeit zugeschrieben wurde. Caracciolo, Pasquale: La gloria del cavallo, Venezia 1567, S. 625, 652–654. 65 | Das Geschlecht des Pferdes ist nicht klar zu bestimmen. Für eine Stute spricht die Anschauung: Die männlichen Geschlechtsmerkmale am Unterleib fehlen auffällig. Außerdem

Tiere sehen dich an ist der Kopf des Pferdes deutlich schlanker und feinnerviger gestaltet als etwa bei dem eindeutig männlichen Schlachtross des Konstantin am Fuß der Scala Regia im Vatikan, das wesentlich kraftvoller und imposanter wirkt. Die ikonografische Übereinstimmung mit der Sage, die von Ceres als rasender Stute in einer Höhle erzählt, spricht ebenfalls für ein weibliches Pferd. 66 | Inv. Nr. 545; Herrmann Fiore, Kristina: „Tre ritratti dipinti da Gian Lorenzo Bernini nella Galleria Borghese“, in: Anna Coliva/Sebastian Schütze (Hg.), Bernini scultore. La nascita del Barocco a Casa Borghese, Roma 1998, S. 230–239, Kat. 24; Montanari, Tommaso: Bernini pittore, Cinisello Balsamo 2007, S. 94–95, Kat. 8. Das Gemälde ist undatiert, es wird meist in die 1630er Jahre gesetzt. 67 | Bernini 1713, S. 177: „occhio pur nero, e di così forte guardatura, che collo sguardo solo atterriva“; F. Baldinucci, 1682, S. 64 „ebbe occhio spiritoso , e vivace con forte guardatura […] Nel comandare, con nulla più, che col solo sguardo atterriva“. 68 | David als Selbstbildnis: Bernini 1713, S. 19; Baldinucci 1682, S. 8 spricht von der „terribile fissazione d’occhi“ der Figur. Kauffmann 1970, S. 54–55. Für den hl. Laurentius studierte Bernini sein eigenes Gesicht, um den Ausdruck der Schmerzen wiederzugeben: Bernini 1713, S. 15: „venendo a provare in se il Martirio del Santo, ritraeva poi col lapis alla vista di uno specchio i dolorosi moti della sua faccia, et osservava i varii effetti“. 69 | Zitzlsperger, Philipp: Gianlorenzo Bernini. Die Papst- und Herrscherporträts. Zum Verhältnis von Bildnis und Macht, München 2002; Andrea Bacchi (Hg.): Bernini and the birth of Baroque portrait sculpture, Ausstellungskatalog, Los Angeles 2008. 70 | Dombrowski, Damian: „‚Ricavare il bello dal deforme‘. Würde und Wahrheit in Berninis Karikaturen“, in: Zibaldone 38.2004, S. 9–24. 71 | Vasari, Giorgio: Ragionamenti del Sig. Cavaliere Giorgio Vasari, Florenz 1588, S. 133–134; Pallottino, Massimo: „Vasari e la Chimera“, in: Prospettiva  8.1977, S. 4–6. 72 | Zusammenfassend Burbaum, Sabine: Die Rivalität zwischen Francesco Borromini und Gianlorenzo Bernini, Oberhausen 1999, S. 122–204. 73 | Bernini 1713, S. 87. 74 | Schon Benvenuto Cellini bezeichnete in seiner Autobiografie seine Konkurrenten gern als queste bestie. 75 | Diesen Eindruck unterstreicht auch die anschauliche Labilität der beiden Papstwappen, die von Nil und Donau nur mit Mühe vor dem Herunterfallen bewahrt werden. 76 | Vgl. Fehrenbach 2008, S. 176–179. Ihr Einfluss auf Innozenz X. war so groß, dass sie primus pontifex non maximus genannt wurde. Allgemein zu Donna Olimpia: Leti, Gregorio: Vita di donna Olimpia Maidalchini che governò la Chiesa, Ragusa 1667; Tempesta, Claudia: „Note sulla Committenza Pamphiliana“, in: Imago pietatis 1650. I Pamphilj a San Martino al Cimino, Viterbo 1987, S. 61–92; Bernardi, Luigi: „Donna Olimpia Maidalchini Pamphilj“, in: Alessandro Zuccari/Stefania Macioce (Hg.), Innocenzo X. Pamphilj. Arte e Potere a Roma nell’Età Barocca, Rom 1990, S. 207–213; D’Amelia, Marina: „Nepotismo al femminile. Il caso di Olimpia Maidal-

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Martin Raspe chini Pamphilj“, in: Maria Antonietta Visceglia (Hg.), La nobiltà romana in età moderna. Profili istituzionali e pratiche sociali, Rom 2001, S. 353–399. 77 | Auf den Entwurfsskizzen und dem Bozzetto des Brunnens ist davon noch nichts zu sehen; an dem Bozzetto des Löwen in der Accademia di S. Luca sind die Gesichtszüge Berninis noch nicht ausgeprägt. Cipriani, Angela: „Un leone ‚studio del Cav. Bernini‘“, in: Ricerche di Storia dell’Arte 11.1980, S. 75–78; dies.: „Un bozzetto per il leone della Fontana dei Fiumi“, in: Marcello Fagiolo (Hg.), Giovanni Lorenzo Bernini e le arti visive, Roma 1987, S. 139–147. 78 | Fehrenbach 2008, S. 199; der Sinn des Papstes für Ironie äußert sich in den zahlreichen sarkastischen Bemerkungen, die von ihm überliefert sind. 79 | Vgl. dazu M. Raspe und Sant’Agnese, S. 365–367. 80 | M. Raspe, Borromini und Sant’Agnese, S. 360, Anm. 178; Simonetta, Giuseppe/Gigli, Laura/Marchetti, Gabriella: Sant’Agnese in Agone a piazza Navona. Bellezza, proporzione, armonia nelle Fabbriche Pamphili, Roma 2003, S. 133–137. 81 | Seinem Sohn Domenico zufolge hat er dabei ausgerufen „oh quanto mi vergogno di haver operato così male“: Bernini 1713, S. 109. Domenico bezog den Ausruf auf die Unzulänglichkeit der Ausführung im Vergleich zu dem gedanklichen concetto; weitere Deutungen referiert bei Fehrenbach 2008, S. 196–201, der in der Anekdote vor allem einen literarischen Kunstgriff Domenicos zur Aufwertung der späteren Werke sah. 82 | Zur Veritas: Kauffmann 1970, S. 194–221; Winner, Matthias: „Veritas“, in: Anna Coliva/Sebastian Schütze (Hg.), Bernini scultore. La nascita del Barocco a Casa Borghese, Rom 1998, S. 290–309. Bernini vollendete die Figurengruppe nicht, behielt sie zuhause, zeigte sie nur der Familie und verfügte con fidecommisso strettissimo, das sie im Privatbesitz der Nachkommen verbleiben müsse: Baldinucci 1682, S. 63; Bernini 1713, S. 81. Domenico Bernini unterstrich den Bezug, indem er das Kapitel über den Vierströmebrunnen mit den Worten „ma’ tempo è omai, che scuopra il Tempo la Verità“ einleitete: Bernini 1713, S. 84. 83 | In gewissem Sinne hatte Bernini auch gegen seine eigene Maxime verstoßen, die Baldinucci 1682, S. 14 referierte: „sua opinione sempre fu, che il buono Architetto nel disegnar Fontane, dovesse sempre dar loro qualche significato vero, o pure alludente a cosa nobile, o vera, o finta“.

Druckgrafik als Prozess Rembrandts Halbbekleidete Frau am Ofen sitzend Stefanie Knöll In einem Innenraum sitzt eine junge Frau am Ofen (Abb. 1). Nachdenklich erscheint sie dem Betrachter, dem sie mit einer leichten Drehung ihren Körper zuwendet. Dabei ist ihr Oberkörper entblößt, während ihr Rock bis zu den Waden reicht. Ihren nackten linken Fuß hat sie quer auf einen Pantoffel gestellt. Der leicht gesenkte Kopf mit den fast geschlossenen Augen ist im Profil zu sehen. Die Haare sind mit einer Haube bedeckt. Geradezu inszeniert wirkt das Profil, da Kopf und Schulterbereich der jungen Frau von einer dunklen Nische hinterfangen werden. Hell hebt sich ihr Körper von der Umgebung ab. Neben dem Stuhl, auf dem die Frau sitzt, scheint sich ein weiteres Möbelstück, eventuell ein Hocker zu befinden. Unter diesem sehen wir einen Kasten oder Schemel, unter dem sich eine Schüssel befindet. Es ist nicht ganz eindeutig, ob es sich um einen Fußwärmer oder einen Nachttopf handelt. Die rechte Bildhälfte wird von dem bereits erwähnten Ofen eingenommen. Dessen Details sind nur vage auszumachen: Auf der Lang- und Schmalseite ist ein Medaillon mit einer weiblichen Figur in betender Haltung zu sehen. Sie wird meist als Maria Magdalena zu Füßen des Gekreuzigten gedeutet.1 Die Kanten des Ofens sind durch Säulen betont. Das dem Ofen aufgesetzte Ofenrohr knickt rechtwinklig nach rechts ab. An dieser Stelle hat Rembrandt seine Signatur und die Datierung angebracht. Die Forschung hat mehrfach darauf hingewiesen, dass wir es hier mit einer realistischen Darstellung einer Ateliersituation zu tun haben könnten.2 Die junge Frau sitze gerade Modell für einen Künstler. Dass ihr dabei ein Platz am wärmenden Ofen zugewiesen wurde, ist auch auf anderen Werken Rembrandts und seiner Schüler zu sehen. Von der auf 1658 datierten Radierung mit Grabstichel und Kaltnadel sind heute sechs auf Rembrandt zurückgehende Zustände bekannt (NHD 307).3 Einige Zustände der Halbbekleideten Frau, am Ofen sitzend weisen nur kleine Überarbeitun-

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Stefanie Knöll

Abbildung 1: Rembrandt, Halbbekleidete Frau am Ofen sitzend, 1658, Radierung mit Kaltnadel und Grabstichel, Zustand I/VII

Rijksmuseum Amsterdam, Rijksprentenkabinett, Inv.-Nr. RP-P-1962-73

gen der Platte auf. Andere bringen deutlichere Veränderungen mit sich. So wird im dritten Zustand die Nische hinter der Frau deutlicher herausgearbeitet. Damit verschwindet gleichzeitig das Element, das im ersten und zweiten Zustand noch wie ein Rest eines belaubten Astes aussah. Im vierten Zustand wird ein Schlüssel am Ofenrohr angebracht, der dazu dient, die Drosselklappe zu bedienen und die

Druckgrafik als Prozess

Abbildung 2: Rembrandt, Halbbekleidete Frau am Ofen sitzend, 1658, Radierung mit Kaltnadel und Grabstichel, Zustand V/VII

Rijksmuseum Amsterdam, Rijksprentenkabinett, Inv.-Nr. RP-P-OB-257

Wärme zu regulieren (Abb. 2). Im sechsten Zustand wird die Haube entfernt, sodass wir nun das Haar der Frau sehen können (Abb. 3). Im Folgenden soll das Blatt in zwei Richtungen befragt werden: Zum einen soll es um die inhaltliche Ebene gehen und die Frage, welchen Bezug die Darstellung zur Praxis des Aktstudiums in Rembrandts Werkstatt hat. Zum anderen wird das

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Abbildung 3: Rembrandt, Halbbekleidete Frau am Ofen sitzend, 1658, Radierung mit Kaltnadel und Grabstichel, Zustand VI/VII

Kunstsammlungen der Veste Coburg, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. VII,380,200

Blatt als Teil eines künstlerischen Prozesses zu betrachten sein, der sich mit dem ersten Ergebnis nicht zufrieden gibt.

Druckgrafik als Prozess

1. Z eichnen

in

R embrandts Werkstatt

Aktzeichnen war im 17. Jahrhundert gängige Praxis. Doch waren es üblicherweise Männer, die in Akademien als Modell zur Verfügung standen. Auch wenn es in Amsterdam keine offizielle Akademie nach italienischem Muster gab, wurde der Begriff damals gebraucht und bezeichnete informelle Zeichengruppen mit lebenden Modellen.4 Quellen belegen, dass in Amsterdam informelle Zusammenschlüsse von Künstlern wie Govert Flinck (1615–1660), Ferdinand Bol (1616–1680) und Jacob van Loo (1614–1670) existierten, die Prostituierte als Modelle anheuerten.5 Diese Praxis scheint bereits Ende der 1630er Jahre begonnen zu haben.6 Vorher studierte man üblicherweise einzelne weibliche Körperteile, also beispielsweise entblößte Arme, Füße, Unterschenkel, und setzte den nackten Körper dann aus der Erinnerung (uit de geest) und mit Fantasie zusammen.7 Die früheste bekannte schriftliche Quelle, die über weibliche Modelle in Amsterdam berichtet, stammt erst aus dem Jahr 1648. Es wird berichtet, dass der Amsterdamer Maler und Rembrandtschüler Govert Flinck drei Schwestern gezeichnet habe, und zwar „so nackt wie es nur geht“, schlafend und in ungebührlicher Art und Weise.8 Dass es sich bei den meisten der bekannten schriftlichen Quellen um Gerichtsakten handelt, verdeutlicht die damalige Situation. Nacktes Posieren für einen Maler war ein moralisches Vergehen, das geahndet wurde, und die Frauen, die einer solchen Tätigkeit nachgingen, als Prostituierte abstempelte. Für die Maler blieb das Anheuern weiblicher Modelle im Allgemeinen ohne gerichtliche Folgen.9 Auch innerhalb der Werkstatt Rembrandts waren Aktstudien geläufig. Für die späten 1640er Jahre konnte nachgewiesen werden, dass sich Rembrandts Schüler gegenseitig Modell standen.10 Diese Praxis ist durch eine Reihe von Zeichnungen und Druckgrafiken belegt. Als Beispiel seien drei Zeichnungen eines stehenden Jünglings genannt, der seinen linken Arm aufstützt. Die heute in London (British Museum, Inv.-Nr. Oo,9.94; Benesch 710), Paris (Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 4713; Benesch A55) und Wien (Albertina, Inv.-Nr. 8827; Benesch 709) befindlichen Blätter zeigen wohl alle dasselbe Modell, das von drei Rembrandtschülern, darunter Samuel van Hoogstraten und Carel Fabritius – mit leicht verschobenen Perspektiven – gezeichnet wurde. Auch Rembrandts Radierung Het Rolwagentje (um 1646, NHD 233) scheint bei dieser Gelegenheit entstanden zu sein.11 Vermutlich saß der Meister mit seinen Schülern im Halbkreis um das Modell herum. Anders als einige seiner Amsterdamer Malerkollegen war Rembrandt anscheinend zögerlich, weibliche Modelle anzuheuern. Er hat dies vermutlich erst ab der Mitte der 1650er Jahre getan.12 Diverse Zeichnungen des Meisters und seiner Schüler, wie die um 1658 entstandene Zeichnung im Ashmolean Museum in Oxford

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Abbildung 4: Rembrandt, Die Frau mit dem Pfeil, 1661, Radierung und Kaltnadel, Zustand II/III

Kunstsammlungen der Veste Coburg, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. VII,380,205

Druckgrafik als Prozess

(Inv.-Nr. WA1855.8; Benesch 1161), legen nahe, dass die Frauen – zumindest bis in die späten 1650er Jahre – üblicherweise nur bis zur Hüfte entkleidet waren.13 Damit sind sie der Frau am Ofen nicht unähnlich. Dass Rembrandt gemeinsam mit seinen Schülern vor dem Modell arbeitete, ist überaus bemerkenswert. Zeitgenössische Dokumente legen nahe, dass dies in anderen Werkstätten nicht gängig war.14 Für uns ist es ein besonders glücklicher Umstand, dass sich einige Komplexe von Zeichnungen und Radierungen aus derselben Modellsitzung erhalten haben. Sie erlauben die Rekonstruktion von Zusammenhängen und liefern zuweilen unerwartete Hintergründe. Auch wenn Rembrandts Frau mit dem Pfeil (1661; NHD 313; Abb. 4) immer noch ikonografische Rätsel aufgibt, so geben die wohl in der gleichen Modellsitzung entstandenen Zeichnungen seines Schülers Johannes Raven (1633/34–1662)15 zumindest Einsicht in den Entstehungsprozess. Die Zeichnungen zeigen eine junge Frau, deren erhobener linker Arm für das lange andauernde Halten der Pose durch Festhalten an einem Seil gestützt wurde (Abb. 5). Die Schleife um das Handgelenk ist bei Rembrandt noch zu erkennen. Rembrandt scheint das Motiv des erhobenen Pfeiles schließlich aus der Atelierpose entwickelt und das Seil in einen Pfeil verwandelt zu haben. Unklar bleibt, ob wir es hier mit Venus zu tun haben, und ob das versteckt neben ihrem linken Arm auszumachende Gesicht das Amors ist? Verschiedentlich wurde darauf hingewiesen, dass es sich um das Gesicht eines Lehrlings handeln könnte, der die Frau von vorne zeichnete.16 Dass die Darstellung nackter Frauen – trotz Einbindung in biblische Geschichten – nicht unproblematisch war, beweisen zeitgenössische Schriften. Vielfach kritisiert wurden insbesondere die beliebten Darstellungen von Susanna mit den beiden Alten, Bathseba im Bade und von Maria Magdalena. Die Kritik richtete sich dabei gegen die Zurschaustellung des nackten Körpers und die Gefährlichkeit des Blickes.17 Und wir kennen natürlich auch bei Rembrandt zahlreiche Darstellungen, in denen er durchaus spielerisch die Gefahr thematisiert, die aus der heimlichen Beobachtung einer nackten Frau folgen kann. Denken wir nur an seine Radierung Diana im Bade (um 1631, NHD 89), bei der der Betrachter sich selbst in der Rolle Aktäons erkennen muss. Die Zeitgenossen Rembrandts gingen davon aus, dass nackte Körper durch die Macht des Blickes einen starken Effekt auf den Betrachter haben. So schrieb der Prediger Jan Evertsz Geesteranus (1586–1622) in einem lateinischen, später von Dirck Rafaelsz. Camphuysen (1586–1627) ins Niederländische übertragenen Gedicht, dass derartige Darstellungen geradezu Gift für die Augen seien und die Moral untergraben.18 Die Kritik richtete sich dabei auch gegen das Aktstudium selbst. Als problematisch begriff man insbesondere die dargestellten Modelle. So heißt es in einem Gedicht von Jan Vos von 1650, das sich auf ein Gemälde von Susanna mit den beiden Alten bezieht („Op de geschilderde Zuzanna van P.S. &c.“):

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Abbildung 5: Johannes Raven, Sitzende nackte Frau mit erhobenen Armen, 1658–1662, Zeichnung

Rijksmuseum Amsterdam, Rijksprentenkabinett, Inv.-Nr. RP-T-1930-57

Druckgrafik als Prozess „Om deeze kuische te doen lyken, heeft de kunst / Haar naa[r] d’Onkuisheidt zelf gemaalt, om’t eerlijk weezen./ Men hoeft niet voor’t vergift van haar gemoedt te vreezen./ Dit is geen bitter kruidt gedoopt in honingraat./ ’t Penseel vertoont nooit meer dan iuterlijk gelaat.“19

Vos argumentiert also, dass der Maler das Bild der keuschen Susanna nur durch Beobachtung „der Unkeuschheit selbst“, also eines unmoralischen Modells, schaffen konnte. Der Betrachter habe Glück und müsse das Gift ihres Geistes nicht fürchten. Denn er werde nur mit Farbe und der äußerlichen, physischen Erscheinung konfrontiert. Gleichzeitig impliziert Jan Vos, dass der Maler bei der Entstehung des Bildes tatsächlich dem gefährlichen Einfluss der Frau ausgesetzt gewesen sei.20 Er spielt damit auch auf die Geschichte von Apelles an, der sich in sein Modell Kampaspe verliebte.

2. D ruckgrafik

als

P rozess

Rembrandt war ein Künstler, der hohe Ansprüche an sich selbst stellte. Um die besten Ergebnisse zu erzielen, experimentierte er fortwährend. So setzte Rembrandt zuweilen unterschiedliche Druckträger wie Pergament und asiatische Papiere ein,21 erzielte tonale – fast malerische – Effekte mit dem Lappenton,22 kombinierte druckgrafische Techniken und schuf verschiedenste Zustände einer Komposition. Bei Rembrandt ist es nicht immer einfach, die Bedeutung dieser Zustände einzuschätzen. Manche Zustände sind sehr rar und heute nur in wenigen Abzügen überliefert – man möchte eher an Probedrucke denken, also an Abzüge von der unfertigen Platte, die einen Einblick in den Prozess des Künstlers gewähren –, andere scheinen in richtigen Auflagen erschienen zu sein, auch wenn später weitere Überarbeitungen folgten.23 Von besonderer Radikalität sind Rembrandts Überarbeitungen bei seinen beiden großen Kaltnadelarbeiten Die drei Kreuze (1653, NHD 274) und Ecce Homo (1655, NHD 290), bei denen er die Komposition grundlegend verändert und das Personal reduziert. Im 18. und 19. Jahrhundert hat man hinter Rembrandts Überarbeitungen vor allem merkantile Gründe vermutet.24 Auch wenn dies nicht haltbar ist, so wird der merkantile Aspekt doch auch eine gewisse Rolle gespielt haben. Denn für Sammler waren und sind die verschiedenen Zustände, Papiere und Einfärbungen durch die Druckfarbe ein Anreiz, auch eine Variation eines bereits vorhandenen Blattes zu erwerben. Ganz besonders dann, wenn die seriellen Druckgrafiken dadurch quasi zu Unikaten werden. So schrieb Arnold Houbraken in seiner Groote Schouburgh (1718):

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Stefanie Knöll „Diese Manier, [verschiedene Zustände herzustellen,] brachte ihm [gemeint ist Rembrandt] großen Ruhm und einen nicht geringen Gewinn ein; insbesondere auch der Kunstgriff, geringe Veränderungen und unbedeutende Ergänzungen an seinen Drucken vorzunehmen, so daß die gleichen Arbeiten erneut verkauft wurden. Ja, die Neigung war zu jener Zeit so groß, daß man nicht als Kenner erachtet wurde, wenn man die Juno mit und ohne Krone, den Joseph mit hellem und den mit dunklem Gesicht und vieles andere mehr nicht besaß.“25 – „Ja, jeder musste die Frau am Ofen besitzen […], mit und ohne die weiße Haube, mit und ohne den Ofenregler“26

Kehren wir zurück zu unserem Ausgangspunkt, Rembrandts Frau am Ofen. Wir haben bislang nicht nach dem Bildinhalt und der Deutung des Blattes gefragt. In der Forschung gilt das Blatt als Darstellung einer halbnackten Frau ohne weitere Bedeutungsinhalte. Es gebe einen sehr privaten und authentischen Einblick in eine Atelierszene.27 Unter Rembrandts Zeichnungen finden wir solche Darstellungen mehrfach – auch mit einem Ofen, wie die um 1661/1662 entstandene Zeichnung Nackte Frau am Ofen im Rijksmuseum Amsterdam (Inv.-Nr. RP-T-00-227; Benesch 1142) zeigt. Doch das ist weniger erstaunlich. Denn als Arbeitsskizzen, die nur für den Gebrauch des Künstlers oder der Werkstatt gedacht waren, dürfen sie die tatsächliche Situation abbilden. In seinem druckgrafischen Werk hat Rembrandt jedoch üblicherweise versucht, Hinweise auf die vorausgegangene Modellsitzung zu eliminieren, auch wenn dies nicht immer konsequent erfolgte. So befinden sich die Füße der Sitzenden nackten Frau an einem Bach (1658, NHD 309) im Wasser; links oben meint man, den Ast eines Baumes zu erkennen. Doch die Stuhllehne hinter ihr und die Kissen weisen darauf hin, dass die Darstellung im Atelier entstanden ist. Die Frau am Ofen und die Nackte Frau mit einem Hut neben sich (1658, NHD 310) werden von einigen Forschern als außergewöhnliche Darstellungen betrachtet, da sie – in einem öffentlichen Medium wie der Druckgrafik – das Modell scheinbar in seiner Rolle als Modell zeigen.28 Doch tun sie das wirklich? Der Hut neben der jungen Frau legt nahe, dass in diesem Raum ein Mann anwesend ist oder unlängst zu Besuch war.29 Damit scheint sich vielmehr eine Geschichte zu entspinnen als ein Hinweis auf eine Ateliersituation gegeben zu sein. Und bei der Frau am Ofen weisen zahlreiche Details über die reine Situation des Zeichnens nach dem Modell hinaus. Immer wieder wurde auf das melancholische, höchst individualisierte Gesicht der Frau am Ofen hingewiesen. Verschiedentlich meinte man in der Dargestellten Hendrickje Stoffels zu erkennen, die im Übrigen auch als Modell für malerische Umsetzungen der Bathseba gedient haben soll.30 Die unverheiratet mit Rembrandt zusammenlebende und schwangere Hendrickje wurde 1654 vor den Kirchenrat

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zitiert und vom Abendmahl ausgeschlossen. Wenn das Blatt folglich in der Forschung als „Rechtfertigung des Künstlers gegenüber seiner damals als illegitim geltenden Lebensgefährtin“31 bezeichnet wurde, so bleibt doch anzumerken, dass die halbnackte Darstellung in diesem Kontext nicht zielführend – eher kontraproduktiv – gewesen sein dürfte. Seit die Forschung nicht mehr uneingeschränkt an Houbrakens Vorwurf festhalten wollte, Rembrandt habe die unterschiedlichen Zustände der Frau am Ofen allein aus merkantilen Erwägungen geschaffen, versuchte man, diese Zustände durch Verweis auf formale oder kompositionelle Überlegungen zu erklären. So hieß es, der Ofenschlüssel habe das Bild belebt und die Vertikale unterbrochen, oder die Entfernung der weißen Haube habe zu einer besseren Verschmelzung der Figur mit dem Hintergrund beigetragen.32 Ikonografische Überlegungen wurden dabei weitestgehend ausgeklammert. Denn worum könnte es hier gehen? Auf der Suche nach einer Deutung hat Robert Fucci das Thema Wärme vorgeschlagen.33 Es scheint alle Details des Bildes sowie die in späteren Zuständen neu eingefügten Elemente zu verbinden. Genannt werden der Ofen mit dem die Wärme regulierenden Ofenschlüssel und das als Fußwärmer gedeutete Objekt in der linken unteren Ecke. Darüber hinaus verweist er darauf, dass die Frau ihren nackten Fuß auf den Pantoffel gestellt hat, um ihn vor dem kalten Boden zu schützen. So wohlig einem bei dieser Geschichte wird, fragt man sich doch, warum die Frau nicht in den Pantoffel schlüpft, den Fußwärmer einsetzt und – vor allem – sich vollständig ankleidet. Gibt es eventuell eine andere Lesart für die hier zusammengestellten Details? Beginnen wir mit dem Fuß auf dem Pantoffel. In zahlreichen holländischen Sprichwörtern findet sich der Schuh als Anspielung auf das weibliche Geschlecht. So heißt es beispielsweise, man solle seine Füße nicht in die Pantoffeln eines anderen stecken.34 Die Frau in Rembrandts Radierung – wie auch in seinem um 1636 entstandenen Gemälde Susanna und die beiden Alten (Mauritshuis, Den Haag, Inv.-Nr. 147) – verhindert ein Hineinschlüpfen effektiv, indem sie ihren Fuß eindeutig über den Pantoffel gestellt hat. Auch der unscheinbare Topf (sei es ein Nachttopf oder ein Kohlebecken) ist in Darstellungen mit erotischen Inhalten häufig anzutreffen. Er kann ebenfalls auf das weibliche Geschlecht verweisen.35 Wird er eindeutig unter ein Möbelstück, zum Beispiel das Bett, gerückt, ist auch hier der Zugang verwehrt. Ein solcher versteckter Topf findet sich oftmals bei Darstellungen von Frauen, die als keusch gekennzeichnet werden. Beide Details scheinen demnach auf ein weiteres mögliches Thema in Rembrandts Radierung hinzuweisen: Tugend und Moral.

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Doch wie wird in den verschiedenen Zuständen mit dem Thema umgegangen? Gehen wir nochmal alle Zustände durch, wie sie aktuell bei Hollstein aufgelistet sind: Im ersten Zustand trägt die Frau eine Haube auf dem Kopf. Am Ofenrohr ist kein Schlüssel zu sehen. Im zweiten Zustand werden lediglich einige neue Schraffuren hinzugefügt. Im dritten Zustand wird insbesondere die Nische hinter der Frau stärker akzentuiert, und das unterste Textilstück erhält eine dekorative Borte. Erst ab dem vierten Zustand kommt der Schlüssel für die Drosselklappe hinzu. Im fünften Zustand wurden neue Schraffuren eingefügt und einzelne Bereiche mit der Kaltnadel überarbeitet. Im sechsten Zustand wird schließlich die Haube entfernt. Bei den späteren Zuständen des Blattes kommt also der Schlüssel am Ofen hinzu, der die Drosselklappe steuert und damit die Wärme des Ofens reguliert. Wer hier in Ergänzung zu dem auf den Pantoffel gestellten Fuß ein weiteres Eindämmen der hitzigen Leidenschaften sehen möchte, wird jedoch durch die offenen Haare der Frau überrascht. Rembrandt macht uns damit einen Strich durch die Rechnung. Geht es also doch nur um das Thema Wärme? Ist der Frau nach der Regulierung des Ofens endlich so warm geworden, dass sie die Haube ablegen kann? Sich die Abfolge der Druckzustände als Stationen einer Geschichte vorzustellen, erscheint leider wenig zielführend. Hinzu kommt, dass die Zeitgenossen Rembrandts anscheinend kein Interesse an der Abfolge der Zustände hatten. Jedenfalls fehlen Hinweise in zeitgenössischen Quellen. Die Sammler des 17. und frühen 18. Jahrhunderts vermerkten bei unterschiedlichen Zuständen lediglich die Anzahl der Varianten.36 Ein berühmtes Beispiel ist der Amsterdamer Sammler Valerius Röver (1686–1739), der in Bezug auf die Abzüge der Frau am Ofen in seiner Sammlung schrieb: „Die Frau am Ofen ohne die weiße Haube, 2 mal; 4 Frauen am Ofen mit der weißen Haube und mit und ohne den Ofenschlüssel, auch mit Veränderungen in Licht, und Schatten, und Papier.“ 37 Der künstlerische Prozess der fortschreitenden Entwicklung scheint demnach nicht von Interesse gewesen zu sein. Erst in den Werkverzeichnissen, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden sind, versucht man, die Reihenfolge der Zustände festzulegen. Sie stellt sich hier jedoch ganz anders dar als heute. So werden in Edme Gersaints erstem Werkverzeichnis zu Rembrandts druckgrafischem Œuvre für die Frau am Ofen drei Zustände genannt: Der erste Zustand zeige eine Frau mit Haube, der Ofen weise einen Ofenschlüssel auf. Im zweiten Zustand sei die Haube weiterhin vorhanden, jedoch fehle der Ofenschlüssel. Im dritten Zustand sei die Frau ohne Haube zu sehen; der Ofenschlüssel sei wieder vorhanden.38 Gersaint zeigt sich abschließend erstaunt über die Veränderungen des Blattes, für die er keine Erklärung finde. Adam von Bartsch folgt der Beschreibung Gersaints, unterscheidet jedoch vier Zustände: In den ersten beiden, nur graduell unterschiedlichen, Zuständen trägt

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die Frau eine Haube; im Ofen steckt ein Schlüssel. Im dritten Zustand fehlt der Schlüssel. Im vierten Zustand fehlt die Haube auf dem Kopf der Frau. Der Ofenschlüssel ist wieder eingefügt.39 Gersaint und Bartsch gingen demnach beide davon aus, dass der Ofenschlüssel im Laufe der Zustände verschwindet und dann wieder eingefügt wird, wenn die Haube entfällt. Damit stellte sich die Abfolge der Zustände damals komplizierter und weniger plausibel dar als heute. Der Blick zurück auf Gersaint und Bartsch hat leider keine neuen Möglichkeiten eröffnet, um die Abfolge der Zustände zu verstehen. Die Reihenfolge bietet keinen Anhaltspunkt für eine angedachte Erzählung oder die zunehmende Konkretisierung eines Themas wie zum Beispiel ‚Wärme‘. Doch worum geht es Rembrandt in dieser Darstellung? Ein Element, das in allen Zuständen gleich bleibt, haben wir noch nicht näher betrachtet: das Medaillon am Ofen. In der aktuellen Forschungsliteratur wird übereinstimmend davon ausgegangen, dass es sich um eine Darstellung der Maria Magdalena zu Füßen des Gekreuzigten handelt.40 Eine Interpretation wurde daraus bislang nicht abgeleitet. Zu sehen ist eine Frau mit zum Gebet zusammengelegten Händen. Links auf Höhe ihrer Stirn sind zwei genagelte Füße zu erkennen. Auch wenn die Darstellung nicht ganz eindeutig ist, so bietet die Identifizierung als Maria Magdalena doch einen geeigneten Ansatz für eine Interpretation. Maria Magdalena ist in der Bibel nicht klar fassbar. Sie wurde jedoch seit Papst Gregor I. traditionell mit der reuigen Sünderin, die Jesus die Füße wäscht, gleichgesetzt. Bedenkt man, dass Rembrandt Prostituierte als Modelle einsetzen musste, erscheint die Bezugnahme auf Maria Magdalena, der vielfach eine Vergangenheit als Prostituierte nachgesagt wurde, nachvollziehbar. Freilich fehlen ihre traditionellen Attribute wie Salbgefäß oder Totenschädel. Es ist daher kaum davon auszugehen, dass Rembrandt hier ein Modell als Maria Magdalena darstellen wollte. Ähnlich wie in dem Dresdener Gemälde Rembrandt und Saskia im Gleichnis vom verlorenen Sohn (um 1635, Gemäldegalerie der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Inv.-Nr. 1559) ist die Kenntnis des biblischen Stoffes für das Verständnis des Bildes nicht von Bedeutung. Bezieht man die Geschichte mit ein, gibt sie jedoch eine zusätzliche Tiefe. In ähnlicher Weise könnten auch bei der Frau am Ofen die Details eine moralisierende Botschaft implizieren. Damit wäre Rembrandt denjenigen Betrachtern entgegengekommen, die nach einer Rechtfertigung der Darstellung einer halbnackten Frau suchten. Gleichzeitig hätte er damit einen Kommentar zur zeitgenössischen Atelierpraxis geliefert. Der Charakter der Szene als authentische Wiedergabe einer Modellsitzung deutet eine unmoralische Situation in Anwesenheit einer Prostituierten an.41 Dass das zeitgenössische Publikum darin eine gefahrvolle Begegnung für den Künstler sah, wurde bereits dargelegt.

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Damit muss sich auch der Betrachter fragen, ob er sich dem ästhetischen Genuss weiter hingibt oder vor der (scheinbar) unmoralischen Situation zurückschreckt. Doch Rembrandt hält den üblichen Sehgewohnheiten einiges entgegen: trotz ihrer Nacktheit, ist die Frau durch ihren gesenkten Blick, den Fuß auf dem Pantoffel und den versteckten Topf als keusch gekennzeichnet. Geht wirklich eine Gefahr von ihr aus?

A nmerkungen 1 | Wetering, Ernst van de, „Rembrandt’s Bathseba. The Object and Its Transformations“, in: Ann Jensen Adams (Hg.), Rembrandt’s Bathseba Reading King David’s Letter, Cambridge/ New York 1998, S. 27–47, hier S. 42–44; Hinterding, Erik/Luijten, Ger/Royalton-Kisch, Martin (Hg.): Rembrandt the Printmaker, Ausst.-Kat. Rijksmuseum Amsterdam 2000–2001 und British Museum London 2001, Amsterdam 2000, Kat.-Nr. 87, S. 347–352, hier S. 347; Sluijter, Eric Jan: Rembrandt and the female nude, Amsterdam 2006, S. 297. In der Annahme eines dritten Medaillons wurden diese auch als Darstellungen der drei Kardinaltugenden, gemeint sind die drei christlichen Tugenden, gedeutet (Vignau-Wilberg, Thea: Rembrandt auf Papier. Werk und Wirkung, Ausst.-Kat. Alte Pinakothek München 2001–2002 und Museum het Rembrandthuis Amsterdam 2002, München 2001, Kat. Nr. 16, S. 93–96, hier S. 93). 2 | Vignau-Wilberg 2001, S. 93; Sluijter 2006, S. 294; Fucci, Robert: Rembrandt’s Changing Impressions, Ausst.-Kat. The Miriam & Ira D. Wallach Art Gallery Columbia University 2015, New York/Köln 2015, S. 134; Michael Zell, „Graphic Images: Rembrandt’s Printed Nudes“, in: Judith Noorman/David de Witt, Rembrandt’s Naked Truth, Ausst.-Kat. Het Rembrandthuis 2016, Zwolle 2016, S. 87–99, hier S. 95. 3 | Der siebte Zustand entstand posthum (NHD 307). 4 | Manuth, Volker: „‚As stark naked as one could possibly be painted…‘ The Reputation of the Nude Female Model in the Age of Rembrandt“, in: Julia Lloyd Williams (Hg.), Rembrandt’s Women, Ausst.-Kat. National Gallery of Scotland Edinburgh 2001, München/London/New York 2001, S. 48–53, hier S. 48; Noorman, Judith: „On Truth and Beauty. Drawing Nude Models in Rembrandt’s Time“, in: Judith Noorman/David de Witt, Rembrandt’s Naked Truth, Ausst.-Kat. Het Rembrandthuis 2016, Zwolle 2016, S. 11–43, hier S. 13–14. 5 | Noorman 2016, S. 14. 6 | Noorman 2016, S. 41. 7 | Manuth 2001, S. 49; Sluijter 2006, S. 320–321; Noorman 2016, S. 19. 8 | „uytgheschildert so moedernaeckt als jemant uytgeschildert soude konnen werden, so legghende op het alderoneerlijkste op een kussen te slapen.“ Zitiert nach: Noorman 2016, S. 164, Anm. 11. Vgl. auch: Sluijter 2006, S. 323.

Druckgrafik als Prozess 9 | Manuth 2001, S. 51–53; Sluijter 2006, S. 322–323; Hammer-Tugendhat, Daniela: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln/Weimar/ Wien 2009, S. 27. 10 | „Drawing from the nude model, by both Rembrandt and his pupils, only started in his workshop after 1646, initially exclusively male models.“ Sluijter 2006, S. 292. 11 | Hinterding/Luijten/Royalton-Kisch 2000, Kat.-Nr. 51, S. 213–217, hier S. 213; Hinterding, Erik: Rembrandt Etchings from the Frits Lugt Collection, 2 Bde., Paris 2008, Textband: Kat.Nr. 151, S. 346–349, hier S. 347; Hinterding, Erik: Rembrandts Radierungen. Bestandskatalog. Ehemalige Großherzogliche und Staatliche Sammlungen sowie Goethes Sammlung, Köln/ Weimar/Wien 2011, Kat.-Nr. 44, S. 110–111; Noorman 2016, S. 32–34. Auch Bevers weist darauf hin, dass „vorbereitende Studien im Entstehungsprozeß der Radierungen nur eine untergeordnete Rolle spielten“ und Rembrandt meist direkt in die Platte arbeitete. Bevers, Holm: „Rembrandt als Radierer“, in: Holm Bevers/Jasper Kettner/Gudula Metze, Rembrandt. Ein Virtuose der Druckgraphik, Ausst.-Kat. Museum Höxter-Corvey 2006 und Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin 2006, Berlin/Köln 2006, S. 6–25, hier S. 21. 12 | de Witt, David: „Rembrandt’s Moral Caution Concerning the Beautiful Female Nude“, in: Judith Noorman/David de Witt, Rembrandt’s Naked Truth, Ausst.-Kat. Het Rembrandthuis 2016, Zwolle 2016, S. 45–61, hier S. 45; Noorman 2016, S. 41; Sluijter 2006, u.a. S. 275 und S. 294. 13 | Noorman 2016, S. 19 und 41. 14 | Noorman 2016, S. 42. 15 | Rijksprentenkabinett Amsterdam, Inv.-Nr. RP-T-1930-57; Benesch 1146, sowie British Museum London, Inv.-Nr. 1859,0806.85; Benesch 1147. Dazu: Schatborn, Peter: Tekeningen van Rembrandt, zijn onbekende leerlingen en navolgers, (Catalogus van de nederlandse tekeningen in het Rijksprentenkabinet, Rijksmuseum, Amsterdam, Bd. IV), Den Haag 1985, Nr. 69; Bevers, Holm/Schatborn, Peter/Welzel, Barbara, Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen, München/Paris/London 1991, Kat.-Nr. 51, S. 156–158, hier S. 156; Royalton-Kisch, Martin: Catalogue of Drawings by Rembrandt and his School, 2010, Kat.Nr. Raven.1 (Online einsehbar unter: https://www.britishmuseum.org/research/publications/ online_research_catalogues/rembrandt_drawings/drawings_by_rembrandt.aspx) 16 | Bevers, Holm/Kettner, Jasper/Metze, Gudula: Rembrandt. Ein Virtuose der Druckgraphik, Ausst.-Kat. Museum Höxter-Corvey 2006 und Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin 2006, Berlin/Köln 2006, Nr. 102, S. 167. 17 | Hammer-Tugendhat 2009, S. 43; Sluijter 2006, S. 143–144. 18 | „Men doet een naakte vrouw zich tusschen minnaars baden;/Tot kanker van goed ze’en/een schoubaar oog-fenijn:/En dat zal noch Susann’, een kuyssche vrouwe zijn.“ Aus: Camphuysen, Dirck Rafaelsz: Stichtelycke rymen, om te lesen ofte singhen. […], Amsterdam 1647, S. 218. Zitiert nach: De Witt 2016, S. 50 und 166, Anm. 18). Dazu auch: Sluijter 2006, S. 143 und 145.

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Stefanie Knöll 19 | Jan Vos, Alle de Gedichten, Amsterdam 1726, Bd. 1, S. 331. 20 | Vgl. Sluijter 2006, S. 143 und 316. Dazu auch: Sluijter, Eric Jan: „‚Horrible nature, incomparable art‘: Rembrandt and the depiction of the female nude“, in: Julia Lloyd Williams (Hg.), Rembrandt’s Women, Ausst.-Kat. National Gallery of Scotland Edinburgh 2001, München/ London/New York 2001, S. 37–45, hier S. 40. 21 | Dazu u.a.: Hinterding, Erik: Rembrandt as an Etcher. The Practice of Production and Distribution, (Studies in Prints and printmaking 6), Ouderkerk aan den Ijssel 2006, Bd. 1, bes. S. 112–114, 125–126; Bevers 2006, S. 19; Hinterding 2011, S. 20; Fucci 2015, S. 19–20. 22 | Dazu u.a.: Fucci 2015, S. 29; Schwahn, Wolfgang: „Rembrandts Schattenreiche. Ein Beitrag zur Drucktechnik unter besonderer Berücksichtigung des Hundertguldenblattes“, in: Jürgen Müller/Jan-David Mentzel (Hg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen, Ausst. Kat. Haus der Graphischen Sammlung Freiburg 2017–2018 und Kunstsammlungen der Veste Coburg 2018, Petersberg 2017, S. 48–56, bes. S. 54–55. 23 | Vgl. Bevers 2006, S. 20. Auf die Frau am Ofen bezogen bei: Hinterding 2008, Textband: Kat.-Nr. 154, S. 353–355, hier S. 354. Eine ausführliche Diskussion unterschiedlicher Gründe für die Herstellung mehrfacher Zustandsdrucke findet sich bei Fucci 2015, S. 31–36, passim. 24 | So auch bei Alpers, Svetlana: Rembrandt als Unternehmer. Sein Atelier und sein Markt, Köln 1989, S. 242–243. 25 | Zitiert nach Bevers 2006, S. 20–21. Im niederländischen Original heißt es: „Dit doen bragt hem grooten roem en niet min vordeel by: inzonderheid ook het kunsje van lichte verandering, of kleine en geringe byvoegzelen, die hy aan zyneprintjes maakte, waar door dezelve andermaal op nieuw verkogt werden. Ja de drift was in dien tyd zoo groot dat zulke luiden voor geen regte liefhebbers gehouden wierden, die het Junootje met en zonder t´ kroontje, t Josephje met het wit en bruine troonitje en diergelyke meer, niet hadden. Ja het Vrouwtje by de kachel, schoon van zyn geringste, moestelk met, en zonder ´t witte mutsje, met, en zonder het sleutelkacheltje hebben.“ Zit. nach Fucci 2015, S. 39, Anm. 57. 26 | Eigene Übersetzung nach dem niederländischen Original in Anm. 25. Bei Bevers fehlt dieser Teil des Zitats. 27 | Sluijter 2006, S. 294; Fucci 2015, S. 134; Zell 2016, S. 95. 28 | „[...] this etching is no more than a picture of a model patiently performing her task in the studio.“ Weber, Gregor J.M.: „Observation of everyday life“, in: Jonathan Bikker/Gregor J.M. Weber/Marjorie E. Wieseman/Erik Hinterding, Late Rembrandt, Ausst.-Kat. National Gallery London 2014–2015 und Rijksmuseum Amsterdam 2015, London 2014, S. 57–73, hier S. 69. So auch: Sluijter 2006, S. 296, 327 und 330. 29 | Darauf weist auch Sluijter hin: Sluijter 2006, S. 298. 30 | Alpers 1989, S. 134–135. Entschieden gegen eine Identifizierung von Aktmodellen mit Hedrickje Stoffels argumentieren u.a.: Manuth 2001, S. 50–51; Sluijter 2006, S. 327–331; HammerTugendhat 2009, S. 27.

Druckgrafik als Prozess 31 | Müller, Jürgen: „Halbbekleidete Frau am Ofen sitzend“, in: Jürgen Müller/Jan-David Mentzel (Hg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen, Ausst. Kat. Haus der Graphischen Sammlung Freiburg 2017–2018 und Kunstsammlungen der Veste Coburg 2018, Petersberg 2017, Kat.-Nr. 31, S. 126. 32 | Vgl. Fucci 2015, S. 135. Dazu auch: Lloyd Williams, Julia (Hg.): Rembrandt’s Women, Ausst.-Kat. National Gallery of Scotland Edinburgh 2001, München/London/New York 2001, Kat. Nr. 131; Sluijter 2006, S. 296; Weber 2014, S. 69. Erik Hinterding bedauert hingegen die Entfernung der Haube, „since the cap had previously been such a welcome highlight in an otherwise dark setting.“ Hinterding/Luijten/Royalton-Kisch 2000, S. 352. 33 | Fucci 2015, S. 135. 34 | Van de Wetering 1998, S. 44; Hammer-Tugendhat 2009, S. 225–226. 35 | Koldewij, Jos: Geloof & Geluk. Sieraad en Devotie in middeleeuws Vlaanderen, Ausst.-Kat. Gruuthuse Museum Brügge 2006–2007, Arnheim 2006, Abb. 7.39, S. 115. 36 | Fucci 2015, S. 34–35 und 134. 37 | Eigene Übersetzung nach dem Zitat bei Fucci 2015, S. 135. 38 | „Cette Estampe est fort curieuse dans ses différences, dont voici les gradations. La premiere & la plus rare de toutes, est celle où cette femme se trouve coëffée d’un bonnet, allongé par derriere, & où l’on voit une clef attachée au milieu de la partie élevée au dessus du poële, qui ressemble assez au coin du manteau d’une cheminée. Dans la seconde épreuve, la femme est coëffée comme dans la précédente; il ne se trouve point de clef attachée à la cheminée. Ensin dans la troisiéme [sic] épreuve, qui est la moins rare, quoiqu’elle le soit encore, la femme y est coëffée en cheveux, & sans bonnet, & la clef reparoît à la cheminée.“ Zitiert aus: Gersaint, Edme François: Catalogue raissoné de toutes les pieces qui forment l’œuvre de Rembrandt. Composé par feu M. Gersaint, & mis au jour, avec les Augmentations nécessaires, Par les Sieurs Helle & Glomy, Paris 1751, Nr. 189, S. 154–155. 39 | „Cette estampe est fort curieuse dans ses différences, dont voici les quatre gradations. Premiere épreuve. D’une rareté extreme. La femme a un bonnet sur la tête; la clef attachée au tuyau du poële, n’est ombrée que d’une seule taille, et le fond, à la hauteur de la tête de la femme, est moins travaillé. Seconde épreuve. La clef est plus ombrée, ainsi que le fond à la hauteur de la tête de la femme. Troisieme épreuve. La clef au poële est supprimée. Quatrieme épreuve. La femme est sans bonnet et coëffée en cheveux. La clef effacée dans la précédente est rétablie.” Zit. aus: Bartsch, Adam von: Catalogue raisonné de toutes les estampes qui forment l’oeuvre de Rembrandt, et ceux de ses principaux imitateurs. Composé par les Sieurs Gersaint, Helle, Glomy et P. Yver. Nouvelle Édition, Wien 1797, 1. Teil, Nr. 197, S. 169–170, hier S. 170. 40 | van de Wetering 1998, S. 42–43; Hinterding/Luijten/Royalton-Kisch 2000, S. 347; Sluijter 2006, S. 297. Nicht so bei: Vignau-Wilberg 2001, S. 93. 41 | Sluijter betont, dass Aktmodelle immer als Prostituierte wahrgenommen wurden (Sluijter 2006, u. a. auf S. 314 und 331).

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E inführung „[...] comme l’offrant à Dieu, le tout exprimé avec le plus de dévotion qu’il se pourra [...] et non pas d’être en priant qui est une manière trop ordinaire [...].“ 1

So lautet der testamentarisch verfügte Wunsch des 1642 verstorbenen Jean-Armand de Plessis, Duc de Richelieu, französischer Kardinal und einflussreiche politische Persönlichkeit des 17. Jahrhunderts für sein eigenes Grabmal in der Kapelle des Universitätsgeländes der Sorbonne. Der Bildhauer François Girardon sollte ihn laut Vereinbarung von 1675 nicht in der üblichen Haltung als Betenden darstellen (Abb. 1): Richelieu ruht mit aufgerichtetem Oberkörper auf einem Totenbett, gestützt von der Pietas, seinen Blick zum Altar erhoben.2 Zu seinen Füßen befindet sich die weinende Doctrina, während zwei Putten im Rücken der Figur das Wappen halten. Mit seiner nach oben geöffneten linken Hand weist Richelieu auf das von der Pietas präsentierte, aufgeschlagene Buch.3 Den rechten Arm angewinkelt, eng am Oberkörper anliegend, berührt er mit seiner rechten Hand das Ordenskreuz des Saint-Esprit (Abb. 2). Als Zeichen der Demut liegt die Kardinalsmitra neben ihm. Gekleidet ist er in einen langen Mantel und eine Monzetta; darunter trägt er eine plissierte, am Saum spitzenverzierte Alba. Charakteristisch sind die kantigen, hageren Gesichtszüge, der spitze Kinn- und ein Oberlippenbart. Auf der Physiognomie zeichnen sich zwar Spuren seines Alters ab, kleine Falten an Mund und Augen, leicht hervortretende Wangenknochen, doch wirkt seine Körperhaltung kraftvoll und selbstbewusst. Anlässlich der Festschrift zu Ehren des 60. Geburtstags von Jürgen Wiener steht im Zentrum meines Beitrags dieses skulpturale Ensemble Girardons. Die Analyse ist zwischen Werkgenese, Quellenkritik, Ikonografie und Inszenierungs-

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Abbildung 1: François Girardon, Grabmal des Kardinals Richelieu, 1694 vollendet, Chapelle de la Sorbonne, Chancellerie des universités de Paris, Paris 5e

Fotografie: Markus Castor

strategien situiert. Sie basiert auf meiner 2005 eingereichten, von Jürgen Wiener betreuten, Magisterarbeit und dokumentiert zugleich den seit meinem Studium entwickelten Skulpturenschwerpunkt. Den präzisen Werkbetrachtungen und Studien von Oberflächentexturen, ikonografischen und typologischen Vergleichen in stundenlangen Gesprächen mit Jürgen Wiener auch während meiner Dissertation habe ich entscheidende Kenntnisse über die italienische und französische Barockplastik, insbesondere Sepulkralplastik zu verdanken. Das Grabmonument des Kardinals Richelieu nimmt durch seine innovative figurative Konzeption und außergewöhnliche Platzierung sowie komplexe Entstehungsgeschichte einen herausragenden Stellenwert innerhalb der französischen Grabplastik ein. Bis dato fehlte eine ausführliche kunsthistorische Untersuchung von diesem Hauptwerk Girardons. Mittlerweile hat sich die Forschung dieser vernachlässigten Gattung stärker zugewandt, und es sind seit 2007 Texte in zwei Sammelbänden zur Person Richelieu und seinem Grabmal u. a. von Geneviève Bresc-Bautier, Claire Mazel und Pierre Rosenberg erschienen, die durch umfassende Quellenrecherchen und eine Darlegung der historischen Umstände, weniger

Das Grabmal Kardinal Richelieus

Abbildung 2: François Girardon, Grabmal des Kardinals Richelieu, 1694 vollendet, Chapelle de la Sorbonne, Chancellerie des universités de Paris, Paris 5e

Fotografie: Markus Castor

durch ikonografische und stilistische Analysen charakterisiert sind.4 Zu meinen damaligen relevanten Quellen gehören die sogenannten Marchés, d. h. vertragliche Dokumente, die größtenteils von Pierre Francastel (1928), Jules Guiffrey (1889), M.-E. Saint-Beuve (1926) und Roger-Armand Weigert (1947) veröffentlicht wurden, ferner Reiseberichte, Stadt- und Künstlerportraits, Schriften der königlichen Akademie, Architekturbeschreibungen und das Tagebuch des Herrn Chantelou.5 Frühe Monografien von Corrard de Breban (1850) und Pierre Francastel (1928), Dissertationen von Dean Walker (1982) und Artemis Klidis (2011) sowie Überblickswerke zur Grabplastik von Florence Ingersoll-Smouse (1912), Mary Jackson Harvey (1987) und Erwin Panofsky (1964) boten entscheidende Grundlagen. 6 Das Grabmal steht auf einem zweifach gestuften Sockel aus schwarzem Stein und weißem Marmor im Chor der Chapelle de la Sorbonne. Darauf befindet sich ein weißer, konkav-konvex geschwungener Sarkophag, auf dem ein zu beiden Seiten herabhängendes Tuch aufliegt, dessen Bordüre mit zwei, sich abwechselnden Wappen verziert ist. An seinen vier Ecken weist er kapitellartige, bauchige Ausbuchtungen auf, die mit Akanthusblättern und Knospen verziert sind. Auf

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dem Sarkophag liegt eine dünne Matratze für die Figur des Kardinals. Außer der schwarzen Plinthe ist das gesamte Ensemble aus weißem Marmor gearbeitet. Es ergibt sich also eine interessante Sockelkonzeption, basierend auf einem architektonisch-rahmenden Sockel, der das Werk vom Kirchenraum abgrenzt. Die anderen beiden Sockelzonen haben einen immanenten, die Inszenierung stützenden Bezug. Girardon evoziert hier eine Spannung zwischen verschiedenen, im Stein nachgeahmten Materialitäten, die zugleich unterschiedliche Zeitebenen implizieren: der Sarkophag als Hinweis auf Richelieus Tod und damit seinen Wunsch memorialen Gedenkens sowie die matratzenähnliche, lebensweltliche Nähe suggerierende Deckplatte. Sie zeichnet sich insofern als Deckplatte aus, als sie das Tuch einklemmt, also einen Zwischenraum vorgibt, zugleich wirkt sie durch ihre Oberflächenbeschaffenheit wie ein Totenbett.7 Am Matratzenrand unterhalb des Kardinalrückens hinterließ Girardon die Inschrift „Fr. Girardon Tricassin. Inv. Et sculpsit An. M.DC.XCIV.“, wodurch er die Urheberschaft von Invention und Ausführung für sich beansprucht.

D ie E ntstehungsgeschichte Aufgrund der Beteiligung verschiedener Personen über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren gestaltet sich die Entstehungsgeschichte dieses Grabmonuments, in die neben Girardon noch andere Künstler involviert waren, als komplex. 1634 veranlasste Richelieu den Bau der Église de la Sorbonne, die sein Mausoleum werden sollte.8 Jacques Lemercier wird zum Architekten ernannt und gebeten, einen Entwurf für das Monument zu liefern, der als verloren gilt.9 1642 stirbt der Kardinal noch vor Vollendung seiner Kirche. In seinem Testament beauftragt er seine Nichte, Duchesse d’Aiguillon, den Sublet de Noyers de la Sorbonne und Lemercier, die Arbeiten an seinem Grabmal zu beaufsichtigen.10 Vier Jahre später kauft Lemercier hierfür Marmor aus Carrara. Zu diesem Anlass wurde zwischen der Duchesse und dem in Carrara wohnenden Girolamo Sarti ein Vertrag aufgesetzt. Dieses Dokument enthielt „un dessin et mémoire“ von Lemercier. Der Vertrag gibt Auskunft über Figurenanzahl und Maße sowie die Auftragsvergabe an den Bildhauer Guillaume Bertelot, der ein Modell schuf.11 Anfänglich war demzufolge ein priant vorgesehen. Die Entscheidung, den Kardinal betend darzustellen, beinhaltet einen Widerspruch, da Richelieu selbst eine sich Gott darbietende Haltung favorisierte und seiner Nichte dieser Wunsch bekannt war. Trotzdem ermöglicht auch die Position en priant einen gewissen künstlerischen Gestaltungsspielraum. Nach dem Tod Bertelots 1648 wurde der Auftrag unverrichteter Dinge an Simon Guillain übergeben, der ein Jahr später einen Folgevertrag unterzeichnete.12 Da

Das Grabmal Kardinal Richelieus

die Absprache notariell nicht bestätigt wurde – „soulz les signatures privées des partyes“ – könne man diese Spur laut Weigert nicht weiter verfolgen.13 Ein 1650 datiertes Dokument gibt allerdings Auskünfte über den Vertrag zwischen Bildhauer und Nichte. Da die Grabmalsarbeiten bis zu dessen Tod 1658 nicht begonnen wurden, geht Walker davon aus, dass die endgültige Konzeption frühestens 1649 und nicht später als 1665 formuliert wurde. Für diese These liefert er keine Begründung. Doch könnte das Jahr 1649 durch den Vertragsschluss zwischen der Duchesse d’Aiguillon und Guillain eine neue Idee hervorgebracht haben. 1665 fand auf Wunsch der Nachfahrin diesbezüglich ein Gespräch zwischen ihr und Bernini statt. Zu diesem Zeitpunkt muss es einen Entwurf gegeben haben, über den jedoch nichts Näheres bekannt ist. Allerdings würde die These Walkers bedeuten, dass er jegliche Invention durch Girardon für unmöglich hält, da dieser 1665 den Auftrag noch nicht bekommen hatte, und er somit nur für die handwerkliche Ausführung der finalen Komposition zuständig gewesen sein konnte. Am 12. April 1675 wurde ein erster Vertrag von Girardon und der Duchesse d’Aiguillon unterzeichnet. Er enthält u. a. ein niedriges Honorar und eine detaillierte Beschreibung des Grabmals, die größtenteils der heutigen Ausführung entspricht.14 Spätestens nun stand die Anordnung der Figuren fest. Es kann hiernach nicht eindeutig geklärt werden, inwiefern Girardon in die vertragliche Ausarbeitung involviert war und ob er eine Zeichnung eingereicht hatte, die in die Beschreibung aufgenommen worden war. Insgesamt sind drei Verträge überliefert:15 Zwei Jahre später wurde am 3. Februar 1677 erneut ein Vertrag unterzeichnet, dieses Mal von der Nichte der inzwischen verstorbenen Duchesse d’Aiguillon, die gleichnamige Marie Madeleine Therèse de Vignerot. Kurz zuvor hatte Girardon vor Ort ein Gipsmodell zur Begutachtung präsentiert. Die Formulierungen des ersten Vertrags finden sich hier wieder, außer dass die Maße der Figuren verringert werden, um sie dem Marmorvorrat anzupassen, so wie auch der Fortschritt der bereits begonnenen Arbeiten deutlich wird. Bisher ist unklar, welche detaillierten Vorstellungen der Kardinal von seinem Grabmal hatte, welchen Einfluss Girardon auf die endgültige Konzeption besaß und inwiefern er eigene Inventionen geltend machen konnte. Möglicherweise war es seine Idee, den Kardinal halb liegend auf einem Totenbett darzustellen. Insbesondere in einer Zeit, in der Bildhauertätigkeiten oftmals im Kollektiv nach Zeichnungen von Hofarchitekten oder -malern ausgeführt wurden, liegt eine Orientierung an der Vorlage Lemerciers und Charles Le Bruns beziehungsweise Nicolas Poussins nahe. Bekanntheit hatte Girardon u. a. durch sein Apollobad in Versailles (1675) erlangt. Immerhin beanspruchte er in seiner Inschrift die Autorschaft und ließ zudem vier Stiche des Grabmals 1695 von Charles Simmoneau und Bernard Picart anfertigen, gewidmet Charles-Maurice Le Tellier, Erzbischof von Reims und proviseur der Sorbonne.16 Hingegen gibt es keine Stiche von Skulptu-

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ren, die unter Beteiligung anderer Künstler geschaffen wurden, wie das Grabmal Louvois’ (mit Desjardins) (1693–1702) in der Hospizkapelle, Tonnere. Diese Vervielfältigung der eigenen Werke, die er in einer fiktiven Galerie präsentiert, kann durchaus als Eigenwerbung verstanden werden. Während Florent Le Comte in seinem Cabinet des singularités 1699 die Invention des Entwurfs Le Brun zusprach, korrigierte er nach Protesten Girardons seine Aussage ein Jahr später.17 Die These Le Comtes übernahmen Comte de Caylus (1750) und Dezallier d’Argenville 1797.18 Es gab auch Stimmen, die den Entwurf Girardon bescheinigten, wie Germain Brice 1725 sowie Pierre Jean Grosley 1742.19 Francastel spricht sich ebenso für eine Urheberschaft Girardons aus.20 Über die Zuschreibung des Entwurfs und die Einflüsse wurde unter den Zeitzeugen und in der Literatur kontrovers diskutiert. Der dritte Vertrag wurde am 17. Juli 1678 vor den beiden Notaren Carnot und Bourdin aufgesetzt. Zentrales Thema sind die Zahlungsmodalitäten, die Abgabefrist sowie ein Marmorblock im Wert von 4500 livres für die Figuren der Pietas, des Kardinals sowie der beiden Putti. Da die Duchesse ihren Verpflichtungen nicht nachkam, kaufte Girardon auf eigene Kosten Marmor. Nach einigen erfolglosen Bittschriften klagte er wegen unterlassener Zahlungen und Marmorlieferungen vor Gericht. Jules Guiffrey gibt hierüber detailliert Auskunft.21 Im Arrêt du Conseil Privé vom 26. April 1690 werden Zeitrahmen, Marmorlieferungen und Zahlungsfristen genauestens festgelegt. Die Arbeit sei binnen der nächsten zweieinhalb Jahre auszuführen, wobei die Duchesse dazu verpflichtet wurde, innerhalb eines Jahres das Material zu liefern und ihrer Zahlungspflicht Folge zu leisten. Jean-Baptiste Tuby wird in diesem Streitfall zum Experten ernannt, um den Fortschritt der Arbeiten zu überwachen. 1694 wurde das Grabmal vollendet.

Standort : G rabkapelle

in der S orbonne politischer oder geistlicher O rt?





1635 wurde der Grundstein der von Lemercier erbauten Église de la Sorbonne gelegt. Der Kardinal machte seiner Stiftung zur Auflage, dass sie später sein Grabmal aufnehmen sollte. Die Erweiterung der Sorbonne sowie der Neubau der Kirche stützten die geistliche Autorität des Kardinals. 1607 promovierte er dort in Theologie und wurde 1622 zum Direktor der Universität gewählt. Dies mag seine Verbundenheit und die Wahl dieser Kirche begründen. Ein entscheidendes Dokument zur Standortfrage ist das Tagebuch des Herrn Chantelou. Bernini schlug in seinem Treffen 1665 der Duchesse d’Aiguillon vor, den Altar, wie in St. Peter, unter die Kuppel zu verlagern und das Grabmal im Chor oder gar im Querhaus aufzustel-

Das Grabmal Kardinal Richelieus

Abbildung 3: François Girardon, Grabmal des Kardinals Richelieu, 1694 vollendet, Chapelle de la Sorbonne, Chancellerie des universités de Paris, Paris 5e

Fotografie: Markus Castor

len.22 Die Duchesse erhob den Einwand, es könne religiösen Anstoß erregen, wenn man den Hochaltar (das heilige Sakrament) versetze. Auch könne eine andere Person den ursprünglichen Platz beanspruchen: „Frau von Aiguillon war von alledem sehr unangenehm berührt. Das Grabmal ins Querhaus zu stellen, paßte ihr durchaus nicht, weil der Herr Kardinal anders darüber verfügt hatte, und an der ganzen Art, wie sie die anwesenden Doktoren als Zeugen anrief, ging klar hervor,

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Abbildung 4: François Girardon, Grabmal des Kardinals Richelieu, 1694 vollendet, Chapelle de la Sorbonne, Chancellerie des universités de Paris, Paris 5e

Fotografie: Markus Castor

Das Grabmal Kardinal Richelieus dass sie lediglich für billiges Geld ein möglichst großes Ding hinstellen wollte. Der Cavaliere durchschaute das und erklärte kurz und bündig, er sei nicht gekommen um zu streiten, sondern um sein Gutachten abzugeben. Das hätte er getan, und zwar wiederholt und damit sei die Sache für ihn erledigt. Die weitere Beratung der Herzogin übernahm der Abbé Butti. ,Wenn der Hochaltar unter der Kuppel steht‘, erklärte er, ,muss man ihn vor allen Dingen niedrig halten, damit das Grabmal darüber hinausragt. Ich selbst besitze einen Entwurf vom Herrn Cavaliere für eine derartige Situation und bin gern bereit, ihn der Frau Herzogin zur Verfügung zu stellen‘.“ 23

Aus diesem Gespräch geht hervor, dass Bernini selbst eine Zeichnung angefertigt hatte.24 Das Grabmal Kardinal Richelieus wurde also an einem signifikanten Ort platziert: im Mittelpunkt des Chores in einer eigens erbauten Grabkirche unter einer der größten Kuppeln von Paris.25 Dementsprechend ist das Ensemble für verschiedene Ansichten von Altar, Langhaus und Querhaus konzipiert. Der oder die vom Haupteingang kommende BetrachterIn (Rue de Sorbonne) nimmt zuerst den Rücken der den Kardinal stützenden Pietas wahr (Abb. 3) und sieht wie dieser selbst zum Altar auf, sowie den weinenden, das Wappen haltenden Putto. Vom nördlichen Eingang der Sakristei aus (Abb. 1) erblickt man den Rücken der trauernden Tugend und die Gesichter der beiden anderen Figuren. Den Studenten, Klerikern und Angehörigen der Universität verstellen beim offiziellen nördlichen Eingang der Vierungspfeiler des Querhauses und das Querhaus zunächst die freie Sicht. Erst nach einigen Schritten in Richtung Vierungskuppel treten die Köpfe der Pietas und des Kardinals hervor. Vom Hochaltar26 aus leitet die trauernde Doctrina zur Effigie Richelieus bis zur knienden Pietas, dem formal höchsten Punkt der kaskadenartigen Figurengruppe (Abb. 4). Es scheint, als fungiere die Kirche primär als Grabkapelle, in der der Kardinal sich Gott darbietend auf Erlösung hofft und nur sekundär als Kirche der theologischen Fakultät. Durch die zentrale Stellung wird das Monument in den Ablauf der Liturgie miteinbezogen, wenn es diese nicht gar beeinträchtigte. Die Personen im Chorgestühl sind einerseits an der Messe teilnehmende Gläubige, andererseits avancieren sie zu Zeugen des sich Gott darbietenden und sterbenden, bereits ins ewige Leben blickenden Richelieus. Der Kirchenraum wird zur Bühne für den Tod des Kardinals. Ähnlich einem barocken Theater ist die Perspektive des Publikums, die öffentliche commemoratio, Bestandteil der inszenatorischen Strategie des Werks. Ursprünglich wurde das Grabmal, Alexandre Gady zufolge, durch eine natürliche Lichtquelle – ein nicht mehr existierendes Oculus-Fenster in der Apsis – erhellt.27 Diese morgendliche Beleuchtung trug vermutlich zu einer gelungenen, die transzendentale Erfahrung unterstreichenden Inszenierung bei.

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Girardon schuf ein allansichtiges Grabmal, das im 17. und 18. Jahrhundert zumindest in Rom den Päpsten vorbehalten war.28 Innerhalb einer eigenen Stiftung, sei es Kirche oder Kapelle, konnte diese einschränkende Bedingung umgangen werden, so auch bei Richelieu.29 Trotzdem impliziert ein freistehendes Grabmal inmitten eines eigenen Mausoleums für einen Kardinal in Paris eine herrscherliche Selbstdarstellung, die es damals nur in der Valois-Kapelle der französischen Könige in St. Denis gab.30 Vollplastische lebensgroße Figuren zählten ebenfalls zu den Privilegien der Päpste.31 Bernini versuchte diese Problematik für Kardinal Pimentel zu umgehen, indem er dessen Grabmal zwar an die rechte Kirchenwand der Nebenapsis platzierte, es aber so gestaltete, dass sich der Eindruck eines illusionistischen Freigrabmals einstellt, das sich hinter der Wand fortsetzt.32 Die im Profil betende Figur des Verstorbenen ist direkt vor der Wand in der Mitte zwischen vorderem und hinterem Tugendpaar positioniert und halb als Relief gearbeitet. Die vier den Sarkophag flankierenden Figuren sind nur vorne vollplastisch. Das hintere Paar befindet sich wie die Effigie direkt vor der Wand und ist bis zur Hälfte ausgearbeitet – eine schrittweise Abnahme der Plastizität. Weshalb wurde dieses Grabmal erst circa 50 Jahre nach dem Tod Richelieus errichtet? Sainte-Beuve gibt in À propos d’un marché pour le tombeau de Richelieu (1926) mögliche Gründe an: Nach dem Tod des politisch mächtigen Kardinals seien die Umstände zur Errichtung eines Denkmals schwierig gewesen, da er sich in der Bevölkerung keiner großen Beliebtheit erfreute.33 Ein zweiter Grund liege in den Bauarbeiten an der Kirche, die aufgrund von Streitigkeiten zwischen der Duchesse und Mitgliedern der Sorbonne erst 1656 abgeschlossen waren, ferner die zeitgleiche Fronde, ein Aufstand des Adels gegenüber dem König; ebenso sind finanzielle Gründe denkbar oder meines Erachtens auch die wechselnden Bildhauer und das schwankende Interesse der beiden Nachfahrinnen.

Das figurative S etting : R ichelieu , P ietas und D octrina Die am Kopfende des Grabmonuments kniende Pietas blickt gütig auf Richelieu.34 Ihren rechten Arm hat sie um die Schulter des Kardinals gelegt, um seinen Oberkörper zu stützen. Dadurch suggeriert sie, konträr zur Position ihrer Beine, eine gewisse Stabilität, die sich inhaltlich ergänzt. Sie kniet mit ihrem linken Bein auf einer Volute, mit dem rechten auf dem Rand des Betts und scheint sich nur mit den Zehenspitzen abzustützen. In der linken Hand hält sie aufgeschlagen besagtes Buch. Ihr Haar ist mit einem Tuch bedeckt, das ihr in leichten Falten auf den Rücken fällt und ihre Stirn bedeckt. Gekleidet ist sie in ein antikisierendes, togen-

Das Grabmal Kardinal Richelieus

Abbildung 5: François Girardon, Grabmal des Kardinals Richelieu, 1694 vollendet, Chapelle de la Sorbonne, Chancellerie des universités de Paris, Paris 5e

Fotografie: Markus Castor

artiges Gewand, das ihr bis zu den Sandalen tragenden Füßen reicht. Die Beziehung zu Richelieu bleibt trotz körperlicher Nähe zurückhaltend. Der Kardinal erscheint kraftvoll und vital, als benötige er die Stütze der Pietas kaum. Zu seinen Füßen trauert die Doctrina – Personifikation der christlichen Lehre. Sie lehnt sich mit ihrer rechten Schulter auf den Sarkophag. In tiefem Schmerz hat sie sich weggedreht, die linke Hand vor dem Gesicht und weint, den Kopf auf dem rechten Oberarm liegend (Abb. 5). Falten auf der Stirn und Tränen unter ihrem linken Auge unterstreichen ihre Trauer. Das togenähnliche Gewand reicht ihr bis zu den ebenfalls mit Sandalen bekleideten Füßen und ist an der Hüfte gegürtet. Girardon spielt zurückhaltend mit unterschiedlichen Materialitäten. Einzelne Gewandteile sind nicht eindeutig zu identifizieren, da sich der Stoff in seiner Oberflächenstruktur kaum unterscheidet und oft in mehreren Schichten übereinander liegt. Auf ihrem Schoß befindet sich das zweite Buch, ebenfalls ohne erkennbare Inschrift, und droht herunterzugleiten. Seit dem 18. Jahrhundert wurde die formale Nähe der Doctrina zu einigen Figuren Poussins thematisiert.35 So finden sich in Die letzte Ölung (circa 1638–1640

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beziehungsweise 1644–1648), Das Testament des Eudamidas (1645–1650) und Der Tod des Germanicus (1626–1628) trauernde Frauenfiguren in ähnlicher Haltung36 Auch Le Brun wird als Referenz angeführt, u. a. sein Gemälde Der Tod des Melager (1658) und seine Zeichnung Femme affligé.37 Fruchtbar ist meines Erachtens ein (rein formaler) Vergleich mit Le Repas chez Simon/La Pénitence (1653) und Le Sacrifice de Jephté (1656).38 In Girardons Œuvre gibt es ferner trauernde Frauenfiguren, so im Grabmal der Castellan (1676) oder der Princesse de Conti (1672/1675).39 Dass Girardon sich an solchen Vorlagen orientiert haben mag, für seine Personifikationen und die Effigie jedoch eigene Ideen entwickelte, zeigt auch ein Vergleich mit Cesare Ripas Doctrina: Eine Sonne deutet auf das Licht des Wissens, das die Dunkelheit durchbricht, Mensch und Tier den Weg weist. Ähnlich der Doctrina am Grabmal Richelieus ist sie sitzend – aber aufrecht – mit einem aufgeschlagenen Buch auf dem Schoß dargestellt.40 Auch für die Pietas folgte Girardon nicht Ripas Kanon, da diese geflügelt ist, ein überquellendes Füllhorn hält und ihr Herz berührt, vergleichbar der Geste Richelieus.41 Mit einem Buch sind die stehenden Figuren Merito und Cognitione versehen.42 Diese Parallele könnte auf die These, der Verstorbene biete Gott seine veröffentlichten theologischen Werke dar, verweisen. Trotz der Bücher wären die beiden Tugenden Girardons ohne schriftliche Quellen und Vorlagen nicht eindeutig zu bestimmen – Zeichen einer zunehmenden Individualisierung von Personifikationen? Gegen Ende des 17. Jahrhunderts entbehren diese Figuren mehr und mehr jeglicher Attribute, sodass sie teils nur noch trauernde Frauen darstellen. Wird damit eine größere Geschlossenheit der Komposition erreicht, als sie nicht statuengleich wie Repräsentanten einer Tugend isoliert am Grabmal stehen, sondern menschlichen Wesen ähnlich den Tod miterleben und damit einen narrativen, szenischen Zusammenhang evozieren? Auch die beiden Putten unterstützen das Geschehen, indem der eine dem/der BetrachterIn weinend entgegenblickt, der andere aufmerksam in Richtung Hochaltar sieht. Die evozierte Momenthaftigkeit und Bewegung markiert die Darstellung Richelieus als aktivierte Effigie in Form einer statue accoudé.43 Charakteristisch für diese neue Momenthaftigkeit sind die Grabmäler des Henri Chabot sowie Jacques de Souvré François Anguiers oder auch vergleichbare Ausprägungen des Sich-Gott-Darbietens, wie bei Louis Phélypeaux, Charles de Créqui oder Kardinal Mazarin.44 Neue gestalterische Möglichkeiten gehen mit dieser Öffnung des Grabmonuments zu einer narrativen motivierten Figurengruppe beziehungsweise zu Umraum und BetrachterIn einher. Doctrina und Pietas betonen die Religiosität Richelieus. Seine Karriere als einer der führenden Politiker und Staatsmänner seines Jahrhunderts kommt in Girardons Werk weniger zum Ausdruck, obwohl diese Inszenierung für Grabmäler von Klerikern durchaus üblich war, wie bei Mazarin in der Kapelle des College

Das Grabmal Kardinal Richelieus

des Quatre-Nations. Prudentia, Pax und Fides sowie Religio und Caritas verweisen dort auf die Rolle Mazarins als premier ministre, nur sekundär auf ihn als Kardinal. Prudentia als Personifikation der Klugheit könnte als wichtige Eigenschaft der Staatsregierung gelesen werden. Pax bezöge sich auf seine diplomatischen, außenpolitischen Verdienste; Fides auf seine Treue und den Glauben an die französische Krone. Mit der Caritas wird vermutlich die von ihm initiierte Gründung des Collège des Quatre-Nations angesprochen. Diese christlichen Tugenden lassen sich in profane umdeuten und bezeugen den Stellenwert Mazarins als politischen Kardinal-Minister. Der neben dem Verstorbenen liegende Hieronymus-Hut wurde im Unterschied zur Kardinalsmitra zu repräsentativen und politischen Anlässen getragen – Versinnbildlichung der politisch motivierten Lesweise. Richelieu hingegen begibt sich im Vertrauen auf die Heilige Schrift in die Hände der Pietas, die ihn doppelt stützt: Formal stützt sie seinen Oberkörper; inhaltlich bezieht sich diese Haltung auf die in der Tugend verkörperten Charaktereigenschaften, die ewiges Leben garantieren. Das Buch der Pietas könnte als Heilige Schrift, dasjenige der Doctrina stellvertretend für die Publikationen Richelieus verstanden werden.45 Doctrina verkörpert den diesseitigen universitären Bereich, der die Lehren des Kardinals durch das Studium der Theologie verbreitete. Sie trauert über den Tod des Kardinals, der sich im Übergang zum Jenseits befindet: Zwei miteinander verknüpfte Zeitebenen kommen hier zum Ausdruck. Die Tatsache, dass Richelieu ein politisches Testament verfasste, zeigt Stellenwert und Bedeutung seiner Tätigkeit als Berater und Außenminister des Königs. Das Kreuz des Ordens vom Heiligen Geist (Saint-Esprit) weist ihn als königstreuen Würdenträger aus. Gegründet wurde der Orden 1578 von Heinrich III.; Richelieus Aufnahme erfolgte 1633. In der Mitte des Kreuzes befindet sich die Taube als Sinnbild des Heiligen Geistes, zwischen den vier Kreuzarmen jeweils eine königliche Lilie – Symbol für die durch Gottes Gnaden errichtete Monarchie.46 Diese Loyalität der Krone gegenüber demonstriert die Geste seiner rechten Hand. Auf seinem Sterbebett soll er gesagt haben, „qu’il n’avait jamais eu d’autres ennemis que ceux de l’Etat“47. So präsentiert er mit seiner Geste des Sich-Darbietens am Ende seines Lebens seine Loyalität gegenüber Gott und dessen Stellvertreter auf Erden, König Ludwig XIII. beziehungsweise dessen Nachfolger Ludwig XIV. Diese Gestik findet sich ähnlich in der Iconologia Cesare Ripas: Amour envers Dieu zeigt einen stehenden Mann, der seine Linke auf das Herz hält, den Blick gen Himmel gerichtet. An der Brust ist sein Gewand geöffnet, und er weist mit seiner linken Hand nach oben.48 Diese Dominanz des sakralen Aspekts könnte man als bereits historistische Darstellung der Person Richelieus und veränderte Rezeption aufgrund des lange zurückliegenden Todes deuten. Während das von ihm gebaute Schloss und die Stadt Richelieu als Ausdruck seiner weltlichen Macht, verbunden mit terri-

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torialen Ansprüchen, zu verstehen sind, stützte die Sorbonne im Gegenzug die geistliche Autorität des Kardinals, seine bedeutende Rolle in der französischen Kirche als Verteidiger des katholischen Glaubens. Ein Grabmal, das für die ewige Memoria errichtet wird, ist immer sowohl persönliches Denkmal als auch künstlerisches Eigenwerk. Der fast ein halbes Jahrhundert währende Diskurs um das Grabmal lässt vermuten, dass die Darstellung Richelieus neben seinen Wünschen bereits eine historistische Rezeption beinhaltet. Diese veränderte Sichtweise auf die Person des mächtigen Kardinals zeigt sich auch in der Wahl der beiden Tugenden, die weniger als Repräsentanten seiner politischen Aktivitäten als vielmehr im Zusammenhang seiner klerikalen Position zu verstehen sind.

A nmerkungen 1 | Premier marché pour l’exécution du tombeau du cardinal de Richelieu (1675), in: Pierre Francastel, François Girardon, Biographie et catalogue crit. L’œuvre complète de l’artiste reproduite en 93 héliogravures, Paris 1928, S. 48; Sainte-Beuve, M.-E.: „A propos d’un marché pour le tombeau de Richelieu“, in: Bulletin de la Société de l’Histoire de l’Art Français 1–2.1926, S. 149–155, hier S. 150 f.; Rose, Hans (Hg.): Paul Fréart de Chantelou. Tagebuch des Herrn Chantelou über die Reise des Cavaliere Bernini nach Frankreich, München 1919, S. 290. 2 | Pupillenbohrungen sind nicht vorhanden, sodass zwar die Blickrichtung bestimmt werden kann, der Blick leer anmutet. 3 | Worte sind auf den Seiten nicht abgebildet. Lediglich auf dem Buchdeckel wurden zwei feine Linien eingeritzt. 4 | Bresc-Bautier, Geneviève: „Le tombeau du Cardinal de Richelieu“, in: dies./Jacques Foucart/Alexandre Gady (Hg.), La Sorbonne: Un musée, ses chefs-d’œuvre. Réunion des Musées Nationaux, Paris 2007, S. 51–71; dies.: „Richelieu et l’effigie royale sculptée“, in: Jean-Claude Boyer/Barbara Gaehtgens/Bénédicte Gady, Richelieu, Patron des Arts, Paris 2009, S. 123–142; Mazel, Claire: „Un tombeau d’exception. Comparaison des monuments funéraires de Richelieu à la Sorbonne et de Mazarin au Collège des Quatre-Nations“, in: Boyer/Gaehtgens/Gady 2009, S. 175–200; Rosenberg, Pierre: „Une note sur le mausolée du cardinal de Richelieu: Girardon et Bernard Picart“, in: Boyer/Gaehtgens/Gady 2009, S. 201–214. Anders als die italienischen Papst- und Kardinalsgrabmäler seit der frühen Neuzeit, vgl. das Forschungsprojekt Requiem, HU Berlin/Bergische Universität Wuppertal (http://requiem-projekt.de) [18.12.2018]. 5 | Chantelou/Rose 1919. Vgl. Brice, Germain: Description de la ville de Paris et de tout ce qu’elle contient de plus remarquable, Paris 1752; Dezallier-d’Argenville, Antoine-Nicolas: Voyage pittoresque de Paris, Paris, 1749, S. 216; Grosley, Pierre Jean: Éphémerides, Paris 1811; Guiffrey, Jules: „Le tombeau du Cardinal Richelieu de François Girardon“, in: NAAF, NS 3/5.1889, S. 291–300; Sainte-Beuve 1926, S. 149–155; Weigert, Roger-Armand: „Deux marchés

Das Grabmal Kardinal Richelieus inédits pour le tombeau de Richelieu“, in: Bulletin de la Société de Poussin 1.1947, S. 67–71 (zitiert als Weigert 1947/1). 6 | Breban, Corrard de: Notices sur la vie et les œuvres de Francois Girardon, Troyes/Paris 1850; Harvey, Mary Jackson: French Baroque Tomb Sculpture: The Activation of the Effigy, Chicago, Illinois, 1987; Ingersoll-Smouse, Florence: La sculpture funéraire en France en XVIIIe siècle, Paris 1912; Klidis, Artemis: François Girardon: Bildhauer in königlichen Diensten 1663–1700, Weimar 2001; Panofsky, Erwin: Grabplastik. Vier Vorlesungen über ihren Bedeutungswandel von Alt-Ägypten bis Bernini, Köln 1964; Walker, Dean: The Early Career of François Girardon 1628–1686. The History of a Sculptor to Louis XIV. during the Surintendance Jean Baptiste Colbert, New York 1982. Einen guten Überblick bieten François Souchals Schriften. Ders.: „Notes sur les estampes de Girardon“, in: Gazette des Beaux-Arts 82.1973, S. 95–98; ders.: French Sculptures of the 17th and 18th Centuries, Oxford 1977; ders.: „La collection du sculpteur Girardon d’après son inventaire après décès“, in: Gazette des Beaux-Arts 82.1973, S. 1–32. 7 | Der Zwischenraum ist real vorhanden, da die Deckplatte vermutlich aus einem anderen Steinblock geschaffen wurde. 8 | Vgl. u. a. Mignot, Claude: „La chapelle et maison de Sorbonne“, in: Chancellerie des Universités de Paris et Académie Francaise (Hg.), Richelieu et le monde de l’esprit, Paris 1985, S. 87–93, hier S. 92: „Dans son testament, il spécifiait qu’il voulait que sa sépulture soit faite dans l’église de la Sorbonne ’suivant le dessein que j’en ai arrêté avec M. des Noyers et le sieur Mercier architecte.“ Siehe auch Mazel 2009, S. 194. 9 | Siehe Weigert 1947/1, S. 67 f.: „Leur perte, peut-être momentanée, est d’autant plus regrettable qu’ils décrivaient et donnaient l’aspect du monument projeté.“ 10 | Vgl. Weigert, Roger-Armand: L’église de la Sorbonne, Paris 1947, S. 13 f.: „[...] pour que la duchesse d’Aiguillon réservât ,de faire ériger et construire aux dépens de ladite succession le tombeau dudit defunct Seigneur Cardinal en tel lieu de ladite Église, et de tel dessin et fabrique qu’il lui plaira et qu’elle trouvera ester le plus honourable et digne de la mémoire dudinct Seigneur Cardinal‘ […].“ 11 | Zu den Aufträgen für Richelieu vgl. Moureyre, Françoise de: „Le Sculpteur de Prédilection de Richelieu: Guillaume Bertelot (1583–1648)“, in: Boyer/Gaehtgens/Gady 2009, S. 143–173, hier S. 144 f. Vgl. Weigert 1947/1, S. 68. Demnach müsse das Monument aus einem Sockel mit „quatres figures, chacune de quatre pieds et demi de hauteur et deux pieds de grosseur“ bestehen, „trois blocs pour le priant de mesme marbre blanc de Carrare suivant la mesure du modèle de M. Berthelot“. Bertelot war seit 1620 „sculpteur ordinaire de la reine mère, Marie de Medici“ und hatte bereits Skulpturen für die Église de la Sorbonne ausgeführt. Ob der Marmor überhaupt geliefert wurde, bezweifelt Bresc-Bautier 2007, S. 55, da nach Bertelots Tod kein Marmor im Atelier gefunden wurde, wofür vermutlich der Krieg zwischen Spanien und Frankreich (1646–1648) verantwortlich war. 12 | Vgl. u. a. Weigert 1947/1, S. 71. Guillain hatte mit Berthelot zusammengearbeitet, u. a. in der Sorbonne, war Professor der königlichen Akademie. Vgl. Lami, Stanislas: Dictionnaire de

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Ursula Ströbele sculpture de l’école française sous le règne de Louis XIV, Paris 1906, S. 252. Auch für SaintEustache hatte Richelieu bereits mit ihm gearbeitet. Eventuell war zuvor ein weiterer Bildhauer, Francesco Bordoni (1580–1654), involviert gewesen, da ein Nachlassverzeichnis ein Modell für das Grabmal auflistet. Bresc-Bautier 2007, S. 55, Arch. Nat., Minutier central, étude CXII, 335, 22 février 1659. Zu einer etwaigen Beteiligung Paul II Biards siehe Mazel 2009, S. 194. 13 | Weigert 1947/1, S. 68. 14 | Im ersten Vertrag (1675) war eine Inschrift geplant. Vgl. Francastel 1928, S. 48. 15 | Francastel veröffentlichte die ersten beiden Verträge, Sainte-Beuve den dritten. Für eine detaillierte Darlegung dieser Verträge sei auf die unveröffentlichte Magisterarbeit der Autorin (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, September 2005) verwiesen. Claire Mazel bietet einen guten Überblick im Annex ihres Textes. 16 | Siehe Cabinet des estampes beziehungsweise. Chambre Mazarin der Bibliothèque Nationale in Paris (Collection d’estampes M. Michel Hennin; tome premier; Paris M.D.CCC. LXXVII.). Sie zeigen das Grabmal von vier Seiten sowie den Aufriss der Krypta und einen Epitaph mit Inschrift. Siehe auch Rosenberg 2009. 17 | Comte de Caylus, Anne Claude Philippe de: „Vie de François Girardon“ (02.05.1750), in: Jacqueline Lichtenstein/Christian Michel (Hg.), Conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture, Les conférences entre 1712–1746, Bd. 4/2, Paris 2010, S. 489–518, hier S. 505. Siehe auch Mazel 2009, Nr. 27, S. 199. Vgl. Walker 1982. 18 | Caylus 2010, S. 505. D’Argenville, zit. nach: Sainte-Beuve 1926, S. 153. 19 | Brice 1752; Grosley 1811, S. 307. 20 | Francastel 1928, S. 21 äußert sich so: „[…] réglant l’ordonnance du monument avec une précision si grande qu’on doit peut-être exclure l’hypothèse d’une improvisation totale […].“ Trotzdem geht er davon aus, dass „la composition n’en dut rien ni à Le Brun ni a personne autre que lui.“ 21 | Guiffrey 1889. Er veröffentlicht einen Arrêt du Conseil Privé, der den Sachverhalt erläutert. 22 | Chantelou/Rose 1919, S. 291 f. 23 | Ebd. S. 291 f. 24 | Diese hatte er 1657 der Duchesse zukommen lassen. Ob dieser Entwurf noch existiert, kann nicht bestätigt werden. Vgl. Madeleine Laurain-Portemer: „Mazarin et Le Bernin. A propos du ,Temps qui découvre la vérité‘“, in: Gazette des Beaux-Arts 74.1969, S. 185–200, hier S. 196, Anm. 11; siehe Mazel 2009, S. 194. 25 | Heute befindet sich das Grabmal Kardinal Richelieus wieder im Chor, ist auf den Hochaltar ausgerichtet, davor stand es im südlichen Querhaus. Vgl. Hubala, Erich: Die Kunst des 17. Jahrhunderts, Berlin 1990, S. 259. 26 | Brice beschreibt den ursprünglichen Altar in der Apsis, der nach Zeichnungen Pierre Bullets errichtet wurde. Brice 1752, S. 182–198. Ihm zufolge bestand er aus sechs korinthischen Säulen aus weißem Marmor, Basen und Kapitelle aus vergoldeter Bronze. Die beiden

Das Grabmal Kardinal Richelieus mittleren Säulen wurden von einem Portalgiebel mit zwei Engeln bekrönt, während die beiden anderen Säulenpaare etwas nach hinten versetzt waren. Zwischen ihnen befanden sich eine Marienstatue und eine Figur Johannes des Täufers. Über einer Attika waren Engel von Jean-Baptiste Tuby angebracht. Ein großes Marmorkruzifix vor schwarzem Hintergrund von Michel Anguier ersetzte das Altarbild. Ein Deckengemälde mit einer Gottesdarstellung und anbetenden Engeln von François Verdier nach Entwürfen Le Bruns schloss das Ensemble ab. 27 | Gady, Alexandre: Jacques Lemercier, Paris 2005, S. 10. 28 | Allerdings wurde solch ein Projekt für einen Papst nicht realisiert. 29 | Folgende Beispiele weisen auf das mit dem Stiftungsrecht verbundene Privileg der Allansichtigkeit und eines freistehenden Monuments hin: Monument des Kardinals Tavera in Toledo (1561) und Grabmal Kardinals Cisneros in der Kapelle des Collegio de San Ildefonso in Alcalà (ca. 1520). 30 | Primaticcio/Germain Pilon, Grabmal für Heinrich II. und Katharina de Medici, 1560–1573, Paris, Saint-Denis. 31 | Vgl. u. a. Ruggero, Cristina: „Decorum, Varietas, Magnificentia. Römische Kardinalsgrabmäler des Barock“, in: Joachim Poeschke (Hg.), Praemium Virtutis, Münster 2002, S. 299–320, hier S. 307. Dieser Kanon wurde teils gebrochen, wie beim Grabmal Lorenzo Imperialis von Domenico Guidi. 32 | Gianlorenzo Bernini (Entwurf)/Ercole Ferrata/Antonio Raggi/Giovanni Antonio Mari (Ausführung), Grabmal für Kardinal Pimentel, 1653–1655, Rom, Santa Maria sopra Minerva. Vgl. Preimesberger, Rudolf: „Das dritte Papstgrabmal Berninis“, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 17.1978, S. 157–181. 33 | Sainte-Beuve 1926, S. 150. 34 | Im Premier Marché (1675) werden die beiden Figuren als Pietas und Doctrina bezeichnet. Francastel 1928, S. 48: „[…] La figure représentant la piété soutiendra de son bras droit la figure de Monseigneur le Cardinal […]. Au pied du tombeau sera une autre figure abattue de douleur représentant la doctrine […].“ Bei Dezallier d’Argenville werden sie als Religio und Science bezeichnet. Dezallier d’Argenville 1749, S. 216. 35 | Vgl. Caylus 2010, S. 505; Francastel 1928, S. 21 f. 36 | Es gibt zwei Versionen: Eines befindet sich in Grantham Belvoir Castle (circa 1638–1640). Vgl. auch C. Breban, Girardon, S. 28; Sainte-Beuve 1926, S. 154. Zwischen 1644 und der für Chantelou gemalte Zyklus der Sieben Sakramente mit einer veränderten Zweitfassung (Edinburgh National Gallery of Scotland). Das Testament des Eudamidas (Kopenhagen, Statens Museum for Kunst) befand sich vermutlich in den 1650er Jahren in Paris, da es für Michel Passart, Maître des Comptes, gemalt wurde und somit seinen Einfluss auf Girardon geltend machen konnte. Die früheste Version Der Tod des Germanicus (Minneapolis, Institute of Arts) wurde 1626/1628 für Kardinal Francesco Barberini gemalt. Als mögliche Quelle für die Komposition gilt der Entwurf zu einem Teppich mit dem Tod des Konstantin. Dieser Teppich wurde Richelieu durch Ludwig XIII. zum Geschenk gemacht.

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Ursula Ströbele 37 | Vgl. Walker 1982, S. 212. Die trauernde Figur am Kopfende des Totenbettes ist für einen Vergleich nicht geeignet, da die formalen und inhaltlichen Unterschiede zu groß sind. Walker 1982, S. 219 unterscheidet ebenfalls: „The mood of the tomb is also in essence unlike the clamor of Le Brun’s Death of Meleager“. Vgl. Rosenberg 2009, S. 208. 38 | Charles Le Brun, Le Repas chez Simon/La Pénitence, 1653, Venedig, Accademia. Le Sacrifice de Jéphté, um 1656, Florenz, Uffizien. 39 | François Girardon, Grabmal der Castellan-Familie, 1678, Paris, Saint-Germain-des-Prés, Grabmal der Anne Marie Martinozzi, Princesse de Conti, 1672–1675, heute in New York, Metropolitan Museum. 40 | Ripa, Cesare: Iconologia, Overo descrittione di diverse imagini cavate dall’antichità, e dipropria inventione, Rom 1603, Nachdruck: Hildesheim u. a. 2000, S. 117 f. 41 | Ebd., S. 401 f. 42 | Ebd., S. 314 f., S. 70 f. 43 | Es gibt accoudés von einer Figur begleitet, von einer Personifikation oder anderen Assistenzfigur gestützt. Vgl. Ströbele 2005, S. 80–88. Eine wichtige Grundlage bietet Panofsky 1964. 44 | François Anguier, Grabmal des Henri Chabot, nach 1656 (erste Vertragsunterzeichnung), Versailles, Musée du Château. Grabmal des Jacques de Souvré, vor 1670, Tonmodell, Collection particulière. Domenico Guidi, Grabmal des Louis Phélypeaux, 1681/1686, Châteauneuf-sur-Loire, Pfarrkirche. Simon Hurtrelle/Pierre Mazeline, Grabmal des Duc Charles de Créqui, 1686/1688, Paris, Saint-Roch und Invalidendom. Antoine Coysevox/Jean-Baptiste Tuby, Grabmal für Kardinal Mazarin, 1692, Paris, Collège des Quatre-Nations. Vgl. Auch Gebrüder Marsy/Jean-Baptiste Tuby, Grabmal des Maréchal de Turenne, 1676–1680, Paris, Invalidendom. Antoine Coysevox/Jean (Gaspard?) Collignon, Grabmal des Marquis de Vaubrun, 1677–1678, Maine-et-Loire, Kapelle des Château de Serrant. 45 | Harvey 1987, S. 199 zitiert Thomas Cole, der das Buch als „[…] one of his books of Piety or Controversy […] which it is supposed, he composed in her Defense“ bezeichnet. Sie geht davon aus, dass er dies von französischen Quellen übernahm. C. Le Maire beschrieb die Effigie als „offrant ses ouvrages à la Saint Vierge“. Vgl. auch Harvey, ebd. über Dézallier d’Argenville: Die Effigie „tient ses ouvrages de pieté qu’il offra à Jesus-Christ“. 46 | Man findet es auch in seinen Porträts und Büsten, wie bei Philippe de Champaigne, Kardinal Richelieu, um 1639, Paris, Louvre, oder in der Bronzebüste Jean Warins, 1641–1643, Paris, Bibliothèque Mazarine. 47 | Tuilier, André: Histoire de l’Université de Paris et de la Sorbonne, Paris 1994, S. 530. 48 | Ripa 2000, S. 18. Für die von Richelieu initiierte Statue Ludwigs XIII. wählte der Kardinal christliche Tugenden als Machtdemonstration in der Gegenreformation.

Bauskulptur als semantische Optimierung Aspekte der Baukunst im Alten Reich um 1700 Roland Kanz Bauskulptur ist ein Epochen übergreifendes Phänomen und dennoch ein Stiefkind der Skulpturforschung. Sie wird in aller Regel ikonografisch oder stil- und datierungskritisch abgehandelt, für Bauwerke seit der Renaissance oft unter der Prämisse, dass die Architektur mit dem System der Säulenordnungen die Ordnungsmacht stellt, während die Bauskulptur als Subsystem lediglich einen Informationsdienst leistet. Integrale Fragestellungen sind selten.1 Schwer abzuschätzen ist, was sich in der Folge ergeben hätte, wäre Michelangelo die Realisierung der Fassade von San Lorenzo in Florenz vergönnt gewesen.2 Die internationalen Forschungstraditionen zur Bauskulptur sind divergent. Es mag sein, dass die deutsche Fachsprache zu Spitzfindigkeiten neigt, doch erscheint es sinnvoll, im vorliegenden Zusammenhang zwischen Bauskulptur, Bauplastik und Bauornament zu unterscheiden. Das hat heuristische Gründe. Bauskulptur bedeutet, so Jürgen Wiener, „die für eine bestimmte Architektur gefertigte oder verwendete und mit ihr verbundene Skulptur und Plastik figuraler Art“.3 Man kann das Verständnis der Bauskulptur sehr elementar fassen, damit ihre Wesenseigenschaften gegenüber der nicht baugebundenen Freistatue – hier besonders im Unterschied zu Attikastatuen – oder anderen Aufgaben der Skulptur deutlich werden. Die Bauskulptur regelt, gemessen an der jeweiligen Bauaufgabe, neben den Säulenordnungen den Bereich des Dekorums beziehungsweise des Ornamentum. Insofern ist die figürliche Bauskulptur in besonderer Weise zuständig für die hierarchisch definierte und angemessene Ikonografie eines Gebäudes. Zudem bemisst sie die funktionalen, politischen oder religiösen Ansprüche von Rang und Bedeutung. Damit wird unmittelbar auf den Bauherrn verwiesen. Es ist die Aufgabe von bauskulpturalen Programmen, dass sie ikonografische Gemeinplätze auf geistreiche Weise spezifizieren, ohne dass dies die Architektur überfrachten würde oder zu kompliziert wäre. Darin liegt die Absicht, Gemeinplatz und Pointierung im Bewusstsein des leicht Verständlichen zu belassen. Oberstes Gebot ist

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die Kohärenz zur Architektur. Zugleich bietet dies die Chance für die Bauskulptur, zwischen architektonischer und bauskulpturaler Semantik eine besondere Spannung zu erzeugen, indem die Qualität der Bauskulptur sich als eigener Wert ausweist, denn für die meisten Betrachter dürfte sie verständlicher gewesen sein als die Architektur. Bauplastik ist als Begriff ein Derivat, wenn man Skulptur als Oberbegriff nimmt, wie es auch der internationale Sprachgebrauch nahelegt. Plastik (griech. plassein = bilden, formen; plastikos = zum Gestalten gehörig; lat. plasticen) bezeichnet im Bereich der Bildhauertechniken Werke aus modellier- und formbarem und gießbarem Material.4 Plastizität als Kriterium ästhetischer oder stilkritischer Beurteilung meint daher geformtes Volumen, Gestaltung dreidimensionaler Objekte. In Bezug auf Witterungsbeständigkeit ist Metall (Bronze, Blei) von anerkannter Dignität, dagegen haben Gips- und Verputzmischungen am Außenbau eine deutlich mindere Widerstandsfähigkeit. Für die flächenübergreifenden Stuckdekorationen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in Innenräumen sind die Vorteile freier plastischer Gestaltung schier unendlich. Architekturgebundene Stuckplastik ist dann materialbedingt treffender als Bauplastik zu bezeichnen.5 Bauornament, um dies zu ergänzen, umfasst die plastischen Schmuckformen am Bau.6 Alberti verstand die Säule als ranghöchstes Ornament.7 Im Weiteren leiten sich struktive und dekorative Zierformen davon ab.8 Danach bemisst sich die Einschätzung, ob das Bauornament als unverzichtbar am Bau oder als ablösbare und überflüssige Applikation zu gelten hat. Letzteres bestimmt zum Beispiel die Ornamentkritik an den Rocailleformen.9 Über das Bauornament lässt sich maßgeblich die Relation zu antiken Vorbildern analysieren. Die definitorischen Übergänge zwischen Bauskulptur und Bauornament sind spätestens dann fließend, wenn Figürliches und Nichtfigürliches ineinander übergehen, wie überhaupt die Formmetamorphose die eigentliche Stärke von Bauskulptur und Bauornament ist, um Gelenkstellen, Rahmungen oder Hierarchien am Bauwerk zu betonen. Durch Bauskulptur und Bauornament lassen sich Distinktionen eines Gebäudes erreichen, die auf Prestige abzielen. Rangmarkierungen motivierten auch den bemerkenswerten Aufschwung der Bauskulptur im Alten Reich in den Jahrzehnten um 1700, als sich durch die Konkurrenz der Fürsten eine besonders kompetitive Situation bei Baumaßnahmen einstellte. Selbstverständlich war die Kundigkeit in allen Kunstdingen eine Frage der Fürstenerziehung. Um diese Kompetenz besonders im Bereich der Baukunst zu schärfen, schrieb bereits zwischen 1670 und 1680, um diese bemerkenswerte Quelle hier anzuführen, Fürst Karl Eusebius I. von Liechtenstein seinen an den Sohn gerichteten und Manuskript gebliebenen Traktat zur Baukunst Werk von der Architektur.10 Er tat dies nicht im Sinne von praktischen Architektenkenntnissen,

Bauskulptur als semantische Optimierung

Abbildung 1: Paul Decker, Fürstlicher Baumeister oder Architectura civilis, Bd. 1, Augsburg 1711, Frontispiz

Fotografie: Jean-Luc Ikelle-Matiba, Kunsthistorisches Institut Bonn

sondern zugunsten der Urteilsfähigkeit, die ein Aristokrat haben sollte, um seinen Aufgaben als Bauherr in bester Weise gerecht werden zu können. Insbesondere diente, das zeigen die Baumaßnahmen in Wien, in Berlin, in Prag oder in Dresden um 1700, die Bauskulptur der Architektur als verstärkendes Medium standesspezifischer Selbstdarstellung. Wie programmatisch das Verständnis der Kunstgattungen – insbesondere von Architektur und Skulptur – im frühen 18. Jahrhundert ausfällt, führt das Frontispiz der bedeutendsten Architekturpublikation im deutschen Barock vor Augen. Paul Decker veröffentlichte ab 1711 sein Hauptwerk Fürstlicher Baumeister oder Architectura civilis und stellte den aufwändigen Kupferstichen ein Programmbild zu den Kunstgattungen voran (Abb. 1). Das Frontispiz huldigt der ganzheitlichen Auffassung der Künste und demonstriert ihr Zusammenwirken unter dem Vorrang der Architektur. Der Paratext erläutert die Allegorie der Geschwisterkünste.11

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Von der Seite herbeigeeilt kommt die Personifikation der Skulptur, die das Modell einer Statue in den Händen hält. Ihre Aufgabe ist es, Gebäude mit Statuen zu schmücken. Der Architekt ist es freilich, der in allen Kunstgattungen kundig sein soll, um die Gesamtplanung zu leisten. Skulptur ist folglich als Bauskulptur zu verstehen, die mit Statuen ein Gebäude lebendig machen soll und im Dienste der Architektur zur Verherrlichung des Bauherrn beiträgt. So selbstverständlich, wie Decker hier das Gattungsgefüge erläutert, ist dies für die Bauskulptur nicht, denn die Architekturtheorie der frühen Neuzeit hatte ihr seit Alberti wenig Interesse gewidmet.12 Theorie und Praxis klaffen auseinander, ohne dass dies systematisch aufgearbeitet wäre.

B auskulptur

und redende

P rachtgebäude

Im Fokus stehen die Prachtgebäude, die den Machtanspruch, den Stand, die Funktion oder das soziale Prestige des Bauherrn vor aller Augen führen.13 Architekturhistoriker analysieren Typus und Rang eines Gebäudes durch die Wahl der Ordnung, durch die Kombination der Ordnungen (zum Beispiel Superposition) oder durch die Instrumentierung der Ordnung durch die Säule (voll-, dreiviertel oder halbrund sowie Pilaster, die zur Steigerung auch kolossal werden können). Dieses methodische Verfahren der Architekturikonologie hält sich vorzugsweise an die epochenspezifische Traktatliteratur als theoriebasierte Rückversicherung, um deren Sprache auch adäquat zu übersetzen. Was dabei oft ins Hintertreffen gerät, ist die Bauzier, vermutlich weil sie bereits in den Traktaten marginal behandelt wird. Bei Gebäuden von ihrer Sprachfähigkeit zu reden, dazu berechtigt die Verwurzelung der Architekturtheorie in der Rhetorik.14 Im 17. und 18. Jahrhundert vollzog sich eine Zunahme der Allegorisierung von Architektur, und zwar als rhetorische Allegorie im Zusammenwirken von Analogie, Allegation und Allusion.15 Alle beriefen sich dabei auf Vitruv, auch Vincenzo Scamozzi – der berühmte Architekt der Procuratie nuove in Venedig –, der 1615 die Ansicht bekräftigte, Architektur sei mit ihrem Schmuck wie eine Rede.16 Auch für den Bauboom, der im Alten Reich um 1700 aufkam, muss dieser Theoriehorizont für Distinktionen mitbedacht werden. Leonhard Christoph Sturm verglich die Ordnung eines Gebäudes mit einer Rede („Oration“), da alles „wohl mit einander connectiren / und einerley Stilum haben muß“.17 Aus solchen Passagen spricht die Überzeugung, dass ein herrschaftliches Gebäude sich mitzuteilen habe, dass es eine sprechende „Beyzier“ haben solle, die über die Bedeutung des Besitzers Auskunft verspricht. Selbst einem Kritiker des Ornaments, dem Dresdner Architekten Krubsacius, blieb noch 1759 die Sinn-

Bauskulptur als semantische Optimierung

Abbildung 2: Matthäus Daniel Pöppelmann, Wallpavillon des Zwingers, 1716–1719

Fotografie: Roland Kanz

haftigkeit emblematischer oder ikonografischer Mitteilungen selbstverständlich: „Sobald aber eine Verzierung redend seyn soll, sobald nur ein Rahmen ein Bild einfasset; sogleich giebt die Hauptsache Gelegenheit zur Erfindung.“ Denn „Sinnbilder und Denksprüche, in so fern sie auf die Sache oder den Besitzer derselben abzielen“, könnten eine „unerschöpfliche Quelle der Verzierung“ sein.18 Wenig später, 1762, bekräftigte der versierte Diplomat und Kunstgelehrte Christian Ludwig von Hagedorn: „Oeffentliche Gebäude, Verzierungen und besonders die Decken grosser Säle können der Allegorie nicht entbehren.“19 Bauskulptur begleitet die architektonischen Aufgaben, unterliegt jedoch keinem einheitlichen Begriff. Schon Sturm differenzierte 1708 deutlich: „An allen Wercken soll die Architectur regieren / das ist / die Architectonische Verzierung soll am meisten hervor scheinen / daß ein jeder sehe / daß die Architectur das Hauptwerk / die Bildhauerey aber zuforderst und hernach die Mahlerey nur Beywercke seyn / daß man also die Architectonischen Zierrathen vor die Kost selbst / die Bildhauer= und Mahlerischen hingegen vor das Gewürz rechnen könne.“20

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Sturm hierarchisiert zwischen Bauornament („architectonische Zierrathen“) und der Bauskulptur, dem „Gewürz“. Ranghöchster Schmuck ist die Säule, aus der sich die Säulenordnungen ableiten. Kapitelle sind hierbei signifikante bildhauerische „Kost“. Im Weiteren umfasst das Bauornament sämtliche plastische Schmuckformen der Architektur, die nicht figürlich sind. Was von den Zeitgenossen Sturms unter redend verstanden wird, meint nicht die architecture parlante, wie sie später die sogenannte französische Revolutionsarchitektur auszeichnen wird, sondern eine Gestaltung der Bauzier, die in ihrer Botschaft einer sprachlichen Argumentation gleichkommt, also als visuelles Argument lesbar ist. Hierfür eignet sich – neben den Inschriften – die Bauskulptur am besten. Sie ist ikonografisch-informative Dekoration. Einigkeit herrscht darüber, dass für die Konzeption der Bauskulptur generell die Architekten zuständig waren. Sie bestimmten den Ort, das Ausmaß und die Art von Bauskulptur. In Dresden, um hier nur das obligatorische Beispiel zu nennen, hatte Matthäus Daniel Pöppelmann 1729 in seiner Kupferstichpublikation zum Zwinger (Abb.  2) seine Leistung kundgetan, ohne Balthasar Permoser zu nennen, der doch in der Forschung immer als kongenialer Partner gerühmt wird. Immerhin waren bis 1728 etwa zweihundert freistehende Skulpturen (Großfiguren, Putti und Vasen) und baugebundenen Skulpturen (Satyrhermen) ausgeführt.21 In seinem Bericht, den Pöppelmann 1729 seiner Publikation voranstellte, erläutert er in einer Rückinterpretation die „eußerliche Bau-Arth mit lauter gleichsam redenden Bildungen“, die auf den Typus des Orangerie- und Festbaus sowie die „Leibes- und Gemüths-Eigenschaften des Hohen Erbauers“ abzielen.22 Die „redenden Bildungen“ waren Aufgabe der Bauskupltur als semantische Optimierung der Architektur.

S emantik

von

S äulenordnungen

und

B auskulptur

Die Rede von der Semantik der Säulenordnungen23 geht von der Vorstellung aus, Architektur sei ein Lesesystem, vergleichbar einer Sprache mit Vokabeln und Syntax.24 Sturm hatte diese Auffassung klar ausgesprochen: „Die Glieder der Ordnungen sind gleichsam das Alphabet der Baukunst, dann wie aus 24 Buchstaben unzehlich unterschiedliche Wörter und Reden zusammengesetzt werden, also kann man durch mancherley Zusammenfügung der Glieder, derer nicht viel mehr als der Buchstaben sind, gantz unterschiedene Bau-Zierathen nach sechserley Ordnungen zusammensetzen.“25

Bauskulptur als semantische Optimierung

Seit der Frührenaissance beruhte dies bekanntlich auf Vitruvs Zuordnungen an männliche und weibliche Gottheiten. Bestandteil dieser Semantik sind zudem die Proportionsverhältnisse. Vitruvs Analogiebildung verhilft den Säulenordnungen zu einem quasi-mimetischen Charakter, auch um die Architektur nicht aus dem kunsttheoretischen Paradigma der Naturnachahmung völlig auszuschließen. Im Zuge der neuzeitlichen Normierung auf fünf Säulenordnungen (Toskanisch, Dorisch, Ionisch, Korinthisch, Komposit) während des 16. Jahrhunderts wurde auch die Unterscheidung in ein statisches (tatsächlich tragendes) und ein tektonisches (Tragen und Lasten lediglich fingierendes) System der Ordnungen für das Verhältnis von Wand und Ordnung in aufstrebender Rangfolge (Superposition) grundlegend. Den größten Erfolg bei der Strukturierung und Schichtung von Wandgliederungen erfuhr das Tabulariums-Motiv mit der statischen Pfeilerarkade und der tektonischen Kolonnade. Gesetzt, dass der Kulturraum eine Konvention an allgemeinem Grundwissen aufweist, vermittelt das Anschauungssystem Fassade eine sozial intendierte, kulturell konventionalisierte und inhaltlich pointierte Botschaft, die nicht durch Sprach- und Textkompetenz ersetzt werden kann. Parallel zur architektonischen Semantik der Säulenordnungen veranschaulicht die Bauskulptur eine ikonografische Semantik.26 Die Bedeutungsdimension der Säulenordnungen als quasi-mimetisches Anschauungssystem (dorisch = männlich; ionisch = weiblich etc.), das seit der Renaissance fortgeschrieben wurde, wird auf diese Weise bildhaft-figürlich erweitert und vor allem konkret. Hierdurch erweitert sich, allgemein gesprochen, die Sprach- und Lesefähigkeit der Architektur, die das System von Tragen und Lasten als einen strukturell logischen Vertikalismus mit einer kausalen Abfolge von unten nach oben ausgibt. Semantische Verschiebungen treten dann ein, wenn Sachverhalte ihre Bedeutung ändern, etwa wenn eine Säule zu einem Pilaster wird, also ein dreidimensionales Element in eine zweidimensionale Flächenprojektion übergeht, die Säule nichts mehr trägt, sondern nur noch Verweis darauf ist. Als „Analoga von Säulen-Ordnungen“ bezeichnete Johann Friedrich Penther 1744 solche Sachverhalte.27 Gleiches ließe sich über die vertikale Abfolge der Ordnungen sagen, etwa wenn Regeln der Superposition außer Acht gelassen werden oder wenn Vermischungen auftreten, die dann als komposit gelten. Ähnliches trifft auf figurale Motive zu, die statisch-strukturelle Funktionen erfüllen oder auch nur tektonisch bezeichnen, zum Beispiel bei Atlanten, Hermen, Konsolfiguren oder Schlusssteinköpfen. In einem komplexen Prozess der sich wandelnden Bauaufgaben hatte sich auch für die Bauskulptur bis um 1700 ein Repertoire exemplarischer Anwendungen im Sinne von Formgelegenheiten etabliert. Die „wichtigsten Typen“ sind, so wiederum Jürgen Wiener,

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Im Gegensatz zum Telos der Freistatue, wie es die Kunsttheorie im Paragone seit dem 15. Jahrhundert propagiert und im Rückspiegel der Moderne als dominant erscheinen wird, ist in der frühen Neuzeit die Relation von Skulptur und Architektur omnipräsent. In dieser Hinsicht werden an die Skulptur besondere Anforderungen gestellt, die sich als Formgelegenheiten für die Figur-Raum-Probleme einstellten.29 Wilhelm Pinder prägte den Begriff gleichbedeutend zur künstlerischen Aufgabe, im Sinne von „Gelegenheiten, die Form zu entfalten“.30 Präziser beschrieb Otto Pächt die Nützlichkeit des Begriffs unter dem „Gesichtspunkt einer Aufgabelösung“, indem das Kunstwerk „in die Perspektive der jeweils relevanten Formgelegenheit“ gestellt wird, um so zur „Ausgangssituation der Formgestaltung“ zurückgeführt zu werden.31 Davon ist auch das Verhältnis von Auftrag und Aufgabe betroffen, insbesondere künstlerische Invention, Intention und Gestaltung in Hinsicht auf den jeweils konkreten Ort. Obwohl vom 15. bis ins 19. Jahrhundert das System der Säulenordnungen und der Bauskulptur einen klaren Rahmen der architektonisch-skulpturalen Semantik bietet, gerät im Laufe des 18.  Jahrhunderts der Vitruvianismus und das System der Säulenordnungen dennoch in die Krise, indem danach gefragt wird, ob eine Architektur auch bestehen kann, wenn sie keine Säulenordnung aufweist – wichtiges Beispiel wäre etwa das Wörlitzer Schloss – und auch noch auf Bauskulptur und Bauornament verzichtet. Säulenordnung und Bauskulptur wären somit nur als Applikationen zu verstehen, deren Botschaft als verzichtbar gilt. Rang und Funktion eines Gebäudes bündeln sich dann im Begriff des „Charakters“. Damit vollzieht sich ein Wechsel von der semantischen zur psychologischen Erfassung eines Gebäudes. Jenseits dieses Prozesses behauptete sich jedoch das semantische System von Säulenordnungen und Bauzier hartnäckig. Mit dem Historismus gilt es als ein Verfügbarkeitsrepertoire, das bis zur völligen Beliebigkeit ausgereizt wird.

Bauskulptur als semantische Optimierung

A nmerkungen 1 | Beispielhaft sind hierzu die beiden Bücher von Wiener, Jürgen: Die Bauskulptur von San Francesco in Assisi, Werl 1991; ders.: Lorenzo Maitani und der Dom von Orvieto, Petersberg 2009. 2 | Vgl. Satzinger, Georg: Michelangelo und die Fassade von San Lorenzo in Florenz. Zur Geschichte der Skulpturenfassade der Renaissance, München 2011. 3 | Vgl. Wiener, Jürgen: „Bauskulptur“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, Sp. 1083–1093. 4 | In der Kunsttheorie taucht der Begriff erstmals in De Statua (um 1434/1435) von Leon Battista Alberti auf, der griech. plasticos mit lat. fictores (Bildner) gleichsetzt. Alberti, Leon Battista: De Statua (um 1434/1435), in: Oskar Bätschmann/Christoph Schäublin (Hg.), Leon Battista Alberti. Das Standbild/Die Malkunst/Grundlagen der Malerei, Darmstadt 2000, S. 143. Alberti bezieht sich auf Plinius, Nat. hist. XXIII, 24–79 und Philostrat, Eikones I, 2. Pomponius Gauricus 1504 und Giovanni Paolo Lomazzo 1584 griffen den Begriff auf. Gauricus, Pomponius: De sculptura, Florenz 1504, § 11; Lomazzo, Giovanni Paolo: Trattato dell’arte de la pittura, Mailand 1584, hier Buch 2, Kap. 14, S. 159 und Buch 5, Kap. 2, S. 253 sowie Kap. 3, S. 254; ebenso Baldinucci 1681 (Baldinucci, Filippo: Vocabolario toscano dell’arte del disegno, Florenz 1681, S. 126). Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury, diskutierte in einem Textfragment Malerei und Skulptur unter seinem Oberbegriff der „plastic arts“ (was dem deutschen Begriff der bildenden Künste entspricht), doch ohne weitere Wirkung. Vgl. Dobai, Johannes: Die Kunstliteratur des Klassizismus und der Romantik in England, 3 Bde., Bern 1974–1976, hier Bd. 2, S. 72. Es war schließlich Johann Gottfried Herder, der in seiner 1778 publizierten Schrift Plastik den Begriff für Bildhauerwerke insgesamt reklamierte. Herder, Johann Gottfried: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum, Riga 1778. 5 | Das Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte verwirrt im Artikel Architekturplastik den Sachverhalt unnötig. Vgl. Reitzenstein, Alexander von: „Architekturplastik“, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1937, S. 940–959. 6 | Vgl. Syndikus, Candida: „Bauornament“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Sp. 1081–1083. 7 | Vgl. dazu Syndikus, Candida: Leon Battista Alberti. Das Bauornament, Münster 1996. 8 | Zu den struktiven Zierformen zählen z. B.: Kapitell, Gesimse, Voluten, Baluster, Rahmungen, Inkrustationen etc.; zu den dekorativen Zierformen zählen z. B.: Vasen, Wappen, Trophäen, Ranken, Girlanden, Kandelaber, Schilde, Kartuschen etc. 9 | Vgl. zuletzt Roettgen, Steffi: „,Höfliche Freyheit‘ und ,blühende Feyheit‘. Reiffenstein, Winckelmann und die deutsche Ornamentkritik um 1750“, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 37. 2013, S. 234–250.

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Roland Kanz 10 | Publiziert von Fleischer, Victor: Fürst Karl Eusebius von Liechtenstein als Bauherr und Kunstsammler (1611–1684), Wien 1910. 11 | Decker, Paul: Fürstlicher Baumeister oder Architectura civilis, 3 Bde., Augsburg 1711–1716, Bd. 1: Erklärung des Titul-Kupffers: „Damit der Geneigte Leser meine Gedancken von dem Titul-Kupffer, so dem gantzen Werck voran stehet und am ersten in die Augen fället, nur ein wenig wissen möge, so stellet sich hier die Gottheit für mit einer Flamme auf dem Haupt und in Wolcken durch eine Glorie, sich hernieder lassend; in der einen Hand hält sie den Scepter als Regentin der Welt benebenst einer Tafel, auf welcher die Abzeichnung eines Gebäudes zu sehen ist; mit der andern Hand überreicht Sie der Ihr zu Seiten stehenden Architectur einen Circul und Winckel-Maaß, anzudeuten, Sie pflanze Ihr hiermit den gehörigen Verstand und Weißheit ein, allerley Sachen schicklich und zierlich auszuarbeiten. Die Architectur begleitet ein Genius, tragende eine Wasser-Waage in der Hand und haltende eine andere Tafel in der Hand, worauff der Grund-Riß eines Gebäudes stehet; der Genius selbst sieht mit seinen Augen auf einen zu seinen Füssen liegenden Quadranten. Die Mahlerey als der Architectur getreue Gehülffin, welche die angelegten Wercke und Gebäude ansehnlich schmücket und zieret, kniet neben der Architectur, und um sie herum liegen ihre bekandte und gewöhnliche Werck-Zeuge. Der Drey-Fuß, auf welchem besagte Künste der Gottheit ein wolriechendes Opffer bringen, zielet dahin, daß diese edle Künste sich Gott widmen und ihm zu Ehren allerhand Gebäude, z.E. Tempel, Schulen Altäre u.s.f. auffrichten. Neben dem Drey-Fuß findet sich ein alter Mann mit einem Spiegel in der Hand, welcher die kluge Anweisung, durch die man zu den Künsten gelangen muß, vorstellig macht. Hart an ihm kommt die Bildhauer-Kunst hastig herzu gelauffen und herzu geeilet und hält in ihren Armen ein Modell von einer Statua, zu bemercken, daß schöne Gebäude durch die Statuen am besten ausgeschmückt und lebendig gemacht werden. Zunächst der Gottheit zeigen sich zwey Engel in einer Glorie und tragen eine Sternen-Crone, anzudeuten, die wahren Virtuosen erlangten nicht allein in ihrem Leben allbereit grosse Ehr und Estime; sondern ihr Ruhm bleibe nach ihrem Tod unsterblich. Noch mehr oben folget ein anderer Engel in einer Glorie und trägt in einer Hand ein Cornu Copiae mit verschiedenen Früchten; in der anderen aber hält er eine guldene Kette, daran kostbahre Medaillen hangen, und geht seine Absicht dahin, daß wahre Virtuosen durch ihre Geschicklichkeit großer Herren Gnade erlangen und nicht selten Reichthum und Vergnügen sich erwerben. In der Ferne ist auf der einen Seiten der Tempel der Ehren, auf der andern ein Lust-Gebäude entworfen.“ 12 | Vgl. Payne, Alina: „Von ornatus zu figura. Das figürliche Ornament in der italienischen Architektur des 16. Jahrhunderts“, in: Isabella Frank/Freia Hartung (Hg.), Die Rhetorik des Ornaments, München 2001, S. 205–239. Inhaltlich ähnlich Payne, Alina: „Reclining Bodies. Figural Ornament in Renaissance Architecture“, in: Michael W. Cole (Hg.), Sixteenth-Century Italian Art (= Blackwell Anthologies in Art History, Bd. 3), Malden/Oxford/Carlton 2006, S. 218–239. 13 | Vgl. grundlegend Schütte, Ulrich: „Ordnung“ und „Verzierung“. Untersuchung zur deutschsprachigen Architekturtheorie im 18. Jahrhundert, Braunschweig 1986; vgl. ebenso

Bauskulptur als semantische Optimierung ders.: „,Als wenn eine ganze Ordnung da stünde …‘ Anmerkungen zum System der Säulenordnungen und seiner Auflösung im späten 18. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 44. 1981, S. 15–37, hier S. 29. 14 | Grundlegend Kruft, Hanno-Walter: Geschichte der Architekturtheorie von der Antike bis zur Gegenwart, München 1985; neuerdings knapp und konzise Erben, Dietrich: Architekturtheorie. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2017. 15 | Vgl. Sedlmayr, Hans: „Allegorie und Architektur“, in: Martin Warnke (Hg.), Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute. Repräsentation und Gemeinschaft, Köln 1984, S. 157–174. 16 | Scamozzi, Vincenzo: L’Idea della Architettura Universale, 2 Bde., Venedig 1615, hier Bd. 1, Parte prima, Cap. XIII, S. 43. 17 | Sturm, Leonhard Christoph: Kurzer Begriff der gesamten Mathesis, Frankfurt an der Oder 1710, S. 204; vgl. dazu Fürst, Ulrich: „Die lebendige und sichtbahre Histori“. Programmatische Themen in der Sakralarchitektur des Barock, Regensburg 2002, S. 401. 18 | Schütte 1981, S. 182. 19 | Hagedorn, Christian Ludwig von: Betrachtungen über die Mahlerey, 2 Bde., Leipzig 1762, hier Bd. 2, S. 486. 20 | Sturm, Leonhard Christoph: Erste Ausübung der […] Anweisung zu der Civil-Bau-Kunst Nicolai Goldmanns, Leipzig 1708, S. 10. 21 | Dürre, Stefan: Die Skulpturen des Dresdner Zwingers. Untersuchung zu Aufstellung, Ikonographie, Stil und deren Veränderungen 1712–2002, 3 Bde., unveröffentlichte Dissertation, Dresden 2003, hier Bd. 1, S. 41. 22 | Pöppelmann, Matthäus Daniel: Vorstellung und Beschreibung Sr. Königl. Majestät in Pohlen, und Churfl. Durchl. zu Sachsen/erbauten so genannten Zwinger-Gartens Gebäuden, oder Der Königl. Orangerie zu Dreßden, Dresden 1729, Nachdruck: Keller, Harald (Hg.): Vorstellung und Beschreibung des Zwingergartens zu Dresden, Dortmund 1980, Bericht. Vgl. dazu Lorenz, Hellmut: „Die ,gleichsam redenden Bildungen‘ am Dresdner Zwinger“ , in: Ute Reupert/Thomas Trajkovits/Winfried Werner (Hg.), Denkmalkunde und Denkmalpflege, Dresden 1995, S. 371–378. 23 | Dazu Erben, Dietrich: „Bauornament“, in: Manfred Landfester (Hg.), Renaissance – Humanismus. Lexikon zur Antikerezeption (= Der Neue Pauly, Supplemente, Bd. 9), Stuttgart 2014, Sp. 107–115. 24 | Einschlägig dazu immer noch Forssmann, Erik: Dorisch, Ionisch, Korintisch. Studien über den Gebrauch der Säulenordnungen in der Architektur des 16.–18. Jahrhunderts, Braunschweig/Wiesbaden 21984, bes. S. 27–32. 25 | Sturm, Leonhard Christoph: Vollständige Anweisung alle Arten von regularen Prachtgebäuden nach gewissen Regeln zu erfinden, Augsburg 1716, Vorrede unpaginiert. 26 | Hans Sedlmayr vergleicht das Verhältnis der Allegorie zur Architektur mit dem Wortfeld der Linguisten, also mir dem semantischen Feld. Sedlmayr 1984, S. 157–174.

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Roland Kanz 27 | Penther, Johann Friedrich: Ausführliche Anleitung zur bürgerlichen Baukunst, Bd. 4, Augsburg 1748, S. 47. Vgl. Schütte 1981, S. 20 f. 28 | Wiener 2005, Sp. 1086. 29 | Vgl. für die wichtigen Veränderungen der Frührenaissance Rosenauer, Arthur: Studien zum frühen Donatello. Skulptur im projektiven Raum der Neuzeit, Wien 1975, S. 15 f. 30 | Vgl. Pinder, Wilhelm: Die deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance, Bd. 1, Potsdam 1924, S. 9, ähnlich S. 12 f. 31 | Pächt, Otto: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. Ausgewählte Schriften, München 1977, S. 217.

Lukas von Hildebrandt und der Hofgarten der Würzburger Residenz Stefan Kummer Dem Wiener Architekten Lukas von Hildebrandt werden in der Literatur über die Würzburger Residenz maßgebliche Anteile an der Planung dieses Bauwerks zugeschrieben.1 Merkwürdiger Weise ist in diesem Zusammenhang niemals danach gefragt worden, ob der Erbauer des Wiener Belvedere – einer bipolaren Schlösseranlage, deren Wirkung vor allem aus dem Zusammenspiel der Schlossbauten mit dem Garten resultiert 2 – auch Ideen für die Anlage des zur Würzburger Residenz gehörigen Hofgartens beigesteuert haben könnte. Auf eine Beantwortung dieser Frage zielen die folgenden Überlegungen. Die Kenntnis des von 1720 bis 1744 errichteten Bauwerks, das einst als Hofhaltung der Würzburger Fürstbischöfe diente, wird dabei vorausgesetzt; dasselbe gilt für die herausragende Bedeutung der Residenz in der europäischen Schlossbaukunst, die sich auch im Status des Bauwerks als Bestandteil des UNESCO-Weltkulturerbes zu erkennen gibt.3 Dank einer über hundertjährigen Forschungsgeschichte konnte zwar die Entstehungsgeschichte der Würzburger Residenz, insbesondere der Bauablauf, in großen Zügen geklärt werden. Aber der Planungsprozess wirft immer noch eine Fülle von Fragen auf, die bisher noch nicht befriedigend beantwortet worden sind. Die drängendste von diesen ist die nach den künstlerischen Anteilen der an den Entwürfen zur Residenzarchitektur beteiligten Architekten. Zwar ist in der neueren Literatur unbestritten, dass Balthasar Neumann, der von 1720 bis zu seinem Tod im Jahre 1753 die Errichtung und Ausstattung des Baus leitete, dessen Erscheinung in entscheidendem Maße geprägt hat. Da aber die maßgeblichen Bauherren der Residenz, die Würzburger Fürstbischöfe Johann Philipp Franz von Schönborn (reg. 1719–1724) und sein jüngerer Bruder Friedrich Karl (reg. 1729–1746) sich nicht mit den Entwürfen ihres Hofarchitekten Balthasar Neumann begnügten, sondern sich vergewissern wollten, dass der von ihnen errichtete Bau dem damaligen Standard

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fürstlichen Bauens entsprach, forderten sie von einer Reihe weiterer Architekten Entwürfe an, um die endgültige Gestalt des Bauwerks abzuklären. Dieses Verfahren war für den Barock, insbesondere das 18. Jahrhundert, zeittypisch,4 und man muss staunen, dass im Falle der Würzburger Residenz die vielen Köche nicht den Brei verdorben haben. Dies ist zweifellos Neumann zuzuschreiben, der es auf glänzende Weise verstand, mithilfe der Bauzeichnungen, die allein sein Büro fertigte, die Entwürfe der Architektenkollegen in seinen Stil umzuschmelzen, sodass der Bau ungeachtet auch heterogener Stilelemente wie aus einem Gusse wirkt. Zu den berühmtesten Architekten der Epoche, die an der Planung der Würzburger Residenz beteiligt waren, zählte der Wiener Architekt Johann Lukas von Hildebrandt. Mit seinen Entwürfen trat er in Konkurrenz zu Balthasar Neumann,5 den Mainzer Architekten Maximilian von Welsch6 und Philipp Christoph von Erthal7 sowie dem Pariser Architekten Germain Boffrand8. Eine Fülle von Schriftquellen dokumentiert Hildebrandts Tätigkeit im Auftrag der beiden genannten Fürstbischöfe aus dem Hause Schönborn. Der Wiener Architekt hat sowohl in der Planungsphase vor der Errichtung des Residenzgebäudes vom Oktober 1719 bis zum April 1720 als auch zu einem späteren Zeitpunkt, und zwar in der Zeitspanne von 1730 bis 1740, an den Planungen mitgewirkt. Allerdings haben sich kaum Entwürfe seiner Hand erhalten.9 Wie kam es zu Hildebrandts Mitwirkung an der Planung der Würzburger Residenz? Diese Frage stellt sich zu Recht, wenn man auf die Vorrausetzungen des Residenzbaus zurückblickt. Denn die Würzburger Residenz entstand aus bescheidenen Anfängen, weshalb zunächst überhaupt nicht damit zu rechnen war, dass überregional beziehungsweise international tätige und teilweise schon zu ihrer Zeit berühmte auswärtige Architekten Entwürfe zu dem Bauwerk liefern würden. Der erste Bauherr der Residenz, Johann Philipp Franz von Schönborn, verfolgte nach seiner Wahl zum Würzburger Fürstbischof im September 1719 zunächst das Ziel, ein auf dem Rennweg-Areal in Würzburg bereits stehendes Lustschlösschen, das etwa zwei Jahrzehnte zuvor, in den Jahren 1700–1704, erbaut worden war und dem Hochstift gehörte, zu einer dauerhaften Residenz um- und auszubauen, da ihm die angestammte Hofhaltung auf dem befestigten Schloss Marienberg nicht zusagte.10 Auf einem mit Feder und schwarzer Tinte ausgeführten Situationsplan Neumanns, der in der Berliner Kunstbibliothek aufbewahrt wird (Abb. 1),11 ist das schräg auf dem Rennweg-Areal, entlang einem Weg angeordnete, dreiflügelige Lustschlösschen samt seinem recht kleinen, dreieckigen Garten zu sehen. Zu seinen Seiten finden sich weitere Gebäude, von denen das rechts anschließende gestreckte Bauwerk (später als Kammerbau bezeichnet) ursprünglich den ökonomischen Belangen des Schlösschens diente. In Bleistift wurde der Grundriss des

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Abbildung 1: Balthasar Neumann: Situationsplan des Rennweg-Areals mit Lustschlösschen und Grundriss der Residenz, 1719

Fotografie: Sammlung des Autors; Reproduktion: Birgit Wörz, Institut für Kunstgeschichte der Universität Würzburg

geplanten Residenzbaus nachträglich in den Plan eingetragen. Am oberen Blattrand ist der Verlauf einer dem Schlösschen benachbarten Bastion und zugehöriger Kurtinen dargestellt. Da Johann Philipp von Schönborn entgegen seinem Ruf, ein großer Verschwender zu sein, am Beginn der Planungstätigkeit noch fest dazu entschlossen war, Sparsamkeit walten zu lassen, sah er zunächst lediglich Anbauten zur Vergrößerung des Lustschlösschens vor. Als planenden Architekten für das Bauvorhaben bestimmte er einen zu seinem Hofstaat gehörigen Ingenieurhauptmann, Balthasar Neumann, der bis dahin nur mit begrenzten architektonischen Arbeiten hervorgetreten war.12 Fast ein Vierteljahr dauerten die mehrere Anläufe nehmenden Planungen Neumanns und seines Bauherrn, aus dem vorhandenen Bau ein geräumiges und den üblichen Anforderungen an eine Fürstenresidenz genügendes Bauwerk zu formen.13 Freilich plante die Familie Schönborn mit, insbesondere deren Oberhaupt, der Mainzer Kurfürst Lothar Franz von Schönborn, und ferner ein jüngerer Bruder des Bauherrn, Friedrich Karl, der damals als Reichsvizekanzler in Wien wirkte. Es war vor allem letzterer, der fürchtete, dass

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dieser Um- und Erweiterungsbau nichts Rechtes, sondern ein dem Ansehen seiner Familie gar schädliches Machwerk werden könnte. Deshalb zog er seinen österreichischen Hausarchitekten Lukas v. Hildebrandt hinzu. Am 29. Oktober traf dieser aus Wien im Privatschloss des Mainzer Kurfürsten zu Pommersfelden ein.14 Dort hatten sich einige Mitglieder des Hauses Schönborn versammelt, um sich mit dem Wiener Architekten über die Würzburger Planungen auszutauschen. Es darf davon ausgegangen werden, dass außer Kurfürst Lothar Franz auch dessen Neffe Friedrich Karl anwesend war, der erst wenige Tage zuvor, am 24. Oktober 1719, seinem fürstbischöflichen Bruder ein Schreiben von Pommersfelden nach Würzburg gesandt hatte, in dem er die Fähigkeiten seines Wiener Architekten pries.15 Dass noch ein weiterer Bruder des Bauherrn, der Reichsgraf Rudolf Franz Erwein von Schönborn-Wiesentheid, dazugestoßen war, ist anzunehmen, wie weiter unten noch auszuführen sein wird. Einigkeit wird zwischen den Teilnehmern der Beratung darüber geherrscht haben, dass die An- und Umbaupläne des Würzburger Fürstbischofs dem Vorhaben, eine neue, repräsentative Stadtresidenz zu schaffen, nicht gerecht wurden. Weder dem Ansehen des Auftraggebers noch des von ihm repräsentierten Hochstifts schienen die in Würzburg erarbeiteten Projekte angemessen zu sein, wie sich aus dem Folgenden ergibt. Zwar ist nicht bekannt, wie sich Hildebrandt zu den Würzburger Planungen und zu den Überlegungen des Kreises um Lothar Franz von Schönborn geäußert hat, geschweige dass sich zeichnerische Vorschläge seiner Hand überliefert haben beziehungsweise entdeckt wurden, allerdings wird man in Anbetracht späterer Nachrichten annehmen dürfen, dass Hildebrandt ausufernd, in großem Stil, plante und nicht den Würzburger Um- und Anbauabsichten zu entsprechen gedachte. Konkreteres lässt sich indessen über die von Hildebrandt auf der Pommersfeldener Baukonferenz vorgetragenen Vorstellungen nicht sagen – mit einer Ausnahme. Einen Hinweis auf die in Pommersfelden gepflogenen Überlegungen geben einige Äußerungen Graf Rudolf Franz Erweins von Schönborn in seinem Schreiben vom 31. Oktober an den Fürstbischof von Würzburg wieder: Da das Grundstück, auf dem das Schlösslein steht, „schon lang, ahnbei aber nicht gahr breid“ sei, empfiehlt Graf Rudolf Franz Erwein unter anderem, das Terrain der oben erwähnten benachbarten Bastion (Nr. 10, St. Michael)16 zur Erweiterung des Gartens hinzuzunehmen und ferner, dort eine Kaskade „hihnmachen“ zu lassen.17 Als wenig wahrscheinlich erscheint es mir, dass die für die weitere Entstehungsgeschichte der Residenz und ihres Hofgartens nahezu geniale Idee, die benachbarten Fortifikationen in das Schloss-Areal einzubeziehen, von dem Wiesentheider Schönborn stammt. Vielmehr möchte ich annehmen, dass der Reichsgraf an den Pommersfeldener Bauberatungen teilgenommen hatte und in seinem Schreiben an den künftigen Würzburger Bauherrn von anderer Seite zuvor geäußerte planeri-

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sche Überlegungen aufgriff und weitergab, ohne deren Urheber zu nennen. Ich halte es für naheliegend, dass es Hildebrandt war, der in Pommersfelden den Vorschlag gemacht hatte, die benachbarte Bastion in die Residenzplanung einzubeziehen. Bevor der Wiener Architekt in Würzburg auftauchte, war nämlich von dem Garten, der an das Schlösslein im Osten anschloss, überhaupt nicht die Rede gewesen. Es dürfte alles andere als Zufall sein, dass nach der Ankunft des kaiserlichen Architekten der spätere Hofgarten mit einem Male zum Thema der Planungsdiskussionen wurde. Dass hierbei Hildebrandt der entscheidende Stichwortgeber war, ist meines Erachtens naheliegend. Wie verschiedene seiner Werke bezeugen, insbesondere aber die schon erwähnte Belvedere-Anlage des Prinzen Eugen in Wien vor Augen führt,18 dachte Hildebrandt in weiten, tiefenräumlichen Perspektiven, wobei der Kontrast zwischen Höhe und Tiefe in entscheidendem Maße mitspielte. Die Situation auf dem Würzburger Rennweg-Areal hat Hildebrandt sicherlich elektrisiert, denn sie war wie geschaffen für seine architektonische Ideenwelt: Hier gab es einen Palast, der in einem weiten, in die Tiefe führenden Gelände stand beziehungsweise in erweiterter oder neuer Form künftig stehen sollte, und hinter dem Schloss erstreckte sich nach Osten ein weiterer, von den hohen Wällen der Bastion umschlossener, parterreartiger Freiraum, über dem, wie ein Point-de-Vue, die Wallkrone schwebte. Wer diese Situation erfasst hatte, konnte sich ausmalen, auf welche reizvolle Weise sich hier zwischen Tiefe und Höhe baulich vermitteln ließ, und sei es durch eine von der Bastionsspitze sich herabstürzende Wasserkaskade. Diese vor allem für einen bedeutenden Gartenarchitekten ungemein reizvollen freiräumlichen Gegebenheiten konnte nur erkennen und sich für seine Planungen zunutze machen, der gewohnt war, Architektur und Garten als Einheit zu sehen, und hierfür war Hildebrandt nicht nur der richtige Mann, sondern der im Umfeld der Schönborn am ehesten infrage kommende. Balthasar Neumann hatte zu diesem Zeitpunkt gewiss noch zu wenig architektonische Erfahrung, um auf den Gedanken zu kommen, das Schloss und seinen landschaftlichen Umgriff als Einheit zu sehen, zumal ihm damals noch jegliche gartenarchitektonische Erfahrung gefehlt haben dürfte. So spricht meines Erachtens vieles dafür, dass Hildebrandt schon auf den Pommersfeldener Baukonferenzen in den letzten Oktobertagen 1719 eine Idee entwickelt hat, die für das künftige Erscheinungsbild der Würzburger Residenz von großer Bedeutung werden sollte. Am 8. November kam Lukas von Hildebrandt nach Würzburg, um den künftigen Bauherrn der Residenz, Fürstbischof Johann Philipp Franz von Schönborn, zu beraten. Auf den Besuch Hildebrandts hatte Friedrich Karl von Schönborn seinen Bruder Johann Philipp Franz in einem Schreiben vom 3. November vorbereitet, nicht ohne die besonderen Fähigkeiten des Wiener Architekten herausgestellt und ferner den Wunsch ausgesprochen zu haben, der Würzburger Bischof möge etwas

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„fürstliches“ schaffen und sich nicht von den Unkosten schrecken lassen, sondern, wie der Prälat von Göttweig und selbst der Kaiser, lieber einige weitere Jahre zum Bauen vorsehen und, der Würde eines solchen Hochstifts und Fürsten entsprechend, etwas „rechtschaffenes“ machen,19 woraus sich unschwer erkennen lässt, dass Hildebrandt eine weitaus größere Schlossanlage vorschwebte, als man sie in Würzburg für erstrebenswert hielt. Die brüderlichen Lockrufe haben den immer noch zur Sparsamkeit entschlossenen Bauherrn nicht sonderlich beeindruckt. Das aus dessen Brief an Rudolf Franz Erwein von Schönborn vom 8. November 1719 erschallende Echo auf den Besuch Hildebrandts in Würzburg gibt zu erkennen, dass der Fürstbischof keineswegs den architektonischen Zauberkünsten des Wiener Baumeisters erlegen ist.20 Schon der Beginn des Schreibens gibt dessen Tenor zu erkennen. Obwohl bei ihm eine Zelebrität seines Faches, der Kaiserliche Architekt Hildebrandt, weilte, leitete der Fürstbischof seine Mitteilungen an den Bruder mit dem Bemerken ein, dass er nichts Besonderes („nichts merkwürdiges“) aus Würzburg zu berichten habe, so als sei die Anwesenheit des berühmten Baumeisters eine Bagatelle. Klar erkennbar wird hieraus, dass der Fürstbischof die Mitwirkung Hildebrandts am Würzburger Planungsgeschehen als marginal erscheinen lassen wollte. Immerhin hatte sich der Bauherr dazu herbeigelassen, mit dem Wiener Architekten „castelli in aria“ (Luftschlösser) zu bauen, nicht ohne mit ihm „manche mal in streit“ geraten zu sein. Hildebrandt, der sehr schwierig sein konnte,21 scheint recht geschmeidig auf die Zornausbrüche des Fürstbischofs reagiert zu haben, so dass dieser zu der sicherlich unbegründeten Auffassung gelangen konnte, der Architekt habe sich „schon in etlichen stücken“, über die sie anderer Meinung waren, „bequemet“, und es werde sich schon zeigen, ob sie handelseinig würden. Immerhin rühmt Fürstbischof Johann Philipp Franz an Hildebrandt dessen Vernunft, Kenntnisse und seine auf Erfahrung beruhende Geschicklichkeit. Worüber der Bauherr und Lukas v. Hildebrandt in Streit gerieten, wissen wir nicht. Anzunehmen ist allerdings, dass der Wiener Architekt nicht gedachte, Rücksicht auf den bestehenden Bau zu nehmen, und es ablehnte, sich bei den Planungen an das Schlösslein zu binden, um somit freies Feld für „castelli in aria“ zu gewinnen. Auf die Verwirklichung solcher architektonischen Träume konnte sich der Bauherr freilich nicht einlassen, weil er als guter Haushalter dastehen wollte. Dass der Abbruch des Schlössleins im Schönborn-Kreise bereits diskutiert worden war – sicherlich gemeinsam mit Hildebrandt – lässt ein auf den 8. November 1719 datiertes Schreiben von Graf Rudolf Franz Erwein von Schönborn an Fürstbischof Johann Philipp Franz vermuten, dem allerdings auch zu entnehmen ist, dass es dazu unterschiedliche Meinungen im Familienkreis gab: Während Friedrich Karl von Schönborn für eine weitläufige neue Schlossanlage plädierte, mahnte das Familienoberhaupt, Kurfürst Lothar Franz, dazu, sich nach dem Bestehenden zu richten.22

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Abbildung 2: Johann August Corvinus nach Salomon Kleiner: Vogelschauansicht der Residenz von Westen, 1740

Fotografie: Sammlung des Autors; Reproduktion: Birgit Wörz, Institut für Kunstgeschichte der Universität Würzburg

Obwohl dem Bauherrn die von Hildebrandt in einem „brouillon“, das heißt in einer Skizze, vorgelegte Gesamtplanung zu ausufernd war, erhielt der Wiener Architekt von dem Würzburger Fürstbischof den Auftrag, Pläne für den Umbau des bestehenden Schlösschens zu liefern. Doch dazu kam es nicht mehr, nachdem sich am Ende des Jahres 1719 herausgestellt hatte, dass das einstige Lustschlösschenss baufällig und deshalb zum Abriss freigegeben worden war. Nachdem dieses Gebäude nicht mehr im Wege stand, erwarteten die Schönborn von Hildebrandt, dass er nun „amplissimum campum seinen architecturgeist brilliren“ lassen werde.23 Obwohl in den kommenden Wochen und Monaten in der Privatkorrespondenz der Schönborn häufig von den mit Spannung erwarteten Entwürfen des Wiener Architekten die Rede ist, ließ dieser sich erstaunlich viel Zeit, bis endlich um den 20. März 1720 Hildebrandts Vorschläge für eine neue Residenz in Würzburg vorlagen, allerdings wieder nur in skizzenhafter Form, nämlich in Gestalt eines „brouillon“. Kurfürst Lothar Franz von Schönborn mutmaßte in einem Schreiben vom 25. März 1720, dass die Ideen Hildebrandts dem Würzburger Fürstbischof wohl als zu weitläufig erscheinen würden,24 womit er ins Schwarze traf. Denn in

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der Tat erklärte Johann Philipp Franz von Schönborn, dass er, mit Ausnahme von Einzelheiten, von dem hildebrandtschen Projekt keinen Gebrauch zu machen gedenke, sondern sich an die in Würzburg gefertigten und aus Mainz übersandten Pläne halten werde.25 Damit war Hildebrandt aus dem Rennen. Erst nachdem 1729 Friedrich Karl von Schönborn zum Würzburger Fürstbischof gewählt worden war, kam der Wiener Architekt wieder zum Zuge, allerdings nur bei der Planung von Einzelheiten, denn die Gestalt des Bauwerks lag im Großen und Ganzen seit 1720 fest, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. Da der Wiener Architekt der von ihm in Würzburg erwarteten Aufgabe, ein kostengünstiges Projekt vorzulegen, nicht entsprechen wollte, kam er 1719/20 mit seinen Entwürfen nicht zum Zuge. Dennoch hat er, wie ich vermute, mit seinem anscheinend weit ausgreifenden Gesamtkonzept Impulse für die künftigen Planungen gegeben. Bevor er in Würzburg auftauchte, war von einer Einbeziehung der benachbarten Bastion der Stadtbefestigung überhaupt nicht die Rede. Die Idee, das Residenzgebäude und den höhergelegenen Wall als Pendants und das dazwischen befindliche ansteigende Gartenterrain als vermittelnden Raum und schließlich das Ganze als Einheit zu sehen, dürfte, wie schon dargelegt wurde, m. E. von Hildebrandt angeregt worden sein. Überliefert scheint mir sein Projekt in einem 1740 publizierten Kupferstich von Johann August Corvinus nach einer gegen 1723/24 von Salomon Kleiner gezeichneten Vorlage zu sein, auf dem die Residenz in Vogelschauansicht von Westen dargestellt ist (Abb. 2).26 Auffällig erscheint mir bereits die betonte Tiefenerstreckung des Bauwerks, die sich auch auf einer Vogelschauansicht Balthasar Neumanns aus dieser Zeit (um 1722)27 und auf einem der nach Vorzeichnungen Neumanns gestochenen Tondi des reitzensteinschen Thesenblattes von 172328 findet. Sie steht im Gegensatz zu dem tatsächlich mehr in die Breite als in die Tiefe tendierenden ausgeführten Baukörper der Residenz. Es könnte sein, dass für die genannten Darstellungen die erwähnten „Brouillons“ Hildebrandts als Vorbilder dienten. Dass Neumann mit seinen Darstellungen entgegen den tatsächlichen Gegebenheiten anscheinend Hildebrandts Projekt aufgriff, zeigt dass er von der Idee einer Tiefenerstreckung der Schlossanlage wenigstens vorübergehend beeindruckt war. Erinnert sei hier wieder an Hildebrandts Belvedere-Schlösser in Wien, deren Reiz sich vor allem aus dem Gegensatz von Nähe und Ferne sowie aus dem Kontrast von Tiefe und Höhe der Anlage speist. An die Belvedere-Anlage erinnert indessen vor allem der Umstand, dass auf der Wallkrone der Bastion 10 (St. Michael) ein schlossartiges Gebäude erscheint (Abb. 3), dessen bizarrer Umriss entfernt an das Obere Belvedere erinnert: Auf dem Corvinus-Stich nach Kleiner ist es deutlich als gestreckter, einstöckiger Bau zu erkennen mit kuppelbekrönten Pavillons an den Seiten und einem fantasievollen Mittelpavillon, den an den Kanten kleinere Rundpavillons rahmen und in dessen Zentrum sich eine dritte

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Abbildung 3: Residenz von Corvinus/Kleiner: Detail

Fotografie: Sammlung des Autors; Reproduktion: Birgit Wörz, Institut für Kunstgeschichte der Universität Würzburg

Tambourkuppel erhebt. Als eine Allusion auf das Residenzschloss in der Tiefe darf man die Dreibogenanlage in der Mitte deuten. Der Zusammenhang mit dem Oberen Belvedere scheint unübersehbar, vor allem wenn man die zu dem Schlösschen hinaufführenden Kutschenenrampen berücksichtigt, weshalb ich nicht daran zweifle, dass das schlossartige Gebäude auf der Wallkrone, das vielleicht auch als Gewächshaus dienen sollte, auf einen Entwurf Hildebrandts zurückgeht. Hierfür spricht auch der Umstand, dass auf den genannten nach Neumanns Angaben entstandenen Ansichten der Wallkrone29 ein Gebäude von ganz anderem Charakter zu sehen ist: Es erscheint weniger schlossartig, sondern nüchterner und mehr den Zwecken eines Gewächshauses dienend. Wiederum eingeschossig, besteht es aus einem Hauptbau in der Mitte, der sozusagen die Spitze der Bastion abschneidet, und zwei seitlichen Flügeln, die entlang den Schenkeln der Bastion geführt sind und in kleinen Kopfpavillons endigen. Von ferne fühlt man sich an das wesentlich später von Neumann entworfene Karlsruher Schloss erinnert.30 Anschaulich wird bei dem Vergleich der für die Wallkrone der Hofgartenbastion projektiertern Bauten ein grundsätzlicher künstlerischer Unterschied: Auf den Ansichten Neumanns sehen wir einen relativ einfachen, zweckmäßigen, freilich zur schönen Ge-

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samterscheinung der Schlossanlage durchaus beitragenden Bau, auf der anderen Seite, auf dem Stich Salomon Kleiners, einen von überströmender architektonischer Fantasie strotzenden Bau, der jenseits aller Zweckgebundenheit nach purer Schönheit strebt. Dass der letztere von Hildebrandt entworfen wurde, halte ich für naheliegend.

A nmerkungen 1 | Siehe insbesondere Grimschitz, Bruno: Johann Lucas von Hildebrandt, Wien 1959, S. 132– 144. 2 | Siehe hierzu Grimschitz 1959, S. 91–99 u. zuletzt Seeger, Ulrike: Stadtpalais und Belvedere des Prinzen Eugen. Entstehung, Gestalt, Funktion und Bedeutung, Wien 2004 sowie Stephan, Peter: Das Obere Belvedere in Wien. Architektonisches Konzept und Ikonographie. Das Schloss des Prinzen Eugen als Abbild seines Selbstverständnisses, Wien 2010. 3 | Siehe hierzu und zum Folgenden Bachmann, Erich/Von Roda, Burkard/Helmberger, Werner: Residenz und Hofgarten Würzburg. Amtlicher Führer, 14. Aufl., München 2015, S. 5–29. 4 | Siehe Rose, Hans: Spätbarock. Studien zur Geschichte des Profanbaues in den Jahren 1660–1760, München 1922, S. 132–135; Hubala, Erich/Mayer, Otto: Die Residenz zu Würzburg, Würzburg 1984, S. 37–54. 5 | Merkwürdigerweise ist Neumanns planerischer Anteil an der Residenz bisher noch nicht zusammenfassend gewürdigt worden. Hierzu bereitet der Verf. der vorliegenden Studie eine umfassende Untersuchung vor („Die Entstehung der Würzburger Residenz [1719–1744]“). 6 | Mit den Entwürfen Maximilans v. Welsch für die Residenz beschäftigten sich maßgeblich Sedlmaier, Richard/Pfister, Rudolf: Die fürstbischöfliche Residenz zu Würzburg, Bd. 1, München 1923, S. 11–25; siehe ferner Reuther, Hans (Bearb.): Die Zeichnungen aus dem Nachlass Balthasar Neumanns. Der Bestand in der Kunstbibliothek Berlin, Berlin 1979, S. 20–22; Arens, Fritz: Maximilian von Welsch (1671–1745). Ein Architekt der Schönbornbischöfe. Unter Verwendung eines Vortragstextes von Wolfgang Einsingbach (= Schnell & Steiner Künstlerbibliothek), München/Zürich 1986, S. 58–62. 7 | Zu Erthals möglichem Anteil an der Planung der Würzburger Residenz siehe Arens 1986, S. 58; Loibl, Werner: Der Vater der fürstbischöflichen Erthals – Philipp Christoph von und zu Erthal (1689–1748) (= Veröffentlichungen des Geschichts- und Kunstvereins Aschaffenburg e. V., Bd. 64), Aschaffenburg 2016, S. 110–138. 8 | Zu Boffrands Planungen für die Würzburger Residenz siehe Boffrand, Germain: Livre d’Architecture, Paris 1745, S. 91–96 u. Taf. LV–LX. 9 | Siehe hierzu insbesondere Grimschitz 1959, S. 132–144. 10 | Hierzu und zum Folgenden siehe Kraus, Erasmus: „Hofhaltungen in Würzburg 1675– 1719“, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 27.1975, S. 60–75; Kummer,

Lukas von Hildebrandt und der Hofgarten der Würzburger Residenz Stefan: „Balthasar Neumann und die frühe Planungsphase der Würzburger Residenz“, in: Poeschke, Joachim/Korth, Thomas (Hg.), Balthasar Neumann. Kunstgeschichtliche Beiträge zum Jubiläumsjahr 1987, München 1987, S. 79–91; Kummer, Stefan: „Vom Lustschlösschen zur Residenz“, in: Mettenleiter, Andreas (Hg.), „Denk ich an Würzburg…“ Zeitgenossen über ihre Stadt. Gerhard Hainlein zum 75. Geburtstag, Pfaffenhofen 2017, S. 171–176. 11 | Berlin, Kunstbibliothek, Hdz 4672. Siehe dazu Reuther 1979, S. 20 u. Taf. 1. 12 | Zu Neumanns Anfängen siehe zuletzt und zusammenfassend Kummer, Stefan: „Der Baumeister der Fürstbischöfe: Balthasar Neumann (1687–1753) in Würzburg“, in: Dorothea Klein/ Franz Fuchs (Hg.), Kulturstadt Würzburg. Kunst, Literatur und Wissenschaft von der Schönbornzeit bis zur Reichsgründung, Würzburg 2013, S. 19–56, hier: S. 20–29. 13 | Siehe hierzu und zum Folgenden Kummer 1987; S. 79–84. 14 | Quellen zur Geschichte des Barocks in Franken unter dem Einfluß des Hauses Schönborn, 1. Teil: Die Zeit des Erzbischofs Lothar Franz und des Bischofs Johann Philipp Franz von Schönborn (1693–1729), 2. Halbband, unter Verwendung der Vorarbeiten v. P. Hugo Hantsch, Andreas Scherf † u. Anton Chroust † bearb. v. Max H. v. Freeden (= Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte Bd. VIII/ 1, 1, 2), Würzburg 1955, S. 508, Nr. 640. 15 | Quellen 1955, S. 505, Nr. 634. 16 | Zur Bastion 10, in die der Ostgarten der Residenz eingebettet ist, siehe Seberich, Franz: Die Stadtbefestigung Würzburgs, 2. Teil: Die neuzeitliche Umwallung (= Mainfränkische Hefte Bd. 40), Würzburg 1963, S. 117 f. 17 | Quellen 1955, S. 508 f., Nr. 641. 18 | Siehe Grimschitz 1959, Taf. 99–102, 111–114 u. 119. Ähnliches ließe sich über das Schloss Schönborn zu Göllersdorf bei Wien sagen. 19 | Quellen 1955, S. 509 f., Nr. 642: „Ich bitte E[uer] f[ürst]l[iche] Gn[aden] versäume die gelegenheith nicht, diesen habilen man, der kostbahre und wohlfeile gebau machet, teste meiner güther und p[our] mesnager le terrain, la propreté, et le modern seines gleichen nicht hatt. Umb 100 ducaten können E[uer] f[ürst]l[iche] Gn[aden]. von ihme profitiren, daß die gantze posterität Ihro obligation und Dero memorie das recht hatt, etwas fürstliches und rechtschaffenes gemacht zu haben. Lassen E[uer] f[ürst]l[iche] Gn.[aden] sich ahn dem p[unc] to der ohnkosten nicht schrecken, sondern geben Sie lieber etliche jahr zu, wie es der praelath von Göttweig und der kaiser jetzt selbst machet und machen pro dignitate tanti episcopatus et principis was rechtschaffenes.“ 20 | Quellen, S. 510, Nr. 644: „Uebrigens hab von hier nichts merkwürdiges zu schreiben, als daß der von Wien gekommene Jean Luca [Johann Lucas (von Hildebrandt)] sich dermalen bei mir befindet mit dem ich castelli in aria zu bauen beschäftiget bin und schon manche mal in streit gewesen. Er hat aber schon in etlichen stücken wo er mit mir ungleicher meinung ware, sich wiederum bequemet und wird sich noch zeigen, ob wir des handels völlig werden eins werden. Wenigstens finde an ihme, daß er ein mann von guther vernunft und wissenschaft auch einer wohlerfahrnen geschicklichkeit ist.“

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Stefan Kummer 21 | Siehe dazu die Mitteilung, die ein Vertrauter des Kurfürsten Lothar Franz von Schönborn, der Pater (Nikolaus) Loyson (einstiger Bauleiter in Pommersfelden), dem Beichtvater des Fürstbischofs Johann Philipp Franz v. Schönborn in einem Schreiben aus Wien vom 3. Januar 1720 zukommen ließ: „Dominus Jean Luca [sc. J. L. v. Hildebrandt] hodie apud me fuit, ordiri vult suam mentem in charta. Vir hic valde difficilis mihi videtur.“ (Quellen 1955, S. 530, Nr. 661). 22 | Quellen 1955, S. 510, Nr. 643. 23 | Quellen 1955, S. 526 f., Nr. 659. 24 | Quellen 1955, S. 603, Nr. 769: Wörtlich äußerte Lothar Franz von Schönborn: „Den brouillion des Jean Lucca seines Würzburger residenzriss verstehe ich wohl und stehet mir auch wohl ahn, außer daß ich besorge, daß er ep(iscopo) [dem Bischof] werde zu weithläuffig sein.“ 25 | Quellen 1955, S. 604 f., Nr. 771. 26 | Muth, Hanswernfried (Bearb.): Ansichten aus dem alten Würzburg, 1545–1945, Teil II. Aus der Graphischen Sammlung des Mainfränkischen Museums Würzburg (= Kataloge des Mainfränkischen Museums Würzburg Bd. 11), Würzburg 1998, S.126 f. (mit Literaturangaben). 27 | Berlin, Kunstbibliothek, Hdz. 4676; siehe Reuther 1979, S. 22 f. u. Taf. 4. 28 | Feurer, Rudolf/Maidt, Petra (Bearb.): Gesamtansichten und Pläne der Stadt Würzburg, 15.–19. Jahrhundert. Aus der Graphischen Sammlung des Mainfränkischen Museums Würzburg (= Kataloge des Mainfränkischen Museums Würzburg, Bd. 3), Würzburg 1988, S. 98–101 u. Faltplan nach S. 376; Korth, Thomas/Poeschke, Joachim (Hg.): Balthasar Neumann. Kunstgeschichtliche Beiträge zum Jubiläumsjahr 1987, Abb. 36. 29 | Siehe Reuther 1979, Taf. 4; Korth/Poeschke 1987, Abb. 36. 30 | Anderson, Liselotte: „Die Residenz in Karlsruhe“, in: Balthasar Neumann in Baden-Württemberg. Ausstellung zum Europäischen Denkmalschutzjahr 1975, Stuttgart 1975, S. 61–73.

Grundrisse kann jeder Eine Kinderzeichnung, der Kunzische Riss E.T. A. Hoffmanns und ein Grundriss Goethes vom 5.7.1776 Alexander Markschies

I. „I ch

über mich

– Streng

geheim !“

Grundrisse, also „waagerechte Schnitte durch ein Bauwerk bzw. dessen Geschosse“, kann und kennt jeder.1 Bereits eine der ersten, noch heute unmittelbar verständlichen Darstellungen von Architektur überhaupt wie die in das 21. Jahrhundert v. Chr. zu datierende Sitzstatuette des Fürsten der sumerischen Hauptstadt Lagash (Paris, Louvre) zeigt einen Grundriss in seiner elementaren Funktionalität zum Beispiel als Medium der Repräsentation, deutlich ablesbar sind die Mauerstärken sowie die Ein- und Ausgänge, sogar Aspekte der Außengestalt des Gebäudes kann man sich vorstellen.2 Wenn Bruno Taut ein Kapitel seines Buches über sein eigenes Wohnhaus in Dahlewitz bei Berlin mit den markigen Worten „Im Anfang war der Grundriss“ überschreibt,3 dann darf man ertragreich nach dem Archetypischen eines Grundrisses fragen, danach, ob sich in diachroner Perspektive uralte Grundrisse vom Grundriss heute wirklich unterscheiden. Die Distinktion ist vermutlich im Detail zu suchen, hier gibt es in der Gegenwart wesentlich mehr Festlegungen und Verabredungen als früher, die Grundrisse durchaus zur Angelegenheit von Experten werden lassen.4 Würde sich eine solche Fragestellung mit Gewinn als roter Faden für eine Monografie eignen,5 sollen im Folgenden Grundrisse im Fokus stehen, die von Laien gezeichnet worden sind, und die sich ohne Zweifel im Sinne einer analysierenden Kunstgeschichte diskutieren lassen. Die Grundrisse figurieren dabei als Artefakte jenseits einer Disziplin, die Fragen der Autorschaft diskutiert, einen Individual- und Epochenstil konstruiert oder Aspekte des high and low in den Blick nimmt.

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Abbildung 1: „So sieht meine Schule aus“

Aus: Gyles Brandreth/Rowan Barnes-Murphy (Illustrationen): Ich über mich. Streng geheim!, Buxtehude 1987, S. 55. Exemplar Kay Sommer

Grundrisse kann jeder

Ausgangspunkt ist eine Kinderzeichnung (Abb. 1):6 Sie findet sich in einem Exemplar des herrlichen Buches Ich über mich. Streng geheim! und setzt die Anweisung an den – in diesem Fall – zehnjährigen Buben um, seine Schule zu zeichnen. Er gibt sie, was zunächst erstaunen mag, als Grundriss wieder: Die Hauptakzente gelten der Lage der Klassenräume – man kann sich ausmalen, warum –, dem Schulhof, dem Ort der Notdurft, und rechts unten wird man Parkplätze vermuten dürfen. Wer gelernt hat, den durchaus mitunter abstrakten Bildmodus eines Grundrisses zu verstehen, wird annehmen dürfen, dass die drei Strichlagen vor den Klassenräumen „2a“ und „2b“ Treppenstufen bedeuten; aber das ist bereits Interpretation, die Strichen einen Sinn unterlegt. Denn vieles bleibt in der Zeichnung unklar und wäre mit Ansichten und Schnitten beziehungsweise Perspektiven zu korrelieren, den anderen klassischen Darstellungsmodi von Architektur, über die zunächst besonders intensiv das 16. Jahrhundert – in der Auseinandersetzung mit Vitruv – nachgedacht hat, und die sich seitdem zum Standardrepertoire der Planung und Repräsentation von Architektur entwickelt haben.7 Als Partitur für eine Rekonstruktion der Schule – dieses Analogon wird in deutschen Wiederaufbaudiskussionen nach dem 2. Weltkrieg durchaus häufiger instrumentalisiert – ist der Grundriss in jedem Falle vollkommen ungeeignet. Die Schülerzeichnung ist spannend – wie eigentlich jeder Grundriss –, und man kann sie in vielerlei Hinsicht perspektivieren, und sei es nur zu fragen, wie denn der Zehnjährige überhaupt darauf kommt, die Schule als Grundriss zu verbildlichen und nicht als Ansicht, was vermutlich nähergelegen hätte. Hier liefert die Antwort das Buch selbst, denn einige Seiten zuvor wird ganz im Sinne seiner pädagogischen Grundanlage der Grundriss des „Zuhause“ erarbeitet und in diesem Zusammenhang der „Grundriss der Wohnung des Illustrators“ abgebildet, „für den Fall, dass Du nicht weißt, was ein Grundriss ist“.8 Systematisch werden Informationen abgefragt – das Inventar, die Maße – und wird das Erinnerungsvermögen aktiviert, wenn man benennen soll, wo man möglicher Weise früher zu Hause war. Ziele sind die Zeichnung des Grundrisses des eigenen Zimmers und des Traumhauses. Es werden mithin durch das Buch regelrecht Bildpraktiken des Grundrisses eingeübt, Schlüsselqualifikationen, die es später im Leben leichtmachen, zum Beispiel die Einrichtung der Wohnung zu planen – oder, wie im vorliegenden Fall, ein Architekt zu werden.

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Abbildung 2: Der Kunzische Riss vom 18. Juli 1815

Aus: Otto Weddigen: Geschichte der Theater Deutschlands, Bd. 1, Berlin 1904, nach S. 188

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II. Zwischen Wirklichkeit, P hantasie und U nwirklichkeit : D er Kunzische R iss Wo anfangen bei diesem geradezu titanischen Werk, das als Federzeichnung so flüchtig dahingeworfen scheint und bereits vielfach ausführlich verhandelt worden ist (Abb. 2)?9 Ganz grundsätzlich zeigt es als eine Art Wimmelbild die Lebenswirklichkeit des Dichters, auch seine Traumwelten, mit dem Gendarmenmarkt als einem der Zentren Berlins zu einer Zeit, als sich die Stadt anschickt, Weltmetropole zu werden – und wo Hoffmann der „Einzige ist, der Berlin im Auslande berühmt gemacht hat“.10 Hoffmann war in dieses noble Orbital im Jahre 1815 gezogen, als seine letzte Wohnadresse in Berlin, Taubenstraße 31, Ecke Charlottenstraße, mit Blick auf die Rückseite des Theaters und über dieses hinweg auf die Türme der beiden Kirchen, der „französischen“ und der „deutschen Kirche“ (die Bezeichnungen werden auch im Folgenden der Skizze entnommen). Besitzer des um 1780 errichteten, 1846/47 umgebauten und 1905 abgerissenen Hauses war der Architekt Friedrich von Alten (1762–1843). Er wird im Kunzischen Riss namentlich, auch in seinen Funktionen, benannt und ragt als Figur links neben dem Grundriss des Wohnhauses auf, mit einem Messstab ausgestattet und einer „Mausefalle“ zugeordnet – vielleicht ein Verweis auf die zwar mit 128 Quadratmetern zuzüglich Küche und „Domestikenstube“ durchaus große, aber wegen ihrer niedrigen Deckenhöhe nicht eben großzügige Wohnung Hoffmanns.11 Die Bezeichnung Kunzischer Riss hat sich – vor allem in der Literaturwissenschaft – durch den Namen des Adressaten eingebürgert, Hoffmanns Bamberger Verleger und guten Bekannten Carl Friedrich Kunz (1785–1849), dem er am 18. Juli 1815 die Skizze seiner neuen Nachbarschaft zukommen lässt, um ihm eine Anschauung von ihr zu geben; so unmittelbar ihre Wirksamkeit, so genau lohnt es sich, sie zu studieren, nicht zuletzt weil sich die Ausrichtung der Inschriften ändert und man das Blatt also drehen muss. Die Zeichnung darf sich darüber hinaus als Einladung verstehen, denn oben ist ihr Adressat, „Hr. Kunz aus Bamberg“, in der „Großen Weinstube bei Schonert“ bereits zu Gast und studiert ellenlange „Weinzettel“ und „Speisezettel“ – damit wird er sich auch begnügen müssen, denn der Verleger hat den Dichter in Berlin nie besucht. Im Folgenden sei lediglich ein knapper Blick auf den Grundriss der Wohnung geworfen, im Vergleich mit einer einigermaßen professionellen Version, die anlässlich des Umbaus des Hauses erstellt worden ist (Abb. 3).12 Zu berücksichtigen sind dabei die durchgreifend veränderte Zugänglichkeit und die zumindest partielle Änderung der Raumdisposition. Ehemals gelangte man von der Taubenstraße über Treppe, Flur und Vorzimmer in ein „Prunkzimmer“, das nach der Erinnerung der

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Abbildung 3: Der Grundriss der Hoffmann’schen Wohnung in einer Umbauzeichnung aus dem Jahr 1844

Aus: Georg Wirth: Taubenstraße No. 31. III. Etage. Hoffmanns Wohnung in Berlin, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 28, 1982, S. 36–44, hier S. 43

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Schriftstellerin Helmina von Chézy (1783–1856) von Hoffmann selbst „ausgemalt“ worden war; „das schönste Zimmer war auf überraschend sinnreiche Art mit den Zierrathen ausgeschmückt, die auf seine Oper Undine Beziehung hatten.“13 Vom Prunkzimmer aus gelangte man in das „Zimmer der Frau“, das vermeintlich sehr rollentypisch einen Blick auf die „Gemüseweiber“ auf dem „Gendarmenmarkt“ eröffnete. In seiner letzten, kurz vor dem Tod vollendeten Erzählung Des Vetters Eckfenster wird hier aber im Sinne einer „physiologischen Novelle“14 nach der Zusammenfassung Walter Benjamins der „gelähmte Hoffmann in seinem Lehnstuhl sitzend auf den Wochenmarkt blicken und seinem Vetter, der bei ihm zu Besuch ist, anweisen, wie man aus Kleidung, Tempo, Gebärde der Marktweiber und ihrer Kundinnen vieles aufspüren, noch mehr aber ausspinnen und aussinnen könne.“15 Vom professionellen Grundriss unterscheidet sich der Kunzische Riss durch seinen privaten Charakter, die Einschreibung der Raumfunktionen sowie die Konstruktion von Kontexten und Atmosphäre, wenn etwa in der Taubenstraße in einem offenen Wagen gerade der „Baron Fouqué aus Nennhausen“ vorbeidonnert; das Undine-Märchen von de la Motte Fouqué hatte Hoffmann vertont, wie erwähnt spielte es offenbar die Hauptrolle in der Dekoration des Prunkzimmers. Auch das „Schlafcabinett“ hat Pfeffer, denn charmant und zugleich durchaus indiskret wird hier sehr deutlich präsent gemacht, dass in der Etage ein Ehepaar wohnt. Ein besonderer Akzent wird auf die Fensteröffnungen gelegt: Zur Taubenstraße sind sie bezeichnet und ihre Lage stimmt; zur Charlottenstraße ist ihre Anzahl kontrafaktisch von fünf auf drei reduziert, ihr Charakter mithin intensiviert. Vom Arbeitszimmer aus, das in der Fassade durch Pilasterordnungen nobilitiert war, streckt der „Regierungsrath Hoffmann“ seinen Kopf hinaus und bläst mit Pfeife im Mund eine Qualmwolke in Richtung seines Freundes und Zechkumpanen, dem „Schauspieler Deviant“, der tatsächlich nebenan im selben Gebäude gewohnt hat. Kurzum, der Kunzische Riss ist auch ein kapitaler Beitrag zur Sozialgeschichte des Grundrisses. In der Absetzung von der professionellen Version – Grundrissen in der Art, wie sie E.T.A. Hoffmann laut Ausweis des Versteigerungskataloges seines Nachlasses in großer Zahl besessen und die er nachweislich auch selbst bei der Umbauplanung eines Palais in Warschau gezeichnet hat –16 zeigen sich seine besonderen Qualitäten, wenn etwa Raumgrößen eher gefühlt wiedergegeben werden, die „Arbeitsstube“ um ein weniges größer und das „Schlafcabinett“ sowie das „Zimmer der Frau“ sehr viel kleiner als wirklich; Räume, die für die damalige Zeit tatsächlich vergleichsweise groß waren.

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III. R aum für N otizen : G oethe am 5.7.1776

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Auch der Grundriss, den Goethe in seinen Brief an Johann Gottfried Herder inseriert, hat es in sich (Abb. 4). Er wurde indes bislang nur als Umzeichnung publiziert, wohl erstmals 1856, dann unter anderem in der Weimarer Ausgabe 1888 und schließlich in der historisch-kritischen Briefedition 2014.17 In letzterer Ausgabe wird immerhin der Charakter einer Skizze präsent, da die Linien dem Original folgen. Der Text ist indes in eine moderne Schrifttype transkribiert, es entsteht ein durchaus unglücklicher Hybrid. Den Umschlag der Festschrift für den Literaturwissenschaftler Heinrich Bosse ziert die Version aus dem Jahr 1856, die Linien umgezeichnet und die Schrift in Fraktur.18 In der Festschrift selbst wird an keiner Stelle auf den Grundriss Bezug genommen, dies lässt den latent paradoxalen Charakter, der durch ihren Titel Diskrete Gebote vorgegeben ist, aber umso deutlicher hervortreten, ja appellativ werden, zumal er mit den Forschungen des Jubilars zum 18. Jahrhundert konvergiert: das Umkreisen des Befehls zum Selbstdenken als Aufforderung zur Kreativität. So wird die Front des Buches zu einem Kunstwerk ersten Ranges. Der Kontext der Zeichnung ist zunächst durch den Brief selbst prädisponiert: Goethe schreibt an den „Lieben Bruder“ Herder, es sei für ihn in Weimar alles bereit, er könne mit seiner Frau kommen, in dem bezugsfertigen Haus – bis heute die Superintendentur Herderplatz 8 – müssen allerdings noch „Öfen gesetzt, werden Fenster gemacht, angestrichen, geweisst und so weiter“. Das dreigeschossige Haus, im Kern ein 1726 zu heutiger Gestalt verwandelter Renaissancebau des ausgehenden 16. Jahrhunderts, wird Herder bis zu seinem Tod im Jahr 1803 bewohnen. Wohlgefühlt hat er sich darin offenbar nicht, so beschreibt er 1778 das Haus als „groß und verschnitzelt, unbewohnbar und wo es bewohnt wird eingeklemmt und drückend, als das wahre Symbol meines Amts.“19 Später bezeichnet er es als „unlogeabel wie jedermann bekannt“ sowie „zugig“. Dabei hatte Goethe alles versucht, dem unkonventionellen und inspirierten Schriftsteller, Essayisten, Übersetzer und Theologen, um den er lange geworben hatte, eine standesgemäße Adresse in Weimar für das Amt des Superintendenten, der höchsten geistlichen Position im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, zu verschaffen. Zentrum des Briefes von Goethe ist der Grundriss des – vermutlich – dritten Geschosses, der die Funktionen der einzelnen Räume vorschreibt. Die vorgesehenen Nutzungen sind die zeitgenössisch üblichen: Stube und „Besuchzimmer“ liegen zum Platz, Schlafzimmer und weitere Räume sind gartenseitig orientiert. Das Arrangement folgt der Anlage, wie sie etwa Nicolaus Goldmann und Leonhard Christoph Sturm in der im deutschen Sprachraum weitverbreiteten Vollständigen

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Abbildung 4: Goethe an Herder am 5. Juli 1776

Ehem. Berlin, Preußische Staatsbibliothek, heute Kraków, Biblioteka Jagiellonska, Autographensammlung Goethe

Anweisung, alle Arten von Wohn-Häusern wohl anzugeben (Augsburg 1715 und 1721) als Grundriss eines „idealtypischen bürgerlichen Wohnhauses“ kodifizieren (Abb. 5). Im Unterschied zu Goldmann und Sturm ist allerdings die „Deele oder Vor-Saal“ Nr. 38 auf Fig. 4 geteilt und durchsticht nicht die gesamte Tiefe des

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Abbildung 5: Bürgerliches Wohnhaus nach Goldmann und Sturm

Aus: Leonhard Christoph Sturm: Vollständige Anweisung alle Arten von bürgerlichen Wohn-Häusern wohl anzugeben..., Augsburg 1715, Exemplar ETH-Bibliothek, Zürich, Rar 9226

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Hauses. Es entsteht ein zusätzliches Zimmer, dem Goethe eine offene Funktion zuschreibt, eine Leerstelle: „für was ihr wollt“ inseriert er in den querrechteckigen Raum. Zusätzlich brisant, ja letztlich paradoxal gerät diese Aufforderung zur Kreativität, weil sie als machtvolle Geste normativ zu verstehen ist, als ein Befehl zum Selbstdenken, denn den Grundriss überschreibt Goethe mit dem Satz: „Ihr müsst euch indes gefallen lassen, wie ich euch die Zimmer anlege.“ Das auch literaturgeschichtlich geadelte Motto „für was ihr wollt“ elektrisiert jeden Leser und Betrachter des Grundrisses, und in diesem Sinne hat man ihn in seiner oben erwähnten Funktionalisierung als Umschlagbildung auch zu verstehen. Der Grundriss und das Haus sind Dispositive im einfachsten Sinne des Wortes, im vorliegenden Fall Sinn-Generatoren: Sie lassen sich biografisch kontextualisieren, so bereits von Herder selbst, wenn er die Wohnung als „Symbol“ bezeichnet sowie weit darüber hinaus, wenn man Goethes Vorgaben, den Brief und das autobiografische Äquivalent des Hauses mit Herders Denken und Seelenlage, hier dem Fragment als Kunstform, der Lebensmissstimmung des Gelehrten, der komplexen Beziehung Goethes und Herders oder ganz allgemein der Sattelzeit um 1800 verbindet, in der Neues entsteht. Ende April 1782 schreibt Herder seinem Freund Hamann: „Jetzt geht meine Karrenarbeit wieder an u. ich habe mich [...] in ein andres Zimmer begeben, das das beste im Hause u. wir leider! aus gedrückter Dumpfheit, 6 Jahre, die wir hier sind, zu brauchen vergessen haben.“20 Gerne wird man annehmen dürfen, eben jener Raum „für was ihr wollt“ hätte als Verräumlichung von Lebens- und Arbeitsphasen sechs Jahre seiner Bestimmung geharrt, bevor er dann zum besten Zimmer des Hauses werden konnte. Der Grundriss Goethes, zunächst privat adressiert und damit eine Art intimes Medium, wird vor allem durch seine prominente Autorschaft bekannt. Diese sichert auch die dauerhafte Überlieferung, gerade im Nachlass von Schriftstellern finden sich in großer Zahl vergleichbare Grundrisse.21 Die Zeichnung Goethes fungiert als eine Kulturtechnik, mit der Architektur in das Medium der Zeichnung transformiert und vor allem kommuniziert wird. Sie ist als Bild im besten Sinne zu verstehen: Durch Striche und Text werden die Funktion der Räume unmittelbar präsent, ihr Verhältnis zueinander, nicht zuletzt durch die überdeutlich eingezeichneten Türöffnungen (allerdings ohne ihren Anschlag), und die zentrale Erschließung der Etage durch die Treppe, die in den Vorsaal führt. Größen bleiben indes unbestimmt, weil ein Maßstab fehlt, Fensteröffnungen sind ebenfalls nicht eingezeichnet, und auch der Kontext bleibt außen vor, so etwa der direkte Blickbezug zur Stadtkirche Sankt Peter und Paul.

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IV. Fazit Grundrisse von Laien sind ein zentraler Beitrag zur Kunstgeschichte dieses Mediums, das vielleicht zunächst trocken und wenig anschaulich erscheint. Das genaue Gegenteil ist der Fall, und dies zeigt sich exemplarisch in den hier analysierten drei Grundrissen: Sie lassen eine geradezu intime Sicht ins Private ungemein präsent werden, sie eröffnen Vorstellungswelten und sie machen es wirklich jedem möglich, sich zeichnerisch zu artikulieren und visuell zu kommunizieren. Der prinzipielle Abstand zu den Grundrissen der Experten ist dabei gar nicht so groß. Keine Baupläne im konventionellen Sinne, fungieren sie gewissermaßen als Porträts oder Selbstporträts in Form temporärer Kartierungen von persönlichen Lebensumständen. Innenräume eigenen sich dafür in besonderem Maße, hier kehrt der Grundriss das Innere nach außen: Gegenwärtiges und Vergangenes, das von individueller, subjektiver Relevanz ist, wird synoptisch zusammengetragen und in die Kategorie der Anschaulichkeit überführt. Die Zeichnungen sind bildliche Ego-Dokumente, die zur Generierung und Vermittlung personengebundenen Wissens mit dem Grundriss auf die wohl älteste und epistemologisch effizienteste Bildform architektonischen Handelns zurückgreifen.

A nmerkungen 1 | Als Definition mag für den Zusammenhang dieses Beitrages der hier zitierte Lexikoneintrag reichen (Koepf, Hans: Bildwörterbuch der Architektur (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 194), Stuttgart 1974, S. 190). Die spannende und aktuell heiß diskutierte Frage nach den bildhaften Äquivalenzrelationen von Grundrissen, ob und wann sie als Projektion und nicht als Schnitt aufzufassen sind, kann außer Acht bleiben. Vgl. dazu Jahn, Peter Heinrich: „Parallelprojektionen“, in: Barbara Wittmann (Hg.): Werkzeuge des Entwerfens, Zürich 2018, S. 155–178, hier S. 163 f. 2 | Vgl. etwa Baus, Ursula: Zwischen Kunstwerk und Nutzwert. Die Architekturzeichnung, gesehen von Kunst- und Architekturhistorikern seit 1850. Unveröffentlichte Dissertation, Stuttgart 1999, S. 4 f. 3 | Taut, Bruno: Ein Wohnhaus, Stuttgart 1927, S. 21. Den Hinweis verdanke ich Kemp, Wolfgang: Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln, München 2009, S. 167. Ders., S. 167–218, bietet zahlreiche neue Einsichten zum Thema Grundriss. 4 | Als didaktischer Leitfaden versteht sich Vierhaus, Björn: Detailzeichnen (= Birkhäuser Basics), Basel 2018. Vgl. Philipp, Klaus Jan: Von der ichnographia Vitruvs zur DIN 1356-1. Prolegomena zu einer Geschichte der Grundrissdarstellung, in: Monika Melters/Christoph Wagner

Grundrisse kann jeder (Hg.): Die Quadratur des Raumes. Bildmedien der Architektur in Neuzeit und Moderne, Berlin 2017, S. 201–211. 5 | Eine ausführlichere Studie vom Vf. zum Grundriss ist in Vorbereitung. 6 | Brandreth, Gyles/Barnes-Murphy, Rowan (Illustrationen): Ich über mich. Streng geheim!, Buxtehude 1987, S. 55 (zuerst engl. 1979). Das Exemplar wurde mir dankenswerter Weise von Kay Sommer zur Verfügung gestellt, dem ich auch Auskünfte über seine Zeichnungen und Texte im Buch verdanke. 7 | Vgl. Philipp, Klaus Jan: Die Axonometrie als symbolische Form? Architekturdarstellung als visualisierte Theorie. Auf der Suche nach einer Theorie der Architektur, Hamburg 2011, S. 11 f. 8 | Brandreth/Barnes-Murphy 1987, S. 41. 9 | Vgl. nur Bienert, Michael: E.T.A. Hoffmanns Berlin. Literarische Schauplätze, Berlin 2015, S. 40–49 und Deterding, Klaus: „Hoffmann, der Türmer“, in: Tiziana Corda/Jörg Petzel (Hg.): E.T.A. Hoffmanns Stadterkundungen und Stadtlandschaften, Würzburg 2018, S. 109–117. Den Hinweis auf die Zeichnung verdanke ich Michael Bienert. Das Original hat sich nicht erhalten, zuletzt war die Zeichnung im Besitz von Franz Kugler. Erstmals publiziert wurde sie 1839 als Lithografie (vgl. dazu Steffen, Walter/Müller, Hans von (Hg.): Handzeichnungen E.T.A. Hoffmanns in Faksimilelichtdruck nach den Originalen. Mit einer Einleitung: E.T.A. Hoffmann als Bildender Künstler, Berlin 1925, S. 31. Eine interaktive Version gibt https://etahoffmann. staatsbibliothek-berlin.de/leben-und-werk/orte/berlin/kunzscher-riss/ [5.1.2019]. 10 | Benjamin, Walter: Das dämonische Berlin, in: ders.: Nachträge (= Gesammelte Schriften, Bd. 7/1), Frankfurt a. M. 1991, S. 86–92 (zuerst Rundfunkansprache am 25.02.1930), hier zit. nach Bienert 2015, S. 11. 11 | M. Bienert (Bienert 2015, S. 43) sieht hier Bezüge zur „Gestaltungswut des Architekten“ oder zum Spott Hoffmanns über die christliche Kirche. 12 | Wirth, Georg: „Taubenstraße No. 31. III. Etage. Hoffmanns Wohnung in Berlin“, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 28, 1982, S. 36–44, hier S. 43. 13 | Zit. nach Bienert 2015, S. 37. 14 | Schlaffer, Hannelore: Poetik der Novelle, Stuttgart/Weimar 1993, S. 258. 15 | Zit. nach Bienert 2015, S. 11. 16 | Vgl. Bienert 2015, S. 38 und Steffen/Müller 1925, S. 20. 17 | Düntzer, Heinrich/von Herder, Ferdinand Gottfried (Hg.): Aus Herders Nachlass: Ungedruckte Briefe von Herder und dessen Gattin, Goethe, Schiller, Klopstock, Lenz, Jean Paul, Claudius, Lavater, Jacobi und andern bedeutenden Zeitgenossen, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1856, S. 61; Goethes Werke, Abt. 4: Goethes Briefe, Bd. 3: Briefe 1775–1778, Weimar 1888, S. 79; Kurscheidt, Georg/Richter, Elke (Hg.), Müller, Gerhard/Zschiedrich, Bettina (Kommentar): Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Edition, Bd. 3/1. 8. November 1775–Ende 1779, Berlin 2014, S. 79. 18 | Borgards, Roland/Lehmann, Johannes Friedrich (Hg.): Diskrete Gebote. Geschichte der Macht um 1800. Festschrift für Heinrich Bosse, Würzburg 2002. Den beiden Herausgebern

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Alexander Markschies danke ich für fröhliche Diskussionen, genauso wie Ernst Osterkamp. Rainer Müller gab dankenswerter Weise Auskünfte zur komplexen Bau- und Umbaugeschichte des Hauses. 19 | Klassik-Stiftung Weimar (Hg.): Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe 1763– 1803, Bd. 4, Weimar 1979, S. 41. Die nachfolgenden Zitate nach Herder, Briefe Bd. 6, Weimar 1981, S. 147, Bd. 4, Weimar 1979, S. 214 und Bd. 7, Weimar 1982, S. 361. 20 | Zit. nach Freitag, Egon/Juranek, Christian (Hg.): Johann Gottfried Herder. Ahndung künftiger Bestimmung, Stuttgart 1994, S. 211. 21 | Eine Zusammenstellung bietet Nerdinger, Winfried (Hg.): Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, Salzburg 2006, S. 343 ff. Vgl. auch Jaspers, Anke: Onkel Tommys Hütte. Erinnerungen Klaus Hubert Pringsheims an Pacific Palisades, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 12.2018, Heft 3, S. 120–127.

„Mit der größten Freiheit“ Goethe über die Villa Palagonia in Bagheria bei Palermo Joachim Poeschke Absolutely free? Mit gutem Grund haben die Herausgeber in ihrer Einladung zu dieser Festschrift darauf verwiesen, dass Frank Zappa den Titel, den er 1967 einem seiner Alben gegeben hat und mit dem auch der vorliegende Band überschrieben ist, vermutlich nicht ganz ernst gemeint habe. Denn letztlich dürfte jedermann bewusst sein, dass es weder im gesellschaftlichen Zusammenleben noch im Kunstschaffen eine absolute Freiheit gibt und dass auch die furioseste Provokation der weitgehenden Konditioniertheit des menschlichen Lebens unterliegt. Dass dennoch eine solche Botschaft auf das Cover eines Musikeralbums gelangen konnte, verdankte sich, so darf man annehmen, vor allem marktstrategischen Überlegungen und der ihnen zugrundeliegenden Gewissheit, dass schon die verbale Beschwörung von Freiheit oft als Ersatz akzeptiert wird für die tatsächliche Unabhängigkeit von Idealen und Regeln, von Konventionen und Tabus, die in der Moderne als höchstes künstlerisches Anliegen gilt und dadurch in ihr gewissermaßen den Platz aller älteren Tabus eingenommen hat. In jüngster Zeit scheint sich in dieser Hinsicht allerdings ein Wandel zu vollziehen, wofür vor allem die Tatsache spricht, dass bei der Beurteilung von Kunst die ästhetischen und künstlerischen Maßstäbe neben den gesellschaftspolitischen und ideologischen Kriterien so gut wie keine Rolle mehr spielen. Nachdem man sich daran gewöhnt hat, die Kunstfreiheit umstandslos mit der Meinungsfreiheit gleichzusetzen, ist die Frage nach der künstlerischen Qualität und Originalität endgültig hinter das Kriterium der gesellschaftlichen Akzeptanz und der demonstrativen Kultivierung dessen, was als „gutes Gefühl“ heute ganz oben auf der Befindlichkeitsskala rangiert, zurückgetreten.1 Man verfolge nur die sich häufenden Gerichtsprozesse und Zuschauerproteste, denen künstlerische Aktionen und Inszenierungen heute verstärkt ausgesetzt sind. Anstoß genommen wird in ihnen zumeist an dem vom modernen Kunstbetrieb unbeirrt propagierten Ideal der absoluten Kunstfreiheit, das denjenigen, der heute als Künstler Anerkennung sucht, vorzugsweise und geradezu zwanghaft

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Abbildung 1: Bagheria, Villa Palagonia, Skulpturengruppe am Viale zum Casino

Quelle: Borch 1782, Tafelband

von der Provokation und dem Tabubruch als den wirkungsvollsten Instrumenten der Performance Gebrauch machen lässt. Inzwischen jedoch erweist sich diese ursprünglich zugunsten der Kunstfreiheit verfolgte Strategie mehr und mehr als ein Dilemma, da die von den Kunstakteuren und -regisseuren beanspruchte Lizenz zur gezielten Verstörung des Kunstpublikums mittlerweile dazu geführt hat, dass letzteres sich gegen die zunehmend aggressive Ausschöpfung des Verstörungspotenzials immer häufiger auflehnt, wie dies zum Beispiel 2013 in Düsseldorf nach der Inszenierung des Tannhäuser unter der Leitung von Burkhard C. Kosminski geschah, was zur Folge hatte, dass sich der Intendant der Deutschen Oper am Rhein, Christoph Meyer, zu dem bemerkenswerten Statement gezwungen sah, dass die künstlerische Freiheit zwar ein sehr hohes Gut, höher jedoch die Gesundheit der Theaterbesucher zu veranschlagen sei.2 Wir werden sehen, dass die Frage der gesundheitsschädlichen Wirkungen der künstlerischen Freiheit schon im 18. Jahrhundert aufgeworfen werden konnte – wenngleich, anders als in Düsseldorf, mit ironischem Unterton. Zu solchen Reaktionen kam es jedoch selten, auch wenn man generell davon ausgehen kann, dass

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das Echo sowohl auf die propagierte als auch auf die praktizierte Kunstfreiheit zu allen Zeiten gespalten war. Die Diskussion darüber lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen, „war doch immer schon Malern wie Dichtern das denkbar Kühnste verstattet“, wie Horaz sagt.3 Gleichwohl ist festzuhalten, dass die Berufung auf die künstlerische Freiheit zu keiner Zeit so wie in unseren Tagen alle anderen Maßstäbe künstlerischen Gestaltens völlig zum Verschwinden gebracht hat. Denn von der Antike bis zum Barock waren ihr dadurch Grenzen gesetzt, dass über der Kunstfreiheit die Gesetze der Kunst, die generell dem Grundsatz „ars imitatur naturam“ unterstand, rangierten. Zu diesen Gesetzen gehörte vor allem die von Horaz zu Beginn seiner Ars Poetica erhobene Forderung nach Einheitlichkeit und Naturgemäßheit der bildkünstlerischen und dichterischen Invention unter Vermeidung jeglicher Beliebigkeit und Willkür in der Auswahl und Zusammensetzung der für ein Bild konstitutiven Elemente, wie sie sich nach Horaz zum Beispiel ergäben, wenn man im Bildwerk ein Menschenhaupt mit dem Hals und Nacken eines Pferdes, mit dem Oberkörper einer schönen Frau und dem Unterleib eines hässlichen grauen Fisches kombinieren und das befremdliche Aussehen eines solchen Geschöpfes noch durch Gliedmaßen gänzlich verschiedener Art und durch ein buntes Gefieder verstärken würde.4 Diese Grundsätze behielten lange Zeit Geltung, auch wenn sie nicht verhinderten, dass allerlei artifizielle und bizarre Bilderfindungen, die den Kriterien der Einfachheit, Einheitlichkeit, Naturgemäßheit und Angemessenheit keineswegs entsprachen, in die antike Kunst Eingang fanden. Dass die Ansichten über diese Frage jedoch weit auseinandergehen konnten, bezeugt das Beispiel Vitruvs, der die Fantasieschöpfungen, mit denen die zu seiner Zeit in Mode gekommene römische Wandmalerei aufwartete, kategorisch als Hirngespinste ablehnte, mit der Begründung, dass es die dargestellten Dinge in der Wirklichkeit nicht gebe.5 Solche Kritik änderte indes nichts am Fortleben der künstlerischen Freiheit, auch wenn diese jahrhundertelang durchaus nicht als absolute Freiheit verstanden wurde, sondern Abweichungen von der Regel, die jedoch die Regel als solche nicht infrage stellten, damit gemeint waren. Diese fielen daher auch nicht unter den Begriff der libertas, sondern wurden als licentiae bezeichnet. Von ihnen machte man in der bildenden Kunst ebenso reichlich Gebrauch wie in der Poesie und in der Rhetorik. Fantasiegebilde aller Art, bis hin zu Monstren und Chimären, behielten einen festen Platz in den Bildkünsten auch im Mittelalter, das zwar viele Themen aus seinem Bilderkanon ausschloss, an manchen, die dem christlichen Verständnis von Bildwürdigkeit durchaus nicht entsprachen, jedoch festhielt. Zu großer Verbreitung gelangten diese vor allem in den Randverzierungen der Buchmalerei und in der Bauplastik. Eine deutliche Grenze war ihr allerdings dadurch gezogen, dass Motive dieser Art einem sekundären Bilderkreis vorbehalten und damit sowohl

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auf die peripheren Zonen als auch auf kleine Formate beschränkt blieben. Zusammen mit dem sie oft umspielenden Rankenwerk gehörten sie der Sphäre des dekorativen Beiwerks an. In der Renaissance nahmen diese zuvor marginalen Sujets dagegen einen immer größeren Raum ein, was nicht zuletzt daran lag, dass die antike Kunst zum allgemeinen Maßstab für die zeitgenössische Kunstproduktion geworden war. Im 16. Jahrhundert führte dies dazu, dass die licenze zunehmend auch zu einem Thema der zeitgenössischen Kunsttheorie und Kunstkritik wurden und ihre Anwendung sich nicht nur auf die Bildkünste,6 sondern darüber hinaus auch auf die Architektur erstreckte. Begünstigt wurde die Erweiterung des Motivrepertoires in letzterer dadurch, dass die Architektur von Privatbauten und deren Ausstattung nicht denselben strengen Regeln unterlag wie die der öffentlichen Bauten. Eine solche Abweichung von der Norm erlaubten ebenso die zu den Villen gehörigen Gartenanlagen, die damit den Auftraggebern willkommene Gelegenheit boten, in ihnen Bilderwelten ganz eigenen Gepräges, in denen dem persönlichen Geschmack des Bauherrn bis hin zu dessen exzentrischen Vorlieben viel Raum gegeben war, entstehen zu lassen. Ein frühes Beispiel hierfür ist der auf Veranlassung des Vicino Orsini unterhalb seines Palazzo angelegte Sacro Bosco in Bomarzo bei Viterbo, heute besser bekannt als Parco dei Mostri, der lange vergessen war, im 20. Jahrhundert jedoch zu neuer Berühmtheit gelangte.7 Ein vergleichbares Zusammentreffen von willkommener Gelegenheit und eigenwilliger Invention ergab sich, als der Fürst Ferdinando Francesco II Gravina, Cruylas ed Agliata, Principe di Palagonia (1722–1788) um die Mitte des 18. Jahrhunderts daran ging, die von seinem Großvater ab 1705 erbaute Villa in Bagheria bei Palermo außen und innen überreich mit Skulpturen und allerlei sonstigem Dekor auszustatten.8 Er scheint dabei ganz aus eigenem Antrieb gehandelt zu haben und auch der alleinige Ideator des höchst ungewöhnlichen von ihm in Auftrag gegebenen Figurenprogramms gewesen zu sein. Das Resultat seiner Bemühungen erregte schon bald ein solches Aufsehen, dass die Villa zu einer Hauptsehenswürdigkeit für zahlreiche damalige Sizilienreisende wurde, auch wenn deren Urteil über den Geschmack des Fürsten insgesamt alles andere als schmeichelhaft ausfiel. Sizilien war bis in die 1760er Jahre für Bildungsreisende noch weitgehend Neuland. Dies änderte sich erst mit dem allgemein erwachten Interesse an den griechischen Altertümern und die dadurch bewirkte Neuentdeckung und Instandsetzung der Tempel von Segesta, Selinunt und Agrigent. Schon bald erschienen in kurzer Folge mehrere von den Reisenden aus dem nördlichen Europa verfasste ausführliche Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten Siziliens, von denen hier vor allem diejenigen von Riedesel,9 Brydone,10 Graf Borch,11 Payne Knight,12 Swinburne13 und Bartels14 sowie die durch Kupferstiche illustrierten Monumentalwerke von Houel15 und Saint Non16 zu erwähnen sind.

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Abbildung 2: Bagheria, Villa Palagonia, Skulpturengruppe am Viale zum Casino

Quelle: Borch 1782, Tafelband

Während die 1771 in Zürich erschienenen Reisebriefe des Freiherrn von Riedesel, der Sizilien 1767 besuchte, die Aufmerksamkeit vor allem auf die Altertümer der Insel lenkten, deckt der ebenfalls in Briefform verfasste Reisebericht des Schotten Patrick Brydone, der sich 1770 in Sizilien aufhielt, ein wesentlich breiteres Interessenspektrum ab. Breiter war auch seine Publikumswirkung. Der ersten Auflage von 1773 folgten schon bald weitere Auflagen in englischer Sprache und Übersetzungen ins Deutsche und Französische. Brydone schrieb, wie sich seinem Vorwort entnehmen lässt, „for the amusement of his friends“.17 Er war weniger archäologisch und kunstgeschichtlich als naturwissenschaftlich interessiert, sammelte aber auch Notizen zu allerlei Merkwürdigkeiten, die ihm unterwegs auffielen, und hielt nicht zuletzt „the ridiculous things we have seen“18 für mitteilenswert. Ihm ist die früheste Beschreibung der Villa Palagonia und ihrer Ausstattung zu verdanken.19 Seiner Vorliebe für das „Interessante“ im Sinne des Spektakulären, Ausgefallenen, Aufsehenerregenden verleiht er schon zu Beginn seiner Beschreibung Ausdruck: Die schönste Villa in Bagheria, so heißt es da, sei die Villa Valguarnera, doch könne diese bei weitem nicht als die außergewöhnlichste gelten. Von ihr eine Beschrei-

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Abbildung 3: Bagheria, Villa Palagonia, Gesamtansicht

Quelle: Houel 1782, Taf. XXI

bung zu liefern, hieße dem Leser Dinge mitzuteilen, die er schon oft gesehen und von denen er schon oft gehört habe. Daher werde im Folgenden nur von der Villa Palagonia, die einzigartig auf der Welt sei, die Rede sein. Der Besitzer, „a man of immense fortune, who has devoted his whole life to the study of monsters and chimeras, greater and more ridiculous than ever entered into the imagination of the wildest writers of romance or knight-errantry […]“, habe sich den umfangreichen Skulpturenschmuck der Villa die enorme Summe von 20.000 Pfund kosten lassen. Auf 600 belaufe sich mittlerweile die Anzahl der Figuren und Figurengruppen auf den Umfassungsmauern der langen Zufahrtstraße zum Casino und des Villenvorhofes (Abb. 1–5).20 Die Figuren seien allesamt merkwürdige Fantasiegeschöpfe – Menschenleiber mit Tierköpfen, Tierleiber mit Menschenköpfen, Kreaturen, die sich aus fünf oder sechs verschiedenen Lebewesen zusammensetzten und die in der Natur keinerlei Entsprechung hätten, absurde Auswüchse einer krankhaften Fantasie, die nur schwer begreifen ließen, dass ihr Urheber nicht schon vor Jahren hinter Schloss und Riegel gebracht worden sei. Doch handele es sich bei diesem um einen völlig unschuldigen Menschen, der dadurch, dass er seinem Wahnsinn fröne, niemandem zur Last falle, sondern, im Gegenteil, einer beträchtlichen Anzahl

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von Bildhauern und anderen Arbeitskräften zu Lohn und Brot verhelfe. Das Innere des Schlosses entspreche in seiner wunderlichen Ausstattung mit zahlreichen Spiegeln, verschiedenfarbigen Fensterscheiben, Stühlen mit zum Teil abgesägten Beinen und Stacheln unter den Sitzpolstern sowie nicht weniger als vierzig aus Porzellanschüsseln, Teekannen, Tassen und Untertassen zusammengesetzten Pyramiden und Pfeilern auf den Kaminsimsen, Fensterbänken und Anrichten ganz und gar seinem Äußeren. Jegliche Ordnung oder Regelmäßigkeit werde vermieden, vorherrschend sei der Effekt des Närrischen und Lachhaften. Der Urheber dieser abstrusen Ansammlung von Kuriositäten sei eine bedauernswerte Person, die bei jedem Luftzug zittere und vor jedem Gesprächspartner Angst zu haben scheine, obwohl man sie auch bei verschiedenen Gelegenheiten recht vernünftig habe reden hören. Die Regierung hätte ernsthaft daran gedacht, die Unzahl von Monstern und Chimären, die er um sein Haus herum aufgestellt hat, zu beseitigen, aber da der Fürst von harmloser Wesensart sei und eine Zerstörung seines Bilderreiches sein Herz brechen würde, habe man bis jetzt davon Abstand genommen. Allerdings soll die Tatsache, dass zwangsläufig auch schwangere Frauen die Monster zu sehen bekämen, bereits sehr unglückliche Folgen insofern hervorgerufen haben, als in der Nachbarschaft verschiedene lebendige Ungeheuer zur Welt gebracht worden seien, sodass die Frauen sich nicht länger trauten, in Bagheria frische Luft zu schöpfen, aus Furcht, dass irgendeine der schrecklichen Gestalten sie in ihrer Fantasie heimsuche. Wie man sieht, verknüpft Brydone in seiner Schilderung sachliche Mitteilungen mit persönlichen Urteilen, Selbstgesehenes mit nur Gehörtem, biografische Notizen zum Auftraggeber mit vagen Mutmaßungen zu seiner Persönlichkeitsstruktur und die Erwähnung wirtschaftlicher Aspekte mit ästhetischen Bewertungen und untermischt alles dieses mit ironischen Untertönen und amüsanten Histörchen. Betont wird, dass der Fürst ein Vermögen für die beschriebene Ausstattung der Villa ausgegeben habe. An dieser sei in ästhetischer Hinsicht zu bemängeln, dass sie gänzlich dem guten Geschmack und dem gesunden Menschenverstand widerspreche, doch diesen Mangel sieht Brydone bemerkenswerterweise dadurch wettgemacht, dass der Fürst durch die Beschäftigung zahlreicher Bildhauer und sonstiger Arbeitskräfte für deren Unterhalt gesorgt habe. Gleich zweimal ist davon die Rede. Dies lässt nicht den Eindruck gewinnen, dass die ästhetischen Fragen für Brydone von vorrangiger Bedeutung waren. Die meisten Reisenden, die bald nach Brydone die Villa Palagonia besucht haben, zeigen sich in ihren Beschreibungen deutlich von ihm beeinflusst. Das gilt insbesondere für den Grafen Borch.21 Auch von Goethe ist gesagt worden, dass er sich bei seiner Schilderung der Villa und ihrer Absonderlichkeiten vor allem an Brydone orientiert habe.22 Dokumentiert ist, dass Goethe 1788, als er wieder in

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Weimar war und für den von Wieland herausgegebenen Teutschen Merkur seine Beschreibung des Heiligtums der hl. Rosalia auf dem Monte Pellegrino verfasste, die deutsche Ausgabe des Buches von Brydone aus der Weimarer Hofbibliothek entliehen hat. Ob er in dieses auch schon vor seiner Reise nach Italien Einblick genommen hat, ist unbekannt, doch letztlich auch ohne Belang angesichts der Tatsache, dass die Endredaktion des den Aufenthalt in Sizilien betreffenden zweiten Teils der Italienischen Reise erst 1815–1817 erfolgte. Ein Indiz für die Abhängigkeit der Goetheschen Beschreibung der Villa in Bagheria von derjenigen Brydones hat man darin sehen wollen, dass Goethe ebenso wie Brydone fälschlicherweise den Vater des Fürsten von Palagonia als deren Erbauer bezeichnet, obwohl dieses Verdienst dem Großvater zukam. Demselben Irrtum sind jedoch auch Autoren wie der Graf Borch und Houel erlegen, sodass Goethe ihn von diesen ebenso wie von Brydone hätte übernehmen können. Auch Goethes Beschreibung der aus Teekannen, Tassen und Porzellanschalen zusammengesetzten Kandelaber im Innern der Villa liegt nicht zwingend, wie Kruft annimmt, 23 der Text Brydones zugrunde, zumal Brydone in diesem Zusammenhang von „Pyramiden“ und „Pfeilern“ spricht,24 während Borch – wie später auch Goethe – die Bezeichnung „Kandelaber“ bevorzugt.25 Festzuhalten ist ferner, dass nur Borch und Houel vor Goethe auf die neben dem Hauptgebäude der Villa errichtete kleine Kirche der Madonna degli Agonizzati eingehen und den in ihrem Innern an der Decke angebrachten Kruzifix erwähnen, in dessen Bauchnabel eine Kette eingeschraubt war, an der eine Figur hing, die von beiden Autoren als hl. Franziskus bezeichnet wird,26 während Goethe in ihr ein Bild des Stifters in ewiger Anbetung sah.27 Bei Brydone ist dagegen überhaupt nicht von der Kirche und dem – heute nicht mehr erhaltenen – Kruzifix und der an ihn angehängten Figur die Rede, vielleicht, weil sie um 1770, als Brydone Bagheria besuchte, noch nicht existierten, während Goethe in seiner Schilderung des Ensembles, das ihm als ein besonders abschreckendes Beispiel der Geschmacksverirrung und Bigotterie des Hausherrn erschien, vor allem von seinen eigenen Notizen ausgegangen zu sein und sich weder an Borch noch an Houel angelehnt zu haben scheint, da er sonst vermutlich deren Bezeichnung der angehängten Figur als Franziskus übernommen hätte und Borch zudem von einem gemalten und nicht wie Houel und Goethe von einem plastischen Kruzifix spricht. Die Unterschiede zwischen Brydones und Goethes Kommentar zur Villa Palagonia beschränken sich jedoch nicht auf Äußerlichkeiten und Details, sondern reichen tiefer, was schon darin deutlich wird, dass Goethe in seiner Schilderung alle äußerlichen Umstände und unterhaltsamen Histörchen beiseitelässt. Im Zentrum stand für ihn die Frage, wieweit das, was sich hier als Resultat eines höchst eigensinnigen Auftraggeberwillens den Augen darbot, noch mit den Gesetzen der Kunst vereinbar war. Zwar betont Goethe ebenso wie Brydone und alle anderen

„Mit der größten Freiheit“

Abbildung 4: Christoph Heinrich Kniep: Bagheria, Villa Palagonia, Skulpturengruppe am Viale, 1787

Stiftung Weimarer Klassik/Goethe-und Schiller-Archiv

damaligen Besucher der Villa Palagonia mehrfach den Unsinn und das Lächerliche des Villenschmuckes sowie den Wahnsinn und die Tollheit des Prinzen, doch begnügt er sich nicht damit, als Ursachen hierfür lediglich die Person, den Charakter, die intellektuellen Interessen und die persönlichen Vorlieben des Auftraggebers geltend zu machen. Wichtiger war ihm – im Unterschied zu allen anderen damaligen Autoren – die tiefere Wurzel dessen, was er als „Unsinn des Prinzen Pallagonia“ und als „pallagonische Raserei“ bezeichnet, zu benennen. Sie bestand nach Goethe darin, dass diese Raserei sich „auf eignem Grund und Boden, in der größten Freiheit und Breite“28 hervortun konnte. Die „größte Freiheit“ war die Voraussetzung dafür, dass der Fürst seinen Vorstellungen von der Ausstattung der Villa uneingeschränkt Raum geben konnte, worauf er auch als auf sein Recht ausdrücklich Wert legte, wie sich daraus ersehen lässt, dass er die dagegen erhobenen Einwände strikt zurückwies und allen, die Anstoß nahmen an seinen Fieberfantasien, empfahl, der Villa fernzubleiben.29 Damit benannte Goethe erstmals, soweit ich sehe, jenes eingangs beschriebene Dilemma, dem vielfach auch das heutige Kunstgeschehen ausgesetzt ist und das darin besteht, dass die größte Freiheit noch keineswegs von selbst eine ihr adäquate große oder auch nur akzeptable künst-

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Abbildung 5: Bagheria, Villa Palagonia, Skulpturen auf der Umfassungsmauer des Villlenvorhofes

Fotografie: Joachim Poeschke

lerische Leistung entstehen lässt, sondern ebenso eine fatale Diskrepanz zwischen ersterer und letzterer offenbaren kann, wenn von der Freiheit ein falscher, was vor allem heißt ein anmaßender Gebrauch gemacht wird. Oder anders gesagt: Zum Entstehen eines Kunstwerks gehört immer auch das Gelingen, das aber durch die Freiheit allein in keiner Weise garantiert ist. Die Freiheit, die dem Principe di Palagonia zu Gebote stand, war die Freiheit des Grundeigentümers. Es handelte sich somit um eine materielle Freiheit, die sich der Kunst auf eigenem Grund und Boden nach Belieben bemächtigen konnte und war damit das Gegenteil jener Freiheit, von der Schiller in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen spricht.30 Goethe nannte daher das, was auf dieser Grundlage in der Villa Palagonia entstanden war, kurzerhand „ein Nichts […] welches für etwas gehalten sein will“31 beziehungsweise eine „Unschöpfung“32. Er sah darin keineswegs nur, wie Brydone, das Ausleben eines Spleens, auf das man halb amüsiert, halb gelangweilt und vielleicht auch mit einer gewissen Sympathie zu reagieren geneigt sein konnte, sondern eine grobe Verletzung der elementarsten Kunstgesetze, was die kompromisslose Schärfe seines Urteil erklärt. Was die „Unschöpfung“, von der er spricht, zu einer solchen machte, war in seinen Augen die übermäßige Gewichtung von bis dahin in der Kunst bewusst marginal angewandten Motiven und Ausdrucksele-

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menten, war insbesondere die übermäßige Dimensionierung des Karikaturhaften, das sich zuvor auf das kleine Format beschränkt, hingegen in so großem Maßstab, ungeachtet der von Lohmeyer angeführten Parallelen im deutsch-österreichischen Spätbarock,33 nirgendwo seinesgleichen hatte, wie dies nicht nur von Brydone und Houel ausdrücklich betont worden ist.34 Goethe verstand Freiheit und Gesetzlichkeit nicht als Gegensätze35 und sah dementsprechend auch nicht die Kunstfreiheit im Widerspruch zur Kunstgesetzlichkeit. Beide im Kunstwerk zu vereinen, war nach ihm sittlich – heute würde man sagen gesellschaftlich – geboten. Fragen der Kunst hatten für ihn immer auch eine über die Kunst hinausgehende Relevanz. Kaum ausreichend dürfte es daher sein, als Grund für Goethes tiefe Abneigung gegen die „pallagonische Raserei“ lediglich anzuführen, dass der Dichter in Italien zum Klassizisten geworden war. Man musste kein Klassizist sein, um an den absonderlichen Inventionen des Principe Palagonia Anstoß zu nehmen. Keiner der auf sie Bezug nehmenden Reisenden des 18. Jahrhunderts lässt in seinen Äußerungen eine grundsätzliche Ablehnung des Barock erkennen, auch hatte keiner von ihnen an der Architektur des vom Großvater des exzentrischen Fürsten errichteten Villengebäudes und dessen früher Ausstattung, soweit diese noch erhalten war, etwas auszusetzen. Die Maßstäbe, auf die sich die Kritiker der von ihnen als „unsinnig“ verworfenen Ausstattung der Villa beriefen, waren vor allem die des gesunden Menschenverstandes und des guten Geschmacks.36 Der Verstand und der Geschmack des Principe wurden jedoch nicht nur von den Reisenden aus dem Norden infrage gestellt, sondern auch von Einheimischen wie dem Marchese di Villabianca, der als Beweis für die Vermessenheit des Principe überliefert, dass dieser der Überzeugung gewesen sei, durch seine Fantasiegeburten die von Gott unvollendet hinterlassene Schöpfung ergänzt zu haben.37 Ganz anders sahen dies die Familienangehörigen und Erben des Fürsten, die schon bald nach dessen Tod den aufwendigen Skulpturenschmuck der Villa größtenteils beseitigen ließen. Goethe, der auf die „pallagonische Raserei“ empfindlicher reagierte als seine Zeitgenossen, fühlte sich bei deren Anblick vor allem durch die so rigoros ins Monumentale übertragene „satirische Karikaturzeichnung“, die er 1799 in Der Sammler und die Seinigen als die „kunst-, geschmack- und sittenverderblichste Verirrung“ bezeichnet hat,38 abgestoßen. Seine schweren Bedenken gegen die Auswüchse in der Villa Palagonia waren kunst- und gesellschaftskritische zugleich. Dafür wird nicht nur seine damalige Hinwendung zur klassischen Kunst die Ursache gewesen sein. Vielmehr ist zu vermuten, dass sich darin auch die Wirkung der Lektüre Rousseaus niederschlug. An Rousseau und an die vernichtende Zivilisationskritik, mit der dieser seinen 1762 erschienenen Émile eröffnet hat, erinnerte sich Goethe erneut, als er 1813, unmittelbar vor Inangriffnahme der Italienischen

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Reise, den dritten Teil seiner Lebenserinnerungen abschloss. Alles, so heißt es zu Beginn des Émile, was aus den Händen des Schöpfers der Dinge hervorgeht, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen. „[…] il mêle et confond les climats, les éléments, les saisons; il mutile son chien, son cheval, son esclave; il bouleverse tout, il défigure tout, il aime la difformité, les monstres; il ne veut rien tel que l’a fait la nature, pas même l’homme […].“39

A nmerkungen 1 | Siehe hierzu die bei Rauterberg, Hanno: Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus, Berlin 2018, angeführten Beispiele. 2 | Krumbholz, Martin: „Tannhäusers Düsseldorfer Absturz“, in: Süddeutsche Zeitung vom 11./12. 05. 2013, S. 15. 3 | Horaz. De arte poetica, Verse 9–10. 4 | Horaz, De arte poetica, Verse 1–41; siehe hierzu auch Maurach, Gregor: Horaz – Werk und Leben, Heidelberg 2001, S. 454–457. 5 | Vitruvii De architectura libri decem, Buch VII, v, 1–8. 6 | Siehe hierzu Boschloo, Anton W. A.: The Limits of Artistic Freedom. Criticism of Art in Italy from 1500 to 1800, Leiden 2008. 7 | Zu Bomarzo siehe Bredekamp, Horst/Janzer, Wolfram: Vicino Orsini und der Heilige Wald von Bomarzo. Ein Fürst als Künstler und Anarchist, Worms 1985, sowie die Rezension dazu von Detlef Heikamp in: Kunstchronik 40.1987, S. 576–585, und die Erwiderung von Horst Bredekamp in Kunstchronik 41.1988, S. 83–85. 8 | Zur Villa Palagonia siehe Lohmeyer, Karl: Palagonisches Barock: Das Haus der Laune des „Prinzen von Palagonia“, Berlin 1942, wo unter Hinweis auf gewisse Parallelen im fränkisch-rheinischen Spätbarock, in Laxenburg und in Roswalde und auch auf die Villa Valmarana in Vicenza, die Goethe auf seiner Italienreise ebenfalls besucht hat, ohne jedoch von den Zwergenfiguren auf der dortigen Gartenmauer Kenntnis zu nehmen, der Ausnahmecharakter der Villa Palagonia und ihrer Ausstattung zum Teil relativiert wird. Als weitere einschlägige Literatur ist zu nennen: Michéa, René: Le Voyage en Italie de Goethe, Paris 1945, S. 349–351; Levitine, George: „Les monstres du Prince Palagonia: leurs citiques et leurs admirateurs“, in: Gazette des Beaux-Arts 63.1964, S. 13–24; Kruft, Hanno-Walter: „Goethe und Kniep in Sizilien“, in: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg, 2.1970, S. 201–327; Blunt, Anthony: Sizilischer Barock, Frankfurt a. M. 1972, S. 43 f. und 155; Scianna, Ferdinando: La villa dei mostri, Turin 1977; Neil, Erik Henry: Architecture in Context: The Villas of Bagheria, Sicily. Unveröffentlichte Dissertation, Ann Arbor Mich. 1996, S. 205–313; Hachet, Pascal: Psychanalyse d’un choc esthétique: La villa Palagonia et ses visitateurs, Paris 2002; Scaduto, Rosario: Villa Palagonia – Storia e restauro, Bagheria 2007; Tedesco, Irene: Villa Palagonia, Rom 2014.

„Mit der größten Freiheit“ 9 | Von Riedesel, Johann Hermann: Reise durch Sicilien und Großgriechenland, Zürich 1771. 10 | Brydone, Patrick: A tour through Sicily and Malta in a series of letters to William Beckford, 1. Aufl., 2 Bde., London 1773. 11 | Comte de Borch, Michael Jan: Lettres sur la Sicile et sur l’Ile de Malthe, 2 Bde. und ein Tafelband, Turin 1782. 12 | Payne Knight, Richard: Expedition into Sicily, 1777 (im Druck erschienen erstmals London 1986); eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Tagebuch einer Reise nach Sicilien von Henry Knight“ ist enthalten in Goethes Biografie Philipp Hackerts (in Goethe, Johann Wolfgang: Ästhetische Schriften 1806–1815, Frankfurt a. M. 1998, S. 440–490). 13 | Swinburne, Henry: Travels in the two Sicilies, London 1783–1785. 14 | Bartels, Johann Heinrich: Briefe über Calabrien und Sicilien, 3 Bde., Göttingen 1787–1792 15 | Houel, Jean-Pierre-Laurent: Voyage pittoresque des Isles de Sicile, de Malte et de Lipari, Bd. 1, Paris 1782. 16 | Saint Non, Jean Claude Richard: Voyage pittoresque ou description des royaumes de Naples et de Sicile, Bd. 4.1, Paris 1785. 17 | Brydone 1773, Bd. 1, Advertisement. 18 | Brydone 1773, Bd. 2, S. 53. 19 | Brydone 1773, Bd. 2, S. 53–62. 20 | Eine Vorstellung von den heute nicht mehr erhaltenen Figurengruppen, die links und rechts des ehemals zum Casino führenden Viale aufgestellt waren, geben die Stiche bei Borch (Abb. 1 und 2) und Houel (Abb. 3) sowie die Zeichnung, die Christoph Heinrich Kniep, der Begleiter Goethes in Sizilien, angefertigt hat (Abb. 4). 21 | Siehe Borch 1782, S. 109 und 210. 22 | Siehe Kruft 1970, S. 224; von Einem, Herbert: „Kommentar“, in: Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise, München 1981, S. 648; Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise, hg. von Beyer, Andreas/Miller, Norbert, München 1992, S. 1026. 23 | Kruft 1970, S. 224. 24 | Brydone 1773, B. 2, S. 213: „[…] pyramids and pillars of tea-pots, caudle-cups, bowls, cups, saucers, etc.“; von „pyramides“ spricht auch Houel 1782, S. 42. 25 | Borch 1782, S. 106; Goethe, Johann Wolfgang, Italienische Reise, Frankfurt a. M. 1993, S. 264. 26 | Borch 1782, S. 108; Houel 1782, S. 43. 27 | Goethe 1993, S. 265. Heute ist von der früheren Ausstattung der Kirche nichts mehr erhalten; eine Ansicht des Innenraums ist abgebildet bei Tedesco 2014, Fig. 26. 28 | Goethe 1993, S. 26. 29 | Borch 1782, S. 109. 30 | Schiller, Friedrich, Theoretische Schriften, Frankfurt a. M. 1992, S. 556–676. 31 | Goethe 1993, S. 260. 32 | Goethe 1993, S. 265.

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Joachim Poeschke 33 | Lohmeyer 1942, S. 48–61. 34 | Brydone 1773, Bd. 2, S. 53; Houel 1782, S. 40. 35 | Staiger, Emil, „Goethe und die Freiheit des Menschen“, in: Erziehung zur Freiheit, Erlenbach-Zürich und Stuttgart 1969, S. 337–354. 36 | Brydone 1773, Bd. 2, S. 55; Borch 1782, S. 105f.; Houel 1782, S. 41 und 43; Goethe 1993, S. 261 und 263. 37 | Francesco M. Emanuele e Gaetani, marchese di Villabianca, Il Palermo di oggigiorno, in: Biblioteca storica e letteraria di Sicilia, Bd. 16, 5, Palermo 1874, S. 166. 38 | Goethe, Johann Wolfgang, Ästhetische Schriften 1771–1805, Frankfurt a. M 1998, S. 728. 39 | Rousseau, Jean Jacques, Émile ou de l’éducation, Paris 1964, S. 5. Goethe kommt im 14. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ anlässlich der Erinnerung an seinen Jugendfreund Friedrich Maximilian Klinger auf den „Émile“, der Klingers „Haupt- und Grundbuch“ gewesen sei, zu sprechen (Goethe, Johann Wolfgang, Aus meinem Leben: Dichtung und Wahrheit, Frankfurt a. M. 1986, S. 657).

Ernst Fries und Camille Corot in Civita Castellana Die Erfindung der Wirklichkeit Johannes Myssok

Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, eine der vielleicht bekanntesten Methodenschriften zur Kunstgeschichte, referiert eingangs aus Ludwig Richters Lebenserinnerungen: „Wir saßen einst unserer vier auf einem schmalen Felsvorsprung eng nebeneinander, der großen Cascade des Anio gegenüber. Jeder befleißigte sich der möglichsten Treue in der Wiedergabe des Gegenstandes, und deshalb war ich nicht wenig überrascht, als ich, am Schluß der Arbeit aufgestanden, die vier vor mir liegenden Bilder überblicken konnte und sie so abweichend von einander fand. In der Stimmung, in Farbe, im Charakter der Kontur war bei jedem etwas anderes hineingekommen, eine leise Umwandlung zu spüren. Ich merkte, daß unsere Augenpaare wohl das Gleiche gesehen, aber das Gesehene in eines Jeden Inneren je nach seiner Individualität sich umgestaltet hatte.“1

Wölfflin führte dieses Beispiel bekanntlich zur Veranschaulichung dessen ein, was er den „Individualstil“ nannte, der für ihn in der Hierarchie der immer abstrakter differenzierenden Kategorien von künstlerischem Stil an unterster Stelle stand.2 Im Folgenden soll es jedoch nicht um Methodenfragen und ebenso wenig um die Unterschiedlichkeit der einzelnen künstlerischen Näherungsformen an die Wirklichkeit gehen, sondern vielmehr um das Gegenteil davon, um das vielleicht Überraschendste dieser Anekdote – eben dass alle Maler zusammen an der gleichen Stelle saßen und das gleiche Sujet wiederzugeben versuchten. Richters Erzählung thematisiert mithin das Gegenteil von Erfindung, die ja auch in seiner Generation eigentlich nach wie vor das Grundkriterium für die Qualität eines Landschaftsbildes war.

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Doch überhaupt: welche Generation? Selbst unter Kunsthistorikern wird heute schon der Name Ludwig Richters kaum noch ein Begriff sein, geschweige denn andere Landschaftsmaler dieser Generation, mit deren Werken Wölfflin noch aufgewachsen war und die für ihn zur lebendigen Tradition gehörten. Landschaftsmaler der Spätromantik, wie diese heute gerne genannt werden, wo doch mit Caspar David Friedrich sowieso nur noch ein einziger Landschaftsmaler der Romantik ein Begriff ist und mit dem Label Spätromantik sogleich Langweiligkeit und Drittklassigkeit einer vermeintlichen Epigonengeneration assoziiert wird, deren Bilder offenbar völlig zu Recht in den Depots schlummern. Doch egal wie man diese Generation etikettiert, ob als Romantiker oder Realisten, ihre Werke stehen seltsam anachronistisch in der internationalen Kunstgeschichte des immer gern als lang titulierten 19. Jahrhunderts angesichts des entwicklungslogischen Triumphzugs der französischen Plein Air-Malerei beginnend mit Camille Corot und gipfelnd in Claude Monet. Eine Erfolgsgeschichte, die ihre Interdependenzen und Nebenwege eliminiert hat, so weit, dass man sich angesichts von Corots Ölskizze der Brücke von Narni aus dem Jahr 1826 durchaus fragen könnte, warum es noch geschlagene 40 Jahre bedurfte, bis Monet eine derartig vom Licht bestimmte Wiedergabe des Seheindrucks zum Gegenstand eines großformatigen Gemäldes werden ließ. Das Folgende ist ein Blick hinter diese Kulissen und Klischees, die letztlich schon mit den Künstlern selbst und in diesem Fall erneut mit Ludwig Richters Autobiografie beginnen. So behauptete Richter im Abschnitt, der unmittelbar dem bereits zitierten Absatz vorausgeht: „,Gegensätze berühren sich!‘ bei den Franzosen und uns traf das nur im räumlichen Sinne zu, denn ihre Zimmer stießen unmittelbar an die unsrigen; aber obwohl sie mindestens ebenso liebenswürdige und solide Leute waren, als wir zu sein uns schmeichelten, so kamen wir doch durchaus in keinen Verkehr mit einander. Im Gegentheil mieden wir uns mit einer Art von Scheu; denn jede Partei mochte die andere für mezzo matti halten, die Gegensätze waren damals zu stark.“3

Dieses Klischee, dass die künstlerischen Milieus der Deutschen und der Franzosen in Italien sich nicht berührt hätten, ja, dass die Künstler des 19. Jahrhunderts sich gegenseitig gemieden hätten, hält sich bis heute hartnäckig in der Forschung. Für die ein Jahrzehnt nach dem Deutsch-Französischen Krieg veröffentlichten Lebenserinnerungen Richters nimmt eine solche Perspektive natürlich kaum Wunder, glaubte er doch mittlerweile sicherlich selbst an die über seine Lebenszeit aufgebauten und kultivierten nationalen Ressentiments. Doch wird auf die Frage der persönlichen und künstlerischen Kontakte sogleich noch näher zurückzukommen sein.

Ernst Fries und Camille Corot in Civita Castellana

Abbildung 1: Ernst Fries, Porträt von Camille Corot, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Kupferstichkabinett

Quelle: Camille Corot 2012, S. 95

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Interessanterweise finden sich die vorgeblichen Gegensätze zwischen Deutschen und Franzosen bereits bei Richter sogleich zu nationalistisch konnotierten Arten des Sehens und künstlerischen Arbeitens im Sinne von Wölfflins späteren „Nationalstilen“ ausgedeutet. So führt Richter direkt an das Vorhergehende anknüpfend aus: „Die französischen Maler mit ihren Riesenkasten brauchten zu ihren Studien ungeheure Quantitäten von Farbe, welche mit großen Borstpinseln halb fingersdick aufgesetzt wurde. Stets malten sie aus einer gewissen Entfernung, um nur einen Totaleffekt, oder wie wir sagten einen Knalleffekt zu erreichen. Sie verbrauchten natürlich sehr viel Maltuch und Malpapier, denn es wurde fast nur gemalt, selten gezeichnet; wir dagegen hielten es mehr mit dem Zeichnen als mit dem Malen. Der Bleistift konnte nicht hart, nicht spitz genug sein, um die Umrisse bis ins feinste Detail fest und bestimmt zu umziehen. Gebückt saß ein Jeder vor seinem Malkasten, der nicht größer war als ein kleiner Papierbogen, und suchte mit fast minutiösem Fleiß auszuführen, was er vor sich sah.“4

Der französische Maler und der deutsche Zeichner. Hier der nur effekthascherisch malende Franzose, dort der fleißige Deutsche, der zeichnerisch versucht, die Wirklichkeit objektiv aufzunehmen.5 Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Nationalklischees in Camille Corot und Ernst Fries verkörpert, besteht das Œuvre des jung verstorbenen Deutschen doch überwiegend aus Zeichnungen, wogegen Corot heute vor allem für seine Ölskizzen berühmt ist. Dies sind natürlich leicht zu widerlegende Klischees, denn Corot war bekanntlich sein Leben lang ein unermüdlicher Zeichner und selbst wenn sein Bleistift nie so spitz war wie derjenige von Ernst Fries, haben Corots Zeichnungen dennoch eine unbestrittenermaßen große Bedeutung für seine Landschaftsgemälde.6 Richters nationalistisch eingefärbte Erinnerungen vertuschen letztlich eine zeitweilig große Nähe zwischen deutschen und französischen Künstlern, eine Nähe, die sich besonders zwischen Ernst Fries und Camille Corot manifestiert und gemeinsame künstlerische Vorstellungen und Ziele erkennen lässt, bevor sich die Wege dann wirklich in der von Richter beschriebenen Weise voneinander trennten.7 Das entscheidende Jahr hierfür war 1826, als sich beide Maler auf ihrer Italienreise befanden und schließlich einander persönlich begegneten. Schon die Umstände beider Reisen, die Reisebegleiter und Begegnungen lassen bei aller Etikettierung als deutsch oder französisch eine Nähe und Durchlässigkeit der Milieus aufscheinen, wie sie ja letztlich bereits durch die zeitübliche Ausbildung zahlreicher deutscher Maler in Paris grundlegend war.8 So reiste Camille Corot ab September oder Oktober 1825 in Begleitung von Johann Carl Baehr, mit dem er zuvor im gleichen Atelier bei Jean-Victor Bertin studiert hatte, nach Italien.9 Ernst Fries

Ernst Fries und Camille Corot in Civita Castellana

war hingegen schon im September 1823 nach Italien aufgebrochen und hatte bereits ausführliche Studien in und um Rom sowie in der Toskana und in Umbrien hinter sich, als Corot in Rom eintraf.10 In kurzer Zeit hatte Fries zum internationalen Niveau der Freilichtstudien in Rom aufgeschlossen und 1824 seine erste plein-air-Ölskizze angefertigt, wie er stolz auf dieser vermerkte.11 Ebenso begann er, unter diesem Einfluss mit neuartigen Bildwinkeln und Ansichten zu experimentieren,12 löste sich jedoch nur sehr allmählich von einer bildmäßig durchgestalteten Ausführung seiner Zeichnungen und Aquarelle, wie sie der deutschen Tradition entsprach. Der Kontakt mit dem internationalen Milieu in Italien führte hingegen unmittelbar zu einer Aufhellung und maltechnischen Veränderung seiner Aquarelle, hatte er doch 1825 in Massa Carrara den Briten George Augustus Wallis wiedergetroffen, den er bereits aus Heidelberg kannte und der ihn offenbar in die Technik des Malens mit Asphaltfarben einführte.13 Corot stieg demgegenüber an einem künstlerisch weitaus weiter entwickelten Punkt ein, als er Anfang Dezember 1825 in Rom eintraf. Sein erstes Werk dort, eine Ölskizze des Kolosseums, gesehen durch die Bögen der Maxentiusbasilika,14 gibt ein beredtes Zeugnis davon ab, was er an Strukturierung des Sehvorganges mitbrachte und was durch die Konfrontation mit der Wirklichkeit hieraus resultieren konnte. Wie Galassi aufgezeigt hat, kannte Corot die Situation durch Zeichnungen seines Lehrers Michallon und des Studienfreunds Aligny, vielleicht aber auch durch ein gemeinsames Vorbild in Form eines bislang nicht identifizierten Stichs, derart stimmen alle drei Ansichten grundsätzlich im Bildwinkel überein.15 Der Ort war demnach für Corot nicht neu, vielmehr war er ihm durch die Vedutentradition vertraut, die längst die Freilichtstudien durchdrungen hatte, sodass es für jeden Ort in und um Rom geradezu kanonische Standorte gab.16 Corots faszinierender Eingriff in dieses Gefüge bestand zunächst einmal darin, dass er gegenüber den nur wenig älteren Zeichnungen näher an die Bögen heranrückte, den Bildausschnitt enger fasste, sodass sich eine Verknappung und dadurch eine Konzentration des Blicks ergibt, welche allerdings keineswegs so konstruiert auftritt wie Eckersbergs wenige Jahre zuvor entstandener Blick auf Rom durch die Bögen des Kolosseums.17 Überhaupt fehlt Corots Ölskizze jegliche auratische grandezza, die sonst mit diesen Motiven verbunden worden war. Stattdessen führt die malerische Reduktion von Details zu einer flächigen Bildstruktur, die vor allem um die Wiedergabe des Lichts und hierüber der Lichtstimmung an einem trüben Dezembertag bemüht ist. Doch fehlt der Ölskizze nicht nur die grandezza, ihr fehlt auch das Staunen vor Rom und der Tradition. Höchst bewusst und geradezu analytisch nutzt der junge Maler hier die Konventionalität des Motivs als

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Abbildung 2: Ernst Fries, Mittelalterliche Brücke bei Civita Castellana, Düsseldorf, Kunstpalast

Quelle: Wechssler 2000, Kat.-Nr. 304, S. 219

Ausgangspunkt dafür, Bildwinkel und Ausschnitt wie in einem Labor auszurichten – das eigentliche Motiv, das weltberühmte Kolosseum und die nicht weniger weltberühmte Maxentiusbasilika, verschwinden letztlich hinter dieser Konzentration auf die Bildanlage, werden nur noch als Repertoire eingesetzt. Ob dies Corot selbst bewusst war und als Zeichen für die Italienmüdigkeit seiner Generation angesehen werden darf,18 sei dahingestellt – seine drei im März 1826 entstandenen Romansichten sprechen jedenfalls eine andere Sprache.19 Auch wenn die Begegnung von Fries und Corot erst für den Mai bezeugt ist, hätten sie bereits im März reiche Gelegenheit gehabt, sich zu begegnen, denn beide arbeiteten in diesem Monat von den Farnesischen Gärten aus an einer Ansicht des Kolosseums, Corot an diesem seit Pierre-Henri de Valenciennes für die französischen Maler üblichen Standort,20 Fries eine Geländestufe weiter oberhalb, sodass er Corot von dort aus bei der Arbeit hätte sehen können.21 Der Vergleich beider Werke offenbart nicht weiter überraschend die Konventionalität von Fries’ Aquarell, das einen Weg im Vordergrund dazu nutzt, den Betrachter ins Bild einzuführen, wogegen Corot vom grünbraun verschatteten, aber hier noch durchaus detailliert

Ernst Fries und Camille Corot in Civita Castellana

Abbildung 3: Charles Desavary nach Camille Corot, Mittelalterliche Brücke bei Civita Castellana, Paris, Musée du Louvre, Département des Peintures

Quelle: Galassi 1991, S. 186, Abb. 233

hingetupften Vordergrund den Blick auf die lichte, farbig zusammengedrängte Agglomeration von Kolosseum und Titusbogen springen lässt und hierdurch ähnlich effizient wie schon bei seiner Ansicht des Kolosseums durch die Bögen der Maxentiusbasilika den Mittelgrund ausspart. Doch ist es letztlich nicht die revolutionäre flächenmäßige Ordnung der Bildgegenstände bei Corot, die den eigentlichen Abstand zwischen den Malern markiert, sondern insbesondere die Wiedergabe des Lichts, das im Falle Corots die wesentliche Zusammenfassung leistet und zugleich den Eindruck von durchdringender Klarheit hervorruft. Denn während auch Fries durchaus um die Wiedergabe einer Lichtstimmung bemüht ist, lässt sich angesichts seines stark durchlichteten, weitgehend schattenlosen Aquarells dennoch schwer entscheiden, um welche Tageszeit es sich hier handeln soll. Das zentrale Zeugnis der Begegnung von Camille Corot und Ernst Fries ist sicherlich die Porträtzeichnung in Dresden (Abb. 1), die der Deutsche von seinem französischen Kollegen anfertigte.22 Im Gegensatz zu vielen anderen Zeichnungen von Fries auf seiner Italienreise ist die Zeichnung leider undatiert, doch wird mit gutem Grund der Mai 1826 als ihr Entstehungszeitpunkt angenommen, als beide Künstler in Civita Castellana angekommen waren, der Entstehungsort der Zeichnung laut ihrer Aufschrift.23 Fries war am 19. April in Begleitung von Edouard Bertin, Ernst Welker, Karl Joseph Berckmüller und Karl Kuentzle aus Rom aufgebrochen und traf am 16. Mai in Civita Castellana ein.24 Corot war seinerseits

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in Gesellschaft Baehrs erst am 10. Mai losgewandert und verbrachte sodann die zweite Maihälfte und den ganzen Juni in der Region.25 Auch wenn die Zeichnung undatiert ist, gibt sie doch durch sich selbst und unmittelbar auch durch ihre Beischrift Auskunft über die Nähe oder Ferne zwischen Porträtierendem und Porträtiertem, denn der schwungvolle Schriftzug überliefert zunächst „Jean-Babtiste Correau“ und erst in einem zweiten Moment strich Fries das falsch, offenbar konventionell nach dem Gehör geschriebene Namensende durch und korrigiert in „ot“, worüber er dann noch seinen eigenen Namen setzte.26 Im Gegensatz zu der eher informellen Porträtzeichnung, die sein Freund Carl Sandhaas 1821 von Fries angefertigt hatte, 27 gibt dessen akribische Zeichnung aus Civita Castellana Corot von der Seite gezeichnet, ins Profil gewendet, wieder. Bezeichnenderweise ist dieser nicht bei der Arbeit gezeigt, sondern in einem Innenraum – vielleicht in der gemeinsamen Herberge – sinnend aus einem Fenster blickend, wie er auf seinem dreibeinigen Malerstühlchen sitzt, den Kopf auf den rechten Arm gestützt, die Malermütze keck zur rechten Kopfseite herabgezogen. Die Studienzeit in Civita Castellana wird in der Forschung sowohl für Corot als auch für Fries als der zentrale Abschnitt ihres Italienaufenthaltes gesehen und für beide Künstler ein gewaltiger Fortschritt in ihrer künstlerischen Arbeit behauptet.28 Art und Anteil der wechselseitigen Beeinflussung werden dabei jedoch recht unterschiedlich beurteilt, und es stellt sich in der Tat die Frage, was sie in der knapp 14-tägigen Begegnung voneinander lernen konnten, denn Fries wanderte bereits am 1. Juni zurück nach Rom, um von dort aus nach Süditalien aufzubrechen und die berühmte blaue Grotte von Capri zu entdecken,29 während Corot noch bis Ende Juni blieb. Diese Frage ist bislang meist recht diffus beantwortet worden, sie lässt sich jedoch weitaus konkreter fassen als bisher gedacht. So konkret, dass man beiden Malern regelrecht bei ihrer Arbeit über die Schulter zusehen und diese nahezu im Tagesrhythmus verfolgen kann, da Fries seine Studien nicht nur signierte, sondern überwiegend auch auf den Tag genau datierte – Corot verfuhr hier weniger chronistisch, war aber offenbar immer mit Fries an den gleichen Orten.30 Gleich auf den nächsten Tag nach seinem Eintreffen in Civita Castellana datierte Fries seine erste Zeichnung, die mittig eine mittelalterliche Brücke im Tal unterhalb des Ortes zeigt (Abb. 2).31 Corot zeichnete – wohl am selben Tag – die gleiche Ansicht, heute nur noch durch eine Lithografie überliefert (Abb. 3).32 Die beiden Zeichnungen bestätigen nicht nur das als charakteristisch für diese Künstlergeneration beschriebene Arbeiten vom gleichen Standpunkt aus,33 sie lassen auch sogleich erahnen, wie sich die beiden Künstler abseits ihrer jeweiligen persönlichen Handschrift in ihrer Näherung an das Naturvorbild unterscheiden. Wollte

Ernst Fries und Camille Corot in Civita Castellana

man dem von Ludwig Richter ausgegebenen Klischee folgen, dann hätten beide nur möglichst objektiv das ihnen vor Augen Stehende aufgenommen. Dem war aber ganz offensichtlich nicht so und selbst wenn man annähme, dass Corot auf dem großen Stein gesessen hätte, den Fries im Vordergrund wiedergibt und sich dadurch seine größere Nähe zum Objekt und das Tiefer-im-Bild-Sein erklärte, 34 so erklärt sich doch dadurch keineswegs die grundlegend andere Art, wie beide mit den verschiedenen Bildobjekten umgingen: Während Fries seinen Konventionen entsprechend den Schwerpunkt auf die zeichnerisch stärker ausgearbeitete und mit Lavierungen hervorgehobene Brücke im Bildzentrum legte, die Stadt auf dem Hügel und die markanten Felsformationen an den Bildrändern demgegenüber aber wie unscharf zurücktreten, ergibt sich bei Corot ein variationsreich strukturiertes, die Brücke nahezu vollständig einbindendes Flächengefüge, das nach oben durch Felsen und Stadt in einem kontinuierlich durchlaufenden Konturband begrenzt und abgeschlossen wird.35 Am nächsten Tag arbeiteten dann offenbar Fries und Corots Freund Edouard Bertin am gleichen Standort nebeneinander: Fries’ Hamburger Zeichnung, die auf den 18. Mai 1826 datiert ist, gibt den gleichen Blick auf Civita Castellana über die Schlucht hinweg wieder, wie ihn auch die Bertin zugeschriebene Ölskizze in der Londoner National Gallery zeigt.36 Zwei Tage später, am 20. Mai saßen dann wieder Corot und Fries gemeinsam am gleichen Standort im Flusstal von Civita Castellana und setzten sich mit der Ansicht eines Gehöfts am Fuße der Schlucht unterhalb der links und rechts aufragenden Felsformationen auseinander – Fries in einem hochformatigen Aquarell, Corot in einer Zeichnung im Querformat.37 Am 24. Mai entstand Fries’ Ansicht des Tals bei Civita Castellana mit dem Ponte Clementino und mit dem Monte Soracte im Hintergrund, Corot datierte dagegen seine vom gleichen Standpunkt aus angefertigte Zeichnung der exakt gleichen Ansicht auf den Juni 1826.38 Am darauffolgenden Tag, dem 25. Mai, zeichnete Fries gleich zwei Ansichten von Civita Castellana: zum einen eine Ansicht mit dem Forte Sangallo im Mittelgrund rechts und dem Ponte Terrano im Vordergrund links, zum anderen eine Ansicht mit dem Ponte Terrano rechts im Vordergrund und dahinter im Mittelgrund aufragend das Forte Sangallo, der Monte Soracte am Horizont rechts dahinter.39 An dieser Stelle wird es mysteriös, denn Corot muss ebenfalls beide Ansichten aus den gleichen Blickwinkeln gezeichnet haben, doch ist die erste Arbeit heute verschollen und erneut nur durch eine Lithografie bei Desavary überliefert,40 die zweite Ansicht mit Forte Sangallo und Monte Soracte ist dagegen auf der 1827 datierten Ölskizze in Kopenhagen aus dem exakt gleichen Bildwinkel wiedergegeben wie bei Fries,41 auch wenn Corot erneut näher an die Brücke herangerückt ist und dadurch

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Abbildung 4: Camille Corot, Civita Castellana, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle

Quelle: Galassi 1991, S. 242

den Vordergrund von Fries’ Zeichnung ausspart. Zwei Erklärungsmöglichkeiten bieten sich hierfür an: Entweder Corots parallel zu derjenigen von Fries entstandene Zeichnung ist verschollen oder sie liegt unter der Kopenhagener Ölskizze, wie dies zunehmend Corots Methode wurde, der seine Ölskizzen direkt über der klärenden Zeichnung anlegte.42 Erstaunlich wäre dann in diesem Fall, dass er eine von den malerischen Wiedergabemöglichkeiten weitaus fortschrittlichere Ölskizze über eine Zeichnung aus dem Vorjahr legte, als er den gleichen Ort erneut aufsuchte. Denn seine Zeichnung im Fogg Art Museum belegt, dass er die Ansicht im Folgejahr eigentlich grundlegend neu konzipierte, ähnlich wie er dies auch mit der Ansicht des Kolosseums unternahm, als er 1828 sich diesem erneut näherte.43 Eine letzte datierbare Parallelisierung von Fries und Corot in Civita Castellana ergibt sich bislang unbemerkt durch die Ölskizze des Letzteren in Karlsruhe und Fries’ Aquarell in Berlin, das am 28. Mai 1826 entstand (Abb. 4–5).44 Beide zeigen den gleichen Ort und sind erneut von einem nahezu identischen Standpunkt aus ausgeführt worden, Corot trat jedoch wiederum näher an das Motiv heran, weshalb Fries’ nur anskizzierte Baum- und Steingruppe, die in der Bildmitte Teile des

Ernst Fries und Camille Corot in Civita Castellana

Abbildung 5: Ernst Fries, Civita Castellana, Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett

Quelle: Wechssler 2000, S. 82

Vordergrundes verdeckt, bei ihm ausgespart ist, und der Betrachter somit direkt ins Bild einsteigt. Doch nicht nur dies verhindert die unmittelbare Vergleichbarkeit der beiden Bilder, vielmehr unterscheiden sich diese schon grundlegend durch die Wahl der Formate, denn während Fries’ Aquarell ein breitgelagertes Panorama wiedergibt, das sich über nahezu eineinhalb Seiten eines Skizzenbuchs ausbreitet,45 ist Corots Ölskizze robust als Querformat annähernd im Format 3:4 angelegt.46 Bezeichnend ist zudem wie die beiden Künstler mit ihren Formaten umgingen, wie sie diese ausfüllten: Während bei Fries der Schwerpunkt auf der linken Bildseite liegt und sich die Formen dann in Richtung Bildtiefe verblassend langsam auflösen, nur um am rechten Rand zum Vordergrund hin wieder eine etwas weitergehende Ausarbeitung zu erfahren, ist bei Corot alles gleich kräftig präsent und in einem durch starke Lichtkontraste akzentuierten Flächenmuster ausgebreitet, das erneut durch eine Konturlinie gegen den stark durchlichteten Himmel abschließt. Auf der linken Seite ist das Format dabei bis zum Äußersten gefüllt, und die Felsen reichen bis knapp an den oberen Bildrand heran, auf der rechten Seite ist dann sogar der bei Fries sichtbare Ausblick in die Ferne abrupt durch den Bildrand abgeschnitten, was Corots Ansicht stark komprimiert und ihr hierdurch eine dramatische Wirkung verleiht.

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Hier geht es jedoch nicht darum, die Qualitäten Corots herauszustellen, sondern einen Blick für die Gemeinsamkeiten zu entwickeln, die sicherlich weder in der Art liegen, wie das Szenario aufgefasst ist, noch in der Weise wie Formen wiedergegeben werden und damit der Sehakt strukturiert wird. In dieser Hinsicht bestätigen beide Werke eigentlich nur nochmals das von beiden Künstlern Bekannte, in der Weise, dass Fries sich geradezu ängstlich an präzis geschilderte Einzelformen klammert – etwa die minutiös aufgelösten Felsen links,47 die bei Corot in einem breiten Duktus malerisch zusammengefasst werden. Fragt man abschließend nach der möglichen Wirkung des einen Künstlers auf den anderen, reicht es meines Erachtens nicht, auf die Ausbildung einer stärker malerischen Auffassung bei Fries nach dem Zusammentreffen mit Corot zu verweisen, wie dies wiederholt ins Spiel gebracht worden ist.48 Was Fries von Corot lernte, war nicht nur eine stärker malerisch die Einzelformen zusammenfassende Sicht auf die Natur, wie sich diese etwa mit seiner Ölskizze von Baumkronen in Heidelberg äußert, und auch nicht nur die insgesamt häufigere Verwendung von Ölskizzen, um den Farb- und Lichteindruck en plein-air festzuhalten.49 Vielmehr wirkte Corot in weitaus entscheidenderer Weise methodisch auf Fries, eine Weise, die sich unmittelbar mit der Frage der Erfindung in der Landschaftsmalerei berührt. Die hier nachgezeichnete Auseinandersetzung der beiden Künstler mit dem Ort Civita Castellana und der umgebenden Landschaft war in der Abfolge der verschiedenen Ansichten hochsystematisch. Wie zuvor in Rom ging Corot dabei von der bestehenden Vedutentradition aus und knüpfte bewusst an die Freilichtmalerei in Italien an, die auch für Civita Castellana geradezu standardisierte Ansichten definiert hatte. In einem nächsten Schritt überprüfte Corot dann aber auch die Gegenseite hierzu auf Bildwürdigkeit und darauf folgend weitere Standpunkte ober- oder unterhalb, die ebenfalls keineswegs arbiträr gewählt waren, sondern, wie Galassi schreibt, „das typisch Klassische“ suchen.50 Eher als durch Klassizität begründete sich deren Wahl wohl dadurch, dass Corot das Potenzial der sich hier ergebenden Ansichten erkannte, Formen aufeinander zu beziehen, sie einander einzubeschreiben.51 Es bestätigt sich damit, dass Corot eigentlich nicht mehr an bestimmten Sehenswürdigkeiten aufgrund ihrer historischen oder künstlerischen Bedeutung interessiert war, sondern diese nur zum Anlass nahm, sie als Versatzstücke studierte, um aus ihrer Neukombination ein neues Bildganzes werden zu lassen.52 Dieses hochsystematische kombinatorische Verfahren der Näherung an einen neuen Studienort – man könnte noch pointieren: im Umgang mit der Empirie – adaptierte Fries auf seiner anschließenden Reise nach Unteritalien im Sommer

Ernst Fries und Camille Corot in Civita Castellana

1826 noch nicht, aber umso deutlicher im Herbst des gleichen Jahres, als er in und um Tivoli arbeitete.53 Die zahlreichen hier entstandenen Zeichnungen, Aquarelle und Ölskizzen lassen nachvollziehen, wie er auf diesen künstlerisch überkodierten Ort reagierte und mithilfe von Corots strukturierendem System Ansichten herausarbeitete, die sich zwar allesamt im Rahmen der Tradition situieren, aber zum Teil abweichende Standpunkte und dadurch eine neue Sichtweise etablieren.54 Natürlich blieben diese Freilichtstudien sowohl für Fries als auch für Corot nach wie vor vorbereitende Werke. Sie waren dazu bestimmt, in einem späteren Gemälde aufgegriffen zu werden, welches nach wie vor die eigentliche künstlerische Erfindung darstellte – doch verringerte sich der Abstand zwischen Studie und Gemälde, da Letzteres nun viel unmittelbarer auf den plein-air-Studien aufbaute als zuvor, diese nicht länger transformierte, sondern vor allem ausformulierte.55 Dadurch übernimmt die hier nachgezeichnete Weise, Ansichten systematisch zu erschließen und Bildausschnitte vor Ort zu fixieren, die Aufgabe der eigentlichen Erfindung und man ahnt, dass eben dieses Verfahren die Strategien der frühen Landschaftsfotografie vorwegnimmt.

A nmerkungen 1 | Richter, Heinrich (Hg.): Ludwig Richter. Lebenserinnerungen eines deutschen Malers. Selbstbiographie nebst Tagebuchniederschriften und Briefen, Frankfurt a. M. 1885, S. 159, sinngemäß wiedergegeben in: Wölfflin, Heinrich: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwickelung in der neueren Kunst, München 1915, S. 1. 2 | Dazu jetzt Burioni, Matteo/Dogramaci, Burcu/Pfisterer, Ulrich (Hg.): Kunstgeschichten 1915. 100 Jahre Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Passau 2015. Darin besonders die Einleitung von Pfisterer, Ulrich: „Kunstgeschichten und Grundbegriffe“, in: ebd., S. 1–13. 3 | Richter 1885, S. 158 f. 4 | Richter 1885, S. 159. 5 | So Richter 1885, S. 159 weiter: „Luft und Lichteffecte wurden eher gemieden als gesucht; kurz, ein Jeder war bemüht, den Gegenstand möglichst objektiv, treu wie im Spiegel, wiederzugeben.“ 6 | Siehe die Dissertation von Dresel, Ines: Camille Corot, Landschaftszeichnungen (Diss. Univ. Freiburg 1991), Freiburg 1993 und die Bemerkungen Galassis. Galassi, Peter: Corot in Italien. Freilichtmalerei und klassische Landschaftstradition, München 1991 [Galassi, Peter: Corot in Italy. Open-air painting and the classical-landscape tradition, New Haven u. a. 1991], S. 173–183; zu dem hier angesprochenen Bereich des Œuvres Stuffmann, Margret: „Mit der Li-

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Johannes Myssok nie malen. Corots römische Zeichnungen“, in: Margret Stuffmann/Werner Busch (Hg.), Zeichnen in Rom 1790–1830, Köln 2001, S. 394–411; jüngst Schäfer, Dorit: „,Man darf in keiner Sache unentschieden bleiben.‘ Corots Zeichnungen in Italien von 1825 bis 1828“, in: Camille Corot. Natur und Traum, Ausst.-Kat. Karlsruhe 2012/2013, Heidelberg 2012, S. 81–85. 7 | Für die Anekdote aus der Vorgängergeneration über ein Zusammentreffen von Reinhart und Castellan beim Skizzieren in der Villa Borghese vgl. Galassi 1991, S. 107 f. 8 | Dazu Becker, Wolfgang: Paris und die deutsche Malerei (1750–1840) (= Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 10), München 1971 und jetzt Nerlich, France/Savoy Bénédicte (Hg.): Pariser Lehrjahre. Ein Lexikon zur Ausbildung deutscher Maler in der französischen Hauptstadt, Bd. 1–2, Berlin u. a. 2013–2015. 9 | Zu diesem zuletzt Josenhaus, Frauke: „Baehr, Johann Carl“, in: Nerlich/Savoy 2013, Bd. 1, S. 8–10; grundlegend Zschoche, Herrmann (Hg.): Johann Carl Baehr (1801–1869). Drei Reisen nach Italien. Mit Auszügen seiner Tagebücher und Briefe, Frankfurt a. M. 2011. 10 | Wechssler, Sigrid: Ernst Fries (1801–1833). Monographie und Werkverzeichnis, Heidelberg 2000, S. 21–36. 11 | WVZ 154, Wechssler 2000, S. 174. 12 | Siehe etwa das Aquarell von Santa Costanza und Sant’Agnese, WVZ 196, das eine Ansicht des Komplexes jenseits einer bildparallel verlaufenden Mauer zeigt, wie sie ähnlich bei Thomas Jones schon in den 1780er Jahren zum eigentlichen Bildthema geworden war. Zu Fries’ Aquarell siehe Wechssler 2000, S. 186 f. 13 | Bott, Elisabeth: Ernst Fries (1801–1833). Studien zu seinen Landschaftszeichnungen (Diss. Univ. Heidelberg 1978), Köln 1978, S. 118 f.; Wechssler 2000, S. 35. Zu Wallis vgl. Wild, Monika von: George Augustus Wallis (1761–1847). Englischer Landschaftsmaler. Monographie und Œuvrekatalog (= Monographien zur bildenden Kunst, Bd. 3), Frankfurt a. M. u. a. 1996. 14 | Robaut, Alfred: L’Œuvre de Corot. Catalogue raisonné et illustré, précédé de l’histoire de Corot et de ses oeuvres par Etienne Moreau-Nélaton, Bd. 1–4, Paris 1905, Kat.-Nr. 44 (ab hier werden alle Corot-Gemälde und Ölskizzen mit ihrer Nummer im Werkverzeichnis bei Robaut kurz als R. nachgewiesen); Paris, Musée du Louvre, R.F. 1696; Galassi 1991, S. 138 ff.; Pomarède, Vincent: „Katalogeintrag“, in: Michael Pantazzi/Vincent Pomarède/Gary Tinterow (Hg.), Corot, Ausst.-Kat. Paris/Ottawa/New York 1996, New York 1996, Kat.-Nr. 6, S. 37 ff.; Pomarède, Vincent: „Katalogeintrag“, in: Anna Ottani Cavina (Hg.), Paysages d’Italie. Les peintres du plein air (1780–1830), Ausst.-Kat. Paris 2001, Paris 2001, Kat.-Nr. 115, S. 191. 15 | Galassi 1991, S. 138 ff. 16 | Galassi 1991, S. 136 f., der Joyants resignatives Fazit aus dem Jahr 1829 zitiert: „Das wenige, das man hier [in Rom; J. M.] finden kann, ist schon auf hundert verschiedene Arten aufbereitet, ist so durch und durch verarbeitet und wieder verarbeitet worden, dass es hier keine Ecke gibt, die einem nicht Berge von Drucken und Bildern ins Gedächtnis rufen würde.“

Ernst Fries und Camille Corot in Civita Castellana 17 | Diese von Galassi 1991, S. 139 im Vergleich genannt u. Monrad, Kasper: Katalogeintrag, in: Markus Bertsch/Hubertus Gaßner/Neela Struck (Hg.), Eckersberg. Faszination Wirklichkeit. Das Goldene Zeitalter der dänischen Malerei, Ausst.-Kat. Hamburg/Kopenhagen/Paris 2016, Petersberg 2016, Kat.-Nr. 32, S. 275. 18 | Diese setzt indes Werner Busch sowohl für Corot als auch für Fries voraus. Vgl. Busch, Werner: „Unklassische Italienreisen“, in: Viaggio in Italia. Künstler auf Reisen 1770–1880, Ausst.-Kat. Karlsruhe 2010, Berlin u. München 2010, S. 59–71, hier S. 60: „[...] für sie [die Künstler; J. M.] wird die Landschaft zum Selbstzweck.“. 19 | Zu diesen R. 65–67, Paris, Musée du Louvre, R.F. 153/154 u. Washington, The Phillips Collection. Vgl. Galassi 1991, S. 149–153; Pomarède 1996, S. 40–45; Stuffmann, Margret: „Corot in Italien von 1825 bis 1828“, in: Camille Corot 2012, Kat.-Nr. 14, S. 53–59, hier S. 53 f. u. S. 461 und im Folgenden. 20 | Corot arbeitete im März 17 Tage lang jeweils morgens, mittags und nachmittags an seinen études terminées. Wann er genau mit ihnen begann, ist freilich nicht überliefert. Vgl. Galassi 1991, S. 243, Anm. 44, der sich auf Robauts Cartons bezieht. Siehe auch Pomarède 1996, S. 40–45. 21 | Das Aquarell WVZ 270, Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. SZ 71 ist von Fries selbst durch eine Aufschrift auf den 2. und 3. März 1826 datiert worden. Vgl. Wechssler 2000, Kat.-Nr. 270, S. 208. Der Vergleich der beiden Werke auch bei Reuter, Astrid: „,Gegensätze berühren sich!‘ Corot und Deutschland“, in: Camille Corot 2012, S. 437–443, hier S. 439. 22 | WVZ 323, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. C 1963–835; Wechssler 2000, S. 226; Schäfer 2012, S. 81–85, hier S. 84 u. Reuter 2012, S. 437–443, hier S. 437 f. u. Kat.-Nr. 43, S. 463. 23 | Ebd. 24 | Wechssler 2000, S. 208, S. 38 f., die Edouard Bertin unterschlägt, der wie Aligny zu Corots römischen Freunden gehörte. Vgl. Jullien, André: „Les campagnes de Corot au nord de Rome (1826–1827)“, in: Gazette des Beaux-Arts 99. 1982, S. 179–202, hier S. 189, Anm. 23 u. zuvor bereits Scheffler, Gisela: Von Dillis bis Piloty. Deutsche und österreichische Zeichnungen, Aquarelle, Ölskizzen 1790–1850 aus eigenem Besitz, Ausst.-Kat. München 1979–1980, München 1979, Kat.-Nr. 27. 25 | Jullien 1982, S. 189. 26 | WVZ 323, Wechssler 2000, S. 226. 27 | Hasslach (Kinzig), Hansjakob-Museum im Freihof, Wechssler 2000, S. 18 f., Abb. 10. 28 | Galassi 1991, S. 183–195; Wechssler 2000, S. 41: „Die Entwicklung des Zeichenstils von Fries hat während der Frühjahrsreise einen Höhepunkt erreicht.“

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Johannes Myssok 29 | Wechssler 2000, S. 41 f. Zur Frage der wechselseitigen Beeinflussung schon Bott 1978, S. 121–125. Zuletzt Schäfer 2012, S. 81–85, hier S. 84 f., die aber durch den Vergleich von Fries’ Münchner Ansicht von Civita Castellana mit Corots ein Jahr später entstandener Zeichnung von Castel Sant’Elia in Lyon erneut nur die – sicherlich vorhandenen – Unterschiede herauspräpariert. Etwas weiter ging sie im zwei Jahre zuvor publizierten Aufsatz Schäfer, Dorit: „Auf dem Weg zum ,eigentlich Malerischen‘. Naturstudien aus den zwanziger und dreißiger Jahren“, in: Viaggio in Italia. Künstler auf Reisen 1770–1880, Ausst.-Kat. Karlsruhe 2010, Berlin/ München 2010, S. 172–183, hier S. 175–177; ähnlich aber weitaus knapper Astrid Reuter, die ebenfalls eine zunehmend malerische Auffassung bei Fries, bedingt durch den Kontakt zu Corot, erkennt. Vgl. Reuter 2012, S. 437–440. 30 | Neben den hier parallelisierten Werken schufen beide Künstler eine große Zahl weiterer, die sich aber z. T. nicht erhalten haben oder voneinander divergierende Ansichten und Blickwinkel zeigen. Das hier fokussierte Material stellt gleichwohl nur einen Ausschnitt aus dem signifikanten Korpus dar, dieser bei Jullien 1982 u. Wechssler 2000, S. 213–229, WVZ 283–327. 31 | „Civita den/ 17ten May 1826.- “, Düsseldorf, Kunstpalast, Inv.-Nr. 19/943, Wechssler 2000, S. 219, WVZ 304. 32 | R. 2507, Jullien 1982, S. 199, Anm. 43; Galassi 1991, S. 186: „[...] Lieblingsmotiv der Vedutenmaler“. 33 | Grundlegend zu diesem Aspekt des gleichen Standpunkts beziehungsweise zur Wiedergabe des gleichen Orts Galassi 1991, S. 83–129 u. Calbi, Emilia: „Peindre le mème lieu. La Grotte de Pausilippe à Naples“, in: Cavina 2001, Kat.-Nr. 38–40, S. 58 f. u. S. 60–63. 34 | Zur genauen Lokalisierung des Standpunktes von Corot vgl. Jullien 1982, S. 199, Anm. 43. 35 | Offenbar vom Abend des gleichen Tages datiert Corots Zeichnung Louvre RF 9068r., welche die Ansicht von einem Standpunkt jenseits der Brücke aus dem gleichen Blickwinkel wiedergibt. Vgl. Jullien 1982, ebd. 36 | „Civita castellana den 18ten May1826“, Hamburg, Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. 47338, Wechssler 2000, S. 220, WVZ 305; Bertins Ölskizze, London, The National Gallery, The Gere Collection, Inv.-Nr. L791. 37 | „Civita d. 20 May 1826“, WVZ 308, Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. SZ 50; Wechssler 2000, S. 220, die auch auf die Parallele zu Corots Zeichnung im Ashmolean Museum hinweist. Zu Corots Wiedergabe Galassi 1991, S. 186. 38 | Auf die Übereinstimmung hat bereits Jullien 1982, S. 198, Anm. 30 hingewiesen. Zu Corots Zeichnung vgl. auch Galassi 1991, S. 176. Ob die Zeichnung wirklich im Juni entstand, ist meines Erachtens fraglich, denn auch Galassi kommentiert die für ihn unerklärliche Uneinheitlichkeit der Zeichnungen aus Civita Castellana, die in diesem Fall noch dadurch paradoxer wird, dass Corot die hier offensichtlichen Schwierigkeiten mit einer schlüssigen Wiedergabe von Blattwerk in seiner einen Monat früher, auf den Mai datierenden Ölskizze des Forte Sangallo in Genf (R. 124) bereits überwunden hatte. Vgl. Galassi 1991, S. 230. Galassi erklärt

Ernst Fries und Camille Corot in Civita Castellana dies dadurch, dass der „Zeichner Corot“ vom „Maler Corot“ gelernt habe – ein nicht gerade überzeugendes Modell. 39 | WVZ 312 u. 313, Wechssler 2000, S. 222 f. Laut Wechssler diente Fries die Zeichnung auch zu einer malerischen Ausführung, ehemals im Kurpfälzischen Museum Heidelberg, die 1931 im Münchener Glaspalast verbrannte. 40 | R. 2514, bereits erwähnt bei Jullien 1982, S. 198, Anm. 28. 41 | Zur Ölskizze R. 170 in Kopenhagen vgl. Galassi 1991, S. 185. 42 | Galassi 1991, S. 153–157; ebenso Schäfer 2012, S. 81–85, hier S. 83. 43 | Zur Zeichnung in Cambridge, MA, Fogg Art Museum, Inv.-Nr. 1965.247 vgl. Jullien 1982, S. 190; Galassi 1991, S. 176; Mongan, Agnes: David to Corot. French Drawings in the Fogg Art Museum, Cambridge, MA 1996, Kat.-Nr. 60; zur Zeichnung des Kolosseums (R. 2580), Paris, Musée du Louvre, die Galassi (1991, S. 206) entschieden gegenüber den älteren Ansätzen abwertet. 44 | Zu Corots Ölskizze in Karlsruhe (R. 140) Galassi 1991, S. 190 f.; Schäfer 2010, Kat.-Nr. 123, S. 176 u. S. 283; Camille Corot 2012, Kat.-Nr. 25, S. 462; das Aquarell von Fries, WVZ 318, Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. SZ 51, Wechssler 2000, S. 224. 45 | Wechssler 2000, S. 224 gibt für Fries’ Aquarell die Maße 36,2 x 59,6 cm. 46 | Corots Karlsruher Ölskizze misst 36 x 50 cm. Vgl. Camille Corot 2012, Kat.-Nr. 25, S. 462. 47 | In einem weiteren Aquarell studierte Fries diese als Ausschnitt nochmals für sich, WVZ 309. Wechssler 2000, S. 220 f. Darin ist allerdings weniger das Ausschnitthafte betont, was hingegen im Mittelpunkt von zwei Ölskizzen der Künstler mit einer Wiedergabe der gleichen Felsformationen (R. 161 u. WVZ 497) steht und durch den Vergleich als unmittelbare Wirkung von Corot auf Fries erkennbar wird. Beide sind leider nicht datiert, aber wohl während der hier fokussierten Kampagne in Civita Castellana entstanden. So schon Bott 1978, Kat.-Nr. 178, S. 248. Galassi 1991, S. 143 vergleicht dagegen eine weitere Ölskizze Corots mit derjenigen von Fries. 48 | Bott 1978, S. 121 ff.; Schäfer 2010, S. 175; zuletzt Reuter 2012, S. 437–443, hier S. 437 ff. 49 | Bott 1978, ebd.; Wechssler 2000, S. 41; Zur Ölskizze in Heidelberg, WVZ 498, vgl. Wechssler 2000, S. 287. 50 | Galassi 1991, S. 189. Zutreffender ist das, was Galassi 1991, S. 185 zuvor schreibt, Corot habe „[...] den Prozeß des Komponierens ins Freie verlegt“. Wobei es hier eben nicht wirklich um ein Komponieren ging, sondern um ein serielles Definieren von Ansichten, das den Prozess der Komposition ersetzte – dazu im Folgenden. 51 | Ähnlich dann auch Galassi 1991, S. 185. 52 | Fragt man umgekehrt nach dem Einfluss von Fries auf Corot, kann hier nur knapp angedeutet werden, dass Fries’ Zeichnungen Corot zu einer stärker plastischen, zugleich aber die Bildfläche auch modellierenden Zeichnungsstruktur verhalfen. Wechssler 2000, S. 41 sieht nur eine allgemeine Wirkung seiner Zeichnungen.

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Johannes Myssok 53 | Siehe die Werke katalogisiert bei Wechssler 2000, S. 44 u. 267–279, WVZ 436–471. 54 | Zur Bildtradition des Ortes mit den wesentlichen Blickwinkeln siehe Galassi 1991, S. 109 ff. Fries’ Auseinandersetzung gipfelt im Regensburger Bild, WVZ 633, Wechssler 2000, S. 327 u. Stefano Tumidei, Katalogeintrag, in: Cavina 2001, Kat.-Nr. 140, S. 230. 55 | Dies ist sowohl bei Corots berühmter Ölstudie der Brücke von Narni und dem hierauf basierenden Gemälde in Ottawa der Fall als auch bei Fries. Schon dessen Aquarell der Treppe im Park der Villa Chigi von 1824 (WVZ 181) ist zu einem farblich konventionelleren Ölbild ausgearbeitet (WVZ 195), die Ansicht dabei aber die gleiche geblieben. Vgl. Wechssler 2000, S. 182 u. 186.

Begriffskarrieren Geschmack und ästhetische Erziehung in Kunstdiskursen des 19. Jahrhunderts1 Anja Schürmann

Für Jürgen, der mich gelehrt hat, 1,5



Stunden auf ein Kapitell zu gucken,



ohne es langweilig zu finden.

1. Vorwort: Pluralismen des Geschmacks in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts Die französische Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts kannte verschiedene Geschmäcker. 1747 lanciert von Lenormant de Tournehem (1684–1751), dem Direktor der königlichen Gebäude, war man der Wiederbelebung des grand goût verschrieben, der Formensprache des Antikenverweises, der Formsprache von Raffael, Le Brun und Poussin.2 Spätere Differenzierungen hießen le goût antique, eine enge Anlehnung an das griechische und römische Altertum, le petit goût, womit die Mythologien und Pastoralen der Boucher-Schule gemeint waren, le goût français, was das Rokoko bezeichnete und le goût moderne, worunter man den Barock, beispielsweise die Skulpturen von Bernini subsumierte.3 Nach Voltaire (1694–1778), der zwischen Kunstgeschmack und Sinnesgeschmack unterscheidet, obliegt es dem Geschmack, die Schönheit zu erkennen, aber auch sie zu fühlen. Damit ist er sowohl sinnlich wie rational konnotiert und unterliegt der Formbarkeit durch Bildung. Der gute Geschmack in den Künsten ist nach Voltaire erlernbar, so kann eine ganze Nation ihren Geschmack im Laufe der Zeit verbessern oder verschlechtern. Das ist nur bei gemeinsamer Grundlage vorstellbar, also vor dem Hintergrund einer natürlichen, objektiven Ästhetik des Schönen. In dem Artikel Goût in Diderots Enzyklopädie ist Geschmack

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„[…] ein Unterscheidungsvermögen, das genauso schnell ist wie das der Zunge und des Gaumens und das wie diese der Reflexion zuvorkommt.“4 Diese vorreflexive Geschmacksentscheidung ist aber nur dem sinnlichen Geschmack zugeordnet. Der Kunstgeschmack ist streitbar und somit auch rational konnotiert: „Es heißt, man solle über den Geschmack nicht streiten; das ist richtig, wenn es sich um den Sinnengeschmack handelt […]. Anders verhält es sich in den Künsten.“5 Die Anwendung dieser Prinzipien auf die schönen Künste ist Charles Batteux (1713–1780) zu verdanken, dessen Werk Les beaux arts reduites a un principe bereits 1751 ins Deutsche übersetzt wurde. Batteux versteht den Geschmack als Eigenschaft und als Urteilskategorie: „Der Geschmack leitet den Künstler an, in der Natur das zu suchen, was schön, also nachahmenswert ist, und er ist es ebenfalls, der den Künstler und den Genießer von Kunstwerken urteilen läßt, ob das Kunstwerk gut nachgeahmt ist.“6

Die Tätigkeit, mit der dies geleistet wird, ist nach Batteux die Nachahmung der schönen Natur. Sie dient der Erlangung des guten Geschmacks, der von ihm als unveränderliche und universelle Qualität angesehen wird, womit er sich von den didaktischen Aspekten Voltaires, der Geschmack als erlernbar erachtet, unterscheidet. Um den deutschen Geschmack machte sich insbesondere der Maler/Philosoph Anton Raphael Mengs (1728–1779) verdient, dessen Schrift Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerei 1762 (Abb. 1) erschien. Er schreibt: „Ich habe im Anfang gesaget, der Geschmack komme daher, daß, wenn man diese oder jene Teile erwählet, man diejenigen, so nicht die erforderlichen Eigenschaften besitzen, verwerfe oder auslasse; denn der Geschmack der Künste ist in diesem Stücke dem Geschmack des Gaumens ähnlich, wie man sauer, süß, und bitter nur dasjenige heißet welches keinen andern Geschmack als diesen allein hat, oder wenigstens in der vorzüglichsten Stärke hat; so heißet auch in der Kunst, eine Sache von angenehmem, von wahrem, von bedeutendem und jedem andern Geschmacke.“7

Die Ausführungen im zweiten Teil, die dem Geschmack gelten, erachtete Mengs selbst für den wesentlichen Teil seiner Schrift. Das Ziel hierbei war ein Leitfaden zur Ausbildung des Geschmacks auf der Basis von vier exempla: Raffael, Tizian, Correggio und die antike Skulptur. Die begriffliche Überschneidung von Geschmacks- und Stilbegriffen benennt er selbst: „Dieses ist der Geschmak, und ist eben so viel als ein Styl oder Art.“8 Sofern Mengs Geschmack als Stil versteht, folgt er Winckelmanns Auffassung. Außerdem ist Geschmack für ihn aber auch – wie bei Batteaux – eine Urteilskate-

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Abbildung 1: Anton Raphael Mengs: Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerey, 3. Aufl., Zürich 1771

Bayerische Staatsbibliothek, „Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerey“, Titel - CC-BYSA-3.0. http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12bsb10258513-0 [04.12.2019]

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gorie, die sich mit der sinnlichen Wahrnehmung verbindet und die als Kategorie dem physiologischen Geschmack entspricht, wie an dem oben genannten Vergleich mit den Speisen und ihren Geschmäckern deutlich wird und den Voltaire strikter voneinander trennte. Das Problem einer Begrifflichkeit, die den Stil mit demselben Begriff bezeichnet wie die Wahrnehmung der künstlerischen Phänomene, löst er, indem er beide Kategorien im Naturell des Künstlers zusammenfallen lässt: Der Künstler arbeitet innerhalb eines übergeordneten Geschmacks und besitzt individuellen Geschmack, wenn er der Überordnung gerecht wird. Auch diese Konstruktion geht auf Batteux zurück. Auf verblüffend simple und aus der Sicht eines Philosophen extrem vereinfachte Weise wird damit ein Definitionskonflikt gelöst, von dem die Kunstkritik des 18. Jahrhunderts nachhaltig beunruhigt war. Am Ende des 18. Jahrhunderts und noch über das Jahr 1800 hinaus zählte Mengs’ handliches Opus zu den am meisten gelesenen Büchern über Malerei in deutscher Sprache. Die Absage der Romantiker an das rational begründete Prinzip der selektiven Nachahmung fällt jedoch radikal aus. Die Abhandlung wird nun als eine missglückte Theorie interpretiert und es wird nicht mehr wahrgenommen, dass sie eigentlich als Leitfaden für den Künstler gemeint war. Obwohl es sich mittlerweile um einen alten Text handelte, wird er mehrfach als griffiger Hintergrund benutzt, um das eigene Urteil zu formulieren und zu schärfen. 1803 hält Friedrich Schlegel (1772–1829) Mengs entgegen, dass Zeichnung, Farbe und Lichtgebung als harmonisches Ganzes in Erscheinung treten sollten und erklärt die sezierende Trennung dieser Eigenschaften, die Mengs vorgenommen hatte, für „widersinnig“.9 Hier zeigt sich, wie sehr inzwischen die Kunstbetrachtung und ihre Beurteilungskriterien die überhand gewonnen hatten. Der Mengsche Geschmack weicht dem Schlegelschen Charakter.

2. Vom künstlerischem G eschmack zum Kunstcharakter in der Künstlermonografie In der romantischen Kunstkritik wird jenes Charakteristische der Kunst, ein Begriff, der im 18. Jahrhundert aus der Architektur- und Gartentheorie entnommen wurde, neu belebt. Mit diesem Konzept – und seinen Unterpunkten, des persönlichen, künstlerischen oder nationalen Charakters – verband unter anderem Friedrich Schlegel die Hoffnung, die besondere Eigenart eines Künstlers herausarbeiten zu können und jene dann in den Kontext des Allgemeinen der Kunst – der

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Geschichte – zu integrieren. Auch der Archäologe und Mitbegründer des Alten Museums Aloys Hirt (1759–1837) äußert sich dementsprechend: „Nach meinem Sinne besteht die Basis zu einer richtigen Beurtheilung des Kunstschönen und Bildung des Geschmakes in dem Begriffe Charakteristik. Unter Charakteristik verstehe ich nemlich jene bestimmte Individualität, wodurch sich Formen, Bewegung und Geberde, Miene und Ausdruck – Lokalfarbe, Licht und Schatten, Helldunkel und Haltung – unterscheiden, und zwar so, wie der vorgelegte Gegenstand es verlanget. Nur durch die Beobachtung dieser Individualität kann ein Kunstwerk ein wahrer Typus, ein ächter Abdruck der Natur werden.“10

Im 19. Jahrhundert wird der rekonstruktive Zugriff des Menschen auf Vergangenheit in Frage gestellt. Das Dokument wird in seiner Sperrigkeit und Kontingenz sichtbar, seine Schlüsselfunktion wird ihm aberkannt; daher wird das Dokument der Geschichte zu einem Objekt der Hermeneutik. Unter anderem deshalb verschob sich um 1800 die Kunstwahrnehmung vom Dokument zum Interpretat. Das Kunstwerk sprach nun nicht mehr von einer zu rekonstruierenden Vergangenheit, sondern konnte vom Rezipienten aktualisiert werden. Nun durfte auch die Gegenwart interpretativ und damit vereinnahmend tätig werden, auch wenn sie die historischen Kontexte des Kunstwerkes nicht kannte. Darstellungen stellten jetzt dar, während sie vor 1800 lediglich anzeigten. Johann Joachim Winckelmanns oft zitiertes Diktum, er wolle in seiner Geschichte der Kunst des Altertums (1764) „[…] keine Geschichten erzählen, sondern Geschichte […]“,11 kann man durchaus als Kritik an den Viten vorgängiger Generationen lesen. In Künstlerbiografien wurde jene Geschichte oft unterteilt in Angaben zum persönlichen und künstlerischen Charakter des Künstlers. Biografie und Monografie wurden als abhängig konzipiert, als zerbrochen und zusammengefügt durch jene beiden Entitäten. Die Trennung und Interaktion der Charaktere bot der Textgattung die Möglichkeit, eine dramaturgische Bewegung einzunehmen und etablierte zwei Pole, die das Material – die Quellfunde und Kunstwerke, die Lebensstationen und Auftraggeber – in einem ständigen Spannungsverhältnis hielt. Karin Hellwig legte dar, dass „[b]ereits die Kunstschriftsteller der Renaissance vor Vasari, wie Leon Battista Alberti und Leonardo, [...] die Gleichung von sittlichem Charakter und Werk aufgestellt [hatten]“.12 Zeitgenössische Rezensenten legten bei von ihnen besprochenen Biografien diese Zweiteilung ebenfalls an. Carl Grüneisen (1802–1878) beispielsweise verband mit der Herausarbeitung der beiden Charaktere eines Künstlers die Hoffnung auf einen – auch sprachlich – lebendigen Text:

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Das zu entwerfende „Porträt“ in der Biografie sollte beide Charaktere des Künstlers, den persönlichen wie den künstlerischen, zusammenführen. Jene Entitäten, die 1829 noch getrennt verhandelt wurden, konnten zwar „wissenschaftlich“ und „geschichtlich“ sein, die Kunst des biografischen Schreibens wurde dennoch mit der Leistung des verhandelten Objekts korreliert: Ähnlich einem künstlerischen Porträt muss auch ein biografisches Porträt den persönlichen wie den künstlerischen Charakter herausarbeiten. Nur, dass es bei einem künstlerischen Porträt um den Charakter des Porträtierten und nicht des Künstlers geht, während der Autor sich im biografischen Porträt zurücknehmen sollte. Dass dabei der Begriff Charakter verwendet wurde, wenn ein visueller Gegenstand verhandelt wird, spricht für die zunehmende Individualisierung einer Kunstleistung mit und durch Sprache. Die repräsentative Fähigkeit der Sprache ging nun über die reine Benennbarkeit und Identifikation von Kunst hinaus. Ihr wurde zugetraut, dass tote und oft einzig in Schrift- und Bildquellen erahnbare Künstlerindividuum zum Leben zu erwecken. Dass man so individualistisch biografisch Handeln konnte, wurde auch von Johann Gottfried Herders (1744–1803) Individualitätsbegriff katalysiert, den Karin Hellwig wie folgt beschreibt: „Für ihn war das Individuum mit den Kategorien Individualität und Entwicklung zu begreifen. Individualität besaß jedes Individuum aufgrund seiner eigenen Geschichte, die wiederum von seiner geschichtlichen Umgebung mitbestimmt wurde.“14

„Entwicklung“ ist das Schlüsselwort, um aus dem Individuum ein dynamisches Individuum zu machen. Die Persönlichkeit konnte nun differenzierbare Aspekte, wie den künstlerischen und persönlichen Charakter beinhalten, die aber dennoch in und durch die Geschichte darstellbar waren. Und hier treffen sich auch Charakter und Geschmack, da auch der Geschmack als sowohl individuelle als auch überindividuelle Kategorie bei Mengs und Batteux angesehen wurde, die nach Voltaire erlernbar war. Bereits Gabriele Bickendorf stellte heraus, dass der im 19. Jahrhundert so beliebte Charakter, ob nun persönlicher oder künstlerischer Natur, als ein idealer Klebstoff zwischen begrifflichen Entitäten wie Autor und Werk, Nation und Kunst funktioniert.15 Daniela Bohde ergänzt, dass in der frühen Biographie Gustav Friedrich Waagens (1794–1868) Über Hubert und Johann van Eyck (1822) (Abb. 2) jene Charaktere deduktiv erschlossen wurden, da Waagen bevor er zu den van

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Abbildung 2: Gustav Friedrich Waagen: Über Hubert und Johann van Eyck, Breslau 1822

Universitätsbibliothek Heidelberg, „Über Hubert und Johann van Eyck“, Titel - CCBY-SA-3.0. https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/waagen1822/0001 [04.12.2019].

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Abbildung 3: Johann David Passavant: Rafael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi, Bd. 1, Leipzig 1839

Universitätsbibliothek Heidelberg, „Rafael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi“, Titel - CC-BY-SA-3.0.

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Eycks und ihrem spezifischen künstlerischen Charakter kommt, erst einmal den niederländischen Volkscharakter im Allgemeinen charakterisiert, den er dann in Relation mit dem persönlichen Charakter setzt, welcher schließlich mit dem künstlerischen Charakter interagiert.16 Über die ideale Zusammensetzung jener beiden Charaktere schrieb Karin Hellwig die auch auf Waagens Monografie zutreffende Schlussfolgerung: „Bei der Beurteilung hatte man zwischen ‚Mensch‘ und ‚Künstler‘ getrennt. Den Menschen charakterisierte man mit Hilfe seiner Tugenden, den Künstler mittels seiner Erfindungen.“17 Diese Betonung der invenzione in den Künsten war auch ein Grund, warum Geschmack als ästhetischer Begriff zunehmend in Vergessenheit geriet: In den oben vorgestellten Definitionen erwarb oder hatte man Geschmack, wenn man einem übergeordneten Stil oder Geschmack entsprach, das Paradigma des 19. Jahrhunderts deduzierte anders: Der Erfindungsreichtum eines Künstlers galt als stilbildend, nicht sein Bemühen, einem abstrakten Stil zu folgen. Johann David Passavants (1787–1861) Ansatz in dieser kurzen Tradition der Charaktere ist ein anderer. Wiederholt betont die Rezeptionsforschung, dass seine Raffael-Biografie (Abb. 3) von 1839–5818 nicht zwischen dem künstlerischen und dem persönlichen Charakter explizite Trennungsstriche zieht.19 Im Unterschied zu Waagens van Eyck-Biografie räumt Passavant Raffael keine eigenen Kapitel zur Explikation seiner Charaktere ein und auch der Begriff selbst wird sehr sparsam eingesetzt. Sein Ziel – die Zusammenführung von künstlerischem und persönlichem Charakter – führt notwendigerweise zur Stereotypisierung Raffaels: Genie kann der Künstler erst als vollkommene personale Union von Mensch und Künstler werden. Erst, wenn der persönliche und der künstlerische Charakter untrennbar ineinander verwoben und beide Aspekte argumentativ aufeinander bezogen sind, erst dann ist aus dem personalisierten Individuum ein überpersonales Künstlergenie geworden. Im Stereotyp Raffael mussten sich Subjektivität und Individualität notwendig aus dem Weg gehen und das noch bei Schlegel geforderte historische Setting verblassen lassen. Das Genie wurde nie in allgemeine geschichtliche oder geschmackliche Tendenzen integriert, es transzendierte sie und damit auch die Differenzierungen der Charaktere. Die Frage, warum der Geschmack in der Monografie vom Charakter abgelöst wurde, kann vor diesem Hintergrund sicher auch damit beantwortet werden, dass der Geschmack nur als Teilaspekt des Charakters anzusetzen ist. Die zeitgenössische Forderung an eine Monografie, ein „Porträt“ des Künstlers zu sein, ist zudem semantisch näher an einem Charakter-, als an einem Geschmacksbegriff, wobei aber Charakter, wie auch Geschmack zwischen ästhetischen und moralischen Semantiken changieren. Geschmack war ein kulturelles Bildungsideal, das sich im Individuum niederschlug, das zum Teil erlernbar war und verfeinert werden konn-

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te. Obwohl die Engführung zwischen persönlichem und künstlerischem Charakter ebenfalls moralische Aspekte implizierte, ist dennoch die Entwicklungsrichtung eine andere. Der persönliche Charakter prägte den künstlerischen, es galt das Eighenthümliche des Künstlers zu analysieren, nicht dessen Anpassungsfähigkeit an abstrakte Ideale, wie es der Geschmack forderte. Außerdem war Geschmack bereits bei Voltaire, Tournehem und Mengs eine normative Kategorie, deren Urteilskraft der Kunstkritik zuzuordnen war. Die Kunstgeschichte aber emanzipierte sich im 19. Jahrhundert zunehmend von der Kunstkritik, wie Raphael Rosenberg betont: „Lob und Tadel eines Werkes sind – als unhistorische und unwissenschaftliche Kategorien – nicht länger Anlaß einer Beschreibung. Mit dem Historismus werden absolut gesetzte Normen des Kunsturteils aufgegeben. […] Obwohl Sympathie und Antipathie der Wissenschaftler nicht immer verdeckt werden können, bemühen sich die Beschreibungen um ‚Charakterisierung‘ statt Beurteilung.“20

Damit möchte ich einen kurzen Exkurs zur Bewertung hinzufügen, die als eine der vier Arten der Kunstkommunikation von Heiko Hausendorf pragmatisch umrissen wird.

3. G eschmack

und

B ewertung

Im Kunstkontext kann die Wertfrage sehr unterschiedlich auftreten: Ein Auktionskatalog wird den verhandelten Kunstobjekten einen anderen sprachlichen Wert beimessen als ein kunsthistorisches Überblickswerk oder eine Künstlermonografie. Im Gespräch wiederum ist die Bewertung oft mit individuellem Gefallen synonym gesetzt, eine Subjektivierung von Qualität, die sich die Kunstwissenschaft mit einsetzender Institutionalisierung zunehmend versagte. Hausendorf trennt somit Gefallen/Geschmack als Kategorie von anderen verbalen Bewertungsaspekten wie Rang/Wert, Wirkung/Eindruck, Qualität oder Kunst/Nicht-Kunst ab. Aber auch innerhalb der Kategorien können subjektive und objektive Wertcharakteristika unterschieden werden. Subjektiver Wert ist in Aussagen über den Geschmack und die Wirkung zu finden, alle anderen Kategorien behaupten sprachlich Objektivität: Ästhetischer Rang oder ökonomischer Marktwert, technische Qualität oder handwerkliche Könnerschaft werden im Kunstkontext häufig autoritär kommuniziert, in Hausendorfs Unterscheidungen demnach erläutert, während subjektive Wertungen wie Geschmack oder Wirkung eines Kunstwerkes gedeutet werden. Die Autorenrolle ist eine andere und bedient sich sprachlich subjektiver Formen

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der Unsicherheit und Beschränkung. Bereits Voltaire erkannte dieses Unbehagen der Deutung. Sein Schmeckender „[…] ist häufig unsicher und verlegen, da e[r] nicht einmal weiß, ob ihm das, was man ihm darbietet, gefallen soll, und da es zuweilen ebenso der Gewöhnung bedarf, um sich herauszubilden.“21 Individualisierung kann man an Phrasen wie meiner Meinung nach, für mein Empfinden oder meiner Ansicht nach identifizieren und an Verben wie gefallen, zusagen, ansprechen, da jene Verben das Subjekt immer als Teilnehmer einer körperlichen oder mentalen Erfahrung voraussetzen: „Auch dann, wenn gar nicht danach gefragt wird, provoziert ein Kunstwerk als Auslöser von Anschlußkommunikation offenbar wie von selbst und offenbar dominant die Frage nach dem eigenen Gefallen (bzw. Mißfallen). Oberflächliches Indiz für diesen Zugzwang, das Gesehene im Hinblick auf den eigenen Geschmack zu bewerten, ist die Allgegenwart des Verbs ‚gefallen‘ in Texten und Gesprächen zu Kunstwerken – ein Verb, das das sprechende oder schreibende Subjekt in der semantischen Rolle des Experiens ins Spiel bringt, als Person also, die die Wirkung des Gesehenen an sich erfährt. Sich genau in dieser Rolle zu präsentieren, ist offenbar einer der stärksten Zugzwänge, die mit der Situation vor dem Kunstwerk verbunden sind.“22

Eine meiner Thesen lautet daher, dass die kommunikative Geste Geschmack mit der Verbform Gefallen/Nichtgefallen, der immer auch ein Werturteil inhärent ist, der institutionalisierten Kunstgeschichte eine Bewertungsrichtlinie hinterließ, die diese nicht mehr als legitimierend ansah, da sie zu subjektiv schien. Die Kunstgeschichte als Wissenschaft musste zwar werten, aber nach anderen Kriterien als Geschmack. Das betonte Carl Friedrich von Rumohr (1785–1843) bereits in seinen Italienischen Forschungen (1827–1831) (Abb. 4). Er hielt es für „[…] unerhört, daß Hervorbringungen der eines inneren Lebensgeistes durchaus entbehrenden Geschmacksrichtung, welche practisch von Mengs ausgegangen, in den größeren Sammlungen neuerer Meisterwerke wären aufgenommen worden.“23 Als Wertkriterien mussten objektivierbare Maßstäbe gefunden werden, die den subjektiven Geschmack durch den objektiven Rang ersetzten. Einer dieser Maßstäbe ist die dem Charakter inhärente Eigenthümlichkeit eines Künstlers, quasi sein Alleinstellungsmerkmal, das den Geniekult förderte. Das Urteil wird damit von einer ästhetischen in eine historische Kategorie transferiert: Erst nach Durchmessung der historischen Tatsachen könne man zu einem wahren Kunsturteil kommen, welches nicht gekoppelt sei an „[…] vorgefaßte Formenanschauungen und […] alle auf Nachbildung und praktische Ausführung gerichtete Nebenansichten […]“, welche Moritz Thausing (1838–1884) in seiner Antrittsvorlesung an der Wiener Universität 1873 den Künstlern vorwirft. An die Stelle des Kriteriums

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Abbildung 4: Carl Friedrich von Rumohr: Italienische Forschungen, Bd. 1, Berlin/Stettin 1827

Universitätsbibliothek Heidelberg, „Italienische Forschungen“, Titel - CC-BY-SA-3.0. https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/rumohr1827bd1/0001 [04.12.2019]

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schön tritt also das Kriterium echt, das Ideal wird vom Original abgelöst. Selbst Alois Riegl (1858–1905) äußert sich dementsprechend: „[…] derjenige müsste der beste Kunsthistoriker sein, der gar keinen persönlichen Geschmack besäße, da nur so die Objektivität seines Urteils gesichert sei.“24

4. Fazit Doch wie verbindet man die subjektive Beurteilung, das, was früher Geschmacksbildung hieß und immer noch als Kernkompetenz eines Kunstkenners galt, mit übersubjektiven Aspekten wie der oben genannten Echtheit eines Kunstwerks? Mit dieser halbrhetorischen Frage möchte ich mein Fazit einleiten und noch einmal an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Für Friedrich Schlegel war als Voraussetzung des Kunsturteils die „eigene[n] subjektive[n] Betrachtung“ ausschlaggebend, welche dann „in den Beschreibungen belegt“25 wurde. Auch sein Gedanke, das Kunstwerk nicht mehr als Repräsentation holistischer Transzendenzversprechen, sondern als individuelles Artefakt zu sehen, welches nichtsdestotrotz seine eigene Totalität entwickelt, wurde von der ersten Kunsthistorikergeneration um Waagen und Kugler begeistert aufgenommen. Regine Prange macht deutlich, dass Schlegel diese scheinbare Paradoxie durch die Betonung des Fragments, welches auch „Einzelnes und Ganzes sein soll“,26 aufheben möchte: „Das Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.“27 Die Integration der Teile in das Ganze hatte der Autor zu leisten, der nun Bedeutung kommunizieren, rekonstruieren und Verständnis vermittelbar machen sollte. Diese Aufgaben konnten nach der Überzeugung Schlegels nun nicht mehr in der Terminologie der Kunstkenner und -theoretiker verfasst sein, da jene Phrasen den historischen Abstand zwischen Produzent und Rezipient negieren würden. Seine Aufgabe sah er daher ebenfalls darin, schriftliche Zugangswege zur Kunst zu finden, die als vorbereitend zur späteren Behandlung des Ganzen, der Geschichte der Kunst dienen sollten. Der Kunstgelehrte im Gewand Rumohrs, Waagens oder Kuglers war somit der quasikünstlerischen Kritikergeneration, unter die sich sicher auch die Gebrüder Schlegel subsumieren würden, nachgeschaltet. Jene durften ordnen, was diese verbal umrissen und so dem Verständnis zugänglich gemacht hatten. Ein naheliegender Weg, um Detailkenntnis zu erlangen, war Nähe. Nähe im Sinne von Anwesenheit, einer geteilten Präsenz von Forscher und Kunstgegenstand. Hier steht subjektive Betrachtung nicht im Gegensatz, sondern komplementär zur Objektivität und dem damit verbundenen Wissenschaftsversprechen.

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Diese Nähe wird im genuin subjektiven Konzept der Zeugenschaft wissenschaftsfähig, welches bereits in kennerschaftlichen Diskursen präsent war. Ähnlich der Quelle, die authentischer und damit glaubwürdiger schien, „je näher, zeitlich oder örtlich“28 sie ihrem Gegenstand war, war auch die Aussage des Wissenschaftlers an jene Vorgaben der historischen Quellenkritik gebunden. Carl Friedrich von Rumohr beispielsweise tendiert zu Aussagen, die auf seine Kennerschaft der Händescheidung hinweisen. Seine Beschreibungen dienen oft dazu, Charakteristiken des Malers herauszuarbeiten, die ihn identifizierbar machten.29 Durch diese Form der Anwesenheit wird die persönliche Wirkung des Geschmacks im wissenschaftlichen Setting gerettet. Subjektivität unter dem bereits von Winckelmann exerzierten Primat der Anschauung war dem Wissenschaftsverständnis somit nicht etwa abträglich, es gehörte zu den elementarsten Methoden der kunsthistorischen Bestandssicherung. Die abschließende Frage, warum sich die Kunstgeschichte vom Geschmack trennen musste, führt uns wieder an den Anfang des Beitrags: Es gab eine dreifache Geschmacksforderung: Der Künstler sollte Geschmack haben, ebenso wie der Rezipient, um Geschmack erkennen zu können und natürlich auch das Kunstwerk, welchem neben dem individuellen auch ein ontologischer Geschmacksbegriff inhärent ist. Diese semantische Überforderung des Geschmackbegriffs, der durch seine ubiquitäre Anwendbarkeit kaum noch konkret und konturiert etwas aussagte, stand im 19. Jahrhundert aus diesen Gründen in der Kritik einer jungen Wissenschaft, die sich auch über ihr methodisches Werkzeug und dessen Spezifik – die Sprache – akademisch zu legitimieren hatte. Die Trennung zur Kunstkritik musste forciert werden, weil die Kunstgeschichte sonst keine Geschichte mehr hätte und damit die Wissenschaft infrage stände, als deren Hilfswissenschaft sie lange Zeit galt und deren methodologische Prinzipien oft das eigene Wissenschaftsselbstverständnis prägten. Meine abschließende These lautet daher, dass die Geschmacksaspekte generalisiert und kollektiviert wurden, da quasiontologische Begriffe wie der Geschmack ebenso wie die Schönheit im Relativierungsprozess des Historismus nicht mehr aufrecht zu erhalten waren. Es gab nun Stile, Epochen, plurale Phänomene, deren kollektiver und narrativer Kitt nur ein Kollektivsingular sein konnte: die Geschichte. Geschmack musste vor diesem Hintergrund in Charakter oder Stil abstrahiert werden, um dem subjektiven Gefallen einen objektiven und objektivierbaren Rang zu geben.

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A nmerkungen 1 | Der Vortrag führt einen Gedanken weiter, den ich in Kapitel 4.4.9 meiner Dissertation unter dem Titel Der ‚Kunstcharakter‘ nur anreißen konnte. Vgl. Schürmann, Anja: Begriffliches Sehen: Beschreibung als kunsthistorisches Medium im 19. Jahrhundert, Berlin/Boston 2018, S. 224–227. 2 | Zu weiteren Quellen aus dem 17. Jahrhundert zählen Baltasar Gracian (1601–1658), La Rochefoucauld (1613–1680) und Shaftesbury (1631–1713), auf die ich hier leider nicht eingehen kann. Weiterführende Literatur: Hauer, Thomas (Hg.): Das Geheimnis des Geschmacks, Frankfurt a. M. 2005. 3 | Vgl. und weiterführend: Schneemann, Peter Johannes: Geschichte als Vorbild. Die Modelle der französischen Historienmalerei 1747–1789, Berlin 1994. 4 | Zitiert n. Zirfas, Jörg: „Die Tischgemeinschaft als ästhetisch-moralische Anstalt. Über Bildung, Geschmack und Essthetik“, in: Eckart Liebau/Jörg Zirfas (Hg.), Die Bildung des Geschmacks. Über die Kunst der sinnlichen Unterscheidung, Bielefeld 2011, S. 17–44, hier S. 21. 5 | Zitiert n. Zirfas 2011, S. 22. 6 | Batteux, Charles: Einschränkungen der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, Leipzig 1770, S. IV. 7 | Mengs, Anton Raphael: „Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerei [1762]“, in: Helmut Pfotenhauer u. a (Hg.), Frühklassizismus: Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse, Frankfurt a. M. 1995, S. 195–249, hier S. 225. 8 | Mengs 1762/1995, S. 11. 9 | Vgl. Traeger, Jörg: „Rezension zu: Steffi Roettgen, Anton Raphael Mengs 1728–1779. Leben und Wirken, Bd. 2“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 68.2005, S. 440–448. 10 | Hirt, Aloys: „Versuch über das Kunstschöne“, in: Die Horen 3.1797, S. 1–37, hier S. 35. 11 | Zitiert n. Hellwig, Karin: Von der Vita zur Künstlerbiographie, Berlin 2005, S. 57. 12 | Hellwig 2005, S. 133. 13 | Grüneisen, Carl: „Künstlerbiographien, Sammelrezension mit: Rezension von Joseph Heller, Das Leben und die Werke Albrecht Dürers, Bd. 2, Abt. 1 und 2, Bamberg 1827“, in: Kunstblatt 10.1829, S. 313–319, 324, 325 f., hier S. 313 f. 14 | Hellwig 2005, S. 149. 15 | Vgl. Bickendorf, Gabriele: Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 111. 16 | Vgl. Bohde, Daniela: „Physiognomische Denkfiguren in Kunstgeschichte und visuellen Wissenschaften – Lavater und die Folgen“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 56.2011, S. 89–121, hier S. 107. 17 | Hellwig 2005, S. 54. 18 | Vgl. Passavant, Johann David: Rafael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi, 3 Bde. und ein Atlas, Leipzig 1839–1858.

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Anja Schürmann 19 | Vgl. Hellwig 2005, S. 129, S. 141. 20 | Rosenberg, Raphael: „Von der Ekphrasis zur wissenschaftlichen Bildbeschreibung. Vasari, Agucchi, Félibien, Burckhardt“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 58.1995, S. 297–318, hier S. 313. 21 | Zitiert n. Zirfas 2011, S. 21 f. 22 | Hausendorf, Heiko: „Gibt es eine Sprache der Kunstkommunikation? Linguistische Zugangsweisen zu einer interdisziplinären Thematik“, in: Gert Mattenklott/Martin Vöhler (Hg.), Sprachen ästhetischer Erfahrung, Berlin 2006, S. 65–98, hier S. 76. Dass Präsenz die Voraussetzung eines Geschmackserlebnisses ist, betont auch Jörg Zirfas: „Geschmack setzt die leibliche und sinnliche Teilnahme an materiellen, kulturellen oder sozialen Sachverhalten voraus.“ Zirfas 2011, S. 23. 23 | Zitiert n. Traeger 2005, S. 443. 24 | Zitiert n. Locher, Hubert: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750–1950, München 2001, S. 59. 25 | Zitiert n. Locher, Hubert: „,Construction des Ganzen‘ Friedrich Schlegels kritische Gänge durch das Museum“, in: Johannes Grave/Ders./ Reinhard Wegner (Hg.), Der Körper der Kunst. Konstruktionen. der Totalität im Kunstdiskurs um 1800, Göttingen 2007, S. 99–152, hier S. 132. 26 | Prange, Regine: „Friedrich Schlegel – Vision der Gotik“, in: dies. (Hg.), Kunstgeschichte 1750–1900. Eine kommentierte Anthologie, Darmstadt 2007, S. 65–67, hier S. 66. 27 | Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragmente, S. 45, zitiert n. Prange 2007, S. 66. 28 | Prange, Regine: Die Geburt der Kunstgeschichte. Philosophische Ästhetik und empirische Wissenschaft, Köln 2004, S. 119. 29 | Vgl. Thürlemann, Felix: „Händescheidung ohne Köpfe? Dreizehn Thesen zur Praxis der Kennerschaft am Beispiel der Meister von Flémalle/Rogier van der Weyden-Debatte“, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 62.2005, S. 225–232.

Das Format als „ikonographische Gelegenheit“1 Carl Spitzwegs exzentrische Bildformate Hans Körner

Eine Semantik des Bildformats? Ein wahrnehmungspsychologisch bedingtes Phänomen spielte in den bildtheoretischen Texten der letzten Jahrzehnte eine prominente Rolle, weil es eine Bestätigung der „Zweifachthese“ (Wollheim) lieferte, die für Gottfried Boehm wiederum eine wichtige Voraussetzung seiner Definition von „ikonischer Differenz“ war.2 Richard Wollheim bezog Stellung gegen Ernst Gombrich, der es in Art & Illusion ausgeschlossen hatte, dass der Blick des Bildbetrachters sich gleichzeitig auf das (illusionistisch) Dargestellte und auf das Medium des Dargestellten richten könne. Wie bei einem Vexierbild schlösse die Wahrnehmung des einen die Wahrnehmung des anderen aus.3 Wollheims Gegenargumente: Bewundern wir ein Meisterwerk der gegenständlichen Malerei (Wollheim bezog sich auf Tizian, Vermeer und Manet), dann bewundern wir die Weise, wie die künstlerischen Mittel für die Erzeugung von repräsentativen Effekten eingesetzt wurden. Würden wir, wie beim Vexierbild, die Aufmerksamkeit auf die künstlerischen Mittel beim Blick auf den dargestellten Gegenstand ausblenden, hätte die Bewunderung keine Basis, da die Vergleichsebene entfiele. Zum zweiten, und damit referierte Wollheim auf Publikationen von Maurice Henri Pirenne von 1963 und 1970,4 an die Michael Polany 1970 anschloss, 5 spricht gegen Gombrichs Entweder-Oder-These, dass es eine eigentümliche Differenz zwischen der falschen Wahrnehmung eines illusionistischen barocken Deckengemäldes und der falschen Wahrnehmung eines perspektivisch konstruierten Tafelbildes gibt. Im ersteren Fall (Andrea Pozzos Deckenfresko in San Ignazio, Rom) krümmt sich und streckt sich die Architekturmalerei beim Verlassen des richtigen Betrachterstandpunkts, im zweiten Fall sind die optischen Verzerrungen nicht

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merklich, obwohl eine Fotografie, aufgenommen vom falschen Betrachterstandpunkt aus, diese optischen Verzerrungen sehr wohl dokumentieren würde.6 Die Folgerung, zu der Pirenne, Polany und Wollheim kamen, ist die: Im Falle des Tafelbildes zieht der Betrachter im Angesicht der räumlichen Illusion das Faktum des Flachseins des Bildmediums in Betracht.7 Entscheidend ist allerdings, dass die Erfahrung eines Bildes als flaches Bild auf dem „Grundkontrast […] zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem was sie an Binnenereignissen einschließt“, basiert (Boehm).8 Die Betonung muss auf dem Adjektiv „überschaubar“ liegen. Der Pirenne-Effekt funktioniert auch hinsichtlich eines Reliefs. Es ist weniger das mitgewusste Flach-Sein des Bildgrundes, das den optischen Verzerrungseffekt bei der falschen Wahrnehmung von Tafelbildern entschärft oder sogar aufhebt, sondern zunächst die begleitende Wahrnehmung eines überschaubaren Bildformats.9 Pozzos Deckenbilder in Rom sind zu groß, um eine andere als immersive Betrachtung zu ermöglichen. Lässt man sich darauf ein, ohne den richtigen Betrachterstandpunkt einzuhalten, gerät man mit der fingierten Architektur im Gewölbe ins Taumeln. Erst dann, wenn das Bildformat hinreichend klein ist und so simultan überblickt werden kann, wird die Materialität und Dimensionalität des Bildträgers sichtbar.10 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die in der bildtheoretischen Diskussion der letzten Jahrzehnte zu wenig beachtete Dissertation Thomas Puttfarkens. Es gibt einen wirkästhetischen Unterschied zwischen großen und kleinen Bildern. Diese zunächst banale Feststellung ist nicht zuletzt wegen der mit der Reproduktionsgrafik einsetzenden, mit der Kunstfotografie üblichen und mit der Digitalisierung inflationär gewordenen Rezeption von Bildern zunehmend aus dem Blick geraten.11 Große Bilder, auch wenn sie im egalisierenden Maßstab des Musée imaginaire kleinen Bildern kompositorisch sehr ähnlich sein mögen, differieren, so Puttfarken, in ihrer „Dominanzwirkung“.12 Im großen Bild mit großen/lebensgroßen Figuren nehmen die Figuren nicht nur innerbildliche Kontakte wahr, sie kommunizieren mit uns. Die kompositorische Geschlossenheit des Bildfeldes, mag sie in der Rezeption einer verkleinerten Reproduktion desselben Bildes noch so überzeugend sein, verliert vor dem großen Bildfeld einen Gutteil ihrer Prägnanz, weil die Figuren sich vordrängen und das Bildfeld in seiner Wirkung zurückdrängen. Im kleineren Maßstab dominiert in der Wahrnehmung das begrenzte Bildformat, das den Figuren ihre Orte zuweist und die Relationen zwischen Figuren, zwischen Figuren und Dingen als Relationen im Kraftfeld des Bildfeldes stiftet.13 Wenn also das Bildfeld, insofern es ein überschaubares ist, in der Bildwahrnehmung sich selbst zeigt, was kann dabei sichtbar werden? Die Frage zu stellen, impliziert bereits, dass das Format (zumindest seit der Jungsteinzeit14) mehr als

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nur Bedingung der Möglichkeit von Abbildung sein kann. „Das Format ist nicht das Kunstwerk, aber eine Lebensbedingung desselben“ (Jacob Burckhardt).15 Nicht auf das Phänomen der Rahmengerechtigkeit reduzierte Burckhardt die Entsprechungen zwischen Format und Darstellung; er fragte nach den „inneren Gesetze[n]“ des Bildformats. Das runde Bildformat beispielsweise sei per se ein „ideales Format […], welches nur ruhige Gegenstände von idealer Schönheit erträgt und auf jeden genaueren Hintergrund am besten verzichtet.“16 Mit Burckhardts Aufwertung des Anteils des Formats am Kunstwerk und der Besetzung des Bildformats mit Eigenstimmung und Eigengehalt, die entsprechende Ansprüche an die Darstellung einschloss, war Meyer Schapiros Versuch einer Semantisierung des Bildfeldes vorbereitet. Die Rede vom neutralen Bildgrund sei inkorrekt. „[D]as unbemalte leere Feld um eine Figur [ist] selbst bei den freiesten unabgegrenzten Darstellungen nicht ohne expressive Wirkung“. Neben der Konstellation des Dargestellten innerhalb des Feldes (höher, tiefer usw.) gehörten die Breite oder Enge des Feldes selber zu den „Lokaleigenschaften (des Bildfeldes), die unsere Sensibilität für Zeichen berühren.“17 Unausgesprochen nahm Meyer Schapiro damit neben Burckhardt Bezug auch auf das Anliegen Gustav Theodor Fechners, dem „Vorzug der Wohlgefälligkeit“ bestimmter Formate „rücksichtslos auf Zweck und Bedeutung“ nachzugehen.18 Sind Bildformate per se sprechend „rücksichtslos auf Zweck und Bedeutung“?19 Vorsichtiger hätte Meyer Schapiro Fechners Zugeständnis machen können, dass im empirischen Versuch das Teilungsverhältnis des Goldenen Schnitts sich zwar als die am angenehmsten empfundene Proportion eines Rechtecks herausstellte, bei der Überprüfung der lichten Weiten von Galeriebildern in ihren Rahmen allerdings kaum eine Rolle spielte.20 Die Schönheit eines Formats an sich lässt sich nicht zur Schönheit einer bildlichen Darstellung hinzuaddieren. Das gilt vergleichbar für die Frage nach der Expressivität eines bestimmten Formats. Avigdor W. G. Posèqs Format in Painting (1978), die Buchfassung der Prolegomana seiner 1974 eingereichten Jerusalemer Dissertation über die Lünette in der Italienischen Wandmalerei der Renaissance21 darf angesichts der Vernachlässigung des Themas Bildformat in der kunstgeschichtlichen Forschung22 weiterhin als grundlegender Text gelten. Posèq setzte sich kritisch mit Meyer Schapiros Definition des „Bildgrundes […] als Teil des Zeichens“ auseinander. Dass es eine Semantik des Formats geben könne, machten Verkehrsschilder offenkundig, deren Format (Polygon, aufsteigendes oder absteigendes Dreick, Raute, Quadrat23) bereits die jeweilige Anweisung oder Information transportiert.24 Anders als Verkehrsschilder seien Formate von Bildern der Kunst in ihrem Infomationsgehalt dagegen nicht standardisiert. „[T]he implications of pictorial formats may change quite notably, according to context and circumstances“.25

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Verzichtet man mit Posèq auf a priorische Festlegungen, zieht man also die Semantisierung des Bildformats nicht als Notwendigkeit, sondern als eine künstlerische Möglichkeit in Betracht, dann allerdings bleibt Meyer Schapiros Ansatz ein fruchtbarer Ansatz. Nur dann aber, wenn man die immanente Qualität des Formats höchstens in einem Geneigtmachen oder einem Abgeneigtmachen sieht und immer einrechnet, dass bei einem bemalten/bezeichneten Bildfeld Format und Darstellung interagieren. Das gewählte Format (übrigens auch das durch nachträgliche Beschneidung oder Beschädigung sich ergebende Format) verändert den Ausdruckgehalt, fallweise sogar die Ikonografie der Darstellung, so wie vice versa Form und Inhalt der Darstellung das Bildformat je anders semantisch/expressiv werden lassen kann. Per se semantisch/expressiv ist ein Bildformat nicht.

Standardisierte B ildformate und die I konografisierung des B ildformats Wie immer man zu einer Semantik des Bildformats per se steht, von großer Bedeutung für die künstlerische Praxis war in jedem Fall eine Semantik des Bildformats, wie sie für den Markt an Künstlermaterialien festgelegt wurde. Das Aufkommen im Format genormter Bildträger markiert einen Einschnitt in der Geschichte des künstlerischen Arbeitsprozesses, ebenso einen Einschnitt in der Geschichte des Bildformats. Mussten zuvor Maler ihre Leinwände selbst zuschneiden, grundieren und auf ein Rahmengerüst aufziehen, so boten jetzt Fabrikanten vorgrundierte und bereits auf Rahmen – seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch schon auf Keilrahmen26 – gespannte textile Bildgründe an. Vorgrundierte Leinwände waren in den Niederlanden bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Handel.27 Erste Hinweise auf standardisierte Formate finden sich im Italien des mittleren 17. Jahrhunderts und in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in England und Frankreich. 1650–1651 werden in einem römischen Manuskript „botteghe de Telari“ erwähnt, bei denen im Format standardisierte Leinwände zu erwerben waren.28 Der Autor der Excellency of Pen and Pencil (1668) empfahl, Leinwände vorgrundiert zu kaufen, um sich die Arbeit des Grundierens zu sparen, und er empfahl, Spannrahmen in mehreren Größen verfügbar zu haben.29 Das Aufnageln der Leinwände auf den Spannrahmen ließ der Autor dieses Traktats noch den Künstler besorgen, und ersichtlich wird nicht aus dem Text, ob auch die Spannrahmen als vorgefertigte erwerbbar waren oder doch erst vom Maler gezimmert werden mussten. In den 1684 erstmals publizierten Éléments de la peinture prati-

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que schrieb Roger de Piles im Zusammenhang mit der Empfehlung, beim Kauf von Farbmaterial auf Qualität zu achten und nicht zu sparsam zu sein, von einer „Leinwand für 20 sous“ und deutete damit an, dass nach Preisen gestaffelte Leinwandgrößen im Kunsthandel erwerbbar waren.30 An späterer Stelle riet er den Malern, sich vorgrundierte Leinwände zu kaufen, statt sich die Mühe zu machen, selbst zu grundieren.31 Im Frankreich des ausgehenden 17. Jahrhunderts stand somit den Künstlern bereits eine Auswahl von malfertigen Leinwänden zur Verfügung. Nicht überall selbstverständlich. Noch Bouviers Manuel des jeunes artistes et amateurs en Peinture (erste Auflage 1832) gibt ausführliche Instruktionen, wie Keilrahmen herzustellen, wie die Leinwand entsprechend dem Maß des jeweiligen Blendrahmens zuzuschneiden und was bei der Grundierung der Leinwand zu beachten sei.32 Zwar gäbe es „in fast allen großen Städten […] schon zubereitete Leinwand […]. Auch findet man grundierte Leinwand, die schon auf Blendrahmen mit Schlüsseln aufgespannt ist“.33 Maler, die in kleineren Städten oder auf dem Land lebten und deren Bedarf nicht vor Ort gedeckt werden könne, müssten allerdings abwägen, ob die Transportkosten gegenüber dem Aufwand, die Malgründe selbst vorzubereiten, nicht unverhältnismäßig hoch seien.34 Den Pariser Künstlern stellte sich dieses Problem nicht, und auf das Angebot an Künstlermaterialien in Paris beziehen sich wohl die Liste an Standardmaßen im 3. Band des Dictionnaire universel de commerce Jacques Savary Des Bruslons’ (um 1730)35 und der Artikel Toile in Antoine-Joseph Pernetys Dictionnaire portatif de peinture, sculpture et gravure von 1757. Gestaffelt nach Preisen sind hier auf Blendrahmen bereits aufgenagelte und vorgrundierte Leinwände aufgelistet. Die von Pernety genannten handelsüblichen Größen, die von Ausnahmen abgesehen, denen von Savary Des Bruslons angegebenen weitgehend entsprechen, reichen von 1 Fuß x 9 Zoll (ca. 0,32 x 0,24 Meter) als dem kleinsten Format bis zu 6 Fuß x 4 Fuß (1,95 x 1,30 Meter) als dem größten.36 Im Unterschied zu den Pariser Normgrößen, die nur nach Preisen unterschieden waren, dokumentieren die Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts in England, Holland und Italien Benennungen nach Bildthemen: In Italien kannte man beispielsweise die „tela da testa“ und die „tela d’Imperator“, in Holland verkaufte man „Salvators“, in England „Kit-cat“ oder „Bishop’s whole length“.37 Die Standardformate beziehen sich alle auf Porträtmalerei, sieht man von den niederländischen „Salvators“ ab, die aber als Porträts des Erlösers aus dieser Kategorie nicht herausfallen. (Erklärungsbedürftig ist vielleicht der Terminus „Kit-cat“: er referiert auf die Porträtgalerie der Clubmitglieder, die Kneller in dem von Christopher Cat zur Verfügung gestellten Clubhaus gemalt hatte.38) Die Abstraktheit der Pariser Maße hatte sich in solchen Standardmaßen mit (bildlichem) Leben erfüllt. Für die Se-

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mantisierung des Formats war damit eine wichtige Voraussetzung gegeben, die aber auf das Bildnisfach begrenzt blieb und auf die in Porträtgalerien ohnedies gegebene Standardisierung antwortete. Das sollte sich im 19. Jahrhundert ändern. Eine wichtige Neuerung bringt 1849 der Verkaufskatalog der britischen Firma Winsor & Newton. Die zum Verkauf stehenden genormten Leinwandgrößen bieten über die Referenz auf die Porträtmalerei hinaus für Landschaftsmalerei geeignete Formate an. Geworben wird für „Portrait Sizes“ und „Landscape Sizes“.39 Auf die farbigen Bezeichnungen wie „Bishop’s whole length“, „Bishop’s half length“, „King size“, „Kit-cat“ u. a. ist zugunsten der schlichten Zuordnung zum Porträt verzichtet. Die 1855 verbreitetete Angebotsliste der Pariser Firma Lefranc & Cie. zog nach und erweiterte das ikonografisch im Bildformat Normatierte.40 Vierzehn der von Lefranc angebotenen Normgrößen entsprechen jeweils den schon bei Savary Des Bruslons und Pernety genannten, doch zu den normalen Leinwandgrößen ist in die Angebotsliste eine weitere Rubrik aufgenommen: „Leinwände für Seestücke und Landschaften“.41 Die in Paris mit Lefranc konkurrierende Firma Bourgeois unterteilte in ihrem Angebot von 1888 dann alle malfertigen Bildträger nach inhaltlichen Kriterien: „Figure“, „Paysage“, „Marine“.42 Bemerkenswert dabei ist, dass die Leinwände für „Paysage“ und „Marine“, die Lefranc 1855 noch in einer gemeinsamen Rubrik aufgelistet hatte, von Bourgeois 1888 auseinandergehalten wurden. In allen Fällen sind die Leinwände für Seestücke im Verhältnis zur Höhe breiter. Lefranc schloss sich dem mit seiner 1889 vorgelegten Angebotsliste an, differenzierte ebenfalls die Leinwände für „Paysage“ und „Marine“ (verglichen mit Bourgeois mit fast identischen Maßen) und ersetzte die von Bourgeois als für Figurenbilder angemessen erachteten normalen Bildformate durch den (bereits im Katalog von Winsor & Newton) enger gefassten Begriff „Portrait“.43 Die Differenzierung der Leinwandstandardgrößen nach Themen, also die Festschreibung überbreiter Rechteckformate auf Landschaftsmalerei und Seestück, entspricht der statistischen Häufung überbreiter Formate in französischen Landschaftsbildern und Marinen des 19. Jahrhunderts. Charles Sterlings und Hélène Adhemars 1958–1961 publizierter Bestandskatalog der französischen Gemälde des 19. Jahrhunderts im Louvre (die in das spätere Musée d’Orsay verbrachten Bilder sind mit dabei)44 darf als hinreichend repräsentativ gelten. Eingerechnet der Schwierigkeit bis Unmöglichkeit, die Gattungen immer trennscharf von einander abgrenzen zu können, insbesondere der Schwierigkeit, Seestücke zu definieren – genügt es, dass im Bild Wasser zusehen ist; muss Meer dargestellt sein, darf es auch eine Hafen- oder Strandszene sein; sollte ein Schiff oder ein Segelboot zu sehen sein; Salz- und/oder Süßwasser? (John Zarobell)45 –, erlaubt die Auswertung dieses Bestandskatalogs zumindest eine statistische Probebohrung:

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Ungefähr 39 Prozent aller in der Breite betonten Formate (nicht berücksichtigt wurden architekturgebundene Gemälde und die vorbereitenden Skizzen dazu) entfallen auf Landschaftsgemälde, 17 Prozent auf Seestücke im weitesten Sinne (Meer, See, Fluss, Teich, Sumpf sind prominent im Bild dargestellt). In annähernd 12 Prozent der Fälle teilen sich Landschaft und Wasser in etwa die Aufmerksamkeit, und in fast 7 Prozent der aufgelisteten Gemälde treten Landschaftsbilder und Seestücke (im weitesteten Sinne) in anderen Verbindungen (zusammen mit Stadtveduten oder figürlichen Szenen) auf. Besonders breite Gemälde mit Landschaftsgemälden, Seestücken oder Darstellungen, in denen Landschaftsmotive und Wasser einen wichtigen Anteil beanspruchen, machen somit ungefähr 75 Prozent der die Breite betonenden französischen Gemälde des späten 18. und 19. Jahrhunderts im Louvre (zum Zeitpunkt der Erstellung des Bestandskatalogs) aus. Unter diesen in der Breite betonten Landschaftsbildern sind wiederum 29 Prozent soweit gedehnt, dass man von einem „Handtuchformat“ sprechen darf.46 Bei den Seestücken sind es 59 Prozent. Das Ergebnis ist deutlich: Landschaftsbilder und Seestücke wurden weit überdurchschnittlich häufig auf in die Breite gedehnte Formate gemalt. Extremere Breitformate wiederum sind in der Malerei, die Gewässer zum primären Gegenstand macht, im statistischen Mittel signifikant häufiger als in der (sonstigen) Landschaftsmalerei. Man darf also, wie eben notiert, davon ausgehen, dass die Firmen für Künstlermaterialien mit der Semantisierung der Formate auf einen in der künstlerischen Praxis virulenten Trend reagierten, und man muss davon ausgehen, dass diese Semantisierung der Bildformate Ikonografien wiederum generierte. Dass diese inhaltliche Zuordnung in der künstlerischen Praxis keine zwingende Rolle spielte, bedarf keiner Begründung. Selbstverständlich verwendeten Landschaftsmaler vor allem bei größerformatigen Kompositionen mit „Figure“ oder „Portrait“ etikettierte Formate, und selbstverständlich wurden die nach den Gattungen Landschaftsmalerei und Seestück benannten Formate auch für figürliche Darstellungen verwendet, zumal Rechteckformate immer sowohl liegend als auch stehend bemalt wurden.47 Gleichwohl: Die Semantisierung des Bildformats in den Angebotslisten der Firmen für den Künstlerbedarf antwortete auf eine künstlerische Praxis und suggerierte darüber hinaus, dass Bildformate als solche inhaltlich aufgeladen sein/ werden konnten. Diese inhaltliche Vorentscheidung konnte angenommen werden oder nicht angenommen werden. Und wenn Künstler, die von den Händlern offerierte inhaltliche Aufladung bestimmter Formate nicht übernahmen, hatten sie doch die Beziehung von Format und Thema im Allgemeinen verinnerlicht. Und sie konnten, wenn sie wollten, und in Hinblick auf ihre Markstrategien wollen durften, selbst über die handelsüblichen Kategorien hinaus das Format zum Thema

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machen. Schließlich konnte man sich Leinwände beliebigen Formats auf Bestellung anfertigen lassen48 und Papier, der ab der Mitte des 19. Jahrhunderts beliebteste Bildträger auch für Ölskizzen,49 konnte nach Belieben zugeschnitten werden. Mehr noch: Künstler, die dem üblichen Handelsangebot zum Trotz individuelle, damit ungewöhnliche Formate bestellten oder selbst vorbereiteten, nahmen die Möglichkeit der inhaltlichen Besetzung des Bildformats vermutlich ernster als diejenigen, die die Leinwände entsprechend den von den Firmen vorgeschlagenen Themen nutzten. Nochmals: Die Semantisierung der Bildformate auf dem Markt für Kunstmaterialien beförderte die Semantisierung des Bildformats auch in der konkreten künstlerischen Praxis. Doch erst die künstlerische Praxis konkretisiert das mit dem Format mitgelieferte Semantisierungsangebot, und anders als Jacob Burckhardt und Meyer Schapiro annahmen, ist ein bestimmtes Bildform nicht per se auf bestimmte Themen eingestimmt beziehungsweise expressiv festgelegt. Nicht die französische Malerei des 19. Jahrhunderts soll im Folgenden auf Phänomene der Semantisierung des Bildformats hin befragt werden, sondern ein Ausschnitt aus der Geschichte der Münchner Malerei desselben Jahrhunderts. Zwar lässt sich die Semantisierung des Bildformats im Münchner Künstlermaterialienhandel sehr viel später erst ablesen als in Frankreich: die erste bekannte Angebotsliste für Vorräthige gespannte Rahmen offerierte in München die Firma C. Kreul im Jahr 1880. Das Angebot unterscheidet nur nach Größen und Preisen. Erst der Kgl. Hoflieferant F. Schachinger unterteilte um 1914 sein Angebot in „Porträtformat“ und „Landschaftsformat“.50 Doch für eine (offene) Ikonografie des Formats ist die Münchner Malerei des 19. Jahrhunderts womöglich spannender als die Pariser Situation.

C arl S pitzwegs B ildträger Wie Firmenstempel auf der Rückseite von einigen Leinwandbilder belegen, war Spitzweg Kunde von August Stutzmann, der 1844 sein Geschäft für Malleinen in der Münchner Neuhauserstraße aufgemacht hatte51 und von Beginn an vorgrundierte Leinwände verkaufte.52 Jens Christian Jensen führte sieben Bilder aus der Sammlung Schäfer an, die nachweislich auf Fabrikate dieser Münchner Firma gemalt wurden.53 Bei Einrechnung der zu tolerierenden Abweichung dürften Don Quijote und Sancho Pansa sowie Der abgefangene Liebesbrief mit ihren Maßen von 32,5 x 53,6 beziehungsweise 54 x 32,2 Zentimetern annähernd dem Standardmaß entsprechen, das die Pariser Firmen Lefranc & Cie. und Bourgeois 1883 und 1889 beziehungsweise 1888 als das im Verhältnis von Höhe zu Breite breiteste Format

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Abbildung 1: Carl Spitzweg, Der abgefangene Liebesbrief, um 1855, Ö/L, 54 x 32,2 cm, Schweinfurt, Museum Georg Schäfer

Quelle: Jensen 2002, S. 119

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für Seestücke angeboten hatten: 55 x 32,5 beziehungsweise 55 x 33 Zentimeter (Abb. 1). In der 1855 gedruckten Liste von Lefranc & Cie. ist ein derart überbreites respektive steiles Format noch nicht im Angebot. Sehr breit, entsprechend dem breitesten Marineformat Lefrancs mit einer Seitenlänge von 40,5 Zentimetern, ist der Porträtmaler (22,1 x 40,3 Zentimeter). Gemäßigter im Format sind die verbleibenden Schweinfurter Bilder, die nachweislich auf Leinen August Schutzmanns gemalt wurden: Dirndl und Jäger im Gebirge (37,9 x 30,4 Zentimeter) nähert sich der Nummer 5 der normalen Größen auf Lefrancs Liste des Jahres 1855. Drei weitere Gemälde, ebenfalls aus dem Spätwerk,54 liegen in ihren Dimensionen bei einem Maß von ca. 30 x 23 Zentimetern, die sich nur ungefähr bei Lefranc und Bourgeois unter der Rubrik „Portrait“ beziehungsweise „Figure“ wiederfinden. Das von Spitzweg ab der Mitte der 1840er Jahre geführte Verkaufsverzeichnis seiner Gemälde55 gibt häufig Hinweise auf das jeweilige Format, und das wird bei steilen Formaten denn auch gesondert betont. „[Ü]berhöht groß“, „aufst. Format“, „überhöht“, „sehr überhöht“, „größtest [!] Höhenformat“, „hohes Format“, „höchstes Format“ sind die entsprechenden Formulierungen.56 Seltener sind breite Formate eigens vermerkt („länglich“, „längl. Format“, „länglicheres Format“, „langes Format“, „längstes Format“57). In den späteren Eintragungen des Verkaufsverzeichnisses häufigen sich derartige Informationen. Siegfried Wichmann machte darauf aufmerksam, dass Spitzwegs Verkaufsverzeichnis nicht die Entstehungszeit der Bilder dokumentiert, sondern den Zeitpunkt des Verkaufs (oder Rückkaufs), dass deshalb auch Bilder zu einem bestimmten Datum aufscheinen, die Jahre, ja Jahrzehnte vorher gemalt worden waren.58 Die Häufung von formatmäßigen Anomalien in den Notizen ab der Mitte der 1850er Jahre ist aber in jedem Fall ein Indiz dafür, dass solche Anomalien des Bildformats jetzt gesteigerte Bedeutung für Spitzwegs Blick auf seine eigene Kunst bekamen. Bei diesen Gemälden verwendete Spitzweg, soweit er auf malfertig grundierte und auf Keilrahmen gespannte Leinwände zurückgriff, wohl häufiger diejenigen, die unter den Fomaten für Seestücke von Lefranc und Bourgeois als die im Verhältnis breitesten respektive höchsten verkauft wurden. Für die in Breite und Höhe extremen Formate Spitzwegs findet sich hingegen nichts Vergleichbares im Angebot der Pariser Händler, und man darf sicher davon ausgehen, dass er solche auch bei seinem oder seinen Münchner Händlern nicht vorgefertigt erwerben konnte – das gilt gleichermaßen für vorpräparierte Papiere und für Malpappen, die er von den Münchner Firmen Schachinger und Hermann bezog.59 In solchen Fällen wird Spitzweg Papiere und Pappen entsprechend zugeschnitten haben. Eine besondere Vorliebe hatte der passionierte Zigarrenraucher Spitzweg für Zigarrenkistenbretter, bevorzugt für die der Zigarrenfabrik Upmann (die von Spitzweg erstmals 1879 in seinem Verkaufsverzeichnius als Bildträger ausgewie-

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senen „Upman Brettln“).60 Das um 1850 gemalte Bildchen mit dem Gratulanten dürfte das früheste bekannte Beispiel sein.61 Spitzweg malte nicht nur auf die Deckel, sondern gelegentlich auf die Seitenteile von Zigarrenkisten, die mit ihrem extremen Quer- oder Hochformat eine besondere kompositorische Herausforderung darstellten.62 Der Sparsamkeit des knausrigen Spitzwegs wird man die Wahl solcher Bildträger nicht zuschreiben dürfen. Dieses vorgebenene überbreite oder „überhöhte“ Format bot Spitzweg „ikonographische Gelegenheiten“: Die Spannung zwischen dem Bettelmusikanten (Abb. 2), der ganz unten nach beendetem Klarinettenspiel seinen Zylinder mit der Bitte um eine Entlohung hebt, und dem Bürger, der ganz oben – empört über die Störung oder vielleicht doch von der musikalischen Darbietung angetan – den mit der Zipfelmütze bedeckten Kopf aus dem Fenster streckt, wäre eine andere oder wäre keine, wenn die Beziehung Musiker und Bürger nicht in das extrem hohe Format eingeschrieben wäre. Eine Studie für das Gemälde malte Spitzweg auf das Seitenteil einer Zigarrenkiste. Als er die Studie in ein ausgeführtes Gemälde übersetzte, verstärkte er die gespannte Beziehung zwischen unten und oben, unter anderem indem er sie in der langen Klingelschnur nochmals thematisierte und indem er die radikalen Proportionen des Zigarrenkistenbrettchen weiter radikalisierte (von einem Verhältnis von Höhe zu Breite von 2,83 in der Studie zu 3,16 in der ausgeführten Holztafel). Noch extremere Formate gewann Spitzweg, indem er Fächer zerschnitt und die extrem schmalen Fächerblätter auf Holz klebte.

Abbildung 2: Carl Spitzweg, Der Bettelmusikant, um 1880, Ö/H, 41,1 x 13 cm, München, Neue Pinakothek

Quelle: Wichmann 2002, S. 577

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Es waren kompositorische Herausforderungen, und es waren deutliche Manifestationen einer Thematisierung des Formats und seiner Interaktion mit der Ikonografie des jeweiligen Bildes. Für die „Zweifachthese“ gibt es kaum überzeugendere Belege als die überbreiten, noch mehr: die überhohen Bildchen Spitzwegs, weil sie nicht nur hinreichend klein, damit überschaubar, sondern sehr klein sind. Weil leicht übersehbar, sind sie unübersehbar. Und in der Interaktion mit dem, was im Bild gezeigt ist und wie es gezeigt ist, hat Spitzweg diese Formate sprechend gemacht. In den späten Schaffensjahren Spitzwegs erschien Gustav Theodor Fechners Vorschule der Ästhetik, die erstmals das Format zum Gegenstand einer neuen, experimentellen Ästhetik machte. Wie oben schon notiert, hatten die Befragungen Fechners ergeben, dass – eingerechnet der Faktoren Alter, Bildungsgrad, Geschlecht – Rechtecke, die entsprechend dem Goldenen Schnitt konstruiert sind, von der Mehrzahl der Befragten bevorzugt und von der Minderzahl der Befragten als unschön zurückgewiesen wurden.63 Das überhöhte Format wurde nicht ästimiert. Eine von Fechner als gebildet vorgestellte weibliche Versuchsperson bezeichnete überhöhte Formate als „leichtsinnige Formen“.64 In diesem Sinne empfand später auch der Architekt und Stadtplaner Theodor Fischer in einem seiner Vorträge über Proportionen das Hochrechteckormat 2:1 als „übermütig“.65 Carl Spitzweg bemalte mit Vorliebe „leichtsinnige“ und „übermütige“ Bildfelder.

U nbegrenzte Weite – L angeweile Unter den Münchner Malern des 19. Jahrhunderts enwickelte Eduard Schleich ab den 1850er Jahren eine besondere Vorliebe für das gedehnte Querformat. Ein frühes Beispiel besitzt das Museum Georg Schäfer in der Oberbayerischen Landschaft mit ferner Gebirgskette66. Der Himmel dominiert mit einem Anteil von zwei Dritteln der Fläche das Bild und trägt maßgeblich dazu bei, dass das Bild nach den Seiten zu unabgeschlossen wirkt. Unbegrenztheit wird gerne dem überbreiten Bildformat zugeschrieben. Doch das ist keineswegs notwendig so. Ein beliebiges Kontrastbeispiel: Ferdinand Hodlers drei Fassung des Tages in Bern (1899–1900), in Zürich (1904–1906) und in Luzern (1909–1910) sind in ihrer Dehnung ähnlich radikal wie das Gemälde des bayerischen Landschaftsmalers, die Kompositionen aber schreiben die Frauen und ihre Körpersprache in eine Rundung ein, die das Bildfeld harmonisch abschließt, also gerade das Gegenteil der Suggestion eines Verlaufens des Bildes über seine seitlichen Grenzen hinaus vermittelt. Die Semantik auch des breitgedehnten Formats steht nicht a priori fest. Erst in der Interaktion mit der formalen und inhaltlichen Konstellation im Bildfeld kann auch die Dimensionalität des Bildfeldes sprechend werden. Schleichs Oberbayerische Land-

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Abbildung 3: Eduard Schleich d. Ä., Am Ammersee, um 1865–70, Ö/H, 127,5 x 260 cm, München, Neue Pinakothek

Quelle: Zeitler, Rudolf: Die Kunst des 19. Jahrhunderts. Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 11, Berlin 1966, Abb. XVII

schaft mit ferner Gebirgskette bringt das überbreite Format zum Sprechen; Hodlers Versionen des Tages lassen es anders sprechen.67 Aus weiter Ferne ist im Hintergrund von Schleichs Landschaft die Gebirgskette zu sehen. Die Alpengipfel lockern den Breitenzug und seines Formats respektive des Formats und seiner Landschaft nur geringfügig auf, verstärken eher das Offene der Komposition. Nur dezent hat der Künstler Elemente der Zentrierung und der Stabilisierung nach den Rahmengrenzen zu eingebaut. Annähernd die Mitte des Gemäldes belebt eine Bäuerin und ein Bauer – sie auf dem Boden ausruhend, er pflügend – das Bildzentrum, Figuren, die so weit entfernt sind, deshalb so klein aufgenommen sind, dass der zentrierende Effekt sehr diskret bleibt. Das gilt auch für Gebüsch und Wald, die links und rechts die Komposition festigen, ohne den über die Rahmengrenzen hinaus suchenden Blick allzu sehr abzubremsen. Die Oberbayerische Landschaft mit ferner Gebirgskette ist ein vergleichsweise kleines Bild. Später wird Schleich selbst in großen Bildern derart gedehnte Formate einsetzen und ikonografisieren. Das Gemälde der Neuen Pinakothek, München Am Ammersee (Abb. 3) beispielsweise besitzt mit seinen 127,5 auf 260,0 Zentimetern eine Breite, die mehr als das Doppelte der Höhe ausmacht. Ein einsames Ruderboot im vom Schilf eingefassten Gewässer, dahinter der See als intensiver Blaustreifen, dahinter wiederum die Gebirgskette und darüber der nicht ganz zwei Drittel der Bildfläche beanspruchende wolkenreiche Himmel. Akzentlos läuft die Landschaft auf die seitlichen Bildränder zu. Dem am Uferbereich schilfbewachse-

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nen Ammersee gab Schleich diesmal keine rahmenverstärkenden Elemente mit. Der Blick des Bildbetrachters wird ungebremst über die seitlichen Rahmengrenzen hinausgeführt. Diskrete Gegenkraft ist auch hier die Zentrierung, die der Ruderer auch koloristisch leistet, sowie die Ballung dunklerer Wolken in der Bildmitte. In kleinformatigen Arbeiten Schleichs kann die Relation von Höhe zu Breite noch radikaler ausfallen. Auf dem Holztäfelchen mit der Flachlandschaft mit Mühlen ist das Teilungsverhältnis von Breite durch Höhe 2,44 Zentimeter und fast 2,6 in der Gewitterstimmung am Ammersee. Der Blick auf ein Gehöft und die Kühe am Fluss – beide 2017 auf einer Auktion angeboten – sind noch weiter gedehnt: 2,92 und 3,24 im Verhältnis von Breite zu Höhe. Die kompositorischen Mittel der Zentrierung sind auch in diesen überbreiten Bildern klug eingesetzt, damit das Bild sich nicht ganz verliert, das Bild als ein sinnvolles Ganzes erfahren werden kann und trotzdem rahmenoffen bleibt. Siegfried Wichmann hat überzeugend in dem von ihm als „Handtuchformat“ benannten extremen Querrechteck bei Eduard Schleich d. Ä. Bezüge festgestellt zu der seit ihrer englischen Erfindung durch Barker im späten 18. Jahrhundert68 die Bildwahrnehmung revolutionierenden Panoramamalerei. Christian Morgenstern, der eine Ausbildung als Panoramamaler durchgemacht hatte, bevor er nach München übersiedelte, beeinflusste Schleich nachdrücklich.69 Daguerre wird mit seinen Dioramen, in denen breitformatige Fotografien sich zu einem panoramatischen Streifen zusammenfinden, vielleicht ebenfalls als Anregung wahrgenommen worden sein.70 Eduard Schleichs Oberbayerische Landschaft mit ferner Gebirgskette als frühes Beispiel eines extrem gedehnten Bildformats im Œuvre dieses Künstlers wird nicht zufällig um 1851 datiert: Paris war an der Formatvorliebe nicht unbeteiligt: 1851 hatte Schleich zusammen mit seinem Künstlerfreund Carl Spitzweg und dessen Bruder Eduard eine Parisreise unternommen, um dort die Industrieausstellung zu besichtigen. Daran schloss sich die Weiterfahrt nach London zwecks Besichtigung der Ersten Weltausstellung an. 1851 hatten Schleich und Spitzweg in der Pariser Industrieausstellung die Panorama-Kamera von Friedrich Mertens gesehen, die Weitwinkelaufnahmen im Format von 12 x 38 Zentimetern erlaubte.71 Die technische Neuerung wird den Eindruck auf die Künstlerfreunde verstärkt haben, den die Panorama-Malerei, aber eben auch die neueren französischen Landschaftsbilder und Seestücke insbesondere der Schule von Barbizon mit ihrer Bevorzugung überbreiter Formate gemacht haben müssen. Die von der Industrie für Künstlerutensilien vorgegebene Semantisierung der Bildformate antwortete, wie ausgeführt, auf einen kunsthistorischen Trend: Landschaften und Seestücke wurden bevorzugt in breitenbetonten Formaten gemalt, bevor um 1850 erste ikonografische Zuordnungen der genormten Leinwandgrößen

Das Format als „ikonographische Gelegenheit“

Abbildung 4: Carl Spitzweg, Auf der Bastei, um 1856, Ö/L, 21,2 x 49,5 cm, Privatsammlung

Quelle: Wichmann 2002, S. 409

angeboten wurden. Geht man davon aus, dass Bildformate nicht, wie Meyer Schapiro annahm, per se expressiv sind, sondern beschränkt man sich auf die Beschreibung von „ikonographischen Gelegenheiten“ (Jürgen Wiener), die bestimmte Themen nicht erzwingen, aber dazu geneigt machen, dann darf man auch über eine Semantik des Bildformats verhandeln?. Es kann nur eine offene Ikonografie sein. Selbst wenn man dem überbreiten Format ein Geneigtsein zum Weiten, Unbegrenzten zugesteht, eine Neigung, der sich Eduard Schleich sehr hingab, können diese Neigungen sich auch zu anderen Inhalten hin neigen. Ein im Verhältnis zur Höhe langgestrecktes Format konnte bei Spitzweg in der Interaktion mit dem, was das Format erlaubt/anstiftet, auch die lange Weile thematisieren. Mit 21,2 auf 49,5 Zentimetern ist die Leinwand, ein (zumindest in Hinblick auf die bislang bekannten Angebotslisten der Firmen für Künstlerbedarf nicht martktübliches) „Handtuchformat“, auf das Spitzweg den Soldaten malte, der Wache halten muss, obwohl die Friedenszeit die militärische Achtsamkeit hat überflüssig werden lassen (Abb. 4). Gestützt auf sein Gewehr mit aufgestecktem Bajonett steht die Schildwache auf einer Bastei, deren überwachsener Zustand davon zeugt, dass die militärische Funktion lange zurück liegt. Auf der aus der Luke ragenden Kanone sitzt ein Vogel, der sich in der Mündung des Geschützes sein Nest gebaut hat. Ob der Sinnlosigkeit seines Tuns gähnt der Wachtposten herzhaft. Das Gemälde ist im kompositorischen Aufbau, im Kolorit, als Erzählung selbstverständlich – selbstverständlich für Spitzweg – alles andere als langweilig, aber Langeweile ist Thema des Gemäldes. Das überbreite Format – in Landschaftsgemälden und Seestücken – gerne genutzt, um Weite, ja Unbegrenztheit auszudrücken, zeigt in diesem Ge-

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mälde die Weite des nicht tätig ausgefüllten Raumes und spricht von der Länge der sinnlos verrinnenden Zeit. Um 1840 hatte Spitzweg das Thema des auf der Bastei Wache stehenden, aus Langeweile gähnenden Wachtpostens bereits in der eben beschriebenen Weise behandelt. Wie es Spitzweg bei seinen erfolgreichen Bilderfindungen häufig tat, wiederholte und varierte er auch diese mehrfach. Von den acht in Wichmanns Werkkatalog verzeichneten Versionen weisen fünf ein überbreites Format auf. Bei zweien wählte Spitzweg eine hochrechteckige Malpappe beziehungsweise eine hochrechteckige Leinwand. Auch in diesen Varianten langweilt sich der Soldat und gähnt. Die Langeweile wird transportiert als figürlicher und physiognomischer Ausdruck. In den zuletzt genannten Versionen blickt der Wachtposten nach links. Das tut er auch in einer der fünf Darstellungen im „Handtuchformat“. Rechnet man die übliche Leserichtung von links nach rechts ein, dann ist in diesem Gemälde der Gähnende die Pointe, auf die das Bild zuläuft; in den Versionen mit dem links stehenden, nach rechts blickenden Soldaten läuft das Bild in den Ausblick auf die insignifikante Weite und in den monotonen Takt der Pfosten eines Zauns aus.

E nge – L eichtigkeit Überbreite Formate, für Eduard Schleich d. Ä. ab der Jahrhundertmitte ein wichtiger Bestandteil seines Œuvres, spielten auch im Werk Spitzwegs eine wichtige Rolle.72 Spitzweg kultivierte daneben ein „Handtuchformat“, das um 90 Grad gedreht war, also besonders steile, in der Terminologie Spitzwegs „überhöhte“ Formate. In welchem Maße das übersteile Hochformat im Werk Spitzwegs sprechend gemacht werden konnte, ist nicht unbemerkt geblieben, wenn es auch auffällig ist, dass der überwiegende Teil der umfangreichen Spitzweg-Literatur dem Phänomen keine sonderliche Aufmerksamkeit schenkt. Siegfried Wichmann, der das „Handtuchformat“ in den Werken Spitzwegs und seines Freundes Eduard Schleich eingehend thematisiert hat, betonte hinsichtlich der Wendung des überbreiten „Handtuch“-(formats) in die Vertikale, dass Spitzwegs überhohe Formate eine Möglichkeit gewesen seien, Ferne durch Höhe zu veranschaulichen. Doch was für eine Ferne ist es, wenn sie sich als eine aufgetürmte erweist? Jens Christian Jensen und Otto von Simson nahmen Spitzwegs Strategie, das überhöhte Format zum Miterzähler der Bilderzählung zu machen, genauer in den Blick. Der Bücherwurm (Abb. 5) ist eines der frühesten Bilder Spitzwegs, in denen er vielleicht als Antwort auf die überbreiten Formate seines Freundes Eduard Schleich d. Ä. überhöhte Formate bemalte. Eine Leiter hat der Bibliophile bestiegen, um Bücher aus den obersten Regalfächern der Bibliothek zu konsultieren.73

Das Format als „ikonographische Gelegenheit“

Abbildung 5: Carl Spitzweg, Der Bücherwurm, um 1850, Ö/L, 49,4 x 26,9 cm, Schweinfurt, Museum Georg Schäfer

Quelle: Jensen 2002, S. 105

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Abbildung 6: Carl Spitzweg, Die Ballonfahrt, um 1870, Ö/P, 47 x 26 cm, Privatsammlung

Quelle: Wichmann 2002, S. 488

Das Format als „ikonographische Gelegenheit“

Eines führt er sich nah (Kurzsichtigkeit?) ans Gesicht, ein anderes hält er in der Rechten, wieder andere hat er unter die Achsel und zwischen die Beine geklemmt – prekär für die Bücher, prekär auch für die Standsicherheit des Gelehrten. Sein Schatten, der sich auf der Bücherwand als Dreieck abzeichnet, markiert die Fallhöhe. Unsicher steht der Bücherwurm zwischen dem astronomisch Fernen (verdeutlicht vom Sternenglobus links unten74) und dem das Sichtbare, das Greifbare – kurz das materiell Wirkliche – reflexiv Übersteigenden. Die philosophische Metaphysik beschäftigt sich mit dem, was jenseits der Physis ist, und auf dieser Ebene der Reflexion ist auch der Bücherwurm, wie es die Beschriftung der Kartusche am Bücherregal belegt. Mehr noch als das spitze Dreieck des Schattens veranschaulicht das steile Format die ungesicherte Position desjenigen, den Gelehrsamkeit bodenlos gemacht hat. Die bereits im Schacht des Format (virtuell) veranschaulichte Möglichkeit/ Wahrscheinlichkeit des faktischen/intellektuellen Absturzes des Bücherwurms fand Simson zur „symbolischen Struktur“ verdichtet in der ebenfalls einem überhöhten Hochrechteck einbeschriebenen Ballonfahrt75 (Abb. 6). Die Seile, die die Gondel an den Ballon banden, haben sich gelöst; noch hält sich die Gondel im Zwischenzustand zwischen Aufsteigen und Fallen: trotz oder wegen des bärtigen Engels (oder: des geflügelten Wissenschaftlers76), der sich zum Ballonfahrer gesellt hat – nicht nur die gerissenen Seile, auch das Bildformat erzählt vom weiteren Schicksal dieses Ballonfahrers. Mit dem Hypochonder (Abb. 7) beschrieben Jensen und Simson, wie das beengte Format die Restriktionen des Begehrens ausdrücklich machen kann.77 Der Hypochonder (warum Hypochonder?) streckt aus dem Fenster seiner hochgelegenen Wohnung die Nase in den (morgendlichen?) Himmel. Doch der Blick ist gesenkt, und es spricht viel dafür, dass der Blick nach unten geht, hin zu dem noch künstlich erhellten Fenster weiter unten in der gegenüberliegenden Häuserzeile, hinter dem eine junge Frau näht. Das enge, schmale Bildformat bringt beide – den älteren Mann im Fenster, die junge Frau hinter dem Fenster – nahe und veranschaulicht zugleich in der Häuserschlucht, die zwischen beiden klafft, unüberwindliche Ferne. Doch keineswegs immer ließ Spitzweg das überhohe Format von Ängsten und Entsagung sprechen, manchmal genügt es, und bleibt eindrucksvoll, wenn Spitzweg dem Format nur Höhe und seitliche Begrenzung miterzählen ließ. Unter den „schmalen Landschaftsriemen“ Spitzwegs sind die radikalsten die oben bereits erwähnten, die er auf Fächerblätter (aufgeklebt auf Holzbrettchen) malte. Die Waldlandschaft (Abb. 8) hat die abnormen Maße von 38,5 x 4,8 Zentimetern.78 Max von Boehn war sicher im Recht, als er eine solche Formatwahl auch als Ausweis von Spitzwegs Humor und seines Ehrgeizes wertete („als habe er eine Preisauf-

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Abbildung 7: Carl Spitzweg, Der Hypochonder, um 1865, Ö/L, 54 x 31,4 cm, München, Schackgalerie

Quelle: Wichmann, Siegfried: Carl Spitzweg und die französischen Zeichner Daumier, Grandville, Gavarni, Doré, Ausst.-Kat., Haus der Kunst, München, 1985–1986, Herrsching 1985, S. 256

Das Format als „ikonographische Gelegenheit“

gabe lösen wollen“).79 Wie sieht die Lösung aus? Ein Steg führt von links her zu einem Waldpfad, der gegenläufig schräg nach links verläuft. Ein Reiter begegnet auf dem Pfad, der aus dem Wald geritten kommt. Wichmann beschrieb den Landschaftsgrund als „Waldschlucht“.80 Auszumachen ist eine Schlucht in der Waldlandschaft nicht. Sichtbar ist ein Streifen Waldes. Die Beschreibung als Schlucht ist hier allein dem Format geschuldet und eben deshalb in einem weitergehenden Sinne zutreffend. Das extreme Hochformat erzeugt seine eigene Ikonografie. Die seitlichen Begrenzungen verorten den Reiter so, wie es die Felswände einer engen Schlucht tun würden. Das übersteile Hochformat erzählt von sich her noch nicht von Beengtsein und Absturzgefahr, doch es macht zu solchen Erzählungen geneigt, wenn die Steilheit des Formats mit der spekulativen Höhe der in den Regalen einer Bibliothek einsortierten Literatur zur Metaphysik und der entsprechenden Position eines Bücherwurms assoziiert ist, oder wenn das „überhöhte“ Format mit der schwindelnden Höhe korrespondiert, in die ein Ballonfahrer aufsteigt, oder – wieder anders – die Nähe bei gleichzeitiger unüberwindbarer Ferne der begehrten Frau sichtbar macht. In allen genannten Fällen trägt das Bildformat bei zu dem Unheimlichen und dem Unfreien, das bei Spitzweg mit dem Komischen interferieren kann. Und – wie eben gesehen – das schmale und überhöhte Bildformat kann im entsprechenden Kontext etwas suggerieren – eine Waldschlucht beispielsweise –, ohne dass die Darstellung im schmalen Landschaftsriemen zu dieser Ikonografie explizit beitragen müsste. Doch das überhohe Format kann bei Spitzweg auch in existenziell, selbst in geografisch durchaus harmloser Weise Höhe zeigen, ohne die von Meyer Schapiro als Expression des steilen Formats per se gesetzte Enge abzubilden. Den Kindern und Vätern, die vor der Stadt auf einer Wiese ihre Drachen haben steigen lassen, droht keine Gefahr (Abb. 9). Mit diesem Kinderspiel verbindet sich nichts Unheimliches. Aber wie hoch die Drachen fliegen, wie schön es ist, die Schwerkraft im Spiel zu überwinden, das stellt das kleine Gemälde Spitzwegs nicht nur dar, das Bild in seinem Format ist diese Überwindung der Schwerkraft, ist diese Schönheit des Schwerelosen. Die offene Ikonografie des For-

Abbildung 8: Carl Spitzweg, Waldlandschaft, um 1870, Ö/Fächerblatt/H, 38,5 x 4,8 cm, Privatsammlung

Quelle: Wichmann 2002, S. 578

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Abbildung 9: Carl Spitzweg, Drachensteigen, um 1880, Ö/K, 38 x 12,2 cm, Berlin, Alte Nationalgalerie

Quelle: Wichmann 2002, S. 579

mats spielt ihr Spiel mit der Ikonografie der Darstellung, und wenn man beide nicht isoliert, sondern konzediert, dass beide sich inhaltlich allererst im Wechselverhältnis konkretisieren, dann kann man sagen, dass hier sich das Thema sein Format gesucht und dieses inhaltlich formatiert hat. Erst so liefert das überhöhte Bildformat nicht nur das Bildfeld für eine Darstellung von hoch aufsteigenden Gegenständen, sondern kann selbst bildlicher Ausdruck von Höhe werden. Nur von Höhe und verbunden damit von Offenheit, Freiheit in diesem Fall, nicht von Enge, die Meyer Schapiro zu den „Lokaleigenschaften“ des Bildfeldes deklariert hatte. Und so ist es auch, wenn Mädchen ihre Schürzen aufspannen, um das eben vom Klapperstorch gebrachte Kind aufzufangen, oder, wenn Schwalben auf einer Telegrafenleitung sitzen, hoch über einer Landschaft mit Dorf, mit Wiese, einem kleinen Teich und einer vom Rücken gesehenen weiblichen Figur (Abb. 10). Das schmale Format ist in solchen Fällen kein enges und kein die Bildwirklichkeit beengendes Format, es wirkt nicht wie ein Schacht und es erzeugt keine „Schlucht“. Spitzwegs Œuvre ist eine Fundgrube für Bilderzählungen, die viel schlechtere Erzählungen wären, wenn er das Format nicht soweit formatiert hätte, dass es miterzählen würde. Der Abgefangene Liebesbrief (Abb. 1) kommt aus dem Dachfenster und soll im Geschoss darunter bei der begehrten (auch hier nähenden) jungen Frau landen. Leider bemerkt die gestrenge Gouvernante die heimliche briefliche Annäherung, die insofern in eben diesem prekären

Das Format als „ikonographische Gelegenheit“

Zustand ist, in dem der Bücherwurm auf seiner Bücherleiter und die Ballonfahrer im Zustand der gekappten Seile sind. Die Ferne, die das Hochformat (und die Größenunterschiede von Jäger und Adler) zwischen Adlerjäger und Adler bringt, ist Zeichen für das hier waidmännische Begehren und die (vermutliche) Unmöglichkeit der Erfüllung. Die Unermesslichkeit des Weltalls, in das der Sternengucker durch sein riesiges Fernrohr hochguckt, deutet das Format an, und so wie sich der Sternengucker beugt, um zu gucken, wieviel Platz er im Bild dem Instrument des Guckens lässt, macht es die Hilflosigkeit des Unten gegenüber dem Oben deutlich. Und dann wieder die überzeugende Suggestion von Offenheit und Freiheit, die das steile Format auch vermitteln kann, ohne in irgendeiner Weise zu beengen. Die Bäuerin mit ihren beiden Kindern in einem Gemälde, das der alte Spitzweg auf ein Zigarrenkistenbrett malte (Abb. 11), erscheinen zu klein auf ihrem Weg zum Dorf, als dass sie sich in irgendeiner Weise eingezwängt fühlen müssten. Sie gehen auf einem breiten Weg, der den Blick weit über das Dorf in die Ferne lenkt; das Format bietet auch nach den Seiten zu hinreichend Platz, dass sich die Landschaft mit einem Gewässer, Büschen, Bäumen ausbreiten darf und der Himmel, der so großen Anteil am Bildfeld hat, macht die Landschaft ganz weit. Jacob Burckhardt hatte Recht; „Das Format ist nicht das Kunstwerk, aber eine Lebensbedingung desselben“.81 „Lebensbedingung“ suggeriert allerdings Eigentlichkeit des Formats, die es so nicht gibt. Meyer Schapiro hatte auch Recht: Das Bildformat kann sprechend werden, doch isoliert man mit Meyer Schapiro die eigentliche Sprache des Bildformats, gerät die Konkretisierung aus dem Blick, die Darstellung und Format wechselseitig vornehmen.

Abbildung 10: Carl Spitzweg, Die Schwalben, um 1880, Ö/H, 30,7 x 8,4 cm, Privatsammlung

Quelle: Wichmann 2002, S. 523

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Abbildung 11: Carl Spitzweg, Landschaft mit Dorf und mit Bäuerin und zwei Kindern, um 1875, Ö/H, 21 x 10,7 cm, Privatsammlung

Quelle: Wichmann 2002, S. 528

Das Format als „ikonographische Gelegenheit“

Posèqs Referenz auf Cassirers „symbolische Formen“82 entgeht dem Problem der vorschnellen Ikonografisierung des Bildformats, muss aber zu allgemein bleiben. Nochmals: Das Bildformat bedeutet nichts, aber es macht geneigt, und es ist dann nicht nur Vorgabe für, sondern Gegenstand, fallweise selber Thema von Kunst.

A nmerkungen 1 | Zum Begriff der „ikonographischen Gelegenheit“ Wiener, Jürgen: „Entführte Elemente. Ikonographische Gelegenheiten, Verlegenheiten und Vorwände der Raptusgruppen in Salzburg und Versailles“, in: Christian Hecht (Hg.), Beständig im Wandel. Innovationen – Verwandlungen – Konkretisierungen. Festschrift für Karl Möseneder zum 60. Geburtstag, Berlin 2009, S. 221–238, hier S. 221 ff. 2 | Vgl. Brömßer, Nico: „Rahmung – Bildkonstitition – Ikonische Differenz“, in: Stephan Günzel/Dieter Mersch (Hg.), Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2014, S. 279–285, hier S. 280. 3 | Gombrich, Ernst H.: Kunst & Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung (engl. 1960) (1967), Berlin 2002, S. 4 f. 4 | Pirenne, Maurice Henri: „Le lois de l’optique et la liberté de l’artiste“, in: Journal de psychologie normale et pathologique, 60.1963, S. 151–166, hier S. 156 f.; Pirenne, Maurice Henri: Optics, Painting & Photography, Cambridge 1970, S. 95 ff. 5 | Polany, Michael, „Was ist ein Bild?“ (engl. 1970), in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? (= Bild und Text, hg. v. Gottfried Boehm u. Karlheinz Stierle), München 1994, S. 148–162. 6 | Ebd., S. 148 f. 7 | Pirenne 1963, S. 156 f.; Pirenne 1970, S. 95 ff.; Polany 1994, S. 154; Wollheim, Richard: „Sehen-als, sehen-in und bildliche Darstellung“, in: Richard Wollheim, Objekte der Kunst (engl. 1980), Frankfurt a. M. 1982, S. 201. 8 | Boehm, Gottfried: „Die Wiederkehr der Bilder“, in: Boehm 1994, S. 11–38, hier S. 29 f. 9 | Pirenne markierte den Umstand deutlicher als Polany und Wollheim. Pirenne 1963, S. 156 f. 10 | Einen Überblick über die Diskussion gibt Krämer, Sybille: „Gibt es maßlose Bilder?“, in: Ingeborg Reichle/Steffen Siegel (Hg.), Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression, München 2009, S. 17–35, hier S. 22 ff. 11 | Puttfarken, Thomas: Masstabsfragen. Über die Unterschiede zwischen großen und kleinen Bildern, Hamburg 1971, S. 173 ff. 12 | Ebd., S. 31 f. 13 | Ebd., passim. 14 | Schapiro, Meyer: „Über einige Probleme in der Semiotik der visuellen Kunst: Feld und Medium beim Bild-Zeichen“ (engl. 1970), in: Boehm 1994, S. 253–274, hier S. 254; Sommer, Manfred: Von der Bildfläche. Eine Archäologie der Lineatur, Berlin 2016, S. 11 f. u. passim.

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Hans Körner 15 | Burckhardt, Jacob: „Format und Bild (1886, 2. Febr.)“, in: Emil Dürr (Hg.), Jacob Burckhardt. Vorträge (= Jacob Burckhardt: Jacob Burckhardt-Gesamtausgabe, Bd. 14), Stuttgart/Berlin/ Leipzig 1933, S. 361–371, hier S. 364. 16 | Ebd., S. 370. 17 | Schapiro 1994, S. 260. 18 | Fechner, Gustav Theodor: Vorschule der Ästhetik. Erster Theil, Leipzig 1876, S. 184. 19 | Selbstverständlich war Meyer Schapiro hinsichtlich der Frage nach der Expressivität des Bildformats an sich kein Einzelgänger. Zitiert seien nur noch Willi Baumeister – „Die bestimmte Größe eines Bildes gibt an sich bereits bestimmte Empfindungswerte“ (Baumeister, Willi: Das Unbekannte in der Kunst, Köln 1960 (2. Aufl.), S. 61) und Manfred Schneckenburger, für den feststand, dass „die absoluten Formate einen eigenen Ausdruckswert [besitzen; H. K.]“. Schneckenburger, Manfred: Das Bildformat. Geschichte und künstlerische Bedeutung vom Mittelalter bis zum Rokoko, Teil 1, Tübingen 1973, S. 3. 20 | Fechner I 1876, S. 200 f.; Fechner, Gustav Theodor: Vorschule der Ästhetik. Zweiter Theil, Leipzig 1876, S. 273 ff. (v. a. 292). Vgl. Schoot, Albert van der: Die Geschichte des Goldenen Schnitts. Aufstieg und Fall der göttlichen Proportion (1998 niederl.), Stuttgart/Bad Canstatt 2016 (2. Aufl.), S. 227. 21 | Posèq, Avigdor W. G.: The Lunette, Jerusalem 1974, S. 12–85. 22 | Die Kritik ist selbstbezüglich. In dem vom Verfasser mitherausgegebene Sammelband Format und Rahmen (Körner, Hans/Möseneder, Karl (Hg.): Format und Rahmen. Vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Berlin 2008) dominieren Rahmenfragen. Zurecht kritisiert von Karin Gludovatz: Gludovatz, Karin: Hans Körner/Karl Möseneder (Hg.): Format und Rahmen, http:// www.sehepunkte.de/2010/01/14776.html [10.09.2017]. 23 | Posèq bezüglich der im Israel des Jahres 1978 gängigen Verkehrsschilder. Posèq, Avigdor W. G.: Format in Painting, Tel-Aviv 1978, S. 26. 24 | Ebd., S. 25 f. 25 | Ebd., S. 26 f. Mit Berufung auf Ernst Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ sind für Posèq demgegenüber die Bildformate autonome „visual symbols“ für das im Bild Dargestellte. Ebd., S. 27 f. 26 | Callen, Anthea: The Art of Impressionism. Painting technique & the making of modernity, New Haven/London 2000, S. 16. 27 | Labreuche, Pascal: Paris, capitale de la toile à peindre. XVIIIe–XIXe siècle, Lassay-les-Château 2011, S. 72. 28 | Ebd., S. 73. 29 | O. V.: The Excellency of Pen and Pencil exemplifying the Use of them in the most Exquisite and Mysterious Arts […], London 1668, S. 94. Dazu Callen 2000, S. 18. 30 | Piles, Roger de: Les premiers éléments de la peinture pratique, Paris 1684, Nachdruck: Genf 1973, S. 53: „une toile de 20 sols.“ Dazu Callen 2000, S. 18; Labreuche 2011, S. 35.

Das Format als „ikonographische Gelegenheit“ 31 | Piles 1973, S. 63. 32 | Bouvier, Pierre Louis: Manuel des jeunes artistes et amateurs en Peinture (1832 Paris) 1844 Paris (3. Aufl.), S. 506 ff. Vgl. Bomford, David u. a. (with Contribution by Raymond White and Louise Williams): Art in the Making. Impressionism, Ausst.-Kat. London, The National Gallery 1990–1991, London 1990, S. 44. 33 | Bouvier 1844, S. 516: „L’on trouvre à acheter dans presque toutes les grandes villes des toiles tout imprimées […]. L’on peut aussi trouver facilement des toiles imprimées toutes tendues sur leurs châssis à clefs.“ Dt. Übers. Bouvier, Pierre Louis: Vollständige Anweisung zur Oelmahlerei für Künstler- und Kunstfreunde (1832 frz.), Halle 1838 (2. Aufl.), S. 337. 34 | Bouvier 1844, S. 516. 35 | Labreuche 2011, S. 35. 36 | Pernety, Antoine-Joseph: Dictionnaire portatif de peinture, sculpture et gravure, Paris 1757, Nachdruck: Genf 1972, S. 535. Vgl. Bomford u. a. 1990, S. 44; Callen 2000, S. 18. Zu der Liste des Savary Des Bruslons Labreuche 2011, S. 35, 38 f. 37 | Labreuche 2011, S. 39. Die jeweiligen Standardisierungen der Formate in den verschiedenen Ländern sind, wie Labreuche zeigte, ohne Bezug untereinander, da sie jeweils auf den lokalen Maßen basierten. Ebd. Zu den englischen Standardmaßen und ihren Bezeichnungen auch: https://www.npg.org.uk/research/programmes/artists-their-materials-and-suppliers/ three-quarters-kit-cats-and-half-lengths-british-portrait-painters-and-their-canvas-sizes1625-1850/1.-introduction [04.03.2018]. Einen Überblick über die Standardmaße in England vom späten 18. Jahrhundert bis 1892 geben Talley, Mansfield Kirby: Portrait Painting in England: Studies in the technical literature before 1700, London 1981, S. 250 und Townsend, Joyce H.: „The Materials and Techniques of J. M. W. Turner“, in: Studies in Conservation, Nr. 3, 39.1994 (August), S. 145–153, hier S. 147. 38 | Mayer, Ralph: A Dictionary of Art Terms and Techniques, London 1969, S. 60. 39 | Gioli, Antonella: „Materiali industriali per la pittura dell’Ottocento“, in: Effetto luce. Materiali, tecnica, conservazione della pittura italiana dell’Ottocento. Atti del convegno, Firenze, 12–13 novembre 2008, Florenz 2009, S. 51–64, hier S. 56. 40 | Labreuche erwähnte eine Angebotsliste der Firma Lefranc & Cie. von 1848. Labreuche 2011, S. 300. Inwieweit diese Liste die Differenzierung der Angebotsliste dieser Firma von 1855 schon vorwegnimmt, konnte ich nicht überprüfen. 41 | „Toiles pour marines et paysages“. Haaf, Beatrix: „Industriell vorgrundierte Malleinen. Beiträge zur Entwicklungs-, Handel- und Materialgeschichte“, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 2/1.1987, S. 7–71, hier S. 12; Bomford u. a. 1990, S. 45. 42 | Bomford u. a. 1990, S. 46. 43 | Haaf 1987, S. 14. 44 | Sterling, Charles/Adhémar, Hélène: La peinture au Musée du Louvre. École française XIXe siècle, 4 Bde., Paris 1958–1961.

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Hans Körner 45 | Zarobell, John: „Marine Painting in Mid-Nineteenth Century France“, in: Juliet Wilson-Bareau/David Degener (Hg.), Manet and the Sea, Ausst.-Kat. Chicago, The Art Institute u. a. 2003–2004, Philadelphia 2003, S. 17–33, hier S. 17. 46 | Mit dem Begriff „Handtuchformat“ bezeichnete Siegfried Wichmann überbreite, aber auch überhohe Bilder Schleichs und Spitzwegs. U. a. Wichmann, Siegfried: „Das extreme Rechteck als Bildformat in der Münchner Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert“, in: Die Münchner Schule 1850–1914, Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst, 1979, München 1979, S. 35–45, hier S. 35; Wichmann, Siegfried: Meister, Schüler, Themen. Münchner Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert, Herrsching 1981, S. 114. Zur Herkunft des Begriffs Brückner, Wolfgang: Elfenreigen, Hochzeitstraum. Die Öldruckfabrikation 1880–1940, Köln 1974, S. 21 ff. 47 | Zu Van Goghs freiem Umgang mit der „Ikonografie“ der Bildformate Hendriks, Ella/ Geldorf, Muriel: „Van Gogh’s Antwerp and Paris picture supports (1885–1888): reconstructing choises“, in: Art Matters 2.2005, S. 39–75, hier S. 49. 48 | Hendriks/Geldorf 2005, S. 42. 49 | Hoenigswald, Ann: „Manipulating Paint“, in: Studying Nature. Oil Sketches from the Thaw Collection, Katalog des Museums, New York, Morgan Library & Museum, 2011, New York 2011, S. 9–23, S. 13. 50 | Haaf 1987, S. 15. 51 | Ebd., S. 19. 52 | Wehlte, Kurt: Werkstoffe und Techniken der Malerei (1967), Ravensburg 1985 (5. überarb. Aufl.), S. 38. 53 | Jensen, Jens Christian: Carl Spitzweg. Gemälde und Zeichnungen im Museum Georg Schäfer, Schweinfurt, Ausst.-Kat., Schweinfurt, Museum Georg Schäfer 2002, München u. a. 2002, S. 316. 54 | Den Strickenden Mönch beurteilte Jensen allerdings als frühes, von anderer Hand überarbeitetes Werk. Jensen 2002, S. 291. 55 | Wichmann, Siegfried: Carl Spitzweg. Kunst, Kosten und Konflikte, Frankfurt a. M./Berlin 1991, S. 13. 56 | Zit. nach: ebd., S. 319, 324, 331, 333, 336, 337, 338, 339, 340, 341, 342, 343, 344. 57 | Zit. nach: ebd., S. 321, 338, 339, 341. 58 | Ebd., S. 10. 59 | Jensen 2002, S. 316. 60 | Auch Schleich d. Ä. nutzte für seine Skizzen Zigarrenkistenholz. Pecht, Friedrich: Deutsche Künstler des neunzehnten Jahrhunderts. Studien und Erinnerungen, 4. Reihe, Nördlingen 1885, S. 218. 61 | Wichmann, Siegfried: Carl Spitzweg. Verzeichnis der Werke. Gemälde und Aquarelle, Stuttgart 2002, S. 206. 62 | Jensen 2002, S. 316. 63 | Fechner I 1876, S. 191 ff.

Das Format als „ikonographische Gelegenheit“ 64 | Ebd., S.198. 65 | Schneckenburger 1973, S. 3. 66 | Rödiger-Diruf, Erika: „Eduard Schleich d. Ä. – ein Abriß seiner künstlerischen Entwicklung“, in: Spitzweg – Schwind – Schleich, Ausst.-Kat. Karlsruhe, Prinz-Max-Palais 1984, Karlsruhe 1984, S. 64–68, hier S. 67. Zu diesem Gemälde und seinem extremen Format: Spitzweg – Schwind – Schleich, Ausst.-Kat. Karlsruhe, Prinz-Max-Palais 1984, Karlsruhe 1984, S. 147 f. 67 | Nicht besprochen werden kann in diesem Zusammenhang die Beziehungen des überbreiten Tafelbildformats zum Fries. Dazu Kvech-Hoppe, Ulrike: Der Fries im 19. Jahrhundert. Ästhetische und gattungsspezifische Aspekte einer Kunstform, Weimar 2001, S. 78 ff. 68 | Oettermann, Stephan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt a. M. 1980, S. 7. 69 | Wichmann 1979, S. 45. 70 | Ebd., S. 40. 71 | Wichmann 1981, S. 114. 72 | Mit Friedrich Voltz bevorzugte ein weiterer Freund Schleichs ab den 1850er Jahren überbreite Bildformate (für seine Landschaften mit Vieh). Dazu schon 1887 Rosenberg, Adolf: Die Münchener Malerschule in ihrer Entwicklung seit 1871, Hannover 1887, S. 10. 73 | Zum folgenden Jensen, Jens Christian: Carl Spitzweg. Zwischen Resignation und Zeitkritik, Köln 1975, S. 122; Simson, Otto von: Der Blick nach Innen. Vier Beiträge zur deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts, Berlin 1986, S. 52; Jensen 2002, S. 104. 74 | Es ist kein Modell der Erdkugel, somit nicht Symbol des Irdischen, wie von Otto von Simson behauptet. Simson 1986, S. 52. 75 | Ebd. Dazu in diesem Sinne Jensen 1975, S. 122. 76 | Diese Deutung bei Elsen, Alois: Carl Spitzweg, Wien 1948, S. 138 f. 77 | Jensen 1975, S. 95; Simson 1986, S. 54. 78 | Wichmann 2002, S. 488, Nr. 1306. 79 | Boehn, Max von: Carl Spitzweg (= Künstler-Monographien, begründet v. H. Knackfuß, Bd. 110), Bielefeld/Leipzig 1924, S. 112, 114. 80 | Wichmann 2002, S. 488, Nr. 1306.

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Glasmalerei des Historismus im Rheinland Die Situation nach Weltkriegen und Bildersturm der Nachkriegszeit Iris Nestler Eine wissenschaftliche Untersuchung der Glasmalerei des 19. Jahrhunderts im Kern des sogenannten Rheinlandes um Köln impliziert Faktoren, deren Berücksichtigung Voraussetzung ist für ein Verständnis und ein Einordnen hinsichtlich verhältnismäßig weniger in situ befindlicher Werke. In ihrer umfassenden Publikation von 1997 über die europäische Glasmalerei zwischen 1780 und 1870 weist Elgin Vaassen auch kurz auf die rheinischen Werkstätten und die in Köln sowie in der damaligen preußischen Rheinprovinz ansässigen Künstler hin.1 Eine Bearbeitung der Einflüsse und gegenseitigen Wechselwirkungen hinsichtlich der Produktionsstätten und ihrer Künstler, der Motivik und Stilistik, der Technik, des Niedergangs bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges und der Erfassung des In-situ-Bestandes steht jedoch aus. Angesichts des ursprünglichen, sehr umfangreichen Bestandes an Glasmalereien des 19. Jahrhunderts vor dem Zweiten Weltkrieg – vor allem im Kern des Rheinlandes – und ihrer Eliminierung während sowie besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, stellt sich unweigerlich folgende Frage: „Warum gerade hier dieser Bildersturm mit solcher Vehemenz?“2 Dominik M. Meiering zitiert in diesem Zusammenhang den Psychoanalytiker Alfred Lorenzer, der schreibt: „Weder die Bilderstürmer der Reformation noch die der Revolution haben ähnlich systematisch Hand an den Sakralraum gelegt und sind dabei so bedenkenlos (ohne theologische oder politische Legitimation) kaltblütig ans Werk gegangen.“3

Aspekte wie die Krise des Historismus schon seit Ende des 19. Jahrhunderts, die Instrumentalisierung künstlerischer Tendenzen des 19. Jahrhunderts im Nationalsozialismus, die unter anderem daraus folgende Ablehnung und Zerstörung dieser Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg, die akademisch geförderte enorme Präsenz

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moderner künstlerischer Entwicklung auf dem Gebiet der bau- und architekturgebundenen Kunst vor allem im Rheinland sowie die Neuorientierung des Klerus nach dem II. Vatikanum auch hinsichtlich der Gestaltung von Sakralräumen haben die heutige Situation geprägt, die der Denkmalpflege überantwortet ist.4 Die Kritik am Historismus zieht sich durch das gesamte 20. Jahrhundert mit Ausnahme der Nazizeit. Nikolaus Keusch schreibt: „Kurz nach dem Untergang des Nationalsozialismus fasste [der Philologe Victor] Klemperer seine sprachwissenschaftlichen Beobachtungen über die Rhetorik im deutschen Faschismus in seiner Studie, Lingua Tertii Imperii’ (LTI), die Sprache des, Dritten Reiches‘, zusammen. Dabei definierte er als einer der ersten die Barbarei des Nationalsozialismus als Endpunkt einer Traditionslinie, die in der deutschen Romantik ihren Anfang genommen hätte. […] Die nationalsozialistische Bezugnahme auf die geistesgeschichtliche Tradition der romantischen Bewegung fungierte fortan als schwer abzustreitender Filter im Umgang mit der deutschen Romantik.“5

Darüber hinaus erwuchs eine generelle – verständlicherweise emotionale – und nicht mehr differenzierende Ablehnung historisierender Kunst des 19. Jahrhunderts, die bis weit in die 1980er-Jahre hinein reicht. Peter Schmidt erwähnt 2016 die Sicherung mittelalterlicher Scheiben während des Zweiten Weltkrieges und vergleicht: „Dagegen waren die meisten an Ort und Stelle verbliebenen Scheiben des 19. Jahrhunderts zugrunde gegangen. Dieser Verlust wurde häufig nicht als schmerzlich empfunden, galt die Glasmalerei des Historismus doch weithin als künstlerischer Tiefpunkt. Ihre Erzeugnisse durch zeitgemäße neue Formen zu ersetzen, sah man vielerorts als Chance.“6

Deutlich wird dies anhand der Situation in Xanten und Aachen. In einem Brief des Xantener Kustos van Bebber an den Pfarrer der Evangelischen Kreuzkirche Berlin, Dr. Krüger, vom 25. September 1985 heißt es hinsichtlich der Fenster des Doms St. Viktor von Friedrich Stummel aus den 1880er-Jahren: „Wenn ich eingangs sagte, daß die historischen Glasmalereien gerettet wurden, so trifft dies nicht auf die Fenster des 19. Jahrhunderts, einschließlich des großen Westfensters, zu. Die Kunst des 19. Jahrhunderts wurde seinerzeit nicht für besonders wertvoll gehalten und man verzichtete 1944 auf den Ausbau. Diese Fenster sind restlos der Vernichtung anheim gefallen und wurden im Verlaufe der Wiederaufbauarbeiten durch moderne Glasfenster ersetzt.“7

Glasmalerei des Historismus im Rheinland

Genauso verfuhr man mit den Glasmalereien des Peter von Cornelius und Alexander Teschner in der Chorhalle des Aachener Doms sowie mit den Fenstern des Ulmer Münsters von Fritz Birkmeyer aus den 1870er-Jahren, die im Gegensatz zu den mittelalterlichen Scheiben auch bewusst nicht ausgebaut und 1944 durch die Druckwellen der Bomben im Umfeld des Münsters zerstört wurden.8 In seiner Publikation über die Freiburger Glasmalerei des 19. Jahrhunderts zitiert Daniel Parello den Kunsthistoriker Kurt Bauch, der 1935 in einem Brief an den Freiburger Bürgermeister schreibt: „Die Glasmalerei des 19. Jahrhunderts, die von bürgerlicher und klerikaler Seite gestützt, sich allem Neuen und Fortschrittlichen entgegenstellte, [besitzt] weder jetzt noch künftig, weder künstlerisch noch geschichtlich irgendeine Bedeutung.“9 Als eine der modernen Kunst ebenso zugehörige und als solche akademisch gelehrte Disziplin hat auch die architekturgebundene Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg einen bedeutenden Anteil am Erneuerungswillen in katholischen wie evangelischen Sakral- und Profanräumen. Die nicht erst nach 1945 pathologisch empfundene und mit dem dunkelsten aller deutschen Kapitel verbundene historistische Glasmalerei hat besonders im Rheinland ihre Feinde – bis heute. Gerade hier ist mit einer überbordenden Fülle an modernen Impulsen auch in der architekturgebundenen Kunst die Kritik an einer dem Eklektizismus verhafteten Glasmalerei besonders groß. „Bei allem Respekt vor dem Willen des Stifters und auch der artistischen Leistung der Künstler und trotz der Würdigung dieser Stücke als Zeitdokument, bleibt nicht zu verhehlen, daß diese Fenster wirkliche Fremdkörper im Dom sind. Das gilt sowohl in bezug auf ihren Maßstab, als auch in bezug auf ihre brutale Farbigkeit. Es ist unvorstellbar, daß die ganze Wand des Südschiffs wieder mit diesen Bildwänden geschlossen werden sollte“10 (Abb. 1),

so konstatiert der Kölner Dombaumeister Willy Weyres vor dem Wiedereinbau der Bayernfenster im Jahr 1950. Die ablehnende Haltung gegenüber der Glasmalerei des 19. Jahrhunderts legt sich erst in den 1990er-Jahren, als unter Dombaumeister Arnold Wolff 1994 in Köln die Rekonstruktionen des Paulusfensters von 1864 aus der Münchner königlichen Glasmalereiwerkstatt von Ainmiller im südlichen Querhaus und die ab 1996 bis 2016 andauernde Rekonstruktion der zerstörten Fenster von Johannes Klein im Nord- und Südturm sowie derjenigen von Michael Welter im Obergaden des Quer- und Langhauses durchgeführt werden. Bleibt also nun, die verhältnismäßig geringe noch vorhandene Anzahl an herausragenden, in situ erhaltenen Werken historistischer Glasmalerei im Rheinland – zunächst exemplarisch – genauer zu betrachten.

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Abbildung 1: Heinrich von Heß, Königliche Glasmalereiwerkstatt München: Anbetung der Könige, südliches Seitenschiff Kölner Dom, 1844–48

Fotografie: Iris Nestler

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Der Kölner Dom ist – das darf mit Fug und Recht behauptet werden – Dreh- und Angelpunkt für eine weiterführende Untersuchung rheinischer Werke des Mediums Glas und seiner Gestaltung im Kirchenfenster des 19. Jahrhunderts. Letzten Endes als ein als Gesamtkunstwerk des Historismus zu betrachtendes Nationaldenkmal hat dieses Bauwerk und seine Ausstattung gerade ab Mitte des 19. Jahrhunderts enorme Strahlkraft.11 Entsprechend seiner damaligen Bedeutung mehr als Wahrzeichen eines neuen politischen Denkens denn als Ausdruck und Symbol des Glaubens in einer Zeit des Kölner Kirchenstreits, fungieren Bau und Ausstattung als Maßstab für die Sakralkunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Doch hinsichtlich der Glasmalerei steht der Kölner Dom keineswegs solitär. Die Fenster der königlichen Glasmalereiwerkstatt München für den Regensburger Dom entstanden bereits ab 1829 und bilden den Auftakt für eine ganze Reihe von Werken der Glasmalerei höchster Qualität, die damals Maßstab für eine Neuentwicklung dieses Mediums in Europa sind. Wie die Südfenster des Kölner Doms eine Stiftung des bayerischen Königs Ludwig I., stellen sie eine Anregung für Europas Adel dar, ähnliche Aufträge zu initiieren. So ist der umfangreiche, sehr gut erhaltene und prächtige Zyklus der Langhausfenster der Brüsseler Kathedrale St. Michael und St. Gudula ein Auftrag des belgischen Königs Leopold I.. Ausgeführt von dem belgischen Künstler Jean-Baptiste Capronnier in den Jahren 1869/70 sind diese Glasmalereien hinsichtlich ihrer Vorbildfunktion, neben den Werken des Münchner Künstlers Heinrich von Heß für die Allerheiligenhofkirche, die Mariahilfkirche in München neben den Regensburger Fenstern und denjenigen im Kölner Dom, ebenfalls nicht zu unterschätzen.12 Hinsichtlich der Motivik ist zu betonen, dass zwar die Architekturrahmung der Bayernfenster dem späten Mittelalter entlehnt ist, die Kompositionen innerhalb der Rahmung jedoch eklektizistisch auf Kunstwerke der Renaissance, des Barocks und des Rokoko bis hin zu Porzellanfiguren von Johann Joachim Kändler zurückgehen.13 Leonardo da Vincis Abendmahl sowie Kopfstudien aus Raffaels Gemälde Die Grablegung (Villa Borghese, Rom) werden im Beweinungsfenster ebenso zitiert wie die Pietà von Giovanni Bellini.14 Keineswegs bleiben die Kompositionen des Fensters Unikate, die nur für den Kölner Dom bestimmt waren. Gerade die Beweinungsszene findet man bis auf eine unterschiedliche Kopfdrehung exakt deckungsgleich wiedergegeben in einem Fenster für das Oratorium des Schlosses Hohenschwangau, ausgeführt von Christian Heinrich Burckhardt 1865 in seiner 1851 gegründeten eigenen Werkstatt.15 Im gleichen Jahr 1865 produziert seine Werkstatt die meisterhaften und noch erhaltenen Chorfenster der Elisabethkirche in Basel.

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Abbildung 2: Friedrich Baudri: Nordquerhausfenster Kölner Dom, untere Zone, 1865

Fotografie: Iris Nestler

Die Freundschaft Sulpiz Boisserées zum bayerischen Königshaus und die Stiftung König Ludwigs I. haben weitere Domfensteraufträge in Köln zur Folge, auch für Friedrich Baudri (Abb. 2), den Schüler des Münchner Akademiedirektors und Schöpfers der Glasmalereien im Aachener Domchor, Peter von Cornelius, sowie für Michael Welter. (Abb. 3) Letzterer schuf im Auftrag König Ludwigs II. Entwürfe für Neuschwanstein. Baudris Stilistik der erhaltenen Figuren aus dem Alten Testament in der von ihm noch erhaltenen unteren Zone des Kölner Nordquerhausfensters von 1865 folgen der Gotik-Rezeption der Nazarener, ebenso wie die Könige von Michael Welter. Kompositorisch setzen letztere die mittelalterliche Reihe der Könige im Obergaden des Chors fort. In wieweit Baudris noch erhaltene, figürliche Chorfenster von St. Peter und Paul in Straelen aus den Jahren 1855–58 Einfluss auf die Domfenster hatten, kann nur vermutet werden. Die Ähnlichkeiten im kompositorischen Aufbau sind offensichtlich.

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Abbildung 3: Michael Welter: Könige aus der Reihe der 24 Ältesten / Offenbarung des Johannes, nordöstlicher Querhausobergaden Kölner Dom, 1880er Jahre

Fotografie: Iris Nestler

Baudri zeigt im Nordquerhausfenster von links Moses mit den Gesetzestafeln, Joshua, König David mit der Harfe, Melchisedek mit Brot und Wein, Aaron und Samuel.16 Darunter stehen die Wappen des Erzbischofs Johann von Geissel, des damals amtierenden Papstes Pius IX., des Domkapitels und der Stadt Köln. Die strenge Figurenanordnung, die sachliche Architekturrahmung, die Aufreihung von Wappen und Inschriften lassen bewusst das Mittelalter wieder aufleben und zeigen eine enge Anlehnung an die vorhandene Architektur.17 Doch die Gesichter der Figuren offenbaren den Willen zur Modellierung, ihre Gewänder den Faltenwurf antiker Skulpturen. Die Farbigkeit greift diejenige der Bayernfenster wieder auf und übertrumpft sie sogar. Die akademische Ausbildung Baudris bei Peter von Cornelius ist unübersehbar.

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Mehr noch als Baudri zeigt Michael Welter in seinen die mittelalterliche Galerie der Könige im Obergaden von Quer- und Langhaus fortsetzenden Figuren der 1880er-Jahre das Können eines Dekorationskünstlers, der in einer Epoche Wagner’schen Musikdramas auch die Wartburg mit Malereien ausstattet.18 Die Gewänder seiner Könige und Heiligenfiguren zeigen den Willen zur Pracht und deuten weniger das himmlische Jerusalem an, als vielmehr die Repräsentationsabsicht des preußischen Kaiserhauses. Im Falle der Glasmalerei des Kölner und des Aachener Doms im 19. Jahrhundert handelt es sich eben nicht um Aufträge des Bürgertums, sondern um diejenigen des Adels. Der Hintergrund des Auftraggebers und Stifters fließt generell ein in das Erscheinungsbild einer architekturgebundenen Malerei, sei es in Glas oder auf der Wand. Während die Glasmalereien nicht nur des 20., sondern auch des 19. Jahrhunderts im Kölner Dom Werke einzelner entwerfender Künstler sind und in Zusammenarbeit mit den führenden Werkstätten der Zeit entstanden, sind die meisten Fenster des Historismus im Rheinland reine Werkstattarbeiten im Sinne des mittelalterlichen Bauhüttengedankens, ausgenommen diejenigen des Künstlers Friedrich Stummel aus Kevelaer. Auch er war an der Gestaltung des Kölner Doms beteiligt, allerdings nicht mit Glas-, sondern Wandmalerei 1892 in der Achskapelle. Parallel dazu schuf er die umfangreiche und noch erhaltene Wandgestaltung der Marienbasilika Kevelaer. Stummel hatte neben den (zerstörten) Chor- und Westfenstern für den Xantener Dom, Werken in Luxemburg und Berlin sowie für die Sixtinische Kapelle in Rom, auch zahlreiche Werke am Niederrhein geschaffen, darunter noch erhaltene qualitätvolle Glasmalereien in der St. Hubertus-Kapelle in Kevelaer, in St. Antonius in Geldern-Hartefeld, entstanden 1898, sowie in St. Maternus in Wegberg von 1904.19 Die Tatsache, dass führende, entwerfende Künstler bereits im 19. Jahrhundert am Kölner Dom tätig waren, relativiert die Sichtweise, Gottfried Heinersdorff hätte mit Johan Thorn Prikker diese Entwicklung begonnen. Tatsächlich setzt dieser eine bereits in Gang gesetzte Entwicklung mit modernen Mitteln fort. Werkstätten für Glasmalerei, Mosaik und Restaurierung haben ab Mitte des 19. Jahrhunderts Hochkonjunktur. Nachdem 1827 die königliche Glasmalereiwerkstatt in München gegründet wird (die Ainmiller 1851 übernimmt), verbreitet sich Wissen und Entwicklung neu entdeckter Möglichkeiten der Aufglasurfarben aus der Porzellanmalerei, auf Glas angewendet, schnell. Melchior Boisserée fördert die Entwicklung der wieder entdeckten Technik. Peter Mathias van Treeck gründet bereits 1830 in Krefeld eine Werkstatt und Gustav van Treeck später in München, 1852 der spätere Dombaumeister Vinzenz Statz in Köln, 1857 Dr. Heinrich Oidtmann in Linnich, Wilhelm und Heinrich Derix eröffnen ihre Werkstatt 1866 zunächst in Goch, später im Atelierhaus Friedrich Stummels in Kevelaer, die

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Abbildung 4: Glasmalereiwerkstatt Jakob und Carl Leopold Melchior: St. Kornelius Kornelimünster, Anna und Joachim mit Maria, 1875–83

Fotografie: Iris Nestler

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Abbildung 5: Glasmalereiwerkstatt Jakob und Carl Leopold Melchior: St. Kornelius Kornelimünster, Verkündigung, 1875–83

Fotografie: Iris Nestler

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Firma Hertel & Lersch in Düsseldorf, Schneiders & Schmolz in den 1880er-Jahren in Köln.20 Dabei weisen die Werkstätten unterschiedliche Ausprägungen auf. In der Kirche St. Kornelius in Kornelimünster zeigen die Fenster der Glasmalereiwerkstatt Jacob und Carl Leopold Melchior aus den Jahren 1875–1883 neben zahlreichen reinen Ornamentfenstern die Stilistik einer Malerei der florentinischen Renaissance, (Abb. 4) besonders augenfällig in der Verkündigung über dem Marienaltar.21 Man denke an Werke Fra Angelicos oder an diejenigen Fra Filippo Lippis. (Abb. 5) Oidtmann konzentriert sich auf rheinische Renaissance und Schneiders & Schmolz auf die Hochgotik. Nicht nur hinsichtlich der Glasmalerei, sondern als noch erhaltenes Gesamtkunstwerk des 19. Jahrhunderts ist sicherlich auch die Kirche St. Barbara in Essen-Kray bedeutend, erbaut 1893–95 vom Düsseldorfer Kirchenbaumeister Josef Kleesattel. Mit vollständiger Innenraumgestaltung der Erbauungszeit, wie den Altären, den Kreuzwegstationen und dem umfangreichen Fensterprogramm von 1907, ausgeführt in der Glasmalereiwerkstatt Dr. Heinrich Oidtmann Linnich, stellt diese Kirche ob des Erhaltungszustandes ihrer Ausstattung eine Ausnahme dar. (Abb. 6) Die Fenster wurden während des Zweiten Weltkrieges innen und außen mit Brettern verschlossen und hielten nahezu vollständig den Druckwellen der Bomben stand. Szenen aus dem Leben Jesu füllen das Kirchenschiff. (Abb. 7) Die Chorfenster mit Rosenkranzthematik und Seligpreisungen zeigen sich, farblich mehr auf Fernwirkung bedacht, ganz anders als die Langhausfenster, die das grafische Können der Glasmaler in den Vordergrund stellen. Nah am mittelalterlichen Vorbild, vergleichbar beispielsweise dem Fenster aus einem Erker der Hauskapelle Freiherr Alberts von Oppenheim in Köln aus dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts, zeigen diese Fenster betont zweidimensionale und schlicht gehaltene Szenerien, Figurenkompositionen übereinander geschichtet, in Isokephalie und jeweils einfachem Architekturbaldachin.22 Die Glasmalereien des Langhauses folgen, anders als beispielsweise auch alle historistischen Glasmalereien des Kölner Doms, dem Vorbild rheinischer Malerei der Renaissance.23 Hinsichtlich ihrer Bearbeitung zeigen diese Werke die Beschäftigung mit grafisch betonter, rheinischer Glasmalerei des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Gepaart mit wenigen Farbakzenten in Antikglas brillieren umfangreiche Schwarz- und Braunlotzeichnungen auf weißen Gläsern, schraffiert, gewischt und gestupft. Stilistisch jedoch fallen die Figuren mit ihren gelockten Barockköpfchen auf, die Szenen der unteren Fensterzone im Langhaus füllend, vor allem im Beispiel „Jesus bändigt den Sturm“ (Matthäus 8,23–27). Bei der Darstellung des ungläubigen Thomas’ sticht die betont ästhetisierte Art und Weise der

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Abbildung 6: Glasmalereiwerkstatt Dr. Heinrich Oidtmann Linnich: St. Barbara Essen-Kray, Jesus bändigt den Sturm, 1907

Fotografie: Iris Nestler

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Umsetzung ins Auge, die eben nicht rot blutende Seitenwunde, die zur Nebensache wird, sowie die prachtvollen Gewänder der Jünger Jesu. Die umfangreiche und zweibändige, 1912–29 in Düsseldorf herausgegebene Publikation des Linnichers Dr. Heinrich Oidtmann über Die rheinischen Glasmalereien des 12. bis 16. Jahrhunderts dokumentiert die intensive Auseinandersetzung des Firmenchefs mit den Vorbildern seiner Werkstattproduktionen. Interessant sind aber die Abwandlungen der Werkstatt und die offensichtliche Neuinterpretation traditioneller biblischer Bildthemen. Ähnlich umfangreich und vergleichbar mit dem Fensterzyklus von St. Barbara in Essen-Kray ist derjenige von St. Gereon in Mönchengladbach-Giesenkirchen aus dem Jahr 1908 auch aus derselben Werkstatt.24 Während man im Kölner Dom Studien zum Eklektizismus betreiben kann, begegnet man in den Chorfenstern der Klosterkirche Knechtsteden reinster Neogotik. Die Glasmalereien lehnen sich stilistisch eng an die kurz zuvor bei einem Brand (1869) zerstörten mittelalterlichen Fenster an.25 Sehr vergleichbar mit den ebenfalls dem frühen 14. Jahrhundert folgenden Chorfenstern in Essen-Kray zeigen die Knechtstedener Fenster die Nähe zur Werkstatt Oidtmann in Linnich. Die in mittelalterlichen Ergänzungen sehr erfahrene Werkstatt Schneiders & Schmolz, die auch am Kölner Bibelfenster Ergänzungen ausführte, schuf die Fenster in Knechtsteden in den Jahren 1889 bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die Glasmaler Christian Schneiders und Paul Schmolz wurden in Linnich bei Oidtmann ausgebildet. Dieses Beispiel zeigt stellvertretend für viele Werke die werkstattbedingte Vergleichbarkeit der methodischen Vorgehensweise in der Anwendung verschiedener Stilepochen in unterschiedlichen Bauabschnitten eines Sakralraums. Dabei ist der Chorbereich der Malerei des hohen Mittelalters vorbehalten, während die weltlich orientierte Zeit der Renaissance und – je nach Kirche – auch des Barocks im Raum der Gläubigen, dem Langhaus, zum Einsatz kommt. Bei den u. a. in einigen Bonner Kirchen erhaltenen Werken der Werkstatt Oidtmann stechen diejenigen in St. Marien in Bad Godesberg aus dem Jahr 1895 heraus, die besonders in den Querhausfenstern auf die Gesamtanlage der Bayernfenster des Kölner Doms zurückgreifen. Für die evangelische Christuskapelle der Hohenzollernburg schuf die Werkstatt 1863 die gesamte Glasmalerei.26 Ein Vergleich mit den Glasmalereien Baudris drängt sich hier auf. Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des Historismus am Rhein ist der Freiburger Künstler, Kunsthistoriker und Restaurator Fritz Geiges. Allein für die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche schuf er siebenundzwanzig Fenster, für den Kölner Dom zusammen mit August Essenwein das Bodenmosaik, unter anderem Fenster für den Wormser, den Paderborner und den Trierer Dom sowie für das

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Abbildung 7: Glasmalereiwerkstatt Dr. Heinrich Oidtmann Linnich: St. Barbara Essen-Kray, Der ungläubige Thomas, 1907

Fotografie: Iris Nestler

Konstanzer Münster.27 Rudolf Reinhold fand kürzlich heraus, dass Geiges für St. Laurentius in Langenfeld und die Evangelische Pfingstkirche Potsdam exakt die gleichen Fenster herstellte.28 Der Fall liegt ähnlich wie die o. g. Doppelung der Beweinungsszene im Bayernfenster des Kölner Doms und des Erkers im Schloss Hohenschwangau. Der Nachlass des Künstlers Fritz Geiges im Deutschen Glasmalerei-Museum Linnich beinhaltet mehrteilige Fenster, die Geiges nach den mit-

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telalterlichen Werken des Freiburger Münsters angefertigt hatte. Diese lassen sich freilich nicht dem Historismus im eigentlichen Sinne zurechnen.29 Vielmehr sind dies sogenannte Zweitausführungen mittelalterlicher Werke und wertvolle Dokumente einer Zeit, in der diese Vorgehensweise nicht nur üblich war, sondern zu besonderer Meisterschaft gebracht wurde. Kopieren gehört auch heute noch zur Ausbildung eines Glasmalers. Ähnlich liegt der Fall beispielsweise bei Zeichnungen aus der Werkstatt Derix in Kevelaer, die in die Zeit der 1880er/90er-Jahre fallen, als die damals umfangreiche Restaurierung der Fenster im Xantener Dom anstand. Zum Zwecke der Bestandsaufnahme und Erforschung historischer Scheiben wurden üblicherweise 1:10 Zeichnungen nach den vorhandenen, zu restaurierenden Werken gemacht.30 Welchen Stellenwert rheinische Werkstätten – inbegriffen deren Auftragsgebiet in den Niederlanden – im Vergleich zu denjenigen anderer Kunstlandschaften, etwa in Bayern und dem damaligen Preußen, haben, lässt sich bis dato schwer beurteilen. Zu wenig ist erschlossen, zu viel vergessen und zerstört. Zudem ist eine Betrachtung der internationalen Wechselwirkungen unumgänglich. Vielerorts entstehen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bewegungen, die Materialästhetik, handwerkliche Präzision und hohen formalen Anspruch auf breite gesellschaftliche Basis zu stellen suchten. Dazu gehörten das Arts and Crafts Movement in Großbritannien, die Vereinigten Werkstätten für Kunst und Handwerk München und Bremen, der Deutsche Werkbund, die Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst, die Wiener Sezession, die Wiener Werkstätte und später das Bauhaus. Die Werkschulen im Rheinland entwickeln sich zu führenden Ausbildungsstätten und die daraus hervorgegangenen Künstler zu Pionieren der abstrakten Glasmalerei. Die Glasmalerei des Historismus im Rheinland fällt in ihrem Erscheinungsbild denkbar unterschiedlich aus. Im Großen und Ganzen dient die Art und Weise der Schwarzlot-, Braunlot-, Silbergelb- und Eisenrotmalerei spätmittelalterlicher Werkzyklen rheinischer Glasmalerei als Vorbild. Die nördlichen Langhausfenster des Kölner Doms aus der Zeit um 1506–08 gehörten sicherlich auch zum intensiveren Studium eines Glasmalers um die Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts. Zitate aus verschiedenen Epochen werden in höchst differenzierter Weise eingesetzt und variiert. Bildzitate an sich sind kein Alleinstellungsmerkmal des Historismus, wohl aber die Auswahl derselben. Hinsichtlich der Stilistik rheinischer Werkstätten ist festzustellen, dass die Ausführungen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, in der Betonung des Zweidimensionalen ihre Verbindung finden und sich darin deutlich von der plastischen Durcharbeitung mit der Betonung des Tiefenräumlichen in der süddeutschen Glasmalerei unterscheiden.

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Nicht nur die Idee ist ausschlaggebend. Aus heutiger Sicht steht auch und vor allem die Frage nach der Qualität der Malerei einer Werkstatt im Raum, besonders wenn es sich um Werke handelt, die just unter diesem Aspekt – eben jener Forderung nach handwerklicher Meisterschaft zur Zeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – entstanden sind. Es stellt sich unter diesem für die Zeit des Historismus so entscheidenden Aspekt ferner die Frage nach dem Sinn einer Rekonstruktion bei Totalschaden. Eine Antwort impliziert Kritik. Umso differenzierter ist zwischen Original und Rekonstruktion zu unterscheiden. Das Rekonstruieren einer genaugenommen mittelalterlichen Kompositionsidee im 21. Jahrhundert, als Reminiszenz an den Historismus, bedeutet, einen Neohistorismus zu initiieren. Wäre die Geschichte des 20. Jahrhunderts unproblematischer verlaufen, hätte man dagegen kaum etwas einzuwenden. Allein die Situation ist eine andere und verlangt diplomatisches Geschick auch bei der Entscheidung des Auftraggebers. Oftmals heißt dies, sich von der Idee und Umsetzung des Gesamtkunstwerkes aus dem 19. und Anfang 20. Jahrhunderts zu verabschieden. Die Entscheidung für die Gegenwart mit ihrer Kunst auch im Sakralraum und sei es ein Dom, eine Kathedrale, ist in jedem Falle ehrlicher. Diese wahrlich nicht neue Erkenntnis hat in den vergangenen Jahrzehnten europaweit die großartigsten neuen Werke bedeutender Künstler der Glasmalerei hervorgebracht. Raummalerei des 19. Jahrhunderts im Sakralraum beschränkt sich nicht auf die Fenster. Die Geschichte der Wandmalerei dieser Zeit verlief ähnlich, zunächst der Boom und im Anschluss Tabula Rasa. Auch hier stößt man auf wissenschaftliches Brachland, aus gutem Grund. Anja Hoffmann betont in ihrer Dissertation von 2009 über die Monumentalmalerei im Spannungsfeld zwischen Historismus und Jugendstil zum Werk des in München tätigen Wilhelm Köppen: „Die Wandmalerei der Jahrhundertwende wurde in der Forschung vernachlässigt, da man ihre Wichtigkeit für die architektonische Wirkung übersah: Die Dekoration unterstützt die Bedeutung eines Bauwerkes, erläutert die Bauaufgabe, erzählt viel über die Auftraggeber und bildet gemeinsam mit der architektonischen Hülle ein Gesamtkunstwerk. Die Werke der reinen, so genannten ,Dekorationskünstler‘ sind ein Forschungsderivat, während die ,ernstzunehmenden‘ Maler des Fin de Siècle, wie Arnold Böcklin, Ludwig von Hofmann, Anselm Feuerbach, Hans von Marées oder Max Klinger, immer mehr beachtet wurden.“31

Im Falle des Mosaiks war und ist die Modernisierung nicht so einfach. Neben der Glas- und Wandmalerei war auch diese Technik zurzeit des Historismus, der Moderne und danach gleichsam interessant wie gefragt. Das Mosaik erfuhr – wie die Glasmalerei – im 19. Jahrhundert eine neue Wertschätzung. Früh- und hochmittelalterliche Vorbilder wie in Ravenna, Rom, Venedig und Monreale wurden

Glasmalerei des Historismus im Rheinland

studiert. Die Möglichkeit der Wandverkleidung durch Smalten (Glassteinchen) und anderen Tesserae aus Keramik, verschiedene Steinsorten, Feinsteinzeug oder Terracotta fand später in der Wiener Sezession und den darauf folgenden Jahrzehnten ebenso ihre Anhänger wie im Jahrhundert davor, nur natürlich stilistisch modern.32 Anders als die Glasmalerei allerdings, verlor die Technik des Wandmosaiks im Sakralbau nach dem Zweiten Weltkrieg gänzlich an Bedeutung. Die Mosaiken im Aachener Dom sind, was die Zeit des Historismus betrifft, das wohl eindrucksvollste Zeugnis ihrer Art im Rheinland.33 Um Sakralraumgestaltungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges objektiv ins Visier nehmen zu können, war der nötige Abstand zum Zweiten Weltkrieg und seiner Folgen bis dato noch nicht gegeben. Doch erst die Betrachtung der Glas- und Wandgestaltung des Historismus mit ihren Absichten nicht nur im Sakralraum, aber vor allem dort, komplettiert das Bild. Die Freilegung der im Rheinland vielerorts in den 1950er–90er-Jahren übertünchten historistischen Wandmalereien würde jedoch bedeuten, eine mittlerweile ebenfalls kunsthistorisch wertvolle Neugestaltung des jeweiligen Sakralraums – in den meisten Fällen mit modernen Fenstern – zu zerstören.34 Das Rad der Geschichte lässt sich hier nicht zurückdrehen. Individuallösungen sind gefordert und letztendlich entscheidet der Auftraggeber. Für die Glasmalerei sowie für das Mosaik im Besonderen kommt ein nicht unbedeutender Aspekt hinzu: Hier gilt und galt auch schon im 19. Jahrhundert internationales Agieren der Künstler und Werkstätten. Deshalb ist bei genauem Dokumentieren der architekturgebundenen Werke des Historismus die Berücksichtigung der Tätigkeit deutscher Werkstätten im Ausland allgemein und speziell in den Niederlanden, Großbritannien und den USA unerlässlich, um einen einigermaßen schlüssigen Überblick zu erhalten.35

A nmerkungen 1 | Vaassen, Elgin: Bilder auf Glas – Glasgemälde zwischen 1780 und 1870, München/Berlin 1997, S. 113–122. Vaassen wählt als Endpunkt das Jahr 1870, da danach das mundgeblasene und mittels Metalloxiden durchgefärbte Antikglas zunächst in England und wenig später auf dem Kontinent wieder hergestellt wird, was die farbigen Schmelzfarben in den Hintergrund drängte. Heute werden diese jedoch wieder gerne verwendet, weil sie eine freiere Malerei auf Floatglas zulassen. 2 | Eineinhalb Jahrhunderte zuvor hatte die Säkularisation einen Boom glasmalerischen Schaffens im 19. Jahrhundert zur Folge, da – abgesehen von einer ohnehin vorhandenen

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Iris Nestler Begeisterung für das Mittelalter – große Kontingente an Glasmalerei des 12. bis 16. Jahrhunderts über den Kunsthandel nach Großbritannien und in die USA verkauft wurden. Der Bedarf an Neuausstattungen von Kirchenfenstern war im 19. Jahrhundert reichhaltig gegeben. Dazu Vaassen, Elgin: „Glasmalerei des 19. Jahrhunderts“, in: Glasmalerei des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Erfurt 1993, S. 11–30; sowie: Schuhmacher, Claudia: „Zur Rezeption der Glasmalerei im 19. Jahrhundert“, in: Hiltrud Westermann-Angerhausen, (Hg.): Himmelslicht – Europäische Glasmalerei im Jahrhundert des Kölner Dombaus (1248–1349), Köln 1998, S. 112. 3 | Lorenzer, Alfred: Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt a. M., S. 207; zitiert bei Meiering, Dominik M.: Kunst im Dienst (an) der Kirche, Regensburg 1997, S. 101. 4 | Heinig, Anne: Die Krise des Historismus in der deutschen Sakraldekoration im späten 19. Jahrhundert, Regensburg 2004. 5 | Keusch, Nikolaus: „[…] unsterblicher Schatz einer so wahrhaften deutschen Kunst“. Die Rezeption der deutschen Romantik im nationalsozialistischen Kunstdiskurs, Wien 2009, S. 44 f. 6 | Schmidt, Peter: „Die Fenster in Soester Altstadtkirchen im Kontext der zeitgenössischen Glasmalerei“, in: Kulturparlament Soest e.V. (Hg.): Zeitgenössische Glasmalerei in Soester Altstadtkirchen, Soest 2016, S. 8. 7 | Archiv des Domstifts Xanten. Zu den Werken Friedrich Stummels: Kaspar, Martin: Zeugnisse verlorener Pracht – Die frühen Glasmalereientwürfe Friedrich Stummels (1850–1919) und seiner Werkstatt für die Glasmalereifirma Derix in Goch/Kevelaer, Vortrag auf dem Glascolloquium im Domstift Xanten am 22. September 2017. Zahlreiche Entwürfe Stummels befinden sich u. a. im Diözesanarchiv Aachen sowie im Bistumsarchiv Münster. 8 | Müllejans, Rita: „Das große Glasgemälde von 1853 des Peter von Cornelius für den Aachener Dom“, in: CELICA IHERUSALEM – Festschrift für Erich Stephany, Köln 1986, S. 293–301. Die Transfiguration Raffaels in den Vatikanischen Museen stand Pate für den Entwurf von Cornelius, der bei Müllejans auf Seite 296 abgebildet ist. Zum Ulmer Münster siehe: John, Erhard: Die Glasmalereien im Ulmer Münster, Langenau 1999. 9 | Parello, Daniel: Von Helmle bis Geiges – Ein Jahrhundert historistischer Glasmalerei in Freiburg, Freiburg i. Br. 2000, S. 13. 10 | Zitiert nach: Lippert, Hans-Georg: Studien zum Kölner Dom. Bd. 7: Historismus und Kulturkritik. Der Kölner Dom 1920–1960, Köln 2001, S. 386. 11 | Vaassen, Elgin: Die kgl. Glasmalereianstalt in München 1827–1874, München 2013, S. 107–119. In seiner sehr ausführlichen, in Köln erschienenen Monografie von 2009 über „Die Bayernfenster des Kölner Doms 1844–1848 – Kirchenausstattung zwischen Kunst, Theologie und Politik“ geht Stephan Dahmen intensiv auf die Motivik der Fenster ein, eine detaillierte Herleitung der Motivik wäre noch wünschenswert gewesen.

Glasmalerei des Historismus im Rheinland 12 | Die – zerstörten und nur als Entwürfe und Dias überlieferten – Fenster der Allerheiligenhofkirche München. Siehe dazu Vaassen 1997, S. 368–370. Bei den Brüsseler Fenstern ist innerhalb der rahmenden Architekturmalerei die niederländische Genremalerei motivgebend. Unter den Glasmalereien für protestantische Kirchen sind hinsichtlich des 19. Jahrhunderts die Chorfenster der Peterskirche Heidelberg von 1869 herausragend. 13 | Siehe dazu Johann Joachim Kändler, Handkussgruppe Meißen, 1737, Staatliches Museum Schwerin. 14 | Giovanni Bellini, Pietà, 1505, Accademia Venedig. Ein Motivvergleich. 15 | Eva Anwander-Heisse: Glasmalereien in München im 19. Jahrhundert. Unveröffentlichte Dissertation, München 1992, S. 20 ff.; Abgebildet bei Vaassen 1997, Tafel 57 (ohne Seitenzahl). Die königliche Glasmalereiwerkstatt München (wo die Bayernfenster ausgeführt wurden) ging 1851 in den Besitz Ainmillers über und im gleichen Jahr gründete Burkhardt, ehemals dort Mitarbeiter, seine eigene Werkstatt. Vaassen berichtet über die Kopien in ihrer Publikation von 2013 über die kgl. Glasmalereianstalt München, S. 119; wie Friedrich Baudri ist auch Burkhardt Schüler von Peter von Cornelius an der Münchner Akademie der Künste. 16 | Das Fenster trägt die Inschrift: „In memoriam creationis Archipiscopie Coloniensis Johannis de Geissel in S.R.E. Presbyterum Cardinalem a Summo Pontifice Pio P. P. IX. in consistorio d.d. 30. Sept. M. D. C. C. C. L. renuntiae, Friderico Guilelmo quarto, Borussiae rege feliciter regnante, Cives Colonienses fieri curaverunt.“ Das Glas stammt aus England. Siehe dazu auch: van Endert, Josef Hubert (Hg.): Organ für christliche Kunst, Nr. 23, Köln, 1. Dezember 1865, XV. Jg., S. 24. Ist das innerhalb eines Aufsatzes? Dann bitte Aufsatz angeben und noch einmal mit dem Stylesheet abgleichen – Dankeschön! Der darüber befindliche Teil des kriegszerstörten Fensters ist 1968 von Wilhelm Teuwen (Couronnement) und von Hubert Schaffmeister 1980 ergänzt worden. 17 | Weitere Werke des 19. Jahrhunderts im Kölner Dom sind: Ergänzungen am zentralen mittelalterlichen (älteren) Bibelfenster der Glasmalereiwerkstatt Schneiders und Schmolz (die 1902 auch ein erhaltenes Fenster für die Abtei Brauweiler herstellte sowie die Fenster der Herz Jesu Kirche in Wuppertal-Barmen Herz von 1903), die Turmfenster von Johannes Klein aus dem Jahr 1884 (ausgeführt von der Tiroler Glasmalereiwerkstatt in Innsbruck, bis auf zwei Fenster im Nordturm in der Dombauhütte nach den Originalkartons rekonstruiert) sowie das Westfenster von Julius Milde aus den Jahren 1865–70. Siehe dazu und zu Michael Welter: Ulrike Brinkmann: „Die 28 vierbahnigen Fenster im Quer- und Langhaus waren bis zur Kriegszerstörung mit einem figürlichen Zyklus verglast, der Gestalten des Alten und Neuen Testamentes sowie Repräsentanten der Kirche zeigte. Für 80 der 112 Figuren lieferte der Kölner Maler Michael Welter (1808–1892) die Entwürfe. Die neuen Fenster sollten die mittelalterlichen Königsfenster im Chor harmonisch fortsetzen. Sie folgten daher weitgehend den alten Vorbildern und zeigten Standfiguren unter Architekturbaldachinen, über denen

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Iris Nestler Ornamentbahnen aufstiegen. Nur 52 Figuren überlebten den Zweiten Weltkrieg. 28 Figuren kehrten nach dem Krieg wieder an ihren alten Platz im nördlichen und südlichen Querhaus zurück. Die restlichen 24 Figuren waren über Jahrzehnte in einem Depot gelagert, doch werden auch sie in den kommenden Jahren einen Platz im Querhaus finden.“ https://www.koelner-dom.de/rundgang/fenster/ [7.11.2018]. 18 | Dazu ausführlich: Blanchenarbe, Ursula: Michael Welter (1808–1892) – Ein Kölner Dekorationsmaler im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Köln 1984. 19 | Engels, Mathias: 100 Jahre Glasmalerei Derix Kevelaer 1866–1966, Krefeld 1966, S. 12–31. 20 | Noch erhaltene und qualitätvolle Werke befinden sich in Erkrath-Hochdahl (St. Franziskus von Assisi, Firma Hertel & Lersch, 1899–1903), in Warendorf/Westfalen (St. Laurentius, Firma Hertel und Lersch, 1898–1903), in Ochtrup (St. Lambertus, Firma Hertel und Lersch, 1873 sowie Derix, 1900), in Altenbeken (Heilig Kreuz, Firma Reuter und Reichart, 1905), in Düsseldorf-Lohhausen (Lantz’sche Kapelle, 1880 unbekannt, in Mönchengladbach-Bettrath (Kath. Kirche Herz Jesu, 1899 (profanisiert 2014), in Pulheim-Stommeln (St. Martinus, Reuter & Reichardt sowie Oidtmann, 1905) sowie in St. Philippus und Jakobus in Kempenich (Glasmalerei Oidtmann, 1905); Literatur zur Firma Oidtmann: Stephany, Erich/Oellers, Adam C./ Korn, Ulf-Dietrich u.  a.: Licht. Glas Farbe. Arbeiten aus Glas und Stein aus den rheinischen Werkstätten Dr. Heinrich Oidtmann, Aachen 1982; https://www.glas-hertel.de/startseite. html [10.11.2018 ]. 21 | Die Firma Melchior hatte ab den 1870er-Jahren ihre Werkstatt im Römerturm in Köln. (Fraquelli, Sybille: Im Schatten des Domes – Architektur der Neugotik in Köln. Köln/Weimar/ Wien 2008, S. 299). Ausführung der Fenster der Antoniuskapelle in Kornelimünster: Clemens Winkhold, 1891. 22 | Oidtmann, Heinrich: Die rheinischen Glasmalereien des 12. bis 16. Jahrhunderts, Bd. 1, Düsseldorf 1912, S. 210. 23 | Eisenoxid in Verbindung mit Essig, auf Glas gemalt und bei 650 Grad Celsius eingebrannt. 24 | Weitere erhaltene Fenster der Firma Oidtmann aus der Zeit des Historismus sind zu finden in Bonn-Bad Godesberg St. Marien (1895), in Bonn-Duisdorf St. Rochus (1900), in Bonn-Mehlem St. Severin (1898) und Bonn-Poppelsdorf St. Sebastian (1897–1911). Informationen nach www.glasmalerei-ev.net [21.7.2018]. 25 | Nestler, Iris: „Die Glasmalereien der Klosterkirche Knechtsteden“, in: Jahrbuch des Kreises Neuss 2006, S. 124–135. Sowie: https://www.kloster-knechtsteden.de/fenster/ [ 8.11.2018]. 26 | Die Fenster wurden wegen eines gravierenden Hagelschadens von derselben Werkstatt Dr. Heinrich Oidtmann Linnich im Jahr 2014 restauriert. Dazu: https://www.burg-hohenzollern.com/nachricht/items/Kunstglaser.html [22.11.2018]. 27 | Freiburg im Breisgau, Augustinermuseum, Inv. Nr. G96/524 FG. Datiert 1905 (liegt als Farbskizze vor). 28 | Reinhold, Rudolf: Die Glasmalereifenster der Evangelischen Pfingstkirche Potsdam, Hamburg 2016.

Glasmalerei des Historismus im Rheinland 29 | Der Freiburger Kunsthistoriker Rüdiger Becksmann vermittelt 1998 den Nachlass des Künstlers Fritz Geiges mit 112 Werken dem Deutschen Glasmalerei-Museum Linnich. Die Werke werden mit finanzieller Unterstützung der NRW-Stiftung ab 2001 in der Glasmalereiwerkstatt Oidtmann Linnich umfangreich restauriert. Dazu auch: Parello, Daniel: „Fritz Geiges – Der Freiburger Monumentalmaler zwischen Historismus und Moderne“, in: Nestler, Iris (Hg.): Meisterwerke der Glasmalerei des 20. Jahrhunderts in den Rheinlanden, Bd. 3, Mönchengladbach 2019, in Bearbeitung. 30 | Eine der Zeichnungen ist Privatbesitz in Düsseldorf-Kaiserswerth. 31 | Anja Hoffmann, Monumentalmalerei im Spannungsfeld zwischen Historismus und Jugendstil – Das Werk von Wilhelm Köppen, Bonn 2009, S. 13. 32 | Zu Friedrich Stummels Lebzeiten arbeitet die Werkstatt Derix in Kevelaer mit dem Venezianer Antonio Gobbo zusammen, so auch für die Mosaiken der Gnadenkapelle Kevelaer und derjenigen in Groß St. Martin Köln. Als Gobbo 1907 stirbt, beginnt eine Zusammenarbeit mit der Firma Beyer & Söhne in Köln-Bayenthal. 33 | Das Kuppelmosaik des Aachener Doms wurde entworfen von Jean Bethune und ausgeführt vom Unternehmen Antonio Salviati/Venedig in den 1880er-Jahren, die übrigen Mosaiken von Hermann Schaper aus Berlin, ausgeführt von Puhl & Wagner, Berlin in den Jahren 1901–13. Dazu: Wehling, Ulrike, „Die Mosaiken im Aachener Münster und ihre Vorstufen“, in: Landschaftsverband Rheinland, Arbeitsheft der Rheinischen Denkmalpflege, Bd. 46, Köln 1995. Maintz, Helmut: Sanierung Mosaiken, Marmorverkleidung und Fußböden im Zentralbau des Aachener Doms (= Schriftenreihe des Karlsvereins – Dombauvereins Aachen, Bd. 14), Aachen 2012. Die Restaurierung der Mosaiken war im Jahr 2016 abgeschlossen. 34 | Beispielsweise Groß St. Arnold in Arnoldsweiler bei Düren. 35 | Beispielsweise hatte die Glasmalereiwerkstatt Derix in Kevelaer ab 1910 bis zum Zweiten Weltkrieg mit der Clinton Glass Company Chicago zusammengearbeitet und Werke für die USA ausgeführt, u.a. Fenster für die Infirmary Chapel in Oak-Forest Chicago und die St. John the Baptist Church in Pottsville, Pennsylvania. Ebenso entstanden zwischen 1905 und 1921 Werke für die Kathedrale von Plock in Polen, die Theologische Akademie St. Petersburg und eine Kirche in Stettin. Erhaltene Fenster der Firma Derix aus den 1880er-Jahren sind u. a. zu finden in der Willibrorduskirche in Deurne/Niederlande.

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A Token of his Extreme Ein fotografischer Seitenblick auf Orvieto Ute Dercks In der Buchbesprechung zu Enzo Carlis Le sculture del Duomo di Orvieto heißt es: „These illustrations reproduce the photographs of Signor Raffaelli Armoni, the local photographer who brought to his task the loving understanding of an enthusiastic admirer. I have always considered these photographs among the world’s best.“1 Der begeisterte Rezensent war Martin Weinberger, dessen Forschungen zu Nino Pisano und zur Fassade des Florentiner Doms wiederum von Carli zitiert wurden.2 Weinberger können auch Kompetenz und Kenntnis im Bereich der Fotografie zugetraut werden, denn er bearbeitete als Stipendiat des Kunsthistorischen Instituts in Florenz zusammen mit Ulrich Middeldorf die Bestände der Photothek zur toskanischen und römischen Plastik des 13. und 14. Jahrhunderts.3 Hinter Weinbergers „Signor Raffaelli Armoni“ und Carlis „Ditta Raffaelli Armoni & Moretti di Orvieto“4 verbirgt sich das über mehrere Generationen geführte Fotoatelier von Luigi Armoni (1827–1895), Luigi Raffaelli (1860–1929) und Mario Moretti (1903–1984). Ihnen widmeten Diego Mormorio und Enzo Eric Toccaceli eine mit vielen anekdotisch anmutenden Details verfasste Monografie, in der sie den Orvietaner Fotografen eine besondere Rolle zuschrieben: „[…] hanno documentato le trasformazioni – talvolta minime, impercettibili – delle strutture architettoniche, del partimonio artistico e del paesaggio orvietani, divendendo così uno dei punti di riferimento fondamentali della storia culturale umbra degli ultimi centocinquant’anni e costituendo uno dei casi fotografici italiani più significativi.“5

D ie F otografen A rmoni , R affaelli

und

M oretti

Der Gründer der Firma war Luigi Armoni, 1827 in Orvieto geboren und seit 1852 für die Opera del Duomo tätig; ab 1862 war er Custode del Tempio, dei Musei e

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Abbildung 1: Fragmente des Grabmal de Braye, Orvieto, Museo dell’Opera del Duomo, Fotografie: Luigi Armoni, vor 1890, Albuminpapierabzug 18,8 x 24,8 cm, auf Karton montiert

Kunsthistorisches Institut in Florenz, Max-Planck-Institut, Photothek, Inv.-Nr. 2385

bidello dell’Opera, und 1867 wurde ihm erlaubt, Fotografien, Antiquitäten und Bücher in seinem Geschäft an der Piazza Duomo zu verkaufen.6 Die Innenaufnahme des Domes mit der Seitenkapellenverkleidung des Cinquecento und den barocken Apostelstatuen, die bei den Restaurierungen (1874–1910) unter der Leitung von Paolo Zampi und Luigi Fumi entfernt wurden, dürfte in dieser Zeit entstanden sein.7 Auf der Esposizione Umbra Artistica Industriale Agricola in Perugia 1879 erhielt Armoni für seine fotografischen Arbeiten eine Medaille und warb fortan mit der Auszeichnung „Premiata Fotografia Orvieto Armoni“, die auch sein Nachfolger übernahm.8 Die Pietà von Ippolito Scalzi in der Aufstellung vor den Luca Signorelli-Fresken der Cappella di San Brizio wurde von Armoni vor 1890 fotografiert und gehört zu den wichtigen fotografischen Zeugnissen des Domes.9 Eine vor allem für die Geschichte des Grabmals des Kardinals Guillaume de Braye in San Domenico wertvolle Fotografie stammt ebenfalls von ihm; ein Papierabzug aus dem Nachlass des bereits 1896 verstorbenen Hermann Ulmann befindet sich

A Token of his Extreme

in der Photothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz (Abb. 1).10 Armonis fotografischer Stil und Intention wurden von Mormorio und Toccaceli so charakterisiert: „La fotografia è da lui intesa come uno strumento per riprendere le magnificenze del passato e gli splendori della religione, nonché per appagare, con un ritratto, il bisogno di eternità dei cittadini agiati.“11 Das Profil des Fotostudios verschob sich deutlich, als Luigi Raffaelli durch die Freundschaft mit Armonis Sohn Alceste12 und dann durch die Heirat mit dessen Schwester Adele Armoni 1891 in die Firma eintrat und nach dem Tod des Firmengründers 1895 auch die Position des Domkustos erbte.13 Er erweiterte das Repertoire des Fotostudios um sozialdokumentarische Motive, fotografierte die ärmeren Bewohner Orvietos vor ihren verfallenen Häusern und dokumentierte damit die miserablen Verhältnisse der notleidenden Bevölkerung um 1900.14 In den 1920er Jahren gab er die Arbeit als Fotograf auf, da er sich nur noch eingeschränkt bewegen konnte.15 Auf den vielen privaten Fotografien, die Luigi Raffaelli auf einen Stock gestützt vor dem Orvietanter Dom zeigen, hält er stets die großen Schlüssel in der Hand, die ihn als Kustos des Domes auszeichneten.16 In diesen Jahren trat Mario Moretti in das Unternehmen ein und übernahm ab 1925 die Geschäftsführung. Bereits als 14-Jähriger hatte Moretti zu fotografieren begonnen, war dann während seines Militärdienstes 1922–1924 als Pilot in Passignano sul Trasimeno tätig, wo die Società Aeronautica Italiana Ambrosini seit 1922 Flugzeuge herstellte. Spätestens 1928 startete Moretti seine Fotokampagnen zur Architektur, Skulptur und Innenausstattung des Domes, die Aldo Lo Presti eine „minuziosa catalogazione fotografica“ nannte.17 Ebenso dokumentierte der Fotograf die Restaurierungs- beziehungsweise Abrissarbeiten in Sant’Andrea und San Domenico in Orvieto. Wie sein direkter Vorgänger Raffaelli fotografierte auch er das Alltagsleben der Orvietaner, darunter Restauratoren, Fabrikarbeiter, Schulklassen etc.18 Aber gleichzeitig scheute er auch nicht davor, sich eher piktoralistischer Stilmittel zu bedienen, wie die Aufnahmen von Orvieto aus großer Entfernung gesehen über dichtem Nebel schwebend zeigen.19 1950 beendete er seine Tätigkeit und verkaufte im Februar 1972 einen großen Teil des Negativarchivs an den italienischen Staat. Federico Zeri half seinerzeit bei der Auswahl der 5.000 Silbergelatine- und Kollodium-Glasplatten, die heute als „Fondo Raffaelli Armoni Moretti“ im Gabinetto Fotografico Nazionale des ICCD aufbewahrt werden.20 Aus den beiden Fotografen Armoni und Raffaelli konnte bei Weinberger also ein „Signor Raffaelli Armoni“ werden, weil der Schwiegersohn Raffaelli einen Doppelnamen trug, den er rückseitig auf Carte-de-visite, Postkarten oder als Bildlegende unter die Abzüge setzte,21 den später sein Nachfolger Moretti so übernahm: „Fot. Raffaelli Armoni & Moretti“.

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D er

besondere fotografische

B lick

Vor dem Hintergrund der sich im 19. Jahrhundert in ganz Europa ausbreitenden Sanierungsprojekte und „Denkmälerinventarien“ spielt die Architekturfotografie, deren Geschichte sich auch in den unterschiedlichen Phasen der Orvietanter Fotografen spiegelt, eine bedeutenden Rolle.22 So beauftragte die Commission des Monuments Historiques – die erste staatliche Denkmalpflegebehörde, die seit 1837 eine aufwändige Dokumentation und Inventarisierung aller als wichtig erachteten Denkmäler Frankreichs betrieb und für die Viollet-le-Duc Kirchen und andere Baudenkmäler restaurierte –, im Jahr 1851 fünf Fotografen mit der Mission Héliographique.23 In England ließ John Ruskin für The Seven Lamps of Architecture Stiche nach Daguerreotypien herstellen und war damit 1849 einer der ersten, die sich des neuen Instruments der Fotografie für seine Publikationen bediente.24 Im Zuge des Gothic Revival fotografierten William Henri Fox Talbot und Francis Frith vor allem die Architektur des Mittelalters und hoben – wie die Fotografen der Mission Heliographique – insbesondere deren Dreidimensionalität hervor. Die Bauwerke wurden daher in perspektivischen Schrägansichten und in kräftigen Hell-Dunkel-Kontrasten aufgenommen, was auch den technischen Gegebenheiten der Fotokameras, vor allem den Objektiven und langen Belichtungszeiten geschuldet war. Um Bauwerke wie den Dom von Orvieto mitsamt seiner „Bildhauerfassade“25 aufnehmen zu können, musste auch das Verhältnis von Gebäudehöhe und Abstand der Kamera berücksichtigt werden. Im Lehrbuch zur Fotografie von 1870 stellt der Autor dazu resignierend fest: „In engen Straßen ist die Wahl des Standpunktes freilich oft so außerordentlich eingeschränkt, dass man allem besseren Wollen zum Trotz sich mit dem Unvollkommenen genügen lassen muss.“26 Und so konnten sich die Fotografen auch noch Jahrzehnte später nur mit einer „Reihe von Gesetzen der Unzulänglichkeit“27 abfinden und fotografierten den Dom in Orvieto (Siena oder Florenz) selbst mit der Großformatkamera meist leicht von der Seite und in Untersicht oder von höhergelegenen Gebäuden aus, um die Monumentalität und Skulpturalität zu unterstreichen,28 aber auch, weil die Platzsituation und optischen Systeme kaum andere Kamerastandorte erlaubten. In Orvieto bot sich das Dach des Palazzo Faino an, von wo die örtlichen Fotografen ebenso wie Alinari, Brogi, Anderson oder auch Robert Rive bevorzugt die Domfassade ablichteten (Abb. 2).29 Aus größerer Entfernung, aber ebenfalls von erhöhter Position, gelang Mario Moretti in den späten 1920er Jahren eine Fotografie, die den Dom im erweiterten Sinne als eine „Stadtkrone“30 aus der Umgebung herausragen lässt (Abb. 3). Geradezu dramatisch inszeniert zeichnet sich die helle und durchkomponierte Fassade wie ein Schild vor dem dunklen Häusermeer und grauen Himmel ab. Es scheint,

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Abbildung 2: Fassade des Doms von Orvieto, Fotografie: Robert Rive, vor 1881, Albuminpapierabzug 25,2 x 19,1 cm, auf Karton montiert

Kunsthistorisches Institut in Florenz, Max-Planck-Institut, Photothek, Inv.-Nr. 400957

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Abbildung 3: Dom von Orvieto, Fotografie: Mario Moretti, 1925/30, Silbergelatineabzug 20,3 x 26 cm, auf Karton montiert

Kunsthistorisches Institut in Florenz, Max-Planck-Institut, Photothek, Inv.-Nr. 124205

als habe der ehemalige Pilot Moretti aus der Luft fotografiert, jedoch befand er sich wohl auf dem einzigen, mit der Höhe des Domgiebels konkurrierenden Gebäude, dem Campanile von San Francesco. Aus derselben Serie stammt eine weitere Fotografie, die die Fensterrose stark verzerrt wiedergibt, vor allem aber einen spektakulären Blick in die Weite der Landschaft öffnet (Abb. 4).31

Fenster

mit

A ussicht

Die Architektur nimmt mit der oben angeschnittenen Fensterrose fast die ganze linke Hälfte der Fotografie ein und hebt sich zur Bildmitte in feiner Silhouette mit einzeln herausragenden Wasserspeiern vor dem weißen Himmel ab. Details der Rose, das Mosaik des Heiligen Augustus im Zwickel des Rosenquadrats und die Köpfe in den Vierpässen sind trotz der optischen Verzerrung nahsichtig und scharf im Detail wiedergegeben. Das bronzene Agnus Dei über dem Wimperg des Hauptportalgiebels setzt sich mit seinen langen Armierungen wie ein Sche-

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Abbildung 4: Fensterrose des Doms von Orvieto. Fotografie: Mario Moretti, 1925/30, Silbergelatineabzug 20,3 x 26 cm, auf Karton montiert

Kunsthistorisches Institut in Florenz, Max-Planck-Institut, Photothek, Inv.-Nr. 124204

renschnitt vor den kontrastreichen Inkrustationen des Pfeilers dahinter ab. Das Querformat nutzend öffnet sich dem gegenüber in der rechten Bildhälfte ein Panoramablick, der auf drei Ebenen unten die Stadt, in der Mitte die Landschaft und oben den Himmel zeigt. Der Blick stürzt aber nicht auf den Platz hinunter, sondern wird vertikal in Richtung Horizont gestaffelt. Unmittelbar am Dom gelegen sind der Palazzo dell’Opera del Duomo rechts und die ehemaligen Kirche San Giacomo dell’Ospedale links im Bild. In der Fluchtlinie dieses Daches ist in weiter Ferne der Kirchturm der Abbazia di San Severo e Martino erkennbar. Auf dem Hügel rechts darüber – in noch größerem Abstand – liegt das Castel Rubello. Für die Komposition eines seitlich angeschnittenen architektonischen Motivs im Vordergrund und eines großen räumlichen Sprungs in die Tiefe mit Blick auf die umliegende Stadt, gibt es ein frühes Beispiel, das zu den Ikonen der Fotografie und Zeitgeschichte zählt: Charles Nègre fotografierte 1853 Henri Le Secq (einer der Fotografen der Mission Héliographique) neben dem von Viollet-le-Duc entworfenen Wasserspeier auf Notre-Dame.32 Auch der junge Le Corbusier zeichnete und fotografierte Teilansichten von Bauwerken aus extremen Blickwinkeln, etwa um

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1908 das Schloss in Versailles, aber die noch am ehesten mit Morettis Fotografie verwandte Aufnahme ist die der Villa d’Este in Tivoli von 1911.33 Steile Höhen und stürzende Tiefen oder Perspektiven setzten sich erst in der Fotografie der Neuen Sachlichkeit durch.34 Der Unterschied zu Morettis Fotografie liegt aber darin, dass sich die Kamera nicht nur auf dem höchsten Gebäude befand, sondern dass der Dom am südöstlichen Rand Orvietos liegt und die Stadt selbst auf einem Felsplateau, der rupa di tufo, sodass der Höhenunterschied zwischen Kamerastandpunkt und Landschaft noch augenfälliger wird.35 Die Aufnahme Morettis ist mit dem Fluchtpunkt am Horizont, wo Himmel, Landschaft und Strebepfeiler zusammentreffen, bei gleichzeitiger überzeichneter Nahperspektive nicht gerade für die Analyse von Architektur oder Bauskulptur geeignet. Aber, wie der am Marburger Seminar als Lektor tätige Tieschowitz bemerkte: „Die Photographie ist vielfach Entdecker gerade durch die Herauslösung eines Teiles oder eines Ganzen aus dem Zusammenhang […]. Zur Photographie gehört der Photograph.“36 Und da stellt sich die Frage – wo stand Moretti mit seiner Kamera? Das Gesims des Rosengeschosses scheint breit genug zu sein, allerdings ist auf der Aufnahme sowohl das Lamm als auch das unmittelbar darunterliegende Galerieband, das das Rosengeschoss vom Portalgeschoss trennt, leicht von außen und nicht in reiner Aufsicht zu sehen. Dies spricht dafür, dass die Kamera vor dem Strebepfeiler postiert war. Die Fassade hat viele Rüstlocher, die zur Montage von Arbeitsbühnen für Reparaturen oder zur partiellen Fassadenreinigung dienten.37 Schon auf älteren Fotografien von Anderson oder Alinari sind solche scheinbar frei schwebenden Hütten erkennbar, die über das Galerieband zugänglich waren.38 Als Domkustos hatte Moretti den Vorteil, Aufnahmen unter besonderen Bedingungen etwa von einem Gerüst aus machen zu können, weil ihm der Zutritt natürlich leichter als anderen Fotografen möglich war. Tatsächlich zeigt eine im Archivio Raffaelli, Armoni & Moretti, Viceno (TR) befindliche Silbergelatine-Negativglasplatte Morettis am oberen Rand eine solche Plattform (Abb. 5). Von einer ähnlichen Konstruktion aus – allerdings nicht zentral über dem Giebel des Hauptportals, sondern von einer am nördlichen Mittelpfeiler angebrachten Arbeitsfläche – dürfte das Foto aufgenommen worden sein. Die Fensterrose hat den Fotografen Moretti auch noch 20 Jahre später inspiriert. Als das Rundfenster während der Restaurierung 1949–50 demontiert und auf dem Fußboden wie ein Puzzle zusammengesetzt wurde, nahm er es aus großer Höhe senkrecht von oben auf und kehrte damit die Sichtweise des Betrachters um.39 Über einen Zeitraum von mehr als 90 Jahren haben Armoni, Raffaelli und Moretti den Dom in Orvieto fotografiert und sowohl dem wachsenden Wunsch der Touristen nach Souvenirs in Form von Ansichtskarten entsprochen als auch dem Bedarf der Kunst- und Architekturhistoriker nach Abbildungsmaterial. Mario

A Token of his Extreme

Abbildung 5: Teilansicht der Fassade des Doms von Orvieto mit Arbeitsplattform vor dem Galerieband über dem Mittelportal, Fotografie: Mario Moretti, 1925/30, Silbergelatine-Negativglasplatte 13 x 18 cm

Archivio Raffaelli, Armoni & Moretti, Viceno (TR)

Moretti hat im Laufe seiner Tätigkeit ein ganzes Spektrum an kunst- und architekturhistorisch relevanten ebenso wie an sozialdokumentarischen und pittoresken Bildern abgedeckt und schuf mit seiner Kamera bildliche Zeitzeugen des Domes und anderer Kirchen, der Stadt selbst und des Lebens in ihr. Dabei fand er schon in den späten 1920er Jahren zu neuen Perspektiven, die mit seinen Seherfahrungen als Pilot in Zusammenhang stehen dürften und die offenbar parallel zur Architekturfotografie der Neuen Sachlichkeit entstanden.

A nmerkungen 1 | Weinberger, Martin: „Rezension“, in: The Art Bulletin 34.1952, S. 60–63, Zitat S. 60. 2 | Carli, Enzo: Le Sculture del Duomo di Orvieto, Bergamo 1947. Zu Weinberger, zit. bei Carli 1947, S. 30, Anm. 1. 3 | Bodmer, Heinrich: Kunsthistorisches Institut in Florenz, Jahresbericht 1926/27, S. 7.

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Ute Dercks 4 | Bildnachweis bei Carli 1947, S. 53. 5 | Mormorio, Diego/Toccaceli, Enzo Eric: Tre fotografi a Orvieto. Armoni, Raffaelli, Moretti, Palermo 1989, S. 13. Siehe außerdem Lo Presti, Aldo: „Note sull’arte della fotografia ad Orvieto tra ’800 e ’900“, in: Miscellanea orvietana, 3.2012, S. 21–22. 6 | Mormorio/Toccaceli 1989, S. 13. 7 | Photothek des KHI in Florenz, Inv.-Nr. 464802, abgebildet bei Wiener, Jürgen: Lorenzo Maitani und der Dom von Orvieto. Eine Beschreibung, Petersberg 2009, S. 77–79, Abb. 5. 8 | Urkunde abgebildet bei Mormorio/Toccaceli 1989, S. 16, Abb. 4. 9 | Photothek des KHI in Florenz, Inv.-Nr. 197743; siehe auch Sölter, Ulf (Hg.): Italien so nah. Johann Anton Ramboux (1790–1866), Köln 2016, S. 199. 10 | Inventarbuch der Photothek des KHI in Florenz, Inv.-Nr. 285. 11 | Mormorio/Toccaceli 1989, S. 14. 12 | Lo Presti, Aldo: „Alceste Armoni, un pittore di Orvieto a Roma“, in: Miscellanea orvietana, 10.2014, S. 241–244. 13 | Lo Presti, Aldo: „Luigi Raffaelli da Valentano“, in: Miscellanea orvietana, 10.2014, S. 233–239. 14 | Siehe Beispiele bei Mormorio/Toccaceli 1989, Abb. 21–29, 31–35. 15 | Erlaubnis zum Führen eines Gehstocks von 1922, Dokument im Archivio Raffaelli, Armoni & Moretti, Viceno (TR). 16 | Archivio Raffaelli, Armoni & Moretti, Viceno (TR). Mein herzlicher Dank gilt Roberta Massino und Marino Moretti für ihre großzügige Unterstützung und Gastfreundschaft. 17 | Lo Presti, Aldo: Le Arti ad Orvieto – proposta per un dizionario, Orvieto 2006, S. 496. 18 | Beispiele abgebildet bei Mormorio/Toccaceli 1989, S. 43–48, 62 ff. 19 | Siehe ICCD E088447. 20 | Siehe http://www.censimento.fotografia.italia.it/fondi/archivio-raffaelli-armoni-moretti und

http://www.fotografia.iccd.beniculturali.it/index.php?r=collezioni/immagini&fondo=

Raffaelli%2C+Armoni+e+Moretti [28.02.2019]. Mit freundlichem Dank an Elena Berardi für die Unterstützung bei der Recherche im ICCD in Rom. Weitere Glasplatten befinden sich im Archivio Raffaelli, Armoni & Moretti, Viceno (TR) sowie in der Domopera (MODO) von Orvieto. Es existieren keine Verkaufskataloge der Fotografien, sondern nur firmeninterne Listen. 21 | „Luigi Raffaelli-Armoni“, Mormorio/Toccaceli 1989, S. 18, Abb. 7. 22 | Noell, Matthias: „Denkmalsammlungen, Denkmalarchive. Zur Rolle der Fotografie in den Denkmalinventarien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts“, in: Hubert Locher/ Rolf Sachsse (Hg.), Architektur Fotografie. Darstellung – Verwendung – Gestaltung, Berlin, 2016, S. 24–39. Literatur und Beispiele zur Architekturfotografie siehe Grand, Philippe (Hg.): Vues d’architectures – photographies des XIXe et XXe siècles, Paris 2002; Fanelli, Giovanni: Storia della fotografia di architettura, Rom/Bari 2009; Derenthal, Ludger/Kühn, Christane (Hg.): Ein neuer Blick, Architektur aus den Staatlichen Museen zu Berlin, Berlin 2010.

A Token of his Extreme 23 | Mondenard, Anne de: La mission héliographique, cinq photographes parcourent la France en 1851, Paris 2002. 24 | Ruskin, John: The Seven Lamps of Architecture, Oxford 1849, Preface, S. vi. 25 | Wiener 2009, S. 215. 26 | Vogel, Hermann Wilhelm: Lehrbuch der Photographie, Berlin 1870, Kapitel „Von der Perspective, Standpunkthöhe bei Landschaften“, S. 407–420, bes. S. 419–420. 27 | Burmeister, Werner/Hege, Walter: Die Westfälischen Dome: Paderborn, Soest, Osnabrück, Minden, Münster 1936, S. 6. 28 | „Diese Sehweise ist von der Romantik beeinflusst, deren Anliegen es ist, die Monumentalität und aufstrebend Höhe der Bauten besonders zu betonen,“ Grefe, Uta: Die Geschichte der Architekturfotografie im 19. Jahrhundert, Köln 1980, S. 103, mit Verweis auf Sedlmayr, Hans: Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950, S. 526–528. 29 | Robert Rive, „N. 2357. Veduta della Facciata del Duomo di Orvieto”, siehe Fanelli, Giovanni: Catalogo dello stabilimento fotografico Robert Rive, Addenda gennaio 2018, Sonderdruck außerhalb des Buchhandels, S. 76. Diesen Bildausschnitt – allerdings ohne dass das Fassadengerüst angebracht war – wählte Rive erneut für eine spätere Aufnahme und unter Verwendung derselben Negativnummer; der bronzene Stier vom südlichen Strebepfeiler hingegen fehlte auch schon zum Zeitpunkt dieser Aufnahme, die 1881 publiziert wurde in: Salazaro, Demetrio: L’Arte Romana al Medio Evo, Appendice agli Studi sui Monumenti della Italia Meridionale I, Neapel 1881, Tafelteil unpaginiert. 30 | Zum Begriff siehe Taut, Bruno: Die Stadtkrone, Jena 1919. 31 | Im Inventarbuch XVIII der Photothek des KHI in Florenz wurden am 6. Sept. 1939 insgesamt 83 Fotografien (124200–124282) zu Orvieto inventarisiert, die alle bei „Armoni Moretti“ erworben worden waren, darunter auch das Fensterrosenbild Nr. 100. 32 | „Le Stryge“, 1853, Salzpapierabzug von Papiernegativ, mit Wachs behandelt, Paris, RMN (Musée d’Orsay); dazu Le Men, Ségolène: „De Notre-Dame de Paris au Stryge, l’invention d’une image“, in: Livraisons de l’histoire de l’architecture, 20.2010, S. 49–74. 33 | Abgebildet bei Mazza, Barbara: Le Corbusier e la fotografia, la vérité blanche, Florenz 2002, S. 40, Abb. 53 (Versailles) und Piotrowski, Andrzej: „Le Corbusier and the representational function of photography“, in: Higgott, Andrew /Wray, Timothy (Hg.), Camera constructs: photography, architecture and the modern city Farnham 2012, S. 35–45, Abb. 2.5 (Tivoli). 34 | Vgl. Stetler, Pepper: The Object, the Archive and the Origins of Neue Sachlichkeit Photography, in: History of Photography, 35(3).2011, S. 281–295. 35 | Siehe weitere Beispiele von Morettis extremen Perspektiven: D010350 (Wimpergspitze mit Landschaft); D10680 (Agnus Dei mit Landschaft) und D010359 (Stier, mit für den Druck retuschierter Landschaft) beide bei Carli 1947, T. 70 und 68. 36 | Tieschowitz, Bernhard von: „Die Photographie im Dienste der kunstgeschichtlichen Forschung“, in: Festschrift Richard Hamann zum 60. Geburtstage, Burg 1939, S. 151–162, Zitat S.

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Ute Dercks 152. Vgl. zu Tieschowitz und dem Lektorat der Fotografie am Marburger Seminar, Matyssek, Angela: Kunstgeschichte als fotografische Praxis, Berlin 2009, passim, bes. S. 30–31. 37 | Mit freundlichem Dank an Alessandra Cannestrá, die mich hierauf hinwies. Auch im Inneren des Domes wurde auf diese Weise gearbeitet, siehe u. a. Foto im Querhaus, ICCD E088349. 38 | Im Alinari-Archiv die Inv.-Nrn. ADA-F-000376 und AVQ-A-000992-0088. 39 | Siehe ICCD E087410, außerdem, Bartoli, Lando: „Il restauro del rosone centrale del duomo di Orvieto“, in: Bollettino d’arte, 4. Ser. 36.1951, S. 263–265.

Der Kunstsalon als Raumgelegenheit im Warenhaus Das Beispiel des Warenhaus Tietz in Düsseldorf Andrea von Hülsen-Esch

„Wo sich Merkur der Kunst vermählt,



wo frisch des Lebens Pulse schlagen,



wo Schaffenskraft den Willen stählt,



da werden beide Früchte tragen.“

Die Internationale Kunstausstellung 1922 des Jungen Rheinland im Warenhaus Tietz in Düsseldorf, die einen Überblick über die zeitgenössische Avantgarde zeigte, sorgte nicht nur in der Presse für Nachhall, sondern sie war auch der Auslöser für die Aufspaltung der Künstlervereinigung in verschiedene Gruppen.2 Dadurch hat die Ausstellung eine größere Bekanntheit erlangt als manch andere des Jungen Rheinland, dem Ausstellungsort allerdings wurde bislang kaum die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt.3 Dem Warenhaus als Ausstellungsgelegenheit und den damit einhergehenden Fragen nach Ausstellungsleitung, konkurrierenden Konzepten zu üblichen Ausstellungsräumen und dem Wechselverhältnis von Kunst und Warenhaus soll im Folgenden anhand der Anfänge dieses Phänomens und insbesondere im Zusammenhang mit dem Warenhaus Tietz in Düsseldorf nachgespürt werden. Der Bau des Warenhauses der Leonhard Tietz a. G. in Düsseldorf 1907–1909 war Aufreger und Hingucker zugleich: Nicht nur wurde der Bau gegen den Widerstand des unternehmerischen Mittelstands und gegen die Auflage, auf dem Grundstück zwischen der heutigen Heinrich-Heine-Allee (der ehemaligen Alleestraße), der Königsallee und der Theodor-Körner-Straße (ehemals Bazarstraße) ein Kaufhaus zu bauen, verwirklicht, mit der architektonischen Gestaltung von Fassade und Innerem durch Joseph Maria Olbrich wurden für die nachfolgenden Warenhausbauten deutschlandweit Maßstäbe gesetzt.4 Zu Recht betont Eberhard Gruns-

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Abbildung 1: Warenhaus Tietz Düsseldorf, Haupteingang an der Bazarstraße – aus: Grunsky, Eberhard: Alterswert und neue Form. Beiträge zur Denkmalpflege und zur Baugeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Denkmalpflege und Forschung in Westfalen 51), Münster 2011, S. 31

© Bildarchiv Foto Marburg

Der Kunstsalon als Raumgelegenheit im Warenhaus

ky, dass mit dem anspruchsvollen Bau des Düsseldorfer Warenhauses nicht nur ein neuer Anspruch mit der Gattung Kaufhaus – weg vom Massengeschäft – verbunden werden sollte: Die von Olbrich umgesetzte Gestaltung einer rhythmisch durch schmale Stäbe und Pfeiler gegliederten gläsernen Außenhaut bot zugleich Platz für Bauplastik, die an zwei Eckrisaliten und über dem Haupteingang angebracht war. Johannes Knubel gestaltete die Reliefquader, die zum einen Athene und Personifikationen der Künste,5 zum anderen Personifikationen von Industrie, Landwirtschaft und Bauwesen zeigte. Auch die Giebel des Hauptportals waren thematisch dem Handel und der Kunst gewidmet: Unter Säulenbaldachinen standen eine Bronzefigur des Merkur, begleitet von Personifikationen des Ackerbaus, Bergbaus, der Industrie und Schifffahrt, sowie eine Allegorie der Kunst mit einer Statuette in der Hand, der Darstellungen von Kunstgeschichte, Kunstgewerbe, Malerei und Architektur zugeordnet waren.6 (Abb. 1) Die programmatische Verbindung von Kunst und Kommerz in der Bauplastik war zugleich Hinweis auf eine eher von künstlerischen Ansprüchen getragene Erweiterung des Sortiments im Inneren, auf die Einrichtung von Fotoateliers, Ausstellungen von Modellkleidern, Abteilungen für Literatur, Noten und Kunstgewerbe – und der Einrichtung eines Kunstsalons.7 Auch die Ausstattung im Inneren mit edlen Hölzern, ihre Verwendung je nach Funktion in der Wertigkeit entsprechend, scheint mit einem neuen Anspruch des Warenhauses als Schau- und Ausstellungsgebäude von besonderen Waren einherzugehen.8 Insgesamt gingen die Kaufhäuser seit der Jahrhundertwende innerhalb Deutschlands dazu über, das Angebot über die Verkaufsabteilungen hinausgehend um Dienstleistungen und Luxusartikel zu erweitern: In Erfrischungsräumen und Teesalons konnte man sich ebenso von dem Trubel erholen wie in Lesezimmern und Ruheräumen oder im Friseursalon; die Vorverkaufskasse für Konzertkarten ließ bereits ein Kunstereignis anklingen und große Orientteppich-Salons versetzten in ein anderes Ambiente9 – so beispielsweise derjenige des Düsseldorfer Warenhauses Tietz, der sich über zwei Stockwerke und acht Metern Höhe erstreckte und sich durch Eichenholzvertäfelung und -schnitzereien, Gobelinstickereien an den Pfeilern und eine orientalisierende Beleuchtung durch Moscheeampeln von allen übrigen Abteilungen abhob.10 (Abb. 2) Die bereits an der Außenhaut des Gebäudes sichtbar gemachte fruchtbare Vereinigung von Kunst und Kommerz war keine Erfindung von Leonhard Tietz, denn Vorläufer von Kunstsalons in Warenhäusern gab es bereits in Frankreich,11 London12 und in den U. S. A.,13 seit der Jahrhundertwende bei Wertheim in Berlin14 und mit Fotoateliers und einer angeschlossenen Bilderausstellung seit 1905 im Kaufhaus Tietz in München.15 Allerdings scheint der Kunstsalon im neuen Düsseldorfer Warenhaus Tietz 1909 zu den frühen Einrichtungen dieser Art zu gehören, denn erst 1911 folgt das Kaufhaus Wronker in Frankfurt am Main.16 Mit vier hinterein-

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Abbildung 2: Warenhaus Tietz Düsseldorf, Orientteppich-Salon

Aus: Olbrich, Joseph Maria: Neubau Tietz Düsseldorf, Berlin 1909, S. 54

Der Kunstsalon als Raumgelegenheit im Warenhaus

Abbildung 3: Warenhaus Tietz Düsseldorf, Grundriss II. Obergeschoss

Aus: Olbrich, Joseph Maria: Neubau Tietz Düsseldorf, Berlin 1909, Anhang

ander gestaffelten, geschlossenen Räumen, vom Erfrischungsraum aus zu begehen und zur Königsallee hin mit großen Tageslichtfenstern versehen, bietet er eine – anscheinend nach dem Vorbild Wertheims an der Leipziger Straße in Berlin gestaltete – Raumfolge,17 (Abb. 3) die wie ein Museum zum konzentrierten Betrachten von Kunst einlädt, über die man danach bei einer Erfrischung trefflich streiten kann.18 (Abb. 4–6) Die gesamte zweite Etage war mit exklusiven Waren bestückt, die im weitesten Sinne zur Raumausstattung gehörten beziehungsweise Luxusartikel für das zahlungskräftige Bürgertum darstellten: mit einem prachtvollen Orient-Teppichsaal, je einer Abteilung für Kunstgewerbe und Bilderrahmen, Gardinen, Portièren und Decken, einem Galanteriewaren- und Putzsalon, Lederwaren und Sportartikel, optischen Geräten und Spielwaren.19 Insgesamt wird die Ausstattung dieser mit Wänden und Türen bestückten Verkaufsräume innerhalb des Waren-

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Abbildung 4: Warenhaus Tietz Düsseldorf, Kunstsalon im II. Obergeschoss

Aus: Olbrich, Joseph Maria: Neubau Tietz Düsseldorf, Berlin 1909, S. 50

Der Kunstsalon als Raumgelegenheit im Warenhaus

Abbildung 5: François Duquesnoy, Der Hl. Andreas, 1629–1640, Rom, Petersdom

Aus: Olbrich, Joseph Maria: Neubau Tietz Düsseldorf, Berlin 1909, S. 51

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Abbildung 6: Warenhaus Tietz Düsseldorf, Kunstsalon im II. Obergeschoss

Aus: Olbrich, Joseph Maria: Neubau Tietz Düsseldorf, Berlin 1909, S. 52

hauses,20 die einen Kunstcharakter aufweisen, weil sie nach dem Modell der Pariser Warenhäuser keine Konfektionsware, sondern einzigartige Modelle oder Unikate mit Repräsentationswert bereithalten, durch eine dem architektonischen Ort angemessene Materialgerechtigkeit von den übrigen Warenauslagen abgegrenzt: „Edelste Hölzer in ungewöhnlich großen und schwierigen Ausführungen wurden verwandt. [...] Zu nennen ist hier der Costumesalon in Zitronenholz, das Reisebureau in weißem Ahorn, der Ausstellungsraum für Damenhüte in silbergrauem Ahorn, der Erfrischungsraum in finnländischem Birkenholz, der Teppichsaal in Eiche, der große Lichthof in dunklem Mahagoni, die Anproberäume in den verschiedensten Variationen, Nußbaum, Ahorn, Birnbaum usw., ferner die Kunstsalons in Ahorn und Ebenholz usw.“ 21

Schon die Zeitgenossen haben klar erkannt, dass mit diesem Konzept neue Käuferschichten erschlossen werden sollten: Die neuen Abteilungen bekräftigten die bei Leonhard Tietz bereits seit 1905 zu beobachtende Tendenz, „die vertikale Ausdehnung in den Qualitäten“ zu befördern und neue Käuferschichten anzulocken.22 Dass die ausgestellten Kunstwerke zu den gehobenen Waren gehört haben dürften, bestätigt auch die Ausstattung des Kunstsalons mit grauem und weißem

Der Kunstsalon als Raumgelegenheit im Warenhaus

Ahorn sowie mit Ebenholz nach einem Konzept von Hermann Billing; interessanterweise soll die gesamte Raumausstattung und Bestückung mit Möbeln dem „Charakter der auszustellenden Kunstwerke“ entsprechend in jeder Ausstellung angepasst werden, um nach den Vorstellungen von Joseph Maria Olbrich einen „harmonischen Einklang von Raum und Kunstwerken zu erreichen“ und den Eindruck einer Wohnsituation im „bürgerlichen Wohnhause“ zu erwecken.23 „Durch Beispiele soll hier unaufdringlich und keineswegs lehrhaft gezeigt werden, wie die einzelnen Teile des Raumes und der Kunstwerke zueinander in Beziehung rücken können, wie auf die Wirkung des Bildes, der Plastik, des Möbels Rücksicht zu nehmen ist.“24 (Abb. 6) Wenngleich die ästhetische Anmutung im Vordergrund steht, kommt diese Art der Präsentation natürlich auch dem Inhaber des Warenhauses entgegen, der gleich am Ausgang des Kunstsalons mit der Abteilung für Raumausstattung aufwartet. Dennoch wird in der Festschrift zur Eröffnung des Warenhauses betont, dass sich mit dem Kunstsalon die „künstlerische Absicht“ verbinde, „hunderten und abermals hunderten [Personen] Gelegenheit zu geben, sich an der Schönheit künstlerischen Schaffens immerwährend zu erfreuen“.25 So sehr der Aspekt der Sensibilisierung des Publikums für einen guten und zeitgemäßen Geschmack hier auch vordergründig stimmig sein mag26 – der heutige Leser verspürt zugleich einen leichten Rechtfertigungsdrang für einen Kunstsalon diesen Ausmaßes in einem Warenhaus, der dem Inhaber mittels kultureller Ambition eine ebensolche vertikale Mobilität verschafft wie seinen Waren, hier bezogen auf die gesellschaftliche Einordnung.27 Allerdings spielte das Zugänglichmachen von Kunst für ansonsten kunstferne soziale Schichten auch in den U. S. A. eine große Rolle bei den Warenhausneugründungen.28 Da nur „wirkliche Kunstwerke zur Anschauung“ gebracht werden sollen, wird die Auswahl der Werke dem Karlsruher Professor Hermann Billing und den Düsseldorfer Malern Max Clarenbach und Fritz Westendorp übertragen; ihnen obliegt auch die Konzeption und Hängung der Ausstellungen, die nie länger als sechs Wochen dauern sollen.29 Ursprünglich sollten hauptsächlich deutsche Maler zur Ausstellung kommen, doch bereits die zweite Ausstellung im Mai 1909 war belgischen Künstlern gewidmet,30 was sowohl den Kontakten eines der Ausstellungsleiter geschuldet sein mochte als auch dem Expansionsdrang von Leonhard Tietz, der seit 1900 in Antwerpen präsent war, den Standort Belgien kontinuierlich ausbaute und 1910 das größte Warenhaus in Brüssel eröffnete.31 Interessant ist auch die Preisgestaltung: Es sollen „Wahrhaftigkeitspreise“ sein, ohne die Möglichkeit, zu handeln oder die Werke zu einem Unterangebot zu erstehen. Die Ausstellungsleiter stehen für die Preisabsprachen ein und wirken auch auf die Künstler ein, ihre Werke nicht unter der Hand zu einem geringeren Preis zu verkaufen: Damit solle eine „neue Gewohnheit im Kunsthandel“ ausgebildet werden.32 Interessanterweise wird der

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Abbildung 7: Katalog der ersten Ausstellung im Kunstsalon Tietz

© Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf

Aspekt eines Festpreises durchaus werbend ins Feld geführt, in der Hoffnung, damit alle Künstler für den Kunstsalon zu gewinnen – vielleicht auch dies ein Indiz dafür, dass die Künstlerschaft einem Kunstsalon im Warenhaus, der von den Zeitgenossen „Kaufpalast“33 genannt wurde, durchaus skeptisch gegenüberstand. Das neue Warenhaus wird bereits vor Eröffnung des Neubaus in ganzseitigen Anzeigen beworben;34 Annonce-Kampagnen in Zeitungen werden gerade zu jener Zeit deutschlandweit als wirksames Werbemittel eingesetzt – auch hier scheint sich Leonhard Tietz an dem Vorgehen des Kaufhauses Wertheim orientiert zu haben, deren Inserate den Ruf von „Meisterwerken bildloser Reklame“ hatten.35 Von

Der Kunstsalon als Raumgelegenheit im Warenhaus

Beginn an hoben sich die Anzeigen von denjenigen anderer Geschäfte durch ihre grafische Gestaltung ab, die durch einen gestalteten Rahmen im Stil eines „laufenden Hundes“ und eine eigene Typografie einen sofortigen Wiedererkennungswert hatten – und damit im Rheinland einen neuen Standard etablierten.36 Gleichwohl erhielt das Warenhaus Tietz erst durch Adolf Uzarski eine grafische Werbestrategie, der ab 1910 die Werbung für Sonderaktionen in Form von Plakaten und Werbemarken und später sämtliche Anzeigen gestaltete; er hatte sich zuvor als künstlerischer Werbeleiter des Warenhauses Cohen & Epstein in Duisburg einen Namen gemacht.37 Im Düsseldorfer Generalanzeiger wurde die erste Kunst-Ausstellung zur Eröffnung des Kaufhauses nicht eigens mit einer Annonce beworben – allerdings wird auf sie mit den Worten „ständige Kunstausstellung“ bei der Bewerbung der Waren in der dritten Etage verwiesen38 und bereits wenige Tage nach Eröffnung des Warenhauses unter der Rubrik „Von unseren Kunstausstellungen“ im Düsseldorfer Generalanzeiger besprochen: „Die ideale Absicht der künstlerischen Leiter [...] geht dahin, unter keinen Umständen die gewöhnliche Marktware zuzulassen, sondern ausschließlich ernste, moderne Kunst zu bringen, die einen für Künstler und Publikum anregenden und weiterführenden Charakter trägt.“39 Ein Teil der vertretenen Künstler – Max Clarenbach, Julius Bretz, Walter Ophey, Wilhelm Schmurr, Alfred und Otto Sohn-Rethel, Ernst te Peerdt – gehören dem neuen Sonderbund an, der 1908 mit einer Sonderausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle hervortritt.40 (Abb. 7) Von den „mehr als 30 vertretenen Künstlern“ – es waren genau 38 – mit 54 ausgestellten Werken werden 21 namentlich in der Besprechung erwähnt, zum Teil werden ihre Werke wertend gewürdigt.41 Auch in überregionalen Monatsschriften werden einige Künstler erwähnt.42 21 Künstler kommen aus Düsseldorf, von den auswärtigen Malern führt im Katalog Wilhelm Trübner (Karlsruhe), der in der Besprechung gemeinsam mit Max Liebermann zuerst hervorgehoben wird, mit weitem Abstand die angegebenen Verkaufspreise für die Gemälde an; es folgen August Kraus und Julie Wolfthorn (Berlin), Robert Sterl (Dresden), Max Liebermann (Berlin), Johann Georg Dreydorff (Belgien), Emil Orlik (Berlin) und Heinrich Vogeler (Worpswede). Von den Düsseldorfer Malern reicht nur Wilhelm Schneider-Didam mit einem angegebenen Verkaufspreis von 2000 Mark an die auswärtigen Künstler heran; Clarenbach, Westendorp und de Peerdt liegen immerhin über der 1000-Mark-Grenze. Die Verkaufspreise werden in der Besprechung nicht thematisiert, wohl aber das fehlende Konzept bei der Zusammenstellung der Maler, die gleichwohl alle als hochwertig anerkannt werden: „Ein einheitlicher Charakter geht ihr [der Ausstellung] ab, und es fragt sich, ob es sich bei der quantitativen Beschränktheit der Darbietungen nicht empfiehlt, später einen einzigen

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Andrea von Hülsen-Esch Künstler oder doch eine zusammengehende kleinere Gruppe in den Mittelpunkt zu stellen und den herrschenden Ton angeben zu lassen. Auf alle Fälle fühlt man sich auch jetzt in sehr guter Gesellschaft.“ 43

Wenngleich die späteren Ausstellungskataloge keine Preise mehr verzeichnen, so erfahren wir aus einer Zusammenstellung der verkauften Werke im Katalogheft der Eröffnungsausstellung Januar 1910, dass im Jahre zuvor hauptsächlich Werke Düsseldorfer sowie einiger weniger holländischer Maler verkauft worden waren, unter ihnen vorwiegend Werke von Fritz Westendorp, David Zacharias, Julius Jungheim und Max Stern.44 Ob hierbei monetäre Aspekte eine Rolle spielen – die Preise der verkauften Werke lagen, soweit bekannt, unter 1000 Mark – oder die Berliner, Dresdner und Münchener Künstler, aber auch etwa Max Clarenbach, zu progressiv in ihrer Malweise waren, muss an dieser Stelle offen bleiben. Festzuhalten bleibt, dass in den folgenden Katalogheften keine Preise mehr verzeichnet sind, dafür ein Eintrittspreis von 20 Pfennig erhoben wird beziehungsweise eine Jahreskarte von 2 Mark erworben werden kann.45 Die folgenden Ausstellungen scheinen den kritischen Bemerkungen Rechnung zu tragen,46 versammeln sie doch 1909 in den anschließenden Schauen jeweils „Belgische Kunst“, „Französische Graphik“, „Raumkunst“, dann neben Werken der Düsseldorfer Künstler Julius Jungheim und David Zacharias Gemälde holländischer Künstler, und in der Weihnachtsausstellung kommen allein Düsseldorfer Künstler zur Geltung. 1910 beginnt mit einer Einzelpräsentation von Karl Vinnen, danach folgen – neben immer auch präsenten Düsseldorfer Künstlern – Ausstellungen mit Schwerpunkten auf Kunstgewerbe und Innenausstattung sowie auf englischen Künstlern. Für 1911 lässt sich eine Wiederholung der Ausstellungsfolge von Düsseldorfer Künstlern, Belgischen Künstlern, Grafik französischer, belgischer, holländischer, deutscher und nordischer Künstler und Raumkunst festmachen.47 Es scheint so, als ob die überregionalen Maler aus Berlin, München und Dresden zugunsten kunstlandschaftlich zusammengestellter Malerei weggefallen wären und neben den einheimischen Malern die Ausstellungen von einer deutlichen West-/Nordwestorientierung geprägt worden wären. Die Ausstellungen zu Kunstgewerbe, Raumkunst und Innenausstattung werden von Hermann Billing verantwortet, wie auf den Ausstellungsbegleitheften eigens vermerkt wird. Seine Raumgestaltung der ersten Ausstellung wird von der überregionalen Kritik gelobt, von der lokalen Presse mit einigen kritischen Nuancen versehen.48 Die für das Programm verantwortlichen Clarenbach, Westendorp und Billing sind wahrscheinlich auf Wunsch Olbrichs als Verantwortliche für den Kunstsalon eingesetzt worden: Olbrich und Clarenbach hatten sich über eine Wanderausstellung des Verbands der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein 1904/05 kennen-

Der Kunstsalon als Raumgelegenheit im Warenhaus

gelernt, dann anlässlich der Deutschen Kunstausstellung 1906 in der Kölner Flora eng zusammengearbeitet, deren Jury sie angehörten.50 Die Gebäude für die Kölner Flora bauten Olbrich, Peter Behrens und Hermann Billing, der seit 1904 mit den Planungen beschäftigt war51 – auch er war also spätestens seit dieser Zeit mit Olbrich und Clarenbach bekannt. Fritz Westendorp wiederum, Kölner in Düsseldorf, Künstler des Sankt Lucas-Clubs und Mitorganisator der Internationalen Kunstausstellung 1904 in Düsseldorf, die erstmals die junge Malerei des Rheinlands in einen größeren Kontext stellte und damals einen Großteil der Düsseldorfer Maler versammelte, die auch 1909 im Warenhaus Tietz ausgestellt wurde, wurde wohl eher über Clarenbach Teil des Leitungstrios.52 Doch auch Leonhard Tietz werden die Künstler nicht unbekannt gewesen sein: Seit 1891 in Köln mit Geschäften und seit 1902 mit einem Warenhaus beheimatet,53 wird auch für ihn angenommen werden können, dass er die Künstler wohl bei Gelegenheit der Ausstellung in der Flora in Köln bereits kennengelernt hatte. Leonhard Tietz selbst war der Moderne gegenüber aufgeschlossen; als Kunstsammler und Kunstmäzen stiftete er bereits 1910 dem Kölner Walraff-Richartz-Museum das Gemälde Das Jagdfrühstück von Gustave Courbet und ließ sich 1911 von Max Liebermann porträtieren.54 Die Ausstellungsleiter wie auch der Warenhausbesitzer vertraten also eine künstlerische Moderne im Rheinland, die sich von der akademischen Malerei der Düsseldorfer Kunstakademie absetzte, die die ästhetischen Neuerungen aus Frankreich aufnahm und aus der kurz vor Eröffnung des Warenhauses der Sonderbund erwuchs. Stellten aber die Ausstellungen tatsächlich „einen bedeutenden Schritt zur Aktualisierung der Kunstszene dar“ und waren der Galerie von Paul Cassirer vergleichbar?55 Die Lobeshymnen in der Lokalpresse scheinen dem Recht zu geben: „Der unparteiisch Urteilende wird zugeben müssen, daß der Salon Tietz unter seiner künstlerischen Leitung nicht nur von vorneherein eine sehr respektable Nieveauhöhe erstrebte, sondern diese auch dauernd festzuhalten gewußt hat. Er ist sogar der einzige der hiesigen permanenten Salons, aus dem das im üblen Sinne Minderwertige mit Konsequenz ausgeschlossen scheint. [...] Völlig bewahrt bleibt man vor dem wirklichen Kitsch, jener billigen Marktware, die sich bei uns in ihrer den Geschmack verbildenden Weise noch immer viel zu breit macht.“56

Sicherlich war mit der ersten Ausstellung und zum Zeitpunkt der Gründung 1909, nachdem die Galerie Schulte in Düsseldorf geschlossen hatte und es nicht viele Ausstellungsgelegenheiten für Künstler im Rheinland gab, die Hoffnung berechtigt, dass der Kunstsalon Tietz eine wichtige Rolle im Kunstleben einnehmen könnte. Die gleichzeitig und wenig später entstehenden Ausstellungsgelegenheiten

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für zeitgenössische nicht akademische Kunst, beispielsweise bei Walter Cohen, im Gereonsclub, danach mit den Galerien Feldmann und Flechtheim sowie die großen Kunstausstellungen in Düsseldorf und Köln lassen jedoch eher darauf schließen, dass der Kunstsalon im Warenhaus den erhofften Platz nicht einnehmen konnte.57 Die Gründe dafür zu erforschen, bleibt eine ebenso lohnende Aufgabe wie die grundlegende Untersuchung der Ausstellungsgelegenheit in Warenhäusern als ein Phänomen des modernen Kunsthandels. Kunst und Kommerz gehen im Kunstsalon Tietz zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Allianz ein, die den Konsum zum Kulturträger erhebt und ihm eine ästhetische Note sowie eine positive Bewertung verleiht58 – eine Entwicklung, die geradewegs zu den Marketingstrategien großer Unternehmen am Ende desselben Jahrhunderts geführt hat.

A nmerkungen 1 | Inschrift auf dem Eckquader des Warenhauses Tietz Ecke Alleestraße (Heinrich-Heine-Allee) und Bazarstraße (Theodor-Körner-Straße). Zitiert n.: Grunsky, Eberhard: „Das Warenhaus Tietz in Düsseldorf (zuerst 1978)“, in: ders.: Alterswert und neue Form. Beiträge zur Denkmalpflege und zur Baugeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (= Denkmalpflege und Forschung in Westfalen, Bd. 51), Mainz 2011, S. 21–36, hier S. 30. 2 | Diese Kunstausstellung wird im Rahmen des Projekts Das Junge Rheinland Gegenstand der wissenschaftlichen Tagung im Mai 2019 Das Junge Rheinland – gegründet – gescheitert – vergessen? in Düsseldorf sein; an dieser Stelle sei nur kursorisch verwiesen auf die Ausstellungen der Gruppe in: Baumeister, Annette: Das Junge Rheinland – Zur Geschichte der Künstlergruppe 1919–1922, in: Susanne Anna / Annette Baumeister (Hg.), Das Junge Rheinland. Vorläufer, Freunde, Nachfolger, Ostfildern 2008, S. 9–22. 3 | Die ausführlichste (allerdings nicht umfassende) Zusammenfassung der Literatur zum Kunstsalon Tietz findet sich bei Delden, Friederike van: „Der Kunstsalon im Warenhaus Tietz“, in: Nadine Oberste-Hetbleck (Hg.), Zur Geschichte des Düsseldorfer Kunsthandels, Düsseldorf 2014, S. 78–84. 4 | Die jüngste Übersicht über Planung, Bauvorhaben und den Vergleich mit dem Kaufhaus Wertheim in Berlin bei Krämer, Steffen: „Lichtdom und Kaufpalast. Das Warenhaus Tietz in Düsseldorf“, in: Ralf Beil/Regina Stephan (Hg.), Joseph Maria Olbrich 1867–1908. Architekt und Gestalter der frühen Moderne. Ausst.-Kat. Mathildenhöhe Darmstadt, Köln 2010, S. 362– 374; eine nach wie vor bewährte Grundlage zum Bauvorhaben bietet Grunsky 1978/2011, S. 21–36; zum komplizierten Wettbewerbsverfahren, bei dem Otto Engler und das Büro Rehberg & Lipp aus Charlottenburg zunächst die Favoriten waren, jetzt Olek, Ariane: „Der Wettbewerb um das Warenhaus Tietz in Düsseldorf“, in: in situ. Zeitschrift für Architekturgeschichte 3.2011, S. 271–285 und Grunsky 1978/2011, S. 26–29.

Der Kunstsalon als Raumgelegenheit im Warenhaus 5 | Zum Bildhauer Johannes Knubel (1877–1949) fehlt bis heute eine kunsthistorische Aufarbeitung; ausgebildet in Breslau, Berlin und München, ließ er sich um die Jahrhundertwende in Düsseldorf nieder und schuf im Rheinland und im Ruhrgebiet – durch seine enge Zusammenarbeit mit den Architekten Wilhelm Kreis und Joseph Maria Olbrich – Bauplastiken für die großen Tietz-Warenhausneubauten in Düsseldorf, Köln und Elberfeld sowie für die Alsberg-Kaufhäuser in Bochum und Dresden; vgl. Art. „Knubel, Johannes“, in: Andreas Beyer/Bénédicte Savoy/Wolfgang Tegethoff (Hg.), Allgemeines Künstlerlexikon – Internationale Künstlerdatenbank online, München/Berlin, https://www.degruyter.com/view/ AKL/_00105080?rskey=4FOPOH&result=2&dbq_0=Knubel%2C+Johannes&dbf_0=akl-fulltext&dbt_0=fulltext&o_0=AND [31.03.2019]; zur Gestaltung des Warenhauses Tietz Grunsky 1978/2011, S. 29–33. Knubels Skulpturen waren offensichtlich im Auftrag Olbrichs in dieser traditionellen Manier gestaltet; jedenfalls scheint die Rezeption der Bauplastik eher verhalten gewesen zu sein; vgl. Schäfer, Wilhelm: „Das Warenhaus Tietz zu Düsseldorf“, in: Die Rheinlande 18.1909, S. 233–236, hier S. 236; Krämer 2010, S. 365, zum Repräsentationsgehalt der traditionellen Ornamentik. 6 | Grunsky 1978/2011, S. 30 m. Anm. 35. Zur bauplastischen Gestaltung der Seiteneingänge mit Tugendallegorien vgl. ebd. Ganz offensichtlich wollte Tietz hiermit die künstlerische Gestaltung des Kaufhauses Wertheim in Berlin übertrumpfen, das kein kohärentes bauplastisches oder malerisches Programm im Inneren zeigt, gleichwohl bereits mit allegorischen Figuren geschmückt ist; vgl. Ladwig-Winters, Simone: Wertheim – Warenhausunternehmen und seine Eigentümer. Ein Beispiel der Entwicklung der Berliner Warenhäuser bis zur „Arisierung“, Berlin 1997, S. 46 f. 7 | Ebd., S. 29–32; s. auch Schwarz, Jürgen: Architektur und Kommerz. Studien zur deutschen Kauf- und Warenhausarchitektur vor dem Ersten Weltkrieg am Beispiel der Frankfurter Zeil, Frankfurt a. M. 1995, S. 58. 8 | Zur Innenausstattung Grunsky 1978/2011, S. 25; Creutz, Max: Joseph M. Olbrich. Das Warenhaus Tietz in Düsseldorf, Berlin 1909, S. 14 f.; Olbrich, Joseph Maria: Neubau Tietz Düsseldorf, Berlin 1909, S. 47–52. 9 | Schwarz 1995, S. 58; sehr anschaulich beschreibt in einem eigenen Kapitel Alfred Wiener unter der Überschrift „Die Räume zur Erholung und Bequemlichkeit des Publikums“ diese neuen Angebote im Rahmen der Warenhäuser; vgl. Wiener, Alfred: Das Warenhaus. Kauf-, Geschäfts-, Büro-Haus, Berlin 1912, S. 69–78 und weiter S. 245–259. 10 | Creutz 1909, S. 15. 11 | Louis Corbin überließ in Nancy das gesamte 5. Obergeschoss des 1906 errichteten Warenhauses Les Magasins Réunis den Künstlern als Atelier- und Ausstellungsgelegenheit; vgl. Marrey, Bernard: Les grands magasins des origines à 1939, Paris 1979, S. 143–146. Das Printemps gründete ein eigenes Geschäft für Kunstgewerbe und Inneneinrichtungen, das von Künstlern, die regelmäßig in den salons ausstellten, geführt wurde und im Stil des Art Deco

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Andrea von Hülsen-Esch den Kunden ein aufeinander abgestimmtes Interieur entwarf – Gemälde inklusive. Vgl. Caracalla, Jean-Paul: Le roman du Printemps. Histoire d’un Grand Magasin (2. Aufl.), Paris 1997, S. 85 f. u. 124 sowie Hardy, Alain-René: Primavera 1912–1972. Atelier d’art du Printemps, Dijon 2014 und Marrey 1979, S. 178. 12 | So beispielsweise in dem 1878 gegründeten The Army and Navy Co.; vgl. den im Grundriss des Obergeschosses eingezeichneten Raum „Pictures“ bei Wiener 1912, Abb. 72, S. 117. 13 | The New Wanamaker Store in New York beherbergte 1906 im Obergeschoss neben (nicht kommerziellen) Ausstellungsräumen auch ein Theater; vgl. Iarocci, Louisa: The Urban Department Store in America, 1850–1930, Burlington VT 2014, S. 112–115 u. 159. 14 | Allerdings nur in dem neuen Warenhaus in der Leipziger Straße, das auch das Konkurrenzunternehmen zum Warenhaus Tietz in Berlin war; Wiener 1912, S. 76 f.; van Delden 2014, S. 79. Gemälde und Kunstgegenstände als Waren der Kaufhäuser führt auch Colze, Leo: Berliner Warenhäuser. Nachdruck der Erstausgabe von 1908, Berlin 1989, S. 79, an. 15 | Heilmann, Jakob/Littmann, Max (Hg.): Zwei Münchener Warenhausbauten. Denkschrift gelegentlich der Fertigstellung des Kaufhauses Oberpollinger und des Warenhauses Hermann Tietz in München, München o. J. [1905], S. 45: „Im IV. Obergeschoss sind folgende Raumgruppen untergebracht: [...] für ein photographisches Atelier: an der Ecke Prielmayer-Luitpoldstrasse“ und Grundriss IV. Obergeschoss im Anhang: dem Fotoatelier ist ein Gang mit zwei kleinen Räumen angegliedert, der im Grundriss mit „Bilderausstellung“ bezeichnet ist. Im obersten Stockwerk befanden sich ansonsten die Büros, Buchhaltung, Waren-Annahme, auch Warenlager; das Kaufhaus wurde von Bruder Oskar über die Fa. Hermann Tietz gebaut. 16 | Schwarz 1995, S. 58 und Abb. 11 mit der Ankündigung des Kunstsalons. Hermann Wronker war im Übrigen mit einer Nichte von Leonhard Tietz verheiratet, was auch dazu geführt haben wird, dass die Ausstellungen im Kunstsalon Wronker ebenfalls von Max Clarenbach und Fritz Westendorp verantwortet wurden. Zu Hermann Wronker vgl. Drummer, Heike: „Wronker, Hermann“, in: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), http://frankfurter-personenlexikon.de/node/4673 [25.04.2019]. 17 | Entgegen den Angaben im Grundriss lassen die erhaltenen Fotografien den Schluss zu, dass es keine Türen aus den einzelnen Räumen heraus zum inneren Lichthof mehr gegeben hat; vgl. Abb. 4–6. Bei Wertheim in Berlin wurde ein großer Raum geschaffen, der wiederum in sich mit Trennwänden so gestaltet wurde, dass man „einzelne kleine und größere Zimmer mit viel Wandfläche hintereinander“ angeordnet hatte. Wiener 1912, S. 77. Diese Kabinette hatten alle eine Fensterfront (so auch der Düsseldorfer Kunstsalon) sowie eine Belichtung von oben durch „eine über der durchsichtigen Decke angeordnete[n)] für die Gemälde günstige Beleuchtung“ (ebd., S. 254). Wiener betont an dieser Stelle auch den vorbildhaften Charakter dieser Räume für nachfolgende Warenhäuser. In Düsseldorf wird die Beleuchtung von oben durch passend gestaltete Lampen sichergestellt.

Der Kunstsalon als Raumgelegenheit im Warenhaus 18 | Die Affinität zu einem Museum ist auch durch den Eintrittspreis von 20 Pfennig gegeben, der spätestens mit der September–Ausstellung 1909 erhoben wurde; vgl. Kunstausstellung im Hause Leonh. Tietz A.-G., Düsseldorf, September–Oktober 1909, Deckblatt. 19 | Vgl. die anschauliche Beschreibung bei Olbrich 1909, S. 47–52. 20 | Auf dieser Etage waren keine offenen Verkaufsflächen wie in den anderen Etagen zu finden; Olek 2011, S. 280 und Grundriss II (Abb. 3). 21 | Creutz 1909, S. 15; die „Materialgerechtheit“ heben auch die Architekten hervor, s. Birkner, Othmar: „Das Warenhaus Tietz in Düsseldorf von Joseph Olbrich“, in: Das Werk. Architektur und Kunst 53.1966, S.105–107; zum Repräsentationswert Olek 2011, S. 284. 22 | Hirsch, Julius: Das Warenhaus in Westdeutschland. Seine Organisation und Wirkungen, Leipzig 1910, S. 49 f.; in den Geschäftsberichten der Leonhard Tietz AG von 1905 und 1906 wird bereits mit Genugtuung festgestellt, dass die Nachfrage nach gehobenen Waren beständig steigt. 23 | Olbrich 1909, S. 47. 24 | Ebd. 25 | Ebd.; zum Aspekt der ästhetischen Erziehung s. auch Rooch, Alarich: Zwischen Museum und Warenhaus. Ästhetisierungsprozesse und sozial-kommunikative Raumaneignungen des Bürgertums (1823–1920), Oberhausen 2001, S. 141. 26 | Krämer 2010, S. 365 und Rooch 2001, S. 185 ff. 27 | So auch Rooch 2001, S. 164 f. 28 | Iarocci 2014, S. 158 f. 29 | Olbrich 1909, S. 47; auch in den überregionalen Monatsschriften werden die Leiter genannt: „Auch ist in eben diesem Hause Tietz die regelmässige Kunstausstellung unter der Leitung von Billing-Karlsruhe, Clarenbach und Westendorp, eröffnet worden.“ Kunst und Künstler, 1909, Heft 8, S. 377. 30 | Eröffnungs-Ausstellung des Jahres 1910 im Hause Leonhard Tietz Akt.-Ges. Düsseldorf, S. 2: Rückblick auf die im Jahre 1909 von April bis Dezember veranstalteten Kunst-Ausstellungen im Hause Leonh. Tietz A.-G., Düsseldorf: II. Belgische Kunst. 31 | Leonhard Tietz AG: 50 Jahre Leonhard Tietz. 1879–1929, Köln 1929, S. 14; Busch-Petersen, Nils: Leonhard Tietz. Fuhrmannssohn und Warenhauskönig – von der Warthe an den Rhein, Berlin 2014, S. 45 f.; unter den „Grands Magasins L. Tietz“ firmierte „das zu seiner Zeit unübertroffen größte und modernste Warenhaus Belgiens“ (S. 45). 32 | Olbrich 1909, S. 47 f. 33 | Ebd., S. 5; s. auch Krämer 2010, S. 365. 34 | Düsseldorfer General-Anzeiger: 24., 25., 30. März 1909, eine große Vorschau auf die Eröffnung am 2. April 1909, im Feuilleton am 27. März ein Bericht über die Architektur (Olbrichs Warenhausbau I) mit einer Fortsetzung am 8. April 1909. Ab dem 8. April täglich Annoncen für Spezial-Abteilungen.

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Andrea von Hülsen-Esch 35 | Ladwig-Winters 1997, S. 60. Äußerungen über ein Konkurrenzverhalten zwischen den Kaufhausfamilien Wertheim und Tietz haben sich – mit Ausnahme der gerichtlichen Auseinandersetzung über den Globus als Emblem – der Autorin zufolge nicht erhalten, auch weil sie unterschiedliche Standortkonzepte verfolgten (S. 30 ff.); vermutlich hat man sich schweigend beobachtet und dann beispielsweise bei der Entwicklung einer Reklamestrategie (im Falle von Leonhard Tietz) mit Maßnahmen wie der Einrichtung eines Grafik-Konzepts gekontert. Vgl. zur Reklame in den Berliner Warenhäusern den zeitgenössischen Text von Colze 1989, S. 76–78. 36 | Lauter, Marlene: Bilder zum Lesen. Das graphische und malerische Werk von Adolf Uzarski, Köln/Wien 1990, S. 50. 37 | Lauter 1990, S. 51 und 59 f.; mit der strengen Typografie folgt Uzarski seinem Lehrer an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule Fritz Hellmut Ehmcke. Seit 1910 hatte Uzarski ein Atelier in Düsseldorf; ebd. S. 55. Zu den Werbekonzepten und den Reklamemarken s. auch Busch-Petersen 2014, S. 53–61. 38 | Düsseldorfer Generalanzeiger am 2. Mai 1909. 39 | O. A. „Von unseren Kunstausstellungen“, in: Düsseldorfer Generalanzeiger, 02.05.1909, S. 2. Fast wörtlich wiederholt in der Besprechung von G. Howe in der Rubrik „Von Ausstellungen und Sammlungen“, in: Die Kunst für Alle 24.1908/1909, Heft 17, S. 416. Interessanterweise wird hier Billing als künstlerischer Leiter unterschlagen. 40 | Kunst-Ausstellung im Hause Tietz, April–Mai 1909 (Ausst.-Kat.); zum Zusammenschluss der ersten acht Künstler zum Sonderbund vgl. Moeller, Magdalena M.: Der Sonderbund. Seine Voraussetzungen und Anfänge in Düsseldorf, Köln 1984, S. 104–121; Olbrich stattete die Räumlichkeiten für die Sonderausstellung 1908 aus und entwarf den Katalog, wodurch er zum neunten Mitglied des Sonderbunds wurde; ebd. S. 107. 41 | O. A. 1909, S. 2 f. 42 | „Liebermann, Orlik, Trübner, August Kraus, von den Düsseldorfern Clarenbach, Bretz, die beiden Sohn-Rethel und viele andere anerkannte Meister der jüngeren Schule hatten die erste Ausstellung beschickt.“ Kunstchronik N.F. 20.1908/1909, Heft 24, Rubrik „Vermischtes“, S. 399. An dem Ausstellungskatalog orientiert werden andere Künstler bei G. Howe, 1908/1909, S. 416, zitiert: „Auf der ersten Ausstellung dominiert unter den heimischen Künstlern naturgemäß die Jugend. Von Figurenmalern sind Schneider-Didam, W. Schreuer, Schmurr, A. und O. Sohn-Rethel, J. Goossens, D. Zacharias, von Landschaftern M. Clarenbach, H. Liesegang, W. Ophey, H. Heimes, Te Peerdt u.a. gut vertreten. Von auswärts kamen eine Strandszene von M. Liebermann, drei bedeutende Bilder von Trübner, ferne gute Sachen von E. Orlik, Vogeler, Dreydorff, Palmié, Pottner, Julie Wolfthorn.“ 43 | O. A. 1909, S. 2. 44 | Eröffnungsausstellung des Jahres 1910 im Hause Leonhard Tietz Akt.-Ges. Düsseldorf, S. 2 f.

Der Kunstsalon als Raumgelegenheit im Warenhaus 45 | Kunstausstellung im Hause Leonh. Tietz A.-G., Düsseldorf, September–Oktober 1909: „Winterkarte: September–April 1 Mk., Einzelkarte 20 Pfennig.“ 46 | Diese Aussage kann hier nur auf der Grundlage der mir vorliegenden Kataloge April/Mai 1909, September/Oktober 1909, Weihnachtsausstellung 1909, Eröffnungsausstellung Januar/Februar 1910, Februar/März 1910, April/Mai 1910, Juli–September 1911 und Februar/März 1913 getroffen werden. Über eine Auswertung der Kunstkritik in den Jahren 1909–1914 in den Zeitungen Düsseldorfer Generalanzeiger, Kunstchronik N.F., Kunst und Künstler sowie Die Kunst für alle ließe sich ein noch genaueres Bild zeichnen. 47 | Vgl. die Übersicht zu Beginn des Ausstellungskataloghefts: Leonhard Titz Akt.-Ges.: Kunst-Ausstellung, Düsseldorf, Juli–September 1911. 48 | O. A. 1909, S. 3; G. Howe, 1908/1909, S. 416. 49 | Olbrich 1909, S. 47. 50 | Moeller 1984, S. 108. 51 | Pläne und Fotografien in der Sammlung des Architekturmuseums der Technischen Universität München s. https://mediatum.ub.tum.de/932752 [26.04.2019] 52 | Clarenbach und Westendorp studierten beide bei Eugen Dücker an der Düsseldorfer Kunstakademie; außerdem studierte Clarenbach bei Arthur Kampf, der den Sankt Lukas-Club mitbegründet hatte. Zu Fritz Westendorp existiert noch keine neuere kunsthistoriografische Literatur; vgl. den spärlichen Eintrag zu seiner Biografie in: Allgemeines Künstlerlexikon, Berlin, Boston: K. G. Saur, 2019 https://www.degruyter.com/view/AKL/_00180829 [27.04.2019]; zur Internationalen Kunstausstellung 1904: O. A., „Die Malerei der Gegenwart auf der Internationalen Ausstellung Düsseldorf 1904“, in: Die Rheinlande. Vierteljahresschrift des Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein 8. 1904, S. 309–323; zum Sankt Lucas-Club zuletzt Vössing, Anna: „Mitgliederliste mit Quellenangaben“, in: Mai, Ekkehard (Hg.), Wege in die Moderne. Die Künstler des Sankt Lucas-Clubs in Düsseldorf, Petersberg 2018, S. 220. 53 | 50 Jahre Leonhard Tietz, S. 11. 54 | Busch-Petersen 2014, S. 62 f. Dass die frühen Warenhausunternehmer große Kunstsammlungen aufbauten zeigt das Beispiel Benjamin Altmans in New York, dessen Kunstsammlung nach seinem Tode wichtiger Bestandteil des Metropolitan Museums of Art wurde; vgl. Ferry, John William: A History of the Department Store, New York 1960, S. 75. 55 | Moeller 1984, S. 36. 56 | O. A., „Von unseren Kunstausstellungen III“, in: Düsseldorfer Generalanzeiger, 36. Jg., Nr. 352, 19.12.1911, S. 1. 57 | Vgl. auch Hülsen-Esch, Andrea von: „Inkubatierte und Arrivierte der bildenden Kunst am Rhein“, in: Thomas Schleper (Hg.): Aggression und Avantgarde. Zum Vorabend des Ersten Weltkrieges, Essen 2014, S. 348–357. In dem Bericht im Düsseldorfer Generalanzeiger 36. Jg., Nr. 352, 19. Dezember 1911, S. 1, heißt es auch: „Manches Absonderliche, allzu Exzentrische, das man ablehnen mußte, wurde hin und wieder gebracht – ich erinnere an die famose Aus-

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Andrea von Hülsen-Esch stellung der ,Brücken‘ –; aber auch da fühlte man sich immerhin durch diese toternst gemeinste Absonderlichkeit noch interessiert und angeregt.“ Ob hiermit eine Ausstellung der Brücke-Künstler im Kunstsalon Tietz gemeint ist, konnte aufgrund des fehlenden Katalogs nicht belegt werden. Immerhin ist diese Aussage ein Hinweis darauf, dass die Avantgarde nicht unbedingt ihren Platz in diesen Räumen hatte. 58 | Vgl. hierzu auch Rooch 2001, S. 139 f. und zum „Erlebnisraum“ und „Genuss-Aspekt“ S. 162 f.

A champagne bottle, once upon a time in Chicago Das Carbide and Carbon Building der Burnham Brothers Regina Deckers

Das Carbide and Carbon Building (Abb. 1) an der North Michigan Avenue gehört sicherlich zu den markantesten Bauwerken im Innenstadtbezirk des sogenannten Chicago Loop.1 Obwohl das von 1928 bis 1929 errichtete Hochhaus mit seinen 153 Metern Höhe heute längst nicht mehr zu den imposantesten Wolkenkratzern der Stadt zählt, hebt es sich wegen des Kontrasts zwischen der schwarz-grünen Außenverkleidung und der leuchtend goldenen Spitze unter den Bauten seiner Umgebung hervor und gehört zu den Markzeichen der Stadt (Chicago Landmarks).2 Einer landläufigen Anekdote zufolge ließen sich die Architekten – die Brüder Hubert (1882–1969) und Daniel Hudson Burnham (1886–1961) – und die Auftraggeber der Union Carbide & Carbon Corporation bei einer Firmenfeier durch Form und Farbigkeit einer Champagnerflasche – aus grünem Glas und mit goldumkleideten Hals – zur Gestaltung des Hochhauses anregen.3 Unabhängig davon, ob diese Großstadtlegende nun wahr sein sollte oder nicht, spiegelt sie doch anschaulich das hedonistische Lebensgefühl der Goldenen Zwanziger Jahre, die sich zur Bauzeit des Carbide and Carbon Buildings allerdings schon ihrem Ende zuneigten.

Stadtgeschichte

und

Standort

Die Siedlung Chicago, verkehrsgünstig am Chicago River und am Lake Michigan gelegen und 1837 mit dem Stadtrecht ausgezeichnet, erlebte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein rasantes wirtschaftliches Wachstum und damit verbunden einen ansteigenden Zuzug von Neubürgern – beides zusätzlich begünstigt durch den Anschluss an eine Eisenbahnroute.4 Die Tragödie des Großen Brandes von 1871 gab erstmals den Anlass zu einer Neubebauung des Stadtgebietes nach moderneren

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Abbildung 1: Hubert und Daniel Hudson Burnham, Carbide and Carbon Building, 1928/1929, Chicago, Ansicht aus den 1930er Jahren, Ecke South Water Street/North Michigan Avenue

Fotografie: Newberry Library, Chicago [http://collections.carli.illinois.edu/cdm/singleitem/ collection/nby_chicago/id/3084/rec/1]

A champagne bottle, once upon a time in Chicago

Erfordernissen.5 Beteiligt daran waren einige der bekanntesten Repräsentanten der Chicago School of Architecture, unter denen hier nur namentlich Louis Henry Sullivan (1856–1924), sein Schüler Frank Lloyd Wright (1867–1959) und schließlich Daniel Hudson Sr. (1846–1912) genannt seien. Der anhaltende Ausbau von Industrie und Handel, die weiterhin steigende Einwohnerzahl6 und infolgedessen schließlich die Einführung neuer Verkehrsmittel – außer dem Netz elektrisch betriebener Stadtbahnen um die Jahrhundertwende auch das Automobil – bildeten die Herausforderungen für die Neugestaltung des Stadtbildes.7 Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts vervollkommnete Stahlskelettbauweise eröffnete zudem die Möglichkeit, innerhalb des damals schon engmaschigen Straßennetzes der Innenstadt die ersten Hochhäuser zu errichten.8 So stand auch die optimale wirtschaftliche Ausnutzung des Stadtraums im Mittelpunkt eines Großauftrags, den 1906 der Merchants Club an die Architekten Daniel Hudson Burnham Sr. und Edward Herbert Bennett (1874–1954) erteilte.9 Das Ergebnis war der 1909 publizierte Plan of Chicago,10 der als Leitbild für die zukünftige Stadtplanung dienen sollte und aufgrund seiner symmetrischen Anlage und der axialen Ausrichtung der Straßen an das Prinzip der Idealstadt anknüpfte. Für die Verkehrsführung war insbesondere das Vorbild der breiten Pariser Boulevards nach den Plänen von Georges-Eugène Haussmann (1809–1891) ausschlaggebend gewesen.11 Neuerungen waren außerdem im Hinblick auf die Schauseite der Stadt zum Michigansee sowie hinsichtlich kommunaler Bauten, Bildungseinrichtungen und Grünflächen angedacht.12 Der Tod des leitenden Architekten Burnham im Jahr 1912,13 die abnehmende Bautätigkeit während des Ersten Weltkriegs und schließlich die Große Depression von 1929 führten letztlich dazu, dass der ohnehin utopisch anmutende Plan nur in einzelnen Partien umgesetzt wurde.14 Unter den städtebaulichen Maßnahmen, die hier im Zusammenhang mit dem Standort des Carbide and Carbon Buildings interessieren sollen, ist der Ausbau der Michigan Avenue hervorzuheben: Burnham hatte in dem Plan of Chicago auf ein Projekt vom Ende des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen, das bereits vorsah, die bestehende Michigan Avenue zu einem Boulevard zu verbreitern und zu einer Achse vom Norden bis zum Süden der Innenstadt zu verlängern. Gefördert durch Charles Wacker (1856–1929), den Vorsitzenden des Commercial Club und der Chicago Plan Commission, nahm das Vorhaben ab 1913 Gestalt an, ergänzt 1920 durch die Fertigstellung der Michigan Avenue Bridge (heute Du Sable Bridge), die einen neuen Verkehrsweg über den Nordarm des Chicago River und zur Fortsetzung der North Michigan Avenue – heute auch bekannt als Magnificent Mile – eröffnete.15 Der Ausbau der Michigan Avenue zu einer Verkehrsader vollzog sich bis weit in die 1920er Jahre, zeitgleich mit anderen Straßenerweiterungen und einer dichten Neubebauung mit Geschäfts- und Bürohäusern, die sich auf den Innenstadtbereich innerhalb des von der Hochbahn (Elevated) markierten Loop

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konzentrierten.16 Der eingegrenzte Bezirk des Geschäftszentrums war zwar ein wesentlicher Faktor für die Zunahme der Hochhausbauweise, die jedoch gefördert wurde durch die Aufbruchstimmung in Wirtschaft und Handel nach dem Ersten Weltkrieg. Die Modernität der Hochhausarchitektur wurde – auch international – schon in ihrer Frühzeit als Ausdruck amerikanischen Pioniergeistes begriffen und bot sich daher gerade Unternehmen als Repräsentationsform an, um in den Innenstädten – vorrangig zunächst in denjenigen Chicagos und New Yorks – jede mit ihrem Firmensitz eine markante Signatur in der Stadtsilhouette zu setzen.17 Die Beiträge für den Wettbewerb, den die Chicago Tribune 1922 international für den Entwurf eines neuen Verlagshauses ausgeschrieben hatte, geben einen Eindruck von der Aufmerksamkeit, welche die zeitgenössische amerikanische Architektur in Europa erhielt, und darüber hinaus von der Aktualität der Hochhausbauweise, obwohl diese Form urbaner Gestaltung zum Beispiel unter deutschen Architekten und Stadtplanern kontrovers diskutiert wurde.18 Der Tribune Tower des siegreichen amerikanischen Architektenduos John Mead Howells (1868–1959) and Raymond Hood (1881–1934) wurde bis 1925 nördlich des Flusses an der North Michigan Avenue errichtet und veranschaulicht mit seinem neogotischen Erscheinungsbild die Vorstellung, dass es sich bei Hoch- beziehungsweise Turmhäusern um die Kathedralen der Neuen Welt und eines kapitalistisch geprägten Zeitalters handelte.19 Im Verlauf der beidseits des Atlantiks geführten Hochhausdebatte waren allerdings bestimmte stilistische Merkmale ideologisch aufgeladen worden: Gerade gotisches Formenvokabular oder zumindest eine Betonung der vertikalen Gliederung galten als Rückgriff auf mittelalterliches Bauhandwerk und indirekt als Wertschätzung der Handwerkskunst, auf die sich die Wirtschaft der jungen Pioniernation stützte.20 Namhafte Konzerne, die sich bis zur Großen Depression beidseitig des Chicago River an der Michigan Avenue und innerhalb des Loop niederließen, wählten für ihre Repräsentationsbauten nicht immer eine neugotische Architektur, sondern entschieden sich in anderen Fällen für klassisch geprägte Entwürfe, in denen sich historisierende Elemente wie Kolonnaden oder Rundtempel in die monumentale Turmbauweise einfügten. Einige der bekanntesten dieser pompösen Wolkenkratzer entstanden in den 1920er Jahren und damit in einer Zeit des wirtschaftlichen Neubeginns (Abb. 2).21 Diese Hochhäuser erweisen sich eher den historistischen Ausstellungsbauten der World’s Columbian Exposition, die 1893 in Chicago stattgefunden hatte, verpflichtet als den schlichten Curtain Wall-Fassaden der örtlichen Architekturschule des späten 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende.22 Dennoch sollte die Handschrift keines der damals tätigen Architekten auf die Rezeption eines bestimmten Baustils reduziert werden, wie weiterhin noch am Beispiel Raymond Hoods zu bemerken sein wird, der außer für die Planung des Tribune To-

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Abbildung 2: Michigan Avenue, Michigan Avenue Bridge und East Wacker Drive in den 1930er Jahren mit (v.l.n.r.): North Michigan Ave. 333 (1927/1928), Carbide and Carbon Building, London Garantee and Accident Building, Mather Tower (1926/1928), Jewelers‘ Building

Fotografie: Grogan Photo. Historic Architecture and Landscape Image Collection Ryerson and Burnham Archives. The Art Institute of Chicago, Digitalfoto 80965

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wers zeitgleich für die Gestaltung des New Yorker Radiator Buildings (1924) im Stil des Art déco verantwortlich war.23 Welche Unternehmen und Institutionen sich letztlich wann und durch welchen Baustil repräsentieren ließen, wäre eine Frage, der anhand zahlreicher Bürohäuser in Chicago nachzugehen wäre, die nun aber vorrangig am Beispiel des Carbide and Carbon Buildings untersucht werden soll.

D er A uftraggeber – D ie U nion C arbide & C arbon Corporation Bei der 1917 gegründeten Union Carbide & Carbon Corporation handelt es sich um einen Chemiekonzern, der maßgeblich an der Entwicklung und Herstellung von Kunststoffen und Acetylen (Ethin) beteiligt war. Letzteres wurde und wird bis heute in der Stahlindustrie verwendet, für die Chicago einen wichtigen Produktionsstandort darstellte. Eines der inkorporierten Vorgängerunternehmen, die National Carbon Company, hatte zudem 1896 die Trockenbatterie auf den Markt gebracht, die zu einem der bekanntesten Produkte der Union Carbide & Carbon Corporation werden sollte.24 Insofern verwundert es nicht, dass dieses populärste Erzeugnis des Konzerns als Anregung für die Gestaltung der regionalen Niederlassung in Illinois herangezogen wurde, so als sei das Carbide and Carbon Building mit seiner goldenen Bekrönung einer gigantischen Batterie mitsamt ihrer metallischen Kappe nachempfunden.25 Ob diese Assoziation vielleicht genauso wie die Anekdote um die inspirierende Wirkung einer Champagnerflasche zu den Mythen des Unternehmens zu zählen oder anhand weiterer Hinweise nachzuvollziehen ist, wird noch durch eine ausführlichere Analyse der Architektur in ihrem zeitgenössischen Kontext zu prüfen sein.26 Das auffallende Escheinungsbild des Hochhauses an seinem ohnehin schon prestigeträchtigen Standort soll folgend ausführlicher im Hinblick auf die Selbstdarstellung des Unternehmens, aber auch im Zusammenhang mit der zeitgenössischen und umgebenden Architektur betrachtet werden.

D ie A rchitektur des C arbide and C arbon B uildings Mit dem Tribune Tower, dem Wrigley Buildung, dem London Garantee Buildung und dem Carbide and Carbon Buildung konzentrieren sich einige der prominentesten Wolkenkratzer der 1920er Jahre im nördlichen Bereich um die Michigan Avenue Bridge,27 woran sich ablesen lässt, dass namhafte Unternehmen diesen Ab-

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Abbildung 3: Hubert und Daniel Hudson Burnham, Carbide and Carbon Building, 1928/1929, Chicago, Detail

Fotografie: Nicolas Janberg (Structurae.de)

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schnitt der North Michigan Avenue am Fluss als besonders attraktiv für ihre Geschäftsvertretungen wahrnahmen (Abb. 2).28 Das Carbide and Carbon Building steht auf dem Eckgrundstück zwischen North Michigan Avenue und East Wacker Place (ein Teil der South Water Street), sodass der Wolkenkratzer über zwei zu den Boulevards ausgerichtete Fassaden verfügt. Das Hochhaus mit seinen insgesamt 37 Geschossen besteht aus einem quaderförmigen unteren Baukörper mit insgesamt 23 Stockwerken und aus einem aufgesetzten Turm mit weiteren 14 Etagen.29 Die unteren drei Geschosse bilden eine Sockelzone, die an der North Michigan Avenue zwei Stockwerke übergreifend durch den Haupteingang und an der anderen Fassade im Erdgeschoss durch den Nebeneingang unterbrochen wird. Dieser Sockelbau ist mit schwarzem poliertem Granit verkleidet; darüber umgeben dunkelgrüne Terracottaplatten das Stahlskelett des Bauwerks bis einschließlich zum obersten Turmgeschoss. Oberhalb der Sockelgeschosse wird das Hochhaus durch Lisenen gegliedert, die am unteren Baukörper als Eckpfeiler und dazwischen in rhythmischen Abständen kräftiger ausgebildet sind. An der Eingangsfassade zur North Michigan Avenue setzt sich diese Gliederung ohne Unterbrechung bis hinauf in den Turm fort und betont die vertikale, gewissermaßen also durchaus gotische Prägung der Architektur, die den Blick des Passanten zwangsläufig auf die Turmspitze lenkt. Der Hochhausturm erhebt sich an der Front der Eingangsseite auf der Mittelachse. Als Bestandteil der Hauptansichtsseite befindet er sich somit in einer exponierten Position, durch welche die aufwendige Gestaltung der Turmspitze (Abb. 3) gerade von der North Michigan Avenue aus ins Auge fällt. Auf Höhe der obersten drei Geschosse wandelt sich der Grundriss des Turms von der quadratischen zur oktogonalen Form. Durch dieses Spiel mit geometrischen Figuren erhält der Turm zudem weitere Wandflächen für die Anbringung von Bauschmuck aus Kreis- und Quadratformen sowie zu eckigen Formen stilisierter vegetabiler Ornamentik nach dem Geschmack des Art déco. Diese Schmuckformen kontrastieren in Gold gefasst mit dem dunkelgrünen Grund der Terracottaverkleidung, die ihrerseits als wetterbeständiges und teures Baumaterial eingesetzt worden ist.30 Unter diesen Ornamenten sei hier nur der in ein Achteck eingeschriebene Kreis hervorgehoben, der jeweils in einem Schmuckband an der Turmspitze und abermals zwischen des oberen Fensterreihen des Basisgebäudes auftritt; ein Detail, das wohl mit der damals aktuellen Vorliebe für geometrische Ornamente zu erklären ist. Kreis- und Achteckornamente sowie stilisierte Pflanzenmotive, aber auch Zahnräder – passend zur Bestimmung des Hauses – sind in vergleichbarer Ausführung ebenfalls am nahegelegenen Engineering Building (1928) der Burnham Brothers anzutreffen.31 Die den Turm bekrönende und echtgolden gefasste Spitze schließlich erhebt sich gleichfalls auf achteckigem Grundriss und bildet einen weithin sichtbaren Blick-

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Abbildung 4: Hubert und Daniel Hudson Burnham, Carbide and Carbon Building, 1928/1929, Chicago, Detail: Bauornamentik oberhalb der Sockelzone

Fotografie: Regina Deckers

fang. Ein grüngoldenes Schmuckfeld mit Kreisornamenten ist allseitig im oberen Abschluss eingelassen. Vom Turm ist die Aufmerksamkeit nun wieder seinem Sockel zuzuwenden, der an seiner oberen Kante von einem Gesims abgeschlossen wird. Dieser Schmuckfries besteht aus einem klassischen Zahnschnittornament und darüber aus einem Band goldener, zu Rautenformen stilisierter Palmetten. An beiden Fassaden bekrönt das glänzende Schmuckband jeweils den bronzenen, fast über deren gesamte Breite ausgedehnten Schriftzug mit dem Namen des Bauwerks. Auf ganzer Höhe des übernächsten Stockwerks umzieht den Bau auf den freiliegenden drei Seiten zudem ein Ornamentfries, der sich aus Schmuckelementen über und unter den Fenstern sowie auf den Lisenen zusammensetzt (Abb. 4).32 Die Ornamente heben sich im Relief aus der Terracottaverblendung hervor und sind teils durch Vergoldungen akzentuiert. Das Formenvokabular, das vor allem Voluten und Faszienmotive variiert, ist der antiken Tradition verpflichtet, wurde jedoch durch die flächige und eckige Ausgestaltung dem Stil des Art déco angeglichen. Die obere

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Abbildung 5: Hubert und Daniel Hudson Burnham, Carbide and Carbon Building, 1928/1929, Chicago, Detail: Eingangshalle, Tür eines Aufzugs

Fotografie: Regina Deckers

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Begrenzung des Ornamentbandes bilden die Konsolen für die Fenster des dritten Stockwerks über dem Gebäudesockel, an denen erneut das Motiv des Oktogons auffällt. Das abschließende Stockwerk des unteren Baukörpers wird durch quadratische vergoldete Ornamentfelder umsäumt, die abermals den üppigen goldenen Bauschmuck der Turmspitze vorbereiten. Ergänzend zur prominenten Rolle, die vergoldete Dekorationen am Außenbau spielen, ist abschließend auf die reiche vergoldete Ausschmückung des Haupteingangs einzugehen, die über der Tür abermals die Bezeichnung des Bauwerks sowie durch das ornamental gestaltete Monogramm „C “ den Firmennamen präsentiert. Die dahinterliegende zweistöckige Eingangshalle, die heute als Lobby eines Hotels dient,33 war ursprünglich als Ausstellungsraum für Erzeugnisse der Firma vorgesehen.34 Der Eingangsbereich ist ebenso wie das Äußere des Gebäudes verschiedenfarbig gestaltet: Die Wandflächen sind – wie einst auch der Fußboden – mit schwarzem und cremefarbenem Marmor verkleidet. Goldüberzogen heben sich bronzene Balustradengitter und Ornamente an der von Oberlichtern durchbrochenen Decke hervor. Die prächtigsten Elemente der Innenausstattung bilden wohl die Aufzugtüren aus vergoldeter Bronze, die sowohl das Firmenmonogramm, das Oktogon als auch die Volutenornamentik der Außendekoration wiederaufnehmen (Abb. 5). Die Wahl hochwertiger Materialien für den Außenbau und die Ausstattung sollte dem Unternehmen offenkundig nicht nur einen buchstäblich glänzenden Auftritt verschaffen, sondern Besucher und Kunden von der Qualität der eigenen Produkte überzeugen.35

A bsolutely free? – Das H ochhaus C arbon Company in seiner Z eit

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Unter Chicagos Hochhäusern der 1920er Jahre spricht das Carbide and Carbon Building weitgehend eine Absage an die Neuauflagen historischer Baustile aus, auch weil das Bauornament die klassischen Vorläufer nicht kopiert, sondern stattdessen in einer zeitgemäßen Umformung zitiert. Vor allem Farbigkeit und Materialpracht am Außenbau wie auch in der Innenausstattung waren zur Bauzeit – auch laut Selbsteinschätzung der Firma – in der Stadt noch ohnegleichen.36 Die schwarz-grüne Außenhülle bildete in Chicago eine Neuheit gegenüber dem allgegenwärtigen hellgrauen Sandstein.37 So wie Daniel Hudson Burnham Sr. als Erneuerer der Stadtplanung aufgetreten war, führten seine Söhne Hubert und Daniel Hudson Burnham Jr. das Erbe ihres Vaters fort, indem sie für den Standort an der Hauptgeschäftsstraße Chicagos einen unverwechselbar neuartigen Wolkenkratzer projektierten, der wahr-

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scheinlich auch deshalb als ihr bekanntestes Bauwerk gelten kann. Wie aber schon aus der vorangestellten Beschreibung hervorgeht, waren die Burnham Brothers beim Einsatz ihrer Dekorationsformen nicht absolut frei von Traditionen. Sticht das Carbide and Carbon Building aufgrund seiner mehrfarbigen Verkleidung auch heute noch unter den Bauten in der Nachbarschaft hervor, steht es doch nicht allein in der Entwicklung der Hochhausarchitektur. Mit seiner sprechenden Architektur, die auf die damaligen Firmenerzeugnisse Bezug nimmt, reiht sich das Gebäude unter weitere zeitgenössische Beispiele ein. Im Zusammenhang mit dem Auftraggeber kam bereits die Gegenüberstellung des Carbide and Carbon Buildings mit einem der firmeneigenen Produkte – mit einer Trockenbatterie – zur Sprache. Im Hinblick auf Einzelheiten der Architektur fällt zudem außen und innen die Omnipräsenz des Oktogons auf, das zwar an die chemischen Strukturen konzerneigener Produkte erinnern mag, sich als entsprechende Anspielung aber kaum dem Laien und Passanten auf der North Michigan Avenue erschlossen haben dürfte.38 Davon abgesehen lässt sich außerdem die überwiegend aus Voluten und Blattformen bestehende vegetabile Bauornamentik als Umformung von Pflanzen verstehen, aus denen fossile Rohstoffe wie Kohle entstanden sind.39 Letztere kann für die Acetylenherstellung verwendet werden und ist schließlich auch im Firmennamen der Carbide & Carbon Company enthalten. Gerade jene Ornamente, die nicht vergoldet sind, sondern als monochromer Reliefschmuck in der steinern anmutenden, dunkelgrünen Terracottaverkleidung gleichsam aufgehen, vollziehen anschaulich die Metamorphose von Pflanzen zu Sedimentgestein. Ein ähnlicher Materialkontrast aus schwarzem Ziegelstein und goldfarbenen Dekorationselementen zeichnet Raymond Hoods American Radiator Building von 1924 in New York aus, das daher als Vorbild für das Carbide and Carbon Building angesehen wird.40 Das auffallende Erscheinungsbild dieses Hochhauses verschaffte Hood nach dem siegreichen Entwurf für den Tribune Tower abermals weitreichende Bekanntheit und dürfte den Burnham Brothers zweifellos bekannt gewesen sein. Das Bauwerk wurde durch Presse, Reiseliteratur und selbst durch den Auftraggeber, die American Radiator Company, schon seit seiner Einweihung als steingewordene Transformation des Firmenproduktes – eines Heizstrahlers – angesehen, da das dunkelfarbige Gebäude mit seinem goldglänzendem Bauschmuck an einen von Feuer glimmenden Stapel Kohle erinnerte, obwohl der Architekt es ursprünglich nicht auf eine derartige Interpretation angelegt hatte.41 Abgesehen von Materialwirkung und Aussagekraft der Architektur verbindet beide Hochhäuser die Einrichtung des Erdgeschosses als Ausstellungsfläche sowie die nächtliche Inszenierung durch eine gezielte Beleuchtung der goldverzierten Gebäudespitzen.42 Wie in New York und anderorts wurden auch in Chicago die

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neuen Wolkenkratzer schon nach ihrer Fertigstellung nachts angestrahlt und sicherten den Repräsentationsbauten der Konzerne andauernde Aufmerksamkeit.43 Als prominentes Beispiel dafür, dass Architektur tatsächlich gezielt eingesetzt wurde, um auf Erzeugnisse eines Bauherrn anzuspielen, sei an dieser Stelle das Chrysler Building (1928/1930) in New York nach dem Entwurf von William Van Alen (1882–1954) genannt, das als daher als sogenanntes ‚Signature Building‘ diesen Wolkenkratzer dauerhaft mit dem Namen des Autofabrikanten in Verbindung bringen sollte: Bauplastik, ein Mosaikfries, Fenster- und Portalformen sowie die Bögen der Turmspitze zitieren dort verschiedene Bestandteile des Kühlers und die Karosserie eines Automobils.44 Die sich nach oben verjüngenden Silhouetten der bekannten Wolkenkratzer aus den 1920er Jahren – u.a. des Tribune Towers in Chicago sowie des Radiator Buildings und Chrysler Buildings in New York – erklären sich nicht allein als Reminiszenz an Sakralbauten, sondern sind gleichermaßen den damaligen Baubestimmungen geschuldet: Bereits seit 1916 galt in New York das sogenannte Zoning Law, das Höhe und Abstände der Neubauten zu den umliegenden Häusern festlegte, um je nach Standort genügend Lichteinfall und Freiraum zu gewährleisten. Ein vergleichbarer Zoning Code folgte in Chicago 1923.45 Das Carbide and Carbon Building entsprach den dortigen Anforderungen noch insofern, als dass sich das Bauvolumen über dem 23. Stockwerk und noch unterhalb der vorgeschriebenen Höhe von ungefähr 80 Metern (264 Fuß) auf den Turm reduzierte.46 Mit den Anforderungen des örtlichen Zoning Codes kamen die Burnham Brothers 1929 allerdings anlässlich eines weiteren Projekts in Konflikt, als sie für den Verleger John F. Cuneo wenig entfernt an der Kreuzung von (East) Randolph Street und North Michigan Avenue einen weiteren Wolkenkratzer planten, der mit einem unteren Baukörper von ca. 135 Metern Höhe (440 Fuß) und mit einer Gesamthöhe von etwa 200 Metern (657 Fuß) die Richtwerte um ein Vielfaches überschritt.47 Nach einer unter fragwürdigen Umständen durchgesetzten Ausnahmeregelung brachten Anklagen wegen Ungleichbehandlung und ein Gerichtsprozess gegen Cuneo das Vorhaben noch im selben Jahr zu Fall.48 War es den Burnham Brothers auch nicht gelungen, den damals höchsten Wolkenkratzer der Stadt zu errichten, zeichnete sich ihr Vorhaben doch als ähnlich wegweisend wie das Carbide and Carbon Building aus, zu welchem im Fall der Umsetzung der Cuneo Tower ein Pendant gebildet hätte. Die Chicago Tribune attestierte dem Projekt 1929 einen modernen Stil, der sich vor allem in der Betonung vertikaler Linien ausdrücken werde, und erwähnte außerdem, dass auch für dieses Hochhaus eine dunkle Außenverkleidung geplant sei, die sich weiter aufwärts aufhelle, um die Höhe des Bauwerks zu unterstreichen.49 Ein derartiges Farbschema, das auf eine Betonung der Turmspitze abzielt,50

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weisen abgesehen von dem als Gegenstück ausgeführten Carbide and Carbon Building noch andere amerikanische Hochhäuser der Epoche auf, so das Radiator Building, das Chrysler Building mit seiner metallisch gleißenden Bekrönung oder auch das ebenso berühmte Empire State Building (1930/1931; Shreve, Lamb & Harmon) mit seiner metallenen Spitze.51 Die Silhouette des letzteren, die auffallend an jene des Carbide and Carbon Buildings erinnert, wirft die Frage auf, in welchem Maße der Bau der Burnham Brothers nicht nur dem Zeitgeist entsprach, sondern auch nachfolgende Architekten beeinflusste. Offenkundig war auch der Union Carbide & Carbon Corporation daran gelegen, gerade mit ihrer Niederlassung in einer Metropole der modernen amerikanischen Baukunst einen architektonischen Meilenstein zu setzen. Dies gelang dem Architektenduo mithilfe der mehrfarbigen Außenverkleidung, wenn auch die dafür verwendeten Materialien wie Keramik und Gold bereits aus der Baukunst des Jugendstils beziehungsweise des Art Nouveau bekannt waren. Der innovative Charakter dieses Wolkenkratzers gründet sich auf seinen schlichten Aufbau und den Einsatz flächiger Ornamentik, die sich eher in die monumentalen Dimensionen einfügt als das klassische oder gotische Formenvokabular der zeitgenössischen Hochhäuser. Vor allem aber die im Stadtbild ungewohnte Farbigkeit des Hochhauses und wohl auch die Materialpracht des Eingangsbereichs ziehen sich durch die zeitgenössische Berichterstattung, in der die grün-goldene Außengestaltung als glamourös beschrieben wird.52 Ein Blick in die Reiseführer sowie in die – übrigens eher spärliche – Fachliteratur zu dem Bau der Burnham Brothers53 offenbart, dass letztlich dieser Aspekt in der Öffentlichkeit nach wie vor als modernster Charakterzug des Hochhauses wahrgenommen wird. Vielleicht erwies sich die Legende einer Champagnerflasche deshalb als langlebiger als die Erinnerung an alle anderen Bedingungen, welche die Entstehung des Carbide and Carbon Buildings geprägt haben.

A nmerkungen 1 | Die ringförmige Begrenzung der Innenstadt wird im Norden und Westen durch den Chicago River, im Westen durch den Michigansee und im Süden durch die Roosevelt Road markiert. 2 | Das Gebäude wurde 1996 offiziell auf die Liste der Chicago Landmarks gesetzt, die vom Bürgermeister und dem Chicago City Council gepflegt wird. Liste unter URL: http://www. ci.chi.il.us:80/Landmarks/List.html [16.09.2018]. Eine Inschrift am Außenbau gibt ebenfalls die entsprechende Auskunft. 3 | [N.N.], Carbide and Carbon Building, 230, N. Michigan Ave. Submitted to the Commission on Chicago Landmarks in April 1989, recommended to the City Council on April 6, 1990. Preliminary Staff Summary of Information, publiziert unter den City of Chicago Landmark De-

A champagne bottle, once upon a time in Chicago signation Reports: https://archive.org/stream/CityOfChicagoLandmarkDesignationReports/ LakeFranklinGroup_djvu.txt [29.07.2018]; unpaginiert. 4 | Neben der Eisenbahnanbindung (seit 1848) war der Bau des Illinois and Michigan Canals (vollendet 1848) als Verbindung zum Mississippi entscheidend für die Entwicklung der Stadt. Zur frühen Stadtgeschichte zusammenfassend Mayer, Harold M./Wade, Richard C.: Chicago. Growth of a Metropolis, Chicago/London 1969, S. 3–32, zu den Verkehrswegen insbesondere S. 28. 5 | Vgl. Tamborrino, Rosa: „La memoria del fuoco a Chicago. ‚The Great Fire‘ e la costruzione dell’identità urbana, anche su web“, in: Franco Benucci [u.a.], Il Fuoco e la città, Rom 2016, S. 122–135, zum Selbstverständnis Chicagos als einer aus Asche und Trümmern neuerstandenen modernen Metropole in der damaligen Presse und in der Architektur. 6 | Im Jahr 1837 hatte Chicago ca. 5000, um 1850 ca. 30.000, um 1870 bereits ca. 300.000 Einwohner. Dazu Mayer/Wade 1969, S. 30 und 35; Tamborrino 2016, S. 127. 7 | Vgl. Condit, Carl W.: Chicago 1910–1929. Building, Planning, and Urban Technology, Chicago/London 1973, S. 9 und S. 30–52 zur Entwicklung des Verkehrswesens. 8 | Mayer/Wade 1969, S. 124 und 128. Außerdem Thomas, Leslie: Chicago Skyscrapers, 1871– 1934, Urbana 2013, S. 144, zum technischen Fortschritt durch pneumatische Montagewerkzeuge und durch den Personenaufzug, die es seit Beginn des 20. Jahrhunderts ermöglichten, schneller und höher zu bauen. 9 | Der 1877 gegründete Merchants Club ist noch heute unter dem Namen Commercial Club of Chicago aktiv und besteht aus einem Gremium von Vertretern aus Wirtschaft, Bildungswesen und Kultur, das sich für Projekte der Stadtentwicklung einsetzt. Näheres verrät der Internetauftritt unter http://www.commercialclubchicago.org/ [09.08.2018]. 10 | Burnham, Daniel Hudson/Bennet, Edward Herbert: Plan of Chicago, prepared under the Direction of the Commercial Club, hg. v. Charles Moore, Chicago 1909. Online vollständig unter URL: https://archive.org/details/planofchicago00burnuoft [30.08.2018]. 11 | Vgl. Condit 1973, S. 59. Ausführlicher zuletzt Smith, Carl S.: The Plan of Chicago. Daniel Burnham and the Remaking of the American City, Chicago 2006, S. 12–15. 12 | Sonne, Wolfgang: „Eine Inkunabel des Großen Plans. Der Plan of Chicago in seiner Zeit“, in: Harald Bodenschatz/Celina Kress (Hg.), Kult und Krise des großen Plans im Städtebau. Der Kult des großen Plans um 1910: Gestaltung von Metropolregionen in historischer Perspektive, Petersberg 2017, S. 29–36, hier S. 30–32. 13 | Vgl. Smith 2006, S. 71–85 zur Führungsrolle und Verantwortung Burnhams sowie zur Beteiligung Bennetts und der Illustratoren. 14 | Zur Umsetzung des Plans vgl. ebd., S. 130–150, insbesondere S. 131 und 148 f.; ferner Mayer/Wade 1969, S. 283, zu den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs. 15 | Die Michigan Avenue gliedert sich in mehrere Abschnitte auf, von denen sich die North und die South Michigan Avenue innerhalb des Innenstadtrings befinden. Bei der Teilstrecke

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Regina Deckers jenseits des Chicago Rivers handelt es sich um die ehemalige Pine Street, die infolge des Straßenausbaus der North Michigan Avenue zugerechnet wurde. 16 | Zur Entwicklung des Projektes am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. Stamper John W.: Chicago’s North Michigan Avenue. Planning and Development, 1900–1930, Chicago/London 1991, S. 1–21, insbesondere S. 3 zum Geschäftsbezirk innerhalb Hochbahnrings. 17 | Vgl. Neumann, Dietrich: Die Wolkenkratzer kommen! Deutsche Hochhäuser der zwanziger Jahre. Debatten – Projekte – Bauten, Braunschweig/Wiesbaden 1993, S 62 f., zum Interesse europäischer beziehungsweise deutscher Künstler und vor allem Architekten (z.B. Walter Gropius und Peter Behrens) an der amerikanischen Hochhausbauweise in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Außerdem äußert sich Lippert, Werner: „Hochhäuser: Mythos – Ingenieurkunst – Baukultur“, in: Der Traum vom Turm, (Ausstellungskatalog Düsseldorf), Ostfildern-Ruit 2005, S. 13–25, hier S. 20 f., zur Interpretation des Hochhauses als „Kathedrale des Kommerz“. 18 | Vgl. zum Wettbewerb den Artikel zum Chicago Tribune Tower, in: Der Traum vom Turm 2005, S. 102 f. Ausführlicher dazu Solomonson, Katherine: The Chicago Tribune Tower Competition. Skyscraper Design and Cultural Change in the 1920s, Chicago/London 2001. Neumann 1993, S. 62–75, befasst sich eingehender mit dem Vorbild Amerikas und dem Beispiel des Tribune Tower im Zusammenhang mit der deutschen Hochhausdebatte. Dazu außerdem Chamrad, Evelyn/Windorf, Wiebke: „Der ‚Schrei nach dem Turmhaus‘: Gebaute und geplante Hochhäuser der 20er Jahre in Düsseldorf“, in: Jürgen Wiener (Hg.), Die Gesolei und die Düsseldorfer Architektur der 20er Jahre, Köln 2001, S. 84–101. In der Diskussion über die Vor- und Nachteile der Hochhausbauweise standen dem Enthusiasmus über die technischen Möglichkeiten ästhetische und praktische Fragen nach Dichte der Bebauung, Lichtzufuhr und Sicherheit (Feuerschutz) gegenüber. 19 | Vgl. Lippert 2005, S, 21. 20 | Vgl. zur Rolle der Neugotik in den USA Merwood-Salisbury, Joanna: „The First Chicago School and the Ideology of the Skyscraper“, in: Peggy Deamer (Hg.), Architecture and Capitalism. 1845 to the Present, New York 2014, S. 25–47, hier S. 39 f. Verschiedene Aspekte dieses Phänomens wurden zuletzt in diesem Sammelband behandelt: Murphy, Kevin D./Reilly, Lisa (Hg.): Skyscraper Gothic. Medieval Style and Modernist Buildings, Charlottesville/London 2017. 21 | Als Beispiele wären zu nennen das Wrigley Building (1921/24, Graham, Andersson, Probst & White), das London Garantee and Accident Building (1923, Alfred Alschuler) und das Jewelers’ Building (um 1926, Frederick P. Dinkelberg und Joachim G. Giaver, gelegen am East Wacker Drive 35). – Dazu Thomas 2013, S. 148 f.; Schulze, Franz/Harrington, Kevin: Chicago’s Famous Buildings, Chicago/London 2003 (5. Aufl.), S. 127 f., 133, 137. Über das „erneuerte Repräsentationsbedürfnis“ auch Klotz, Heinrich: „Das Chicagoer Hochhaus als Entwurfsproblem“,

A champagne bottle, once upon a time in Chicago in: Chicago-Architektur 1879–1922, (Ausstellungskatalog Frankfurt a.M.) München 1987, S. 59–77, hier S. 76. 22 | Der Weltausstellung von 1893 in Chicago (World’s Columbia Exposition beziehungsweise Chicago World’s Fair), an deren Planung auch Daniel H. Burnham Sr. beteiligt war, ist ein maßgeblicher Einfluss auf die historistische Architektur Chicagos zuzuschreiben. Vgl. zur Weltausstellung Mayer/Wade 1969, S. 194–206. 23 | Zu Raymond Hoods bekanntesten und weitaus schlichteren Bauten zählen außerdem das Rockefeller Center (1931–1940) sowie das Daily News Building in New York (1929/1930). 24 | Ausführlicher zur Unternehmensgeschichte: http://www.unioncarbide.com/History [09.09.2018] und http://www.brandslex.de/markenlexikon/cover/e/markenlexikon-energizer [09.09.2018]. 25 | Vgl. Knowles, Eric: Art Deco, Oxford 2014 (Seitenzahl unbek.). 26 | Das Produktdesign der älteren Columbia Dry Cell Battery der National Carbon Company und der Eveready Battery der 20er Jahre zeigt zumindest keinen vergleichbaren Farbkontrast. 27 | Zu diesen Bauten mehr im vorangehenden Kapitel bzw. Anm. 21. 28 | Vgl. [N.N.], Carbide and Carbon Building 1990 (Kapitel: Union Carbide and North Michigan Avenue). 29 | Kellergeschosse sind hier nicht mitgezählt. Vgl. auch Stamper 1991, S. 189; Thomas 2013, S. 190. 30 | Zu den Qualitäten und Kosten von Terracotta in und an Bauten in Chicago äußert sich ein Leserbrief von H.V. Kaeppel, dem Herausgeber des Brick and Clay Record, in der Chicago Tribune vom 20.07.1929, S. 10. 31 | Das Gebäude liegt am West Wacker Drive, 205 und beherbergte einst die Western Society of Engineers. Vgl. dazu Saliga, Pauline A.: „Engineering Building (1928)“, in: dies. (Hg.), The Sky’s the Limit. A Century of Chicago Skyscrapers, New York 1990, S. 142 f. 32 | Die Südseite des unteren Baukörpers ist heute weitgehend schmucklos und wurde schon zur Bauzeit und auch nachfolgend durch ein links angrenzendes Bauwerk bis etwa auf Höhe des Ornamentbands verdeckt. Historische Fotografien der Baustelle und des fertigen Hochhauses unter URL: http://digital-libraries.saic.edu/cdm/search/collection/mqc/searchterm/Carbide%20and%20Carbon/order/title [30.11.2018]. 33 | Werbeanzeigen in der Chicago Tribune der 20er und 30er Jahre verraten, dass von Beginn an auch Geschäfte und Büros anderer Unternehmen eingemietet waren. Das Gebäude beherbergte sodann von 2004 bis 2017 das Hard Rock Hotel. Seit 2018 ist dort das St. Jane Hotel untergebracht. 34 | In der Eingangshalle trat dazu noch ursprünglich der Firmenname an der Galerie auf. Zur Nutzung als Ausstellungsraum vgl. Stamper 1991, S. 189f. mit historischen Fotos. Weitere Aufnahmen auch in: [N.N.]: „The Plate Section“, in: The Western Architect 39 (April). 1930, S. 49–53.

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Regina Deckers 35 | Der Innenraum war und ist mit schwarzem belgischem Marmor an Boden und Fußleisten ausgekleidet. Der hellere bräunliche Marmor stammt aus Tennessee. Die Hochkehlen unter der Decke und die Rahmungen der Oberlichter sind mit Stuck verkleidet und mit vergoldeten Ornamenten versehen. In den oberen Stockwerken kam amerikanisches Walnussholz zum Einsatz. Zu den Materialien und der Repräsentation des Unternehmens durch das prunkvolle Entrée vgl.: [N.N.]: „Green ’nd Gold Tower for Boul Mich [umgangssprachlich für Michigan Boulevard in Anlehnung an den Pariser Boulevard Saint-Michel, Anm. Verf.]. Splash of Color to Brighten Skyline“, in: Chicago Sunday Tribune, 13.5.1928, S. 43; [N.N.]: Carbide and Carbon Building 1990 (Kapitel: The Art Deco Style and the Carbide and Carbon Building); [N.N.]: The Plate Section, in: The Western Architect, 39 (April). 1930, S. 60; Stamper 1991, S. 190–193. 36 | Die zeitgenössische Werbebroschüre erklärte, „[the Carbide and Carbon Building] possesses prestige value unequalled in Chicago“. Zitat nach Stamper 1991, S. 193. 37 | Vgl. Condit 1973, S. 121. 38 | In diesem Zusammenhang wäre auf den sogenannten Achtring beziehungsweise die achteckige Strukturformel von Acetylenverbindungen hinzuweisen. Zur Forschung und Weiterentwicklung von Acetylen (schon vor dem Zweiten Weltkrieg) richtungsweisend) Reppe, Walter (et al.): „Cyclisierende Polymerisation von Acetylen I. Über Cyclooctatetraen“, in: Justus Liebigs Annalen der Chemie. Band 560, Nr. 1, 1948, S. 1–92. Des Weiteren sei auch an das Schmuckfeld in der goldenen Turmspitze erinnert, das sich wegen der verschränkten Kreisbahnen als ornamentale Darstellung eines Atoms lesen lässt. Für die Hinweise auf die chemischen Forschungen danke ich Wolf-Ulrich Palm. 39 | Vgl. Schulze/Harrington 2003, Kat.-Nr. 10, S. 40. 40 | Vgl. Stamper 1991, S. 189. 41 | Vgl. O’Malley, Christine G.: „Radiant Heat and Glowing Lights. Raymond Hood’s American Radiator Building“, in: Murphy/Reilly 2017, S. 183–210, hier S. 194, weist auf Hoods Reise nach Europa und sein Interesse für die Grande Place in Brüssel hin, deren Rathaus und goldgeschmückte Gildehäuser als Ergebnis bürgerlicher Handelsmacht ein passendes Vorgängermodell für einen modernen Firmensitz darstellten. 42 | Vgl. O’Malley 2017, S. 184 und 191 f. 43 | In der Chicago Sunday Tribune, 3.11.1929, S. 124, zeigt ein ganzseitiges Foto die Aufnahme der nächtlichen Stadt mit der damaligen Beleuchtung des Carbide and Carbon Buildings und u.a. auch des Tribune Towers. 44 | Am deutlichsten lassen sich die Adler und geflügelten Helme des Gottes Merkur, die in Nachahmung gotischer Wasserspeier an den Eckpunkten des Turms angebracht sind, als Nachahmungen von Kühlerfiguren erkennen. Das ornamentale Mosaik aus Wellenlinien und Kreisen am unteren Bereich des Turms erinnert an Karosserien mit Rädern. Die polygonalen und vertikal unterteilten Fenster- und Torrahmungen wie auch die Halbkreisbögen der Turmspitze können als abstrahierte Umformung einer Motorhaube und eines Kühlergrills gelesen werden. Vgl. auch Klein, Dan: „The Chrysler Building“, in: The Connoisseur 185(Ap-

A champagne bottle, once upon a time in Chicago ril).1974, S. 294–301, hier S. 297. Schmidt, Johann N.: William Van Alen. Das Chrysler Building. Die Inszenierung eines Wolkenkratzers, Frankfurt a. M. 1995, S. 18 f., 22–32. Chrysler-Building, in: Der Traum vom Turm 2005, S. 105. Zuletzt Robins, Anthony W., New York Art Deco, New York 2017, S. 81 f. 45 | Online publiziert unter URL: https://archive.org/details/ChicagoZoningCode1923 [11.12.2018]. 46 | Der Chicago Zoning Code 1923, S. 12, legte für die Innenstadt eine Grenze von 264 Fuß Höhe (ca. 80 Meter) fest, über welcher der Baukörper zurückspringen oder sich verjüngen musste. Das Carbide and Carbon Building misst umgerechnet ca. 500 Fuß, von der knapp die Hälfte der Höhe auf den unteren Baukörper entfällt. Zu den Vorschriften bezüglich der Stockwerke auch Chase, Al: „Architects make Protest on New Skyscraper Law“, in: Chicago Daily Tribune, 12.7.1929, S. 14. 47 | Zusammenfassend zu dem Fall Stamper 1991, S. 194–196. 48 | Eine ausführliche Berichterstattung findet sich in der Chicago Tribune von 1929 (Ausg. 12.7., S.14; 13.7., S.3; 14.7., S. 9, 36; 15.7., S. 3; 17.7., S. 15; 19.7., S. 4; 20.7., S. 6; 30.7., S. 8; 3.8., S. 3; 28.8., S. 15; 12.9., S. 5; 7.11., S. 6: 20.11., S. 9). 49 | Hampson, Philip: „Newest Skyscraper to Be Colorful“, in: Chicago Tribune, 14.7.1929, S. 36: „This shading of color from dark to light will still further emphasize the impression of height.“ Dem Artikel zufolge war auch für diesen Wolkenkratzer eine nächtliche Beleuchtung vorgesehen. 50 | Vgl. Robinson, Cervin/ Haag Bletter, Rosemarie : Skyscraper Style. Art Deco New York, New York 1975, S. 38. 51 | Die Gebäudespitze war in diesem Fall als Ankerplatz für Luftschiffe vorgesehen – ein Plan, der die Fortschrittsgläubigkeit widerspiegelt, welche die Entwicklung der Hochhausarchitektur begleitete. Vgl. zum Empire State Building auch: Der Traum vom Turm 2005, S. 107. 52 | Vgl. dazu den Titel des Artikels in der Chicago Sunday Tribune vom 13.5.1929, S. 43 (Anm. 35); ferner in der Chicago Sunday Tribune vom 3.11.1929 („Bejeweled Towers, Gold and Silver“ zur nächtlichen Beleuchtung; dazu Anm. 43); [N.N.,] Color in New Skyscraper, in: The Pittsburgh Press, 28.4.1929, S. 91. 53 | Angesichts der nur vereinzelten Informationen in der Fülle der Fachliteratur über die Architektur der Moderne in Chicago stellt eine ausführlichere Beschäftigung mit den Burnham Brothers ein Forschungsdesiderat dar.

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Europa – Rhein – Atlantik Ein Essay zum Erkenntniswert fluider Topografien Gertrude Cepl-Kaufmann Der in Neuwied geborene, in Karlsruhe, am „heiligen Rhein“1 aufgewachsene herausragende Ästhetiktheoretiker, Pazifist, Europäer und Schriftsteller Carl Einstein, Freund André Gides und bekennender Anhänger eines Paris als metropolitanem Ort der Moderne, hatte es auf den Punkt gebracht: „Landschaft ist ein Umweg – eine archaische Frechheit – zerhauen wir uns direkt.“2 Das war eine schmerzhafte Trennung von jeder Art topografischer Sinndeutung. Dennoch hatte er sein Leben und Werk in einem bemerkenswerten Dreieck verortet: vom Rheinland, wo er herkam, nach Berlin, wo er über Jahre hinweg seinen beruflichen Erfolg und lebensweltlichen Ort suchte, und Paris, wohin es ihn am Ende zog in der erworbenen Sicherheit, dass Orte der Moderne nur dann Orte fürs Bleiben sind, wenn sie das Ästhetische mit dem Heiligen, genauer: dem als mentalen Paradies- oder Glückszustand empfundenen Bleibewunsch und seiner Topografie verbinden.3 Dieses Attribut hatte er, vom Geburtsort Neuwied ins oberrheinische Karlsruhe, die „Stadt der Langeweile“,4 verschlagen, der Kinderheimat in einer Mischung aus spöttischer Zurückweisung und Bekenntnis zum verführerisch Anderen zugewiesen und sie dennoch, dank des Viertels „das kleine Frankreich“ am „heiligen Rhein“,5 als Bonus dem jenseits der Grenze liegenden Nachbarstaat zugestanden. Die Kindheit holte ihn ein. Er verließ das „ungläubige“6 Berlin und hatte letztlich Paris als das gewonnen, was weder das Rheinland noch Berlin, wohl aber die Quadratur des Kreises davon, dem Dritten, am nächsten kam. Hier fand das scheinbar Objektive mit dem sicht- und empfindbar Subjektiven einen optimalen Konsens, das Andere konnte zum Eigenen werden. Die Verführung, ins Metaphysische abzugleiten, ist groß. Benennen wir das Plus einmal bescheidener als eine symbolische Selbstergänzung. Damit wäre ein Begriff aus der Markenpsychologie der Wirtschaftswissenschaftler konstruktiv weitergedacht, konkret: das, was, etwa auf die Haute Couture eines Karl Lagerfeld bezogen,

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als eine Art der gewinnbringenden Selbstinszenierung bezeichnet werden kann. Es ist weitaus mehr als oberflächenhaft aufgebrachte Tünche, wenn damit die äußere Form eines inneren Zustandes gemeint ist. Ein Bewusstsein wird erkennbar. Es überzeugt nur bei Übereinstimmung von Form und Inhalt. Verdrängen wir also die Frage nach einer ins Transzendente drängenden Benennung dessen, was da so harmonisch miteinander auftritt. Fragen wir zunächst: Wie und wo begegnen uns solche identifikatorischen Angebote? Wo kommen sie her? Die These: Sie verbergen sich in Landschaften, aus denen ein Konstrukt mit hohem Symbolwert generierbar ist. Wie sich dies zeigt, mögen, neben Carl Einstein, weitere Persönlichkeiten der Moderne zeigen, die bei aller Eigenheit über die Identität einer spezifischen Landschaft, die sie an sich binden, vergleichbar werden: Der in Heidelberg als Rechtsanwalt lebende Alfred Mombert war einer der großen Kosmiker seiner Zeit: Im ersten und einzig erschienenen Almanach des Blauen Reiter können wir seinen Stellenwert für die Zeit der Entstehung dieser klassischen Moderne, einschließlich ihrer geistigen Fundierung, ablesen. Abgedruckt ist dort die Alban Berg-Vertonung des Gedichtes Warm die Lüfte,7 ein Lied auf den damals evidenten Monismus, die Immaterialität und ihren sinnlich-ästhetischen Reiz: „Warm die Lüfte, es sprießt Gras auf sonnigen Wiesen. Horch! – Horch, es flötet die Nachtigall... Ich will singen: […] Stirb! Der Eine stirbt, daneben der Andre lebt: Das macht die Welt so tiefschön.“

Was hat der Blaue Reiter mit unserem Thema zu tun? Die Selbstpositionierung im Kontext der Ästhetik ihrer Zeit, die die Herausgeber vornehmen, gipfelt in einer Theorie des Geistigen, die Kandinsky in dieser Zeit in seiner Programmschrift Über das Geistige in der Kunst ausgeführt hat. Mombert passte, passte aber auch nicht: Der Unterschied, der sich zum Werk von Mombert aufzeigen lässt, liegt im Verständnis von Abstraktion. Während Kandinsky weitaus utopischer vom Begriff der inneren Notwendigkeit ausging und glaubte, dass die Dinge in der Seele durch Vibration eine Empfindung und einen entsprechenden künstlerischen Ausdruck, im Rezipienten eine kongeniale Nachempfindung, wachrufen würden, wie dies die Romantiker schon sahen, etwa Joseph von Eichendorff, der 1835 seine po-

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etologischen Erkenntnisse in die Liedzeilen „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort“ des Gedichtes Wünschelrute gebannt hatte, suchte Mombert nach einem Sinnbild für seine Empfindungen in der Begegnung mit dem Kosmos; er ging nicht den Weg nach innen, sondern projizierte sein Begehren in dieser Zeit der Entfremdung auf eine Metaebene und band den Schlüssel zum Eintritt in diese Ebene an einen besonderen Habitus des Künstlers generell. In ihm, und nur in ihm, so hatte es Friedrich Nietzsches Artistenmetaphysik gelehrt, hatte das Universum ein Residuum gefunden, im Status des Künstler-Seins, der in ihm zur Form kommenden natura naturans, war das verloren gegangene Universale noch vorhanden, sein Ausdruck angelegt. Mombert übernahm innerhalb des Moderne-Spektrums eine der Versionen eines zu sich selbst kommenden Universalismus. Wie im Fall Einsteins ist dabei eine Vorstellung von Landschaft immanent. Im Blick auf Einstein konnten Jasmin Grande und die Autorin dieses Essays auf einer Einstein-Konferenz an der Goldsmith University in London, auf der die internationale Einstein-Community den Schriftsteller ausschließlich als den großen Kubisten für die Kunst zu reklamieren sich zusammengefunden hatte, zeigen, in welch paradoxer Begegnung Fremde und Entfremdung, dennoch eng an die Heimatregion gebunden, als Subtext die Vita begleiten, bis in die Entwürfe zu einer großen Kunstgeschichte, in der er von der Moralität der Landschaft spricht und „Landschaft“8 als epochenbildendes Parameter deklariert wird.

L andschaft und H eimat – eine gefährliche Symbiose Hier, in der Machart und der Inspirationsquelle, begegnen sich die beiden ungleichen Rheinländer Einstein und Mombert. Nicht irgendeine utopische, sondern eine topische Landschaft drängt sich immer wieder ins Zentrum ihres Denkens und Schreibens, nämlich der Rhein. Das Utopische ist in diesem Topos aufgehoben. In erstaunlichem Maße wird die konkrete Region benannt und zugleich als das Allernächste, als Heimat verstanden, um einmal diesen Begriff als provokatives Gegenschreiben zum erdichteten Kosmos zu setzen. Während Einstein trotz der latenten Nähe eine solche Zuordnungskategorie vehement verneinen würde, sucht und findet Mombert gezielt diese alternative Möglichkeit. In den zwanziger Jahren schon schrieb Mombert seine Erste Erinnerung an den Rhein9 als Beitrag für die renommierte Frankfurter Zeitung. Es erstaunt nicht, dass er hier wie selbstverständlich sein kosmisches Programm auf den Rhein überträgt.

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Jenseits der Erlebnisse der Kindheit am Strom eröffnete sich auch hier in einer Vision das Empfinden eines „kosmischen Bewusstseins“, ein „Spiegel von Himmel und Erde“10. Erst die Anbindung an die Landschaft erlaubte die Hinwendung in eine kosmische Welt. Diese Vorstellung von Landschaft war auch bei Mombert, wie bei Einstein, mehr als das plane Regionale. So hieß es salomonisch, in deutlicher Hinwendung zu Frankreich: „Ich bin über die Plejaden und den Orion an den Rhein gelangt. Wer nun glaubt, das sei ein zu großer Umweg, das könne man näher haben: der hat keine Ahnung vom Weltgesetz der Polarität; und vom Weltzustand; und vom Geist des Menschen. Der weiß auch nicht, dass er den Rhein nie besitzen kann, er gewänne denn dazu die Plejaden und den Orion. Beides vereint bildet das, was man sinnbildlich die Heimat eines Menschen unseres Landes nennen mag.“11

Mombert hat das schon 1800 vom Rheinländer Clemens Brentano in einem der ersten romantischen Romane, Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter – Ein verwilderter Roman, evozierte, am Rhein verortete Sehnsuchtsbild „Himmel oben, Himmel unten / Stern und Mond in Wellen lacht“ weitergeschrieben und über die Einflüsse des Monismus zum Sinnbild verdichtet. Im umfassenden Sinne ist der Rhein Teil einer geistigen Idee von Welt, wie die Welt geistigen Anteil am Rhein hat, oder, um es mit Mombert zu sagen, „Spiegeln doch auch die Wasser des Rheins seit ewigen Zeiten das Bild des fernen Ataïr!“12 Was hatte Mombert auf dieser Entdeckungsreise, frei nach Eduard Graf Keyserling rund um die Welt zu sich selbst, gewonnen: eine Landschaft als Seelenlandschaft, als ästhetische Abstraktion, in der evidenten, im Klang realisierten Schönheit der Sprache, eingebettet in den Klang des Kosmos, die, abstrahiert man von den eigenen Erwartungen an die Mitteilungs- und Erkenntnisfunktion von Literatur, auch einen Leser von heute zuweilen durchaus zu verzücken vermag. Dazu ein Beispiel aus Momberts letzten Lebensjahren, in denen er im Internierungslager, im südfranzösischen, nahe an der spanischen Grenze gelegenen Gurs, seiner „Baracken-Winter-Finsternis“13 unter unmenschlichen Bedingungen, quasi im durchweichten Lehm ausharrend, bei Kälte und Krankheit doch nicht müde wurde, seine Sinfonie auf die kosmische Schönheit der Welt und an den Reiz einer rheinischen Heimat, die sich schon im bloßen inneren Anschauen des lyrischen Ich als „Aeon“ zu entmaterialisieren scheint, zu verkünden: „Aeon: Fließt noch draußen der Rhein? Treiben noch die Schiffe vorüber, winken mir zu?

Europa – Rhein – Atlantik Singen noch die Lerchen über dem grünen Menschenlande? – Eine Hand liegt über meinen Augen. Ein Rhein sprühender Kristalle strömt und saust jetzt durch mein Haupt.“14

Aeon, so lehrt es uns die Begriffsgeschichte, bedeutet dabei sowohl das Zeitalter als auch die Geologie der Erde, nicht zuletzt, in theologischer Deutung, verweist es auf die Heilsgeschichte! Zeit, Raum und anagogischer Sinn sind amalgamiert. Im Blick auf das ästhetische Spiel, auf Autoren und Kontexte gewinnen wir ein Begriffsfeld von hoher Dichte, das im Deutungsmuster des vierfachen Schriftsinns den Landschaftsbegriff, wie er in der Moderne erscheint, ausdifferenzierbar macht. Wir kommen weiter als mit einer planen historischen oder geografischen Narration. Erst in diesem Kontext gewinnt auch der Begriff Heimat eine Dimension, mit der er sich der Deutungshoheit der Ideologen und ihrem Herrschaftsdiskurs entzieht. Der in Ludwigshafen am Rhein im selben Jahr wie Carl Einstein geborene Philosoph Ernst Bloch ging noch ein wenig weiter in der Abstraktion und fand dazu die klassische Definition von „Heimat“ als „etwas, was allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war“15 mit ihrer ebenfalls paradoxalen Zwangsläufigkeit und negativen Dialektik von mentaler, vergeblicher Projektion in eine als Heilsbild abrufbare Archaik, die sich, dank der Anbindung an ein Sein „ohne Entfremdung in realer Demokratie“16 als konkrete Utopie gegenüber Einsteins zwanghaftem Verriss der Landschaft und Momberts kosmischem Rhein-Fluchtort als gutmütiges, den jüdisch-schöpfungsmythischen Bildern vertrauendes Pendant zur Seite stellen lässt. Den drei Rheinländern, alle drei im Deutschland der Kaiserzeit, also am Vorabend des Ersten Weltkrieges hier im Westen Europas beheimatete, assimilierte Juden und damit zu den tragenden Pfeilern unserer geschichtsträchtigen Region gehörend, lag das Utopische ebenso wie das Denken im Paradox. Ein weiterer Zeuge dieser wunderbaren Eigenheit, Assimilation und Durchmischung, der in Düsseldorf geborene Heinrich Heine, gesellt sich einer solchen Denkbewegung hinzu. Mit seinem Fragment des ersten deutschen historischen Romans Der Rabbi von Bacharach verortet er das Muster der deutsch-jüdischen Konfliktgeschichte unmittelbar in einem der Kernorte unserer Region, dem zu seiner Zeit blühenden, sich stürmisch entwickelnden romantischen Herzstück.

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Mit der lyrischen Loreley im Buch der Lieder gewinnt diese Landschaft den Status einer Seelenlandschaft. Sie bediente, ja schuf ein bis heute nachwirkendes mentales Muster der Deutschen. Henning Ritter hat diese mental map treffend fixiert: „Das Rheintal ist die Höhle der Deutschen.“17 Eine Rückbindung an Einsteins Archaik-Anspielung drängt sich auf! Heine deutete über das Historische und Mentale hinaus den Rhein auch als eine westeuropäische Markierungslinie fürs Gesellschaftspolitische. Als er im Kontext der Julirevolution von 1830 auf dem Weg ins Exil nach Paris den Rhein überquert, bindet er seine Lebenslinie ebenso wie seine Zeit an den Strom und deklarierte ihn zum „Jordan, der das Land der Freiheit trennt vom Lande der Philister“.

D ie R heinlandschaft als zeitübergreifendes I dentitätskonstrukt Westeuropas Der Bedeutungshorizont und die Aussagekraft des biblischen Musters blieben als nationales literarisches Erbe erhalten. Für etliche der Autoren, die sich in den zwanziger Jahren zum Bund rheinischer Dichter zusammenfanden, wurde der Rhein wiederum zum Jordan, fasste das Leiden der Zeit nach der Apokalypse des Ersten Weltkriegs und wurde zugleich aber auch zur Heilsbotschaft, zum Symbol der Zukunftshoffnung.18 Im Kreis der rheinischen Dichter gab es divergierende Gruppen. Wir können eine europäische Fraktion neben einer rheinisch-fränkischen ausmachen, oft miteinander vernetzt und kaum zu unterscheiden: Während erstere sich in der Nähe zu den paneuropäischen Friedensinitiativen der Nachkriegszeit hingezogen fühlten und in Karl dem Großen ihren Vorreiter sahen – zu nennen sind zum Beispiel die frankophilen Hans Robert Curtius und die Schriftsteller René Schickele, Fritz von Unruh und Walter Hasenclever –, hielten es die anderen eher mit einer neoromantischen Vorstellung. Wie Friedrich Schlegel in seiner frankreichkritischen Zeit im Jahre 1803 in seiner Zeitschrift Europa ein Weltreich vom Rhein her dachte, hatten auch sie eine Vorstellung, wie der „Rheinstrom – Weltstrom“19 eine Art Aktivzentrum für ein so wieder vom Westen her dimensioniertes Europa werden müsse – hier wurden der im Aachener Dreiländereck beheimatete Josef Ponten und der aus dem Hunsrück stammende, als studierter Romanist frankophile Jakob Kneipp aktiv. Unsere Rhein-länder, hießen sie Paquet, Ponten, Adolf von Hatzfeld, René Schickele, dachten in monistisch-organologischen Kategorien. Fluide Topografie meinte für sie, auch wenn sie selbstredend nicht mit diesem Denkbild operierten, dass nicht die starren politischen Grenzen eine Landschaft bestimmten, sondern die mit den Strömen erkennbaren großen Bewegungen. Ponten, im Aachener Dreilän-

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dereck geboren und sozialisiert, wartete immer wieder mit einer Beobachtung auf, die ihn seit seiner Kindheit geprägt hatte: Trotz der politisch bedingten Grenzverschiebungen machten die Kohleflöze keineswegs an der Grenze Halt. Für Paquet war es die „Botschaft des Rheins“20, die er in seinen an Walt Whitman geschulten langzeiligen Rhein-Balladen verkündete. Diese Rheinlandschaft von der Quelle bis zur Mündung machte ebenso wenig an und in der Nordsee halt, sondern reichte als Stromlandschaft in den Atlantik und schwappte bis ans ferne amerikanische Ufer. Unsere Rheinländer, insbesondere Paquet und von Hatzfeld, suchten aber zugleich eine Arbeitslandschaft, die ihrem Dichten ebenso wie ihrem Lebensstil einen Sinn und ein Format geben konnte: dies verband sich mit der modernen Interpretation eines wirtschaftsmächtigen Rheinlandes, das sich unmittelbar mit der Landschaft der Industriemoderne, dem Ruhrgebiet zusammenschließen sollte. Daraus entstand Paquets Vision der „Rhein-Ruhr Stadt“21. Der Duisburger Hafen wurde dazu so etwas wie der atlantisch ausgelegte Umschlagplatz. „Der Rhein als Schicksal“22, wie Paquet es 1919 in einem Vortrag ausführte, stand nicht zuletzt auch für eine ideologische Entscheidung, die angesagt war; der Weltreisende Paquet, der Amerika seit seinem Besuch der Weltausstellung in St. Louis 1904 kannte und liebte, der sich vor Ort mit der jungen Sowjetunion beschäftigt hatte und sozialistischen Ideen durchaus offen begegnete, nahm dennoch eine vom Rhein her gedachte Positionierung im ideologischen Feld vor: Zum weißen Sozialismus, einem mit Henry Ford Person gewordenen Amerikanismus als ideologischem Verführungs-Modell, und dem roten Sozialismus, der Intellektuelle in die Sowjetunion zog, suchte er ein Drittes und machte den Atlantik sozusagen zur Brücke, aber auch zum Hindernis für eine gänzliche Aufgabe der eigenen Identität. Er holte von beiden das Optimale und erschrieb damit eine gegenwartsadäquate Rheinregion, in der sich die konstruktive Erinnerungskultur und die Suche nach Avantgarde und Zukunftsvisionen zusammentaten und zum modernen Zuschnitt von Landschaft und Heimat wurden: „Europas Jordan ist der Rhein, man kann ein Weltkind und gläubig sein!“23

Z um E rkenntniswert differenzierter L andschaftskonstrukte Was die progressiven Mitglieder des Bundes rheinischer Dichter mit den Avantgardeautoren verbindet, ist ihre Zeitgenossenschaft und ihre Zukunftsorientierung, der Wunsch, zur kulturellen Erneuerung beizutragen. Die Aktivitäten, die sie entfalteten, konnten sich, wie die Jahrtausendfeiern, die von den Dichtern mit gesteigerter literarischer Produktion bedacht wurden, auf die große, westeuropäische

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Vergangenheit des Mittelalters berufen, aber kaum, ohne zugleich die Hürde zu nehmen, die sich in der Zwischenzeit dieser Landschaft in einer ganz eigenen Art bedient hatte und die wie ein häretischer Block im Wege stand: die Rheinromantik! Es galt, den Rhein neu zu definieren und zugleich eine eigene Topografie anzulegen, die weiter war und auch für die Moderne leistungsfähig. Das Alte wurde zum überwindbaren Konkurrenzmodell, gegen das diese Schriftsteller der Nachkriegszeit in den 1920er Jahren ankämpften. Das Romantische Mittelrheintal, das die Heidelberger Romantiker zum Idealmodell des 19. Jahrhunderts erkoren hatten, wurde zum Gegner. An die Geschichte dieser Landschaft und an diese, durchaus problematische Geschichte, die ganz wesentlich zur Erbfeindschaft mit Frankreich beigetragen hatte, wollten sie nicht anknüpfen. Sie dachten in urbanen Kategorien, suchten nicht mehr nach den Seelenorten, sei es Bacharach, Stolzenfels oder die Loreley, sondern nach Wirtschaftszentren und gesellschaftlichen Führungseliten. Die hatten sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg im Rheinland herausgebildet und mit gezielten Aktivitäten wie der Zeitschrift Die Rheinlande und dem Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein der mittelalterlichen Hansestruktur und den Landschaften links und rechts des Rheins in einem vornationalen Zuschnitt eine hohe Funktion zugewiesen. Der heute gänzlich unbekannte Schriftsteller Carl Maria Weber (nicht zu verwechseln mit dem Komponisten des 19. Jahrhunderts) hatte dazu einen Gedichtband herausgebracht mit dem irritierenden Titel Der ekstatische Fluss. Rheinklänge ohne Romantik.24 Darin legt er unter dem Binnentitel Landschaft in spätexpressionistischer Manier mit dem einleitenden Sonett ein Bekenntnis ab zu einem romantisch-entmythologisierten Rhein: „Entzauberung Wir haben bunten Lügenflor zerrissen, Der lange dich in blumigen Wust gehüllt – : Wir ahnen Größeres in dir erfüllt, Wir, deiner Würde zeugendes Gewissen. Die unberührte Landschaft war verschlissen, In trägem Schlamm und Schutt versank dein Bild. […] In reineren Tinten, Flächen, Täler leuchten, Aus milchiger Verwesung losgeschält; Und in das Wallen deiner morgenfeuchten Nebel Ächzen der Dampfer, Schrei der Städte schwelt. – […].“

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Ein engmaschiges Zusammenspiel historischer Erfahrung und mentaler Disposition bestimmt Webers Dichtung. In dieser Motivation und mit der Aktivierung der kulturellen Erinnerung trafen sich die Autoren. Was diese kleine Liste intellektueller Selbsterfahrung und Zeitdeutung (Selbstdeutung) und Positionierung angeht, so ließe sie sich ausbauen, den Reiz jedoch muss ich beiseitelassen, um doch mit diesen Zeitzeugen unmittelbar in mein Thema hinein zu zielen und zu fragen, welche Bedingungen die Begriffe Landschaft und Heimat, gerade in ihrer Koppelung, erfüllen müssen, um ihre konstruktive, über den Zeiten stehende Funktion zu erfüllen.

Von eine

der Topografie H eterotopie

zur fluiden

Topografie :

Regionen sind abstrakte terrae, geologisch zu vermessen und zu analysieren. Sie werden von politisch wirkenden Kräften verwaltet, ins Spiel gebracht, mal gut und mal schlecht behandelt. Landschaften sind mehr, binden Natur und Kultur zusammen und haben ihre eigene Würde. Sie sind nichts ohne die, die sie erkennen und auf den Punkt bringen, die ihrerseits nicht minder abhängig sind von etwas, was diesen Landschaften offensichtlich zu eigen ist und sich zu einem identitätsbildenden Prozess anbietet, eine symbolische Selbstergänzung nach sich zieht. Ein solcher Prozess kommt, wie die Beispiele insbesondere der gänzlich landschaftsunabhängig scheinenden Intellektuellen und Dichter beweisen, da vor, wo wir sie am wenigsten vermuten. Das gilt für die produktionsästhetische Seite wie für die rezeptionsästhetische. Sie sind vor allem deshalb für eine Kulturwissenschaft, wie sie das Institut Moderne im Rheinland mit seiner theoretischen Fundierung mit einer „Rhetorik der Region“25 vertritt, von Belang, weil sie sowohl mit ihrer subversiven Kraft überzeugen, als auch wegen ihres Begriffs von Heimat geradezu als Zeugen gegen jede Heimattümelei und einen sentimentalen wie rückwärtsgewandten Heimatbegriff auftreten. Sie retten etwas, was als sensus literalis keinen Anspruch auf Rettung haben dürfte, weil ein solcher Anspruch auf Heimat nichts mehr als einen Herrschaftsanspruch, ins Private verabsolutiert, bedeutet. Ihm zur Seite ein Verständnis von Heimat, das nicht mehr zu bieten hat als die Funktion eines Fluchtraumes. Heimat, im Sinn unserer literarischen Zeitzeugen verstanden, meint dagegen keinen grenzziehenden, markierten und exklusiven Raum, sondern etwas weit Ausstrahlendes, wie bei Einstein, eben jene geistig-historische Landschaft mit ihren markanten Zentren, die wie eine Semiophore mehr verwaltet als ein persönliches Interesse oder Vorrecht. Sie muss quasi dreieckig angeordnet sein:

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Jede ins Absolute drängende Aneignung und Ins-Rechtsetzung gegenüber dem Anderen, nicht Dazugehörenden, würde vom Dritten widerlegt. Es ist Aufgabe eines Instituts, das sich einer Rhetorik der Region verpflichtet fühlt, nach den Bedingungen für Varianten und Gegensätze zu fragen. Insbesondere gilt es, zum interdisziplinären Diskurs dort beizutragen, wo verschollene oder alternative, prospektive oder experimentelle Denkfiguren gewonnen werden können. So lässt sich ein Begriff von Heimat behaupten, ja, zum Muster werden für eine positive Setzung von Heimat, die dank ihrer fluiden Topografie das herausragende Modell abgibt für eine lebenswerte Landschaft. Dafür hat uns ein weiterer Rheinländer ein fulminantes Beispiel geliefert: Carl Zuckmayer:

C arl Z uckmayers A bendland -Konstrukt Die Rede ist von einem Monolog im bekanntesten Drama des Schriftstellers Carl Zuckmayer: Des Teufels General. Das Stück bietet unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine viel beachtete Auseinandersetzung mit den Wirkmächten des Dritten Reiches. Der Protagonist, General Harras, beantwortet mit einem Monolog das Problem des jüdischen Fliegerleutnants Hartmann. Dieser ist besorgt, ob er für seine anstehende Verheiratung den notwendigen Ariernachweis erbringen kann. In seiner Sorge hat er sich an seinen Vorgesetzten gewandt und erhält als Antwort eine umfassende Exkulpation. Harras offeriert mit seinem argumentativen Handlungsvorschlag zugleich ein Geschichtskonstrukt, den Entwurf einer retrospektiven Utopie, die weit über das zu lösende Problem hinausgeht. Sie bietet alle Voraussetzungen, um sie als Heterotopie im Sinne Foucaults zu erkennen. Für ihn ist die im Monolog konstruierte Landschaft eine „tatsächlich realisierte Utopie“26. Dazu nutzt er die Unsicherheit in der Biografie der Großmutter und verlässt die private Geschichte, die Hartmann ihm vorträgt. Stattdessen verortet er ein wesentliches Element dieser Biografie in deren Herkunftsregion, einer historischen Landschaft, dem als lebensfroh und weltverbunden geltenden Rheinland, und greift weit zurück in die Geschichte. Sein Musterfall, so betont er, baut auf das Besondere, ja, Einmalige dieses Landstrichs. Dies erweist sich als Exempel für weitere Kontexte, denn Harras mutiert ein vermeintliches Problem zum Vorzug: Dieses Rhein-Land ist eine extrem bewegte, ja unsichere Topografie, um sie herum und an ihr festgemacht ein immer wieder sich wandelnder und neu angeeigneter, aber auch erzählter oder dramatisierter Bedeutungsraum, getragen von einer über 2.000-jährigen Geschichte. Sie wird zum kollektiven Besitz, zum Habitus mit

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einem dominanten Qualitätsmerkmal, für den mit dem folgenden Monolog eine um den Rhein kreisende Klimax etabliert wird: Völkermühle – Kelter Europas – Abendland. Dies alles wird an ein Element gebunden, das zugleich Substanz- und Funktionsbegriff ist: ein lebendiger Strom ist Anfang und zeitloser Begleiter. Es gewinnt eine Qualität, die mit dem Begriff Heimat emphatisch konnotiert und mit Erinnerung gesichert und zugleich abrufbar wird, einschließlich der Generierungsregeln. Dieses Denkbild, vom Entstehungskontext Rhein ablösbar, sichert auch die Übertragbarkeit seiner Geschichte. Es wird zum Narrativ für jede Form der Wandlung von Landschaft, einschließlich des die Aktivierung bedingenden Stroms der Erinnerung. Letztlich bezeugen solche Beispiele für eine fluide Topografie die von politischen Systemen unabhängige anthropologische Dimension von Landschaft und Heimat. „Unsere ,Heimat‘, Hartmann, ist die ,Erinnerung‘“, baut Harras den ebenfalls aus dem Rheinland stammenden, um einen lupenreinen Ahnenpass besorgten Kameraden auf und offeriert ihm eine alternative Ahnenreihe, einen rheinischen Orbit, gesättigt durch eine reiche Genealogie aller Ethnien und sozialen Schichten: „Vom ,Rhein‘. Von der großen ,Völkermühle‘. Von der ,Kelter Europas!‘ Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsass, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt

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Gertrude Cepl-Kaufmann und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald und – ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein – das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf, Hartmann – und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter in den Abtritt. Prost.“27

Zuckmayer liefert implizit ein Glanzstück an Zivilcourage und angemessener Stellungnahme gegenüber den Holocaust-Akteuren des Dritten Reiches und entwickelt dazu eine Perspektive für die Nachkriegszeit. Darüber hinaus liest sich sein Konstrukt eines rheinischen Orbits als eine Meistererzählung für Sinn und Wesen von Landschaft als Erkenntnisraum. Zuckmayer verbindet mit der Landschaft Merkmale eines Grundkonsens, den wir in den heutigen Diskursen als Menschenrecht bezeichnen würden. Er sucht nicht die politische Argumentationsstruktur, vielmehr fundiert er sein Votum in einem Ideal menschlichen Zusammenlebens. Das zeigt der Kontext, in dem wir das Drama sehen müssen: Nach zwölf Jahren Nazidiktatur war dieser Monolog sowohl Herausforderung als auch Versöhnungsprogramm. Was leistet er im Kontext des Dramentextes? Die traditionell hierarchisch organisierte Militärelite verliert hier gezielt ihre Bedeutung, auch ohne dass die Deutungshoheit, die der General kraft der tradierten, im Militär üblichen Befehlsstrukturen hat, und wohl auch haben muss, außer Kraft gesetzt wird. Harras behandelt den weit unter ihm stehenden Leutnant auf absoluter Augenhöhe, ja, er holt ihn geradezu auf seine Augenhöhe hinauf, gibt sich persönlich, souverän und zugewandt. Das Rollenklischee, insbesondere das vom arischen Herren- und jüdischen Untermenschen wird aufgelöst und ins Gegenteil, einen Akt purer Rationalität und Menschlichkeit, verkehrt.

Europa – Rhein – Atlantik

Hätte Zuckmayer seine Ableitung anderswo verorten können? Nehmen wir einmal einen bedeutungsträchtigen Referenzort, der nicht minder für die deutsche Kulturgeschichte und die Nation von besonderer Bedeutung ist: Weimar. Auch hier gab es Hochzeiten: Zuerst kam das Goldene Zeitalter mit Goethe und Schiller, ihm folgte das Silberne mit einer besonderen Musikkultur von Liszt bis zu Wagner. Folgen sollte eine dritte, von der Kunst geprägte Phase. Für ein Zeitalter der Moderne mit und um den in Weimar lebenden Friedrich Nietzsche traten Harry Graf Kessler und Henry van de Velde ein. Doch schon lange fehlte die Durchmischung, statt einer konstruktiven, produktiven Völkerwanderung in Form innovativer Ideen gab es nur noch Reisende auf der Suche nach dem Mythos, die nichts lieber wollten als den Geist der Vergangenheit zu atmen. Folglich scheiterte im Jahr 1919 hier die Gründungsphase der Weimarer Republik, ebenso wie die Etablierung des Bauhauses als Tempel der Moderne.28 Weimar wurde keine Völkermühle, rezipierte keine von außen kommenden Impulse, die aktuellen Bewegungen wurden als Störenfriede zurückgewiesen, ja, angstbesetzt und aggressiv suchte man sie zu vernichten. Im Blick auf die in diesen Zeiten dort tobende PEGIDA, die Bewegung Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes, ist die Analogie nicht zu übersehen. Das lenkt den Blick auf die Bedingungen, unter denen der Begriff Abendland zu sehen ist. Nach 1945 taucht der Abendland-Begriff ebenso wieder auf wie nach 1919, wenn auch nicht in einem programmatisch spirituellen Sinn, mit dem er die Sinndeutungen des frühen 20. Jahrhunderts beflügelt hatte, sondern als Rettungsanker. Es galt, sich wieder zusammenzufinden unter einer Idee, die zeitenübergreifend und fundamental wieder gelten sollte, nachdem die Nazis sie ausgehebelt hatten. Beginnend bei Thomas Manns Radiorede vom 9. Mai 1945, bei der er die Werte der Humanität wieder ins Recht gesetzt sehen möchte, wiewohl er durchaus daran zweifelt, dass dies nach den Schreckenszeiten möglich sei, bis hin zur 1954 gezeigten Ausstellung Werdendes Abendland in der Essener Villa Hügel war der Ruf nach Abendland zu vernehmen. Als Suche nach Gemeinsamkeit, als Gegenstück! Das sollte in der Ausstellung in der Krupp-Villa klar erkennbar werden: Diese monströse Villa war als größtes Einfamilienhaus der Welt sozusagen das Symbol eines sich im Militarismus selbst widerlegenden Ideals der Humanität, kultursoziologisch gesehen war es die perverse Folge einer unkontrollierten Sumpfblüte des Kapitalismus, ja, dessen Spiegelbild. Günter Grass spottet mit seinem Gedicht Gesamtdeutscher März über den Geist der Adenauer-Ära: „Der Rhein riecht fromm nach Abendland.“29 Er trifft damit einen Grundzug der frühen Bundesrepublik, für die Abendland zum „Denkmodell“30 geworden war.

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Ist der Begriff Abendland heute, mit den problematischen Instrumentalisierungen widerlegt? Zuckmayer würde immer dagegenhalten: Es kommt darauf an, was man als das Besondere, Paradigmatische definiert. Das Nachdenken über Idee und Realität des Abendlandes als ein Europa fundierendes Denkbild lässt sich nicht historisch abhaken, erst recht nicht in einer arroganten Wertungsattitude. Erst kürzlich, genauer, in einem 2018 erschienenen Band über Staatsutopien taucht das Abendland in einer kritisch perspektivischen Gegenwartsanalyse wieder auf. Herfried Münkler, Jürgen Kaube und Wolfgang Schäuble versuchen hier den konstruktiven Umgang mit dem Begriff. Es ist bezeichnend, dass mit Wolfgang Schäuble, dem langjährigen Finanzminister und derzeitigen Präsidenten des Deutschen Bundestages, auch ein Politiker gemeinsam mit renommierten Historikern im Boot sitzt. Staatserzählungen betiteln die Autoren ihr Nachdenken über Die Deutschen und ihre politische Ordnung.31 Ihr Rekurs auf Denkmodelle und politische Muster zielt auf die Einschätzung unserer gegenwärtigen nationalen und globalen Lage. Dafür sucht Münkler nach einer neuen Europaerzählung. Er nennt die Abendlanderzählung mit ihrem eher defensiven, national-konservativen Ansatz. Davon war auch nach 1918 und nach 1945, in Zeiten politischer Wenden, die Rede. Münkler lässt den Begriff jedoch nicht als überfällig Ewig-Gestriges stehen, sondern gewinnt im Spannungsgefüge zur Global-Player-Erzählung das hinzu, was sie auch bewegt und was nicht mit den Problemzeiten der deutschen Geschichte und den nachfolgenden Bewältigungsversuchen zu Ende sein sollte: die Sicherung der Menschenrechte, die dem Begriff inskribiert ist. Er nimmt faktisch das hinzu, was auch schon die Dichter des frühen 20. Jahrhunderts hinzugenommen hatten, um den Blick zu erweitern, den Horizont zu verschieben, ohne das Prinzip und die eigene kulturelle Erinnerung aufzugeben. Was damals mit Atlantik sinnbildlich gefasst wurde, hat viel mit der globalen Perspektive von heute gemein. Abendland erscheint in diesem Kontext nicht im Doppelpack von Apokalypse und Utopie, sondern als ein Instrumentarium, das im Konzert, Konflikt, Diskurs um Leitkulturen mehr aussagen kann als in den genannten Epochen den Initiatoren solcher wieder erweckter Ideale oder Schreckensbilder bewusst gewesen ist. Es geht nämlich hier um eine topografische Inszenierung, die Frage nach einer Machart, mit der politische Ideen für die Gegenwart und Zukunft fruchtbar gemacht werden können. Abendland bleibt hier, in Münklers These, da wo’s gewesen ist, ein historisches Phänomen, dass allerdings geeignet ist, Erfahrungswerte und Prägungen, die in die Gegenwart und Zukunft einbezogen werden müssen, durchschaubar zu machen, da, wo es sein muss sie auch zu hinterfragen.

Europa – Rhein – Atlantik

Der Blick in Zuckmayers Rhein-Apologie bedeutet somit keine Hierarchisierung einer Region, sondern wirkt als Muster für eine Sinn-Belegung von Landschaft. Sie umgibt uns, sie fordert uns heraus, mit ihr umzugehen, zu bestimmen, was sie uns sein soll im Spannungsfeld von Topie, Dystopie und Heterotopie. So aktiviert, zeigt Zuckmayer mit seinem Monolog Parameter für einen appellativen Europa-Diskurs. Der größere Zusammenhang empfiehlt, unseren Rhein-Diskurs in einem Vergleich mit der Donau nachzuvollziehen. Auch hier zogen Völker entlang und zuweilen haben wir es auch mit einer Konkurrenz zu tun, so, wenn in der Thematisierung des 19. Jahrhunderts der Rhein als Kampfbahn konstruiert wird, damit aber der Donau als dem Nibelungen-Projekt schlechthin den Garaus zu machen versucht wird. Beide Landschaften aber besagen, dass ihr Habitus, eine Symbiose aus Geschichte und Natur, bis in die Gegenwart als Sinnmuster einer gelungenen Völkermühle fungieren können. Solche Netzwerke binden sich insbesondere an die großen Verkehrsadern, die Ströme dieser Welt. Ströme sind fluide Topografien. Zuckmayer spricht vom „großen, lebendigen Strom“, quasi das Basismodell. Unser Narrativ ist nicht der feste Ort, sondern nur ein Anteil, den der feste Ort am Transfer von Kultur und Ideen hat und die Formationen, in denen er sich zu einem temporären Kulturformat und politischen Gebilde verfestigt. Der Rhein, nicht minder die Donau, bieten, wie weltweit die Flüsse, die zum „lebendigen Strom“ werden, optimale Voraussetzungen, ja, Rezepte für Völkerverständigung. Gefragt, was uns Zuckmayers Mikrokosmos vermittelt, ist es das Hohe Lied auf etwas, das ideale Voraussetzungen bietet für jeden Kulturtransfer, vorausgesetzt, es gibt einen Konsens über das Ziel: eine produktive Gemeinschaft. Erst vom Ergebnis her entwickelt, war etwas aus der Wanderung zu machen. Es ist ein Rezept! Man nehme: eine wirtliche Landschaft, einen Strom, der die anstehenden Transfers – vom Warenhandel bis zum Händel und darüber hinaus in eine abstrakte Vision lebendiger Ströme – erleichtert; vorurteilsfreie Integrationsbereitschaft; lebenspraktische Kompetenzen und Bildungssysteme. Ein paradiesischer Zustand! Die Literatur kann ihn sich erlauben – positiv oder ex negativo entwickelt sie abendländische Bilder. Von der Bibel bis zu Miltons Paradise lost und den modernen Sehnsuchtsrufen32 ist die Literatur voll davon. Und für weitere temporäre Experimente brauchen wir nichts mehr aber auch nichts weniger als die Akzeptanz von Utopiekompetenz. Die Realität widerlegt diese Entwürfe nur scheinbar – ein Paradox, das Früchte tragen kann! Der Rhein ist, so ließe sich schließen, mit einem hohen Wert ausgestattet, der ihn in unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Interessen genutzt, instrumentalisierbar macht. Wie

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das gelingt, ob es Parameter gibt? Angenommen, wir sehen die fluide Topografie unserer Stromlandschaft als Bonus, so können wir allen Kulturaktivitäten immer auch eine latente Kraft des Kulturtransfers unterlegen. Sozusagen die Kompetenz für Avantgarde, dies in einem umfassenderen Sinn, als ihn die Kunst für sich reklamiert. Wir müssen dann auch sehen, dass alle Kulturpraxis in einem weiteren topografischen Feld stattfindet. Vergangenheit und Gegenwart sind vergleichbar. Wenn wir genauer hinschauen, ist der Bezugshorizont, in dem diese Dinge über Jahrhunderte ablaufen, Europa. Wir können bipolare Zusammenhänge beschreiben, Grenzkonflikte, von denen es allein in der Rhein-Mass-Region genügend gab, um auch die Jüngsten unter uns für den Rest ihrer Tage zu beschäftigen, doch wir kommen nicht ohne ein Feld aus, auf dem wir die Zusammenhänge verorten. Wir können, gerade im Blick auf eine Landschaft als Konstruktion von Natur und Kultur, vieles über ihren Charakter sagen, wir können ebenso etwas sagen über Mentalitäten, die sich in solchen Kontexten erkennen lassen oder erst bilden. Es gelang den Dichtern der zwanziger Jahre nicht wirklich, das Romantische kleinzukriegen, dennoch hatten sie an einem solchen nachromantischen Bild gearbeitet. Es gab in dieser Zeit damit konkurrierende Rheinland-Konstruktionen, ein Bild von Landschaft, an dem gearbeitet wurde. Diese Qualität des Rheins, die schon vorher zum Tragen kam, wurde auch hier weiter genutzt: Der Strom hat einen hohen Latenzfaktor für geschichtsphilosophische Deutungen, in denen er jeweils ganz anders zugeschnitten wird, eine jeweils eigene, nur im Rekurs auf eine Geschichte Europas sinnfällig zu deutende Landkarte erhält! Der Rhein ist, dank seiner fluiden Topografie, mehr als ein Erinnerungsort! Die Geschichte des Rheins bot etliches, was sich reaktivieren ließ, neu zusammensetzen, überschreiben, remythisieren, ja, wir können an ihm die Parameter entziffern, die uns mehr aussagen als das Gewesene! Ein Feld zwischen Anthropologie, Ontologie und Kulturtheorie. Der Rhein enthält also den Generierungsschlüssel, hat Latenz- und Evidenzfaktoren für Denkbilder der Zeit und ihre impliziten politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Programme und bedient zum Beispiel ihre Klientel in ihrer Sehnsucht nach einer tragfähigen Gesellschaftsphilosophie. Drei dieser Formate wären dann: Als Erinnerungsort begegnet er uns im Begriff Pfaffengasse im Mittelalter – ein westeuropäisch zugeschnittenes Muster der Größe Deutschlands, als Jordan steht er für das 19. Jahrhundert – eine abendländisch-christliche Deutung, die, wie die Zäsur zwischen Altem und Neuem Testament zwischen der Welt der Aufklärung und einer bleischweren erkenntnisverweigernden, an der Degeneration eines emanzipierten Bürgertums leidenden, zurückgebliebenen Nicht-Nation aufgebaut wurde; als ekstatischer Fluss für die

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Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Berief sich die erste auf ein vornationales, das gesamte Rheingebiet umfassendes Westeuropa; die zweite auf die im Kampf um den Rhein sich entzweienden nachromantischen Mittelrheinregionen, hielt es ein ekstatischer Fluss mit sich selber nicht mehr aus: Er suchte in bemerkenswerter Weise den Atlantik! Warum Atlantik? Dazu die bereits zitierte Kurze Biographie von Alfons Paquet, die immer mehr sein sollte als eine Aufzählung von Reisestationen. Es war die conclusio einer realen, noch mehr intellektuellen und nachdenklichen Weltbegegnung! „Kurze Biographie In Wiesbaden bin ich geboren, In London pfiff mir der Wind um die Ohren, In Sibirien sah ich, was Fremde ist, In China wurde ich Christ, In Amerika Europäer. So kam ich der Heimat wieder näher. Europas Jordan ist der Rhein: Man kann ein Weltkind und gläubig sein.“33

Ausschlaggebend war letztlich eine christliche Abendlandidee in Europa, am Rhein, arrondiert vom Atlantik!

A nmerkungen 1 | Schmid, Marion: Carl Einstein. Werke, Bd. 3: 1929–1940, Berlin 1981, S. 155. 2 | Ebd., S. 83. 3 | Vgl. dazu Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin: „Rheinland – Berlin – Paris. Carl Einsteins messianische und spirituelle Identitätssuche im Kontext seiner biographischen Topographie“, in: Nicola Creighton/Andreas Kramer (Hg.), Carl Einstein und die europäische Avantgarde/Carl Einstein and the European Avant-Garde, Berlin 2012, S. 13–30. 4 | Einstein, Carl: „Die Stadt der Langeweile“, in: Hermann Haarmann/Klaus Siebenhaar (Hg.), Carl Einstein. Werke, Bd. 4: Texte aus dem Nachlass, Bd. 1, Berlin 1992, S. 17. 5 | Einstein/Schmid 1981, Bd. 3, S. 155. 6 | Einstein/Haarmann/Siebenhaar 1992, Bd. 4, S. 75. 7 | Mombert, Alfred: „Warm die Lüfte“, abgedruckt unter dem Titel „Aus dem ‚Glühenden‘ von Alfred Mombert“, Alban Berg, Op. 2. No. 4, in: Wassily Kandinsky/Franz Marc (Hg.), Der Blaue Reiter, München 1912, S. 238 f.

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Gertrude Cepl-Kaufmann 8 | Einstein, Carl: Eine Geschichte der modernen Kunst von Carl Einstein, in: Einstein/Haarmann/Siebenhaar, Bd. 4, 1992, Bd. 1, S. 487–497, hier S. 492. 9 | Mombert, Alfred: „Erste Erinnerung an den Rhein“, in: Frankfurter Zeitung, 24.06.1928, Morgenblatt. 10 | Ebd. 11 | Ebd. 12 | Ebd. 13 | So überschreibt Mombert Teil 4 seiner Dichtung „Sfaira der Alte“, „In der Finsternis“, in: Herberg, Elisabeth (Hg.), Alfred Mombert. Dichtungen, Bd. 2: Dramen Mythen, München 1963, S. 555 ff. 14 | Mombert, Alfred: „Aeon der Weltgesuchte. Drama“, in: Mombert/Herberg, Bd. 2, 1963, S. 41. 15 | Bloch Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1967, S. 1628. 16 | Ebd. 17 | Ritter, Henning: „Das Rheintal ist die Höhle der Deutschen“, in: FAZ, 28.08.2010. 18 | Vgl. dazu Cepl-Kaufmann, Gertrude: Der „Bund rheinischer Dichter“. 1926–1933, Paderborn 2001. 19 | Ponten, Josef: „Rheinstrom – Weltstrom“, in: Kölnische Zeitung. Literatur- und Unterhaltungsblatt, erschienen in vier Abschnitten 436,16.06.1925, 442.18.06.1925, 448.20.06.1925, 455.23.06.1925. 20 | Paquet, Alfons: Die Botschaft des Rheins. Erlebnis und Gedicht, Ratingen 1941. 21 | Paquet, Alfons: „Die Rhein-Ruhrstadt“, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst 27/1.1929/1930, S. 385–396. 22 | Ders.: Der Rhein als Schicksal oder Das Problem der Völker, München 1920. 23 | Ders.: „Kurze Biographie“, in: Hanns Martin Elster (Hg.), Alfons Paquet. Gesammelte Werke, Bd. 1, Stuttgart 1970, S. 37. 24 | Weber, Carl Maria: Der ekstatische Fluss. Rheinklänge ohne Romantik, Düsseldorf 1919. 25 | Cepl-Kaufmann, Gertrude: „Denkbild und Praxis. Zur Rhetorik der Region“, in: dies./Georg Mölich (Hg.), Konstruktionsprozesse der Region in europäischer Perspektive (= Düsseldorfer Schriften zur Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 6), Essen 2010. 26 | Foucault, Michel: „Andere Räume“ (1967), in: Karlheinz Barck (Hg.), Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 1993, S. 39. 27 | Zuckmayer, Carl: Des Teufels General, Uraufführung 8. November 1947. 28 | Vgl. dazu Cepl-Kaufmann, Gertrude: 1919 – Zeit für Utopien. Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres, Bielefeld 2018. 29 | Grass, Günter: „Gesamtdeutscher März“, in: Volker Neuhaus (Hg.), Günter Grass. Werkausgabe in zehn Bänden, Bd. 1: Gedichte und Kurzprosa, Darmstadt 1987, S. 197. 30 | Mölich, Georg: „Christliches Abendland am Rhein – ein politisches Denkmodell der frühen Bonner Republik. Ein Essay“, in: Gertrude Cepl-Kaufmann/Jasmin Grande/Ulrich Rosar/

Europa – Rhein – Atlantik Jürgen Wiener, Die Bonner Republik 1945–1963. Die Gründungsphase und die Adenauer-Ära. Geschichte – Forschung – Diskurs, Bielefeld 2018, S. 85–95. 31 | Münkler, Herfried/Kaube, Jürgen/Schäuble, Wolfgang: Staatserzählungen. Die Deutschen und ihre politische Ordnung, Berlin 2018. 32 | Vgl. die Fülle der Texte bei Windfuhr, Manfred: Zukunftsvisionen. Von christlichen, grünen und sozialistischen Paradiesen und Apokalypsen, Bielefeld 2018. 33 | Paquet, Alfons: „Kurze Biographie“, in: Hanns Martin Elster (Hg.), Alfons Paquet. Gesammelte Werke, Bd. 1, Stuttgart 1970, S. 37.

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„La fascination d’Hagia Sophia“ … ein etwas anderer Blick auf die Kapelle von Ronchamp Manuela Klauser „Der Zentralbau ist die idealste Verkörperung aller der Epochen und aller der Aufgaben, die dem irdischen Menschen und nicht dem Jenseits gewidmet waren.“1



Erwin Anton Gutkind (1886–1968)

Die Interpretation von Architektur ist eine fragile Angelegenheit – mag sie in einem Moment schlüssig klingen, scheint sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet doch rasch wieder fragwürdig. Nun ist Architektur primär Raumkunst und nicht Abbild einer wie auch immer gearteten Bedeutung. Dennoch ist das Erkennen von Verweisen, Assoziationen und Zitaten Teil der sublimen Rezeptionsgeschichte von Architektur. Somit stellen die nachfolgenden Ausführungen – skizzenhaft dargelegt – den hermeneutischen Versuch dar, Bezüge zwischen der Faszination des Architekten Charles Edouard Jeanneret, genannt Le Corbusier, für die Zentralbauten des Orients (insbesondere der Hagia Sophia) und seinem ersten ausgeführten Sakralbau, der Pilgerkirche Notre-Dame-du-Haut (1950–1955) in Ronchamp nachzuvollziehen.2 Faszination übt die Architektur der in kaum mehr als fünf Jahren neu errichteten Hagia Sophia (532–537 n. Chr.) in Konstantinopel (Istanbul) nach wie vor auf Architekten und Architekturinteressierte aus. Der Anspruch Kaiser Justinians (* um 482/527–565), die durch einen Brand zerstörte, konstantinische Kirche der Göttlichen Weisheit durch einen monumentalen, weithin sichtbaren Bau zu ersetzen, war ebenso radikal neu wie die architektonischen Lösungswege, die bei seiner Errichtung beschritten wurden.3 Die Größe des Kuppelraums, seine vielbeachtete Lichtmetaphysik, die scheinbare Schwerelosigkeit der mächtigen Schalen, der gesamte Anspruch des Baus, eine Stadtkrone, ein Tempel zu sein, bezeichnen letzten

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Abbildung 1: Henri Prost, Deckenspiegel Hagia Sophia

Quelle: Atak 2015, S. 147, Abb. 5.7

Endes ebenso fundamentale Rezeptionsansätze der Moderne: „Sainte-Sophie représente la synthèse des modèles orientaux et occidentaux“.4 Le Corbusier fertigte während seiner Orient-Reise 1911 zahllose Skizzen und kommentierte Studien jener Bauten an, die er sah und besuchte. Es entstanden Gesamtansichten, Grund- und Aufrisse, Lichtstudien und Fernsichten – doch die Hagia Sophia erfasste er sowohl fotografisch als auch zeichnerisch vor allem in Details.5 Er studierte verschiedene Blickwinkel, suchte ihre monumentale Unfassbarkeit und ihre multiple Gesamtheit in den ungewöhnlichsten Perspektiven zu erfassen. Ihre Größe und Anlage erlaubten ein gesamtperspektivisches Bild nur aus der Distanz. Innen überrascht der Raum demgegenüber in der sich entfaltenden Großartigkeit seines Volumens und seiner außergewöhnlichen Lichtintensität, die durch zahllose kleine Fensteröffnungen in den Kuppeln und dem oberen Drittel der seitlichen Scheidwände zwischen Hauptkuppel und Seitenschiffen ein-

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dringen kann. (Abb. 1) Gesteigert wird sie von den überwiegend gläsernen Goldmosaik-Flächen, die Kuppelschalen, seitliche Gewölbe und Wände bedecken.6 Le Corbusier begeisterte sich jedoch wenig für das goldlastige Dekor und den materiellen Reichtum des Baus beziehungsweise der gesamten Architektur der byzantinischen Epoche. Weiß erschien ihm angemessener als in der Sonne gleißendes Gold, dessen dekorativer Aspekt ihm zu sehr von der eigentlichen Intention der Bauten – ihrem design, ­ablenkend erschien.7 Tulay Atak belegt indes Corbusiers Bestreben, die ikonische Wirkung von Architektur in ihrer Struktur als Gegenpol zum noch immer stark verbreiteten Hang zum Dekorativen anhand der Hagia Sophia bereits in den 1920er Jahren demonstrativ darzustellen: „Here architecture was situated against decoration as the art form that could establish a new relationship between the visible and the invisible Hagia Sophia became the example of an architecture that could organize the visible world.“8 Die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der in der Franche-Comté (heute Bourgogne-Franche-Comté) in ebenfalls gut fünf Jahren erbauten Kapelle von Ronchamp ist gleichermaßen umfangreich dokumentiert – etwa der reflexhaft zitierte Bezug zur Art Sacré-Bewegung um die Dominikanermönche Couturier und Regamey, Herausgeber der Zeitschrift L’Art Sacré und Urheber des für die französische Sakralkunst so bedeutenden Appell aux Grandes, aus dem noch weitere Bauten der Architekten und Künstler Maurice Novarina (Assy beziehungsweise Audincourt), Fernand Léger (Audincourt) und Henri Matisse (Vence) hervorgingen.9 Die Darstellung dieses wegweisenden Versuchs, sakrale Kunst und Architektur durch die Hand namhafter, gerade nicht traditionell religiösen Werken verbundener Künstler – letzten Endes aber festhaltend an der wagnerianischen Idee des Gesamtkunstwerks – auf das Niveau der avantgardistischen Gegenwartskunst zu heben, ist unerlässlich für die Legitimierungsgeschichte des revolutionären Bauwerks. Welchen Stellenwert aber besitzt die Kapelle von Ronchamp innerhalb der französischen Sakralbaugeschichte? Projekte von Rang, die den Bauten des Appell aux Grandes weder liturgisch noch architektonisch nachstanden, gingen etwa zur selben Zeit auch aus den Händen Georges-Henri Pingussons, André Le Donnés oder Marcel Lods’ hervor, doch konnten sie sich weit weniger einer bereits während der Entstehungszeit umfangreichen, medialen Präsenz erfreuen, wenngleich die Zeitschrift L’Art Sacré ihnen durchaus Aufmerksamkeit schenkte.10 Zu berücksichtigen wären jedoch vor allem die Anfänge des modernen französischen Pfarrkirchenbaus im Paris der 1920er Jahre in einer spirituell verdichteten Atmosphäre künstlerisch-intellektueller Kreise um Maurice Denis, Maurice Storez, Jacques Maritain und anderen.11 Die Gründung der Zeitschrift L’Art Sacré ging zeitlich einher mit der Einführung eines Baukonjunkturprogramms durch

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Abbildung 2: Paul Tournon, Saint-Esprit (Innenansicht), 1928–1932, Paris

Quelle: Roulin, Dom E.: Nos Églises. Liturgie, Architecture modern et contemporaine, Mobilier, Peinture et Sculpture, Paris 1938, S. 379, Abb. 319

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den Pariser Erzbischof Kardinal Jean Verdier (1929–1940) für die Banlieue, begleitete dieses anfangs fast dokumentarisch, distanzierte sich bald aber kritisch davon. Le Corbusier suchte in jenen Jahren ebenso wie andere Avantgardisten, etwa Pingusson oder Robert Mallet-Stevens, im Zuge der Wiederentdeckung einer künstlerisch vielversprechenden Bauaufgabe Entwürfe für die Chantiers du Cardinal einzureichen und wurde ebenso wie seine Kollegen, darunter auch Auguste Perret, ignoriert.12 Verdiers strikt ökonomisch ausgerichtete Architekturpolitik verhinderte schlichtweg, dass sich – nach Perrets spektakulärem Scoop im Pariser Vorort Le Raincy – ein solch avantgardistisches Gebaren wiederholen konnte.13 Zum Aushängeschild seines Programms erhob der Kardinal stattdessen mit Paul Tournon einen international durchaus erfolgreichen Architekten, dessen gemäßigt-moderne, formalästhetisch wenig revolutionäre Sakralarchitektur zum medialen Standard des Erzbistums Paris wurde und zwischen Erneuerungsbestrebungen der Kirche und dem Traditionsbedürfnis des üblichen Kirchgängers ideal vermittelte.14 Betrachtet man darüber hinaus die Genealogie des modernen französischen Kirchenbaus seit 1900 genauer, so wird rasch deutlich, dass neben einer radikalen Modernisierung des tektonischen Baubegriffs – basierend auf der Idee der gotischen Kathedrale – das Konzept der räumlichen Zentralisierung (nicht unbedingt aber der Vereinheitlichung) in den Vordergrund rückte. Während man sich vor 1900 auf extreme Weitungen der Vierung kapriziert hatte (zum Beispiel Saint-Augustin, Paris) und die geweitete Vierung als Raummodell eines Zentralbaus im Pfarrkirchenbau der Jahre 1900 bis 1914 häufiger adaptiert wurde (zum Beispiel Saint-Louis, Vincennes), fiel das Augenmerk der Kirchenbaumeister in den 1920er Jahren erneut auf das byzantinische Vorbild der longitudinalen Kuppelkirche (zuvor eher Kreuzkuppelideal, siehe Sacré-Coeur, Paris). Doch gerade Tournons, zwischen 1928 und 1932 nach neuesten konstruktiven Standards in Beton errichtete Stadtpfarrkirche Saint-Esprit, die mit ihrer Ausgestaltung durch die Pariser Ateliers d’Art Sacré um Maurice Denis durchaus von sich reden machte und die ihre formalästhetische Nähe zum Vorbild der Hagia Sophia nicht verleugnen, sondern vielmehr aus liturgiereformerischer Perspektive legitim ausweiten konnte, erscheint mehr als ein Betongebirge ohne jede Subtilität (Abb. 2). Bis Le Corbusier zu Beginn der 1950er Jahre seinen ersten Auftrag für einen Sakralbau erhielt, hatte diese Thematik also auf verschiedenen Ebenen bereits lange in ihm gearbeitet, wie die ausgereifte Konzeption seiner drei sakralen Bauten innerhalb eines recht kurzen Zeitraums letztlich auch belegen dürfte.15 Die sich in der Kapelle von Ronchamp entfaltende, unterschwellige Wirkmacht von Leere, der pointierte Einsatz von Licht („L’architecture est le jeu magnifique des formes sous la lumière“16) und die überragende Wirkung der Baumassen überraschen so-

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mit nach heutigem Wissenstand ebenso wenig wie die liturgische Adaption eines freigestellten, retabellosen Altars. Wenngleich erst durch die Beschlüsse des Zweiten Vatikanums offiziell anerkannt, war dies in jenen Architektenkreisen um den Sakralbau der Moderne ganz und gar legitim und in Frankreich ohnehin weniger Ressentiments ausgesetzt als in Deutschland.17 Hingegen möchte man die longitudinale Ausrichtung des Raums, den Aufstellungsort des Altars sowie die traditionelle Ostung fast schon als konservativ bezeichnen, wäre der Bau nicht primär eine Pilgerkirche, deren Ansprüche sich von liturgischen Aspekten einer Pfarrkirche durchaus unterscheiden und die sich somit dem aktuellen Diskurs in einigen wesentlichen Punkten entziehen konnte. Dessen ungeachtet verstieß Le Corbusier keineswegs gegen liturgische Innovationen etwa der Raumvereinheitlichung, der Aufhebung von Grenzmarken zwischen Altar- und Laienraum oder der deutlichen Unterordnung von Orten der Privatandacht und Beichte.18 Anstatt sie aber vordergründig zu behandeln, ließ er all diese Aspekte unterstützend in ein eigenes, umfassenderes Raumideal einfließen. Darüber hinaus – und dies hatte Le Corbusier bereits bei seinem ersten Besuch des Ortes 1950 in intuitiven Skizzen angedeutet – durfte der genius loci des haut lieu, des seit langen Zeiten kultischen Zwecken dienenden Platzes Berücksichtigung finden. Die Einbindung der Existenz des Vorgängerbaus durch die Verwendung von Abbruchmaterial und die Nutzung einiger Ankerpunkte des alten Fundaments erhöhten die Historizität des Ortes ebenso wie jene des Bauwerks selbst.19 Ein besonders herauszustellender Standortaspekt aber war für den Architekten die weithin sichtbare Lage des Baus auf einem Hügel am Fuße der Vogesen – die geografische Bezugnahme auf alle Himmelsrichtungen und die daraus abgeleitete Rundumansichtigkeit sowie der Verzicht auf ein dezidiert hervorgehobenes Hauptportal, die sich allesamt schlüssig mit seinem Ideal der promenade architecturale deckten.20 Die architektonischen Fakten zur Kapelle wären rasch zusammengefasst; anstelle einer Beschreibung sei aber aus der umfangreichen Literatur auf die Publikationen von Danièle Pauly (1997 – umfassende Gesamtdarstellung der Bau- und Konstruktionsgeschichte), Flora Samuel (2013 – reflektierte Interpretationsansätze und historische Einordnung) sowie Mathias Müller (2010 – spezifische Analyse des Ortes) verwiesen.21 Die Furore machende Ausstrahlungskraft der Kapelle sicherte ihr bereits während des Planungsprozesses größte Aufmerksamkeit, verhinderte jedoch zunächst eine einigermaßen neutrale Analyse. Einerseits revolutionäre Architektur in Form und Ausdruck, andererseits dem als Rationalisten und Funktionalisten klassifizierten Meisterarchitekten als spleeniges Spätwerk vorgeworfen, wurde die scheinbare Diskrepanz zwischen der vermeintlichen Architekturauffassung Le Corbusiers und der hochemotionalen Formensprache des Baus jenseits seiner

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machtvollen Schwünge und Massen lange Zeit nur rudimentär hinterfragt.22 Gewisse Aspekte tradiert-kirchlicher Bauwerke sind durchaus vorhanden, doch mitunter verfremdet oder schlichtweg ins Gegenteil verkehrt: Obwohl der saalartige Raum mit vereinzelt am Rande angeordneten Kapellen (Turm-Erdgeschosse) in seinen Umrissen keiner bisherigen Tradition entsprach, ist er doch – wie bereits erwähnt – geostet (Altarseite). Es gibt keine geschlossene Linie beziehungsweise Kontur im Sinne einer erkennbar-geometrischen Figur, dennoch kann der Bau einem Längsrechteck und seinem Inneren wiederum ein Längsoval eingeschrieben werden. Alle Wände und Linienverläufe finden ihre geometrische Entsprechung; das konkav eingewölbte Dach bildet in gewisser Weise die Opposition zum konvexen Hügel,23 während den konkav eingebogenen Wänden eine auf der je gegenüberliegenden Seite konvexe Ausbuchtung entspricht. Der Bau scheint aus Einzelelementen zusammengesetzt, die – nach Corbusiers Ideal der sich durch Bewegungsdynamik erschließenden Architektur – zueinander, ins Innere sowie um den Bau herumführen und dennoch einen großen Raum ausweisen. Der visuelle Schwerpunkt ist außen auf die drei Türme über den Portalen, gegenüber der Altarseite verlagert. Hingegen ist dem Dach an der Südostecke eine Steigung gegeben, die in einer Linie mit dem höheren Südwestturm liegt, dem Doppelturmpaar diagonal gegenübersteht und somit eine Dreiecksbeziehung ausbildet. Südund Nordwand sind beide mit unterschiedlich großen Lichtöffnungen perforiert, die einem durchdachten System folgen und doch keine typisch-sakrale Rhythmik entstehen lassen. In einigen dieser Elemente mag man abstrahierte Versatzstücke tradierter Sakralarchitektur erkennen (Himmelszeiger, Doppelturmfassade, Langhauswände), die in ihrer scheinbar willkürlichen Einbindung in das bauliche Konstrukt bislang als ironische Reminiszenzen klassifiziert wurden. Im Grunde aber lassen sie ein im Corbusierschen Sinne nachvollziehbares Bezugssystem entstehen, in dem die Formen nicht nur einen festen, sondern einen kontextuell begründbaren Platz besitzen. Die den Innenraum der Kapelle beherrschende, raumkonstituierende Wirkung des Lichteinfalls wurde in ihren konzeptionellen Grundzügen bereits im Kirchenbau der 1920er Jahre erdacht. Zu erwähnen wären hier nicht allein deutsche Namen wie Dominikus Böhm oder Rudolf Schwarz. Auch französische Architekten, deren Leistungen auf dem Gebiet des Sakralbaus erst noch vollständig zu entdecken sind, beispielsweise Dom Paul Bellot (1876–1944) oder etwa Jaques Droz (1882–1955) und seine (weit subtiler als Tournon) auf die Hagia Sophia rekurrierende Kirche Sainte-Jeanne-d’Arc in Nizza (1926–1933).24 In ihren Grundzügen entspricht die Kapelle von Ronchamp voll und ganz dem Esprit jener Jahre, sakrale Ästhetik (anstelle eines Stils) nicht mehr in ein formales Korsett zu pressen, sondern die Grenzen zwischen Ritus und Kult über die Erzeugung liminaler

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Atmosphäre aufzulösen.25 Dass Le Corbusier – wenn er sich schon zu einer solchen Bauaufgabe verpflichten ließ – erwartungsgemäß keinen architektonischen Konventionen folgen würde und folgerichtig in Amorphismus und Asymmetrie die grundlegenden Strategien universeller Sakralität (als Raumidee) freilegte, mag retrospektiv erst in seiner vollen Bedeutung erkennbar sein. Von besonderer Wichtigkeit aber ist die Frage, wie ihm dies gelang und nicht allein, warum er sich für eine formalästhetisch so experimentell-individualistische Lösung entschied. Zu diesem Zwecke erscheint es hilfreich, bekannte Inspirationsquellen wie seine Orientreise genauer zu betrachten. Le Corbusiers Bezugnahme auf seine Erfahrungen, Notizen und Zeichnungen der islamische Architektur während seiner Orientreise 1911 in seinen Raum- beziehungsweise Lichtkonzepten für Ronchamp (und auch Firminy) belegt der französische Architekt und Corbusier-Forscher Louis Burriel Bielza anhand von Skizzen und Kommentaren zum Kirchenprojekt in Firminy.26 Dass Le Corbusier lange zurückliegende, einst auf Reisen skizzierte Ideen Jahre später in seine Architekturen einfließen ließ, bestätigt auch Danièle Pauly.27 Des Weiteren stellte jüngst Tulay Atak bei seinen Überlegungen zum Einfluss der Architektur der Hagia Sophia auf die Moderne den Bau in Fotos, Kommentaren und Skizzen Le Corbusiers in das Zentrum seiner Ausführungen.28 Die Architektur der Hagia Sophia übte nicht allein auf Le Corbusier eine besondere Anziehung aus. Sie besaß – wie zuvor angedeutet – einen ganz unmittelbaren Bezug zur französischen Sakralarchitektur der ersten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts. Die Rezeption des bereits zur Bauzeit spatial wie liturgisch von damaligen Konventionen deutlich abweichenden, justinianischen Neubaus geriet seinerzeit in den Fokus einer von religiösen Idealen (Renouveau catholique) getriebenen Funktionsarchitektur, konnte seine genialische Verschmelzung einer dreischiffigen Basilika mit einem zentralen Kuppelbau doch aus Perspektive der französischen Liturgiereformer als urchristliche Metapher der Gemeinschaft ausgelegt werden. Nichts anderes vollzogen denn auch Tournon und Droz in ihren monumentalen Pfarrbauten mit weit in das Kirchenschiff vorgeholten Altarinseln. Drei Aspekte trieben den Pfarrkirchenbau jener Jahre voran: raumvereinheitlichende Tendenzen, soziologisch-pastorale Aufwertungstendenzen des Kirchenschiffs und die Wahrung des Anschlusses an Traditionen, denn Neuausrichtung heißt nicht Neuerfindung. Der reine Zentralbau wurde zwar immer wieder erprobt, konnte sich jedoch nicht dauerhaft durchsetzen, da die Bedeutung des Weges ebenso wie der Blick auf den Altar als eines heiligen Ortes, einer spirituellen Schwelle, (noch) nicht befriedigend auf andere Weise gelöst werden konnte. War dieses Raumkonzept doch so alt wie der christliche Kirchenbau selbst und hatte im religiös-hierarchischen Empfinden der Gemeinde (Hirte – Leitfigur – Weg ins Licht) seine

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Wurzeln. Die nunmehr von pastoralen Leitideen geprägte, soziale Neuausrichtung der Kirche suchte sich dennoch in neuartigen Bauformen mitzuteilen, um der Verwechslung von Traditionsbindung und Traditionswahrung entgegenzuwirken. Le Corbusiers Interesse galt indes nicht allein liturgischen Aspekten. Ihn dürfte das subtile Spiel von Baumasse und Licht in den Zentralbauten des Orients im Besonderen fasziniert haben – nicht in einer theatralisch-barocken Inszenierungsstrategie von Göttlichkeit, sondern ganz real als eines nach rationalen Plänen entwickelten, von Licht durchfluteten Raumvolumens.29 Die massige, durch das schmale Lichtband von den Wänden scheinbar losgelöste Kapellendecke in Ronchamp verkörpert in idealer Weise einen ähnlich schwerelosen Zustand in einem in diffuses Dämmerlicht getauchten Raum. Die Jahre zuvor niedergeschriebenen Worte des bereits zu Anfang zitierten Architekten Erwin Gutkind – wenngleich dem reinen Zentralbau gewidmet – scheinen dieses Erleben vorwegzunehmen: „[Der Raum; M. K.] erfordert keine körperliche ,Tätigkeit‘ des Subjektes, sondern der Raum soll mit einem Male von einem Standpunkt aus überblickt werden können; also ein malerisches Überschauen. […] der Zentralbau verwendet Massen, nicht Linien zur Konzentration. Die Symbolik der Funktionen erübrigt sich durch den Überfluss des Materials. Doch ist dies nicht etwa ausschlaggebend! Der Zentralbau hat sein eigentlichstes Ideal erst dann erreicht, wenn die bekrönende Kuppel gewichtslos zu schweben scheint. Ist dies der Fall, dann mögen die umschließenden Wände auf eine Strukturkraft, die doch immer ihre Urkraft in einer Last haben muß, gern verzichten.“30

Das Konzept eines entmaterialisierenden Lichtbands zwischen Wand und Decke ist indes keine Erfindung Le Corbusiers – hier lassen sich bei einem erneuten Blick in die Historie des französischen Pfarrkirchenbaus des 20. Jahrhunderts interessante Vorbilder ausmachen. Angelegt bereits in den Chorfenstern der von Dom Bellot erbauten Kirche Immaculée Conception (1928–1933) in Audincourt, monumentalisierte es Maurice Novarina 1946 für das von Fernand Léger gestaltete, durchgehende Fensterband der im selben Ort erbauten Kirche Sacré-Coeur. Die subtilere Inszenierung gelang zur selben Zeit unbestritten Le Corbusier. Erst in Ronchamp ist das Lichtband auf eine zarte Linie zwischen Dach und Wand reduziert, die der schwer lastenden Decke gerade jenen schwebenden Akzent verleiht, welcher auch der Kuppel der Hagia Sophia nachgesagt wird.31 Blickt man (ob mittig stehend oder am Rande) in die Hauptkuppel der Sophienkirche hinauf, so nimmt man die im Fokus des Blicks liegenden Rundbogenöffnungen als am stärksten erleuchtete Lichtquellen war, deren Strahlkraft sich der Krümmung des Kuppelkreises folgend seitlich zu dünnen Fissuren verflacht und die massi-

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Abbildung 3: Grundriss Ronchamp

Gezeichnet und mit Diagonale versehen durch Manuela Klauser

ven Fensterlaibungen ausblendet.32 Die Scheidwände der nicht überkuppelten, hingegen durch je einen monumentalen Rundbogen überfangenen Seitenschiffe sind im oberen Drittel von einer massiven Wand verschlossen. Diese wiederum ist von kleinen, lichtschachtartig in die Mauer eingelassenen Rundbogenfenstern in zwei Reihen durchbrochen. Je nach Standpunkt wird eine der beiden Scheidwände stärker wahrgenommen, ihre Fenster – beeinflusst durch Blickwinkel und wahr-

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genommenen Lichteinfall – unterschiedlich groß gesehen und ihre Strahlkraft scheint sich in alle Richtungen des Raums auszubreiten. Ganz abgesehen von offensichtlichen Parallelen zwischen den beiden Bauten, wie der exponierten Lage, der durch Negierung von akzentuierten Fassadenelementen hervorgerufenen Rundumansichtigkeit oder auch der Überlagerung beziehungsweise Ineinanderbettung von Rechteck und Oval, ist es gerade diese Lichtmetaphysik, die vergleichbare Assoziationen hervorzurufen vermag. So lässt sich die Lichtsituation der Hauptkuppel in der Hagia Sophia, reduziert auf die visuelle Wahrnehmung des Lichteinfalls, durchaus mit der Lichtsituation in Ronchamp vergleichen, insbesondere wenn man vom nordwestlichen Eingangsportal der Kapelle in die diagonal gegenüberliegende, vom Boden bis zur Decke hell erleuchtete Raumecke blickt. Eine Position, die ebenso konstruiert wie berechtigt erscheint, entspricht sie doch einem für Le Corbusier typischen, rechtwinkligen Raumkonstrukt: man ziehe eine gedachte Linie zwischen dem Nordportal und dem nach außen gebogenen Reststück der massiven südlichen Kirchenwand und nehme die aufragende Kante der Außenseite als den rechten Winkel komplettierendes Gegenstück hinzu (Abb. 3).33 Ausgehend von der als besonders hell wahrgenommenen Lichtsäule in der diagonal gegenüber liegenden Raumecke entspricht das dünne Lichtband zwischen Wand und Decke ergo der sich in der Peripherie des Blickwinkels ausdünnenden Lichtsituation der hierin erst in die visuelle Schwebesituation versetzten Kuppelschale der Hagia Sophia. Ein Hinweis auf die Parallelen zwischen den Scheidwänden der Sophienkirche und der von unregelmäßig großen Lichtschächten durchbrochenen Fensterwand in Ronchamp erscheint obsolet. Die beschriebene Gebäudeecke ist innen wie außen als exponiert ausgewiesen, nicht allein durch das helle Licht der Lüftungslamellen, sondern auch durch das hier spitz zulaufende und deutlich ansteigende Dach. Will es wirklich der Zufall, dass sie Richtung Südosten – der geografischen Richtung, in der sich Istanbul befindet – weist? Folgt man der Argumentation Müllers zur spezifischen Erinnerungskultur des Bauwerks, der zufolge die geometrische Umwindung beziehungsweise Umhüllung des Raums nicht allein den liturgisch-spirituellen Bedingungen des Gebäudes angemessen entwickelt wurden, sondern darüber hinaus auf die mittelbare wie kulturspezifische Historizität des Ortes ausgedehnt ist, so erhält diese durch die Le Corbusier eigene Bildlichkeit der Architektur ihre Evidenz.34 Ist es demzufolge vermessen, anzunehmen, dass der erste Sakralbau, den er realisieren konnte und der auf einen für ihn bereits lange anhaltenden Diskurs rekurriert, weitere biografisch initiierte Erinnerungsebenen zu besitzen vermag? Somit erscheint

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der Rekurs auf die Hagia Sophia als eines Ursymbols christlicher Spiritualität nicht nur schlüssig, sondern aus den genannten, konkreten Gründen naheliegend. Corbusier strebte vermutlich kaum an, einen ihn inspirierenden Bau zu zitieren oder gar zu imitieren, ebenso wenig wie unterstellt werden soll, dass die Kapelle von Ronchamp auf die Hagia Sophia als überwiegenden Bezugspunkt ausgerichtet ist. Die uninspirierten Versuche seiner Kollegen, allein ihr (metaphorisch umgedeutetes) liturgisches Konzept in angemessener Weise in die Gegenwart zu transferieren, mögen Le Corbusier – neben seiner persönlichen Begeisterung für das Bauwerk – gereizt haben, über die weiteren, faszinierenden Aspekte des Baus zu sinnieren und diese in seine Kapelle einfließen zu lassen.35 Es zeigt unverblümt die kreative Abstraktionsfähigkeit des Architekten, metaphysische Zustände eines Raums in neuen Formen, neuen tektonischen Konstellationen und unter gänzlich anderen Voraussetzungen einzufangen und für die eigenen Zwecke zu interpretieren.

A nmerkungen 1 | Gutkind, Erwin Anton: „Raum und Materie“ (in Auszügen), in: Andreas Denk u. a. (Hg.), Architektur Raum Theorie. Eine kommentierte Anthologie, Berlin 2016, S. 254–272, hier S. 269. 2 | Le Corbusier reiste 1910/1911 von Deutschland Richtung Türkei. Im Mai/Juni 1911 hielt er sich in Konstantinopel (Istanbul) auf. Die auf dieser Reise angefertigten Skizzenbücher Le Corbusiers wurden von Geoffrey Baker 1996 teilweise ausgewertet. Baker, Geoffrey: Le Corbusier – The Creative Search. The formative years of Charles-Edouard Jeanneret, New Orleans 1996, S. 147–163. 3 | Kruft, Hanno Walter: Geschichte der Architekturtheorie: von der Antike bis zur Gegenwart, München 1991 (3. erw. Auflage), S. 34: „Mehr als die bloße Größe mache die Proportion die Vornehmheit des Gebäudes aus. Der schwebende Eindruck der zentralen Kuppel und der bewusste Einsatz des Lichteinfalls werden von Prokop in ihrer ästhetischen Wirkung genau beschrieben.“ 4 | Bielza, Louis Burriel: „Istanbul-Firminy. Sainte-Sophie, les rayons solaires à l’heure cosmique“, in: Fondation Le Corbusier (Hg.), L’invention d’un architecte, Paris 2013, S. 282–293, hier S. 283. 5 | Atak, Tulay: „Abstraction’s Economy. Hagia Sophia in the Imaginary of Modern Architecture“, in: Roland Betancourt/Maria Taroutina (Hg.), Byzantium/Modernism. The Byzantine as Method in Modernity, Boston Leiden 2015, S. 135–162, hier S. 149. 6 | Schibille, Nadine: „Light as an aesthetic constituent in the architecture of Hagia Sophia in Constantinople“, in: Daniela Mondini u. a. (Hg.), Manipolare la luce in epoca premoderna, Mendrisio 2014, S. 31–43, hier S. 32: „ […] the mosaic surfaces create a visual continuum, cladding Hagia Sophia’s vaults in a multicoloured luminous membrane that served to enhance

„La fascination d’Hagia Sophia“ the effects of light and to create a dynamic spatial experience.“ Zur Bedeutung der verwendeten Farben siehe auch S. 37 ff. 7 | Atak 2015, S. 149–157, bes. S. 155 ff.: „In his examples, material itself became decoration, shortchanging any possibilities for design. Le Corbusier linked what he identified as Byzantinism, or a fascination with materials for their own sake, to cocaine and a pervasive psychological state of shock and alienation. […] For him, only design could make a difference and establish a just value system.“ 8 | Atak 2015, S. 157. 9 | Zuletzt: Ochsenreither, Sven: Kunst und Kirche am Ende der klassischen Moderne: Eine kunsthistorische Untersuchung am Beispiel der art sacré in Frankreich, Frankfurt a. M., u. a. 2004, S. 90 f.; Plummer, Henry: Cosmos of light: The sacred architecture of Le Corbusier, Bloomington u .a. 2013, S. 3. 10 | Pingusson, Georges-Henri: „Construire une église (projet)“, in: L’art sacré 1938 (Nov., No. 35), S. 315–318; Lods, Marcel: „Sainte-Croix de Sochaux”, in: L’art sacré 1952 (Juli–Aug, Nr. 11–12), S. 22–25. 11 | Samuel, Flora: Sacred concrete: The churches of Le Corbusier, Basel u. a. 2013, S. 30 ff. Samuel versucht – anders als Plummer – auf breiter Ebene das intellektuell-literarische wie spirituelle Umfeld historisch aufzuarbeiten, in dem Corbusier sich damals bewegte. Es gelingt ihr, anhand zahlreicher Fakten die auch von Müller 2010 dargelegten Bezüge zur anthroposophischen Bewegung schlüssig darzulegen. Was das unmittelbare Umfeld der sakralen Architektur angeht, stützt sie sich hingegen auf die weit gefasste und daher zwangsläufig nur die Oberfläche ankratzende Darstellung Wolfgang Jean-Stocks zur Europäischen Sakralarchitektur 1900–1950 (München 2006). Die Chantiers du Cardinal werden kurz skizziert (S. 24 ff.), jedoch nicht aus Corbusiers Perspektive kontextualisiert. 12 | Samuel 2013, S. 26 (Le Corbusier: 1929 Projektskizze Le Tremblay – später im Entwurf für Firminy – als einzige Pfarrkirche im eigentlichen Sinn – wiederaufgegriffene Zentralisierung nicht allein des Altarraums, sondern der gesamten räumlichen Strukturen unter einem turmartig gen Himmel ragenden Aufbau). 13 | Samuel 2013, S. 24 f.: „Verdier was a practical and moral theology professor and a surprise candidate for his new job as he was part of the modern, socially-oriented Action catholique movement. […] Verdier’s task was to keep the conservative and powerful f(r)actions of the Church satisfied while nevertheless trying to employ the new methods of the Action catholique.“ 14 | De Sainte Marie, Arielle/Palmaert, Albéric de: Les Chantiers du Cardinal. Histoires d’églises en Ile-de-France, Rennes 2011, S. 86 ff. Wichtigste Werke Tournons in diesem Kontext sind Saint-Esprit in Paris (1928–1932) sowie zwei Repräsentationsbauten auf Pariser Ausstellungen (1931: Notre-Dame-des-Missions, Exposition coloniale internationale und 1937: Vatikanischer Pavillon Welt-Fachausstellung).

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Manuela Klauser 15 | Die drei Projekte in Ronchamp, La Tourette und in Firminy repräsentieren drei typische Bauaufgaben der katholischen Konfession – eine Pilgerkirche, ein Kloster samt Kirche (Sainte-Maire de La Tourette, 1956–1960) und eine als Gemeindezentrum konzipierte Stadtpfarrkirche (Sainte-Pierre, beg. 1972, vollend. 2004). Ergo drei unterschiedliche Bauaufgaben, die Le Corbusier alle zur etwa gleichen Zeit plante und virtuos in exemplarischer Weise für die Gegenwart löste. 16 | Le Corbusier, zit. nach: Baudouï, Rémi: „Le regard sur l’islam“, in: Fondation Le Corbusier (Hg.), Le symbolique, le sacré, la spiritualité dans l’œuvre de Le Corbusier, Paris 2013, S. 39–54, hier S. 47. 17 | Klauser, Manuela: „L’Art Sacré und die Anfänge des modernen Kirchenbaus in Paris“, in: Hans Körner/Jürgen Wiener (Hg.), L’Art Sacré, Essen 2019 [im Druck]. Tournon hatte mit seiner zentral aufgestellten, von allen Seiten zugänglichen und einsichtigen Altarinsel im vatikanischen Pavillon 1937 ganz deutlich aufgezeigt, welche Position Frankreich gegenüber diesem – in Deutschland zu jenem Zeitpunkt noch kontrovers diskutierten Aspekt – einnahm. 18 | Plummer 2013, S. xi und S. 13. 19 | Müller, Matthias: „Gebaute Erinnerungsbilder für eine transzendente Moderne. Gedächtniskonzepte in der Sakralarchitektur Le Corbusiers“, in: Kai Kappel u. a. (Hg.), Moderne Kirchenbauten als Erinnerungsräume und Gedächtnisorte, Regensburg 2010, S. 108–124, hier S. 113 ff.; Gresleri, Giuliano: „Le Corbusier: itinéraires du sacré“, in: Fondation Le Corbusier (Hg.), Le symbolique, le sacré, la spiritualité dans l’œuvre de Le Corbusier, Paris 2013, S. 13–26, hier S. 22. 20 | Blum, Elisabeth: Le Corbusiers Wege. Wie das Zauberwerk in Gang gesetzt wird (= Bauwelt Fundamente, Bd. 73), Braunschweig/Wiesbaden 1988, S. 90 f. Aufgrund des stark eingeschränkten Bildrechts an der Kapelle von Ronchamp sei ersatzweise verwiesen auf Notre-Dame-du-Haut (Ronchamp), in: Wikipedia [https://de.wikipedia.org/wiki/Notre-Damedu-Haut_(Ronchamp) (20190422)]. 21 | Pauly 1997; Samuel 2013; Müller 2010. 22 | Müller 2010, S. 108 f. Das Defizit schloss vor allem Pauly, Danièle: Le Corbusier: Die Kapelle von Ronchamp, Basel u. a. 1997. 23 | Siehe Cavalcanti, Roberto: „L’ésprit classique et l’ésprit celte-gothique dans la pensée de Le Corbusier”, in: Fondation Le Corbusier (Hg.), Le symbolique, le sacré, la spiritualité dans l’œuvre de Le Corbusier, Paris 2013, S. 97–119, hier Abb. S. 102. 24 | Dazu Klauser 2019. 25 | Plummer 2013, S. 13: „As this kind of sanctity had to coexist with established rituals, however, and not overly shock the official clergy, an extraordinary degree of finesse was required to loosen without directly threatening religious autority.“ 26 | Bielza 2013, S. 284 und S. 290 f. Siehe auch ders.: „L’architecture moderne de Le Corbusier comme structure mémorielle des rites anciens: Saint-Pierre de Firminy“, in: Art sacré 32.2016, S. 136–147.

„La fascination d’Hagia Sophia“ 27 | Pauly 1997, S. 94: „Ohne diese grundlegende Funktion der Zeichnung als Gedächtnis lassen sich weder Werkgenese noch Arbeitsmethode von Le Corbusier erklären.“ 28 | Atak 2015, S. 148–159. 29 | Pippal, Martina: Kunst des Mittelalters, Köln u. a. 2002, S. 102: „vielmehr wuchs in nur wenig mehr als fünf Jahren eine völlig neuartige, gigantisch große Kirche aus dem Boden. […] Neu an diesem Bau ist, dass er gänzlich vom Raum und vom Licht her konzipiert ist.“ 30 | Gutkind 2016, S. 269. 31 | Gavril, Iuliana: „Building with light. Spatial Qualities of the Interior of Hagia Sophia in Constantinople“, in: Daniela Mondini u. a. (Hg.), Manipolare la luce in epoca premoderna, Mendrisio 2014, S.46–56, hier S. 48: „light needs space through which to propagate; its creative orchestration in building’s interiors can therefore also reveal and magnify spatial qualities, potentially helping to establish associations and convey meanings in, and of, buildings.“ 32 | Stichel, Rudolf H. W. u. a.: „Licht in der Hagia Sophia Justinians – Eine computergestützte Simulation“, in: Peter I. Schneider/Ulrike Wulf-Rheidt (Hg.), Licht-Konzepte in der vormodernen Architektur, Regensburg 2011, S. 271–279, hier S. 271: „Die riesige Fläche […] ist in großer Höhe von einer weitgespannten Kuppel und zwei anschließenden Halbkuppeln überwölbt, die fast zu schweben scheinen. Jedenfalls bleibt der unmittelbaren Wahrnehmung entzogen, worauf die gewaltigen Baumassen lasten, ein Eindruck, der nicht zuletzt durch die Anordnung der Bauteile erreicht ist und durch die spezielle Formgebung der Wandverkleidung unterstützt wird. […] Der Raum scheint weitgehend nur von einer dünnen Hülle umgeben und modelliert. Diese bewusste architektonische Inszenierung wurde anscheinend in besonderer Weise durch die Lichtführung unterstützt. […] Die 40 Fenster am Kuppelfuß erzeugen einen Lichtkranz, der die Schwere der Wölbung optisch fast aufhebt, nicht zuletzt auch deshalb, weil die einfallende Helligkeit die Tiefe der Laibungen weitgehend überstrahlt.“ 33 | Blum 1988, S. 88 f. 34 | Müller 2010, S. 120. 35 | Atak 2015, S. 155. Le Corbusiers Voreingenommenheit gegenüber Dekor und Materialhuldigung lässt sich aus dem historischen Kontext bauästhetischer Diskurse der 1920er Jahre auf rein formalistische Baukopien ausweiten – einen Bau verstanden zu haben, bedeutet, seine räumlichen Qualitäten wiedergeben zu können, ohne diese formal zu imitieren.

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Marginale Inventionen Anmerkungen zur Geschichte des Gartenhauses Stefan Schweizer

1. Funktionale und terminologische Probleme der Typologisierung Sogenannte Schrebergärten konfrontieren uns mit einem der unscheinbarsten Bautypen überhaupt: dem Gartenhaus.1 Niemand, der die kleingärtnerischen Normen verpflichteten Häuschen in ihrer Anspruchslosigkeit betrachtet, findet hier einen Anlass, die Geschichte der Bauaufgabe Gartenhaus zu reflektieren. Für den Bau von Gartenhäusern müssen sich Besitzer beziehungsweise Pächter heute den Vorgaben des Bundeskleingartengesetzes beugen, wo es im § 3, Absatz 2 zur baulichen Norm heißt: „Im Kleingarten ist eine Laube in einfacher Ausführung mit höchstens 24 Quadratmetern Grundfläche einschließlich überdachtem Freisitz zulässig [...]. Sie darf nach ihrer Beschaffenheit [...] nicht zum dauernden Wohnen geeignet sein.“

Individuellen Lösungen sind in der Gartenhausarchitektur enge Grenzen gesetzt, die mit einem industriell hergestellten und flächendeckend in Baumärkten vertriebenen Typus korrespondieren, der den formalen wie funktionalen gesetzlichen Ansprüchen Rechnung trägt, als künstlerische Invention jedoch keinen Rang beanspruchen kann. Entgegen der heutigen Situation offenbart sich mit Blick auf die Geschichte des Gartenhauses eine kaum zu überblickende architektonische wie funktionale Vielfalt. Gestalterisch lässt sich seine Entwicklung zwar mühelos in die architektonische Stilgeschichte eingliedern, doch bieten die jeweils für Gartenhäuser adaptierten Bautypen ein äußerst heterogenes Bild. Die Komplexität des Überlieferungsbestandes verdeutlichen bereits die dafür infrage kommenden Begriffe: Gartenhaus, Laube, Pavillon, Grottenhaus, Datscha, Belvedere, Casino, Kiosk,

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Eremitage, Lusthaus, Teehaus, Weinberghaus – Bezeichnungen, die seit Jahrhunderten synonym verwendet wurden.2 Bereits in frühneuzeitlichen Architekturtraktaten, in Lexika sowie den frühen deutschen Wörterbüchern wird die Beliebigkeit der Terminologie deutlich.3 Vom Gartenhaus oder der Gartenhütte sprach man eher in bürgerlichen Kreisen, während französische und italienische Begriffe wie Casino, Pavillon, Eremitage oder Belvedere den Repräsentationsanspruch wohlhabender beziehungsweise adeliger Besitzer zum Ausdruck brachten. Trotz der Schwierigkeiten, vielfältige funktionale und formale Aspekte in ihrer historischen Variabilität zu vereinen, gelangte Irene Markowitz zu einer brauchbaren Definition: „Wir verstehen unter Gartenhaus kleine, meist einräumige, verstreut im Garten liegende Bauten, die keine Wohnmöglichkeit für längeren Aufenthalt bieten. Wirtschaftsräume sind in ihnen nicht untergebracht. Der Sprachgebrauch nennt sie Pavillon, Lusthaus, Belvedere, Sommerhaus, Laube und Trianon. Diese Bezeichnungen werden als Synonyma gebraucht.“4

Die terminologische Heterogenität der Synonyme für Gartenhaus verweist auch auf ein methodisches Problem, das in der Frage zusammengefasst werden kann, wie sich die Bauaufgabe Gartenhaus kunstgeschichtlich typologisieren und damit systematisieren lässt. Eine Begriffstypologie scheidet aus, da die Differenzierungen zwischen den oben genannten Begriffen unscharf und willkürlich sind und sich zudem auch nicht auf einen Urtypus – dies wäre, wie noch darzulegen ist, allenfalls diaeta – bezieht. Aber auch eine Funktionstypologie erscheint unangemessen, denn die Synonyma für Gartenhaus erlauben keine eindeutige funktionale Zuordnung.5 So bildeten Orangerien und Gewächshäuser, um nur ein Beispiel dafür zu nennen, jenseits ihrer Hauptbestimmung immer auch Orte der Forschung und Geselligkeit.6 Die genannten Begriffe vereinen lediglich einen notwendigen Aspekt in sich: Ort dieser Bauten ist immer notwendig ein Garten. Die von Markowitz geltend gemachte temporäre Nutzung konnte sich gelegentlich durchaus über mehrere Monate erstrecken.7 Bestanden Heizmöglichkeiten, wurde daraus eine Wohnstatt im Grünen, die sowohl dem Gedanken des Gartenhauses als auch der Villa widersprach. Auch als Kleinarchitektur8 wird man Gartenhäuser nicht durchgängig beschreiben können, da die Geschichte der höfischen wie der bürgerlichen Gartenkunst auch monumentale architektonische Beispiele kennt. Hierzu zählen in massiven Materialien errichtete Pavillons und Belvederes (wahllos: das Prager Belvedere; der chinoise Pavillon in Pillnitz, die chinoisen Gartenhäuser in Drottningholm), repräsentative Eremitagen und Lusthäuser (Bayreuth, Schleißheim, Nymphenburg, Ludwigsburg) oder Weinberghäuser9 (Sanssouci, Großkühnau)

Marginale Inventionen

und Gartenhäuser, die funktional suburbanen Landhäusern entsprechen (die Gartenhäuser von Schiller in Jena, von Goethe in Weimar, von Wieland in Biberach).

2. A ntike B asis – Frühneuzeitliche R ezeption In einer longue durée bildet die rezeptionsgeschichtlich zentrale Beschreibung der Villa Laurentinum Plinius’ des Jüngeren, die zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert zahlreiche Rekonstruktionsversuche auslöste, eine Art Ausgangspunkt.10 Nahe Ostia besaß Plinius ein großes Anwesen mit Landhaus und mehreren Gebäuden, die Wohn- und Unterhaltungszwecken dienten beziehungsweise der agrarwirtschaftlichen Nutzung vorbehalten waren. Fernab des eigentlichen Villenlebens rund um die Hauptgebäude lag ein Gartenhaus. Plinius berichtet: „Am Ende der freien Promenade ist ein Gartenhaus, mein liebster Aufenthalt; ich habe es mir daselbst gebaut. Hier habe ich ein Zimmer nach der Sonnenseite, auf der einen Seite die freie Promenade, auf der anderen das Meer, auf beiden die Sonne […].“11

Der Hauptraum konnte zur Schlafgelegenheit umfunktioniert werden. Ein kleines Zimmer war beheizbar und diente als Studierstube, der nach Süden gerichtete Raum bot einen Ausblick auf Garten und Meer. Plinius kennzeichnet sein diaeta ausdrücklich als einen Ort des privaten Rückzugs, der Ruhe und des Studiums. Angesichts der reichen Wirkungsgeschichte der Plinius-Briefe12 wurden Gartenhäuser damit über Jahrhunderte funktional zumindest für die Fälle bestimmt, in denen sich der Bauherr als gelehrt oder literarisch inspiriert inszenierte. Die Passage mit der Beschreibung des Land- und Gartenhauses beeinflusste die frühneuzeitliche Villenarchitektur maßgeblich.13 Die Plinius-Beschreibungen antiker Landhäuser, aber auch eine neue ökonomische und kulturelle Aneignung des städtischen Umlands prägten eine frühneuzeitliche villegiatura aus, die in Architekturtheorien reflektiert wurde. Alberti widmet sich der Villa als Bauaufgabe und thematisiert auch Aspekte der Gartengestaltung, wobei er das Gartenhaus beziehungsweise die Gartenloggia als einen Ruheort im Garten, jenseits des Landhauses, definiert.14

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3. Pavillons

als multifunktionale gartenräumliche Strukturelemente

Albertis funktionale Bestimmung von Gartenhäusern als private Rückzugs- und kurzzeitige Aufenthaltsorte innerhalb eines Villenareals führte nicht zu einer formalen Typisierung. Zudem wissen wir nur wenig über ihre alltägliche Nutzung. Zahlreiche Reisende (Heinrich Schickhardt, Joseph Furttenbach d. Ä., Michel de Montaigne) berichten zwar von ihren Gartenbesuchen, aber Fremde suchten dort nicht Mußestunden, sondern Kuriositäten – Wasserspiele, Grottenautomaten oder botanische Preziosen. Die Sicht der Besitzer ist in der literarischen Überlieferung dagegen unterrepräsentiert, sodass wir kaum konkrete Aussagen über die alltägliche Nutzung von Gartenhäusern im 16. Jahrhundert treffen können. Legt man bildliche Darstellungen zugrunde, dann müssen Gartenhäuser auch als räumliche Strukturelemente eines Gartenareals begriffen werden. Damit kommt ihnen neben der sozialen Funktion als Rückzugsort eine ästhetische Komponente als Element des Gartenraums zu, die mit der Funktion als Aussichtsarchitektur kombiniert wurde. Zahlreiche Beispiele zeigen, dass Gartenpavillons seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorzugsweise auf Wegkreuzungen postiert wurden. Etienne Dupéracs Radierung mit der Ansicht der Villa d’Este (1573) zeigt in den unteren Parterres eine aus Treillagen gebildete Laubenarchitektur über dem Wegekreuz der Hauptachse. Auf den flankierenden Nebenkreuzungen befinden sich kleine Pavillons. Diese öffneten sich nach vier Seiten in Bogenform und boten den Eintretenden Schatten, vermutlich auch eine Sitzgelegenheit. Die Idee des zentralen Pavillons fand vielerorts Nachahmung. In Ducerceaus Stichsammlung (1576/1579) finden sich zahlreiche Gärten, auf deren Hauptwegekreuzung ein zentraler Pavillon errichtet worden war.15 In Gaillon handelte es sich um einen festen Bau mit Schweifkuppel und Laterne, der einen Brunnen aufnahm. In Blois fiel der zentrale Pavillon bei identischer Lage ähnlich aus, ergänzt durch einen in der Umfassungsmauer postierten Pavillon mit Pyramidendach. Dieser teilweise noch existierende Bau, der seit dem 19. Jahrhundert als Pavillon der Anne de Bretagne bezeichnet wird, stammt aus der ersten Ausstattungsphase, die auf Ludwig XII. zurückgeht.16 Der aus Ziegeln und an den Baukanten aus Werkstein aufgemauerte Zentralbau steht über Achteckgrundriss, wobei an vier Seiten je eingeschossige Annexe angeschlossen sind, die jeweils Terrassen tragen. Der Pavillon, eine „réinterprétation gothique d’un modèle italien“,17 liegt am westlichen Ende über einer doppelgeschossigen Orangerie, deren Obergeschoss nach Ducerceau als offene Galerie genutzt wurde. Der Gartenpavillon in Blois, vermutlich das älteste erhaltene Exempel seiner Art, vermittelte räumlich zwischen verschiedenen Gartenarealen und bildete ei-

Marginale Inventionen

Abbildung 1: Sceaux, Aurora-Pavillon, 1671

Fotografie: Stefan Schweizer

nen herausgestellten visuellen Bezugspunkt zwischen Schloss und Garten. Über seine konkrete Bestimmung lassen sich nur Mutmaßungen anstellen, die vom königlichen Bad bis zur Kapelle reichen. Angesichts der Lage jenseits des Schlossgrabens inmitten der Gärten wird man bei der intimen Architektur an einen privaten Rückzugsort denken, wobei der Pavillon wie die Schlossflügel mit der reliefierten L-Initiale als königlicher Repräsentationsbau ausgewiesen wurde. Sein unbekannter Architekt orientierte sich in Form und Stil weitestgehend am nahe gelegenen Schlossbau und löste auf diese Weise den repräsentativen Anspruch stilistischer Homogenität ein. Auch in Amboise wurde der Gartenpavillon an der Umfassungsmauer zur Flussseite hin postiert. Auch ihm kommt die Funktion eines Belvederes zu, das sich sowohl auf den Garten- beziehungsweise Schlossprospekt als auch auf die Landschaft bezog. Dezallier d’Argenville empfahl für derartige Aussichtsbauten eine feste Architektur: „On orne les bouts & les extremités d’une parc, de pavillons de maçonnerie, apellés Bellevedere, ou pavillons de l’Aurore.“18 Die Grenzlage diene der Ansichtigkeit des Pavillons innerhalb des Gartens sowie seiner Ausblickfunktion. Dezallier orientierte sich ganz offensichtlich am Pavillon de l’Aurore in Sceaux, der um 1670 als Retraite und Belvedere am Rand des weitläufigen Gartens im Zentrum eines Potager errichtet wurde (Abb. 1).19 Der von Bauherr und

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Abbildung 2: Versailles, Pavillon Français am Petit Trianon, 1750

Fotografie: Stefan Schweizer

Zeitgenossen als Pavillon bezeichnete Bau, diente als abseits gelegene Retraite und dank des Aurora-Kuppelgemäldes von Charles Le Brun nicht zuletzt als Repräsentationsort. Er entspricht damit der Polyfunktionalität eines aristokratischen Gartenhauses. Der Pavillon de l’Aurore war bewohnbar, wobei das architektonische Dekorum ostentativ bescheiden ausfiel. Der Bau diente als Point de vue und damit als architektonisch-räumliche Grenzmarkierung. Auch die beiden 1707/08 nach Entwürfen Louis Rémy de la Fosses errichteten Rundpavillons am Südende des Herrenhäuser Gartens entsprechen sowohl der Raumbegrenzungsfunktion des Aurorapavillons in Sceaux als auch den 1709 publizierten Vorgaben von Dezallier d’Argenville.20 Der bewohnbare Pavillon wird seit dem zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts zur Bauaufgabe in französischen Gartenanlagen.21 Abseits der Maison de plaisance gelegen, bot der in der Regel als Zentralbau angelegte Pavillon dem Besitzer beziehungsweise der Besitzerin wenige Räume zum „privaten“ Rückzug. Doch auch diese Petite Maison wurde nicht zum Typus ausgebildet – ihre Grenzen zum Landhaus wie zum Schloss, ihre Multifunktionalität als Fest-, Wohn- und Aussichtsarchitektur sowie als Raumgrenze und Point de vue blieben fließend.

Marginale Inventionen

Unter den Pavillonbauten höfischer Gartenmöblierung nimmt der 1750 von Ange-Jacques Gabriel für Ludwig XV. errichtete Pavillon Français am Petit Trianon zu Versailles eine herausgehobene Stellung ein (Abb. 2). Ursprünglich befand sich der Pavillon inmitten des von Claude Richard angelegten Botanischen Gartens, der sich auf dem Areal westlich des später erbauten Petit Trianon befand. Er war von Funktionsarchitektur wie Gewächshäusern und einem in die Mauer eingelassenen Erfrischungspavillon umgeben. Inmitten eines Nutzgartens veräußerte die in den Proportionen ausgewogene Pavillonarchitektur den königlichen Anspruch an bauliche Repräsentation. Der Bau besteht aus einem flach überkuppelten Saal mit diagonal anschließenden Annexen, in denen ein Boudoir, eine Toilette, eine Küche und eine Garderobe eingerichtet worden waren. Der botanisch interessierte König nutzte den Pavillon, um sich von den Spaziergängen durch den botanischen Garten zu erholen und eine Kleinigkeit zu trinken.22

4. Fliessende Ü bergänge : G rotte , Pavillon , K avaliershaus Obgleich genetisch in völlig anderen Traditionen stehend und auch funktional kaum identisch, verschwisterten sich Pavillons im 16. und frühen 17. Jahrhundert hinsichtlich ihrer Innenausstattung mit Grotten, ausgekleidet mit Bims- oder Felsstein beziehungsweise Muscheln. Zudem verfügten sie gelegentlich über Brunnen wie in Gaillon und Blois oder über kleinere Wasserspiele. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verändert sich die Grundform barocker Gartenanlagen tiefgreifend. Additive Grundrisse wurden obsolet, während perspektivisch konstruierte Gärten, bestehend aus Broderieparterres, Kanälen, Bassins, Kaskaden und Bosketts das in Frankreich entwickelte Stilideal bestimmen. Ein solcher auf Sichtbeziehungen und visueller Raumaneignung beruhender Garten, dessen primäre Ansichtigkeit auf die Terrasse des Lustschlosses hin orientiert worden war, bedurfte aus Sicht vieler Gartentheoretiker keiner zentralen Pavillons. In den Theorien Claude und André Mollets sowie Jacques Boyceaus spielen sie demgemäß keine Rolle,23 was nicht darauf schließen lässt, dass man Gartenhäuser nicht auch in herrschaftlichen Anwesen errichtete. Erwähnt sei etwa der von Louis Le Vau 1662 im Teich der Gartenanlage von Fontainebleau errichtete achteckige Pavillon, der auf einen Vorgängerbau des frühen 17. Jahrhunderts zurückgeht. Der sich einst in Arkaden öffnende, heute durch Bogenfenster geschlossene und mittels Pilastern gegliederte Pavillon de l’Étang bildete das Ziel kleinerer Bootsfahrten,24 doch seine Funktion erschöpfte sich nicht darin. Ganz offensichtlich spielte der Wasserpavillon auch als Point de vue und damit als räumliches

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Strukturelement eine wichtige Rolle. Er ist durch seine Position sowohl auf den Cour de la fontaine ausgerichtet und liegt zugleich in der Hauptachse des 1661 von André le Nôtre entworfenen Grand Parterres und des daran orientierten Kanals.25 Auch der Tempel auf der sogenannten Schwaneninsel am Rande der Kasseler Karlsaue, ein ursprünglich im frühen 18. Jahrhundert errichteter und im 19. Jahrhundert durch einen Rundtempel mit vier vorgelagerten Giebelportalen ersetzter Pavillon, diente allein der Visualisierung von Raumgrenzen und als Point de vue.26 Für das Rheinland beziehungsweise angrenzende Regionen ist für das 17. und 18. Jahrhundert auf die Gartenpavillons an Herrenhäusern und Schlössern zu verweisen. Zu nennen sind u.a. die beiden 1674 erbauten Pavillons im Garten von Schloss Schellenberg (Essen-Rellinghausen), das aus dem frühen 18. Jahrhundert stammende Gartenhaus von Schloss Dreiborn (Schleiden), der Gartenpavillon von Haus Rath (Düren-Arnoldsweiler) aus dem Jahr 1739 sowie der 1770 errichtete Brückenpavillon im Garten von Schloss Dyck.27 Die grundsätzliche Polyfunktionalität ist den meisten Gartenbauten des Barock eigen – Grottenbauten sowie Pflanzenarchitektur. Grotten übernehmen bis zum Landschaftsgarten die Aufgaben eines Rückszugsorts, wobei Grottenpavillons28 eher Ausnahmen bilden, etwa derjenige nach Entwurf Rastrellis in Tsarskoye Sjelo errichtete.29 Viel bedeutsamer aber werden Laubenarchitekturen, Treillagen, Berceaus innerhalb der zum Ausstattungskanon zählenden Bosketts. Entsprechende Grund- und Aufrissentwürfen finden sich bei Gartentheoretikern wie Dezallier d’Argenville sowie Architekturtheoretikern wie D’Aviler, Decker und Blondel d. J.30 Daneben steigen, besonders im deutschsprachigen Raum, Orangerien zum bevorzugten Lustbau höfischer Gärten auf, was an dieser Stelle aber nicht weiter vertieft werden soll.31 Im Gegensatz zum architektonisch intimen, abgelegen postierten Gartenhaus bilden sie Orte der Geselligkeit, die auch in ihrer zentralen Point-de-vue-Stellung innerhalb des Gartens – man denke etwa an Kassel (nach 1701), Weikersheim (nach 1719), Fulda (nach 1720), Gotha (nach 1750) – das Gefüge des Gartenraumes akzentuiert.32 Der Raumbildung diente auch die Staffelung eines einfachen Typs von Gartenhäusern, wie sie unter Ludwig XIV. durch Hardouin-Mansart in Marly eingeführt worden war.33 Die zwölf Pavillons in Marly dienten der höfischen Entourage als räumlich bescheidene Schlafgelegenheit. In ihrer Unterordnung gegenüber dem königlichen Pavillon sind sie dem Typus des Gartenhauses verwandt. Als früheste Rezeption der Marly-Pavillons – einfache doppelgeschossige Bauten über quadratischem Grundriss – griffen der Dresdener Hofarchitekt Johann Georg Starcke sowie der Gartengestalter Johann Friedrich Karcher nach 1683 diese Grundform für die einst vier Pavillonbauten im Großen Garten zu Dresden

Marginale Inventionen

auf.34 Die Bauten, wie in Marly um ein Parterre gruppiert, wurden ursprünglich als Spielsäle genutzt, später zu Kavaliershäusern umfunktioniert. Ihren Niederschlag fand die gruppierende Bauweise in Form einzelner Pavillons auch im Jagdschloss Clemenswerth (nach 1737), der Mainzer Favorite (nach 1700) sowie in Entwürfen zur Kasseler Karlsaue (nach 1700). Obgleich diese Pavillons als Rückzugsräume im höfischen Leben vorgesehen waren, wurden sie durch ihre einfache Bauweise sowie ihre Funktion als räumliche Begrenzung eines Gartens doch wegweisend für die bürgerliche Gartenkultur.35

5. Pavillons

in bürgerlichen

G ärten

Zum Zwecke der Raumbildung sowie zur architektonischen Begrenzung wurden Pavillons auch in Stadtgärten eingesetzt. In der Renaissance rahmten Mauern mit Nischen die Gärten an Stadtpalästen, wie etwa im Gartenhof des Florentiner Palazzo Medici,36 aber auch Loggien übernahmen diese Funktion.37 Erst im 17. Jahrhundert fanden, abhängig von der Extension des Areals, Pavillons als Begrenzungselemente Aufstellung: Erinnert sei an den noch heute existierenden Gartenpavillon des Antwerpener Rubenshauses, der den Garten begrenzt und als visueller Fluchtpunkt dient. Im Gegensatz zu den Gärten der Aristokratie, wo Gartenpavillons der Geselligkeit und dem durch Müßiggang bestimmten Rückzug dienten, besaßen Gartenhäuser in Bürgergärten eine eher praktische Funktion. Joseph Furttenbach d. Ä. stellt 1663 einen Gartenpavillon mit Kuppel im Zentrum eines Schulgartens vor.38 Der Garten diene nicht nur zur Unterweisung der Schüler, sondern auch zu deren Vergnügen. Furttenbach spricht hier bereits wichtige typologische Parameter des bürgerlichen Gartenhauses im späten 17. und 18. Jahrhundert an – Erholung und Nutzung –, allerdings beschäftigte sich kein Theoretiker in dieser Zeit eingehender mit dem Phänomen bürgerlicher Gartenhäuser. Im Gegensatz zu den Adelsgärten vor den Toren oder auf den Befestigungswerken der Stadt, die dem Typus der Villa beziehungsweise der Maison de Plaisance entsprachen, war ein Gartenhaus hier bereits aus ganz praktischen Erwägungen notwendig und wurde zunächst nur in Ausnahmefällen als Wohngelegenheit genutzt. Vor den Mauern der Stadt gelegen, bedurfte es eines sicheren Aufbewahrungsortes für Gartengeräte und ähnliche Dinge, sollte aber auch dem Vergnügen, einschließlich des Wetterschutzes während eines Aufenthalts in der Natur dienen. Erst seit dem zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts lassen sich bürgerliche Gartenhäuser in größerer Zahl als überlieferte Bauaufgabe nachweisen. In bürgerlichen Gärten wurden Gartenhäuser in zweifacher Weise als Begrenzungsbauten

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eingesetzt: Einerseits durch ihre Lage am Stadtrand, andererseits als Begrenzungsarchitektur einer Gartenanlage. Angesichts ihrer Lage auf den im Zuge des Städtewachstums im 18. und 19. Jahrhundert vollständig überformten Stadtrandflächen sowie ihrer Leichtbauweise haben sich nur wenige Beispiele für bürgerliche Gartenhäuser erhalten. Auch im Rheinland bezeugen heute nur noch wenige Gartenhäuser die Gartenkultur des 18. Jahrhunderts. In Kaldenkirchen steht ein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von dem Wein- und Lumpenhändler Johann Hermann Poensgen erbautes Gartenhaus. Es lag außerhalb der Stadtmauern und diente seinem Besitzer u. a. als Lagerraum und repräsentativer Aufenthaltsort. Auf einem Podest mit Untergeschoss steht der aus Ziegeln aufgemauerte Pavillon über Achteckgrundriss. Eine doppelläufige Treppe führt zur Zugangstür des Pavillons, der von einer mit Schiefer gedeckten Mansarddachhaube bekrönt wird. Ganz ähnliche Bauformen bestimmt das inschriftlich auf 1772 datierte Rokoko-Gartenhaus in Radevormwald, das sich ursprünglich ebenfalls jenseits der Stadtmauern befand.39 Obschon die Geschichte der bürgerlichen Gartenkunst kaum untersucht wurde, wissen wir, dass für das Bürgertum die Zone jenseits des Glacis der Fortifikationen seit dem 16. Jahrhunderts zu den bevorzugten Gartenarealen zählte. Diese Gärten müssen zunächst als bürgerliche Nutzgärten charakterisiert werden, die aber oft Ziergärten einschlossen. Blieben Wehranlagen im Zuge der Entfestigung erhalten, so standen diese zur gartenarchitektonischen Umnutzung zur Verfügung, wie das Beispiel der Städte Kalkar40 und Xanten zeigt, wo Wehrtürme der einstigen Stadtbefestigung in Gartenhäuser umfunktioniert wurden. Die Integration der Gartenhäuser in die Umfassungsmauern lässt sich auch dort beobachten, wo diese nicht mit den Befestigungsmauern identisch waren, sodass man von einem bevorzugten Prinzip sprechen kann. Dies ist beispielsweise am nördlichen Stadtrand von Tübingen der Fall, wo sich mehrere Gartenhäuser aus dem späten 18. Jahrhundert erhalten haben. Bei den an der Umfassungsmauer errichteten Bauten, beherbergte das Erdgeschoss ein Gartenportal und diente für die Unterbringung von Gerätschaften, während das Obergeschoss als Aufenthaltsraum mit Ausblick genutzt wurde. Als lokale architektonische Besonderheit kann die Kombination eines aus Bruch- und Sandstein aufgemauerten Erdgeschosses, dem ein aus Fachwerk bestehendes Obergeschoss aufsitzt, bezeichnet werden.41 In der Doppelgeschossigkeit spiegelt sich die Funktion wider: Gartenarbeit zum Zwecke der Nutzgärtnerei bedurfte eines Abstell- und Speicherraums; Erholung und Geselligkeit einer eigenen Sphäre. Der doppelgeschossige Typus fand vielerorts Verbreitung,42 wobei der eingeschossige Typ mit zentralem Gartensaal ebenfalls weithin gebräuchlich war.43 Im Zuge einer sich ausbreitenden Garten-

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begeisterung etablierten sich Spezialisten wie die Firma Wender und Dürholt aus Lennep (heute Remscheid), die unter Rückgriff auf die bergischen Rokoko-Gartenhäuser mehrere geschlossene Pavillonbauten in Lenneper Gärten errichtete.44

6. Das G artenhaus

als

Staffage

Auf den mit dem stilistischen Durchbruch des Landschaftsgartens einhergehenden Boom von bisweilen exzentrischer Staffagearchitektur in Deutschland seit den späten 1770er Jahren folgte zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Welle von Vorlagen- und Musterbüchern.45 Ohne dies zu vertiefen, kann man zwei grundlegende baulich-historische Imaginationsformen erkennen: die Neogotik und den Klassizismus. Während nahezu jedes Gebäude gotisiert werden konnte, beruhten die sich antikem Formengut verdankenden klassizistischen Staffagebauten auf klassischen Tempeln (Peripteros, Pseudoperipteros) sowie Rundtempeln (Tholos und Monopteros).46 Als früher Vorläufer ist in Deutschland der von Jacob van Campen für Moritz von Oranien in Kleve errichtete Rundtempel im sogenannten Amphitheater zu betrachten.47 Hirschfeld hatte die Bedeutungsverschiebung von Gartenhäusern im Landschaftsgarten unverhohlen eingeräumt.48 Gartenbauten müssten nach wie vor noch nützlich und bequem sein, doch hätten sie mindestens im selben Maße die Funktion, als Staffage stimmungsbildend zu wirken. Angesichts dieses Postulats erstaunen Hirschfelds Vorschläge für Gartenhäuser, die ganz überwiegend dem Formenvokabular des Rokoko entsprechen. Analog zu dieser Vorstellung wurde die Bauaufgabe Gartenhaus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa von historisierenden, chinoisen und orientalisierenden Moden bestimmt. Bauten aller Art dienten versatzstückartig der Produktion von Gartenbildern.49 Auf ikonografische Programme, wie noch im landschaftsgärtnerischen Stil des 18. Jahrhunderts in England und später in Kontinentaleuropa, wurde so gut wie kein Wert mehr gelegt.50 In Deutschland sind in diesem Zusammenhang die Gartenpublikationen von Wölfer51 und Huth52 charakteristische Beispiele für die Formenvielfalt der zeitgenössischen Gartenarchitektur und damit auch für Gartenhaus und Pavillon. (Abb. 3) Auch Sckell stellt die Staffagewirkung in den Mittelpunkt seines funktionalen Interesses an Gartenhäusern und zeigt sich darüber hinaus nur an Werken „der höhern Baukunst“ interessiert. Die Funktion von antikisierenden Tempelbauten im Garten beschränkt sich auf ihre visuelle Wirkung, doch führt er zumindest „kleinere Gebäude“ an, in denen sich „ein kleiner Kreis von Freunden versammeln und unterhalten kann“.53

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Abbildung 3: Marius Wölfer, Entwurf für Gartenmöbel und -bauten, 1826

Aus: Wölfer 1826, Tafel 9

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Erst am Ende des 19. Jahrhunderts, im Vorfeld der Reformgartenbewegung, die sich auf Hausgärten sowie architektonisch aufgefasste Gartentypen konzentrierte, kam der baulichen Möblierung des Gartens und damit dem Gartenhaus wieder Bedeutung zu.54 Dies führte zu neuen Rückgriffen auf historische Vorbilder, wobei für Gartenhäuser am häufigsten Rokokoformen rezipiert wurden.55 Allerdings unterwarf man die Gartenhäuser einem neuen Funktionalismus, vermied aufwändiges Baudekor und beschränkte sich vorwiegend auf einräumige Pavillons. Bei diesen ganz überwiegend bürgerlichen Gartenhäusern handelte es sich auch weiterhin um polyfunktionale Bauten, die Nutzaspekte eines Speichers und Wetterschutzes mit den Zerstreuungsansprüchen der Unterhaltung und Erholung kombinierten.

A nmerkungen 1 | Zu Kleingärten und ihrer Architektur: Wahmann, Birgit: „Kleingärten in Deutschland“, in: Monique Mosser/Georges Teyssot (Hg.), Die Gartenkunst des Abendlandes. Von der Renaissance bis zur Gegenwart, Stuttgart 1993, S. 447–449. 2 | Seidl, Ernst (Hg.): Lexikon der Bautypen. Funktionen und Formen der Architektur, Stuttgart 2006, S. 175 f. 3 | Etwa: D’Aviler, Augustin-Charles: Auszführliche Anleitung zu der gantzen Civil-, Amsterdam 1699, S. 676 f. (Maison de Plaisance); S. 765 (Pavillon); Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, 4 Bde., Wien 1811, Bd. 2, Sp. 422: „Das Gartenhaus […], ein jedes Haus an oder an einem Garten, zum Behuf des Gartenbaues oder der Gartenlust. S[iehe]. Lusthaus“. 4 | Markowitz, Irene: Zur Formgeschichte des Gartenhauses in Deutschland, unveröffentlichte Dissertation, Universität Köln, 1955, S. 3. 5 | Adelung 1811, Bd. 2, Sp. 1927; Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1878, Sp. 290–295. 6 | D’Aviler 1699 (frz. Original: Paris 1691), S. 193, verweist auf die Polyfunktionalität von Gewächshäusern bzw. Orangerien, „da man [in ihnen] im Winter als in einer Galerie spatzieren kann“; noch Casimir, Friedrich Medicus: Beiträge zur schönen Gartenkunst, Mannheim 1782, S. 237, empfiehlt, das Pomeranzenhaus auch als Gartenhaus zu nutzen; Zedler, Johann Heinrich: Universal-Lexicon aller Künste und Wissenschaften, Bd. 10, Halle und Leipzig 1735, S. 352, setzt „Garten-Haus“ mit „Gewächs-Haus“ gleich. 7 | Vgl. Andreas, Peter: In einer Laube grünem Baum. Idyll der Künstler – Pavillon und Gartenhaus, Berlin 2003. 8 | Vgl. Rolka, Caroline: Dietae. Historische Kleinarchitekturen in Sachsen. Eine Untersuchung zur Baukonstruktion und der Materialverwendung im Garten- und Landschaftsbau, Berlin 2007, bes. S. 26–42.

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Stefan Schweizer 9 | Bickel, Wolfgang: Weinbergshäuser. Urformen der Baukunst im Südwesten Deutschlands, Worms 2002. 10 | Vgl. Zobel-Klein, Dunja: „Die Villen des jüngeren Plinius in den Imaginationen der Frühe Neuzeit“, in: Michael Wenzel (Hg.), Römische Gärten der Winckelmann-Zeit, Stendal u. a. 2006, S. 37–59. 11 | Plinius d.J., Epistel II, 17, 15, nach: Fischer, Marianne: Die frühen Rekonstruktionen der Landhäuser Plinius’ des Jüngeren, Phil.-Diss. Berlin 1962, S. 31 f.: In capite xysti, deinveps cryptoporticus, horti, diaeta est, amores mei, re vera amores: ipse posui. 12 | Vgl. Philipp, Klaus Jan: „‚Non e vero, ma ben trovato‘. Rekonstruktionen literarisch überlieferter Bauwerke“, in: Winfried Nerdinger (Hg.), Architektur wie sie im Buche steht. Fiktiv Bauten und Städte in der Literatur, München/Salzburg 2006, S. S. 89–112. 13 | Azzi Visentini, Margherita: Die italienische Villa. Bauten des 15. und 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1997, S. 107. 14 | In der italienischen Übersetzung von Cosimo Bartoli heißt es „Loggia“; Alberti, Leon Battista: Della architettura, della pittura e della statua, Bologna 1782, S. 227; Theuer übersetzt „Gartenhalle“; Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst. Übertragen von Max Theuer, Darmstadt 1975 (ND der Ausgabe Wien/Leipzig 1912), S. 487. 15 | Ducerceau, Jacques Androuet: Les plus excellents bastiments de France, Paris 1576/1579; zum Kontext: Krause, Katharina: „‚Les plus excellents Bastiments de France‘. Architekturgeschichte in den Stichfolgen des Ancien Régime“, in: architectura 25.1995, S. 29–57. 16 | Gratias, Christophe: „Le pavillon d’Anne de Bretagne et les jardins du château de Blois“, in: Pierre-Gilles Girault (Hg.), Flore et jardins: usages, savoirs et représentations du monde végétal au Moyen Age, Paris 1997, S. 131–144. 17 | Ebd., S. 134 f. 18 | Zum Belvedere: Dezallier d’Argenville, Antoine-Josephe: La Théorie Et La Pratique Du Jardinage, Paris 1709, S. 73; Einmal mehr wird die Widersprüchlichkeit innerhalb der Terminologie deutlich: Obgleich als Pavillon, d. h. Leichtbau bezeichnet, verlangt der Theoretiker nach fester Bauart; noch Blondel Jacques François: De la distribution des maisons de plaisance et de la décoration des édifices en général, Bd. 2., Paris 1738, S. 12 ff., beruft sich auf diese Vorstellung. 19 | Rousset-Charny, Gérard: „L’architecture du pavillon de l’Aurore“, in: Le Pavillon de l’Aurore. Les dessins de Le Brun et la coupole restaurée. Ausstellungskatalog Sceaux, Paris 2000, S. 14–29; Krause 1995, S. 163–167. 20 | Adam, Bernd: „Das Herrenhäuser Schloss und die historischen Pavillonbauten“, in: Marieanne von König (Hg.), Herrenhausen. Die Königlichen Gärten von Hannover, Göttingen 2006, S. 95–100, mit der Auffassung, es handelte sich um „zweckfreie Pavillonbauten“, deren einzige Funktion darin bestand, „die Ausdehnung der Anlage deutlich ablesbar [zu] machen“. 21 | Krause 1995 S. 282–318.

Marginale Inventionen 22 | Lemoine, Pierre: Versailles and Trianon. Guide to the Museum and National Domain, Paris 2002, S. 253–254. 23 | Boyceau de La Baraudière, Jacques: Traité du jardinage selon les raisons de la nature et de l’art, Paris 1638; Mollet, André: Le Jardin de Plaisir, Stockholm 1651; Mollet, Claude: Théâtre des plants et jardinage, Paris 1652. 24 | Vgl. das Gemälde von Jean-Joseph-Xavier Bidault und Louis-Léopold Boilly Napoleon und Marie-Louise auf einer Bootsfahrt im Teich im Pariser Musée Marmottan. 25 | Samoyault, Jean-Pierre: Guide to the Museum of the Château de Fontainebleau, Paris 1994, S. 52–54. 26 | Biehn, Heinz: Die Karlsaue in Kassel. Kassel 1972, S. 18. 27 | Dehio, Georg: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Nordrhein-Westfalen I: Rheinland, bearbeitet v. Claudia Euskirchen u. a. München 2005, S. 112 (Dyck), 249 (Dreiborn), 391 (Schellenberg); zu Dyck des Weiteren: Schloss Dyck. Historischer Park und Neue Gärten, hg. v. der Stiftung Schloss Dyck. Jüchen 2002, S. 52–83; zu Haus Rath: Bredt, Friedrich Wilhelm: „Niederrheinische Gartenbauten“, in: Mitteilungen des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz 6.1912, H. 1, S. 174–177. 28 | Vgl. auch den Entwurf eines Grottenpavillons in: De Caus, Salomon: Les Raisons des Forces Mouvantes, Avec diverses Machines Tant utiles que plaisantes Ausquelles sont adjoints plusieurs desseings de Grotes et Fontaines […], Paris 1624. 29 | Skodock, Cornelia: Barock in Russland. Zum Œuvre des Hofarchitekten Francesco Bartolomeo Rastrelli, Wiesbaden 2006. 30 | Dezallier d’Argenville 1709; S. 67–74; D’Aviler 1720, Bd. 1, S. 190–200. 31 | Vgl. hierzu: Der Süden im Norden: Orangerien – ein fürstliches Vergnügen, hrsg. von den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg. Regensburg 1999; Landwehr, Jürgen (Hg.): Natur hinter Glas: zur Kulturgeschichte von Orangerien und Gewächshäusern, St. Ingbert 2003. 32 | Balsam, Simone: „‚…man unterschiedliche solche Pommerantzen-Häuser in Teuschland findet…‘. Die Orangerie im Kontext von Schloss und Garten“, in: Der Süden im Norden 2003, S. 31–45. 33 | Krause 1995, S. 74–84. 34 | Helas, Volker: Großer Garten in Dresden, Leipzig 2002. 35 | Vgl. die Aufstellung bei Mebes, Paul: Um 1800. Palais und städtische Bürgerhäuser, Landund Herrenhäuser, Gartenhäuser, Tore, Brücken, Innenräume und Hausgerät, München 1908, S. 108 ff.; zudem: Schultze-Naumburg, Paul: Kulturarbeiten, Band II: Gärten, München 1909. 36 | Acidini Luchinat, Christina: „Palazzo Medici-Riccardi: Il Giardino“, in: Gabriele Morolli (Hg.), L’Architettura di Lorenzo il Magnifico, Florenz 1992, S. 61 f. 37 | Vgl. Scamozzi, Vincenzo: L’Idea Della Architettura Universale, Bd. 1, Venedig 1615, S. 327 ff.; zum Kontext des Loggientypus die Beiträge von Schweikhart sowie Keller, in: Adrian von Buttlar (Hg.): Der Münchner Hofgarten. Beiträge zur Spurensicherung, München 1988.

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Stefan Schweizer 38 | Furttenbach, Joseph: Mannhafter Kunst-Spiegel, Augsburg 1663, S. 46–49. 39 | Wolff, Norbert (Hg.): Das Radevormwalder Rokoko-Gartenhaus, Radevormwald 1986. 40 | Vgl. Bredt 1912. 41 | Ruhland, Michael: „Freizeitkultur um 1800. Zur Denkmaleigenschaft von Gartenhäusern“, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 31.2002, H. 3, S. 174–177. 42 | Delhougne, Carl: „Alttrierer Lauben und Gartenhäuser“, in: Trierisches Jahrbuch 1953, S. 68–75. 43 | Dülmen, Andrea van: Das irdische Paradies. Bürgerliche Gartenkultur der Goethezeit. Köln u. a. 1999, S. 132–155. 44 | Bredt 1912 S. 47–50. 45 | Siehe besonders: Grohmann, Johann Gottfried: Ideenmagazin für Liebhaber von Gärten, Englischen Anlagen und für Besitzer von Landgütern: um Gärten und ländliche Gegenden […]: zu verschönern und zu veredeln, Leipzig 1796–1802. 46 | Weibezahn, Ingrid: Geschichte und Funktion des Monopteros. Untersuchungen zu einem Gebäudetyp des Spätbarock und des Klassizismus, Hildesheim 1975. 47 | Diedenhofen, Wilhelm: Klevische Gartenlust, Ausstellungskatalog, Kleve 1994. 48 | Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst, Bd. 3, Leipzig 1780, S. 35: „Gebäude wurden zuerst, der Bequemlichkeit wegen, in einem Garten angelegt. […] Diese Bestimmung ist nachher fast ganz in eine andere verwandelt worden, da der Geschmack sie als Mittel der Verschönerung betrachten lernte, und ihnen daher Form, Zierlichkeit, Charakter und Lage zu bestimmen anfieng, indem man sich vorher auf die Bequemlichkeit ihrer inneren Einrichtung beschränkt hatte.“ 49 | Headley, Gwyn/Meuklenkamp, Wim: Follies. Grottos & Garden Buildings, London 1999 mit einem Überblick über die Vielfalt der Gartenarchitektur, besonders der Staffagebauten. 50 | Mosser/Teyssot 1993, hier: 11–13. 51 | Wölfer, Marius: Sammlung von auserlesenen und ausführbaren architectonischen Garten-Verzierungen, Gotha 1826. 52 | Huth, Friedrich: Grundsätze der Gartenkunst welche [...] befolgt werden müssen, Leipzig 1829. 53 | Sckell, Friedrich Ludwig von: Beiträge zur bildenden Gartenkunst für angehende Gartenkünstler und Gartenliebhaber, München 1825, S. 35. 54 | Gerhold-Kittel, Elke: Die Rolle von Gartenhaus und Laube im neuen Garten nach der Jahrhundertwende. unveröffentlichte Dissertation, Berlin 1971. 55 | Noch bei Encke, Fritz: Der Hausgarten, Jena 1907, u. a. S. 116 und 123.

„Home“ in the West? Jean Prouvés Maisons tropiques aus Niamey und Brazzaville Angela Stercken Mit Begeisterung stürzten sich nicht nur die britische Tagespresse, Architekturund Kunstmagazine auf die spektakulären Ausstellungen von Jean Prouvés Ende der 1940er Jahre entstandenen zwei Tropenhäusern, die zu Beginn der 2000er Jahre prominent in internationalen Kunstmetropolen gezeigt wurden (Abb. 1a–c). Schnell wurden auch in Europa die Geheimnisse zunächst um das eine, aus Brazzaville stammende koloniale „Dreibett-Zimmer-46-Tonnen-Stahl-und-AluminiumHaus“ gelüftet und über dessen vorherige Ausstellung in New York (2007) ebenso berichtet wie über die anschließende Ersteigerung durch den „Hotel Tycoon André Balazs“.1 Im Konzert der Kunst- und Tagespresse scheint dem britischen Architect’s Journal AJ die Rolle eines Tenorgebers zuzufallen: „It is testament to the genius of Jean Prouvé that his Maison Tropicale, whilst being sensitively designed for the climes of the Congo, looks equally at home in the winter sunshine of London.“2 Die Maison Tropicale „zu Hause“ – an der Londoner South Bank? „In january 2007, the south terrace on the Centre Pompidou’s fifth floor became home to a house designed by Jean Prouvé. This house both introduced and completed the new hanging of the Musée national d’art modern collections, marking the Centre’s 30th anniversary […]“

– so später die Einleitung zum Pariser Katalog, der an die Ausstellung der Maison Tropicale im Centre Pompidou im Jahr 2008 erinnert und dabei zugleich die Konsequenzen für die Sammlungspräsentation des Museums unterstreicht.3 Prouvés Tropenhaus „home“ – auf dem Dach des Beaubourg? Die Liste der Publikationen, die diesem Tenor folgen, ließe sich endlos fortsetzen: Einhellig wird dargelegt: Prouvés Tropenhäuser sind nach Paris und London „heimgekehrt“, scheinen an diesen Orten ebenso zu Hause wie im heißen Afrika, für das sie ursprünglich bestimmt waren. Bis heute werden die Ausstellungs- und

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Abbildung 1: a | „Maison Tropicale”, 1951 (Brazzaville), Christie’s, Long Island City/ Queens, New York, 2007, Ausstellungsansicht; b | „Maison Tropicale“, 1951 (Brazzaville), Tate Modern, London, 2007, Ausstellungsansicht, Themseufer; c | „Maison Tropicale“, 1951 (Brazzaville), Centre Pompidou, Paris, 2007, Ausstellungsansicht; d | Atelier Jean Prouvé, Maison colonial, 1949, Prototyp (Niamey), 1949, Exposition pour l’équipement de l’Union française, Paris, Seine-Ufer, 1949, Ausstellungsansicht a | Aus: artnet.com, http://www.artnet.com/ magazineus/features/mason/mason6-5-07_ detail.asp?picnum=2 [20.1.2019]; b | Aus: https://www.archerhumphryes.com/ museums-retail/maison-tropicale [20.1.2019]; c | Aus: Cinqualbre, Olivier (Hg.): Jean Prouvé. La maison tropicale – The Tropical House, Paris: Centre Pompidou, 2009, S. 136; d | Aus: Stoullig, Claire (Hg.): Jean Prouvé. Ausst.-Kat. Musée des Beaux-arts, Nancy, Paris: Somogy [u.a.], S. 344

Rezensionskontexte und architekturgeschichtlichen Verortungen der beiden modernen modularen Fertighaustypen von dieser Heimholungs- und Vereinnahmungsdiktion in kolonialem Geist bestimmt.4 Dies wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf, denen hier nachgegangen werden soll: Wieso wird die „Heimat“ der legendären Tropenhäuser und Inkunabeln moderner Architektur überhaupt gesucht? Wieso wird sie ausgerechnet in Paris oder London gefunden, wenn doch Namensgebung und Bauumstände in ganz andere Zusammenhänge und Entstehungskontexte weisen? Unter welchen Umständen sind Prouvés tropentaugliche Aluminiumhäuser beziehungsweise ihre Prototypen an die afrikanischen

„Home“ in the West?

Bestimmungsorte Niamey und später Brazzaville gelangt? Wie wurden sie dort genutzt? Und schließlich: Wie kamen die beiden Tropenhäuser von ihren jeweiligen Aufstellungsorten an ihre vermeintlichen („Heimat“-) Orte in Europa (zurück)?

Von H angar und M ilitärbaracke zur M aison colonial Tatsächlich ist die Geschichte der drei zwischen 1949 und 1950/51 realisierten Maisons Tropicales unterschiedlicher Größe – oder, wie Jean Prouvés Werkverzeichnis auf Basis der Planbezeichnungen für die zwischen 1946 und 1949 entwickelten Prototypen erfasst, der „Maison colonial“,5 deren Entstehungsumstände teils ebenso widersprüchlich sind wie ihre Benennung – in jeder Hinsicht bewegt und überdies von Beginn an vom Geist der Mobilität geprägt. Als Prouvé in den Jahren von 1949 bis 1951 zunächst in Zusammenarbeit mit der französischen Leichtmetallgesellschaft für Niamey (heute Niger), dann anschließend mit der nationalen Aluminium Gesellschaft für Brazzaville (heute Republik Kongo) die Realisierung leichter Aluminium-Häuser übernimmt, die dem Mangel an kolonialen Verwaltungs-Immobilien und Unternehmens-Repräsentanzen in Westafrika begegnen sollen, zeigen bereits vorangegangene Überlegungen und Ansätze – auch durch die J. Prouvé Workshops –, aber auch einzelne Teile- und Bau-Entwürfe, Prototypen-Konstruktionen und realisierte Bauten der 1930–40er Jahre, wie weit die Objekt- wie Technikversessenheit eines Konstrukteurs reicht, der nicht zwischen einem Gebäude und einem Fahrzeug, einem Haus und einer Kabine oder Hangar unterscheiden mag. Zugleich wird deutlich, wie deutlich dieser schon während des Krieges in gleichermaßen industriell, militärisch wie auch kolonialpolitisch relevante Bereiche modernen Bauens vordringt. Mit Blick auf Prouvés zentrale Ideen der Modularität, Standardisierung und Vorfabrikation, der räumlichen Flexibilität und Mobilität der Bauten seien hier die Untersuchungen zu konstruktionsrelevanten Materialien (Stahl, Stahlblech und vor allem Aluminium) und neuen Produktionstechniken und Fertigungsprozessen, für die er beispielsweise auf Metallwalzmaschinen oder auch die Technik der elektrischen Punktschweißung setzt, nur knapp benannt.6 Die Entwicklungen einzelner vorgefertigter Bauelemente in dieser Zeit – Traggestelle aus Stahlprofilen, versetzbare Boden- und Wandelemente, Stützen7 – richten sich neben flexiblen Lösungen für industrielle Bauaufgaben auch auf öffentliche Bauaufträge: Hier sind es Leichtbauten, Fertigungshallen- und Hangar-Konstruktionen besonders für den Fahrzeugbau, aber auch Schulgebäude und (modulare, demontierbare) Militärbaracken-Typen unter anderem im Auftrag des Luftfahrtministeriums.8 Gemeinsam

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mit den Typ-Entwicklungen, wie dem Prototyp eines Demontierbaren Pavillons (1941), dem Fertighaus-Prinzip9 beziehungsweise variablen Pre-Fab Haus, das wie kaum ein anderes für die Mobilität steht, konturieren sich hier bereits die Funktions- und Nutzungsaspekte der späteren leichten Kolonialhäuser.10 Die genannten Beispiele sind als flüchtige Un-Orte temporärer Unterkunft und Produktion fassbar, als Räume der Fluktuation und des Transfers. Sie unterliegen speziellen Reglements der Nutzung, die sich im Innenraum in funktionaler Raumanordnung und Raum-Variabilität bis hin zu Interieur-Design und Möblierung dokumentiert.

Das Tropenhaus

als mobiles

O bjekt

Die Hallen- und Hausentwürfe der 1930er und beginnenden 1940er Jahre scheinen in vielerlei Hinsicht weit stärker von einem objekthaften als von traditionellem architektonisch-baulichen Verständnis geprägt. In seinem Vortrag auf einer Architektenkonferenz in Nancy beklagt Prouvé 1946 die architekturgeschichtliche Ausgangslage seiner Arbeit: Es werde nach wie vor wie ein Jahrhundert zuvor gebaut; nicht nur dieselben Materialien, sondern auch dieselben Designs für Unterkünfte seien nach wie vor im Einsatz, hätten aber keinen Bezug mehr zum Alltagsleben.11 Und dieses „Vollblutpferd der Moderne“ – so Manthia Diawara 2007 über Prouvé12 – begegnet nun der Situation, indem er sich auf die funktionsorientierte Zusammenstellung technoider und mobiler Einzelelemente verlagert, die er vornehmlich aus Technik, Design, aus Ausstattungs- und Möblierungszusammenhängen gewinnt. Die modernen Geräte und Fahrzeuge, die der Konstrukteur hier als Vorbilder preisgibt – Flugzeuge, „die, den Atlantik überqueren“, „Kabinen“, Kühlschränke13 – dokumentieren die generelle Faszination für solche Techniken und Objekte14 nicht minder deutlich als deren Vorbildlichkeit bei der Entwicklung erweiterter Bauprinzipien und bei der Realisierung einzelner Bauaufgaben, wie ephemeren Hallen- und Hangarbauten oder vorfabrizierten Haustypen,15 deren technoide Formsprache auch bereits die lochgestanzten Aluminiumpaneele der späteren Tropenhäuser einschließt.16 Explizit benennt Prouvé technische Konstruktionsbereiche, die wie kaum andere für die Mobilität beweglicher Objekte stehen – und die eben nicht auf Ortsgebundenheit und Dauerhaftigkeit oder gar eine „Heimat“ im Sinne architekturbasierter Identitätskonstrukte setzen. Le Corbusiers Konzept der „Unité d’Habitation“, der „Wohneinheit“ oder auch „Wohnmaschine“ scheint bei Prouvé gleichsam um die Idee der Mobilität eines Fahrzeugs ergänzt.17 Ein weiterer, für die späteren Tropenhäuser zentraler Aspekt liegt in der gezielten Ausrichtung auf den geografischen Kontext beziehungsweise spezifische

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Abbildung 2: Atelier Jean Prouvé a | Cabine coloniale à air climatisé, 9. März 1939, Längsschnitt und Grundriss; b | Pavillon colonial démontable, 10. Juli 1939, Längsschnitt; c | Ansicht der Seitenwand, 10. Juli 1939 a | Aus: Cinqualbre, Olivier (Hg.): Jean Prouvé. La maison tropicale. The Tropical House. Centre Pompidou. Paris: Centre Pompidou, 2009, S. 36, ADMM (23J135-45); b | Aus: Cinqualbre, Olivier (Hg.): Jean Prouvé. La maison tropicale. The Tropical House. Centre Pompidou. Paris: Centre Pompidou, 2009, S. 37, ADMM (23J 135-44); c | Aus: Cinqualbre, Olivier (Hg.): Jean Prouvé. La maison tropicale. The Tropical House. Centre Pompidou. Paris: Centre Pompidou, 2009, S. 37, ADMM (23J 135-43)

Klimazonen. Mit diesen Überlegungen gewinnt nun auch der mögliche kolonialpolitische Nutzen an Bedeutung: Bereits die Entwürfe für die Cabine coloniale à air climatisé (1939) oder den aus Kasernenbaracken abgeleiteten Pavillon colonial démontable aus dem gleichen Jahr (Abb. 2a–c), der bereits die signifikante Mittelstütze des späteren Tropenhauses aufweist,18 lassen ein gesteigertes Interesse an einer optimalen klimatischen Gebäudeanpassung erkennen. Auch die (klima-) technischen Konstruktionen – deren Entwicklung Prouvé mit der Idee der Steigerung von Wohn- und Lebensqualität engführt19 und in seine spätere Forderung nach „fabrikgefertigten Häusern“20 einfließen lässt – sind von diesen Gedanken geleitet. Für diese „maisons usinées“ werden Techniken thermischer „Isolierung

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Abbildung 3: Atelier Jean Prouvé a | Université de Dakar, collège modern de Niamey 1948, Perspective, Plan 1010919; b | Université de Dakar, groupe scolaire, 1948, Perspective, Plan 10857

a | Aus: Sulzer, Peter: Jean Prouvé. Oeuvre complète / Complete Works, Vol. 3, Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 2005, S. 124, No. 1093,2; b | Aus: Stoullig, Claire (Hg.): Jean Prouvé. Ausst.-Kat. Musée des Beaux-arts, Nancy, Paris: Somogy [u.a.], S. 348, ill. 10

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und Trennung“, Schalldämmung und moderne Heizsysteme benannt, die als „Sonne im Inneren des Gebäudes“ fungieren und derart das Außen und Innen der Gebäude verbinden sollen.21 Als Prouvé 1947 die offizielle Planungsleitung für einen Gebäudekomplex der Universität von Dakar übernimmt, kann er von den früheren Ansätzen und Entwürfen, militärischen und anderen öffentlichen Bauaufträgen, aber auch von jenem gleichsam ganzheitlichen Objekt- und Bauverständnis ebenso profitieren wie von den klimatechnischen Ansätzen. Offenkundig stehen transportable Behausungen wie (Nomaden-) Zelte und Hütten Pate,22 die erneut die Vorbildlichkeit mobiler Unterkünfte aus anderen kulturellen Zusammenhängen und Praktiken dokumentieren. Besonders relevant erscheint hier die Simulation eines Landschaftskontextes und gleichsam tropischen „Lebensraums“23 in den Entwurfszeichnungen für Dakar (Abb. 3a–b). Die nach diesen Mobilitätsvorbildern angelegten Gebäudekomplexe werden in signifikanter klimatischer Umgebung und Vegetation gezeigt und befestigen derart zugleich das in Europa vorherrschende Bild moderner kolonialer Bauweise in tropisch-exotischer Landschaft.

E in P rototyp

als koloniale

B auaufgabe

Der offizielle, an das Atelier Prouvé herangetragene Auftrag – ein College-Gebäude in Ouagadougou und ein Gerichtsgebäude in Niamey24 zu realisieren – sieht für 1949 auch die Entwicklung eines tropenfähigen Haus-Prototypen für Niamey vor,25 der als Wohn- und Arbeitsstätte des dortigen Collegedirektors dienen soll. Prouvé folgt der Aufgabenstellung mit einem Prototypen, den er mit „Maison colonial“ bezeichnet.26 Weitestgehend einhellig wird die vom Reformgedanken bestimmte Rede General Charles de Gaulles auf der Gouverneurs-Konferenz in Brazzaville Anfang 1944 als entscheidender Impuls für den bis 1947 erstellten Plan zur Neuordnung der französischen Kolonialgebiete27 und die folgenden kolonialen Bauaufträge gesehen. Insbesondere de Gaulles Forderungen nach neuen Investitionen in die politische, kulturelle, soziale und ökonomische „Entwicklung“ der westafrikanischen Kolonien stellt die Grundlage dieser strategischen Neuausrichtung dar.28 Auch in Niamey kommt es nach Kriegsende zu einer durch die Kolonialregierung forcierten – und gleichermaßen von wirtschaftlichen wie politischen Interessen geleiteten – Ansiedelungspolitik, die in den ausgehenden 1940er und beginnenden 50er Jahren in einem regelrechten Bauboom in den westafrikanischen Städten mündet. Die Dauerbauten an den Schlüsselstellen kolonialer Macht – öffentliche Verwaltungsgebäude, Flughäfen und Bahnstationen, Wohnsiedlungen, Bildungs-,

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Erziehungs- und Kultureinrichtungen, Schulen und Universitäten, wie sie bereits für Dakar zurückliegen und für Ouagadougou in Auftrag gegeben sind –, zeugen teils noch heute von diesem kolonialpolitischen Engagement. Auch im Zuge des Realisierungsprozesses der Maison colonial verweben sich die kolonialpolitischen und ökonomischen Zielsetzungen mit unternehmerischen Demonstrations- und Repräsentationsaufgaben – wie zunächst an den zahlreichen Unternehmensrepräsentanzen und Firmensitzen erkennbar wird, die in Westafrika und Frankreich neben administrativen Bauten entstehen. Die französische Leichtmetall-Gesellschaft, die in die Produktion von Prouvés Tropenhaus-Prototyp für Niamey einbezogen wird und als die Repräsentantin moderner Baumaterialforschung im Frankreich der Zeit gilt, erhält die Exklusivrechte an der Vermarktung des kolonialen Tropenhauses. Ihre zielstrebig verfolgten Interessen gelten jedoch nicht allein der Herstellung eines kolonialen Vorzeigebaus mit ökonomischem Wirkpotenzial über die Grenzen Frankreichs hinaus. Vielmehr organisiert die Gesellschaft auch die erstmalige Präsentation von Prouvés prototypischem Kolonialhaus 1949 in Frankreich: Noch im Herbst wird es im Rahmen der Exposition pour l’équipement der Union Française am Pariser Seine-Ufer (s. Abb. 1d) gezeigt – zweifelsfrei einem der repräsentativsten urbanen Orte, der seine Bedeutung bis zu heutigen Ausstellungsplatzierungen unter Beweis stellt.29 Für die Beantwortung der eingangs gestellten Frage nach dem „home“ der Prouvéschen Tropenhäuser liefern die Produktionsbedingungen und Erstplatzierung 1949 ebenso erste Anhaltspunkte wie für die Besitzansprüche und Vermarktungsumstände Anfang der 2000er Jahre.

K lima

und

Ventilation : H äuser

für die

Tropen

Die Aufgabenstellung für den Prototypen der Maison colonial für Niamey (1949) umfasst nach innen versetzte Eingangstüren ebenso wie eine natürliche Ventilation, für die verstellbare Sonnenblenden und isolierende Wände aus einzelnen Paneelen vorgegeben sind.30 Die moderne Bauweise – hier gleichermaßen angesprochen durch die funktionalen und technoiden Leichtbauten und die dezidierte Ausrichtung auf die tropische Klimazone31 – wird nun zur offiziellen kolonialpolitischen Aufgabe. Das Design folgt strikt den baulichen Anforderungen, aber auch den Fertigungsbedingungen der Einzelelemente am Produktionsort: Mit einer maximalen Länge von 4 Metern sind die Teile auf die Breite einer industriellen Walzmaschi-

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Abbildung 4: a | Atelier Jean Prouvé, Maison colonial, 1949, Prototyp (Niamey), Atelier Jean Prouvé Maxéville; b | Atelier Jean Prouvé, Maison colonial, 1949, Prototyp (Niamey), Seitenansicht, Atelier Jean Prouvé Maxéville, 1949; c | Verladung der Maison colonial, 1949, Prototyp (Niamey); d | Aufbau der Maison colonial (Prototyp) 1949 in Niamey durch lokale Arbeiter und unter Leitung der J. Prouvé Workshops

a | Aus: Stoullig, Claire (Hg.): Jean Prouvé. Ausst.-Kat. Musée des Beaux-arts, Nancy u.a.O., Paris: Somogy [u.a.], 2012, S. 342, ill. 1; b | Aus: Sulzer, Peter: Jean Prouvé. Oeuvre complète / Complete Works, Vol. 3, Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 2005, S. 129, No. 1094.1,5; c | Aus: Sulzer, Peter: Jean Prouvé. Oeuvre complète / Complete Works, Vol. 3, Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 2005, S. 131, No. 1094.1,10; d | Aus: Sulzer, Peter: Jean Prouvé. Oeuvre complète / Complete Works, Vol. 3, Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 2005, S. 131, No. 1094.1,11

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ne abgestimmt, wie sie an der Fertigungsstätte in Frankreich im Einsatz ist.32 Die ausschließlich flachen und daher leicht (durch zwei Personen) tragbaren Elemente werden auf platzsparende Verpackung, gute Verstaubarkeit im Cargo-Flugzeug, aber auch auf die Montagebedingungen angelegt, 33 die in Niamey erwartet werden – wodurch umfangreichere Baumaßnahmen in Afrika bewusst vermieden werden. Das nach diesen Maßgaben konstruierte leichte Kolonialhaus selbst wird also bereits als repräsentativer Transportgegenstand eingeführt und rückt noch vor seinem Transport an den afrikanischen Bestimmungsort zugleich in den Rang eines hochwertigen, modernen französischen Exportartikels auf.34 Fotografien aus der Zeit stützen dies: Alle relevanten Schritte von der Präfabrikation und den Erstaufbau der Maison colonial auf dem Gelände des Ateliers Prouvé in Maxéville, über die erwähnte Pariser Erstausstellung und unternehmerische Vermarktung bis zum spektakulären Flugzeugtransport nach Niamey und dem dortigen Aufbau werden dokumentiert und schnell fotografisch verbreitet (Abb. 4a–d). Im Sommer 1949 wird die Maison colonial unter Leitung der J. Prouvé-Workshops durch lokale Kräfte in Niamey montiert. Das 10 x 26 Meter messende Haus umfasst zwei getrennte Wohnbereiche für Tag und Nacht. Die geforderte klimatechnische Ausrichtung äußert sich in einer transparent anmutenden, auf Ventilation beziehungsweise Luftzirkulation angelegte Wand- und Dachkonstruktion, die noch einmal die Prägefunktion des Nomadenzelts bekräftigt. Moderne Materialien und die sichtbare modern-technoide Konstruktionsweise sollen den aus Frankreich nach Westafrika entsandten Bewohnern einen gewissen Komfort bieten, ohne dabei jedoch zu stark von lokalem Formenvokabular und Farben – oder auch dem, was man sich offenkundig unter lokalen afrikanischen Bautraditionen vorstellt – abzuweichen: Gleichsam ein Balanceakt zwischen Modernität und Funktionalität, lokaler klimatischer Anpassung und zurückhaltender Eingliederung in einen vorhandenen urbanen Kontext. Was sich in baulicher Hinsicht aber durch die erkennbaren Anpassungsmaßnahmen in Niamey zudem in offiziellem Auftrag und unter dem bisherigen Titel Maison colonial vollzieht, verschiebt sich im Zuge der anschließenden Realisierung von zwei weiteren Tropenhäusern 1951 in Brazzaville für die dortige Leitung der französische Aluminium-Gesellschaft noch einmal deutlich: Prouvé verwendet nun nicht nur erstmalig die Bezeichnung Maisons tropiques,35 sondern kommt dem Auftrag über ein Informationsbüro und Wohnhaus mit einem über eine Brücke verbundenen Gebäudekomplex auf Stützen nach – wodurch dessen klischeehaft-exotische Anmutung noch einmal gesteigert wird (Abb. 5a, b). Es ist anzunehmen, dass mit dem Namenswechsel hin zum „Tropenhaus“ der veränderten Auftragssituation ebenso Ausdruck verliehen werden sollte wie auch der Vorstellung eines tropischen Pfahlbaus. Wenngleich auch die staatlichen Interessen

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in die gleiche Richtung gehen und das französische Überseedepartement in die Planungen in Brazzaville involviert ist, stehen bei dem Projekt doch erneut auch unternehmerische Interessen und die Präsenz nationaler französischer Gesellschaften in Afrika im Vordergrund. Auch die Konstruktions- und Montageprinzipien für die vorgefertigten Tropenhäuser, die auf einigen wenigen Grundelementen und Modulen aus gefalztem Stahlblech beruhen, sind diesen Entstehungsumständen geschuldet. Durch einfache Verbindungen (Bolzen, Schrauben, Führungsrahmen, Vorhangfassaden etc.) werden die Teile zusammengehalten, können auf Beton oder wie im Fall Brazzaville auch auf zusammen gesetzten Stützen variabler Höhe aufgesetzt werden. Das Montageprinzip, das genaue Anleitungen zur Verbindung aller Einzelelemente nötig macht, folgt – wie auch die schon erwähnten Fertigungsbedingungen – der Idee der Produktionsoptimierung und in gewissem Maße auch insofern der Disziplinierung, als es eng an die Rationalisierung industrieller Fertigungsprozesse gekoppelt ist. Spezielle Kenntnisse sind für die Montage nicht unbedingt erforderlich. Aber die plangerechte Ausführung bedingt dennoch eine Reihe und Reihenfolge festgelegter Handlungen durch die lokalen afrikanischen Arbeiter, noch bevor der Bau in geplanter Weise vollständig montiert ist. Diese vielleicht lapidare Feststellung zeigt jedoch, dass nicht erst mit dem Einzug der kolonialen Administration und französischen Unternehmensvertreter oder der anschließenden Nutzung der Maison tropique durch detaillierte Anleitungen und Gebrauchsanweisungen für deren Konfektionierung, Transport und Montage bereits essentielle koloniale Rahmenbedingung berücksichtigt werden. Aus den genannten klimatechnischen Gründen werden die drei Tropenhäuser von verstellbaren Sonnenblenden aus Aluminium, die als äußere, reflektierende Außenhaut und Klimazonentrennung nach Innen fungieren, und schattenspendenden Veranden umfasst. Die (Schiebe-)Türen sind sämtlich nach hinten in die Schattenzone versetzt, die Doppeldachkonstruktion befördert die natürliche Ventilation ebenso wie die verstellbaren Lüftungslöcher in Wänden und Türen. Auch die mit blauem Glas gefüllten (Stanz-) Löcher in den Metallwänden bieten Schutz gegen UV-Strahlung, sollen aber offenbar durch ihre bullaugenähnliche Gestaltung und Farbgebung zugleich die individuelle Kühle-Wahrnehmung befördern. Doch geben diese technischen und gestalterischen Eigenschaften der Tropenhäuser nicht nur detailliert Auskunft über die fast high-end-gerechte klimatechnische Gebäudekonzeption. Sie bestimmen auch die Nutzungs- und Lebensbedingungen in ihnen ganz wesentlich – von den (überhaupt möglichen) Platzierungsmöglichkeiten von (nicht bereits festgelegten) Einrichtungsgegenständen über die tageszeitabhängigen Aufenthaltsorte in oder um die Gebäude bis hin zur individuellen Einstellung von Blenden oder Belüftungsventilen.

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Abbildung 5: Atelier Jean Prouvé, Maison tropique, 1951, Brazzaville a | Seitensicht, Veranda/ Brücke, Dachkonstruktion; b | Maison tropique (1951, Brazzaville), Zustand 1995

a | Aus: Cinqualbre, Olivier (Hg.): Jean Prouvé. La maison tropicale. The Tropical House. Centre Pompidou. Paris: Centre Pompidou, 2009, S. 110, 111; b | Aus: Cinqualbre, Olivier (Hg.): Jean Prouvé. La maison tropicale. The Tropical House. Centre Pompidou. Paris: Centre Pompidou, 2009, S. 117

Über die erhaltenen Fotografien der Häuser in Brazzaville von 1951 erhalten wir auch einen Eindruck einiger weniger Innenräume (Abb. 5b–e). Die Aufnahmen des kleineren Hauses und Informationsbüros der französischen Aluminium-Gesellschaft zeigen einen Warteraum, das Büro des Executives und das Sekretariat mit polierten Edelstahlmöbeln und technoiden Schreibtischutensilien. Wie die modularen Bauelemente beider Häuser sind auch Raumaufteilung und Ausstattungsgegenstände des 16 x 10 Meter messenden größeren Wohnhauses des Ver-

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kaufsdirektors der Gesellschaft in Frankreich geplant und produziert worden. Von Wohnzimmer und Küche, den drei Schlafzimmern und zwei Bädern, die im größeren Haus vorhanden waren, existiert offenbar nur noch die Fotografie eines der Schlafzimmer, im dem lediglich ein Moskitonetz über dem Bett die Präsenz früherer Bewohner belegt. Die Umstände, unter denen in den Tropenhäusern kurz nach deren Errichtung tatsächlich gelebt und gearbeitet wird, lassen sich nur aus der Erinnerung der ersten Bewohner des Brazzaville-Hauses nachvollziehen. Von Schwierigkeiten im Umgang mit der offenkundig standardisierten Bauweise und der nüchtern-funktionalen Inneneinrichtung ist anfangs die Rede, die als zu industriell, zu technisch und letztlich alltagsuntauglich empfunden werden. Auch ein gewisser Mangel an ästhetischer Akzeptanz bei den Bewohnern wird von Prouvé in der Anfangszeit beobachtet und führt letztlich dazu, dass die ursprünglich angestrebte Massenproduktion der Maisons tropiques nie eingeleitet wird und es bei den drei genannten Bauten in Niamey und Brazzaville bleibt.

„H ausraub “

unter postkolonialen

B edingungen

Die eingangs gestellte rhetorische Frage nach dem „zu Hause“ der Maisons tropiques, die nach Medien- und Katalogauskunft angeblich nach New York, London und Paris heimgekommen seien, muss angesichts der vorangegangenen Überlegungen schon hier mit „nirgendwo“ beantwortet werden. Die nach modernen Maßgaben konzipierten, vorfabrizierten Tropenhäuser, die zwar auf die Klimaund Nutzungsbedingungen im kolonialen Westafrika ausgerichtet sind und über die sich sicherlich zumindest im architektur- und designgeschichtlichen Zusammenhang ein Bild modernen, „exotischen“ Bauens verfestigen kann, sind so grundsätzlich vom Gedanken der Mobilität und Fluktuation gezeichnet, dass sie kein Zuhause und als Un-Orte ohnehin keine Heimat haben, noch diese herstellen könnten. Die Idee der Austauschbarkeit, aber auch der bewusst unscharfen Grenzen zwischen Innen und Außen sind zu deutlich an die Vorstellung der Mobilität gebunden. In Prouvés Œuvre lassen sich – einschließlich dieser „Homes for Africa“36 – keine Barrieren zwischen situations- und funktionsorientierten Bauaufgaben, keine erkennbaren Grenzen beim Entwurf von objekthaft aufgefassten Gebäuden, Raummodellen oder auch deren technoiden Ausstattungsgegenständen ausmachen – ungeachtet, ob die Planungen auf Platzierungsorte in Frankreich oder Kolonialafrika zielen. Weder in Frankreich, wo die Maisons tropiques geplant und ihre Einzelelemente fabriziert wurden, noch in London, wohin eines der Brazzaville-Häuser erst nach Kauf, rascher Zerlegung und sofortigem Abtransport mittels Container im

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Jahr 2002, nach anschließender Restaurierung – oder, wie es aus Paris heißt, nach ihrer Rückversetzung in einen „vor-afrikanischen“37 und damit offensichtlich originalgetreueren Zustand – und nach verschiedenen weiteren Zwischenstationen verbracht und ausgestellt werden, um schließlich in New York als „wiederentdecktes“ Kunstobjekt über die Auktion zu gehen, sind sie „at home“. Aber selbst in Niamey oder Brazzaville – wo die drei Gebäude zwar bis Anfang der 2000er Jahre bewohnt, teils geschätzt, teils auch für schlecht bewohnbar erachtet wurden, wo sie dauerhaft genutzt, umgewidmet, neu vermietet, von der UNESCO erfasst, 38 aber nie unter Schutz gestellt39 wurden – scheinen sie nicht beheimatet und werden schließlich ins Ausland verkauft. Bis zur Abbildung der beiden Brazzaville-Häuser in Bernard Renoux’ Publikation Brazzaville la verte von 1996 40 sind Prouvés Tropenhäuser – zumindest für diejenigen, die sie nicht bewohnten oder auch in ihrer Nachbarschaft lebten – offenbar tatsächlich in Vergessenheit geraten. Der von den Pariser Galeristen Philippe Jousse und Patrick Seguin 1998 herausgegebene Katalog über Jean Prouvé, der 18 Abbildungen der Brazzaville-Häuser zeigt und vermutlich erst durch den früheren UNESCO Report auf die Spuren der Häuser in Afrika gesetzt worden war,41 ist zugleich auch die erste Reaktion in Frankreich auf die vorangegangene Veröffentlichung.42 Entscheidend aber ist, dass die beiden Galeristen bei dieser Gelegenheit bereits die „Re-Patriotisierung“ des modernen Architekten und seiner Bauten einleiten. Sie liefern die kolonial geprägte – und bis in aktuelle Restitutionsdebatten aufgefrischte – Argumentation für den Abbruch und Rücktransport nach Frankreich43 und sie prägen zugleich den gesamten Wahrnehmungskontext der Tropenhäuser und ihres Architekten nachhaltig.44 Der offenbar ohne Kenntnisnahme der offiziellen Stellen in Niger und Kongo erfolgte Kauf der Maisons tropiques von Niamey und Brazzaville durch die Pariser Galeristen – zu mehr als erschwinglichen Preisen – und die anschließende Demontage wie Überführung nach Europa erfolgt nach Salah Hassan unter den postkolonialen Bedingungen der „Korruption“ wie ein „Kunstraub bei Tageslicht.“45 Und, so ließe sich noch ergänzen, zudem auch profitierend von der politischen Situation im bürgerkriegsgeschwächten Kongo der Zeit. Der erneute Akt eines kolonialen „Übergriffs“, der sich – wie dies mit Hassan auch die Installationskünstlerin Angela Ferreira und der Kulturtheoretiker und Filmemacher Manthia Diawara in dessen Dokumentarfilm La Maison tropicale (2008) klarstellen – in der Degradierung der Tropenhäuser zu (heimatlosen) „Objekten“ äußert, drückt sich zugleich auch im Mangel an jedweder – zumindest öffentlich zugänglichen – Dokumentation des vorgefundenen Bauzustands vor Abriss, der Zerlegung und des Abtransports durch die französischen Käufer aus:

„Home“ in the West?

Ein Privatkauf, ein privat organisierter Transport und schließlich ein privater Akt der Veräußerung führt zum Kahlschlag an den ehemaligen Standorten. Prouvés Tropenhäuser gelangen erst wieder in öffentliches Bewusstsein, als sie um 2004 in sauber restauriertem Zustand – befreit von allen Spuren zwischenzeitlicher Nutzung an ihren afrikanischen Standorten und nun überdies unter der exotisierenden Bezeichnung „Maison Tropicale“46 – die Ausstellungs- und Auktionsorte in den westlichen Kunstmetropolen erreichen.

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P räsens

Gleichzeitig mit den Vor-Ort-Recherchen der mosambikanisch-portugiesischen Künstlerin Angela Ferreira 2007 für ihren installativen Beitrag zum Portugiesischen Pavillon der Biennale von Venedig entsteht auch Manthia Diawaras erwähnte 58-Minuten-Dokumentation über die Tropenhäuser in Brazzaville und Niamey. Während Ferreiras Spurensuche in Afrika vor allem der ursprünglichen Platzierung und Nutzung der Gebäude gilt, um durch ihre darauf aufbauende Installation begehbarer räumlicher Strukturen in Europa die Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen in den Prouvéschen Häusern in Afrika anzuregen, ist Diawaras Perspektive durch die gleichermaßen disziplinübergreifende wie kritische historische Quellensuche in Afrika bestimmt. Auch er folgt den Spuren der Häuser in Brazzaville und Niamey, endet jedoch in New York und bei den Umständen ihrer Veräußerung. Durch die Befragung von Augenzeugen, Be- und Anwohnern vor Ort entsteht in seiner Dokumentation überhaupt erst ein Bild der aus Brazzaville und Niamey abtransportierten Häuser (Abb. 6a–f). Anfänglich führen die Befragungen der Anwohner noch zu Konfusion. Sukzessive lassen sich aber die exakten Standorte ermitteln, werden Erinnerungen an den baulichen Kontext, die Ausrichtung der Gebäude oder auch an die exakten Positionen der Eingangsbereiche wach. Über die kollektive Erinnerung werden die Bauten erst retrospektiv in situ rekonstruierbar. Die detaillierten Auskünfte über die Anordnung und Lage der Innenräume, die sanitären Einrichtungen oder auch die Funktionsweise der Schiebetüren tragen wesentlich zur (nachträglichen und zwangsläufig rudimentären) Erschließung vor Ort bei. Lebensbedingungen in und um die Häuser konkretisieren sich; die Licht- und Klimaverhältnisse, die wir bislang nur aus dem Planungszusammenhang kennen, werden deutlich. Wir erfahren über die Furcht der Anwohner einem Haus gegenüber, das aus der Distanz betrachtet eine von blauem Licht bestimmte, kühle Atmosphäre verbreitete, aber auch von der veränderten, weniger Angst einflößenden Wahrnehmung der Maison tropique nach deren Betreten.

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Abbildung 6: Manthia Diawara, La Maison tropicale, 2007, Standbilder links: a | Ortstermin Brazzaville (Manthia Diawara, Angela Ferreira, Filmteam), 2007; b+c | Ehemaliger Stanrddort der Maison tropique in Brazzaville, Zustand 2007; rechts: d+e | Vormalige Hausbesitzerin der Maison tropique in Brazzaville, 2007; f | Ortstermin am ehem. Standort der Maison tropique in Niamey (Angela Ferreira, Anwohnerin), 2007

Aus: Manthia Diawara, La Maison tropicale, 2007

Damit ist nun auch die subjektive Wahrnehmung und Wirkung angesprochen, die sich im vis-à-vis zu jenen gebauten Beweisen der Gegenwart der Kolonisatoren im Kongo entfalten konnte. Diawaras Film kommentiert die vor Ort gemachten Beobachtungen und eingeholten Berichte durch die Einbettung einer Deutungs- und Kontextualisierungsebene, die ebenso auf architekturgeschichtliche Zusammenhänge von Moderne und Kolonialismus und die kolonialen Baubedingungen wie

„Home“ in the West?

Abbildung 7: Angela Fereira, La Maison Tropicale, 2007, Installation, Holz, Aluminium links: a + b | Bau der Teile, 2007, Lissabon; rechts: c | Installationsansicht, Lissabon 2007; d | Ausstellungsansicht, Biennale di Venezia 2007, Portugiesischer Pavillon

Aus: http://www.artnexus.comPressReleases_View.aspx?DocumentID=17753 [10.2.2011].

auch die Demontage der Häuser im Kontext postkolonialer Debatten und globalisierter ökonomischer Bedingungen am Beginn der 2000er Jahre rekurrieren – wie dies die Gespräche mit Augenzeugen vor Ort, mit dem Präsidenten des Constitutional Court der Republik Kongo oder dem Ausstellungskurator Ferreiras, Jürgen Bock, ebenso zeigen wie die Kommentare des Kunstwissenschaftlers Salah Hassan. Der Umgang mit Kunst und Kultur und dem kulturellen Erbe in Afrika – zu dem die Tropenhäuser durch ihren performativen Charakter und ihre langjährige Nutzung zweifelsfrei gezählt werden müssen – wird zum eigentlichen Gegenstand einer filmischen Spurensuche. Schon allein dadurch stellt Diawaras Film einen immer noch hoch aktuellen Beitrag, auch zu den gegenwärtigen Debatten um Raubkunst und Restitution dar.47 Achille Mbembes jüngste Beobachtungen in diesem Zusammenhang machen die Absurdität der durch ihn behandelten Argumente der europäischen Restitutionsgegner besonders deutlich, konfrontiert man diese mit den Statements und Verfahrensweisen beim zurückliegenden „Kunstraub“ der Tropenhäuser Prouvés aus Niamey und Brazzaville. Vor allem die nach wie vor

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von kolonialem Geist geprägte Unterscheidung – zwischen dem Eigentums- und dem Nutzungsrecht einerseits und dem Akt der Schöpfung und dem schöpfenden Subjekt anderseits –, die nach Mbembe den ehemaligen Kolonialstaaten unter anderem als juristische Begründung für die Rückgabeverweigerung diene,48 zeigt die Perspektivgebundenheit, aber auch Beliebigkeit der Argumentationsführung, wenn es sich wie im Falle der Tropenhäuser nun um eine scheinbare ‚Heimholung‘ französischen Kulturguts aus Afrika, also gleichsam den Vollzug des umgekehrten Prozesses handelt. Durch die Rekonstruktion und Belebung einer historischen Leerstelle und Diawaras Annäherung an die künstlerische Spurensuche in Angela Ferreiras partizipatorischer Arbeit Maison Tropicale (Abb. 7a–d) im Geist der Memoria eröffnet sich ein erweiterter Raum- und Wahrnehmungskontext für die Tropenhäuser: Im Rückgriff auf Senghors Vokabular erkennt Diawara in Ferreiras Kunst, die neue Fragen zu Globalisierung, Grenzverläufen und transnationalen Strukturen, zu privaten und öffentlichen Räumen, Heimat und Heimatlosigkeit aufwerfe, eine „metissage“ zwischen Europa und Afrika. Ihre begehbare Installation zu Prouvés Tropenhäusern in Afrika begründe „ein poetisches Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt“ und eine neue körperliche Form der Wahrnehmung. Ein „Näheverhältnis“, das weit entfernt von einer rein visuellen Beziehung zum Objekt liege, rücke hier an die Stelle der Distanz: „The Other is no longer someone foreign to us, but ourselves. The object is no longer separated from us through a rhetoric and aesthetics of distanciation, but becomes part of us through an animistic poesis of identification.“49

A nmerkungen 1 | Blunden, Mark: „Open house exhibition of pioneering kit home”, in: Evening Standard UK, 17.01.2008, https://www.standard.co.uk/news/open-house-exhibition-of-pioneering-kit-ho me-6619877.html [20.12.2018]. 2 | Alexander, Kaye: „A visit to Jean Prouvé’s Maison Tropicale”, in: The Achitect’s Journal, 22.02.2008, o. S. 3 | Cinqualbre, Olivier (Hg.): Jean Prouvé,. La maison tropicale. The Tropical House. Centre Pompidou. Paris: Centre Pompidou, 2009, S. 11. 4 | Exemplarisch für spätere Ausstellungen und Publikationen seien genannt: Stoullig, Claire (Hg.): Jean Prouvé. Ausst.-Kat. Musée des Beaux-arts, Nancy u. a., Paris u.a., 2012; Bergdoll, Barry/Christensen, Peter (Hg.): Home Delivery: Prefabricating the Modern Dwelling, Ausst.Kat. Museum of Modern Art New York, New York, Basel u. a. 2008. In dieser Ausstellung wurden einzelne konstruktive Bauteile von Prouvés Tropenhäusern Gegenstand kontextualisierender architekturgeschichtlicher Herleitungen der Fertighaus-Ansätze.

„Home“ in the West? 5 | Vgl. Sulzer, Peter: Jean Prouvé. Oeuvre Complète, Complete Works, Bd. 3: 1944–1954, Basel/Boston/Berlin 2005, S. 125–133. 6 | Vgl. Cinqualbre 2009, S. 31; Diawara, Manthia: „Architecture as colonial Discourse. Angela Ferreira’s Maison Tropicale”, in: nka. Journal of Contemporary African Art, 32/33.2008, S. 20–27, 22 (im Folgenden zitiert als Diawara 2008/1); Fischer, Volker: „Jean Prouvé“, in: Heinrich Klotz/Volker Fischer (Hg.), Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion, Ausst.-Kat. Deutsches Architekturmuseum Frankfurt a. M./München 1986, S. 291–295. 7 | Vgl. Fischer 1986, S. 291–295. 8 | Siehe u. a. die Barraque démontable von 1938. Seguin, Laurence/Seguin, Patrick (Hg.): Baraque militaire 4 x 4, Paris 2016, S. 14 f. 9 | Franz Graf erkennt in diesen, in Prouvés Vortrag („Il faut maisons usinées“, 1946) näher erläuterten Entwicklungen die „Industrialisierung des Bauens“, nach der das „industrielle Verfahren in der Architektur“ auch die „Qualität der Nutzung“ bestimme. Graf, Franz: „Das Haus aus der Fabrik ist ein komfortables Haus“, in: Alexander von Vegesack (Hg.): Jean Prouvé – die Poetik des technischen Objekts, Ausst.-Kat. Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2006, S. 290–301, hier S. 290; vgl. Prouvé 1946, in: Vegesack 2005, S. 176–184. 10 | Auf die Zusammenhänge von industriellen und militärischen Bauaufgaben zu den (teils privaten) vorgefertigten Haustypen wurde bereits hingewiesen; vgl. u. a. Sulzer 2005, S. 125; Lemonier, Aurélien: „La Maison Tropicale. Exportation et deplacement”, in: Stoullig 2012, S. 345; Seguin/Seguin 2016, S. 14 ff. 11 | Prouvé, Jean: „Il faut des maisons usinées“ (conférence prononcée à Nancy le 6 février 1946), Vorwort von Catherine Coley, Paris 1999. Auch Prouvés Entwicklungen und detaillierte Angaben zu Materialmengen, Gewicht und Berechnungen zu fertigungstechnischen Bedingungen und Transportkosten der Fertighäuser wie Tropenhäuser fußen auf derartigen Analysen des architektonischen Status quo Mitte der 1940er Jahre. 12 | Manthia Diawara, in: ders.: Maison Tropicale, Dokumentarfilm, 2008 (im Folgenden zitiert als Diawara 2008/2). 13 | Prouvé, 1946, S. 176–184. 14 | Vgl. Vegesack 2006. 15 | Mit seinen architektur- und ausstattungsübergreifenden Komplettentwürfen zeichne sich bei Prouvé ein Wandel von Architektur zum Industrial Design ab. Klotz, Heinrich (Hg.): Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion, München 1986, S. 291. 16 | Für die Innenausstattung schulischer, militärischer und öffentlicher Einrichtungen hatte Prouvé schon in den 1930er Jahren auf serielle Fertigung angelegte, modulare Möbel (Betten, Tische, Sessel u. a.) und funktionale Büromöbel entworfen, deren auch auf den Außenbau abgestimmte Materialien bewusst zu einem geschlossenen Gesamtbild beitragen sollten. Vgl. Sulzer, Peter: Jean Prouvé. Oeuvre complète/Complete Works, Bd. 2 u. 3, Basel/ Boston/Berlin 2003/2005.

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Angela Stercken 17 | Le Corbusier hatte 1925 seine Idee einer standardisierten, auf Wirtschaftlichkeit angelegten Serienproduktion mit dem Pavillon de l’Esprit Nouveau in Paris vorgestellt. Prouvé arbeitete in den 1930er Jahren im Rahmen verschiedener Projekte zeitweise mit dem Schweizer Architekten zusammen. Vgl. Eberhard, Katrin: Maschinen zuhause. Die Technisierung des Wohnens in der Moderne, Zürich 2011. 18 | Cinqualbre 2009, S. 17–29. Siehe auch Werkverzeichnis Nr. 1093, 1093.1–6, Sulzer 2005, S. 124 ff. 19 | Graf 2006, S. 290. 20 | Jean Prouvé: „Il faut maisons usinées“ (1946), in: Vegesack 2005, S. 176–184. 21 | Zur Bedeutung der „maisons usinées“ für die späteren Tropenhäuser vgl. auch: Cinqualbre 2009, S. 25 ff. 22 | Cinqualbre spricht hier nicht von Häusern oder Behausungen, sondern von „Objekten“. Cinqualbre 2009, S. 18 f. 23 | Vgl. Lemonier 2012, S. 345. 24 | Die Anfrage wird vom öffentlichen Stadtplaner für die Region Niger, Paul Herbé, und den Architekten Jean Demaret und Jean Le Couteur an Prouvé herangetragen. Vgl. Cinqualbre 2009, S. 32. 25 | Enjolras 2006, S. 208. 26 | Siehe Werkverzeichnis Nr. 1094.1, 1094.1,6–1,11; Sulzer 2005, S. 129–131. 27 | Verwiesen sei hier beispielhaft auf: Enjolras 2006, S. 208; Diawara 2008/1, S. 24; vgl. Marx, Christoph: Geschichte Afrikas. Von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2004, v. a. S. 248. Zur Urbanisierungsgeschichte vgl. u. a.: Anderson, David M./Rathbone, Richard (Hg.): Africa’s Urban Past, Oxford/Portsmouth 2000, Coquery-Vidrovitch, Catherine (Hg.): Histoire des villes d’Afrique noire. Des origines à la colonisation, Paris 1993. Gugler, Joseph/Flanagan, William G.: Urbanization and Social Change in West Africa, Cambridge 1978. 28 | Weitere, den Kriegsumständen geschuldete Forderungen lagen im Widerstand des besetzten Frankreich gegen Deutschland und der Rekrutierung afrikanischer Soldaten für den Zweiten Weltkrieg. Vgl. Diawara 2008/1, S. 23. 29 | Vgl. die jüngeren Ausstellungsorte in New York, London u. a. O. (s. Abb. 1a–c). 30 | Mit der Aufgabenstellung knüpfte man an die frühere, von administrativer Seite exakt formulierte Auftragsbeschreibung für „koloniale“ Seminargebäude an der Universität von Dakar 1946 an. Cinqualbre 2009, S. 32. 31 | Mit dem ersten für Überseegebiete konzipierten Projekt der „cabine colonial à air climatisé“ und dem darauf aufbauenden „pavillon colonial démontable“ hatten sich auch bereits solche klimazonenspezifischen Planungen ab 1939 vorbereitet. Stoulling 2012, S. 345. 32 | Zur maschinellen Produktionsweise stellt Prouvé 1945 fest: „[…] it is not a question of manufacturing one or more small components of a house that is then to be assembled; all the components must be similar to those of a machine that is to be assembled entirely me-

„Home“ in the West? chanically, without any need to manufacture anything whatsoever on site […].“, zit. nach: Sulzer 2005, S. 17. 33 | Siehe Prouvés Ausführungen zur Transportorientierung der Häuser, in: Chavane, Blandine (Hg.): Jean Prouvé. 1901–1984. Constructeur, Ausst.-Kat. Musée des Beaux-Arts et Galerie Poirel, Paris 2001, S. 93. 34 | Vgl. Cinqualbre 2009, S. 29. In dieser, wie auch in den eingangs geschilderten Ausstellungsrezensionen, bleibt es allerdings bei dem Aspekt des „Exportprodukts“ – ohne die politischen und wirtschaftlichen Interessen in diesem Zusammenhang weiter zu berücksichtigen oder die anschließende Gebäudenutzung und Umwidmung vor Ort einzubeziehen. 35 | Das Werkverzeichnis Prouvé verzeichnet „Deux maisons ‚tropique‘ à Brazzaville“, 1950/51 und „Bâtiments coloniaux/tropicaux“, 1949–51, deren in Brazzaville realisierte Varianten (10 x 20 und 10 x 14 Meter) auf dem Prototyp (Niamey) basierten. Sulzer 2005, S. 132, 133, Nr. 1094.2, 1094.3, vgl. 1095. 36 | Die Übertragung des Titels von Dan Grahams Eigenheimprojekt Homes for America (1965) auf die Tropenhäuser Prouvés erscheint durch deren Ableitung aus unterschiedlichen Nutzungszusammenhängen ebenso naheliegend wie mit Blick auf die tatsächliche Gebäudenutzung während und nach der Kolonialzeit. Siehe u. a. Osborne, Peter (Hg.): Conceptual Art, London 2002, S. 134; Stemmrich, Gregor: Dan Graham, Köln 2008. 37 | inqualbre 2009, S. 120. 38 | Halbertsma, Marlite/van Stipriaan, Alex/van Ulzen, Patricia (Hg.): The Heritage Theater. Globalisation and Cultural Heritage, Newcastle upon Tyne 2011, S. 15 f. 39 | Christoph Rausch verweist dazu interessanterweise auf einen Jahresbericht des International Council on Monuments and Sites (ICOMOS 2001), in dem für moderne europäische Architektur in Afrika der Status „shared colonial heritage“ vorgeschlagen werde. Rausch, Christoph: „Modern Trophy. Global Actors in the Heritage Valorisation of the Maisons Tropicales“, in: Malite Halbertsma/Alex van Stipriaan Patricia van Ulzen (Hg.), The Heritage Theatre. Globalization and Cultural Heritage, Newcastle 2011, S. 113–132, hier S. 114. 40 | Renoux, Bernard/Toulier, Bernard: Brazzaville la verte – Congo, Paris 1996. 41 | Halbertsma u. a. 2011, S. 15 f. 42 | Cinqualbre 2009, S. 117; Rausch 2011, S. 117. 43 | Abbruch und Rückführung seien die letzte Chance, die Tropenhäuser zu erhalten, der „Umzug“ erleichtere die Forschung und der Abbau sei durch die mobilen Eigenschaften der Häuser naheliegend. Halbertsma u. a. 2011, S. 16. 44 | Siehe Fußnoten 1–3. 45 | Interview mit Salah Hassan, in: Diawara 2008/2. 46 | Erst im Zuge der Veräußerung und Ausstellung der Tropenhäuser Anfang der 2000er Jahre wird die bis heute fast ausschließlich gebrauchte Bezeichnung „Maison Tropicale“ fassbar. Prouvé selbst nutzt zunächst den Titel „Maison colonial“, im Zuge der Planungen für Brazzaville ändert sie sich zu „Maisons tropiques“. Es scheint naheliegend, dass durch die

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Angela Stercken neuere Namensvariante die Attraktivität der Häuser für ein westliches Kunstpublikum gesteigert werden sollte. 47 | In dem oben erwähnten Zeitschriftenbeitrag greift Diawara auch den Aspekt der Restitution – hier in Ferreiras künstlerischer Arbeit – bereits auf. Diawara 2008/1, S. 27. 48 | „En droit fil du cynisme colonial, on introduit en revanche une césure entre le droit de propriété et de jouissance d’une part, et l’acte de créer et le sujet qui crée de l’autre. On fait notamment valoir qu’il ne suffit pas d’avoir créé quelque chose pour en être automatiquement le propriétaire. Et tout comme créer une œuvre n’est pas l’équivalent de la posséder, l’origine d’une œuvre n’est pas une condition suffisante pour en réclamer le droit de propriété.“ Mbembe, Achille: „La vérité est que l’Europe nous a pris des choses qu’elle ne pourra jamais restituer“, in: Le monde Afrique, 1.12.2018, https://www.lemonde.fr/afrique/ article/2018/12/01/achille-mbembe-la-verite-est-que-l-europe-nous-a-pris-des-choses-quelle-ne-pourra-jamais-restituer_5391216_3212.html [12.1.2019]. 49 | Diawara 2008/1, S. 20 ff.

„The dark side of the moon“ Freiheit und Raum in Calvinos Blick auf unsichtbare Städte Vittoria Borsò

Labyrinthe der Freiheit Obwohl die Freiheit kein explizites Thema im Œuvre von Italo Calvino darstellt, ist sie die „andere Seite“ der Labyrinthe, in denen der moderne Mensch durch die von Ökonomie, Politik und Medien diktierten Lebensstile und Wahrnehmungsformen eingesperrt ist. Il barone rampante (1957) nimmt zwar noch auf die Freiheitsideale der Aufklärung Bezug, doch wird durch den vom Baron gewählten Lebensstil die abstrakte Dimension dieser Ideale kritisch aufgedeckt: auf den Bäumen, d. h. in der Höhe der Abstraktion, mag das Ideal eines freien Lebens noch erreichbar erscheinen. Die Höhe vermittelt eine andere Optik auf die irdischen Dinge, die sich in all ihrer Nichtigkeit zeigen. Doch dieser „distacco“ vom irdischen Leben geschieht nicht ohne Kosten: „Distacco“ heißt auf Italienisch zugleich Ablösung, Abwendung und Abstand, und dies impliziert eine Negation vitaler Kontexte oder gar sensorischer Reize.1 Im Gegensatz zum Baron ist der naive Handwerker Marcovaldo aus dem gleichnamigen Roman Marcovaldo, ovvero le stagioni in città (1963) zwar tief im irdischen Leben verankert, seine Vernunft ist aber von den Mythen der Moderne gesteuert; er kann zwischen Zeichen und Wirklichkeit nicht unterscheiden. Calvino erarbeitet an dieser Figur nicht nur die in der Moderne radikalisierte Spannung zwischen der Macht der Zeichen und der Konsistenz der Welt, sondern auch bereits die Tragweite der Macht, die von Ökonomie, Medien und Politik auf das konkrete Leben des Einzelnen ausgeübt wird. In Marcovaldo manifestiert sich Calvinos eigene (postmarxistische) Kritik an der Dogmatik der italienischen Linken. Die Endlichkeit und Kontingenz des Menschlichen, seine Körperlichkeit, kohabitieren mit abstrakten kulturellen Zeichen. Das Böse ist dem Guten inhärent, die Kultur der Natur, der Rückschritt dem Fortschritt – eine Ambiva-

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lenz, die bei Marcovaldo in emblematischen Bildern zum Ausdruck kommt: die weißen, schönen und giftigen Pilze in den Gärten der Stadt oder die „reine“ Luft im Grünen außerhalb der Stadt, was sich als Sanatorium für Lungenkranke erweist usw.. Ambivalenz und Anomalien der modernen Gesellschaft werden analysiert, deren transhistorischer Bezug zu emergenten neuzeitlichen Gesellschaften schon durch den Namen des Protagonisten markiert wird – auch Marcovaldo, und nicht nur die Trilogia degli antenati, verweist intertextuell auf die Epik, nämlich auf den Morgante Maggiore von Luigi Pulci (1478). Hier ist Marcovaldo der heidnische Riese, der in Chiarella verliebt ist, aber von Orlando getötet wird (Canto XII, 41–49). Freiheit kann also nicht das Gegenteil von Abhängigkeit oder gar Sklaverei sein. Weder die Umkehrung des Herr-Knecht-Verhältnisses, in der Hegel den Weg zur freien Bestimmung eines autonomen, vernünftigen Subjektes sah, noch das Kantische reflexive Urteil können angesichts des Regierens des Lebens durch ökonomische, mediale und politische Techniken der Gouvernementalität 2 die Freiheit ermöglichen. Die Analogie von Calvino und Foucault liegt in diesen Jahren in ihrer gemeinsamen postmarxistischen Basis, und die Nähe wird während des Pariser Aufenthalts (1967–1980) durch die Bedeutung verstärkt, die die Tel-QuelGruppe für beide hatte. Ab den 70er Jahren wird Calvinos Analyse der Spannung zwischen den Dispositiven der Macht und der Freiheit auf epistemologischer Ebene geführt. Palomar (Palomar, 1983), eine intellektuelle Version des Exzentrikers, thematisiert das Problem der Wahrnehmung und des Blickes, was schon der auf das Observatorium Mount Palomar in Süd-Kalifornien bezogene Name konnotiert. Das Dilemma von Palomar (und Calvino) ist die richtige Einstellung des Blickes. Beispielsweise steht der Protagonist bei seinen „Vacanze in città“ in ständigem Widerstreit zwischen einer Fokalisierung „von der Terrasse“ und „auf der Terrasse“, also zwischen Ferne und Nähe, der Ferne einer Vogelperspektive und der Nähe eines mäandrierenden Blickes, der den Arabesken des Vogelflugs um die Terrasse folgt. Calvino nimmt die topologische Analyse des Raums vorweg.3 Es ist eine Entscheidung zwischen erkennen wollen und sich dem flüssigen Meer der Dinge und ihrer Temporalität hingeben – im Fluss der Welle, die Palomar in der ersten Erzählung festhalten möchte. Und als Palomar am Ende des Buchs meint, die Welt zu erkennen und den Fluss zu arretieren, so begegnet er dem Tod. Diese scheinbar spielerische Erzählung ist ein Narrativ über die im Sichtbaren enthaltene Unsichtbarkeit. Gegen die Intention der Figur, welche die Welt im Modus einer Rechenmaschine klassifizieren möchte, gibt sich der Erzähler mehr und mehr dem Genuss der Digressionen auf der Oberfläche der Dinge hin, der einfachen Beobachtung der sichtbaren Formen: der Diversität der Pflanzen, Vögel, anderer Terrassen und Dächer. Die Serialisierung der Dinge sagt nichts mehr, aber auch nichts weniger, als dass die Oberfläche der Dinge unerschöpflich ist, so die

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letzte Erkenntnis des in die „Tiefe“ der Oberfläche nicht vordringen könnenden Palomar. Die Beziehung mit der Welt gestaltet sich als ständige Entscheidung zwischen noetischem Wissen und sensiblem Abtasten der Dinge. Die Sprache selbst oszilliert zwischen beiden Seiten. Die unterschiedlichen ästhetischen Strategien (von der Phantastik der Trilogia degli antenati, über die Ironie der Schelmenfigur Marcovaldo bis hin zu den Diskurslabyrinthen der sog. postmodernen der Spätromane) spielen auf eine mimetische Intransparenz der Zeichen an, die aber weder zum postmodernen Entzug von Welt, noch zu einer Ästhetisierung der Freiheit im Sinne der Freiheit literarischer Sprache führt. Über den Weg der Aisthesis bietet vielmehr Calvino eine komplexe Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Narration. Schon in Il midollo del leone (1955) wird die Anregung eines „scatto etico“ mittels formaler Experimente formuliert, welche zur Verantwortung einladen, verstanden als antwortende Handlung gegen das Gefängnis der Zeichenlabyrinthe. So hat die sprachliche Kombinatorik implizit eine eigene Politik und Ethik. Dies betont Calvino in La sfida al labirinto (1962), wenn er den Stil4 als ein epistemologisches Instrument zur Darstellung der Komplexität der heutigen Welt bezeichnet.5 Die Figur des Labyrinths wird zur Allegorie einer das kognitive Subjekt depotenzierenden, komplexen Dingwelt, die nicht mehr anthropozentrisch gedacht werden kann. Entgegen der Entscheidung der Postmoderne, etwa der „Gruppe 63“, der auch Umberto Eco angehört, sich in den Diskurslabyrinthen einzurichten, und auch entgegen mancher Abstraktionen des Nouveau roman nimmt Calvino die Herausforderung der Materialität des Seienden an und lehnt die Evasion im Sinne der bloßen Freiheit einer abstrakten linguistischen Virtuosität ab. Die sprachliche Kombinatorik leistet verschiedene Funktionen: Sie manifestiert erstens die Diversität und das materielle Gewicht der Existenz. So ist zum Beispiel die Konsistenz der Welt und deren Undringlichkeit inmitten von einem „Meer von Objektivität“ zwar eine Begrenzung der Freiheit des Subjekts, aber auch eine Herausforderung. In Lezioni Americane10, seinem Vermächtnis für eine Ästhetik der Literatur, hat Calvino ein letztes Kapitel über „Consistency“, die sechste ästhetische Figur, verfassen wollen; dieses Kapitel ist aber durch seinen plötzlichen Tod nie geschrieben worden. Die weiteren Figuren dieses Buchs, nämlich „Lightness“, „Quickness“, „Exactitude“, „Visibility“ und „Multiplicity“ stehen in einer paradoxalen Beziehung zueinander: Die Leichtigkeit des Humors benötigt zum Beispiel die Schwere der Melancholie, sagt Calvino mit Bezug auf Panofsky und Saxl.11 Die Geschwindigkeit der Zeiten im Imaginären muss als Gegenprinzip das Gewicht der konkreten Dinge im Raum haben.12 Der Widerstreit von sprachlicher Abstraktion und Konsistenz der Welt wird seine Narration durchsetzen: Je virtuoser das Spiel mit den Diskursen (Se una notte d’inverno un viaggiatore, 1979), desto spürbarer das

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Gewicht des Seienden, das in der Materialisierung der Zeichen – in ihrer materiellen Dichte – aufscheint.13 Zweitens verkörpert die „Blindheit“ des Subjekts auf der Suche nach einem Ausgang aus dem Labyrinth der Zeichen das Problem der Visualität, die Calvino ins Zentrum seiner ästhetischen Experimente legt. So leistet die Wahrnehmung „von der Nähe“14 eine kritische oder dissidente Positionierung im Raum, die die Präsenz des Unsichtbaren verspüren lässt.15 Die Visualität ist die Dimension, in der sich das Gefängnis von Zeichen und Freiheit einen Kampf liefern. Die Freiheit gehört also zu der spürbaren, doch in den Diskurslabyrinthen nicht sichtbaren Seite der Existenz, für die es sich zu kämpfen lohnt. Der moderne Mensch bewohnt Textlabyrinthe, von denen er den Masterplan verloren hat. Die literarische Sprache ist eben jene detaillierte Karte des Labyrinths, die, wenngleich sie uns nicht befreit, doch das Labyrinth herausfordert.16 Eine derartige „detaillierte Karte“ entfalten in Le città invisibili (1972) die vielen Gesichter des urbanem Raums, und hier unternehme ich mit Calvino einen Dialog mit Jürgen Wiener, insbesondere in Bezug auf seine Arbeiten zu Architektur und Baukunst.17

D ie dunkle S eite des M ondes : Z ur H erausforderung der Visualität Schon in Marcovaldo (1963) dient der Mond dazu, die Einsperrung des Menschen im Dickicht der Zeichen und die Versperrung des Blickes auf die Natur darzustellen. Ironisch bearbeitet Calvino in der Erzählung La luna e GNAC das Problem, dass die moderne Kultur den freien Blick auf die Natur versperrt – hier als der freie Blick auf den Mond vom Dach der Mansarde inszeniert, in der die Familie von Marcovaldo lebt. Doch dekuvriert der ironische Erzähler, dass der vermeintlich freie Blick auf den Mond (oder auf die Natur) nichts anders ist als eine Produktion des Imaginären. Dazu gehören die Mondscheinstimmung der pubertären Tochter, die Liebesblicke zwischen dem jungen Sohn und der Angebeteten am Fenster gegenüber, die Fantasie der kleinen Kinder Marcovaldos, die im Mondschein dunkle Räubergeschichten imaginieren, während nur der naive Vater glaubt, mit Klassifizierungen der Sternbilder seinen Kindern die Realität am Himmel zeigen zu können. Diese Tätigkeiten werden alle 20 Sekunden durch eine sich erleuchtende Neonlicht-Reklame mit der Schrift SPAAK COGNAC unterbrochen, die mit ihrem Ende, nämlich „GNAC“ den freien Blick auf den Mond versperrt. Angeregt von den imaginierten Kämpfen mit den Räubern zerstören die Kinder die Reklame mit ihren Schleudern, sodass die Mansarde den freien Blick auf den Himmel zurückerlangt. Ein Konkurrenzunternehmen engagiert Marcovaldo (und seine Kinder), damit sie die Leuchtreklame und das öffentliche Bild von SPAAK

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COGNAC bis zum Ruin des Unternehmens mit den Schleudern nach und nach zu zerstören. Doch Marcovaldos doppelter Freiheitstraum, nämlich einen freien Blick auf den Mond zu haben und von der Armut befreit zu werden (durch das Honorar des Konkurrenzunternehmens) wird vom unaufhaltsamen Sieg medientechnologischer und ökonomischer Macht der Zeichen bitterlich vereitelt (am Schluss montiert die Konkurrenzfirma die eigene Leuchtreklame und versperrt den Blick auf den Himmel vollständig). Calvino setzt sich mit der technologischen und medialen Macht der Moderne mit Blick auf die in den 60er Jahren einsetzende Urbanisierung Italiens kritisch auseinander und weist dabei voraus auf spätere technologische und urbane Entwicklungen, etwa auf die Lichtverschmutzung der Städte oder die Macht der Bilder in der sozialen Kommunikation. Aber gerade die Einsperrung in den Labyrinthen von Bildern und Sichtbarkeiten steigert die Zauber des Unsichtbaren. Dies zeigt sich in der Erzählung. Je mehr das Sichtbare wächst, desto mehr sehnt sich der Mensch nach dem Unsichtbaren, das die Imagination anregt. Darin liegt die Faszination der „dunklen Seite des Mondes“, auf die Calvinos Erzählung aus dem Jahre 1963 verweisen mag. Diese Seite schien zwar erobert und in die Sichtbarkeit eingeholt worden zu sein, als 1959 die erste sowjetische Sonde Luna 3 Bilder der Mond-Rückseite auf die Erde sandte. Doch bleibt die andere Seite des Mondes für den Blick des Menschen auf der Erde unerreichbar – und dies auch noch heute, obwohl sie am 02.01.2019 durch die chinesische Sonde Chang’e 4 betreten worden ist. Sie wird nicht aufhören, ein Projektionsort jener Verbindung von Dunkelheit und melancholischer Stimmung zu sein, die 1973 vom concept album der Gruppe Pink Floyd – mit der musikalischen Zusammenführung der Stimmen der Natur beziehungsweise des Kosmos mit den Klängen des technischen Zeitalters – interpretiert worden ist.18 Das Stück „Brain Damage“ bezog die andere Seite des Mondes auf die dunklen Ahnungen eines präreflexiven Anderen, das oft mit Wahnsinn verbunden wird. Die Sehnsucht nach der dunklen Seite des Mondes bezieht sich also auf keinen transzendentalen Himmelskörper; diese Unsichtbarkeit ist vielmehr profund irdisch und dem Leben immanent. Sie interpretiert die Unsichtbarkeit inmitten der technomedialen Explosion der Sichtbarkeit. Speziell der Mond mag für Calvinos weiteres Schreiben auch in anderer Hinsicht von Relevanz sein. Denn die Landung auf dem Mond durch Apollo 8 im Jahr 1968 hat den Blick auf die Erde verändert und das Bewusstsein darüber gestärkt, dass der Raum ein Effekt des Blickes und eine mediale Produktion ist. Bei der Wahrnehmung eines Ortes bleibt jeweils die andere Seite im Dunkel. In Le città invisibili zeigt dies Calvino durch Vexierbilder von realer Architektur und imaginärem Raum der Stadt. Noch heute inspirieren die 55 Miniaturen unbekannter Städte, über die Marco Polo in der Rahmenhandlung dem mongolischen Kaiser Kublai Kahn berichtet, unzählige Projekte von Architekten und Raumkünstlern.19

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Und anders als die Literaturwissenschaft, die Le città invisibili als postmodernes Pastiche und als Allegorie einer Anthropologie von Widersprüchen und Paradoxien oder als Metaroman zum Erzählen interpretiert hat, lassen sich Künstler von diesem Roman zu konkreten politischen Lektüren des Raums anregen, etwa mit Videoinstallationen, die die antifunktionalistischen Stadtentwürfe der Situationisten, wie etwa Henri Lefevbre, in den 50er Jahre inszenieren.

K ippdynamik : P erspektive

als optisches

D ispositiv

Le città invisibili sind ein Vexierbild 20 zwischen Schema und Diagramm. Das Schema abstrahiert von allen sensorischen, materiellen Bezügen; seine Wahrheit wird von dem bestimmt, was im Zentrum steht und – in dem es aus dem Raum sein eigenes Territorium macht. Das Diagramm ist dagegen ein materielles Kraftfeld zahlreicher lokaler Vektoren, die das Ganze bestimmen und verändern können, so Michel Serres.21 Schon die Architektur des Romans ist ein Kippbild von Schema und Diagramm. Die neun Kapitel des Romans erscheinen wie Figuren, die in einem Schach-Brett gelagert sind. Die Kapitel eins und neun enthalten zehn Stadtminiaturen, während die Binnenkapitel zwei bis acht nur fünf dergleichen umfassen. Jede Stadt hat einen thematischen Bezug, der im Titel markiert ist.22 Auf den ersten Blick präsentiert sich das Arrangement als dialektisches Netz und als cartesianischer, geometrischer Raum: eine lineare Verkettung; Sequenzen mit einem festgelegten Determinationsfluss, der in einer einzigen Linie von eins bis neun geht.23 Ähnliches scheint auch für die thematischen Kerne zu gelten.24 Wenn wir aber die lokale Streuung der Begriffe und die Kraft der einzelnen Positionen anschauen, die im einfachen Gitter nicht bewertet werden,25 so müssen wir die Linearität, d. h. die räumliche Statik und temporale Irreversibilität verlassen: Wir merken nämlich, dass Anfang und Ende ein Spiegelbild von jeweils zehn Kapiteln sind, die die thematischen Kerne von „Erinnerung, Wunsch, Zeichen und Fragilität“ jenen von „Tod, Himmel, kontinuierlichen und verborgenen Städten“ entgegenstellen. Die Struktur des Romans wird damit durch eine Falte verdoppelt und weist darauf hin, dass jede Seite eine andere verbirgt. Durch Reversibilität und Rückkoppelungen zwischen den Seiten können die geometrischen Figuren des Schemas umkippen und zu vektorialen Kräften des Diagrammas werden: Schauen wir das Zentrum an, so sehen wir ein Schema; betrachten wir aber die lokale Streuung der Kräfte, so offenbart sich die diagrammatische Netzwerk-Dynamik.26 Wie bei Borges’ Erzählung Der Garten der sich verzweigenden Pfaden,27 entscheidet die an einem Ort getroffene Wahl die gesamte Raumdynamik. So kann jeder Ort zum Ausgangspunkt mehrerer Determinationen werden, und zwar nach ihrer Qualität,

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der Art ihrer Kraft und nach Quantität ihrer Wirkung. Die Struktur des Romans entspricht so der physischen Dynamik eines Netzwerkes, in der, wie Serres zu Recht meint, das kartesianische Tableau nur ein Spezialfall ist, der aus der Projektion einer eingeschränkten Perspektive stammt. Während die Geometrie des Schemas stabil ist, handelt es sich beim Netzwerk um „ein in ständiger Entwicklung begriffenes Gebilde, das eine instabile Machtsituation darstellt.“28 Verdoppelungen und eine Vexier- beziehungsweise Kippdynamik werden in Città invisibili auf die wichtigsten Phänomene der Kultur mit der jeweiligen Kehrseite bezogen: Gedächtnis/ Erinnerung, Wunsch/Begehren, Zeichen/Signatur und Stabilität/Instabilität oder Fragilität, Leben/Tod. Ab der Mitte, nämlich dem fünften Kapitel, häufen sich topografische Lokalisierungen: oben (der Himmel), unten (die Toten), aber es wiederholen sich auch Spiegelbilder, die die Oppositionen entdifferenzieren, und auch die Verborgenheit wird zunehmend zum Thema, um das Sichtbare infrage zu stellen. Das sechste Kapitel in der Mitte des Romans enthält eine Stadtminiatur mit einer mise en abyme des optischen Dispositivs, das das Kippen des Raums zwischen homogener Topografie und topologischem Netz verantwortet. Es ist die Miniatur von Eudossia, Εὐδοξία (Eudoxia), zusammengesetzt aus εὐ (eu, „gut“) und δόξα (doxa, Meinung; im Christentum = „gloria“, Herrlichkeit Gottes). Erst diese Stadt wird mit dem Himmel verbunden („Le città e il cielo 1“). Das disegno oder Schema der Stadt ist in symmetrischen Figuren geordnet, die ihre Motive entlang gerader und zirkulärer Linien entwickeln. Wenn man sich nicht vom Gewimmel der Leute ablenken lässt, so Calvino, kann man das disegno,29 das Schema sehen. Doch ist der Inhalt des disegno nicht die civitas dei, sondern eine Abstraktion, ein Bild von der Ferne. Tatsächlich hat das von weitem gesehene disegno zwar Orientierungsfunktion – es kann den Weg zeigen, wenn man verlorengegangen ist. Doch wenn man es aus der Nähe betrachtet, so bekommt das disegno eine „figurale“ Dynamik,30 und man entdeckt die Arabesken. Die Topografie transformiert sich in einer „Biomappe“, einer topologischen Dynamik vieler singulärer Lebensskripten: „Ogni abitante di Eudossia confronta all’ordine immobile del tappeto una sua immagine della città, una sua angoscia, e ognuno può trovare nascosta tra gli arabeschi una risposta, il racconto della sua vita, le svolte del destino“. 31

Calvino zeigt im Teppich die zwei Dimensionen, die die Kunstgeschichte gegeneinander verhandelt hat, und die auf zwei Weisen des Verhältnisses von Bild und Betrachter verweisen: Disegno und Figura oder Schema und Diagramm. Wie bei Aleph von Borges, wird von Calvino anhand des Teppichs ein topologisches Ereignis der Sichtbarkeit inszeniert, welches das Verhältnis von Oberfläche und Tie-

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fe, Ferne und Nähe sowie Lokalisierung und Lagerung betrifft. Das disegno entspricht einer göttlichen Idee, sagt das angerufene Orakel; die in der Materialität des Teppichs eingelassenen Arabesken sind dagegen die lokalen Einsatzpunkte für die Produktion von singulären Städten, die sich anhand der Qualität unterschiedlicher Orte im Netzwerk der Begegnungen des eigenen Lebens ergeben. Das göttliche disegno, d. h. die kartografische Mappe der Stadt beziehungsweise der repräsentierte Raum von Planern – um mit der Terminologie von Henri Lefebvre zu sprechen – wird zu einer je singulären Biomappe.32 Die Kippfigur des Raums hat also mit einem doppelten optischen Dispositiv zu tun: die göttliche Stadt im disegno, also die Geometrie der Stadt in der Planung, die wie komplex auch immer, eine Abstraktion, eine Entkörperlichung, eine Abtragung situierter topologischer Dynamik ist, und auf der anderen Seite die dichte Textur der Arabesken auf der Oberfläche der urbanen Architektur, in der sich das singuläre Leben und die Verflechtung von Leben und Stadt ergeben. Diese können das disegno verändern. Das meint wohl die Qualität „unsichtbar“ im Titel von Calvinos Roman, nämlich, dass die Sichtbarkeit von der topologischen Dynamik und der topografischen Positionierung im Raum abhängig ist. Deshalb kommt Calvino erst am Schluss zu den „Verborgenen Städten“. Diese werden erst dann sichtbar, wenn man bereit ist, die Multiplizität der Perspektiven aus der Nähe zu betrachten und sich mit der Umwelt in Relation zu setzen.33 Die topologische Analyse von Calvino stimmt dabei mit den Prinzipien des sogenannten Spatial Turn überein, insbesondere der Spannung zwischen der Vogelperspektive und dem Gehen in der Stadt34 und den drei Dimensionen der Produktion von Raum: 1) statische, strukturierte Repräsentation des Raums der Planer, 2) topologischer Raum der Repräsentation, also der auch bei Calvino bestehende dynamische, materielle Raum des Textes,35 3) differenzieller Raum des Sozialen, ein Raum von Widerständen und Transformationen.36 Letzteres ist im Fall von Calvino der unsichtbare, verkörperte Teil des Raums, in dem soziale Relationen die planerische Abstraktion mit Leben füllen.

D ie

andere S eite des M ondes oder die vergessene S eite in der westlichen K ultur : Körperlichkeit und M aterialität In den Miniaturen von „Le città e gli occhi“, die am Ende von Kapitel drei beginnen und im Kapitel sieben letztmalig auftreten, wird die Frage, ob das Auge die materielle Erfahrung der Stadt möglich macht, deutlich verneint. Die erste Stadt, Valdrada, ist hierfür prototypisch. Beschrieben wird eine an einem See und auf einem Hügel gebaute Stadt mit vielen Balkonen. Aufgrund dieser Lage sieht der

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ankommende Reisende zwei Städte, die sich wiederspiegeln: eine gerade auf dem See und eine umgedrehte Stadt: „una diritta sopra il lago e una riflessa capovolta“.37 Das Spiegelbild wird von den Bewohnern als Maß für das eigene Handeln genommen: ob sich zwei Körper lieben, oder ob Mörder das Messer in die dunklen Venen des Halses hineinführen, was zählt, sind die klaren und kalten Bilder im Spiegel. Doch weil die Bewohner von Valdrada in ihrem Spiegelbild eine Utopie sehen, mit der sie ihr Selbstbild affirmieren, verkennen sie sich selbst und ihr eigenes Leben. Dies konstatiert Calvino mit indirektem Bezug auf die verkennende Funktion des Auges, die Jacques Lacan im Seminar elf, vom 11. März 1964, bespricht. Betrachtet man aber die Materialität der Schrift aus der Nähe, so entfaltet sich eine andere Dynamik, die schon im Namen der Stadt verborgen ist: Val drada. Die durch die Wiederholung erzeugte Änderung verweist auf das Tal, in dem sich die Dinge widerspiegeln, aber in transformierter Weise: dra-da. Der im Blick enthaltene, zurückschauende Blick macht den Raum, in dem man ist, anders oder unwirklich – ganz entsprechend der Foucault’schen Heterotopie.38 Und es ist für die Ästhetik Calvinos kennzeichnend, dass bei dieser – das Thema des Auges einführenden Miniatur – die verkennende Funktion betont wird, um aber gleichzeitig im materiellen Überschuss der Zeichen auch das Verkennen aufzudecken. Erst in der Mitte des Romans, im fünften Kapitel, hat das Sensible endlich die Dispositive des Gedächtnisses, des Wunsches, der Zeichen und des Auges verdrängt. Die Dynamik der Sinne (Blick, Hören, Riechen, Tasten) verleiht der Stadt einen konkreten Raum. Dies wiederholt sich für alle menschlichen Handlungen in der Stadt, wobei die Spannung zwischen Entkörperung der Zeichen und ihrer Verkörperung bei „Le città e il nome“, besonders virulent ist. In der vierten Stadt zum Thema „Die Stadt und der Name“ zeigt sich im siebenten Kapitel39 die Stadt Clarice als ein durch die konkreten Dinge substantiell verflochtener Ort. Obwohl die Bewohner die Stadt so erbauen, als wollten sie die Dinge als Ruinen in Museen und Schaukasten einsperren, entfalten die Dinge in diesen Behältern ein Eigenleben. Die Zeiten mischen sich, wie im korinthischen Kapitell auf einer Säule der Stadt – ein Kapitell, von dem man nicht mehr weiß, wann es auf die Säule gekommen ist.40 In prominenter Weise zeigt Calvino anhand des Namens – verstanden als zugleich abstraktes Zeichen und Indiz von singulärem Leben – die Spannung von einerseits Abtragung von Materialität beziehungsweise Entkörperung des Denkens in den immateriellen Tätigkeiten westlicher Kultur, die in den ersten Kapiteln in Bezug auf Erinnerung, Traum, Zeichen behandelt wurden, und andererseits dem Eigenleben der Dinge. Als Effekt der Entkörperung entstanden auch die fragilen, „hauchdünnen“ (sottile) Städte, die mit Isaura, der letzten Stadt des ersten Kapitels, begannen. Isaura ist die Stadt der tausend Brunnen, die tief in die Erde, bis zu einem dort begrabenen See, gehen. Tief unten ist eine „unsichtbare Landschaft“, die die sichtbare be-

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dingt.41 Das physisch sensible optische Dispositiv der Ästhetik Calvinos entbirgt indes auch hier eine Dynamik, die den in abstrakten Bildern eingefangenen Stadtbewohnern unsichtbar bleibt: „tutto ciò che si muove al sole è spinto dall’onda che batte chiusa sotto il cielo calcareo della roccia“.42 Die Sprachmaterialität, nämlich die physische Beschreibung der materiellen Prozesse, vernetzt Innen-Außen, Oben-Unten, Flüssiges und Festes. Doch in den fünf Miniaturen der “cittá sottili” herrscht das Schema, das göttliche disegno; es herrschen die planerischen Modelle, die luftigen, äußerst zerbrechlichen Gestalten. In der letzten Miniatur (fünftes Kapitel), ist die Stadt Spinngeweben gleich: Ottavia ist die Stadt, die sich über die Leere zwischen zwei abschüssigen Bergrücken spannt, an denen sie mit Tauen und Ketten und Stegen festgemacht ist. Es ist eine über einem Abgrund hängende Stadt mit einem ungewissen Leben und einer fragilen, weil entkörperten Sozialität : Die Bewohner wissen, dass ein solches Netzwerk nicht viel aushalten kann „Sanno che più di tanto la rete non regge“, sagt Calvino.43 Erst die Materialität des Konkreten füllt die vernetzte Stadt mit Leben. Im Gespräch mit Kublai Kahn, der sich beklagt, dass Marco Polo nicht von Bögen, sondern nur von den Steinen spricht, antwortet Marco: „Senza pietre non c’è arco“.44 Ohne Steine gibt es keinen Bogen. Das „Gewicht“ der Körperlichkeit und die Immanenz potenzieller Relationen im Raum ist für die Entstehung sozialer Beziehungen essentiell – so zeigt es sich in den Städten zu „La città e gli scambi“ –, und dies kontrastiert mit dem unbändigen Drang des Menschen zu transzendenten Stadtmodellen. Dies generiert eine Spannung, die mit dem Thema des Himmels ab dem sechsten Kapitel bis zum Kapitel acht wächst. Mit der Orientierung auf den Himmel multiplizieren sich Identität, Trennungen und Exklusionen in einem urbanen Raum, der entsprechend der Vorstellungen von (abstrakten) Planern gebaut ist.45 Erst zum Schluss, am Ende von Kapitel acht, kommen die verborgenen Städte ans Licht, und diese bestimmen jetzt, im letzten, den „Unsichtbaren Städten“ gewidmeten neunten Kapitel, den Raum der Stadt. Sie bleiben zwar den Augen der Planer weiterhin verborgen, aber sie leben: Mit der „verborgenen Stadt“ ist die interne Transformationskraft der Stadt aufgrund der relationalen Dynamik sozialer Prozesse gemeint, nicht das urbane Wachstum oder die Ausdehnung der Stadtmauer („Città nascoste 1“).46 Anstelle ausgefranzter Stadtgrenzen, wie im Falle urbanen Wachstums, haben wir es mit substantiellen Ketten von Binnen-Transformationen zu tun, die den Fluss vitaler Lymphe am Leben halten: „un’Olinda tutta nuova che nelle sue dimensioni ridotte conserva i tratti e il flusso di linfa della prima Olinda e di tutte le Olinda che sono spuntate una dall’altra (62).“

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Olinda wächst aus konzentrischen Kreisen, die sowohl transhistorisch als auch aktuell und systematisch interagieren. Olinda ist übrigens tatsächlich eine jener Cidade Maravilhosa in Brasilien, die eine hervorragende Interaktion zwischen der Altstadt und neuen verborgenen Pfaden entwickelt hat, einschließlich der Bootstouren zu den vorgelagerten Inseln. Um die Prozessdynamik der verborgenen Städte zu sehen, bedarf es aber eines speziellen optischen Dispositivs: der Nähe zur Materialität der Dinge und des Lebens.47 Tatsächlich schließt sich an die Beschreibung von Olinda erneut ein Gespräch von Marco Polo und Kublai Khan über den Sinn des Schachspiels an. Kublai beklagt, man gewinne am Ende doch nur ein leeres Stück Holz, woraufhin Marco Polo auf die Materialität des Schachbretts aufmerksam macht: das Holz, an dessen Fibern die Geschichte des Holzes gelesen werden kann, von der Gewinnung des Holzes bis hin zum Transport und zur Verarbeitung durch den Tischler.48 Im Verborgenen bestehen lebendige, materielle Operationsketten; die agency der Dinge und die Interaktion der Menschen können sich aber nur für den, der dafür sensibel ist, offenbaren. Materielle Übersetzungen, somatische Transformationen und Interaktionen sind Leben. Tatschlich lernt auch der reisende Marco Polo zu fragen: Wo lebt die Stadt?49 Eine Antwort findet sich bei der zweiten „Città nascosta“. Raissa – ein russischer Name, und ein bedeutender Wortstamm: auf Jiddish heißt raisa die Rose, auf Russisch meint rai Paradies. Die Stadt präsentiert sich wie die danteske Hölle. Es ist die Stadt des Unglücks, Kinder schreien, von den Häusern hört man Geschrei, an den Brücken hängen Köpfe verzweifelter Menschen. Doch ist die unsichtbare Seite der Stadt voller Leben: „Eppure, a Raissa, a ogni momento c’è un bambino che da una finestra ride a un cane che è saltato su una tettoia per mordere un pezzo di polenta caduto a un muratore che dall’alto dell’impalcatura ha esclamato: – Gioia mia, lasciami intingere! – a una giovane ostessa che solleva un piatto di ragú sotto la pergola, contenta di servirlo all’ombrellaio che festeggia un buon affare, un parasole di pizzo bianco comprato da una gran dama per pavoneggiarsi alle corse, innamorata d’un ufficiale che le ha sorriso nel saltare l’ultima siepe, felice lui ma più felice ancora il suo cavallo che volava sugli ostacoli vedendo volare in cielo un francolino, felice uccello liberato dalla gabbia da un pittore felice d’averlo dipinto piuma per piuma picchiettato di rosso e di giallo nella miniatura di quella pagina del libro in cui il filosofo dice: ‚Anche a Raissa, città triste, corre un filo invisibile che allaccia un essere vivente a un altro per un attimo e si disfa, poi torna a tendersi tra punti in movimento disegnando nuove rapide figure cosicchè a ogni secondo la città infelice contiene una città felice che nemmeno sa d’esistere‘“50

Der Text macht die „andere Seite des Mondes“ sichtbar. Er entwirft eine Art fortgesetzte Bewegung, die Bindungen erzeugt, welche humane und nicht-humane Ak-

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teure in Beziehung zueinander setzt. Endlich haben wir das abstrakte Konzept von Austausch verlassen. Der Text erzeugt vielmehr durch den fortlaufenden sprachlichen Prozess eine relationale Welt, in der die Menschen in und durch die Relation Glück erfahren. Allerdings im Verborgenen, nicht sichtbar für das Zentrum. Die „andere Seite des Mondes“ offenbart in Calvinos Roman die lebendige Dynamik und Komplexität von Kultur und Stadt: Die Dynamik von Verflechtungen ist aber nicht sichtbar, solange die Dispositive des Blicks auf Kosten von Nähe, Körperlichkeit und situiertem Schauen ökonomisch funktionalisiert werden. Die unsichtbaren Städte verbleiben im Dunklen, solange eine kartesianische Topografie Separationen von oben und unten, innen und außen einführt, solange eine lineare Zeit vorherrscht, die gestern, heute und morgen in feste Rastern einzwängt, die Vergangenheit irreversibel macht und die Zukunft als geschlossenen Raum denkt.51 Die materiellen Prozesse des urbanen Raums haben aber die Potentialität von Leben als Fülle von Interaktionen.52 Die Freiheit liegt darin, diese Fülle inmitten geschlossener Räume handelnd zu vollziehen. So die letzten Worte des Romans aus dem Munde Marco Polos: „L’inferno dei viventi non è qualcosa che sarà; se ce n’è uno, è quello che è già qui, l’inferno che abitiamo tutti i giorni, che formiamo stando insieme. Due modi ci sono per non soffrirne. Il primo riesce facile a molti: accettare l’inferno e diventarne parte fino al punto di non vederlo più. Il secondo è rischioso ed esige attenzione e apprendimento continui: cercare e saper riconoscere chi e cosa, in mezzo all’inferno, non è inferno, e farlo durare, e dargli spazio.“53

Auch der Weltatlas des Kublai verändert sich mit der Diagnose von Calvino. Die Kartografie seines Imperiums, das er mit einer geometrischen Interpretation des Raums – seinem Schachbrett ähnlich – der Klassifizierung der Funktionen der Schachfiguren strukturieren wollte,54 funktioniert nicht. Das Schachbrett ist nur scheinbar ein geometrischer Raum, ein Gitter. Marco Polo – und Calvinos Roman – zeigen vielmehr, dass sich durch die Qualität und die Verteilung der Kräfte im Lokalen das Netzgefüge verändert, wie beim Schachspiel jede Stufe des Spiels, und auch der einfachste Akteur unzählbare andere Formen ergeben kann, die sich fügen oder das Spiel verändern können.55 Es ist wie bei den vielen winzigen Facetten eines Prismas, die die Exaktheit mathematischer Größen im Spiel von Licht und Blick 56 zu einer vielseitigen Dynamik werden lassen. So kann nur ein dynamischer Blick die Kenntnis des Imperiums vermitteln. Am Ende des Romans versteht Kublai Khan, dass das Imperium nicht in der Geometrie der Städte zu suchen ist, sondern in der Kraft der sich bewegenden Pferde, in den Diagonale des Läufers, im einfachen Bauer,57 der dem König seinen eigenen Rhythmus aufzwingen kann

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(58). Das zu bedenken ist auch ein politischer Weg zur Verflüssigung der Grenzen und zur Öffnung größerer Freiheit inmitten des „Imperiums“,58 auch inmitten der Unfreiheit einer medialen bis hin zu einer neuronalen Gouvernementalität, die das moderne Leben des Einzelnen regiert.

A nmerkungen 1 | „La negazione fa tutt’uno con un certo grado di ‚distacco‘ dal proprio contesto vitale, talvolta addirittura con la provvisoria messa tra parentesi di uno stimolo sensoriale.“ Guidici, Gabriella: „Paolo Virno, Antropologia e teoria delle istituzioni“ (06.07.2011), https://gabriellagiudici.it/paolo-virno-antropologia-e-teoria-delle-istituzioni/ [07.02.2019]. 2 | Foucault, Michel: Naissance de la Biopolitique, Paris 2004. 3 | Deleuze, Gilles: „Topologie: ‚Anders Denken‘. Die Schichten der historischen Formationen: Das Sichtbare und Das Sagbare (Wissen)“, in: ders., Foucault, Frankfurt a. M. 1987, S. 69–172. Vgl. Borsò, Vittoria: „‚Die Schrift des Raums und der Raum der Schrift‘. Topologie als literaturwissenschaftliche Methode“, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 279–295. 4 | Nach Calvino vermittelt nur der Stil ästhetisch, moralisch und historisch angemessene Lösungen; es gibt keine „soluzioni valide esteticamente e moralmente e storicamente se non si attuano nella fondazione di un stile“. Calvino, Italo: „La sfida al labirinto“, in: ders., Una pietra sopra, Discorsi di letteratura e società, Milano 1995, S. 99–117, hier S. 108). „La sfida al labirinto“ wurde ursprünglich 1962 in der Zeitschrift Menabó, Nr. 5, publiziert. Ich verweise auch auf die These von Roland Barthes, dass die Moral in der sprachlichen Form und nicht in einer externen Botschaft liegt. Barthes, Roland: Le Degré zéro de l’écriture, Paris 1972, S. 15. 5 | Calvino plädiert für einen „discorso il più possibile inglobante e articolato, che incarni la molteplicità conoscitiva e strumentale del mondo in cui viviamo“. Calvino, Italo: „La sfida al labirinto“, in: Calvino 1995, S. 108. 6 | Das Labyrinth von Robbe-Grillet sei das Modell eines nicht anthropozentrischen Raums, in dem die Spatialisierung der Dinge mit der Verzeitlichung der menschlichen Geschichte überkreuzt ist. Calvino, Italo: „La sfida al labirinto“, in: Calvino 1995, S. 114. Aber auch das Labyrinth der phänomenologischen Erfahrung von Butor oder jenes der linguistischen Konkretion und Stratifikation von Gadda, und schließlich auch von Borges, sind Modelle einer Literatur, die sich mit der Komplexität der Welt durch den Stil als epistemologisches und ethisches Instrument auseinandersetzt. Calvino, Italo: „La sfida al labirinto“, in: Calvino 1995, S. 115. 7 | Für Calvino befindet sich die Suche nach dem Sinn des Lebens oder nach dem „Gewicht des Lebens“ (il „peso del vivere“) jenseits der kognitiv zugänglichen Realität. Calvino, Italo: Lezioni Americane. Sei proposte per il prossimo millennio, Milano 1988, S. 28.

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Vittoria Borsò 8 | Calvino, Italo, „La nuvola di smog“, in: ders., La nuvola di Smog e la formica argentina, Torino 1958. 9 | Calvino, Italo, „Il mare dell’oggettività“, in: Calvino 1995, S. 47–68, hier S. 47. Die Dinge limitieren zwar das Subjekt, machen es aber zu einer profund relationalen Entität. Vgl. Borsò, Vittoria, „Jenseits der Vernunft des Dritten oder ZusammenLeben als affirmative Lebenspolitik. Überlegungen zu einer Theorie des Zusammenlebens aus Sicht von Literatur und Kunst“, in: Ottmar Ette (Hg.), Wissensformen und Wissensnormen des Zusammenlebens, Göttingen 2012, S. 14–34. 10 | Zu diesem poetologischen Text vgl. Borsò, Vittoria, „Proposte della letteratura del novecento per il nuovo millennio: ‚Lezioni Americane‘ di Italo Calvino“, in: Enrico Malato u.a. (Hg.), La civile letteratura. Studi sull’Ottocento e Novecento offerti ad Antonio Palermo, Bd. II, Neapel 2002, S. 373–392. 11 | Calvino zitiert Valérys Gesetz moderner Poesie: „Il faut être léger comme l’oiseau, et non comme la plume“, Calvino 1988, S. 17; die Leichtigkeit der Literatur benötigt das Gewicht eines Körpers, so der Sinn dieses Vergleichs. Für die Relation von Menschen und Dingen sowie Mensch und Mensch vgl. Calvino, Italo, „Il midollo del leone“ [1955], in: ders., Una pietra sopra. Discorsi di letteratura e società, Turin 1980, S. 3–18. In seinem Bezug auf Rabelais übernimmt Calvino die subversive Geste, kehrt aber den hermeneutischen Tiefensinn in Richtung der Oberfläche um: die Oberfläche formaler Experimente sei der Träger einer Ethik des Subjektes. 12 | Das Verhältnis von Mensch und Welt ist auch der rote Faden in den so unterschiedlichen Phasen des Schreibens von Calvino. Vgl. Borsò, Vittoria, „Die Exteriorität des Blickes oder die Ethik der Rahmenverschiebungen (Calvino, Levinas)“, in: Claudia Öhlschläger (Hg.), Narration und Ethik, München/Paderborn 2009, S. 127–144. 13 | „La battaglia della letteratura è appunto uno sforzo per uscire fuori dai confini del linguaggio; è all’orlo estremo del dicibile che essa si protende; è il richiamo di ciò che è fuori dal vocabolario che muove la letteratura.“ Calvino, Italo, „Cibernetica e fantasmi (Appunti sulla narrativa come processo combinatorio) (1967)“, in: ders., Saggi (1945–1985), Band I, Milano 2001, S. 205–225, hier S. S. 211. 14 | In „Essai de la connaissance approchée“ betont Bachelard den „conflit intime qu’elle [la science] ne peut jamais apaiser totalement“, während die aisthesis eine Form von „connaissance approchée“, einen Blick von der Nähe und deshalb eine verkörperte Erkenntnis vermittelt. Bachelard, Gaston: Essai de la connaissance approchée, Paris 1927, S. 9. Didi-Huberman bezieht sich auf Bachelard, wenn er das Betrachten des Details vom Sehen eines tableau unterscheidet: „On ne saura donc jamais, heuristicament parlant, regarder un tableau“. Didi-Huberman, Georges: Devant l’image, Paris 1990, S. 273. Diese unterschiedliche Phänomenologie wird anhand von Sturz des Ikarus (1558) von Pieter Bruegel dem Älteren demonstriert : „Or, si l’on regarde le comme-si, le quasi, si l’on prête quelque attention à la matière, on constate que les détails nommés“ plumes „n’ont aucun trait distinctif déterminant qui les

„The dark side of the moon“ ‚sépare‘ tout à fait de l’écume que produit, dans la mer, la chute du corps: ce sont des accents de peinture blanchâtre, des scansions de surface par-dessus le ‚fond‘ (l’eau) et tout autour de la ‚figure‘ (les deux bouts du corps humain qui s’immerge). C’est comme l’écume, et pourtant ce n’est pas cela, tout à fait.[…] Tout est quasiment.“ Didi-Huberman 1990, S. 284. 15 | In „Il midollo del leone“ wird von „unserer Epoche“ als einer Zeit gesprochen, die man nicht „au dessus de la mêlée“, d. h. aus einer Vogelperspektive, anschauen sollte; vielmehr müsse man in der Schusslinie stehen: „sulla linea del fuoco“. Calvino 1980, S. 16. 16 | So Calvino mit Bezug auf die Labyrinthe von Robbe-Grillet: „Da una parte c’è l’attitudine oggi necessaria per affrontare la complessità del reale, rifiutandosi alle visioni semplicistiche che non fanno che confermare le nostre abitudini di rappresentazione del mondo; quello che oggi ci serve à la mappa del labirinto la più particolareggiata possibile. […] È la sfida al labirinto che vogliamo salvare, è una letteratura della sfida al labirinto che vogliamo enucleare e distinguere dalla letteratura della resa al labirinto.“ Calvino 1995, S. 115f.. 17 | Wiener, Jürgen: Die Macht des Maßwerks. Zum Verhältnis von Struktur und Ornament in der hochgotischen Architektur Frankreichs, Düsseldorf 2003. 18 | Die Verweise auf die „dunkle Seite des Mondes“ in bildender Kunst, Literatur und Film sind zahlreich. Vgl. u. a. die Ausstellung „Die andere Seite des Mondes“ in der Kunstsammlung NRW K 20 über Künstlerinnen der Avantgarde (22. Oktober 2011–15. Januar 2012). Vgl. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen/Susanne Meyer-Büser (Hg.): Die andere Seite des Mondes: Künstlerinnen der Avantgarde, Düsseldorf 2011. Hinzuweisen ist auch auf den Roman Die Dunkle Seite des Mondes (2000) des Schweizer Autors Martin Suter, ein Buch über die Midlifecrisis, und auf die gleichnamige Verfilmung von Duncan Jones in Form eines Zukunftsthrillers (2009). 19 | Die Ausstellung in Rom (2013) mit dem Thema: „Was geschieht, wenn Architektur und Literatur aufeinandertreffen?“ zeigte die Installation künstlerischer Tafeln des Architekturfotografs Moreno Maggi. Seine Videoinstallation sollte zeigen, dass die Komplexität der Architektur nur dann entsteht, wenn man Bauwerke als multiplen, aus unterschiedlichen Perspektiven generierten, Raum betrachtet. Die Videoinstallation bestand aus Tafeln mit der Fotomontage mehrerer Aufnahmen aus der Kombination spezieller perspektivischer Blickwinkel einer einzelnen Architektur. Die Zusammenführung von Fotografien und dem Roman Calvinos oblag Diana Alessandrini, der Kuratorin der Ausstellung. 20 | Zur anamorphotischen Vexierung vgl. Mersch, Dieter, „Abbild und Zerrbild. Zur Konstruktion von Rationalität und Irrationalität in frühneuzeitlichen Darstellungsweisen“, in: Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hg.), Instrumente in Kunst und Wissenschaft, Berlin/New York 2006, S. 21–24, und Borsò, Vittoria, „Unbestimmbarkeit des Sichtbaren und Sagbaren an den Rändern des Archivs.“ in: Astrid Lang/ Wiebke Windorf (Hg.), Blickränder. Grenzen, Schwellen und ästhetische Randphänomene in den Künsten, Berlin 2017, S. 19–33. 21 | Serres, Michel: Hermes I. Kommunikation, übers. Michael Bischoff, Berlin 1991. Vgl. auch Gehring, Petra, „Paradigma einer Methode. Der Begriff des Diagramms im Strukturdenken

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Vittoria Borsò von M. Foucault und M. Serres“, in: Petra Gehring u.a. (Hg.), Diagrammatik und Philosophie, Amsterdam/Atlanta 1991, S. 89–105, bes. 97–102. Auch bei Serres (und Peter Handke) betont Rovatti das „Gewicht der Welt“ und die Nähe zu den Dingen (Rovatti, Pier Aldo: Transformazioni del soggetto, Un itinerario filosofico, Padova 1992, S. 34f.), sowie die wechselseitige Durchdringung von Außen- und Innenräumen (mit Bezug auf Deleuze: Rovatti, „Trasformazioni“, S. 36) und schließlich die Bedeutsamkeit des Erlebens des Realen, gerade wegen des Entzugs der Realität (mit Bezug auf Lacan: Rovatti 1992, S. 41 f.) 22 | Insgesamt gibt es 11 thematische Bezüge, die jeweils von 1 bis 5 nummeriert sind. 23 | In diesem eindeutigen Typ von Determination kann die Verbindung der Teile nur Negation, Gegensatz, Überschreitung der Binnengrenzen zu sein. Eine Hermeneutik, die aus einer linearen Lektüre gewonnen wird, kommt tatsächlich zur These der metaliterarischen Allegorie des Schreibens im Sinne der Dekonstruktion der Repräsentation. 24 | Linear gelesen, gehen diese von Erinnerung, Wunsch, Zeichen, den subtilen bzw. fragilen Städten aus, verlaufen über „Die Städte und der Tausch“ (1. Nennung Kap. 2), „Das Auge“ (1. Nennung Kap. 3), „Die Städte und der Name“ (1. Nennung Kap. 4); „Die Stadt und die Toten“ (1. Nennung Kap. 5), „Der Himmel“ (1. Nennung Kap. 6), „Fortdauernde Städte“ („Città continue“) (1. Nennung Kap. 7), und kommen am Schluss zu „Verborgenen Städten“ (1. Nennung Kap. 8). 25 | Serres 1991, S. 13. 26 | Erst in den lokalen Kräften wird die schematische Logik der Irreversibilität und der (scheinbar) linearen Kausalität unterbrochen (vgl. Serres 1991, S. 16f.): Anfang und Ende beeinflussen sich wechselseitig (wie Sender und Empfänger). 27 | Borges, Jorge Luis, „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“, in: ders., Fiktionen, übers. von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs, Werke, Bd.  5, Erzählungen 1939–1944, Frankfurt a. M. 1992, S. 77–89 [1941]. Vgl. dazu Borsò 2007, S. 283–285. Für Calvino ist diese Erzählung einer der beeindruckendsten Essays über die Zeit, die den Raum durchkreuzt. Vgl. Calvino 1988, S. 115. 28 | Serres 1991, S. 15. 29 | So auch Wölfflins Bevorzugung des disegno: „Der lineare Stil ist ein Stil der plastisch empfundenen Bestimmtheit. Die gleichmäßig feste und klare Begrenzung der Körper gibt dem Beschauer eine Sicherheit, als ob er sie mit den Fingern abtasten konnte, und alle modellierenden Schatten schließen sich der Form so vollständig an, das der Tastsinn geradezu herausgefordert wird“. Wölfflin, Heinrich: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1929, S. 12. 30 | Lyotard unterscheidet zwischen dem Figuralen und dem (mimetischen) Figurativen: Das Figurale gibt zu sehen, es betont aber die Unmöglichkeit, das Sichtbare auf das Lesbare zurückzuführen; das Figurative reduziert dagegen das Sichtbare auf das Sagbare. Die sich der Lesbarkeit widersetzenden Operationen des Figuralen führen zur Möglichkeit, die reine Sichtbarkeit, ihre Dichte, ihre Materialität zu fokussieren und zu erfahren. So Lyotard: „Ce livre-ci proteste: que le donné n’est pas un texte, qu’il y a en lui une épaisseur, ou plutôt une

„The dark side of the moon“ différence, constitutive, qui n’est pas à lire, mais à voir“. Jean- Lyotard, François: Discours, Figure, Paris 1971, S. 9; vgl. auch Borsò 2017. 31 | Calvino, Italo: Le citta’ invisibili, Turin 1972, S. 46 (Hervorhebungen VB). Jeder Einwohner von Eudossia vergleicht die unbewegliche Ordnung des Teppichs mit seinem eigenen Bild der Stadt, mit seinen Ängsten, und jeder kann eine in den Arabesken verborgene Antwort finden, die Erzählung seines Lebens, die Wendungen des eigenen Schicksals. 32 | Dies bedeutet auch, dass im Netzwerk der Stadt die lokalen Determinationen auch das gesamte Netzwerk verändern können – erneut eine zentrale Eigenschaft des diagrammatischen Netzes von Michel Serres. 33 | In den Miniaturen mit dem Titel „La città e gli occhi“ experimentiert der Roman mit den optischen Dispositiven der Erzeugung von Grenzen und Fremdheiten oder der Doppelung des Stadtbildes. Schon der Rahmen des Romans, nämlich die Reise von Marco Polo im späten 13. Jahrhundert in das ferne Reich des Kublai Khan ist ein solches Dispositiv, das das Verhältnis von räumlicher und temporaler Fremdheit in Szene setzt. Wie im Exotismus, wird die physische Welt zur Projektionswand von Erinnerung und Wunsch. Das Medium der Projektion sind die Zeichen der eigenen Sprache. 34 | Michel de Certeau unterscheidet zwischen der statischen, auf Separationen gründenden Topografie und der beweglichen Topologie des Raums, in der die Erfahrung des ‚InderWeltSeins‘ und die Körperlichkeit der Welt primordial sind. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, übers. von Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 216 f. 35 | Borsò 2007, S. 280. 36 | Lefebvre, Henri: La production de l’espace, Paris 1974, S. 13 f. 37 | Calvino 1972, S. 25. 38 | Heterotopien sind „emplacements“, Lagerungen, die der Ordnung widersprechen, sie neutralisieren und die Gesamtheit ihrer Strukturbeziehungen umkehren. Foucault, Michel, „Des espaces autres“, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Dits et Écrits, Bd. IV, Paris 1994 [1967], S. 752–762, S.755. Deshalb sind die unsichtbaren Städte „des sortes de lieux qui sont hors de tous les lieux, bien que pourtant ils soient effectivement localisables.“ Foucault 1994, S. 755 f. 39 | Die „Städte und der Name“ beginnen am Ende des Kapitels IV und kommen zuletzt zu Beginn von Kapitel VIII vor. 40 | Das Thema der memoria als strukturierter mnemonischer Raum ist zwar mit der ersten Geschichte des 2. Kapitels zu Ende, doch im Netzwerk des Romans kehrt die Erinnerung immer wieder transformiert zurück: nämlich als Operation der Vernetzung (durch Tausch), der Redundanz, der Überlagerung von Zeitschichten, aber auch als Überlagerung von Diskurs und konkreten, materiellen Dingen. Calvino 1972, S. 15 f. 41 | „[U]n paesaggio invisibile condiziona quello visibile.“ Calvino 1972, S. 9. 42 | Ebd.

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Vittoria Borsò 43 | Calvino 1972, S. 34. Die Entkörperung des urbanen Raums, die Stilllegung der Netze und der materiellen Interaktionen führt zum großen Thema im Zentrum des Buchs „Le Città e gli scambi“ (Tausch oder Austausch, aber auch Vertauschen, Eintauschen, Wechsel). Das gesamte Wortfeld von merkantilen bis hin zum Finanzhandel, von materiellen Warentausch bis hin zum entkörperten Geldhandel, wird in Aktion gesetzt. Bei der Stadt Eufemia entleert der Geldhandel die sozialen Beziehungen: Die Stadt Eufemia lebt zwar vom Handel und ist überdies eine imperiale Schaltstelle für die Verbreitung von Waren im ganzen Imperium. Wie im globalen Kapital, spielt aber der konkret-materielle Handel keine Rolle. Nur Erinnerungen werden hin und wieder ausgetauscht: „Eufemia, la città in cui si scambia la memoria a ogni solstizio e a ogni equinozio.“ Calvino 1972, S. 17. 44 | Calvino 1972, S. 38. 45 | Das urbane Leben in den Städten der Planer lebt von der Phänomenologie der Ferne. Überdies sind die Namen der Städte, Perinzia (perizia = Fertigkeit/Gutachten) und Andria (andros = Mann, aber auch Insel in Griechenland) männlich konnotiert. Astronomen fertigen hier den Plan der Stadt entsprechend dem disegno der Himmelskörper an und merken nicht, dass das Streben nach Harmonie und Perfektion Monster gebiert, weil menschliche Interaktion verdrängt und das disegno oder Schema zu einem biopolitischen Überwachungsdispositiv wird: Im ersten Fall ein Dispositiv von Idealisten, um die Harmonie und Perfektion des Himmels zu erreichen; im zweiten sind es Realisten, die den Bau der Stadt nach den Himmelskonstellationen ausrichten und darauf achten, dass die Perfektion des Himmels durch Fehler der Erde nicht gestört wird. 46 | „Una nuova città che si fa largo in mezzo alla città di prima e la spinge verso il fuori.“ Calvino 1972, S. 62. 47 | Calvino 1972, S. 62. 48 | „Qui si scorge un nodo appena accennato: una gemma tentò di spuntare in un giorno di primavera precoce, ma la brina della notte l’obbligò a desistere [...] Ecco un poro più grosso: forse è stato il nido d’una larva; non d’un tarlo, perchè appena nato avrebbe continuato a scavare, ma d’un bruco che rosicchiò le foglie e fu la causa per cui l’albero fu scelto per essere abbattuto...Questo margine fu inciso dall’ebanista con la sgorbia perchè aderisse al quadrato vicino, più sporgente...// La quantità di cose che si potevano leggere in un pezzetto di legno liscio e vuoto sommergeva Jublai; già Polo era venuto a parlare dei boschi d’ebano, delle zattere di tronchi che discendono i fiumi, degli approdi, delle donne alle finestre....“ Calvino 1972, S. 63. Ich verweise auf Jürgen Wieners Arbeiten zur Gartenkunst, z. B. „Komik und Commedia in der Gartenskulptur“, in: Roland Kanz (Hg.), Das Komische in der Kunst, Köln u.a. 2007, S. 110–137. 49 | Vgl. „Le città continue“ no. 5. Calvino 1972, S. 77. 50 | Calvino 1972, S. 71–72. „Und dennoch gibt es in Raissa ein Kind, das aus einem Fenster hinaus einem Hund zulacht, der auf einen Schuppen gesprungen ist, um ein Stück Polenta zu erhaschen, das einem Maurer oben vom Gerüst heruntergefallen ist, als er ‚Lass mich ein-

„The dark side of the moon“ tunken, Schätzchen!‘ einer jungen Wirtin zurief, die unter der Pergola eine Platte mit Ragout in die Höhe hält, glücklich, sie einem Schirmmacher vorzusetzen, der einen guten Geschäftsabschluss begeht, ein Sonnenschirm mit weißen Spitzen, erworben von einer feinen Dame, um sich bei dem Pferderennen zu produzieren, verliebt wie sie ist in einen Offizier, der ihr beim Sprung über die letzte Hecke ein Lächeln schenkte, glücklich er, aber noch glücklicher sein Pferd, das über die Hindernisse flog und dabei ein Haselhuhn zum Himmel auffliegen sah, glücklicher Vogel, aus seinem Käfig von einem Maler befreit, der glücklich war, ihn Feder um Feder rot und gelb getupft bei der Miniatur auf jener Seite des Buches wiedergegeben zu haben, wo der Philosoph spricht: ‚Auch durch Raissa, die traurige Stadt, zieht sich ein unsichtbarer Faden, der ein Lebewesen mit einem an den für einen Augenblick verbindet und sich ablöst, um sich wieder zwischen zwei bewegenden Punkten zu spannen und neue schnelle Figuren zu zeichnen, so dass in jeder Sekunde die unglückliche Stadt eine glückliche Stadt enthält, die nicht einmal weiss, dass es sie gibt.‘“ Calvino, Italo: Die unsichtbaren Städte, übers. von Burkhart Kröber, München 2007, S. 78 (Hervorhebungen VB). 51 | Der Diagnose der um den Spatial turn in der Architektur bemühten Studien, wie die von Christina Hilger, dass moderne Architektur kontextlos sei und die gesellschaftlichen Spaltungen eher aufrecht halte, ist in dieser Hinsicht zuzustimmen. Christina Hilger (Hg.): Plädoyer für den Spatial Turn in der Architektur, Bielefeld 2010, S. 14. Ähnlich sehen es Architekten wie Rem Koolhaas und Peter Eisenmann (Ebd., S. 18). Notwendig sei eine situierte Architektur, die die Dynamik lokaler Kräfte und die relationale Prozessdynamik des Raums ermögliche. Bzgl. der Organisation des urbanen Lebensraums orientieren sich die heutigen Urbanisten, Stadt-Planer und -techniker an den Unsichtbaren Städten von Calvino. Vgl. z. B.: Invisible Zürich: Autonomer Lebens- und Kulturraums, http://urbanimpressions.blogspot.com/ 2013/12/ fwd-heute-autonomer-lebens-und.html [07.02.2019]. 52 | Die Interaktion zwischen humanen und nicht-humanen Existenzweisen ist dabei mehr als die Summe der Einzelteile. Vgl. auch mit Bezug auf Calvino: Demblin, Franz Claudius/Cernek, Walter: Die Idee der Stadt. Zur Kontinuität einer urbanen Architektur, Wien u. a. 1997, S. 27. 53 | Calvino 1972, S. 82 54 | Calvino 1972, S. 57. 55 | Calvino 1972, 58. Marco Polo argumentiert hier exakt wie Michel Serres, der das diagrammatische Netzwerk mit einem Schachbrett vergleicht (Serres 1992, S. 14). 56 | Calvino 1988, S. 55. 57 | „La conoscenza dell’impero era nascosta nel disegno tracciato dai salti spigolosi del cavallo, dai varchi diagonali che s’aprono nelle incursioni dell’alfiere, dal passo strascicato e guardigno del re e dell’umile pedone, dalle alternative inesorabili d’ogni partita“ (Calvino 1972, 58). 58 | „Nelle ultime carte dell’atlante si diluivano reticoli senza principio né fine, città a forma di Los Angeles, a forma di Kyoto-Osaka, senza forma“ (Calvino 1972, S. 66).

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Wie groß ist eine Menge? Die Repräsentation von Menge im politischen Bild des 20. Jahrhunderts Manja Wilkens Als David den Ballhausschwur ins Bild brachte, Fotografen Lenin bei einer seiner berühmten Reden ablichteten, Bilder der demonstrierenden Friedensbewegung oder von Parteitagen in der Presse erschienen, wurde und wird Masse immer wieder anders inszeniert. Masse hat nicht nur verschiedene Erscheinungsformungen, sie wird auch verschieden wahrgenommen. Die Masse des Teilhabenden ist eine andere als die des Zaungastes und eine ganz andere als die Masse, die als Bild rezipiert wird. Das Bild einer Demonstration ist wie jedes Bild ein Konstrukt – auf Bilder von Demonstrationen konzentrieren sich die folgenden Ausführungen –, es ist ein Dritter, der interpretierend, ästhetisierend eingegriffen hat. Es ist nicht nur der Fotograf, der einen bestimmten Ausschnitt wählte, es ist ebenso der Layouter und der Redakteur, die bestimmte Bilder wählen und die ihrerseits den Auftritt der Masse im Bild verändern. Die Möglichkeit der Inszenierung der Masse zum Bild verändert den Blick auf die Masse. Das Bild gehorcht anderen Gesetzen und muss andere Strategien der Umsetzungen von Ideen einrechnen als es Massenveranstaltungen selber tun können, die von der Suggestion der persönlichen Anwesenheit, vom überwältigenden Rausch, vom Mitreißen des Gehörten und des Gesehenen leben. Die bei einem Bild gegebene Wahl des Blickwinkels und des Ausschnitts modellieren die Masse. Bilder strukturieren Massen, machen sie übersichtlich oder entgrenzen sie zusätzlich. Das ist das eine, aber durch die visuelle Verfügbarkeit lange über den Berichtzeitraum hinaus und möglicherweise sogar über den Kontext ihres ursprünglichen Zusammenhanges hinweg, erhält die Masse mitunter einen neuen medialen Kontext, der einstige Anlass kann sich verselbstständigen, kann für andere Zusammenhänge inspirierend sein. Das mit dokumentarischen Ansprüchen verfertigte Bild ist ein ästhetisches Konstrukt, dessen dokumentarischer Charakter hinter dem ästhetischen verblasst. Wenn im Folgenden der Fokus

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Abbildung 1: Jaques-Louis David, Der Ballhausschwur, Federzeichnung, 1791, Paris, Louvre

Quelle: Jacques-Louis David, Ausst.-Kat., Musée du Louvre, Paris und Schloss Versailles, Paris 1989, Abb. 101/Fotografie: Paris, Réunion des musées natinaux

auf das traditionelle Bild in den Printmedien gelegt wird und das bewegte Bild ausgeklammert bleibt, so liegt die Beschränkung in der stärkeren Überzeugungskraft der Fotografie begründet, die ihre besondere Qualität der Beschränkung auf den einen Moment verdankt. Gemeinhin sagt das Bild einer Demonstration oft mehr über den Ort aus, an dem es erscheint, und die politische und/oder ideologische Position desjenigen, der das Bild fabrizierte und/oder publizierte als über den tatsächlichen Verlauf der Demonstration. Die schwankenden Zahlenangaben über die Höhe der Teilnehmer je nach Standpunkt und politischer Verortung des Berichterstatters sind nur ein Zeugnis für die divergierenden Blickwinkel. Die Realität der Demonstranten, der Sicherheitskräfte, der Bewohner, die der anwesenden und nicht-anwesenden Regierungschefs ist jeweils eine anders wahrgenommene. Die im Folgenden vorgestellten Bilddokumentationen sollen nicht den Verlauf einer bestimmten Demonstration erhellen, sondern symptomatisch für möglichst mediale Präsentationen sein. Der Anlass ist eine variable Größe. Mit der französischen Revolution setzt das ein, worauf Massenveranstaltungen des 20. Jahrhunderts scheinbar historisch verweisen: Aus der „bloßen Ansamm-

Wie groß ist eine Menge?

lung vieler Personen an einen Ort“ wird eine „politisch motivierte Zusammenballung“1, und mit Jacques Louis Davids Ballhausschwur hat die Kunstgeschichte das erste „Bild der Menge“, in dem Menschen „nicht als unbeteiligte Zuschauer, sondern als leidenschaftlich erregte Individuen auf(traten), die sich ihres historischen Handelns bewußt waren.“2 (Abb. 1) Mit der wogenden Begeisterung, die David in seinem Ballhausschwur zeigen wollte, werden die Probleme, die ein Bild hat, da es frenetischen Beifall als solchen nicht visualisieren kann, deutlich. Es muss mit stummen Gesten das Tosen einer Menge veranschaulichen. Das Bild Davids ist für den Betrachter der Menge gemacht, die Vorzeichnung wurde zur Vorlage eines zu Propagandazwecken verteilten Kupferstiches. Das Bild rechnet also eine zweite Menge mit ein, eine Menge, die teilnahmslos teilnimmt, für die andere, ruhigere, kleinteiligere Inszenierungsstrategien zählen als für den am Ort des Geschehens Anwesenden. Allen Adressaten – die aktiven und die passiven Teilnehmenden ebenso wie diejenigen, die das Bild später betrachten, also auch diejenigen, die die Darstellung mit dem eigenen, erinnerten Bild abglichen – musste David gerecht werden. Ein Redner auf einem Tisch, das Manuskript des Schwures in der Hand und die rechte Hand hoch erhoben, so steht er vor seinen Zuhörern, die ihre Hände begeisternd ihm entgegenstrecken. Der hohe kahle Raum hat kein Mobiliar, von den wenigen Tischen und Stühlen einmal abgesehen, die aber für die zu bewältigende Menge nur zu einem Bruchteil ausreicht. Denkt man sich ein anderes Szenario, wären Sitzende an der Stelle von stehenden Zuhörern zu sehen, hätte das bedeutet, dass der Raum eine weitaus geringere Anzahl hätte aufnehmen können, das Bild der Masse wäre weniger imposant ausgefallen. Imposant gerät die Masse auch durch die Architektur: Der große ungegliederte Raum lenkt keine Blicke ab von der Inszenierung der Masse als Masse, die auf die vorderen Personen ausgerichtet ist. In ihrer Gedrängtheit, die eine individualisierende Ausformulierung einzelner Personen nur an den vorderen Rändern zulässt, wäre eine Bestuhlung nicht nur historisch falsch, sie wäre auch störend gewesen, weil sie der ungeordneten Masse eine Ordnung gegeben hätte, die einer Vorstellung von Masse als etwas Ungeordnetes, weil Unzählbares, zuwiderläuft. Die unübersehbare Masse, ihre Ausrichtung auf eine führende Person und schließlich auch die vereinzelt in die Luft gestreckten Hüte erinnern an moderne Großveranstaltungen. Die Hüte haben dabei die visuelle Qualität von mitgetragenen Transparenten, sie gliedern die Masse für das Auge, ohne sie mathematisch zu strukturieren, die Masse bleibt Masse, ungeordnet und unzählbar. Zu bedenken waren auch die Teilnehmenden zweiter Ordnung: Über den Kupferstich sollte der Ballhausschwur propagandistisch verbreitet werden.3 Dass David den Anlass des Ballhausschwures in den drei vorderen sich die Hände reichenden Personen visualisieren musste, damit es entsprechend politisch verwert-

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bar blieb, macht die Schwierigkeiten deutlich, mit denen die Visualisierung eines Sprache suggerierenden Bildes zu kämpfen hat. Will man die Worte einer Rede, eines Schwures, überzeugend ins Bild bringen, kommt es zum „extensiven Einsatz emblematischer Ausdrucksmittel“4, die in ihrer Kleinteiligkeit eigentlich ein zu geringes Aufmerksamkeitspotenzial für sich verbuchen können. Da David die Kleinteiligkeit – die hochgeworfenen Hüte, die begeistert erhobenen Arme – an vielen Stellen wiederholt, skizziert er Individuen, die aber als Masse auftreten und in ihrer Gesamtheit den Redner stützen und die fehlende Akustik der einstigen Versammlung in ein vielfältig bewegtes Bild übertragen. Die Geschichte der ins Bild gesetzten modernen Demonstrationen nahm ihren Anfang mit den politischen Großveranstaltungen in der Pressefotografie der 1920er und 1930er Jahre. Mit bezeichnenden Unterschieden. In der Lenin-Ikonografie spielt die zum Bild gewordenen Rednerpose eine entscheidende Rolle. Auf unzähligen Plakaten und Anschlägen, Zeitungen und Büchern wird das Bild Lenins auf der Rednertribüne von 1918 zitiert.5 Auf den Fotografien von der Rede aus dem Jahr 1918 (Abb. 2) trägt eine wortlose Menge einen Redner auf das Podest, dessen bewegte Gestik gerade durch den Gegensatz zur bewegungslosen Masse Führerqualitäten zum Bild macht. Die Masse bleibt ohne eigenständigen Ausdruck, kein Arm und kein hochgestreckter Hut ragt aus der uniformen Masse empor. Kein mitgeführtes Transparent verrät die Eigenständigkeit des Volks, die fehlende eigene Aktion degradiert die Masse der Zuhörer zur Gefolgschaft. Im Bildhintergrund rahmt eine massige Architektur den unruhigen, aggressiven Redner, und die dunkle Fahne scheint wie in einer Bewegungsaufnahme eine alte Bewegung von ihm mit ins Bild zu nehmen. Der so inszenierte Beherrscher der Massen hat die wortgewaltige Rede zum Bild gemacht. Das Bild funktioniert als Erinnerung an die Rede als Rede, die politischen Inhalte stehen im Vordergrund. Die Erinnerung ist eine an das Wort. Die Massenveranstaltungen des zweiten Viertels des 20. Jahrhunderts lebten vor allem von der Faszination einer akustischen Wahrnehmung, sie vertrauten auf die Sprechgewalt ihrer Führenden, an der sich die ganze Menge orientierte. Entsprechend wurde der Redner im später veröffentlichten Bild inszeniert, ihm allein gebührt auch dort die Aufmerksamkeit, der Rest – die Masse – bleibt indifferent, aber als solches eine unverzichtbare Folie vor der der Redner wirkt. Hörfunk und Bilder funktionieren hier ganz ähnlich: Die akustisch wahrnehmbare Rede wird im Hörfunk durch das undifferenzierte Tosen der Massen untermalt, die Masse ist indifferente Begleitmusik, aber als solche unverzichtbar. Anders funktionieren Massenbewegungen, die seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre langsam gegenüber den organisierten Großkundgebungen überhandnehmen. Massen, die „in scheinbar gelockerter, mehr oder weniger ,selbst-

Wie groß ist eine Menge?

Abbildung 2: Fotografie von Wladimir Iljitsch Lenin während einer Rede 1918

Quelle: Bracher, Karl Dietrich: Die Krise Europas. 1917–1975 (= Propyläen Geschichte Europas, 6), Frankfurt a. M. 1976, S. 42/Fotografie: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin

organisierter‘ Form [...] für und/oder gegen etwas […] demonstrieren.“ Sie setzten sich zusammen aus „kirchlichen Gruppierungen (beider Konfessionen), Flügeln der ,großen‘, aber auch der kleinen und kleinsten, oft miteinander verfeindeten Parteien, Feministinnen, Gewerkschaftlern, Homosexuellen, ,Grauen Panthern‘ etc., nicht zu vergessen die vielen Familien, die ihre Kleinund Kleinstkinder in das Gesamtunternehmen mit ,einbringen‘.“6

Das, was diese neuen Gruppen eint, ist die fehlende Leitfigur. Die Masse ist zum Führer ihrer selbst geworden, die sich führt mit den bildgewordenen Versatzstücken ihrer Reden. „All diese unterschiedlichen Ornamente und Ausdrucksgestalten sind der Zement, der die Akteure zusammenhält.“7 Vor allem unterscheidet diese Demonstrationen von den Massenbewegungen früherer Jahrzehnte, dass jetzt verstärkt eine optische Medienberichterstattung mit eingerechnet wurde, und zwar eine Berichterstattung, die nicht allein durch eine Person wie einen Maler David gezielt gesteuert werden konnte. Es entstanden nicht nur viele Bilder,

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Abbildung 3: Coverbild Der Spiegel, 1983, Nr. 35

Fotografie: Der Spiegel 1983

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sondern vor allem in ihrem Aussagewert miteinander konkurrierende Bilder, die als Bilder der Menge überzeugend sein mussten. Die fehlende Leitfigur, die zum ideologischen und mithin zum bildlichen Zentrum hätte gemacht werden können, fordert andere Bildformeln ein. Die Masse muss andere Visualisierungen von Politik in Szene setzen. Die Masse als Masse wird selbstständig Handelnde und als solche bildwürdig, auch und gerade im stummen Medium des Bildes. Eine Masse ohne Leitfigur ist wie eine Skulptur ohne Hauptansichtsseite, die Bandbreite der Inszenierungsmöglichkeit der Masse durch einen unbeteiligten Dritten – sei es der Fotograf, sei es der Layouter – wird größer. „Keine Stationierung neuer Atomraketen“ forderten 1983 Demonstranten auf dem Foto einer der vielen Abrüstungsdemonstrationen dieser Jahre.8 Der Zug der Demonstranten mit ihren Plakaten führt durch Straßen, deren Häuserzeilen nur an einigen Stellen erscheinen. Der Fotograf steht mitten im Zug und hat von erhöhter Position aus auf die Demonstration herunter fotografiert. So reicht der Blick noch über das große Transparent, das wie ein breiter Riegel von der Masse über sich hergetragen wird, hinweg in den Bildhintergrund. In der rechten und linken oberen Ecke der Fotografie verengen Bäume den Blick in die Tiefe, lassen den Zug mit dieser perspektivischen Verkürzung länger erscheinen als er ist und drücken gleichzeitig den Zug bildfüllend nach vorne. Masse drängt sich bis an die Ränder vor, ist bildbestimmend, ohne das Bild tatsächlich ganz zu beherrschen, bildbeherrschend ist das Transparent, was mitten unter ihnen ist. Es ist kein Anführer zu sehen, auf den sich alle ausrichten, kein Arm und keine Blickrichtung verrät eine gemeinsame Ausrichtung auf ein Ziel. Das Transparent wird zum Anführer in und durch die Masse. Der bestimmte, im Bild dominante Sprecher wird zum unbestimmten, anonymen Schreiber. Was hier geschieht, hat Kracauer an Hand der Tillergirls 1927 in seinem Ornament der Masse beschrieben. „Diese Produkte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken sind keine einzelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind. [...] Sie werden aus Elementen zusammengestellt, die nur Bausteine sind und nichts außerdem. Zur Errichtung des Bauwerks kommt es auf das Format der Steine und ihre Anzahl an. Es ist die Masse, die eingesetzt wird. Als Massenglieder allein, nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer Figur.“9

Man kann den Teilnehmern an Demonstrationen zwar eine andere Intention unterstellen, doch strukturell unterscheidet sich das Tillergirl nicht von den eben beschriebenen Demonstranten. Das Bild, das in beiden Fällen entsteht, gewinnt seine

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Bildwirkung erst durch das „Ornament der Masse“, „das sich nachträglich nicht mehr zu Menschen zusammensetzen“ lässt,10 weil das Bild nur als Masse lebt und der Einzelne in seiner Eigenschaft als Einzelperson keine Relevanz hat. Der Einzelne wird zum unauflösbaren Teil des Ganzen. Demonstrationen, die solcherart ihren Anspruch auf Führerschaft abgeben, bringen überzeugende Bilder zustande. Die Suggestivkraft eines Bildes, wie das von der „gewaltfreien Blockade“ ist groß. Noch einmal zurück zum „heißen Herbst“ von 1983. Der wie immer polarisierende Titel des Spiegels gab der führerlosen Masse eine Leitfigur, eine Leitfigur allerdings, die sich vom traditionellen Redner weit entfernt hatte (Abb. 3). Das war kein (selbst)ernannter Anführer, sondern eine Person, die anonym und nur für das konkrete Bild vom Fotografen in die Rolle des Redners ins Bild gebracht worden war. Zu sehen ist ein mit einem weißen Umhang umgetaner Demonstrant, der einem übermächtig drohend ins Bild hineinragenden Polizisten die Warnung „Vorsicht Pazifist“ als Umhängeschild vor der Brust entgegenhält.11 Der die gesamte Bildhöhe einnehmende, behelmte Polizist blickt auf den Pazifisten und die unter ihm sich zum Bildhintergrund hin ausbreitende Masse. Ganz an den Rändern der Demonstration sieht man vereinzelt Plakate, deren Schriftzüge aber nicht lesbar sind. Hier inszenierte sich die Masse nicht als Gesamtheit, hier steht eine Person, die die Masse nutzt, um mit ihr das Bild einer Idee zu vermitteln; besser: Hier wurde eine Person platziert, um mit ihr das Bild, das sich Der Spiegel von der Demonstration gemacht hatte, zu illustrieren. Die Person, die aus der Masse der sitzenden Demonstranten herausgewachsen ist, ist nicht ein Pazifist, es ist der Pazifist schlechthin. Einer der vielen, den sie stellvertretend wie ein lebendes Transparent vor sich hertragen. Mit der Verkleidung – weiße Kappe und weißer Umhang – mitsamt der Tafel wird der Mensch zur Verkörperung einer Leitidee. Keiner, der Führerschaft beansprucht, sondern Teil der Masse ist, die sich dem mächtigen Gegner, visualisiert im ebenso gesichtslosen Polizisten, entgegenstellt. Die Bildformel von der Einzelperson, die ohne Führungsanspruch vor der Masse steht, eine Person, die man als Exempel vorführen kann, ist ein bildmächtiges Argument für die Presse, das sich nicht nur als Titelbild gut verkaufen lässt. Doch die Masse als Masse verliert ihr argumentatives Gewicht. Eine Einzelfigur wird zur verkaufsfördernden Balkenüberschrift und die Masse zum Beiwerk. Mit dem Foto von Jobst Wellensiek, der 1996 zu Vulkan-Werftarbeitern in Bremen spricht, liefert Die Zeit dafür ein weiteres eindrucksvolles Beispiel (Abb. 4). Der Redner erscheint im verlorenen Profil am rechten Bildrand. Aber weder Größe noch Gestus oder Position weisen ihn als solchen aus. Es ist die Medienmaschinerie, die sich zwischen ihn und die nur noch als rote Tupfen wahrzunehmenden Zuhörer gestellt hat. Die Verbindung ist abgebrochen, die Masse taugt nur noch

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Abbildung 4: Fotografie von Jobst Wellensiek, der 1996 zu VulkanWerftarbeitern in Bremen spricht, in: Willeke, Stefan, „Der Herr der Pleiten“, in: Die Zeit, 2002, Nr. 6, S. 14

Fotografie: Carmen Jaspersen/action press

als vernachlässigbares Hintergrundornament; so vernachlässigbar, dass das Foto allein Wellensiek und die ihm vorgehaltenen Mikrofone scharf zeigt. In Zeiten, wo die mediale Selbstdarstellung des Publikums dem der Prominenten in Quantität wie in Qualität in nichts nachstehen,12 ist der anonymisierte Demonstrant kein überzeugendes Bild mehr, und Masse wird als dekoratives Beiwerk beliebig verfügbar. Die Einzelfigur als Transporteur für Ideen ist mutiert, das Bild speist sich aus anderen Darstellungsmustern zu einem neuen Bild von Demonstrationen: „TAUSENDE demonstrieren gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan“, unterschreibt Focus 2001 das Bild einer Demonstration und setzt mit der Nachricht nach, dass 48 Prozent der Deutschen „ihn nicht mehr für notwendig“ halten (Abb. 5).13 Signifikanter noch als die Tatsache, dass nur „Tausende“ demonstrieren, obwohl die Hälfte der Deutschen derselben Meinung sei, ist das dazugehörige Bild. Das Foto im Querformat wird bestimmt von dem Porträtkopf

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Abbildung 5: Foto von einer Demonstration gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan 2001, in: Focus 2001

Fotografie: Fotoagentur Guerilla

eines Vaters, der seine müde Tochter auf die Schultern genommen hat. Im Mittelgrund lassen Vater und Tochter von den „Tausenden“ gerade noch eine Handvoll Demonstranten mit ins Bild und dann sperrt eine rote Banderole mit gelbem, nicht einmal vollständigem Schriftzug alle anderen Teilnehmer aus. Die „blinde Gefolgschaft“ von Tausenden setzt auch die Süddeutsche mit demselben Muster ein, nur dass jetzt „zehntausende“ repräsentiert werden von Vater und Sohn mit verrutschter Mütze.14 Hier kann man im Bild nicht einmal eine Menge erahnen. Eleganter löste Mohammed Al-Shaikh die Bildaufgabe der Menge mit in seinem Fall trauernden Schiiten und einer buntgekleideten Tochter, die das Bild solchermaßen ästhetisch bestimmt, dass man „Hunderte“ gar nicht erst vermisst (Abb. 6).15 Das ist keine Masse mehr, die hier inszeniert wird. Hier wird das Individuum, und dass überdies noch sentimental mit einer Kindererzählung, in Szene gesetzt. Hier folgt niemand einer sichtbaren Idee, hier wird versucht, Masse zu individualisieren. Eine Inszenierung, die mit einiger Sicherheit den Fotografen und nicht den Demonstranten verdankt ist. Allerdings: Der Blick in die Kamera als Selbstinszenierung hätte dem Verständnis von Masse keine andere Richtung gegeben. Der Körper, der hier Inszenierungsmittel ist, ist der eines Vaters mit seinem Kind, ist der von Individuen. Die Friedensbewegung hatte 1983 das „Massensterben“ auf dem Münchener Marienplatz inszeniert; damals stellte auch sie den Körper von Demonstranten aus, warb mit Menschen als lebenden Plakaten, indem die Körper

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Abbildung 6: Fotografie trauernder Schiiten, in: Der Spiegel 2013

Fotografie: Mohammed Al-Shaikh

der Demonstranten Sterbende darstellten.16 Aber es war der Körper als Demonstrant, dessen Individualität in der Masse und der Idee aufging. Die Aktion sollte als Bild funktionieren, gehörte somit zum inhaltlichen Konzept der Demonstranten. In den Demonstrationen der späteren Jahre sucht ein Fotograf einen bildwürdigen Ausschnitt und benutzt Vater und Kind als Vater und Kind, die nebenbei demonstrieren, um sie zum Bild zu machen. Noch einmal Soeffner überspitzt formulierend zitierend, müsste man mit Blick auf die Demonstrationsfotos der beginnenden 1980er Jahre sagen, „daß die allgemeine Bedeutung und Botschaft des Rituals weder im Glauben an einen Gott noch […] an den FC Schalke 04, Frieden und Freiheit etc. bestehen: Hier geht es weniger um den Glauben an etwas außerhalb der jeweiligen Gemeinschaften, sondern vor allem um das Erlebnis und die Erfahrung von ,Gemeinschaft‘ selbst innerhalb einer möglichst großen und eigensinnigen, kollektiven Ausdrucksgestalt.“17

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Die Erfahrung von Gemeinschaft hatte die Friedensbewegung gemacht, doch die Demonstranten der beginnenden Nullerjahre, oder genauer: deren Abbilder, interessierte das nicht mehr. Die wenigen Figuren vollenden als Abbreviatur von Masse das „absichtsvoll inszenierte Kunstwerk“18; sie werden zu Vorlagen von Massenbewegungen. Inzwischen ist die Geschichte der politischen Demonstration und damit die Geschichte ihrer Bilder in ein neues Stadium eingetreten. Spätestens in der postfaschistischen Nachkriegszeit waren Demonstrationen in aller Regel politisch links orientiert. Das hat sich 2015 mit den Pegida-Demonstrationen geändert.19 Auffällig ist auch, dass die Gegendemonstrationen, selbst wenn sie in der Teilnehmerzahl den Pegida-Demonstrationen überlegen waren, in der Regel ein geringeres mediales Echo gefunden haben. Die französische Gelbwesten-Bewegung seit dem Herbst 2018 schließlich integriert linke wie rechtspopulistische Positionen gleichermaßen und wird beiderseits des Rheins von entsprechenden Parteien zu instrumentalisieren versucht. Mit diesen neueren Phänomenen der politischen Demonstration sind auch neue Formen der Inszenierung von demonstrierenden Massen im Bild verbunden. Doch das soll als Thema der Festschrift für Jürgen Wiener zum 80. vorbehalten bleiben.

A nmerkungen 1 | Kemp, Wolfgang: „Das Bild der Menge (1789–1830)“, in: Städel-Jahrbuch, NF 4.1973, S. 249–270, hier S. 249. 2 | Ebd., S. 253. 3 | Ebd. 4 | Soeffner, Hans-Georg: „Geborgtes Charisma – Populistische Inszenierungen“, in: ders., Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1992, S. 177–202, hier S. 112. 5 | Kämpfer, Frank: ‚Der rote Keil‘. Das politische Plakat. Theorie und Geschichte, Berlin 1985, S. 104–106, Abb. 253 und Abb. 103, S. 110. 6 | Soeffner 1992, S. 109 f. 7 | Ebd., S. 113. 8 | Jeschke, Axel/Malanowski, Wolfgang: „,Gewalt ist ein so gewaltiges Wort‘“, in: Der Spiegel, 29.08.1983, Nr. 35, S. 34–43, hier S. 43. Alle hier genannten Spiegel-Artikel lassen sich abrufen unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1947.html. 9 | Kracauer, Siegfried: „Das Ornament der Masse“, in: ders., Das Ornament der Masse. Essays (1927), Frankfurt a. M. 1977, S. 50 f. 10 | Ebd., S. 53.

Wie groß ist eine Menge? 11 | Titelbild der Spiegel-Ausgabe vom 29.08.1983, Nr. 35. 12 | Soeffner 1992, S. 175 f. 13 | Jach, M./Krumrey, H./Wiegold, T.: „Außenpolitik. Eingeschränkt solide“, in: Focus, 26.11.2001, Nr. 48, S. 36–40, hier S. 37. 14 | Süddeutsche Zeitung, 26.08.2002, S. 1. 15 | O. V.: „Tränen und Gas in Bahrain“, in: Der Spiegel, Nr. 27, 04.07.2013, S. 71. Foto: Mohammed Al-Shaikh. Härter ging Der Spiegel an anderer Stelle vor: Mindestens zweimal zeigte Der Spiegel den Vater, der seinen Sohn mit einer Sprengstoffattrappe versah (22.04.2002, Nr. 17, S. 112 und 03.05.2004, Nr. 19, S. 60), auch Die Zeit holte das Bild ins Blatt (2002, Nr. 17, S. 36 und 2002, Nr. 18, S. 12), merkte allerdings an, dass dem Vater ein Verfahren wegen der Sprengstoffattrappe drohe. 16 | O. V.: „,Diesmal wollen wir nicht schweigen‘“, in: Der Spiegel, 29.08.1983, Nr. 35, S. 24–32, hier S. 25. 17 | Soeffner 1992, S. 115 f. 18 | Meyer, Thomas: Die Transformation des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 134. 19 | Amadeu Antoino Stiftung (Hg.): Peggy war da! Gender und Social Media als Kitt rechtspopulistischer Bewegungen, o. O. 2016, S. 39, 46: https://www.vielfalt-mediathek.de/mediathek/6303/peggy-war-da-gender-und-social-media-als-kitt-rechtspopulistischer-bewegungen.html [11.12.2018].

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I. Koinzidenz A Am 20. Januar 1959, nur wenige Monate bevor Jürgen Wiener das Licht der Welt er­ blickte, stellte Alastair Pilkington (1920–1995) der Welt ein revolutionäres Verfahren zur Produktion von Flachglas vor.1 Seine Erfindung, das sogenannte Floatglasverfah­ren, ermöglichte es, in einem endlos-kontinuierlichen Prozess, Flach- beziehungsweise Fensterglas je nach gewünschter Stärke (Dicke) zwischen 2 bis 24 Millimetern (theoretisch sind heute Stärken von 0,2 bis zu 35 Millimetern möglich), in unterschiedlichen, heute zumeist standardisierten Scheibengrößen von bis zu 3,2 x 6 Metern (in Einzelfällen bis zu 12 Metern Länge), in beliebigen Mengen (die Ofenreise einer Floatanlage kann zwischen 10 und 15 Jahren dauern und produziert dabei non-stop pro Jahr ca. 6.000 Kilometer Glas in den genannten Abmessungen) und von bis dato nicht erreichter Klarheit und Transparenz herzustellen.2 Pilkingtons Verfahren, das nach heutigen Maßstäben eine Unsumme an Entwicklungskosten verschlang, gelangte Mitte der 1960er Jahre zur Serienreife und löste die traditionelle Flachglas-produktion im Guss-, Zieh- oder (Zylinder-) Blasverfahren vor allem auf dem Gebiet des architekturgebundenen Einsatzes von Flachglas fast vollständig ab.3 Inzwischen liefert das Floatglasverfahren etwa 95 Prozent des benötigten Bedarfs an Flachglas, überwiegend für die Anwendungsgebiete Fensterglas, Autoscheiben oder Spiegel.4

II. Technik Der Herstellungsprozess von Floatglas ist so einfach wie genial. Die geschmolzene Glasmasse fließt bei einer Temperatur von 1100 °C auf ein flüssiges Bad aus Zinn (floating).5 Das Glas breitet sich aufgrund seines geringeren Gewichts auf der Metall­oberfläche wie ein Film gleichmäßig aus (Abb. 1). Um eine Oxidation

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Abbildung 1: Blick ins Innere der Floatglasanlage. Die flüssige Glasmasse treibt auf der Zinnober­fläche

Fotografie: © GMI Gütegemeinschaft Mehrscheiben-Isolierglas e.V./Pilkington

Abbildung 2: Floatglasproduktionsstraße mit Schmelz- und Läuterwanne, Zinnbad und Kühlkanal. Eine solche Anlage kann zwischen 300 und 800 Metern lang sein

Fotografie: © f | solar GmbH Magdeburg

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Abbildung 3: 4 mm Floatglasscheiben mit typischer grünlicher Färbung

Fotografie: Reinhard Köpf

des 232 °C hei­ßen Zinns zu vermeiden, findet der Prozess unter Schutzatmosphäre statt (Abb. 2). Die Glasmasse kühlt bis zu ihrer Erstarrung am Ende des Bades ab und wird bei einer Temperatur von 600 °C in einen Kühlofen geleitet, in dem das Glas spannungs­frei abkühlen kann.6 Am Ende des Prozesses erfolgt eine automatisierte, optische Qualitätskontrolle, ehe das Glas schließlich auf die entsprechenden Scheibengrößen geschnitten und abgestapelt wird. Die Zugabe von Eisenoxid gibt dem handelsüb­lichen Floatglas seine charakteristisch blaugrünliche Färbung (Abb. 3). Beim Kontakt mit der Zinnoberfläche wird eine Seite des Glases geringfügig mit dem Metall dotiert. Bei UV-Belichtung fluorisziert die Zinnseite leicht graublau. Für Laborgläser, bei de­nen es auf besondere Reinheit ankommt, eignet sich Floatglas daher nicht.7 Einer künstlerischen Bearbeitung von Floatglas, um die es im Folgenden gehen soll, steht die spezifische Herstellungstechnik freilich kaum bis gar nicht im Weg.

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III. Kunst Mitte der 1980er Jahre brachen sich in der modernen Glasmalerei Veränderungen Bahn, deren Wurzeln in den soeben beschriebenen Möglichkeiten der Flachglasher­stellung mittels Floatverfahren zu suchen sind. Etliche Künstler sahen in den fast be­liebig groß herstellbaren Glasflächen die Chance, den Zwängen des traditionellen Materials, dem mundgeblasenen Echtantikglas und seiner Verbindung durch Blei­ruten, zu entfliehen.8 Die Größen solcher Glastafeln sind herstellungsbedingt be­grenzt; sie liegen etwa bei ca. 60 x 90 Zentimetern. Der Aufbau großer Flächen mit Farbwechseln ist deshalb nur durch die mosaikartige Zusammenfügung der einzeln zugeschnittenen Scherben möglich. Die konstruktive Notwendigkeit bedingt ein Netz aus Bleiruten, das notwendiger Weise zu einer graphischen Bildstruktur führt, das erst jene gattungsimmanenten Spannungen erzeugt, die zwischen malerischem und zeichnerischem Ausdruck changieren. Eine Ausflucht bot die Floatglasmalerei. Sie prägte in den letzten drei Jahrzehnten das Erscheinungsbild der Glaskunst.9 Dabei ist die Malerei mit Schmelzfarben auf großen „bleifreien“ Floatglasflächen gemeint.10 Das Malen auf Glas trat damals in be­w usste Konkurrenz zu der klassisch-modernen Glasmalerei als einem Malen mit Glas, wie es etwa Johan Thorn Prikker (1868–1932) oder Josef Albers (1888–1976) schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts propagierten. Der Gewinn an Malfläche be­deutete, dass die „linientreue“ Glasmalerei mit Bleien einem „malerischen Akt der großen Geste“ wich.11 Spontane Freiheit der Gestaltung in abstrakten Formen, das Einfangen fließender Bewegungen und nicht selten die signalhaft bunte Farbigkeit der Schmelzfarben sind zu einem Charakteristikum der Floatglasmalerei geworden. Künstler, die sich dieser Technik bedienen, scheint es bei der Floatglasmalerei ungleich leichter zu fallen, die Distanz zwischen eigenem Schaffenswillen und Materialbeherrschung zu überwin­den. Zwar werden auch hier künstlerische Entwürfe von den Mitarbeitern der Glas­werkstätten den Vorlagen entsprechend umgesetzt, wie es für die Gattung der Glas­malerei fast seit jeher Tradition ist, doch finden Künstler gerade auf dem Gebiet der Floatglasmalerei häufiger den Weg in die Werkstatt, um dort selbst die Ausführung ihres Werks zu übernehmen (Abb. 4).12 Was die Umsetzung in den Glasmalereiwerkstätten angeht, so ist mit den Derix Glas­studios in Taunusstein sicher eine der weltweit wichtigsten Firmen auf diesem Gebiet zu nennen, gerade was die Entwicklung und den Einsatz moderner Techniken in der Glasmalerei angeht.13 Nicht unwichtig erscheint die Anmerkung, dass die Firma für das Jahr 2016 behauptete, sie verfüge über den mit 3 x 6 Metern größten Brennofen in Europa, der eine Bearbeitung riesiger Flächen erst ermöglicht.14 Ein unschätzbarer, freilich häufig übersehener Vorteil der Floatglasmalerei

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Abbildung 4: Hella Santarossa bei der künstlerischen Gestaltung der Verglasung für die St. Florianskirche in München Messestadt-Riem (2005)

Fotografie: Baumgart, © Mayer’sche Hofkunstanstalt GmbH, München

ist, dass sich die Gläser zu Sicherheits- oder Isolierverglasungen weiterverarbeiten lassen, was ihren Gebrauch für die Architektur umso attraktiver machte, konnten so ganze Fassaden als malerische Fläche ins Auge gefasst werden, die ihre Wirkung im öffentlichen Raum direkt entfalten können. Ich meine, die USA hat in dieser Hinsicht inzwischen eine Vorreiterrolle übernommen.15 In Deutschland hat Tobias Kammerer (geb. 1968) die Floatglasmalerei wie kaum ein anderer beeinflusst. Kammerers Stil war in den 1990er Jahren völlig neu: Malereien in ausdrucksstark geschwungenen Linien, teilweise extrem dynamisch und farbinten­siv, dann wieder zart in ihrer Konturierung mit durchdachten Bildkonstruktionen.16 Die Fenster für St. Peter und Paul in Neukirch bei Rottweil von 1995 gelten noch immer als Initialwerke dieser Kunstform. Er ist bis heute der bedeutendste Informelle der deutschen Glasmalereiszene.17 Doch regte sich in den letzten Jahren bei aller anfänglichen Euphorie ob der neuen technischen Möglichkeiten verstärkt Kritik. Namentlich Holger Brülls, Konservator am Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Sachsen-Anhalt und einer der besten Kenner der modernen Glasmalerei in Deutschland und Frankreich, bemängelt seit geraumer Zeit ein Defizit an künstlerischen Quali-

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täten der gegenwärtigen Glas­malerei, insbesondere der Floatglasmalerei.18 Der Malgrund, steril und kalt in seiner Oberflächenbeschaffenheit, steht deutlich im Widerspruch zur Spontaneität des gesti­schen Farbauftrags. Der beständige Eindruck des Nicht-Fertigen als scheinbar nur feucht hingewischter Farbe, kurz, des Nicht-Dauerhaften, ist eine der ästhetischen Schwächen der Malerei auf Floatglas; umso mehr, wenn wir von einer architektur­gebundenen Aufgabe der Glasmalerei sprechen wollten, die ihrem Anspruch nach schon auf Dauer angelegt sein müsste. Im Vergleich zu der unnachahmlichen Bril­lanz von Echtantikgläsern, deren Farbintensität und Leuchtkraft, verlieren sich man­che Arbeiten in „seichtem Aquarellismus“ und „gefälliger Buntfarbigkeit“, die, so Brülls weiter, „vor allem im kirchlichen Raum einer bedenklichen Trivialisierung der Glas­malerei Vorschub“ leisteten.19

IV. G egenwart Gemessen an der herkömmlichen Betrachtung glasmalerischer Gestaltungsmittel wie Komposition, Zeichnung, Farbe, Lichtführung und Raumbezug, muss die Floatglas­malerei freilich scheitern. Brülls Einwurf, der gegenwärtigen Glasmalerei, zumal den Arbeiten auf Floatglas, fehle es an Figuration und Architekturbezug, entlarvt das Auge des klassischen Architekturhistorikers.20 Der vor allem anhand sakraler Bauauf­gaben geschulte Blick vernachlässigt, bei aller berechtigten Kritik im Einzelfall, ande­re Möglichkeiten der Glasgestaltung, die in den letzten Jahren stärker an Bedeutung gewonnen haben.21 Hier wird gerade das häufig bemängelte Bedürfnis der Auftrag­geber, helle Räume mittels lichtdurchfluteter Fenster zu schaffen, gerade zum Mittel des Zwecks erklärt, ohne eine nur auf das bunte Kolorit ausgerichtete „triviale Erwar­tungshaltung“ zu befriedigen.22 Gemeint sind Räume, in denen das Licht Atmosphäre schafft, das zur Kontemplation und Konzentration einlädt und im besten Fall der Ge­sundheit dienen soll. Unter dem Stichwort „therapeutisches Glasdesign“, das der Mainzer Künstler Yvelle Gabriel (geb. 1968) auf seiner Internetpräsenz gebraucht 23, kehrt die Glasmalerei derzeit zurück zu ihren Ursprüngen, die im Wesen des durch das Glas gebrochenen und so erst sichtbar gemachten Lichts, nicht nur, wie in mittelalterlichen Vorstellun­gen, eine metaphysische Sehnsucht nach dem Numinosen, nach dem Göttlichen, sondern auch eine grundsätzlich positive Eigenschaft auf den menschlichen Körper und die Psyche erkennt.24 Kapellen in Kliniken, Hospize oder andere Einrichtungen des „Health Care“-Bereiches bedienen sich der Floatglasmalerei, um diese Auswir­kungen spür- und nutzbar zu machen. Wer um Jürgen Wieners Verbindung zu Assisi und dem Heiligen Franz weiß, ahnt, warum das abschließende Beispiel ausgesucht wurde.

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V. Koinzidenz B Für das Caritaszentrum St. Franziskus und das Hospiz St. Vincent in Mannheim ent­warf und gestaltete der oben erwähnte Künstler Yvelle Gabriel (eigentlich Boris Alex­ander Kehl) insgesamt 13 Fenster, die von 2015 bis 2016 zusammen mit den Glas­studios Derix in Taunusstein realisiert wurden.25 Die Kapelle zum Sonnengesang bildet mit ihren acht Fenstern das Herzstück der Arbeiten.26 Zusammen mit den klei­nen Oberlichtfenstern bilden sie die östliche Fassade der Kapelle, die zum Innenhof des Caritaszentrums ausgerichtet sind (Abb. 5). Gabriel entschied sich für eine Male­rei auf Floatglas, bei der die Farben in mehreren Schichten mit dem Trägerglas ver­schmolzen wurden. Die Verschmelzung der Farbpigmente sorgte im Ergebnis für eine besonders intensiv leuchtende Strahlkraft. Thema der Fenster ist das vielleicht bekannteste Gebet des Heiligen Franz von Assisi. Im sogenannten Sonnengesang, vermutlich in den Jahren 1224 oder 1225, ein Jahr vor dem Tod des Heiligen entstanden, preist Franziskus darin die Schönheit der Schöpfung und dankt Gott dafür.27 Inspiriert von den zehn Strophen des Ge­sangs setzt Gabriel in den Kapellenfenstern acht in Szene. Die darin enthaltenen Mo­tive Sonne, Mond, Wind, Wasser, Feuer, Erde sowie Leid und Tod werden in symbo­lisch aufgeladenen Bildern umgesetzt. Jedes Fenster lässt sich für sich betrachten; zusammengefasst werden sie aber durch fließende, mal wellen- mal kreisförmige Be­wegungen, die sich mittig, das heisst, nach je vier Fensterbahnen, nahezu spiegel­symmetrisch zueinander verhalten. Die vier nördlichen Fenster (Sonne, Mond, Wind, Wasser) werden bis auf die Darstel­lung der Sonne als rot-orange leuchtende Kugel dominiert von grünlich-blauen Tö­nen, während die südlichen vier (Feuer, Erde, Leid, Tod) hauptsächlich rötlich-gelbe Farbakzente setzen. Typisch für Gabriels Arbeit scheint das Oszillieren zwischen ab­strakten und gegenständlichen Darstellungsformen. Die drei letzten Fenster verdeut­lichen dies. Das Element Erde, versinnbildlicht als Planet aus dem Weltall betrachtet, an dessen Seite eine weiße Taube als Friedensbotschafterin oder Hinweis auf den Heiligen Geist zu erkennen ist, sowie das Kreuz als Zeichen des Leidens, um­wachsen von einem Baum, der noch der Zone des Irdischen aus dem benachbarten Fenster entspringt, reagieren mit ihrer gegenständlichen Darstellungsweise direkt auf die im Sonnengesang evozierten Bilder.28 Der Tod dagegen ist eine abstrakte Form, am ehesten eine Art Blüte, unter der eine Spirale den Übergang ins Unend­liche, Paradiesische symbolisieren mag.29 Die blasen- und strudelartigen Gebilde, die sich beinahe über die gesamte Fensterfläche verteilen, die ihre Schatten je nach Lichteinfall auf Wände und Boden ergießen, suggerieren dem Betrachter eine traum­artige, aus kurzer Distanz gesehen, gar surreale Erscheinung seiner eigenen räum­lichen Situation innerhalb der Kapelle.

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Abbildung 5: Mannheim, Caritaszentrum St. Franziskus. Innenansicht der Kapelle zum Sonnenge­sang. Fenster des Künstlers Yvelle Gabriel (2015/2016). Floatglasmalerei

Fotografie: © Derix Glasstudios, Taunusstein

Yvelle Gabriel bedient mit seinen Fenstern in der Kapelle zum Sonnengesang nur vordergründig das Klischee einer Floatglasmalerei, in der alles auf die Karte poppiger Farbigkeit gesetzt wird. Doch nicht um ihrer selbst willen ist die Farbigkeit gewählt; vielmehr scheint das Licht, das durch die Fenster fällt, zum eigentlichen Thema zu werden. Leucht- und Strahlkraft, die in der Lage sind, den Betrachter einfach glück­lich zu machen, Trost zu spenden, etwas in den Lichtbildern zu finden, wonach auch immer man auf der Suche ist, durchaus jenseits aller symbolischer und interpretatori­scher Pirouetten. Glasmalerei für neue Räume, für neue Architekturen mit ganz spe­ziellen Aufgaben. Auch sie können kunsthistorische Offenbarungen ermöglichen. Man muss sie nur suchen. Jürgen Wiener hat einen Sinn dafür…

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A nmerkungen * | Jürgen Wiener ist einer der wenigen, wenn nicht der einzige deutsche Hochschullehrer im Bereich der Kunstgeschichte, der sich mit Glas und seiner künstlerischen Verarbeitung intensiver beschäftigt. Dies betrifft insbesondere die moderne Glasmalerei seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Sein nie enden­des Interesse für technische Fragen, die er scheinbar spielerisch mit den künstlerischen Qualitäten der Werke verbindet, lassen nur hoffen, dass er auch zukünftig seine Begeisterung für die Glasmalerei nicht verlieren möge. Sie wäre ein enormer Zugewinn für die kunsthistorische Forschung und Allein­stellungsmerkmal für Jürgen Wieners langjährige Wirkungsstätte, das Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität. 1 | Das Herstellungsverfahren entwickelte Pilkington bereits ab 1952. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Henry Bessemer Versuche unternommen, Glas auf einer flüssigen Metalloberfläche auszugie­ßen, um so in einem automatisierten, kontinuierlichen Prozess Flachglas mit möglichst planparallelen Oberflächen zu erhalten, die ohne eine aufwendige abschließende Politur auskamen, die vorher nötig war, da die Oberfläche des Glasbandes stets durch Walzen gezogen wurde. 1902 meldete der Ameri­kaner William E. Heal erstmals ein Patent auf ein solches Verfahren an; 1925 folgte ein Patent von Halbert Hitchcock. Vgl. Ferreira Nascimento, Marcio Luis: „Brief history of the flat glass patent – Sixty years of the float process“, in: World Patent Information 38.2014, S. 50–56. Doch erst Alastair Pilkington und Kenneth Bickerstaff gelang es zwischen 1953 (1954 Patent in UK, 1955 in USA) und 1957, dieses Prinzip allmählich zu verbessern und industriell zu nutzen. Eine leichte Suche nach Patenten ermöglicht inzwischen die Website des Europäischen Patentamtes „Espacenet“: https://www.epo. org/searching-for-patents/technical/espacenet.html#tab-1. Die erste Produktions-straße für Floatglas der Firma Pilkington Glass Company in Cowley Hill, St. Helens (zwischen Liver-pool und Manchester), die 1966 in Betrieb ging, produzierte bis zu ihrer wirtschaftlichen Stilllegung im Jahr 2014. Vgl. ausführlich Bricknell, David: Float. Pilkington’s Glass Revolution, Lancaster 2009. Zuvor: Pilkington, Alastair (eigentlich Lionel Alexander Bethune): „Review Lecture. The Float Glass Process“, in: Proceedings of the Royal Society of London. Series A, Mathematical and Physical Sciences 314 (Ausgabe 1516) Jahr 1969, S. 1–25. 2 | Vgl. http://www.pilkington.com/sitecore/content/Pilkington/Global/About/Education/ The Float Process [01.05.2019]. Siehe ferner die illustrierten Erläuterungen unter https:// www.baunetzwissen.de/glas/ fachwissen/basisglaeser/floatglas-159089 [01.05.2019]. 3 | In einem Zeitraum von sieben Jahren waren Kosten von etwa 7 Millionen Pfund entstanden (nach heutigem Wert ca. 80 Millionen Pfund). Vgl. Nascimento 2014, S. 51. Die Firma Pilkington Brothers vergab nach 1966 ein Vielzahl von Lizenzen an andere Flachglashersteller (inzwischen 40 Firmen in 30 Ländern), blieb aber selbst bis zur 2006 erfolgten Übernahme durch die Nippon Sheet Glass Co. Ltd (NSG) und darüber hinaus eine der marktbeherrschen-

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Reinhard Köpf den Firmen in Sachen Floatglasproduktion. Derzeit sind ca. 370 Floatglasanlagen weltweit in Betrieb, mit einer Glasproduktion von 970.000 Tonnen pro Woche. Angaben nach http://www. pilkington.com/sitecore/content/Pilkington/Global/ About/ Education/The Float Process. 4 | Vgl. zur Marktsituation die Internetseiten des Bundesverbandes der Glasindustrie e. V. https://www. bvglas.de/ueber-glas/die-branchen/flachglas oder den Bundesverband Flachglas https://www.bundes­verband-flachglas.de [01.05.2019]. 5 | Die Rohstoffe für Floatglas unterscheiden sich kaum von jenen früherer Glasherstellungsverfahren. Im Bauwesen werden heute fast ausschließlich Silikatgläser verwendet, meistens Kalk-Natron-Silikat­gläser, die bereits im Alten Ägypten genutzt wurden und aus Quarzsand, Kalk und Soda bestanden. Das Floatglasgemenge setzt sich nach DIN EN 572-1 aus Siliciumoxid (SiO2), Calciumoxid (CaO), Na­triumoxid (Na2O), Magnesiumoxid (MgO) und Aluminiumoxid (Al2O3) zusammen. Zusätzlich finden sich noch geringe Anteile anderer Oxide wie Titandioxid (TiO2) und Eisenoxid. Vgl. Möhring, Rolf (Hg.), Baustoffkenntnis, Köln 182016, 3.1-3.44, hier unter 3.4. 6 | Die Dicke des Glases kann im Kühlbereich gesteuert werden, je nachdem ob sich die Rollen, über die das Glasband läuft, schneller (= dünner) oder langsamer (= dicker) drehen. 7 | Laborgläser bestehen hauptsächlich aus Borosilicatglas. Vgl. zur Verwendung bestimmter techni­scher Gläser: SCHOTT AG (Hg.), SCHOTT. Technische Gläser. Physikalische und chemische Eigen-schaften, Mainz 1999, bes. S. 22–25, abrufbar unter: http://www.jb-electronics. de/downloads/ elektronik/nixies/eigenbau/schott_technical_glasses.pdf [01.05.2019]. 8 | Das Echtantikglas wurde um 1855 auf Basis der Analysen und Formeln des Glasmalereiliebhabers Charles Winston in England erfunden. Nach 1870 wurde das als Wiederentdeckung der mittelalter­lichen Hüttentechnik gefeierte Mundblasverfahren zur Glasherstellung auch in Deutschland immer be­liebter; es ist bis heute das beherrschende Verfahren für künstlerische Anwendungen geblieben. Wie im Mittelalter entnimmt der Glasbläser bei seiner Herstellung zunächst einen heißen Glasbatzen aus dem Ofen und bläst diesen mit der Glasmacherpfeife zu einer Kugel (den sogenannten Kölbel) auf. Die Kugel wird anschließend durch Schleudern gelängt, bis eine längliche „Flasche“ entsteht, deren Boden und Hals dann abgesprengt wird. Den so entstandenen Zylinder schneidet man der Länge nach auf und erhitzt ihn bis zum Erweichungspunkt der Glasmasse nochmals im Streckofen, wobei er mithilfe eines Holstabes zu einer flachen Platte ausgebreitet wird. Die entstandene Glastafel, das sogenannte Blatt, kann nach seiner Abkühlung entsprechend seines Verwendungszwecks zugesch­nitten und weiterverwendet werden. Im Durchlicht entfalten die Echtantikgläser mit ihrer runden bis leicht ovalen Bläselung und Hobelstruktur die gewünschte Transparenz und Körperhaftigkeit. Noch immer grundlegend zur Herstellung und Verarbeitung von Glas seit dem Mittelalter vgl. Strobl, Sebastian: Glastechnik des Mittelalters, Stuttgart 1990, bes. S. 45–55. 9 | Mit zahlreichen Beispielen vertreten auf den großen internationalen Sonderschauen zur Glasmalerei in Karlsruhe 2011 (Glasmalerei der Moderne), in Chartres 2012 (L’art contemporain du vitrail en Allemagne/Zeitgenössische Glasmalerei in Deutschland) und 2014 in Naumburg

Floatglas (Glanzlichter). Die dazu erschienen Publikationen mit zum Teil hervorragendem Bildmaterial. Vgl. Dresch, Jutta: Glasmalerei der Moderne. Faszination im Gegenlicht, Ausst.-Kat. Badisches Landesmuseum Karlsruhe vom 9. Juli bis 9. Oktober 2011, Karlsruhe 2011; Brülls, Holger: „L’art contemporain du vitrail en Allemagne/Zeitgenössische Glasmalerei in Deutschland (Centre international du vitrail)“, in: Jean-Francois Lagier (Hg.), L’art contemporain du vitrail en Allemagne/Zeitgenössische Glasmalerei in Deutschland (Centre international du vitrail), Chartres 2012 (im Folgenden zitiert als Brülls 2012/I); Brülls, Holger: Glanzlichter. Gegenwartskunst Glasmalerei. Begleitbuch zur Ausstellung „Meisterwerke zeitgenössischer Glasmalerei im Naumburger Dom“ vom 1. Juni bis zum 2. November 2014, Petersberg 2014. 10 | Schmelz- oder auch Emailfarben stammen ursprünglich aus der Porzellanmalerei und fanden seit dem 16. Jahrhundert auch in der Glasmalerei Anwendung. Ein Gemisch aus Glasfluss und pulverisier­ten Metalloxyden wird mithilfe eines Malmittels (meist Wasser) per Pinsel auf die Glasoberfläche aufgetragen und eingebrannt. Schmelzfarben sind in den unterschiedlichsten Tönen herstellbar und können je nach Mischungsverhältnis, Auftragdicke und Einbrennvorgang Färbungen in verschiedenen Intensitäten erzeugen. Die Einbrenntemperatur von Schmelzfarben liegt bei ca. 630 °C. Da ihre Resi­stenz gegen Bewitterung dadurch sehr gering ist, werden sie meist von innen, in Einzelfällen jedoch auch von außen auf die Gläser aufgetragen. Als erstes Kunstwerk der neuen Technik Floatglasmalerei nennt Christine Jung den säulenbemalten Windfang für die Peterskirche in Nürnberg von Robert Rex­hausen (1923–1983) von 1983. Vgl. Derix Glasstudios GmbH & CoKG (Hg.), Raum für Kunst aus Glas. Zum 150. Firmenjubiläum von Derix Glasstudios Taunusstein. Red. bearb. v. Christine Jung, Geisenheim 2016, S. 36. 11 | Vgl. Brülls 2014, S. 63–66, hier S. 64. 12 | Das vermutlich weltweit größte Werk in Floatglasmalerei ist Hella Santarossas Auferstehungsfenster für die Kirche St. Florian in der Messestadt München-Riem aus dem Jahr 2005. Es besteht aus 35 querrechteckigen Scheiben, die eine Fläche von 7 x 17 Metern füllen. Vom Gerüst aus entwickelte Santarossa das Fenster ganz im Sinne eines Action Painting. Die weitere Verarbeitung (u. a. Brennen, Montage) übernahm die traditionsreiche Mayer’sche Hofkunstanstalt GmbH München. 13 | Die Firma entwickelte Anfang der 1980er Jahre beispielsweise zusammen mit Johannes Schreiter das Airbrush-Verfahren, um Schreiters Brandformen als dunkle, sich öffnende Rauchblasen möglichst realistisch auf Glas zu übertragen. Vgl. Gercke, Hans/Volp, Rainer (Hg.): Die Glasbilder von Johannes Schreiter, Darmstadt 1988, S. 244. Daneben sind Ätzen, Sandstrahlen, Laminieren oder das Ver­kleben mit anderen Gläsern weitere technische Verarbeitungsmöglichkeiten. 14 | Vgl. Raum für Kunst 2016, Anm. 45. 15 | Vgl. unter zahlreichen Beispielen die Fassadengestaltung (Verbundsicherheitsglas mit Airbrush­bemalung) des Museum of History in El Paso (Texas, USA) von 2015 durch die Künstlerin Charlotte Ann Paul. Siehe mit guten Abbildungen https://www.derix.com/portfo-

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Reinhard Köpf lio-items/museum-of-history [01.05.2019]. Prominenter ist sicher die von Guy Kemper gestaltete Eingangswand der Gedächtnis-kapelle an Ground Zero (St. Joseph’s Chapel, New York) aus dem Jahr 2008 mit dem Titel Rise. 16 | Vgl. Urban, Wolfgang/Zahner, Walter: Tobias Kammerer. Aktionen des Lichts. Universen der Farbe, Lindenberg i. Allgäu 2011 und Brülls, Holger: „Tobias Kammerer. Primat der Farbe“, in: Brülls 2012, S. 58–67. 17 | Lukas Derow (geb. 1957), Christine Schwarze-Kalkoff (geb. 1955) oder Darko Lesjak (geb. 1966) wären darüber hinaus zu nennen. In Frankreich ist Kim En Joong der bedeutendste Vertreter der Floatglasmalerei. Vgl. Brülls 2014, S. 63. 18 | Verdeutlicht in Brülls, Holger: „Grenzen und Chancen der Glasmalerei der Gegenwart“, in: Horst Schwebel (Hg.), Glasmalerei für das 21. Jahrhundert. Malen mit Glas und Licht. Ein Ausblick. 100 Jahre Glasmalerei Otto Peters 1912–2012, Paderborn 2012, S. 44–61 (im Folgenden zitiert als Brülls 2012/II). 19 | Vgl. Brülls 2012/I, S. 13. 20 | Vgl. Brülls 2012/II, S. 58 f. Brülls promovierte 1990 über die Verwendung romanischer Architekturformen im Kirchenbau der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Vgl. Brülls, Holger: Neue Dome. Wiederaufnahme romanischer Bauformen und antimoderne Kulturkritik im Kirchenbau der Wei­marer Republik und der NS-Zeit, München/Berlin 1994. 21 | Grund dafür mag schlicht unsere Unkenntnis dieser Werke sein. Eine systematische Zusammen­stellung von Arbeiten der modernen, zeitgenössischen Glasmalerei existiert nicht. Pionierleistungen, wie die Forschungsstelle Glasmalerei des 20. Jahrhunderts e. V. sie geleistet haben, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Vgl. die beeindruckende Datenbank im Internet unter: http://www.glas­malerei-ev.net [01.05.2019]. Schon der Titel des Vereins verrät die chronologischen Ausschlusskriterien. Außer für Nordrhein-Westfalen, Luxemburg und der Provinz Limburg (NL) fehlen beispielsweise 15 Bundesländer. Ein Herkulesaufgabe, die ohne das Zusammenspiel verschiedener Akteure kaum zu leisten sein dürfte. Vor allem die Glaswerkstätten wären hier mit ihren zum Teil be­trächtlichen Archiven eine wichtige, bisher kaum berücksichtige Anlaufstelle. Der Verfasser befasst sich derzeit mit einer größeren Arbeit zu Glaswerkstätten und deren kulturhistorischen Quellenwert für die Glasmalerei. 22 | Vgl. Brülls 2012/II, S. 59. 23 | Vgl. http://www.studio-gabriel.de [01.05.2019]. 24 | Ende des 19. Jahrhunderts führten diese Erkenntnisse schon einmal zu einem Erfindungsreichtum auf dem Gebiet der Glasentwicklung und -gestaltung. Die Rede ist von der Einführung des Glasbau­steins in die moderne Architektur. Vgl. Corrao, Rossella (Hg.): Glassblock and Architecture. Evoluzione del Vetromattone e Recenti Applicazioni, Florenz 2010. Die interessante Verbindung von Glasbausteinen (u. a. mit einer historischen Entwicklung) und Betonverglasungen mit Dallgläsern zog kürzlich de Vis, Kirstel: The Consolidation of Ar-

Floatglas chitectural Glass and Dalle de Verre. Assessment of Selected Adhesives. Unveröffentlichte Dissertation, Antwerpen 2014, bes. S. 41–113. 25 | Vgl. https://www.derix.com/allgemein/glaskunst-im-caritas-zentrum-st-franziskus-mann heim [01.05.2019]. Zu Yvelle Gabriel, der sich erst seit 2012 mit Glasmalerei auseinandersetzt, vgl. bisher lediglich den Eintrag auf Wikipedia unter https://de.wikipedia.org/wiki/Yvelle_ Gabriel [01.05.2019]. der Totalität im Kunstdiskurs um 1800, Göttingen 2007, S. 99–152, hier S. 132. 26 | Vgl. als kleine Broschüre: Caritasverband Mannheim e.V. (Hg.): Die Kapelle zum Sonnengesang im Caritas-Zentrum St. Franziskus, Mannheim 2016. 27 | Franziskus’ Sonnengesang (Il Cantico delle Creature beziehungsweise im Original Il Cantico di Frate Sole) ist vermutlich das älteste Zeugnis italienischsprachiger Literatur (volgare umbro). Vgl. Branca, Vittore: Il Cantico di frate sole. Studio delle fonti e testo critico, Florenz 2012. 28 | Im Originaltext des 13. Jahrhunderts: Laudato sì, mi’ signore, per sora nostra matre terra, la quale ne sustenta et governa, et produce diversi fructi con coloriti flori et herba / Laudato sì, mi’ signore, per quelli ke persondano per lo tuo amore et sostengo infirmitate et tribulatione. 29 | Laudato si’, mi’ signore, per sora nostra morte corporale, dà la quale nullu homo vivente pò skappare. S. o.

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Eva Hesses Materialbilder Der Weg zur Dreidimensionalität – eine Ausstellung in Düsseldorf Marliesa Komanns Materialbilder und Zeichnungen war das Motto der ersten offiziellen Einzelausstellung Eva Hesses in Deutschland, die vom 6. August bis zum 17. Oktober 1965 in der Kunsthalle Düsseldorf stattgefunden hat. Die 14 dort gezeigten Materialbilder heben sich deutlich innerhalb des Œuvres der Künstlerin ab und kennzeichnen die Phase, in der Eva Hesse von der Malerei ausgehend dazu übergegangen ist, dreidimensional zu arbeiten. Wenige Jahre zuvor – 1962 – begleitete der damalige Leiter der Kunsthalle Basel, Arnold Rüdlinger, einige deutsche Industrielle und Kunstsammler nach New York, um ihnen die dortige Kunstszene vorzustellen. Über den Kontakt zum Künstlerfreund Al Held besuchten sie auch das Atelier des Bildhauers Tom Doyle, dem Ehemann Eva Hesses. Der Textilfabrikant Friedrich A. Scheidt hatte Gefallen an den großen Steinskulpturen Doyles, jedoch war ein Transport der Werke nach Europa zu kostspielig. Also lud er Tom Doyle und dessen Frau Eva Hesse kurzentschlossen zu sich nach Hause ein und bot ihnen an, sich ein Studio in einem Gebäude seiner Textilfabrik in Kettwig an der Ruhr einzurichten, um die Skulpturen dort zu schaffen.1 Im Mai 1964 kamen die beiden Künstler nach Deutschland.2 Eva Hesse, die ab 1952 künstlerisch in Malerei und Grafik ausgebildet worden war, unter anderem an der Yale School of Art and Architecture in der Farbenlehre Josef Albers, war zu dem Zeitpunkt mit ihren Kunstwerken weit weniger bekannt als ihr Mann Tom Doyle.3 Dennoch unterstützte er sie in ihrem künstlerischen Schaffen und dachte bereits vor der Abreise in New York, dass der Aufenthalt in Europa, fern von dem Einfluss der amerikanischen Kunstszene, Eva Hesse und ihrem Werk gut tun würde. Frei von der vorherigen Ideenwelt und inspiriert von ihrem neuen Umfeld war die Zeit in Deutschland besonders für Eva Hesse eine sehr produktive und kreative, die ihr und ihrer Kunst zum Durchbruch verhalf.4

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Abbildung 1: Eva Hesse, Ohne Titel, 1960, 125,7 x 125,7 cm

© The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

Da sowohl Eva Hesse als auch Tom Doyle gut Deutsch sprachen, sie aufgrund ihrer deutschen Familiengeschichte und er durch seine Zeit als Soldat, nahmen sie schnell und regen Kontakt zur Düsseldorfer Kunstszene auf.5 Sie besuchten zahlreiche Ausstellungen in Museen und Galerien, wie zum Beispiel im Oktober 1964 die von Robert Morris in der Galerie Schmela in Düsseldorf, die documenta III in Kassel oder unternahmen Ausflüge nach Basel, Bern, Florenz, Mallorca, Paris, Rom und Zürich, wo sie unter anderem Meret Oppenheim trafen.6 Sie nahmen die europäischen Künstlerströmungen auf und tauschten sich mit den Fluxus- und Zero-Künstlern aus. So wurde zum Beispiel Günther Uecker einmal in ihr Studio nach Kettwig eingeladen.7

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Es verwundert daher nicht, dass Eva Hesse mit drei ihrer Werke an der Winterausstellung 1964 in Düsseldorf, heute Die Große, beteiligt war.8 Diese Präsentation verhalf ihr dann auch zur ersten großen Einzelausstellung durch den Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in der Düsseldorfer Kunsthalle, in der 14 Assemblagen und 36 Zeichnungen von ihr gezeigt wurden, die alle während ihres Deutschlandaufenthalts entstanden waren.9 Die künstlerischen Anfänge Eva Hesses bezogen sich im Wesentlichen auf die jeweiligen Ausbildungsprogramme ihrer Studienkurse und reichten von Stillleben über Aktzeichnungen bis zu Bildern im Stil des Abstrakten Expressionismus.10 Letzterer beschäftigte die junge Künstlerin nachhaltiger und prägte auch ihre frühen Malereien nach dem Studium. Besonders die Künstler Arshile Gorky und Willem de Kooning galten ihr als Vorbild (Abb. 1).11 Arbeitete Eva Hesse in den Jahren zuvor ausschließlich zweidimensional, von wenigen Akzenten einmal abgesehen, entdeckte sie während der Zeit in Deutschland die dritte Dimension für ihre Werke. Im Studio in der Textilfabrik in Kettwig an der Ruhr lagen allerlei Materialreste aus dem Fabrikbetrieb herum. Diese benutzte Eva Hesse, um sie in ihre Kunstwerke zu integrieren und mit ihnen eine für sie neue Kunstform zu erproben. Bereits in den Zeichnungen der ersten Monate in Deutschland begann Eva Hesse die einzelnen Bildelemente freier und beweglicher auf der Bildoberfläche anzuordnen. Die Farbigkeit dieser Bilder suggeriert ein Schweben der gemalten Objekte im Bildraum.12 Ebenso orientierte sie sich in den Formgebungen mehr und mehr an den Dingen, die sie in der Fabrik umgaben und die später zu den Hauptbestandteilen ihrer Maschinenzeichnungen werden sollten.13 Ausschlaggebend war dann der Schritt, die gefundenen Materialien wie Schnüre, Schläuche, Drähte mit Techniken aus Gips und Papiermaché zu neuen Assemblagen zusammenzufügen.14 Die inspirierenden Fundstücke wurden nicht mehr nur abgebildet, sondern konkret im Werk selber eingesetzt.15 Generell wird der Künstlerin eine hohe Materialaffinität zugesprochen, die sich bereits in der Malerei der frühen Jahre äußerte, indem Eva Hesse Farblaufspuren in ihre Werke einsetzte oder die Farbe mit der stumpfen Pinselseite bearbeitete.16 Die Fundstücke der Textilfabrik, vor allem die Stricke und Schnüre müssen Eva Hesse besonders inspiriert haben, da sie 1960 einen Halbtagsjob als Textildesignerin in einer Manufaktur für Heimtextilien ausgeübt hatte.17 Das Ergebnis dieser schöpferischen Phase in Deutschland wurde abschließend in der Düsseldorfer Ausstellung einem breiten Publikum präsentiert. In nur einem halben Jahr schuf Eva Hesse 14 Materialbilder. Auch wenn sie sie aus Kostengründen nicht mit zurück nach New York nehmen konnte und sie erst posthum in die USA kamen, haben diese Werke ihr gesamtes Œuvre nachhaltig verändert.18 Nachdem sie wieder in New York angekommen war, widmete sie sich ganz der Drei-

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Abbildung 2: Eva Hesse, Skulpturen im Atelier der Künstlerin, 1966

Fotografie: Gretchen Lambert © The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

dimensionalität und schuf vorrangig Plastiken. Materialien wie Latex, Fiberglas, Plastik, Schnur und Gummi rückten in den Mittelpunkt (Abb. 2).19 Ihre Arbeiten wurden mehr und mehr ausgestellt. So wählte Harald Szeemann 1969 von ihr Skulpturen für seine als legendär bezeichnete Ausstellung When Attitudes Become Form in der Kunsthalle Bern aus, in der neue Kunstformen der Zeit präsentiert wurden und die im Anschluss im Museum Haus Lange in Krefeld zu sehen war.20 Die Werke aus der Zeit in Deutschland können letztendlich als Übergang und Wendepunkt ihres Schaffens verstanden werden. Allen 14 Materialbilder der Düsseldorfer Ausstellung dienten bis auf eine Ausnahme Tafeln aus Hartfaser- oder Pressspanplatten als Malgrund, die Arbeiter der Scheidtschen Schreinerei für sie anfertigten. Auf ihnen modellierte Eva Hesse mit Gips und Papiermaché und befestigte die Metallteile sowie die Schnüre und anderen Fundstücke. Für die farbige Gestaltung verwendete sie Email, Gouache oder Temperafarben, hauptsächlich die Farben, die Tom Doyle sich für seine Skulpturen aus den USA hatte schicken lassen.21 Im Mai 1965, als die ersten fünf Bilder fertig waren, gab es bereits eine

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kleine private Ausstellung mit Arbeiten von Eva Hesse und Tom Doyle in einem Gewächshaus im Park der Scheidtschen Villa. Dies bot der Künstlerin die Gelegenheit, erste Rückmeldungen von den geladenen Gästen zu ihren neuen Kunstwerken zu erhalten.22 Als das zuerst entstandene Materialbild Eva Hesses gilt Ringaround Arosie. Es handelt sich um ein hochrechteckiges Format, dessen grauer, zurückhaltender Untergrund modelliert wurde, sodass er verschiedene Unregelmäßigkeiten aufweist. Zentrales Bildelement bilden zwei Kreisformen, wovon die größere zentral auf das Bild gesetzt ist, während die kleinere sich direkt oberhalb der ersten anschließt. Beide Kreisfiguren werden von einer leuchtend roten Linie konturiert, wobei die größere noch von einem zweiten dunkleren roten Kreis außen eingefasst wird. Das Innere der beiden Kreise bilden zusammengerollte beigefarbene Kabel, die so auf der Bildfläche arrangiert sind, dass sie sich trichterförmig auftürmen und dem Betrachter entgegen kommen. Das Zentrum sowie kleine Akzente innerhalb der Kreise werden in einem Neonorange hervorgehoben.23 In dem Querformat Two Handeled Orangekeyed Utensil ist der Hintergrund in einem hellen einheitlichen Beige gehalten, während sich ein aus Gips geformtes Gebilde von links oben zur Mitte der rechten Bildkante erstreckt. Dieses wird vom oberen Bildrand stark angeschnitten und ist in einem schmutzigen Graublau gefärbt, während es stark herausgearbeitete Erhebungen aufweist. Der linke Teil dieser Form erinnert an ein Quadrat, dessen linke untere Ecke und die anschließend nach rechts führende Kante durch die stärkere Gipsmodellierung betont ist. In der Mitte der rechten Quadrathälfte befinden sich eine längsausgerichtete Gipsbeule und eine kleine Halbkugel. Daran schließt sich nach rechts ein aus Gips gestalteter Querriegel an, der die Quadratform mit einer nach rechts ausstülpenden runden, flachen Form verbindet. An diesen Querriegel setzen diagonal nach oben und unten führend zwei orangefarbene Formen an, die an Flügel erinnern. Sie bestehen aus Schnüren, die leicht gebogen, sich ineinander schmiegend die Form komplett ausfüllen. Auch unter ihnen deuten sich plastische Erhebungen an.24 In dem dritten Bild An Ear in a Pond erscheinen neben Weiß und Schwarz auch verschiedene Gelb-, Rosa-, Orange-, Grün- und Rottöne (Abb. 3). Während der Hintergrund von einem fleckigen Weiß bestimmt wird, führt die rechte untere Ecke mit einer schwarzen Figuration mit weißer Aussparung über zu einem dreidimensional gestalteten runden Element, das ganz in Rosa und Rot gefasst wurde. Dies ist erneut aus einer modellierten Masse kreiert und auf die Bildtafel aufgebracht worden. Ebenfalls weist es wieder eine mit Schnüren beklebte Oberfläche auf, die sich mittig in einer regelmäßigen Kreisform zentriert, aus deren Mitte schließlich ein dickeres, orangefarbenes Kabel herauskommt und ein gutes Stück vom Bild hinabhängt. Links daneben ist ein weiteres Objekt wie eine Eisenstange

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Abbildung 3: Eva Hesse, An Ear in a Pond, 1965, 105.7 x 45.1 x 19,1 cm

Fotografie: Stefan Altenburger Photography Zürich © The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

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angebracht, das sich in leicht nach rechts gebogener Form nach oben hin erstreckt und sich in hellem Gelb-Grün von dem ihm unterliegenden, seiner Krümmung nachempfundenen, intensiven gelben Grund abhebt. Oben an die nach rechts gebogene Form anschließend befindet sich ein weiteres gelb-grünes Stabobjekt, das sich mehrfach verwinkelt nach rechts ausdehnt, um sich dann mit der rosafarbenen Form unten zu verbinden. Betrachtet man alle 14 Materialbilder, lassen sich hinsichtlich der Objekthaftigkeit für den Moment drei Werkgruppen finden. In der ersten Gruppe befinden sich die drei zuerst entstandenen Arbeiten, die in mehreren Aspekten mehr der Malerei als einem Bildobjekt entsprechen. Es tauchen zwar fremde Materialien auf, diese werden aber mithilfe der Farbe verkleidet und nicht als Objekte selbst dargestellt. In Ringaround Arosie ist das Kabel zwar bildbestimmendes Element, aber es geht hierbei vielmehr um dessen Materialität als um die Tatsache, dass es sich um ein Kabel handelt. Das Werk thematisiert nicht die Faktizität des Kabels, diese ist für das Bild auch unwichtig, sondern dessen Materialeigenschaften: das beliebige Biegen und Formen, das Sich-Aneinander-Schmiegen und das Aufrollen-Lassen. Erst diese Fähigkeiten ermöglichen die im Bild entstandene Struktur. Das Kabel, hier als räumliche Linie in Summe aneinandergedrängt, erscheint vielmehr als plastisch gewordene Pinselspur, die in schwunghafter Weise sich zur Mitte hin verdichtet.25 Dieses erhabene Zentrum des Kreises als auch weitere Partien des Kabels sind knallig eingefärbt, sodass auch hier die Farbe die Wirkung des Werkes bestimmt.26 Die Farbe setzt in dieser Arbeit nicht nur die ausschlaggebenden Akzente, sie übernimmt mit den roten Kreiskonturen auch den dominierenden und eingrenzenden Part. In An Ear in a Pond ist die Farbigkeit weniger prominent, dennoch ist sie ausschlaggebend für die Entwicklung des Bildes. Die Malerei bestimmt das Werk und wird über die Objekte weiter fortgeführt. Diese sind der Farbe untergeordnet und übernehmen eine der Malerei dienende Funktion, was sich vor allem in der Überleitung zwischen den beiden gelben Figurationen ausdrückt. Auch die runde Form ist gänzlich mit Farbe gestaltet, die von außen nach innen dunkler und intensiver wird bis aus dem dunkelroten Mittelpunkt die knallige orange Kordel entspringt. Indem die Objekte komplett farbig gefasst sind, wird ihr Ursprung unkenntlich gemacht und die Objekte selbst werden verfremdet. Während in den ersten beiden Arbeiten lediglich Schnüre als gefundenes Material integriert wurden, tauchen in diesem Werk jedoch erstmals härtere Gegenstände auf, die sich aufgrund ihrer Statik weniger leicht formen lassen und somit auch unflexibler eingesetzt werden können. Die Größe und Form der Objekte nimmt damit schon jetzt Einfluss auf die Maße und damit auch auf die Gestaltung des Kunstwerkes.

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Abbildung 4: Eva Hesse, Legs of a Walking Ball, 1965, 45.1 x 67 x 14 cm

Leeum, Samsung Museum of Art, Seoul, Fotografie: © The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

In der zweiten Werkgruppe verhält sich Malerei zur Objekthaftigkeit ungefähr zu gleichen Teilen. Entscheidender ist, dass aufgrund der starken Farbigkeit der Fundstücke, diese von dem malerischen Grund abgehoben und betont werden: Auf gelbem Grund ist in dem Querformat Legs of Walking Ball ein ovales und fast bildfüllendes Element zu sehen, welches in Blautönen gehalten ist, die sich vom Rand zur Mitte hin aufhellen (Abb. 4). Im Zentrum weist es eine große Aussparung auf, in die ein weiteres Gebilde hineingesetzt wurde, das komplett mit abwechselnd roten und grünen Schnüren beklebt ist. Zur unteren Bildkantenmitte hin endet die auch an der rechten Seite leicht beschnittene blaue Form in einem Hals. Dort setzt ein mit gelber Schnur umwickelter Draht an, der sich nach rechts und dann nach oben biegt. An seinem Ende befindet sich eine komplett von Garn umhüllte Kugel. Links von der blauen Form kommt ein kleiner Zylinder aus der Bildfläche, an dem ein kürzerer Stab wie ein Zeiger befestigt ist. Beides ist komplett mit roter Farbe bemalt. Interessant ist hierbei, dass sowohl der Draht als auch der Zeiger beweglich sind und sich auf der Bildtafel drehen lassen.27 Die Farbigkeit der beiden metallenen Objekte in diesem Werk hebt sich klar von der Malerei des Bildes ab. Damit bekommen die Elemente deutlich mehr Gewicht innerhalb

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des Kunstwerkes. Trotz ihrer Verfremdung bestimmen sie die Strukturen im Bild mit. Dies verdeutlicht im Besonderen das Muster der aufgeklebten Schnüre. Unten links verlaufen sie mehr oder weniger konzentrisch zum roten Zeiger und deuten auf diese Weise seine Beweglichkeit und den damit einhergehenden Radius an. Ihr abruptes Enden beziehungsweise der Übergang zum nächsten Musterabschnitt markiert die Stelle, an der der gelb umwickelte Draht aus der Bildfläche heraustritt, während das dritte Muster oben rechts dessen Reichweite anzeigt. Einen ähnlichen Stellenwert, wenn auch in ganz anderer Ausführung, erhalten die gefundenen Objekte in Oomamaboomba. Der Bildgrund ist hier in einem dezenten Graugrün gehalten, das als Präsentationsfläche für die dreidimensionalen Objekte dient. Diese sind zwar weiterhin gänzlich in Farbe gefasst oder vollständig mit Seil umwickelt, stehen aber eindeutig im Fokus des Werkes. Während aus den, mit einem knalligen Gelb versehenen, Metallteilen das Bildelement arrangiert wurde, sind zusätzlich zwei Drähte so auf der Bildplatte montiert, dass sie weit in den Raum vor dem Bild hineinragen. Diese heben sich von Rosa über knalligem Pink bis ins tiefe Dunkellila reichend klar von den anderen Bildpartien ab. Spielt die Farbigkeit somit weiterhin eine große Rolle, lassen sich hier Bezüge zu Hesses künstlerischem Ursprung und dem Einfluss von Josef Albers erkennen. Auch wenn die Farbigkeit eine ganz andere ist und sich eher an die der Popart und Minimal Art orientiert, liegt der Fokus auf dem Modulieren von und mit Farbe. Im Gegensatz zu ihren amerikanischen Zeitgenossen benutzt sie nicht die Reinform der vorgefertigten Farbe, sondern mischt sie und kreiert so feine Abstufungen von hell bis dunkel.28 Wie bereits in ihren früheren Werken, ist auch hier die Farbmaterialität von Bedeutung. Die Kunsthistorikerin und Albers-Expertin Briony Fer beschreibt diese Auseinandersetzung Eva Hesses als Kampf mit den malerischen Möglichkeiten: „In the high chromatism of these works, Hesse is struggling with the possibility – or is it the impossibility? – of making a kind of color you can touch – but without succumbing to the lure of ourely optical color or signifying, either as an expressive, painterly touch.“29

In Tomorrows Apples sind die Fundobjekte die einzigen farbigen Elemente des Bildes. Fünf dünne Drähte, die mit Schnur umwickelt sind, kommen aus der oberen Bildhälfte hervor, um wenige Zentimeter weiter unten wieder ins Bild einzutreten. Sie bilden damit Brücken zwischen zwei modellierten Flächen im völlig in Weiß gehaltenen Bildgrund. Der obere Bildrand wird von einer aufgerauten, papierartigen Fläche geziert, die mit einer sich kurz darunter befindenden geschwungenen Kante abschließt. Die dort ansetzenden bunten Drähte enden kurz vor oder in einer weiteren, sich unten rechts befindenden, aus Gips aufgetragenen Fläche. Diese

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weist eine kleine Delle auf und zwar an der Stelle, an der der mittlere Draht, der als einziger in der Gipsfläche endet, ins Bild hineinführt.30 Der Draht wird hier zum Akteur. Er verformt den Gips, wodurch die Berührung zwischen Draht und Gipsmasse betont wird. Das Kunstwerk 2 in 1 ähnelt in gewisser Weise Ringaround Arosie. Auf rosafarbenem Bildgrund erstreckt sich eine organische Form, die aus hellbeigen Kabeln gebildet wird. Diese bilden mit Kreislinien zwei Zentren, die sich ebenfalls trichterförmig emporwinden. Im Gegensatz zu Ringaround Arosie sind hier die Trichter in dunklem Grau angemalt. Außerdem sind die Kabel deutlich lockerer und mit freien Stellen dazwischen aufgeklebt. Mittig zwischen den beiden Trichtertürmen ist eine kreisrunde Fläche ausgespart, in dessen Zentrum ein Metallbolzen aus der Bildtafel herausragt, der in einem roten Knauf endet.31 Sowohl dem Kabel als auch dem integrierten Bolzen werden mehr räumliche Freiheit zugestanden als in Hesses erstem Materialbild. Durch den lässigen Umgang mit den Kabellinien bekommen sie mehr Bewegungsspielraum, wodurch jedes einzelne Stück Kabel sich als Kabel offenbaren darf. Noch eindeutiger wird dies bei dem Metallbolzen, der ganz und gar nicht mehr verfremdet wird und vermutlich sogar in ähnlicher Art und Weise im Bild angebracht ist, wie er es auch an seinem Ursprungsort war. Auch ihm wird eigener Raum im Kunstwerk zugestanden, der aufgrund der kreisrunden Aussparung und der zentralen Platzierung noch betont wird. Die räumliche Ausdehnung der Werke hat folglich in den Arbeiten der zweiten Werkgruppe zugenommen. Schon in Ringaround Arosie kommen die Kabel in ihrer Trichterform dem Betrachter vor dem Bild entgegen. Der Abstand zwischen Kunstwerk und Betrachter verringert sich. Diese Nähe wird auch in Two Handle Orangekeyed Utensil und Legs of a Walking Ball suggeriert, indem die Bildelemente von den Bildkanten beschnitten werden, wodurch das Werk etwas Ausschnitthaftes bekommt. In Two Handle Orangekeyes Utensil erscheint der auf die Bildtafel aufgebrachte Gips besonders sinnlich modelliert worden zu sein. Die abgegriffene Farbigkeit und die weich gestalteten Beulen verführen den Betrachter zum Berühren des Kunstwerkes. Verstärkt wird dies noch mit den Erhebungen, die von den aufgeklebten Schnüren bedeckt werden. Die Stofflichkeit der Fäden evoziert ein Aufdecken und Enthüllen des Verborgenen. Bleiben hier die Objekte dennoch in unmittelbarer Nähe des Bildes, so lösen sie sich anschließend aus der Bildfläche heraus, werden ausladender und gehen aktiv eine Begegnung mit dem Betrachter ein. Auch die Farbe veräußerlicht sich in ihrer knalligeren Erscheinung.32 Dies wird vor allem in Legs of a Walking Ball deutlich, da hier die anmontierten Fundstücke bewegt werden können und ein Anfassen damit impliziert ist. In 2 in 1 hat der angebrachte Hebel nicht nur eine prominente Stellung im Bild, sondern er kommt dem Betrachter auch direkt entgegen und schreit mit dem roten Knopf auf seiner

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Spitze quasi danach, betätigt zu werden. Nach Briony Fer setzt Eva Hesse hier Farbe und Objekt in gleichem Maße ein und zwar „to stick in the eyes of the viewer“.33 Eine Ausnahme der Werkgruppierungen bildet H+H. In diesem Werk werden die gefundenen Materialien weder inszeniert noch der Malerei untergeordnet. Die Fundobjekte werden sehr raumgreifend eingesetzt, womit es gut zu Legs of a Walking Ball und Oomamaboom passen würde, andererseits ist die Farbigkeit einheitlicher und deutlich reduzierter. Das Charakteristikum der Assemblage, nämlich verschiedene plastische Materialien in einem Bild zu vereinen, wird in diesem Kunstwerk besonders verdeutlicht. Ebenfalls von denen in Deutschland entstandenen Werken sticht Cool Zone heraus. Hierbei handelt es sich beinahe schon um ein Readymade à la Marcel Duchamp. Es besteht aus einem runden, mit drei Stützen und einem Halterungsrohr versehenden Aluminiumobjekt, dessen ursprünglicher Zweck nicht mehr zuzuordnen ist. So wie es gefunden wurde, wurde es an die Wand gehängt. Die einzige vorgenommene Veränderung ist eine Kordel, die durch das Rohr geführt wurde, sodass sie gleichmäßig herabhängen kann.34 Mit Pink beginnt die dritte Werkgruppe, in der die Fundsachen mit den Tableaus zu eigenen Unisono-Bildobjekten werden (Abb. 5.). Weder wurden der Malerei Objekte in dienender Weise hinzugefügt, wie in Gruppe eins, noch heben sich die gefundenen Materialien in ihrer Eigenständigkeit deutlich von ihrem Untergrund ab, wie es bei den Arbeiten der zweiten Gruppierung der Fall ist. In Pink ist das einzige pinke und überhaupt farbige Element eine kleine rosafarbene Kugel, die in einem wulstigen, aus grobkörniger Modelliermasse geformten Gebilde steckt. Dieses erstreckt sich von dem oberen Bildrand schräg nach rechts und weist eine Farbigkeit auf, die für das ganze Kunstwerk gültig ist und sich von einem hellen Sandton bis zu einem tiefen Grauton erstreckt. Knapp darunter befindet sich eine von links unten nach rechts oben ansteigende Diagonale, deren Kante durch mehrere Halbkreisbewegungen geprägt ist und die das Bild in einen hellen oberen Teil und einen dunkleren unteren unterteilt. Um diese Grenzlinie herum ist eine oder sind mehrere kürzere Kabelstränge geführt, die durch verschieden positionierte Löcher durch die Bildoberfläche heraus oder in sie hinein führen und die ebenfalls in unterschiedlichen Grauabstufungen bemalt sind. Im Vergleich zu den vorher entstandenen Werken fällt hier die einheitliche Farbigkeit auf. Malgrund, Modelliermasse und bemalte Objekte korrespondieren so eng miteinander, dass es schwer fällt zwischen Fundstück und Malerei zu unterscheiden. Ähnlich verhält es sich auch bei C-Clamp Blues, das beinahe komplett monochrom in einem dunklen Crèmeton gehalten ist. Die Oberfläche der Bildtafel ist aufgeraut. Nur in der Mitte der oberen Bildhälfte hebt sich ein kleiner senkrecht zum Untergrund aufgebrachter Stab ab, dessen Spitze von einem Knauf geziert

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Abbildung 5: Eva Hesse, Pink, 1965, 54.9 x 65.1 x 14.6 cm

Fotografie: © The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

wird. In der unteren Werkhälfte kommen aus zwei Löchern Drähte hervor, die sich v-förmig nach unten biegen und vor dem Bild in ihrer Mitte eine Kugel halten. Diese schwebt weit vor und aufgrund ihres Gewichts leicht unterhalb des Tableaus. Würde man sie berühren, könnte man ein Rasseln hören.35 Indes Up the down road und Top spot sich Pink ziemlich ähneln, hebt sich Eighter from Decatur besonders aufgrund seiner Farbigkeit deutlich von den anderen ab. In den beiden zuerst genannten Werken tritt die Schnur als Fundobjekt erneut in Erscheinung. Auch hier wird das Sich-Winden von Kabeln durch die Bildoberfläche thematisiert. Handelt es sich bei Up the down road um eine Styroporoberfläche, in dessen poröse Struktur sich das Kabel wie ein Wurm in den Sand graben kann, wird die Verschlingung von Tableau und Schnur in Top spot mit zusätzlichen Röhrchen, Bögen und einem anmontierten Schlüsselloch noch stärker verdeutlicht.

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Eighter from Decatur fügt sich deshalb in die letzte Werkgruppe ein, weil auch hier die eingesetzten Objekte auf eine monochrome „Basisplatte“36 gesetzt werden, um ihre Wirkung entfalten zu können. Ohne dass sie Malerei präsentiert, ist die Bildtafel für das Werk unerlässlich, denn sie hält alle Werkbestandteile zusammen. Am unteren rechten Bildrand ist ein Drahtobjekt angebracht, das mit seiner runden Mittelplatte und den acht ausgreifenden und beweglichen Drahtarmen an eine Windmühle erinnert.37 Davon ausgehend sind in gleichmäßigen Abständen gelbe Stricke auf die Bildfläche genagelt, die sich in Bogenformen über die gesamte Platte erstrecken. Auch hier ist das Drahtgebilde beweglich, benötigt hierfür aber nicht die Ziehkraft eines Menschen, sondern ließe sich vermutlich sogar leicht vom Wind in Bewegung setzen. Damit hat es eine deutlich höhere Eigenständigkeit als die Hebel in den Arbeiten der zweiten Gruppierung. Zusammenfassend betrachtet unterscheiden sich die 14 Materialbilder der Düsseldorfer Ausstellung von den zuvor entstandenen Arbeiten Eva Hesses vor allem in dem Punkt, dass neue Materialien eingesetzt werden und diese nicht nur als Inspirationsquelle dienen, sondern auch als Fundobjekte in die Kunstwerke integriert werden. Die logische Schlussfolgerung ist daher, dass sie deutlich plastischer sind und mehr Raum für sich beanspruchen. Der Einsatz von Papiermaché und Gips, mit dem die Assemblagen zusätzlich gestaltet werden, unterstützt diese Bildeigenschaft noch. Der traditionelle Bildraum, in dem die Malerei sich sonst bewegt, wird hier also aufgebrochen und über die Bildgrenzen hinaus in den realen Raum hin ausgedehnt. An der Entwicklung der Werke, die sich in nur einem halben Jahr vollzog, kann man erkennen, wie die Arbeiten aus der Malerei kommend sich zunehmend von ihr entfernen und immer mehr zum Objekt werden, dabei wird die Farbe zugunsten der Form aufgegeben.38 Der Kunsthistoriker Erich Franz stellt klar, dass „Räumlichkeit […] hier nicht Erweiterung, sondern Durchbrechung der visuellen Präsentation“39 ist. Dies erklärt auch die vollständige Hinwendung zur Dreidimensionalität Eva Hesses nach ihrem Deutschlandaufenthalt und die Entscheidung, bildhauerisch zu arbeiten. Insgesamt lässt sich ein sehr spielerischer Umgang mit den Materialien feststellen. Die Plastizität wird erprobt, indem die Bildelemente mal mehr aus der Bildfläche heraus kommen und sich dann wieder in sie zurückziehen. Manchmal wird die zu formende Masse weich modelliert, dann wiederum werden harte Kanten von Metallobjekten ins Bild integriert oder selbst durch abgeschnittene Kabelenden erzeugt. An der einen Stelle hängen die Kordeln schlaff herunter, an anderer werden sie gestrafft auf die Tafel genagelt. Die Möglichkeiten dieser Kunstform werden von Eva Hesse in diesen 14 Werken ausgetestet und für ihre weitere künstlerische Entwicklung abgewogen.

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Die Freiheiten, die sich in Deutschland für Eva Hesse auftaten, bezogen sich nicht nur auf die Materialien, die sie für sich entdeckte, sondern auch auf den fruchtbaren Austausch mit KünstlerInnen in Düsseldorf und Umgebung sowie die vielen neuen Eindrücke, die sie bei den Ausflügen in andere europäische Städte aufnahm. Ihr Œuvre zeugt daher sowohl von amerikanischen Einflüssen als auch von europäischen. Ebenso kann man davon ausgehen, dass ihre Ideen auch Spuren in der rheinländischen Kunstszene hinterlassen haben. Hierauf kann an dieser Stelle nur kurz verwiesen und müsste in einem anderen Rahmen genauer untersucht werden. Interessant ist zumindest, dass ebenfalls im Jahre 1965 Gerhard Hoehme an der Düsseldorfer Kunstakademie beginnt, Schnüre in seine Kunst zu integrieren. Hierzu erinnert sich der damals in Düsseldorf lebende Künstler Franz Erhard Walther in einem Interview, dass Eva Hesse damals Verena Pfisterer getroffen habe, die zu der Zeit eine Schülerin Gerhard Hoehmes war.40 Eva Hesse war mit den Zero-Künstlern in Düsseldorf bekannt, deren Werke auf die zunehmend reduzierte Farbigkeit in Hesses Arbeiten Einfluss genommen haben können. Die Kreisform, die in den Düsseldorfer Kunstwerken Hesses auftaucht, erhält in Arbeiten späterer Jahre bei der Künstlerin eine größere Bedeutung.41 Diese Werke verdeutlichen serielle Strukturen, wie man sie auch aus den Arbeiten der Zero-Künstler kennt.42 Ihr Ausflug in die Schweiz und das dortige Treffen mit Jean Tinguely und Meret Oppenheim haben Eva Hesse sehr beeindruckt. Von Tinguelys Maschinenkunst sind sicher die beweglichen Elemente in Hesses Materialbildern inspiriert.43 Der Surrealismus, wie ihn Meret Oppenheim in ihrer Pelztasse ausdrückte, spiegelt sich auch in der Ironie der Materialwerke Eva Hesses wieder, wie man sie in 2 in 1 und C-Clamp Blues beispielsweise sehen kann.44 Der rote Hebel in 2 in 1 und die rasselnde Kugel in C-Clamp Blues schaffen absurde Begegnungen zwischen Werk und Betrachter. Diese Art von Humor drücken auch die Bildtitel aus, die Eva Hesse im Nachhinein zusammen mit Tom Doyle für ihre Kunstwerke kreiert hat.45 Der Studioaufenthalt in Kettwig an der Ruhr hat die Kunst Eva Hesses in eine neue Richtung gelenkt. Der Abstand zu ihrer Heimat in den USA verhalf ihr, die selbstgezogenen Grenzen der Malerei zu überwinden und sich neuen Materialien und neuen Techniken zu öffnen. Mit den Ideen, die sich in ihr, aber auch dank dem Austausch mit den europäischen Künstlern offenbarten, gelang es ihr, neue Wege für sich zu entdecken.

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A nmerkungen 1 | Siehe Begleiter, Marcie: „Eva Hesse und der Genius Loci“, in: Hubertus Gaßner/Brigitte Kölle/Petra Roettig (Hg.), Eva Hesse. One more than one, Ostfildern 2013, S. 130–136, hier S. 132. 2 | Siehe ebd., S. 130. 3 | Siehe Roettig, Petra: „Zwischen Malerei und Skulptur. Eva Hesses späte Zeichnungen“, in: Gaßner/Kölle/Roettig 2013, S. 48–81, hier S. 52. 4 | Siehe Swartz, Anne: „Accession II: Eva Hesse’s Response to Minimalism“, in: Bulletin of the Detroit Institute of Arts 71/1.1997, S. 36–47, hier S. 39. 5 | Siehe Petzinger, Renate: „Eva Hesse – Gedanken zum Frühwerk 1959–1965“, in: Museum Wiesbaden (Hg.), Eva Hesse, Wiesbaden 2002, S. 17–59, hier S. 26. 6 | Siehe Rothkopf, Scott: „Short Essays: Relief”, in: Elisabeth Sussmann (Hg.), Hesse, New Haven/London 2002, S. 107–289, hier S. 164 und 149. Siehe auch Swartz 1997, S. 40. 7 | Siehe Reinhardt, Brigitte: „Art is an essence, a center – Zur Ausstellung“, in: Brigitte Reinhardt (Hg.), Eva Hesse: Drawing in Space – Bilder und Reliefs, Ostfildern 1994, S. 11–14, hier S. 14 (im Folgenden zitiert als Reinhardt 1994/1). 8 | Siehe Cooper, Helen A.: „Aus der Chronologie: Eva Hesse in Deutschland 1964/1965“, in: Reinhardt 1994, S. 98–108, hier S. 101. 9 | Siehe Reinhardt 1994/1, S. 14. 10 | Siehe Petzinger, Renate: „Leben und Werk“, in: Gaßner/Kölle/Roettig 2013, S. 164–219, hier S. 170. 11 | Siehe Swartz 1997, S. 41. 12 | Siehe Reinhardt 1994/1, S. 12. 13 | Siehe Petzinger 2002, S. 26. 14 | Siehe Spector, Naomi: „Eva Hesse – Die Frühen Jahre 1960–1965“, in: Reinhardt 1994, S. 56–61, hier S. 30. 15 | Siehe ebd., S. 27. 16 | Siehe Petzinger 2002, S. 31. 17 | Siehe Petzinger 2013, S. 172. 18 | Siehe ebd., S. 184. 19 | Siehe Reinhardt 1994/1, S. 11. 20 | Siehe ebd., S. 14. 21 | Siehe Fer, Briony: „Eva Hesse and Color“, in: The MIT Press 119.2007, S. 21–36, hier S. 24. 22 | Siehe Petzinger 2002, S. 30. 23 | Siehe S. Rothkopf 2006, S. 164. 24 | Siehe Spector 1994, S. 32. 25 | Vgl. ebd., S. 29. 26 | Siehe Fer 2007, S. 24.

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Marliesa Komanns 27 | Siehe Spector 1994, S. 32. 28 | Siehe Fer 2007, S. 24. 29 | Ebd., S. 28. 30 | Siehe Spector 1994, S. 33. 31 | Siehe ebd. 32 | Siehe Fer 2007, S. 28 und 24. 33 | Ebd., S. 30. 34 | Siehe Spector 1994, S. 33. 35 | Siehe Spector 1994, S. 34. 36 | Reinhardt 1994/1, S. 13. 37 | Siehe Spector 1994, S. 34. 38 | Siehe Fer 2007, S. 22. 39 | Franz, Erich: „Wilder Raum: Zu Eva Hesses frühen Arbeiten 1959–1965“, in: Reinhardt 1994, S. 53–58, hier S. 58. 40 | Siehe Kölle, Brigitte/Roettig, Petra/Walther, Franz Erhard: „Mit ihrer Ausstellung bei Fischbach im Jahr 1968 war sie da“, in: Gaßner/Kölle/Roettig 2013, S. 120–129, hier S. 122. 41 | Siehe Spector 1994, S. 31. 42 | Siehe Fer 2007, S. 31. 43 | Siehe Petzinger, Renate: „Wilder Raum, Maschinenteile und realer Nonsens: Gemälde und Zeichnungen aus Kettwig 1964/65”, in: Museum Wiesbaden (Hg.), Eva Hesse, Wiesbaden 2002, S. 79, hier S. 79. 44 | Siehe Swartz 1997, S. 40. 45 | Siehe Begleiter 2013, S. 134.

„Spielzeug an sich“ Georg Penkers Porphyrlandschaft am Sprengel-Museum in Hannover Christof Baier Sedimentanlagerungen häufen sich zu Füßen des älteren Teils des Sprengel-Museums in Hannover (Abb. 1). Hier und da wachsen erste Bäume und einige Gräser. Vor der Nordfassade erheben sich insgesamt vier Landzungen in sanfter Steigung bis hin zum hochgelegenen Gebäude. Zwischen den beiden östlichen Dünen schiebt sich wie eine Mole der langgestreckte Betonkörper einer Museumsstraße mit polygonalem Kopf in Richtung Rathauskuppel vor. Die übrigen Landzungen vor der Nordseite bergen drei verschieden geformte Wege, die hinauf auf das Plateau führen: eine Rampe, eine weitläufige Treppe mit niedrigen, langgezogenen Stufen sowie eine schmale, steilere Stiege. Vor der Westseite, zum Maschsee hin, formt die Sedimentanlagerung eine Böschung, die wie ein altertümlicher Deich wirkt. Die Oberfläche dieser vielgestaltigen, lebendig geformten Anböschungen besteht aus einem kunstvoll verlegten, den Schwellungen und Einbuchtungen der Erdkörper in sanftem Schwung folgenden Porphyrpflaster. So legt sich um das Museum eine seltsame Porphyrlandschaft, eine befremdliche, erklärungsbedürftige Form.

M useum

als

F ormgelegenheit

Die Konkretisierung der Idee eines Museumsneubaus für die Kunst des 20. Jahrhunderts in Hannover hatte ihren Ursprung in einer Schenkung. 1969 schenkten Bernhard und Margit Sprengel ihre Sammlung Klassischer Moderne der Heimatstadt Hannover. Verbunden war dies mit der Stiftung von 2,5 Millionen DM für einen Museumsneubau, in dem die Sammlung Platz finden sollte. Nach langen intensiven Diskussionen über „das Für und Wider der Museumsgründung“1 einigten sich Stadt und Land schließlich grundsätzlich darauf, die Baukosten und die

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Abbildung 1: Sprengel-Museum in Hannover, Detail der Porphyrlandschaft

Fotografie: Christof Baier Februar 2019

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laufenden Kosten des Museumsbetriebs gemeinsam zu tragen. Aus dem 1972/73 durchgeführten internationalen „Stufenwettbewerb für den Bau des Sprengel-Museums in Hannover“ ging ein Kölner Team als Sieger unter 191 Bewerbern hervor: „die Architektengemeinschaft P. + U. Trint und D. Quast […] Lichtplanung: H. von Malotki […] Außengestaltung: Gartenarchitekt Penker“.2 Der 1974 beginnenden Entwurfs- und Ausführungsplanung folgte ein Jahr später der erste Spatenstich und nach Vollendung des ersten Bauabschnitts 1979 die Eröffnung des Museums. Von 1989 bis 1992 wurde nach den ursprünglichen Plänen der zweite Bauabschnitt fertiggestellt. Ein mittlerweile unternommener, 2015 eingeweihter dritter Bauabschnitt ist hier nicht von Interesse. Für die Außenanlagen war frühzeitig der Landschaftsarchitekt Georg Penker in den Planungsvorgang eingebunden. Kennengelernt hatten sich die Architekten und der Landschaftsarchitekt im Umkreis der in Köln ansässigen Werkgruppe 7 und des Bauturms.3 Hier stand Penker insbesondere mit Erich Schneider-Wessling in intensivem Kontakt. Mit dem Büro Peter + Ursula Trint und anderen Architekten dieser losen Gruppierungen realisierte Penker eine Reihe von Bauten wie etwa die Kölner Musikhochschule (Peter + Ursula Trint, Peter Busmann, Erich Schneider-Wessling u. a.; 1973– 1977), die Berufsgenossenschaftliche Akademie Hennef bei Bonn (Peter + Ursula Trint, Dieter Quast; 1976 – 1981) oder den Rheingarten in Köln (Erich Schneider-Wessling; 1979–1984). Eigen ist diesen Projekten, dass ein erweiterter Ortsbezug ein zentrales Anliegen war. Die städtebauliche Situation und die gebaute Stadtgeschichte, landschaftliche Charakteristika und ökologische Erfordernisse sowie sozialräumliche Strukturen, gemeinschaftliche und individuelle Ansprüche wurden zu entscheidenden Parametern des Entwurfs.4 Dieser vielschichtige Ortsbezug, aber auch die Art und Weise, wie daraus mit dezidiert modernen Formen, Konstruktionen und Materialen zeitgemäße Bauten entwickelt wurden, finden zahlreiche Parallelen im Werk und in der Entwurfsphilosophie von Georg Penker. Es ist daher sehr gut nachvollziehbar, dass Penker engen Kontakt zu diesem Kreis hatte – er stand als Landschaftsarchitekt für eine zeitgemäße, kreative und formstarke Verbindung von Landschaft, urbanem Umfeld und Gebäude, für eine „Verzahnung von Natur und Bau“.5 Im Kontext des Entwurfs für das Sprengel-Museum hat die Anböschung des Erdgeschosses drei Funktionen (Abb. 2). Erstens sollte so die in der Wettbewerbsausschreibung aus Gründen des Schutzes der Kunstwerke eindringlich geforderte Lichtregie gewährleistet werden. Von vornherein war festgelegt, dass in dem neuen Museum „die Ausstellungsräume […] in der Mehrzahl ausschließlich mit Kunstlicht beleuchtet werden“ sollen.6 Die somit notwendig werdende große Zahl fensterloser Räume konnte ebenerdig hinter der Anböschung untergebracht werden.

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Abbildung 2: Peter + Ursula Trint, Dieter Quast, Sprengel-Museum – 0002 Außenperspektive, 1974

Bauaktenarchiv Hannover

Wie wichtig insgesamt der Aspekt der Beleuchtung war, welche sowohl der Präsentation als auch dem Schutz der Kunstwerke dienen sollte, zeigt der Umstand, dass in dem Team von Peter und Ursula Trint für die Lichtplanung der ebenfalls in Köln ansässige Hans T. von Malotki zuständig war, einer der führenden Lichtdesigner der Zeit.7 Die zweite Funktion bezieht sich auf die städtebaulich-landschaftlich diffizile Lage des Neubaus am Maschsee (Abb. 3). Aufgrund des geforderten Raumprogramms musste in dem als äußerst sensibel und städtebaulich bedeutsam interpretierten Areal ein verhältnismäßig großer Baukörper projektiert werden. Um die empfundene Monumentalität, die körperliche und visuelle Aufdringlichkeit des Bauwerks zu kaschieren, entwickelte das Entwurfsteam die Idee der Anböschung: „Durch Anheben der Erdkörper um ein Geschoß wird die Baumasse optisch verkleinert und passt sich somit harmonisch und maßstäblich besser ein.“8 Einpassung meinte ausdrücklich, das Museum sollte nicht auftrumpfen oder repräsentieren. Auch Georg Penker betonte, „Protzerei war hier nicht gefragt“ und bezeichnete diese Funktion als „zurückhaltende Integration gegenüber der Maschseelandschaft“ und als „landschaftsgestalterische Einbindung“.9

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Abbildung 3: Georg und Erika Penker, Kunstmuseum Hannover mit Sammlung Sprengel, Lageplan 1973

Archiv Georg und Erika Penker

Eng mit dieser zweiten ist die dritte Funktion der Anböschung verbunden. Nach den Diskussionen der 1960er und frühen 1970er Jahre befand sich die Institution Museum im öffentlichen und kulturpolitischen Diskurs noch immer in schwierigem Fahrwasser. Erinnert sei beispielhaft an das Wirken von Hilmar Hoffmann in Frankfurt am Main, der just im Eröffnungsjahr des Sprengel-Museums seine Schrift Kultur für alle publizierte.10 Werner Schmalenbach, langjähriger Direktor der Kestnergesellschaft in Hannover und seit 1962 Direktor der neu gegründeten Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, ging in seinem Festvortrag anlässlich der Eröffnung des Sprengel-Museums 1979 ebenfalls auf die schwierigen Rahmenbedingungen ein: „Diese offene Gesellschaft, in der wir leben […] impliziert auch die vielberufene Öffnung des Museums. […] Wer heute lauthals Entmusealisierung des Museums fordert und meint, für die Demokratisierung der Museen auf die Barrikaden gehen zu müssen, […] der hätte sich die Barrikaden sparen können, denn er stößt in der Regel offene Türen ein.“11

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Und doch sprach Schmalenbach dann hauptsächlich über „künstlerische Qualität“ und den „elitären Aspekt des Museums“, über das Museum als „Ort der Begegnung“ und als „Dienstleistungsbetrieb“, über die „Öffnung des Museums“ und „den ganzen pädagogischen Apparat“, über die „ausgedehnten didaktischen Räumlichkeiten“ und über das „Thema ‚Kinder im Museum‘“ oder über die Fragwürdigkeit „all der schönen Bauten, die wir für die Kunst errichten, und die sich alle so demonstrativ gegen den Verdacht zu wehren scheinen, so etwas wie Kunsttempel zu sein.“ Ausdrücklich versteht Schmalenbach seine Rede als „Plädoyer für die Kunst, für künstlerische Qualität und auch […] und wieder und noch einmal: für das Museum“.12 Joachim Büchner, der erste Direktor des Sprengel-Museums, kommt 1979, wenn auch weitaus positiver, ebenfalls nicht umhin, diese Aspekte anzusprechen. Er betont die „neue, zentrale Bedeutung des Bildungs- und Öffentlichkeitsauftrags des Museums“ und spricht davon, wie schon durch die architektonische Gestaltung des Museums möglichst breit gefächerte Bildungsangebote, aber auch die „Gestaltung der Freizeit“, oder alles, „was sich mit dem Begriff Kreativität verbindet, nicht zuletzt ganz einfach […] die Kommunikation zwischen Bürgern“ befördert werden sollen.13 Mit Blick auf den Neubau des Sprengel-Museums resümiert Büchner: „Die konsequente Einrichtung solcher didaktischer Räume wurde, soweit ich weiß, erstmals in Hannover verwirklicht.“ Und auch die Architekten begannen schon 1974 ihren in der Bauwelt publizierten „Brief an einen noch unbekannten Museumsdirektor“ mit der Behauptung, „allein das Wort ‚Museum‘“ würde schon das „Vorurteil“ beinhalten, dass „normale Bürger“ angesichts des Museumsneubaus sagen würden, „davon verstehe ich doch nichts“.14 Sie betonten die Offenheit ihres Museumsbaus und hoben dabei besonders hervor: „Bereits die gesamte Außenanlage soll für die Bürger eine Zone sein, von der sie Besitz ergreifen können, keine Verbotsschilder, kein gepflegter Rasen oder Blumenrabatten, sondern Hügel zum Besteigen, um die Umgebung 5,50 m über Meeresspiegel (Verzeihung: Maschsee) zu besehen, Stufen zum Gehen und Sitzen, Terrassen zum Kaffee oder Bier trinken, Rampen um an Freilichtaufführungen teilzunehmen […] schließlich auch die Bank, auf der man nur mal ‚klönen‘ möchte.“15

Penker selbst wählte für das Kapitel Sprengelmuseum Hannover in seinem Werkkatalog die Überschrift Kunst ohne Schwellenangst.16 Damit ist die Anböschung zunächst als spezifischer Schwellenraum angesprochen, als „Sequenzen zwischen Landschaftsarchitektur und Architektur“, als Abfolge, Neben- und Ineinander von Raumkörpern und Raumfeldern, die „komplexe ambigue Situationen mit neuen

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Abbildung 4: Georg und Erika Penker, Kunstmuseum Hannover, Plastikhof (Grundriss und Schnitte), 1975

Archiv Georg und Erika Penker

räumlichen Verbindungen zwischen ‚gefasst Landschaftlichem‘ und ‚offen Gebautem‘“ ermöglichen, wie sie jüngst Till Boettger am Beispiel von Richard Meiers Museumspark und Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main (1985) beschrieben hat.17 Dieser Schwellenraum hatte hier in Hannover die besondere Aufgabe, vielfach diagnostizierte Ängste vor und Vorbehalte gegenüber der Institution Museum abzubauen. Der Hannoveraner Museumsneubau musste also in den Augen der Zeitgenossen nicht nur die zeitgemäße Präsentation sowie Schutz und Bewahrung der Kunst gewährleisten, sondern gleichzeitig für die Entthronung der Kunst sowie für die „Demokratisierung“, multifunktionale Öffnung und schichtenübergreifende Aktivierung der Institution Museum sorgen. Dies war die dritte Funktion der Anböschung. Wie ernst es den Architekten und dem Landschaftsarchitekten damit war, zeigen Formulierungen aus ihrem Erläuterungsbericht zur zweiten Wettbewerbsstufe. Dort heißt es zu „Städtebau und Einbindung in die Landschaft“: „Die Planung sieht reichgestaltete Erlebnisräume vor mit unterschiedlichen Stimmungs- und Erlebnisinhalten: Damm-Motiv, Mauer, Stufe. Die stark modellierte Landschaft soll Anregung zu totaler Nutzung sein, sie ist ‚Spielzeug an sich‘.“18 Dies alles war „im Sinne der Aktivierung“ gedacht, der Aktivierung des Museums für den Bürger. Die endgültige Materialität und Form der Anböschung fand Penker erst im Prozess der Realisierung. Funktional und gestalterisch prägend war die Entscheidung, für die Außenanlagen keine Pflanzen und keinen Rasen zu verwenden, also keine klassische Grünplanung zu betreiben. Vielmehr wählte Penker zusammen

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mit den Architekten eine großflächige, skulpturale Pflasterung. Dabei ist es programmatisch wichtig, dass sich die durch das rote Porphyrpflaster gekennzeichnete Zone der Öffentlichkeit vom Straßenniveau die Hügellandschaft hinauf, über das Foyer bis zur passagenartigen, innenliegenden Museumsstraße erstreckt und ihren gestalterischen Höhepunkt in der ebenfalls von Penker entworfenen Architektur des Skulpturenhofs findet beziehungsweise fand (Abb. 4).19

A bstraktion – die „ künstlerisch überzeugende F orm “ Die drei Funktionen der Anböschung markieren deutlich die durch die Bauaufgabe Kunstmuseum und deren zeittypische und ortsspezifische architektonische Interpretation geprägte Formgelegenheit für die Außenanlagen. Sie begründen jedoch nicht deren konkrete Gestaltung (Abb. 5). Penker selbst hat diese als „skulptural geformte Erdkörper aus Porphyrpflaster“ und als „artifizielle Pflasterskulpturen“ bezeichnet und in dieser doppelten Betonung des künstlichen Charakters und künstlerischen Anspruchs Spuren für eine weitergehende Deutungen gelegt.20 Für die markante Form, die so passgenau auf Standort, Bauaufgabe und architektonisches Konzept des Sprengel-Museums in Hannover hin entworfen scheint, gibt es im Werk von Georg Penker ebenso wie im Kontext der Landschaftsarchitektur der 1960er bis 1980er Jahre eine Reihe von Parallelen. Skulpturale Erdformungen beziehungsweise Erdskulpturen finden sich beispielsweise schon im Werk von Hermann Mattern, expliziter artifiziell dann bei Ernst Cramer (Garten des Poeten auf der G 59 in Zürich, 1959), Gottfried und Anton Hansjakob (Rheinauenpark Bonn, Eröffnung 1979) oder Dieter Kienast (Stadtpark Brühlwiese in Wettingen, 1979–1984). Für den gezielten sozial, aber auch ökologisch motivierten Einsatz sorgfältig studierter und zeittypisch stilisierter Naturformen steht international wie kaum ein anderer der amerikanische Landschaftsarchitekt Lawrence Halprin. In Projekten wie der Portland Open Space Sequence (1966–1970) oder dem zusammen mit Angela Danadjieva realisierten Freeway Park in Seattle (Eröffnung 1976) hat Halprin Meisterwerke der Landschaftsarchitektur des 20. Jahrhunderts geschaffen.21 Halprins Vorgehensweise und Zielsetzung beschreibt Ian McHarg sehr treffend, wenn er formuliert, dieser sei „fascinated by natural processes and used an understanding of ecology as a basis of his work.“22 Querverbindungen zu den beschriebenen formalen Eigenschaften des Hannoveraner Projekts scheinen auf, wenn Kenneth I. Helphand über Lovejoy Plaza, Pettygrove Park und Forecourt Fountain (Ira Keller Fountain) in Portland schreibt: „If the nineteenth-century park was a rus in

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Abbildung 5: Sprengel-Museum in Hannover, Detail der Porphyrlandschaft

Fotografie: Christof Baier September 2017

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urbe, fragments of rural nature in the city, these were natura in urbe, abstractions of a more wild nature in the city.“23 Hier wie dort spielt „abstraction“, also das formale und materielle Transformieren von Landschafts- beziehungsweise Naturform ins Urbane, eine entscheidende, freie Kommunikation und soziale Aktivitäten motivierende Rolle. Georg Penker selbst benutzte großflächig gepflasterte oder geklinkerte, skulptural geformte Erdkörper fast zeitgleich zum Hannoveraner Museumsprojekt bei den Außenanlagen eines Schulzentrums in Wetter (1973/74) oder bei der Freiraumgestaltung der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf (1964–Ende 1970er). In Wetter an der Ruhr schuf er eine vier Meter hohe „Pflasterböschung“ an einer der Schule benachbarten Straße. Stolz berichtet Penker, wie die Kinder die „Pflasterskulptur“ überraschenderweise zum Rutschen entdeckt hätten und wie Eltern und Lehrer dann diese, die Kinder so fröhlich mobilisierende Böschung gegen die Sicherheitsbedenken des Gemeindeunfallversicherungsverbandes verteidigt hätten.24 Auch hier aktivierte die vom Landschaftsarchitekten gewählte Form selbstbestimmtes und durchaus nicht gefahrloses Spiel – sie war „Spielzeug an sich“. Zahlreiche weitere Beispiele für den Einsatz von „Pflasterskulpturen“ zur Förderung und Provokation von kreativem Spiel finden sich bezeichnenderweise in den „Spielplatzlandschaften“, „Spiellandschaften“ und „Spielskulpturen“ der 1960er und 1970er Jahre.25 Im Sinne einer „aktionistischen Kunstpädagogik“ trachtete etwa die 1968 in München gegründete Gruppe KEKS (Kunst, Erziehung, Kybernetik, Soziologie) nach einer „Inszenierung des Stadtraumes als Spielplatz“ und richtete die von ihr 1972 entworfenen Spieleinrichtungen im Olympischen Dorf in München entsprechend ein.26 Wenn nun die Hannoveraner Planer schrieben, die „stark modellierte Landschaft“ sei als „Anregung zu totaler Nutzung“ gedacht und als „Spielzeug an sich“ zu verstehen, dann müssen die konkreten Formen, die Penker der Porphyrlandschaft gab, vor diesem spezifischen gesellschaftlichen und kulturpolitischen Hintergrund gedeutet und programmatisch ernst genommen werden. Auf dem Campus der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf verwendete Penker, wie zuvor schon im Freiraum der Ruhruniversität Bochum, die abstrahierten Naturformen ganz wie in Hannover einerseits zur körperlichen und geistigen Mobilisierung der NutzerInnen, anderseits aber auch zur Integration der riesigen Baumassen in die Geschichte des Ortes, der Landschaft und der Region.27 Zu Großskulpturen stilisierte und in neue Materialien übersetzte landschaftsräumliche Charakteristika (ob Siepe mit Gebirgsbach in Bochum oder geklinkerter Deich in Düsseldorf) sollten den neuen Strukturen historisch und landschaftlich gebundene Identität verschaffen. Damit stand der genius loci, der „Geist des Ortes“ im Fokus, wie Penker rückblickend betont: „Es ging mir darum, die Geschichte oder Charakteristik einer Landschaft oder eines Grundstücks aufzuspüren und

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vielleicht zur Grundlage einer Planung zu machen.“28 Den dezidiert künstlerischen Anspruch seiner Planungen definiert Penker, indem er betont, die „Idee“ dieser identitätsstiftenden Landschaftsformen lasse sich „nur in der Abstraktion, in der künstlerisch überzeugenden Form darstellen“.29 Schließlich aber verhandelt Penker in solchen stilisierend interpretierten und künstlerisch transformierten Landschaftsformen immer auch das für ihn zentrale Thema „Natur und Zivilisation“, das im Zentrum seiner Planungsphilosophie steht: „Für mich bleibt die Vision eines harmonischen Ausgleichs von Natur und Zivilisation das Ziel – ein schöpfungsverträglicher Umgang mit der Erde.“30 Die in Georg Penkers Gestaltung der Außenanlagen des Sprengel-Museums in Hannover ablesbare stilisierende Transformation von Natur- und Landschaftsformen in urbane Funktionszusammenhänge offenbart letztlich auch eine zunehmende Sensibilität und Fürsorgepflicht gegenüber dem durch den Menschen nachhaltig veränderten Naturraum. Somit ist die Porphyrlandschaft auch der formale Ausdruck einer sich ihrer neuen Aufgaben bewusstwerdenden Landschaftsarchitektur im Zeitalter des Anthropozäns.

A nmerkungen 1 | „Das neue Museum. Interview mit Dr. Joachim Büchner, dem Direktor des Museums“, in: Joachim Büchner u. a., Kunstmuseum Hannover mit Sammlung Sprengel, Braunschweig 1979, S. 10. 2 | Presseinformation des Presse- und Informationsamtes der Landeshauptstadt Hannover über das Kunstmuseum Hannover mit Sammlung Sprengel, – 1. Bauabschnitt, Rudolf-von-Bennigsen-Ufer/Am Maschpark – Richtfest am Freitag, 2. September 1977; Archiv des Fachbereichs 19 (Gebäudemanagement) der Landeshauptstadt Hannover, Archivnummer 413-00-002, 1. BA KMH – Verschiedenes 1978–1979. 3 | Angaben aus Gesprächen mit Erika und Georg Penker am 12.02.2019 sowie Peter und Ursula Trint am 20.02.2019. 4 | Siehe beispielhaft die Laudation von Werner Durth auf Erich Schneider-Wessling als Träger des Gottfried Semper Architekturpreis 2007, http://www.sadk.de/schneider-wessling.html [06.03.2019]. 5 | Peter und Ursula Trint im Gespräch mit dem Autor über ihre Zusammenarbeit mit Georg Penker in Hannover und Berufsgenossenschaftliche Akademie Hennef bei Bonn, Gespräch am 20.2.2019. 6 | Landeshauptstadt Hannover: Stufenwettbewerb für den Bau des Sprengel-Museums in Hannover. Erste Stufe (Ideenwettbewerb), S. C 15. Weitere detaillierte Vorgaben zu Tageslicht und Kunstlicht ebd. S. C15–C18; Archiv des Fachbereichs 19 (Gebäudemanagement) der Lan-

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Christof Baier deshauptstadt Hannover, Archivnummer 413-00-002, 1. BA Sprengel-Museum, Wettbewerb, 1.BA 1979, Unterlagen. 7 | Hans T. von Malotki war beispielsweise für die Lichtregie in Bernhard Pfaus Düsseldorfer Schauspielhaus (1965–1970), in Paul Baumgartens wiederaufgebautem Reichstag in Berlin (1961–1973) oder in Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie in Berlin verantwortlich. Zu letzterem Projekt siehe Bommert, Britta: „Direktiven für die Direktion? Das unterschätzte Untergeschoss der Neuen Nationalgalerie von Mies van der Rohe“, in: Julian Jachmann/Astrid Lang, (Hg.): Aufmaß und Diskurs. Festschrift für Norbert Nussbaum zum 60. Geburtstag, Berlin 2013, S. 284. 8 | Aus dem Erläuterungsbericht (II. Stufe), in: Bauwelt 65. Jg. (1974), Heft 25, S. 868. 9 | Penker, Georg: Im Dialog mit der Natur. Landschaftsarchitektur seit 1960, Köln 1997, S. 60. 10 | Hoffmann, Hilmar: Kultur für alle. Perspektiven und Modelle. Frankfurt a. M. 1979. Siehe dazu in größerem Kontext auch: Hoffmann, Hilmar/Kramer, Dieter: „Kultur für alle. Kulturpolitik im sozialen und demokratischen Rechtsstaat“, in: Hildegard Bockhorst/Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss/Wolfgang Zacharias (Hg.): Handbuch kulturelle Bildung (= Schriftenreihe Kulturelle Bildung, Bd. 30), München 2012, S. 298–304 sowie Timm, Elisabeth: „Partizipation. Publikumsbewegungen im modernen Museum“, in: MAP - Media | Archive | Performance (Archive/Processes 2) 5.2014. http://www.perfomap.de/map5/transparenz/partizipation-publikumsbewegungen-im-modernen-museum [06.03.2019]. 11 | Schmalenbach, Werner: Und noch einmal: das Museum! (Festvortrag anlässlich der Eröffnung des Sprengel-Museums am 7. Juni 1979, Hannover 1979, S. 6. 12 | Alles Zitate aus Schmalenbach 1979, S. 7–13. 13 | Dies und das Folgende: Büchner 1979, S. 15. 14 | „Ihre Architekten“ (Peter und Ursula Trint, Dieter Quast u. a.): Brief an einen noch unbekannten Museumsdirektor, in: Bauwelt 65.1974, Heft 25, S. 866. 15 | Ebd. 16 | Penker 1997, S. 60. 17 | Boettger, Till: „Sequenzen zwischen Landschaftsarchitektur und Architektur – Schwellenräume“, in: Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur 20.2015, Heft 34. www.cloud-cuckoo.net/fileadmin/hefte_de/heft_34/artikel_boettger.pdf [17.03.2019], S. 57–69, hier S. 68. 18 | Aus dem Erläuterungsbericht (II. Stufe), in: Bauwelt 65.1974, Heft 25, S. 868. Hervorhebung im Original. 19 | Die „Wiederherstellung des Skulpturenhofs“, in welchem zur Sanierung des Unterbaus die gesamte formgebende Pflasterung restlos entfernt wurde, sodass er heute kahl dasteht, lässt weiter auf sich warten. 20 | Penker 1997, S. 60.

„Spielzeug an sich“ 21 | Siehe zu Halprin vor allem Hirsch, Alison Bick: City Choreographer. Lawrence Halprin in Urban Renewal America, Minneapolis 2014; Helphand, Kenneth I.: Lawrence Halprin, Athens, Georgia 2017. 22 | McHarg, Ian: A Quest for Life: An Autobiography, New York u. a. 1996, S. 125. 23 | Helphand 2017, S. 129. Hervorhebungen im Original. 24 | Penker 1997, S. 115 f. 25 | Siehe Burkhalter Gabriela: The Playground Project, Zürich 2018. 26 | Burkhalter, Gabriela: „KEKS (Kunst, Erziehung, Kybernetik, Soziologie)“, in: Burkhalter 2018, S. 116–123, hier S. 118. 27 | Zu Penkers Freiraumplanung an der RUB siehe Wegmann, Thomas M.: „Naturnahe Gestaltung der Grünanlagen in den Querforen West und Ost der Ruhr-Universität Bochum durch den Gartenarchitekten Georg Penker“, in: Die Gartenkunst 28.2016, Heft 2, S. 351–374. Zu Düsseldorf siehe Baier, Christof: „Außenanlagen des Campus der Heinrich-Heine-Universität, Bilk“, in: Christof Baier/Stefan Schweizer/Doris Törkel (Hg.): Gärten und Parks in Düsseldorf, Düsseldorf 2017, S. 261–266. 28 | Baier, Christof: „Universität und Ruhrlandschaft. Interview mit Georg Penker“, in: Richard Hoppe-Sailer/Cornelia Jöchner/Frank Schmitz (Hg.): Ruhr-Universität Bochum. Architekturvision der Nachkriegsmoderne, Berlin 2015, S. 175–188, hier und im Folgenden S. 176 f. 29 | Baier 2015, S. 180. 30 | Penker 1997, S. 8.

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1. Im Nachhinein ist man nicht unbedingt klüger. Im Nachhinein fällt es jedoch leichter, sich klüger zu geben. Ein durchaus bekanntes Phänomen. Die biografische Illusion1 lebt davon, dass sich im Hinterher individuelle Lebensstationen wie durch Zauberhand zu einem stringenten Ganzen fügen. Die historische Illusion ist nur eine große, geradezu überdimensioniert geratene Variante der biografischen Schwester, wenn nämlich mittels nachvollziehbarer Erzählung eine mikroskopisch kleine Menge von Geschehnissen zu der Geschichte verdichtet werden soll, die dank zeitlichen Abstands mit einem Mal all ihre Geheimnisse und Eigentlichkeiten offenbart. Unter dem sehr weiten Dach der historiografischen oder biografischen Illusionen, das bereit ist, alle nur erdenklichen Untergattungen zu beherbergen, findet sich in irgendeiner Ecke auch die konzeptionelle Illusion, wahlweise auch als produktionsästhetische Einbildung zu fassen. Ihre Aufgabe ist es, dem eigenen Tun im Nachhinein einen Mantel des Gemeinsamen umzulegen, eine stimmige Form überzustülpen, die als intentional gewollt beschreibt, was sich nicht selten einer spontanen, vielleicht auch bereits eingeübten Praxis verdankt. Frank Zappa war dieses Phänomen nicht fremd. Man darf durchaus vermuten, dass so manche Erklärung für sein eigenes musikalisches Tun erst im Nachhinein einen Zusammenhang herstellen sollte, der sich selbst bei größerem Wohlwollen nicht immer zu erschließen vermag. Aber das ist in Ordnung. Nachgeholte Geschichtsklitterung in Bezug auf die eigene Arbeit zu betreiben, ist ein durchaus menschlicher Zug. Wenn Zappa beispielsweise behauptete, dass sich all seine künstlerischen Hervorbringungen und auch sonst getätigten Äußerungen, dass alle Alben, Auftritte, Interviews, Bandzusammenstellungen, Filme und was er sonst noch immer produziert haben mag, einem zuvor gefassten intentionalen

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Plan verdankten, dem er den Doppelbegriff „Project/Object“ gab, dann kann man diese Erklärung getrost dem Reich der Privatmythen zuordnen.2 Ohne Frage gibt es in seiner Arbeit Kontinuitäten unterschiedlicher Art. Und ohne Frage hat er in konzeptuellen Zusammenhängen gedacht. Aber der angeblich im Vorhinein bereits gefasste Plan, dem sich alles zu verdanken hatte, entstand wohl erst im Verlauf des Produzierens – oder wurde gar erst mit einigem zeitlichen Abstand sichtbar. Zu diesen nachholenden Konzeptionserklärungen gehört auch der Begriff der Xenochronie. Zappa hat ihn erstmals etwas ausführlicher erläutert in einem Interview aus dem Jahr 1988. Praktiziert hatte er das darin beschriebene Verfahren bereits wesentlich länger, sicherlich schon in den 1970er Jahren, je nach Strenge der Auslegung vielleicht aber auch schon in den 1960er Jahren. Um was geht es bei der Xenochronie (auch bekannt als strange synchronizations)? Technisch gesehen ist es eine recht schlichte Idee, bei der Zappa das Tonstudio und die mehrspurige Aufnahmetechnik als Instrumente nutzt, um Musik zu kreieren, die ansonsten wohl nie zustande gekommen wäre – und anders wohl auch nicht hätte zustande kommen können. Zappa verwendete zum Beispiel die Schlagzeugaufnahme von einer bestimmten Session X, gespielt in einem bestimmten Takt, und kombinierte sie mit der Bassaufnahme von einer Session Y, aufgenommen in einer anderen Tonart und mit einem anderen Takt, und legte beide Spuren übereinander. „And so the musical result is the result of two musicians, who were never in the same room at the same time, playing at two different rates in two different moods for two different purposes, when blended together, yielding a third result which is musical and synchronizes in a strange way. That’s xenochrony.“3

Man könnte, nicht ganz unberechtigt, die Frage stellen, was an dieser Vorgehensweise bemerkenswert sein soll. Bei Musikaufnahmen, soweit sie in einem professionellen Studio vor sich gehen, können dank Mehrspurtechnik unterschiedliche Instrumente getrennt voneinander aufgenommen werden, um erst am Ende übereinander gelegt zu werden und ein musikalisches Ganzes zu ergeben. Das ist Alltag, aber keine Xenochronie. Ganz recht, das übliche Vorgehen musikalischer Studioproduktionen ist keine Xenochronie – weil ihm eine Intention und damit eine andere temporale Ausrichtung zugrunde liegt. Studioaufnahmen werden üblicherweise mit Blick auf eine projektierte musikalische Zukunft initiiert. Am Ende der Session soll ein fertiges Stück stehen, für das es im Vorhinein bereits einen ausformulierten Plan gab. Die Xenochronie von Frank Zappa funktioniert aber gänzlich anders. Die

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Stücke setzen sich zusammen aus Bestandteilen, die nie intendiert waren, dasjenige Ganze zu ergeben, in dem sie sich schließlich wiederfinden. Die einzelnen Spuren einer xenochronen Aufnahme wussten gewissermaßen nichts voneinander, konnten auch gar nicht voneinander wissen. Während Studioaufnahmen also üblicherweise im Vorhinein auf eine bereits geplante Zukunft vorgreifen, greift die Xenochronie auf eine Vergangenheit zurück, die von der zukünftigen Gegenwart der xenochronen Komposition keine Ahnung haben konnte. Xenochronie ist unintendierte Musik.4

2. Die Ergebnisse historischer Arbeit sind nicht unbedingt besser informiert über das, was einst geschehen ist, im Vergleich zu denjenigen, die unmittelbar am Geschehenen beteiligt waren. Historischen Arbeiten fällt es aufgrund des Nachhineins nur leichter, sich klüger zu geben. Was uns als Geschichte vor Augen steht, was uns als kollektivsingularisierter Gesamtzusammenhang nicht nur aufgrund seiner Erzählbarkeit und unerbittlich erscheinenden Konsequenz überzeugt, sondern sogar einer gewissen (historischen – sic!) Notwendigkeit geschuldet zu sein scheint, ist das unintendierte Ergebnis von Myriaden einzelner Handlungen, von denen im Nachhinein ein verschwindend kleiner Bruchteil ausgewählt wird, um in einen schulbuchmäßigen Überblick einzugehen, der für sich beanspruchen kann, zu sagen, was Sache war. Jedoch: Wenn die Xenochronie unterschiedliche Instrumente aus unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Stimmungen und unterschiedlichen Rhythmen zusammenbringt, um daraus etwas Neues, etwas Drittes zu erschaffen, dann darf sich das historische Arbeiten durchaus ertappt fühlen. Auch wenn die historiografische Normalfiktion darin besteht, sich auf einer gedachten Zeitlinie zu wähnen und selbst deren vorläufigen Endpunkt zu markieren, von dem aus der Blick zurück gewagt werden kann, ist das zeitliche Gebaren im Feld des Historischen doch deutlich komplexer. Es ist verworrener. Was tut man beim historischen Tun? Man kombiniert nicht einfach nur zusammenpassende Überlieferungen historischen Materials, um über vergangene Zustände etwas herauszufinden, sondern man ist ganz wesentlich damit beschäftigt, unterschiedliche Zeiten miteinander zu überblenden. Das beginnt bereits mit der durchaus nicht selbstverständlichen menschlichen Fähigkeit, sich auf abwesende Zeiten beziehen zu können (und auf diese Weise Chronoferenzen etablieren zu können, wie ich diese Relationierungen nennen möchte).5 Individuen und Kol-

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lektive sind in der Lage, auf Vergangenheiten und Zukünfte zu verweisen und mit diesen Vergangenheiten und Zukünften umzugehen – obwohl dort nichts mehr ist beziehungsweise noch nichts ist, worauf man sich beziehen könnte. Die berühmte historische Fragestellung, die am Anfang jeder geschichtlichen Untersuchung steht, ist eine solche Form chronoferentieller Praxis. Sie überblendet auf wahrlich wundersame Art und Weise eine fragende Gegenwart mit einer beobachteten Vergangenheit (und häufig auch noch mit vielen dazwischen liegenden Zeiten), indem sie heutige Probleme einer vergangenen Situation überstülpt, die von diesen Problemen in vielen Fällen noch gar nichts wissen konnte. Historisches Arbeiten ist daher immer ein (in einem produktiven Sinn) anachronistisches Arbeiten6 – oder, um in der Begrifflichkeit von Frank Zappa zu bleiben, ein xenochrones Arbeiten. Das historische Tun legt sich möglicherweise nicht immer hinreichend Rechenschaft darüber ab, inwiefern es zu strange synchronizations neigt, weil es im Grunde seiner Überzeugungen von einem linearen Zeitverständnis ausgeht, das die Dinge in einem wohlgeordneten Nacheinander einsortiert. Tatsächlich haben wir es aber mit einem zutiefst xenochronen Unterfangen zu tun, weil wir im Nachhinein Dinge miteinander in Verbindung bringen, die niemals von den ZeitgenossInnen intendiert miteinander in Verbindung gebracht worden wären, sondern erst für ein bestimmtes Heute eine Geschichte ergeben – eine Geschichte, die im gelungenen Fall ebenso gut klingt wie die geglückten xenochronen Studiokompositionen in den Ohren Frank Zappas.

3. Wollte man spitzfindig sein, könnte man für Zappas Konzept der Xenochronie unterstellen, es sei bereits in sich und als Konzept xenochron – weil es erst im Nachhinein in einen konzeptionellen Zustand überführt wurde, nachdem es schon über einen längeren Zeitraum als kompositionelle Praxis bestanden hatte. Zuweilen wird der Song Rubber Shirt vom Album Sheik Yerbouti als das erste Beispiel einer Xenochronie angeführt. Zappa selbst bezeichnet in einer Special Note zu diesem Song sein Vorgehen noch als „experl’mental re-synchronization“. Getrennt voneinander entstandene Aufnahmen von Soli für Gitarre, Schlagzeug und Bass wurden bezüglich der Geschwindigkeit so aufeinander abgestimmt und miteinander vermischt, dass sie ein neues, niemals gespieltes Stück ergaben.7 In derselben Special Note verweist Zappa aber darauf, dass er die Technik bereits früher verwendet habe, beim Song Friendly little finger vom Album Zoot Allures (1976). Auch dieser Song ist von keiner Band zu keiner Zeit tatsächlich so gespielt, sondern

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erst im Studio zusammengeschnitten worden.8 Auf dem Album Joe’s Garage (1979) wurden fast alle Gitarrensoli von Zappa xenochronisch eingefügt.9 Seinen Namen erhielt dieses Verfahren dann aber erst wesentlich später. Und kaum hatte man (das heißt Zappa und die Gemeinde seiner InterpretInnen) die Xenochronie als kreatives Verfahren entdeckt, ließ sich die Frage stellen, ob nicht bereits die Soundcollagen der 1960er Jahre diesem Vorgehen zugeordnet werden konnten. Wie man das die Zeiten Veruneindeutigende nun auch immer historisch eindeutig kennzeichnen möchte, auch bei der Xenochronie gibt es noch qualitative Unterschiede. Denn in einem Studio unterschiedliche Aufnahmen aus verschiedenen Zusammenhängen zusammenzuschneiden (wie es nach Zappa im digitalen Sampling gang und gäbe wurde), ist etwas anderes als die Xenochronie auch bei Live-Aufnahmen einzusetzen. Gerade in der Rock- und Popmusik ist das Live-Erlebnis noch immer umgeben vom ungebrochenen, wenn auch naiven Mythos des Wahren, des Echten, des Authentischen. Hier ist Musik, wie sie wirklich geschieht, nur in diesem Moment existierend, geteilt mit allen, die daran teilhaben wollen – live, lebendig, jetzt. Frank Zappa hat sich um diese Authentizitätsfiktion herzlich wenig gekümmert. Er sah sich auch im Falle von Live-Aufnahmen als Komponist, der die verschiedenen Bestandteile – MusikerInnen, Instrumente, Aufführungsorte, Publika – zu einem möglichst gelungenen Ganzen zusammenfügen wollte, falls nötig auch unter Missachtung der Einheit von Raum und Zeit. 1986 erschien das Album Does humor belong in music?, das Zappas Welttournee von 1984 dokumentierte. Aber viele der dort zu hörenden Stücke sind so niemals gespielt worden. Zappa nutzte vielmehr die Möglichkeiten seines mobilen Aufnahmestudios, um diejenige (Live-)Version eines Stücks zu kreieren, die er sich idealerweise vorstellte. Er belegte auf der Platte auch die Aufnahmequellen akribisch für jedes Stück. Beim Song Let’s move to Cleveland wurde das Intro in Los Angeles aufgenommen, das Klaviersolo in St. Petersburg (Florida), das Schlagzeugsolo in Vancouver, das Gitarrensolo am Amherst College und die Schlusspassage wieder in Los Angeles.10 Auch bei der ab 1988 erscheinenden Reihe von Live-Doppel-CDs You can’t do that on stage anymore wurden zum Teil unterschiedliche Live-Aufnahmen miteinander vermengt. Man kann hinter diesem Vorgehen die Rigorosität eines strengen Rockmusikkapellmeisters entdecken, der seine MusikerInnen das Repertoire immer und immer wieder proben ließ, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen – und um dann am Ende fast doch immer unzufrieden zu sein. Man kann hinter diesem Vorgehen aber auch ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Idee der Authentizität von Live-Erlebnissen erkennen.

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4. Für das historische Arbeiten spielt Authentizität in verschiedenen Zusammenhängen eine bedeutsame Rolle. Unterschiedliche Spielarten geschichtskultureller Vermittlung sind nahezu existentiell von ihr abhängig. So lassen Museen ihre allgemeine Bedeutung und ihren öffentlichen Auftrag auf der Tatsache beruhen, authentische Originale zu zeigen; Reenactment-Unternehmungen legen großen Wert darauf, authentische Rekonstruktionen von historischen Situationen zu sein; und auch wenn im geschichtswissenschaftlichen Kontext der Begriff des Authentischen keine herausragende Rolle spielt, so ist doch der allfällige Begriff der Quelle dazu angetan, als funktional gleichwertiges Synonym gelten zu können und die Zugriffsmöglichkeit auf vergangene Situationen zu verbürgen.11 Die Idee des historisch Authentischen ist letztlich eng verbunden mit der Vorstellung einer Zeitreise: dass uns also der authentische Gegenstand oder die quellenbasierte Erzählung das letztlich unmögliche Unterfangen doch ermöglichen könnten, den Zeitstrahl hinab in Richtung Vergangenheit zu rutschen. Zumindest eine Ahnung von einem kleinen Stück dieser Vergangenheit soll dadurch ermöglicht werden. Auch die immer wieder aufflammenden Diskussionen um die historische Wahrheit12 verdanken sich – wenn auch auf einem sehr abstrahierten Niveau – letztlich dieser Zeitreiseidee, wenn sie einen nicht verhandelbaren Kernbereich vergangener Tatsächlichkeit kartieren wollen, über den sich nicht mehr streiten lassen sollte. Damit soll ausgerechnet das, was sich einer bestimmten zeitlichen Konstellation verdankt, der Zeitlichkeit enthoben und als überzeitlich gültig erklärt werden. Ein historisches Arbeiten, das sich nicht nur auf die Idee von Authentizität, sondern ebenso auf Vorstellungen einer singulären und überzeitlich gültigen historischen Wahrheit und Wirklichkeit verpflichtet wissen will, hängt letztlich immer noch der Einheit (und Eindeutigkeit) von Raum, Zeit und handelnden Personen an, wie sie zum Beispiel in einer klassischen Dramentheorie vertreten wurden. Nur durch diese Einheitlichkeit und Eindeutigkeit, so die Hoffnung, lässt sich die Authentizität des Historischen verbürgen. Frank Zappas Ästhetik, soweit man sie mit der Xenochronie in Verbindung bringen will, legt ein anderes Verständnis des historischen Arbeitens nahe, ein Verständnis, das sich nicht zuallererst um den zwangsläufig unmöglich bleibenden Versuch zu bemühen hätte, dem historischen Geschehen so authentisch als möglich gerecht zu werden. Es legt uns ein Verständnis nahe, das sich gerade nicht

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auf die passive Beobachtung des einst Geschehenen reduziert, sondern das die aktive Rolle der Komposition übernimmt, bei dem die einzelnen Bestandteile historischen Materials gezielt zu einem neuen, sinnvollen Ganzen zusammengefügt werden – immer darum wissend, dass diese Komposition namens Geschichte nie genau so geschehen ist, wie sie beschrieben und vorgeführt wird. Nota bene: Diese Argumentation soll nicht in einer naiven Umkehr zu dem Trugschluss führen, nun sei historisch alles erlaubt, auch die blanke Lüge oder die dreiste Erfindung. Dem ist keineswegs so. Genau wie der xenochron operierende Komponist nur die Musik zu Gehör bringen kann, die bereits irgendwann einmal gespielt worden ist, kann auch die chronoferierende Historikerin nur das zu einer Geschichte zusammenfügen, was irgendwie materiell überliefert wurde. Diese Überlieferung ist aber noch keine Geschichte – die muss erst gemacht werden. Und das Material markiert auch nicht den Bereich des Möglichen und Erlaubten, sondern nur den Bereich des Verbotenen und Unmöglichen. Das Material kann also nur Basis sein für eine negative Geschichtstheorie, insofern es uns aufzeigt, welche Geschichten nicht erzählt werden können (weil sie erfunden oder gar erlogen wären), aber nicht vorschreiben kann, welche Geschichten zu erzählen sind. Denn da lässt die Komposition zahlreiche Variationsmöglichkeiten zu.

5. Das Zusammensetzen unterschiedlicher, aus diversen Raum- und Zeitkontexten stammender Versatzstücke korrespondiert aufs Trefflichste mit Zappas ästhetischem Selbstverständnis. Daraufhin befragt, was seine Tätigkeit sei, bezeichnete er sich nicht als Rockmusiker oder Gitarrist oder Musikunternehmer: „,What do you do for a living, Dad?‘ If any of my kids ever asked me that question, the answer would have to be: ,What I do is composition.‘ I just happen to use material other than notes for the pieces. Composition is a process of organization, very much like architecture. As long as you can conceptualize what that organizational process is, you can be a ,composer‘ – in any medium you want. You can be a ,video composer,‘ a ,film composer,‘ a ,choreography composer,‘ a ,social engineering composer‘ – whatever. Just give me some stuff, and I’ll organize it for you. That’s what I do.“13

Was aber, wenn man nun versuchen würde, diese spezifische Produktionsästhetik von Frank Zappa mit einer eher traditionell ausgerichteten Historiografie in Di-

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alog zu bringen? Dann könnten nicht nur Einsichten gewonnen werden über das historische Tun in seiner aktuellen Konstitution, sondern dann würden auch Möglichkeiten sichtbar für eine veränderte Einstellung zu diesem historischen Tun. Wie eng die Verwandtschaft zwischen Xenochronie und der praktischen geschichtswissenschaftlichen Arbeit ist, erschließt sich möglicherweise nicht auf den ersten Blick – wird aber auf den zweiten Blick umso deutlicher. Das zeigt sich maßgeblich im Umgang mit dem Material. Zappa war ein eifriger und akribischer Dokumentarist seines eigenen Schaffens, baute sich im Lauf seiner musikalischen Karriere ein riesiges Archiv (genannt The Vault) aus Aufnahmen auf – so riesig, dass die Zahl der Post-mortem-Veröffentlichungen von Zappas Musik fast so umfangreich ist wie die zu Lebzeiten erschienene (und ein Ende ist vorerst nicht in Sicht). Mit diesem Archiv arbeitete er beständig, grub sich durch das Material, stellte es immer wieder neu zusammen, mischte es auf unterschiedliche Weise und schöpfte damit aus seiner eigenen produktiven Vergangenheit immer wieder neue musikalische Gegenwarten. Darüber hinaus wurde ihm das Tonstudio – insbesondere seit der Einrichtung der Utility Muffin Research Kitchen 1979 – zu dem, was andernorts der akademische Schreibtisch oder das Laboratorium ist.14 Das Studio war mehr als nur eine technische Vorrichtung, um Aufnahmen zu ermöglichen, es war seinerseits ein Musikinstrument, mit dem beständig Neues hervorgebracht werden konnte, unter anderem, indem Altes überarbeitet wurde.15 Die archivorientierte Arbeitsweise ermöglichte es Zappa denn auch, unterschiedliche und auch unterschiedlich weit reichende Linien durch sein musikalisches Arbeiten zu legen, weil er durch den Gang ins Archiv immer wieder auf Aufnahmen, Versatzstücke, Instrumente, Gitarrensoli, Dialoge, Gesprächsfetzen, Geräusche, Skurrilitäten zurückgreifen konnte, die sich nahezu beliebig einsetzen und wiederverwerten ließen. Sein Umgang mit der eigenen musikalischen Vergangenheit gehorchte dem Faulkner-Satz, dass die Vergangenheit nicht nur nicht tot, sondern nicht einmal vergangen sei. Sie konnte immer als reaktualisierter Kommentar ihr musikalisches Haupt erheben.16 Nachdem Zappa 1982 zusätzlich ein mobiles Aufnahmestudio erworben hatte, konnte er nicht nur alle seine Konzerte in bestmöglicher Qualität mitschneiden, sondern griff auch zunehmend auf xenochrone Verfahren zurück. Über das Titelstück des Albums Ship arriving too late to save a drowning witch (1982) sagte Zappa, dass es so schwer zu spielen sei, dass er mit keiner Live-Aufnahme zufrieden gewesen sei. Also habe er den Basis-Track aus insgesamt 15 Aufnahmen zusammengestückelt, die zuweilen nicht länger als zwei Takte waren. Der Rest der Orchestrierung wurde dann im Studio hinzugefügt.17 Die historische Arbeit darf sich dabei durchaus ertappt fühlen. Denn auch sie findet ja nicht die Industrialisierung, die Renaissance oder historische Geschlech-

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terverhältnisse wie eine in Bernstein gefangene Fliege aus vergangener Zeit im überlieferten Material vor, sondern muss all diese Phänomene, die ihr gegenwärtig wichtig sind, aus vielen kleinen Versatzstücken zusammenklöppeln, um sie abschließend in Form einer möglichst überzeugenden Erzählung zu orchestrieren. Mag das noch einigermaßen mit dem Selbstverständnis historischer Praxis korrespondieren, können die weitergehenden Folgerungen aus Zappas Produktionsästhetik bereits irritieren. Denn ein wichtiges Ziel seiner xenochronen Arbeitsweise war es, Polyrhythmen zu bewerkstelligen, die von Musikern nie im gemeinsamen Spiel erzeugt werden konnten, sondern die erst im Studio entstanden. Polyrhythmik spielte für Zappa während seiner ganzen musikalischen Karriere eine wesentliche Rolle. In dem Song Toads of the short forest von dem Album Weasels ripped my flesh (1970) spielt ein Schlagzeug im 7/8-Takt, ein zweites Schlagzeug gemeinsam mit dem Tambourin und dem Bass im 3/4-Takt, während sich das Keyboard im 5/8-Takt bewegt.18 Auf diese Weise entsteht ein höchst komplexes musikalisch-rhythmisches Gebilde, das sich dem schnellen, unmittelbaren Zugang verweigert, das aber neue Klangmöglichkeiten eröffnet, indem es sowohl synchron als auch diachron unterschiedliche und ineinandergreifende Intervalle konstruiert. Auf eben diese Weise wird auch die Verschränkung der Zeiten komponiert. Denn die Xenochronie macht deutlich, wie wenig die Vorstellung von einem homogenen Zeitstrahl oder einem gleichmäßigen Zeitfluss (oder welches Bild man auch immer dafür wählen mag) unseren tatsächlichen Umgangsweisen mit kulturellen Zeiten zu entsprechen vermag. Tatsächlich hantieren wir gleichzeitig immer mit recht unterschiedlichen Zeiten und Rhythmen, beziehen uns nicht nur (auf durchaus xenochrone Weise) in einer Gegenwart auf verschiedene Vergangenheiten, sondern ebenso auf diverse Zukünfte, können aber auch unterschiedliche Zeitgeschwindigkeiten anlegen (Beschleunigungen und Verlangsamungen), verschiedene Zeitbedeutungen (Arbeitszeiten und Freizeiten) und viele weitere Zeitformen. Die Überblendung all dieser unterschiedlichen Zeiten mit ihren jeweils eigenen Intervallen führt zu genau der Polyrhythmik, die Zappa auf dem Weg der Xenochronie zu erzeugen vermochte. Mit ihrer Vermischung der Zeiten unterläuft die Xenochronie systematisch die Idee einer temporalen Linearität sowie einer ChronoLogik in Form von Geschichte. Während der einfache 4/4-Rhythmus den vermeintlich gleichmäßigen Verlauf der Zeit widerzuspiegeln scheint, lässt die Polyrhythmik als Überlagerung unterschiedlicher Tempi die Vielfältigkeit aufscheinen, die kulturelle Zeitformen kennzeichnet. Als eine weitere Konsequenz aus der Beschäftigung mit Zappas Vorgehensweise ergibt sich die spezifische Achtsamkeit für eine Ästhetik des Historischen. Denn wenn die Zeit und die Zeiten und Geschichte und alles Weitere, was damit zusammenhängen mag, schon so schwer greifbar sind, dann bieten ästhetische

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Vorgehensweisen diverse Möglichkeiten an, um gerade diese Schwierigkeit und Verwirbelung der Zeiten zu behandeln. Frank Zappa ist daher aus historischer Perspektive möglicherweise weniger interessant, weil er im Nachhinein versucht hat, seinem Schaffen und Tun eine konzeptionelle Stringenz zu verpassen, sondern weil er mit dem ganz praktischen Vorgehen, wie es sich beispielsweise in der Xenochronie äußert, Raum für neue Komplexität schafft. Das gelingt nicht durch den Rückgriff auf ein Wagner’sches Gesamtkunstwerk (wie es in der Project/Object-Idee anklingt), das soll auch gewiss nicht durch das Frönen einer Rock-Authentizität gelingen und auch nicht durch die Ausflucht in eine letztlich hilflose Beliebigkeit. Nein, Zappa greift – wohl eher intuitiv als wirklich reflektiert – auf die Verfahren der Avantgarden des 20. Jahrhunderts zurück, auf Dada und Surrealismus, auf Collage und Montage, um seine ästhetisch-musikalischen Ideen umzusetzen.19 Im Anschluss an Zappas Xenochronie lässt sich die Forderung nach einer neuen Ästhetik des Historischen aufstellen, die sich auf die Ästhetik der Avantgarden beziehen kann. Warum ist dieser Bezug notwendig? Um die Vorstellung von einer linearen, chrono-logischen Geschichte zurückzulassen und stattdessen auf eine xenochrone (oder chronoferentielle) Untersuchung kultureller Zeiten abzuzielen. Verfahren der Montage und Collage sind in diesem Zusammenhang sicherlich nicht die einzigen Möglichkeiten – aber sie lassen die vielfältige Überlagerung der Zeiten, die temporale Polyrhythmik besonders deutlich werden, weil sie die Möglichkeit der Verrückung eröffnen – weil sie die Dinge deplatzieren. Bestandteile werden aus ihrem angestammten und möglichweise als natürlich angesehenen Zusammenhang entfernt, um sie an einen anderen Ort und vielleicht auch in eine andere Zeit zu verschieben – wie ein sanftes Erdbeben, das die Dinge von ihrem Platz verrückt.20 Xenochronie und eine sich daraus ergebende Ästhetik des Historischen mittels Montage und Collage sind daher kein Selbstzweck. Sie sind keine Spielerei für unterforderte Bewohner des Alltags. Sie versuchen vielmehr auf die Rätsel unserer Wirklichkeiten aufmerksam zu machen – wie wir diese Wirklichkeit haben, wie wir uns auf Dinge beziehen können, die es überhaupt nicht (mehr) gibt (wie zum Beispiel die Vergangenheit), wie wir all diese myriadenartig verzweigten Bestandteile miteinander in Beziehung setzen können, die wir schlussendlich Wirklichkeit nennen. Zappa zeigt uns also unter anderem, dass es eine Kunst ist, Wirklichkeit zu haben. Mit Blick auf diese Wirklichkeit und auf den möglichen Umgang mit ihren Zeiten sind wir wohl nicht absolutely free – aber doch relatively free und auf jeden

Zappas Xenochronie und die Ästhetik des Historischen

Fall freier als es uns der standardisierte Umgang mit einer historischen ChronoLogik üblicherweise nahezulegen scheint.

A nmerkungen 1 | Bourdieu, Pierre: „Die biographische Illusion“, in: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. 1998, S. 75–82. 2 | Meyer, Ingo: Frank Zappa, Ditzingen 2018, S. 45 f.; Miles, Barry: Zappa, Berlin 2005, S. 192 f. 3 | Interview by Bob Marshall, 22. Oktober 1988, http://wiki.killuglyradio.com/wiki/Interview_by_Bob_Marshall [17.12.2018]. 4 | Mount, Andre: Temporality, intentionality, and authenticity in Frank Zappa’s xenochronous works (27. April 2010), http://researchblog.andremount.net/?p=476 [24.12.2018]. 5 | Landwehr, Achim: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2016. 6 | Landwehr, Achim: Über den Anachronismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61.2013, S. 5–29. 7 | Miles 2005, S. 315 f. 8 | Meyer 2018, S. 53; Meyer, Ingo: Frank Zappa, Stuttgart 2010, S. 63. 9 | Miles 2005, S. 325. 10 | Ebd., S. 391 f. 11 | Sabrow, Martin/Saupe, Achim (Hg.): Historische Authentizität, Göttingen 2016; Saupe, Achim, (2012): Authentizität. Version 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.08.2015, http:// docupedia.de/zg/saupe_authentizitaet_v3_de_2015 [27.12.2018]. 12 | Vgl. beispielsweise Lorenz, Chris: „,You got your history, I got mine‘. Some reflections on truth and objectivity in history“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 10.1999, S. 563–584; Flaig, Egon: „Ohne Wahrheit keine Wissenschaft – Überlegung zur Wendung nach den Wenden“, in: Christoph Kühberger/Christian Lübke/Thomas Terberger (Hg.), Wahre Geschichte – Geschichte als Ware. Die Verantwortung der historischen Forschung für Wissenschaft und Gesellschaft, Rahden 2007, S. 49–80; Paravicini, Werner: Die Wahrheit der Historiker, München 2010; Rüsen, Jörn: „Wahrheit, Sinn und Konstruktion. Über die wahre Geschichte, über Grenzen und Möglichkeiten moderner Historiographie, Globalisierung und Ethnozentrismus. Im Gespräch mit Liljana Heise und Ivonne Meybohm“, in: Ina Ulrike Paul/ Richard Faber (Hg.), Der historische Roman zwischen Kunst, Ideologie und Wissenschaft, Würzburg 2013, S. 43–60.

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Achim Landwehr 13 | Zappa, Frank/Occhiogrosso, Peter: The Real Frank Zappa book, New York 1999, S. 139 [Hervorhebungen im Original]. 14 | Miles 2005, S. 101. 15 | Meyer 2018, S. 41. 16 | Ebd., S. 47–49. 17 | Miles 2005, S. 344. 18 | Meyer 2010, S. 41. 19 | Meyer 2018, S. 32 f. 20 | So die Formulierung von Max Ernst, vgl. Wix, Gabriele: Max Ernst. Maler. Dichter. Schriftsteller, München 2009, S. 48.

„Es ist langweilig zu sagen ,Gott ist tot‘, man muss sagen ‚Gott ist scheiße‘.“1 Religiöse Motive in Siegfried Anzingers Malerei Guido Reuter

Der Prozess der Bild(er)findung In die Bildwelt Siegfried Anzingers einzutauchen, bedeutet für den Betrachter, dass sein Wissen über Malerei immer wieder infrage gestellt wird. Jedes Werk des in Österreich geborenen und seit mehr als dreißig Jahren in Köln lebenden Künstlers stellt immer wieder aufs Neue eine Hinterfragung der Möglichkeit von Malerei und damit eine Herausforderung für den Betrachter dar. Für Anzinger bietet die Malerei aufgrund ihrer langen Tradition keinen sicheren Grund, auf dem sich Bilder ganz selbstverständlich entwickeln lassen. Im Gegenteil: Das Erbe der Malerei bedeutet für ihn, deren Reservoir erprobter Möglichkeiten immer wieder kritisch zu prüfen. In diesem Zusammenhang spielt die Geschichte der Kunst mit ihren Inhalten, Motiven und Darstellungsformen eine bedeutende Rolle. Anzinger weiß sehr genau um die gerade in der Moderne weit verbreitete Mär, ein Künstler schaffe aus sich selbst heraus. Aus diesem Grund greift er in gezielt gegenteiliger Auffassung bewusst auf bekannte Motive der Kunstgeschichte sowie auf deren technische Errungenschaften zurück, die er im Akt der Bildproduktion künstlerisch seziert, um zu seinen eigenen Bilderfindungen zu gelangen. Obschon nachgerade die Mittel der Malerei ein zentraler Gegenstand in Anzingers Werken sind, geht der Künstler in seinen Arbeiten immer von einem Bildgegenstand oder Motiv aus, an dem er seine Malerei entwickelt. Der Bildgegenstand oder das Bildmotiv als Ausgangspunkt des künstlerischen Prozesses durchläuft während der Arbeit verschiedene Formen, bis dessen endgültige Gestalt gefunden ist. Die Invention der Bilder basiert somit ganz wesentlich auf Gegenständen oder bekannten Motiven, die eine mehr oder minder sichere Basis bieten, um von die-

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ser aus im Verlauf der Arbeit in weniger bekannte Bereiche vorzudringen, durch die der Künstler herausgefordert wird, auf neue Weise zu reagieren. Das Ergebnis basiert folglich auf der Begabung des Malers, eine Balance zu finden, die selbst gestellten Schwierigkeiten in eine Form zu überführen, die für ihn ein akzeptables Ergebnis bildet. Die Bilder, die in immer neuen Anläufen in Anzingers Atelier entstehen, offenbaren auf diese Weise den geistreichen und sensiblen Dialog, den der Künstler mit der Malerei führt. Oftmals treibt Anzinger seine Bilder in den letzten Jahren dabei bewusst an eine Grenze, an der die gattungskonstituierenden Konturen derselben verschwimmen, indem zeichnerische Bildelemente vielfach den gleichen Stellenwert besitzen wie malerische. Beide Mittel dienen in gleicher Weise der Erschaffung der Bildgegenstände und -motive und führen zugleich ein formales Eigenleben. Zudem können sich die zeichnerischen wie malerischen Bildbestandteile einerseits ergänzen und andererseits die jeweils spezifischen Qualitäten des anderen Mediums infrage stellen. Entscheidend ist für den Künstler, alle Bestandteile seiner Bilder in ein prekäres Gleichgewicht zu überführen. Der Arbeitsprozess an jedem einzelnen Gemälde stellt aufgrund dessen ein Wagnis dar. Das Wissen darum, Scheitern zu können, ist für Anzinger wesentliches Movens der Arbeit.

G ekrümmtes Tondo 2011 entsteht im Œuvre Anzingers das mit Leimfarbe auf Leinwand gemalte Bild Gekrümmtes Tondo (Abb. 1). Das Gemälde führt exemplarisch vor Augen, wie der Künstler oftmals auf die Geschichte und Motivwelt der Kunst aufbauend zu seinen ihm ganz eigenen Bilderfindungen gelangt. Das Gemälde zeigt drei Personen in einer Landschaft, die von einer gemalten Rahmenform eingefasst werden, die an die in der italienischen Renaissance vor allem in Florenz beliebte Bildform des Tondos – einem Rundbild – erinnert. Entgegen der Formatform des Tondos in der Renaissancemalerei ist Anzingers Gemälde formal aber kein Tondo, da die Rahmenform lediglich als gemalte in die hochrechteckige Leinwand eingeschrieben ist. Zudem ist die in das Bild gemalte Rahmenform nicht rund, sondern unperfekt in ihrer gekrümmten Gestalt. Auf diese Weise aber stellt der ins Bild gemalte Rahmen einen formalen Widerhall auf das von ihm eingefasste Bildgeschehen dar. Der gekrümmte Rahmen nimmt das Spiel der Linien, die sich in der hügeligen Landschaft finden ebenso auf wie das Spiel der Linien in den Figuren. Der ausbuchtende Verlauf des gemalten Rahmens in der linken Bildhälfte ist nachgerade eine Wiederholung der an- und abschwellenden Formen der rücklings lagernden Gestalt.

„Es ist langweilig zu sagen ,Gott ist tot‘“

Abbildung 1: Siegfried Anzinger, Gekrümmtes Tondo, 2011, Leimfarbe auf Leinwand, 110 x 85 cm, Privatbesitz

Fotografie: Lothar Schnepf

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Abbildung 2: Michelangelo, Tondo Doni, 1506–08, Tempera auf Holz, 120 cm, Florenz, Galleria degli Uffizi

Fotografie: Mediathek Kunstakademie Düsseldorf

Auf dem Gesäß beziehungsweise Oberschenkel der rücklings kauernden Figur ist ein Kind zu sehen, das mit ausgebreiteten Armen anscheinend über den Rücken der knienden Gestalt in Richtung der in Rot gewandeten Figur vor ihm zu rutschen scheint und dabei mit dieser kommuniziert. Das privat anmutende Zusammenspiel der beiden Erwachsenen mit dem Kind wirkt besonders dadurch irritierend, dass der Blick des Betrachters immer wieder auf das Gesäß der rücklings am Boden kauernden Figur gelenkt wird. Als ein Ausgangspunkt für Anzingers Gemälde Gekrümmtes Tondo könnte Michelangelos berühmter Tondo Doni (Abb. 2) aus den Jahren 1506 bis 1508 ge-

„Es ist langweilig zu sagen ,Gott ist tot‘“

dient haben, in dem Maria und Josef in einer innigen Kontaktaufnahme mit dem Jesusknaben zu sehen sind und diesen zugleich dem Bildbetrachter präsentieren. Der Künstler ist zu sehr in der Kunstgeschichte bewandert, als dass er das Gemälde aus den Uffizien in Florenz nicht vor seinem inneren Auge gehabt haben könnte, als er sein Bild schuf. Da Malerei für Anzinger jedoch „eine Form der Erinnerung ist“2, entstehen seine Motive bis heute grundsätzlich „aus der Erinnerung, aus dem Kopf“, wie er selbst sagt. Wenn Michelangelos Gemälde als eine Inspiration gedient haben sollte, dann folglich niemals als bewusste Vorlage, da der Künstler zumindest bis heute „niemals vorsätzlich ein Motiv angegangen ist“.3 Anzinger wäre nicht Anzinger, wenn er in seinem Bild sowohl die Form des Tondos wie das intime Beisammensein der Heiligen Familie nicht künstlerisch gegen den Strich gebürstet hätte. In diesem Sinn wird sein Werk dann auch nicht zu einer wie auch immer gearteten möglichen Kopie oder Variation von Michelangelos Werk – oder eines ähnlichen Renaissancetondos –, sondern zu einer eigenständigen Bilderfindung der Heiligen Familie. Der Künstler beschreitet dabei mit offensichtlicher Freude den Grat des Provokanten und Burlesken. Die rücklings lagernde Figur, die im Zusammenhang mit dem Bildmotiv der Heiligen Familie als Maria zu deuten ist, auf deren Gesäß oder Oberschenkel das wiederum als Jesusknabe zu identifizierende Kind positioniert ist, wendet nicht nur ihrem Gatten Josef, sondern auch dem Bildbetrachter ihr Hinterteil zu. Dass Josef im Bild wie der Betrachter vor demselben das Gesäß Mariens vor Augen hat, ist im Grunde aber nur eine Folge davon, dass die Gottesmutter im vertraut anmutenden spielerischen Beisammensein der Familie offensichtlich eine ungezwungene Haltung einnimmt – dass Anzinger bei der Erfindung der Haltung Mariens sich ein weiteres Mal an eine Figur Michelangelos erinnert haben mag, und zwar an dessen Gottvater an der Decke der Sixtinischen Kapelle, darf ebenfalls vermutet werden. Dass der Künstler bei aller Freude am Bruch mit der Konvention oder des Dekorums – der Angemessenheit einer Darstellung – aber sein Bild nicht ins Karikaturhafte oder Lächerliche abrutschen lässt, wird sowohl in der Figur des Jesusknaben als auch in dessen Kommunikation mit Josef deutlich. „Ich will ja keinen Lacher. Ich will nur Verwunderung, aber keine Häme“4, so Anzinger allgemein über die Wirkung seiner Bilder. Scheinen die ausgebreiteten Arme des Jungen einerseits dazu zu dienen, dass er sein Gleichgewicht auf dem Oberschenkel/Gesäß der Mutter nicht verliert, wie sie auch eine Art von Umarmung in Richtung des andächtig vor ihm sitzenden Vaters anzudeuten scheinen, so weisen sie andererseits unmissverständlich auf die Passion Christi hin. Der fahle annähernd farblose weiße Körper und die an rinnende Tränen oder Blut im Gesicht und am Körper des Kindes erinnernden Farbschlieren tragen ebenfalls zu dieser sinnträchtigen Aufladung in Anzingers Gemälde bei. Durch den erhobenen Kopf des Mannes trifft sich

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dessen Blick des Weiteren mit dem Blick des Kindes, wodurch die Eindringlichkeit des Miteinanders beider sowie die Antizipation des zukünftigen Schicksals des Kindes eine bildliche Intensivierung erfahren. Im Zusammenhang mit Anzingers Bilderfindungen spielt neben der Erschaffung seiner Motivwelten die malerische Umsetzung derselben eine gleichgewichtige Rolle. Ein Gemälde ist für den Künstler nur dann gelungen, wenn beide Seiten in Einklang gebracht sind – dieser Einklang ist aber keinesfalls ein vordergründiges Streben nach Perfektion und Einheitlichkeit, sondern die Suche nach und das Erarbeiten von Brüchen, die am Ende in ein subtiles Gleichgewicht überführt sein müssen. In diesem Zusammenhang ist es von großer Bedeutung, dass der Künstler seine Bilder immer mit einem Motiv beginnt, sich dieses aber im Laufe der Auseinandersetzung mit den malerischen Mitteln während des Produktionsprozesses verändert und so erst seine letztliche Form findet. Bereits oben wurde kurz ausgeführt, dass Anzinger in vielen seiner Gemälde zeichnerische und malerische Elemente in ein spannungsreiches Miteinander bringt, so auch in Gekrümmtes Tondo: Scheinbar unbestimmt hingeworfene Farbflächen erhalten erst durch pointiert gesetzte zeichnerische Linienverläufe, beispielsweise in Form einer konkretisierenden Umrisslinie, einen etwas Gegenständliches bezeichnenden Charakter. Dies ist sowohl in der Landschaft wie in der Kleidung der Figuren ersichtlich als auch an Stellen wie dem rechten Fuß der rücklings lagernden Maria. Die schlaufenartige Form ist an dieser Stelle so akzentuiert gesetzt, dass sie als Fußsohle und in ihrer Verlängerung als Teil des Beines verstanden werden kann. Gleichzeitig ist ihre Gestaltung aber so offen, dass sie als eigenständiges Bildelement mit den angrenzenden malerischen und zeichnerischen Bildbestandteilen in einen spannungsgeladenen Dialog tritt. Die Frage, ob es Anzingers primäre Absicht war, mit Gekrümmtes Tondo ein religiöses Gemälde zu erschaffen, ist sicherlich zu verneinen. Die seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts häufig wiederkehrende Hinwendung des Künstlers zur christlichen Ikonografie hat zum einen damit zu tun, dass er „erzählerische Momente“ in seinen Bildern haben möchte, um sich an diesen „Inhalten abzuarbeiten“,5 wie er sagt. Mittels „der Themen, die jeder Mensch kennt“, könne er sich überdies „der Abstraktion widmen“.6 In Bildern, die hingegen „eine Privatspinnerei“ zeigten, würde sich der Betrachter dagegen auf „eine falsche Weise in den Inhalten verlieren ohne die Malerei wahrzunehmen“.7 Darüber hinaus erlaubt der Umgang des Malers mit den „vertraut und abgegriffen scheinenden Motiven“ demselben, „neue Formeln zu finden für das Traurige, das Tragische, das Hoffnungsvolle“.8 In diesem Sinne ist der unüberhörbare ernste Ton, der in Anzingers Gemälde Gekrümmtes Tondo trotz aller Freiheit des Künstlers im Umgang mit dem höchst traditionellen Motiv der Heiligen Familie anklingt, ein besonderes

„Es ist langweilig zu sagen ,Gott ist tot‘“

Qualitätskriterium, wodurch es nicht zuletzt auch – abhängig von seinen Betrachtern – als zeitgenössisches religiöses Historienbild eine nachdrückliche Wirkung entfalten kann.

G ekreuzigte S chweine 2012 sollte Anzinger auf Einladung des Beirats der Kunst-Station St. Peter in Köln in der spätgotischen Pfarr- und Jesuitenkirche eine Ausstellung neuer Bilder präsentieren, die er zu diesem Anlass eigens geschaffenen hatte.9 Die Ausstellung wurde jedoch kurz vor der Vernissage „aus Sorge vor einer blasphemischen Interpretation seitens der Gläubigen“ durch den Kunstbeirat abgesagt.10 Grund waren zwei Gemälde mit den Titeln Sechs Schweine (Abb. 3) und Hinrichtung (Abb. 4). Nach Aussage des künstlerischen Leiters der Kunst-Station Guido Schlimbach sei es unmöglich gewesen, diese Bilder zu zeigen, in denen „das unheiligste Tier“ in Verbindung mit dem „heiligsten Symbol“ gebracht werde.11 Zudem, so Schlimbach, könne er „in den dargestellten Schweinchen nicht die geschundene Kreatur erkennen, die Anzinger im Sinn hatte“.12 Die theologische Diskussion um die Frage nach der Reinheit oder Unreinheit des Schweins hebelt Anzinger spitzbübisch mit dem Kommentar aus, dass „sich doch auch Priester am Wochenende ihren Schweinsbraten schmecken lassen“.13 Schaut man darüber hinaus die beiden Bilder, die 2012 im Zentrum der Kritik standen, in Hinsicht auf die malerische Umsetzung genauer an, so ist es auffällig, dass Anzinger keine expressionistisch gemalten Schweine zeigt. Aber genau das war und ist das Anliegen des Künstlers: Die Entscheidung, geradezu süßlich wirkende rosarote glückverheißende Marzipanschweinchen zu zeigen, steigere, so der Maler, viel mehr die Drastik des kreatürlichen Leids der Tiere, als es expressiv gemalte Schweine vermocht hätten, da in diesem Fall die Malerei vom Inhalt, der Tragik der Situation, abgelenkt hätte.14 Sicherlich balanciert der Künstler mit der Wahl der Schweine in den Gemälden auf einem schmalen Grat. Doch er weiß eben dies sehr genau und er weiß auch, dass der Balanceakt eine malerische Umsetzung der Tiere und ihres Ausdrucks verlangt, der das Ganze in einem besonderen Gleichgewicht belässt. Anzingers Schweine sind süß und harmlos, und soweit sie nicht ans Kreuz geschlagen sind, agieren sie puttengleich verspielt oder unbeteiligt auf das zentrale Geschehen. Auch der Ringelschwanz der Tiere, den der Künstler vielfach vorführt und als geschwungen-leichte Form gezielt in seine Bilder integriert, bildet in diesem Zusammenhang einen bewussten Kontrapunkt zur Tragik der Situation. Leichtigkeit und Schwere, Natürlichkeit und Niedlichkeit gegen die Brutalität des Tötens und das damit verbundene Leid zu setzen, ohne dieses aber

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Abbildung 3: Siegfried Anzinger, Sechs Schweine, 2012, Leimfarbe auf Leinwand, 180 x 160 cm, Privatbesitz

Fotografie: Lothar Schnepf

mit einer caravaggesken Drastik und/oder eines expressiv-lauten Malstils zu vermitteln, ist Anzingers anliegen. Es gehe in seinen Bildern nicht um einen tieferen spirituellen Sinn, so der Künstler, sondern „um das, was man sieht. Alles was man sieht ist da. Was ist, ist. Direktheit ist es“.15 In letzter Konsequenz sei es ihm darum gegangen, die Bilder so zu malen, wie er sie einem Kind erklären würde.16

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Abbildung 4: Siegfried Anzinger, Hinrichtung, 2012, Leimfarbe auf Leinwand, 145 x 170 cm, Sammlung Anna Friebe-Reininghaus

Fotografie: Lothar Schnepf

Obschon seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Anzingers Œuvre immer wieder religiöse Bildthemen vorkommen und der Künstler 2008 sogar zwei Kirchenfenster für die Pfarrkirche seines Geburtsortes Weyer in Oberösterreich schuf (Abb. 5), muss noch einmal betont werden, dass er, wie er selbst sagt, lediglich in seiner Kindheit eine kurze religiöse Phase hatte, in der er innerlich ergriffen war.17 Der Maler sieht aber in vielen Motiven der christlichen Ikonografie uralte Themen der menschlichen Existenz angesprochen, deren Aktualität ihn dazu reizt, auf der Basis tradierter Bildformen eigene Formulierungen für deren gegenwärtige Bedeutung zu finden, auch wenn ihm das bis heute oftmals nicht nur den Unwillen des Kunstmarktes einbringt.

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Abbildung 5: Siegfried Anzinger, Frauen-/Männerfenster, 2008, Glasfenster, 630 x 140 cm, Pfarrkirche Weyer, Österreich

Quelle: Lentos Kunstmuseum Linz (Hg.), Siegfried Anzinger, Ausst.-Kat. Lentos Kunstmuseum Linz 26.11.2010–13.03.2011, Köln 2010, S. 177

„Es ist langweilig zu sagen ,Gott ist tot‘“

A nmerkungen 1 | Siegfried Anzinger in einem Gespräch mit dem Autor am 21.03.2018 im Kölner Atelier des Künstlers über die Verwendung religiöser Ikonografie in seinen Gemälden. 2 | Ebd. 3 | Ebd. 4 | Ebd. 5 | Ebd. 6 | Ebd. 7 | Ebd. 8 | Ebd. 9 | Alle 16 Bilder, in denen sich Anzinger anhand von Themen wie Auferstehung, Taufe, Letztes Abendmahl ausschließlich mit der christlichen Ikonografie beschäftigt, sowie deren geplante Präsentation als Bilderblock sind auf der Homepage der Galerie Julia Garnatz unter Siegfried Anzinger/Kunst-Station Sankt Peter abgebildet. 10 | Lorch, Cathrin: „Schweine am Kreuz“, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.05.2012. https://sueddeutsche.de/kultur/eklat-um-ausstellung-in-köln-schweine-am-kreuz-1.1363136 [19.03.2018]. 11 | Ebd. 12 | Kohler, Michael: „Kunststation: Sankt Peter und die Schweine“, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 23.05.2012. https:/www.ksta.de/kunststation-sankt-peter-und-die-schweine-10619664 [19.03.2018]. 13 | Anzinger im Gespräch mit dem Autor am 21.03.2018. 14 | Ebd. 15 | Ebd. 16 | Ebd. 17 | Ebd.

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Der Mann mit der Kamera Apparate, Objektive, Subjektivitäten1 Svetlana Chernyshova Das Gewicht auf die linke Hand verlagert, leichte Bewegung des rechten Daumens – das kurze, vertraute Switch-Geräusch, das den Übergang markiert. Die linke Hand greift nun etwas vor und entfernt mit einem festen Zugriff von zwei Fingern den runden Frontdeckel. Befragender Blick auf das kleine Einstellungsdisplay. Kurzes Knopfdrücken, drehen, noch etwas weiterdrehen. Das Gesicht nähert sich an, ein flüchtiger Blick durch den Sucher, rasches und unbestimmtes Betätigen des Auslöseknopfes, Blick auf das eingefangene Bild – die Einstellung stimmt: Modus einer ruhig routinierten, aber zugleich ungeduldigen Bereitschaft. Die Fotografie als ein kunsthistorisches, aber auch medienwissenschaftliches Phänomen wurde im Verlaufe des letzten Jahrhunderts vielfältig und ausgiebig diskutiert – angetrieben von der Vorstellung des Zeichnens mit dem Licht bei Talbot 2, der damit einhergehenden Diskussion um die Autonomisierung des Apparates („You Press the Button, We Do the Rest“3) und der Abschaffung des im eigentlichen Sinne agierenden Subjekts. Die Diskussionen der nächsten Generationen, die sich auf die schwer umkämpfte Prämisse einlassen, dass Fotografie doch auch Kunst sein kann, werfen dann Fragen auf, die vor allem das Verhältnis zwischen dem Dargestellten und dem im Bild Repräsentierten befragen und damit auch große diskursive Verschiebungen markieren, die zu solchen grundlegenden Fragen wie Was sind Bilder?, Was machen Bilder?, Was wollen Bilder?4 führen. Was festgehalten werden kann, ist damit zumindest eine, sich nicht zuletzt auch im Zuge der Digitalisierung beziehungsweise des postdigitalen Nachdenkens über Phänomene, verstärkende Sensibilisierung für den Umgang mit Fotografie als Entität, die weit über das Repräsentieren hinausgeht. Und mit der Bezeichnung als Entität wird damit zugleich eine Lesart spürbar, die die Fotografie nicht als ein, in welcher Form auch immer, isolierbares Phänomen begreift, sondern sich dessen bewusst ist, dass diese viel mehr als ein vorübergehendes Resultat, eine Verdichtung von

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Verkettungen betrachtet werden muss, die sich durch komplexe Relationen und Referenzverhältnisse auszeichnet. Doch wie die eingangs angeführte Beschreibung bereits erahnen lässt, interessiert sich der vorliegende Beitrag vor allem für den Prozess beziehungsweise die Praktiken des Fotografierens. Zugleich wird darin aber auch spürbar, dass die zentralen Diskussionen, die den Fotografiediskurs geprägt haben – nämlich die Frage nach der Aktivität des Apparates und der Handlungsfähigkeit des menschlichen Subjekts – ganz eng daran geknüpft sind, was auch im Fokus dieses Textes steht: Was setzt das Fotografieren voraus und was bringt es hervor?

D er A pparat Die Agency des Technischen nimmt in den Diskussionen der letzten Jahre, nicht zuletzt seit die Relektüre von Gilbert Simondons Die Existenzweise technischer Objekte aus dem Jahr 19585 in vielen Disziplinen aktiv aufgenommen wird, immer mehr Präsenz an. Im Zuge dessen wird unter anderem diskutiert, wie sich auch die menschlichen Akteure darin positionieren können oder auch – im Hinblick auf die Fragen nach den Momenten des Ethischen beziehungsweise Politischen – sollten.6 In Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken spricht Karen Barad7 davon, dass „[…] Apparate keine bloßen Instrumente oder Geräte sind, die als neutrale Sonden der natürlichen Welt eingesetzt werden können, oder dass sie bestimmende Strukturen sozialer Natur sind […]“.8

Vielmehr seien Apparate aber „[…] spezifische materielle Rekonfigurationen der Welt, die nicht bloß in der Zeit entstehen, sondern schrittweise die Raumzeit-Materie als Teil der fortlaufenden dynamischen Kraft des Werdens rekonfigurieren.“9

Darin macht sich folglich der Gedanke bemerkbar, dass Apparate per se Setzungen vornehmen, „Schnitte“ vollziehen, wie Barad es beschreibt.10 Die „dynamischen Prozesse der Intraaktion“11 rekonfigurieren somit die Welt und bringen schließlich Positionen hervor. Gleichzeitig geht damit aber auch einher, dass Apparaturen eine zeitliche Faltung implizieren.12 Katherine Hayles beschreibt diese vor allem in ihrer Auseinandersetzung mit der sprachlichen-grammatikalischen Konfigurierung von „future anterior“13, einem Zeitmodus, der ein vorzeitig angekündigtes

Der Mann mit der Kamera

Stattfinden von Prozessen und Handlungen impliziert, die in der Zukunft stattgefunden haben werden, das heißt also, dass damit ein Verflechten von der Zeit des Sprechens und einer sich per se auf diese Zeit beziehende Zukunft einhergeht – ein in sich gefalteter Vorweggriff. Doch was bedeutet es für die vorliegende Auseinandersetzung? Wenn wir davon sprechen, dass jegliche Positionen als Folge der agentiellen Schnitte resultieren – als Folge der apparativen Praktiken –, dann muss das Zeitverhältnis jener Hervorbringung ebenfalls in der vorweggreifenden Faltung begriffen werden: „Die größere materielle Anordnung vollzieht also einen Schnitt, der die vorgegebene ontisch-semantische Unbestimmtheit auflöst und durch den das ‚Subjekt‘ und das ‚Objekt‘ entstehen. Apparate sind die Bedingungen der Möglichkeit für bestimmte Grenzen und Eigenschaften von Objekten und Bedeutungen verkörperter Begriffe innerhalb des Phänomens.“14

Wenn wir folglich von einem Mann mit einer Kamera sprechen, setzen wir bereits ein breitgefächertes Spektrum von Setzungen voraus. Wenn wir den Blick dabei etwas schärfen, wird deutlich, dass die scheinbar einfache Grundkonstellation eines Subjekts und eines Objekts Faltungen impliziert, die Zoom-Bewegungen verlangen, um sich damit auseinandersetzen zu können. Deshalb gilt es den Fokus darauf zu richten, was die hier umschriebene Situation des Fotografierens produziert.

S ubjektivitäten , O bjektive

und

Stabilisierungen

Während einerseits die These aufgestellt werden kann, dass Technizität im Sinne von technischen Ensembles15 per se Subjektivität mitproduzieren kann (man richte nur die Aufmerksamkeit auf solche intimen Entitäten wie den Fitnesstracker etc.), zeichnet sich die Situation des Fotografierens durch eine bestimmte Überlagerung von Modalitäten aus. So kann das Fotografieren als ein Prozess einer geteilten beziehungsweise teilbaren Visualität beschrieben werden. Anders als beispielsweise in der Malerei, wird hier das Sehen – in der technischen Assemblage – zu einem doppelten Sehen. Der Blick der Kamera und der Blick durch die Kamera werden zu einer Verdichtung von Sichtbarkeit, die sich innerhalb einer bestimmten temporalen Struktur metastabilisert. Doch durch welche Praktiken werden das Bild sowie, in unserem Fall, der Fotograf hervorgebracht? Das bereits erwähnte doppelte Sehen markiert zwar eine der notwendigen Bedingungen, die diese technisch-intime Assemblage auszeichnen, dennoch geht diese nicht darin auf. Der Fotoapparat unterscheidet sich vor allem im Hinblick auf die produzierten Körper- beziehungsweise Materialrelationen von

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anderen technischen Geräten. So lassen sich anhand dessen auch Differenzen im Hinblick auf das Fotografieren mit einem Smartphone nachzeichnen, denn was die Kamera als eine primär fotografische Apparatur auszeichnet, ist nicht zuletzt auch ein bestimmter körperlich-habitueller Umgang, den diese nach sich zieht. Eine Spiegelreflexkamera hat beispielweise Gewicht, sie bringt den Körper in der Haltung, in der Einstellung hervor, sie verlangt das beidhändige Halten, das Sich-dem-Sucher-Annähern, das Herausdrehen des Objektivs. Mit dieser Beschreibung geht folglich die Annahme einher, dass verschiedene fotografische Apparate (und die Klassifizierung kann hierbei auf vielfältigen Ebenen vorgenommen werden) jeweils unterschiedliche Formen der körperlichen Involvierung implizieren, die sich zum Beispiel auch im haptischen Umgang manifestiert. Während es bei Smartphones beispielsweise um Screenberührung, kontaktloses Auslösen durch das Halten der Hand in die Kamera oder auch eine physische Extension wie im Falle eines Selfiesticks geht, initiieren digitale Spiegelreflexkameras ein Materialverhältnis, das in der Regel mit einer Nähe zum Gesicht einhergeht (trotz der Möglichkeit der Displaynutzung). Das Aufnehmen wird zu einer Gucklocherfahrung, einem neugierigen Schauen, welches sich dann in einem breiten Spektrum von Blicken manifestieren kann. So ist auch das manuelle Einstellen – das Drehen des Objektivs – eine Praktik, die ein verkörpert-visuelles Nähe-Distanzverhältnis reguliert. Wir können uns annähern und von der plötzlichen Präsenz des Details, vom Affektbild16, eingenommen werden, oder aber Schritt für Schritt oder im raschen, kaum wahrgenommenen Wechsel, hin zu einer mit Übersicht anlockenden Distanz hingleiten, die uns in eine ambige Situation des Sich-Verlierens der Größe gegenüber und dem gleichzeitigen Versprechen eines sicheren Beobachtens hineinzieht. Was das Objektiv dabei folglich macht, ist das Ermöglichen von unterschiedlichen Formen von Relationalität. So, wie der Blick von den Einstellungen mitkonstituiert wird, produziert auch das Objektiv einen Bezug zur Welt, der sich schließlich auch auf die Art und Weise auswirkt, ob und in welcher Form Subjektivitäten hervorgebracht werden – ob in der Figur des Fotografen oder, weiter zirkulierend, den Betrachtenden des Bildes etc. Während Makroobjektive Welten entstehen lassen, die eine übersteigerte Nähe erzeugen, produzieren Weitwinkel mitunter das Gefühl einer Selbstminiaturisierung – zwei Modi der Überwältigung, des Überweltigt-Seins. Das heißt, was Objektive machen, ist das Ermöglichen von bestimmten ästhetischen Regimes, deren Spiel darin besteht, kontinuierlich diskontinuierliche, flimmernde Subjektivitäten hervorzubringen. Denn die hervorgebrachten Bilder sind nie eindeutig stabil – sie verhandeln sich selbst, ihre Referenzen und Kontexte, ihre Apparaturen und ihre BetrachterInnen immer wieder neu.

Der Mann mit der Kamera

B licke , Transformationen

und

R eferenzen

Dass der Blick durch die Kamera auch im Zuge von genderpolitischen Fragen17 thematisiert wurde, resultiert dabei ebenfalls aus der Verhandlung des bereits erwähnten Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Und in der Tat wird die Situation eine kritische, wenn es darum ginge, festschreibende Adressierungen zu vollziehen, die eine rigide Vorstellung vom passiven Objekt beziehungsweise Motiv und dem aktiven Subjekt beziehungsweise Fotografen reproduzieren. Jene Festschreibungen aktivieren demnach auch erst Reproduktionsstrukturen von normativen Matrizen, die Macht ebenfalls geschlechtlich verhandeln und Narrativen des sich ermächtigenden Mannes, ausgestattet mit dem phallisch-voyeuristischen Apparat folgen. Dass diese Form von struktureller Reduktion problematisch ist, liegt auf der Hand und würde, in nächster Konsequenz, auch der Fotografie als Medium jegliche Form von ästhetischer Wirksamkeit absprechen, weil das Foto, ebenfalls wie die Praxis des Fotografierens, per se ideologisch wäre. Doch worauf wir unseren Blick richten müssen, ist gerade das Nicht-Insistieren auf festen Positionen, sondern das blow-up-artige Betrachten dessen, was im Momentum des Fotografierens passiert – und damit, ganz im Modus einer future anterior – ein wechselseitiges Produzieren. Was uns an dieser Stelle zunächst interessiert, sind folglich Momente von Affizierung, von Intensitäten und Verdichtungen, die stattfinden, sobald es zur Aktivierung jener technischen Assemblage kommt. Was das Fotografieren demnach auszeichnet, ist ein wechselseitiges und intimes Sich-Einlassen und Sich-Einstellen. Und damit sei erneut die daraus hervorgehende Konsequenz markiert: Wenn wir uns darum bemühen würden, das Motiv, die Kamera und den Fotografen als für sich isolierte Positionen zu betrachten, wäre nichts gewonnen – ganz im Gegenteil. Vielmehr handelt es sich dabei um eine zutiefst sensitive Situation: ein Überwältigt-Werden, ein Angezogen-Werden, ein Eingestellt-Werden, welches dann in Positionen, in Bildern resultieren kann, die nicht schlicht abbilden, sondern konfigurieren. Und eben jenes Denken in Konfigurationen und Metastabilisierungen ermöglicht es auch, dass der Blick politisch verhandelt werden und über problematische Zuschreibungen von genderkritischen Adressierungen hinausgehen kann. So kann der Mann mit der Kamera fernab der Reproduktion von heteronormativen und per se hierarchisch gedachten Praktiken Resultat und Akteur in kritisch-technischen Assemblagen sein, die agentielle Handlungsfähigkeit neuverhandeln können. Jener Mann wäre in erster Linie ein metastabilisiertes und -stabilisierendes Subjekt, affiziert von und involviert in all die Prozesse, die Bilder produzieren: Prozesse, die in jedem Moment auch vom Scheitern bedroht und fragil sind, die nicht nur verwackeln können, aber sich auch

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entziehen, verschieben und Lücken markieren können, die den Fotografen verunsichert und im Erspüren eines Fehlens zurücklassen. Wann gelingt die Fotografie? Wann ist der Prozess des Fotografierens abgeschlossen? Was sich im habituell-routinierten Auswählen und Löschen von geschossenen Bildern zeigt, sind weitere Praktiken, die das Fotografieren als Bildermachen konkretisieren. So wie es Bruno Latour bei seinen Amazonasexpeditionen beschreibt,18 kann auch das Fotografieren im Modus einer zirkulierenden Referenz beschrieben werden: Das heißt, die Frage nach der Abgeschlossenheit sowohl des Fotografiervorgangs als auch des Bildes wird damit insofern verschoben, als es sich um schrittweise Transformationen handelt, die an bestimmten Punkten zwar als vorübergehende Resultate herausgezogen werden können, jedoch aber einen unaufhörlichen Schwall an weiteren Verkettungen und Referenzen nach sich ziehen. Wann die Fotografie gelingt, ist dabei jedoch eine bei weitem viel komplexere Frage. Doch auch an dieser Stelle geht es darum, zu erfragen, inwiefern im Moment des Aufgelöst-Seins, dem Moment des Fotografischen, eine Intensität entstehen konnte, die die Akteure auf eine verdichtete Art und Weise hervorbringt und damit zumindest die Bedingung schafft, dass von einem Gelingen gesprochen werden kann. Zugleich ist aber jedoch auch klar, dass diese Bedingung nicht ausreicht, um eine tiefergehende Frage nach Qualitäten der jeweiligen Verknüpfungen zu stellen – dem sei in einem anderen Fragmentessay, bei einer weiteren Zoombewegung zu folgen.

H erauszoomen /Fazit Eingenommen durch das Bild, eingenommen durch die Apparatur, durch seine Agentialität und als Akteur innerhalb eines technischen Ensembles bringt das Fotografieren als Praktik – als ein wechselseitiger Prozess von aufeinander eingestimmten und sich gegenseitig stabilisierenden Momenten – eine Situation hervor, die sich durch höchste Sensibilität und Intimität auszeichnet. Das Fotografieren wird zum Modus des Sich-in-und-durch-die-Welt-Verortens. Und eben jene Sensibilität und jenes Momentum eines fragilen Aufeinander-Einstimmens erlaubt es erst, dass auch die Fotografie eine ästhetische Adressierung vollzieht und zugleich porös wird, um einen möglichen Modus des Ethisch-Politischen zu aktivieren. Die Frage, ob Fotografieren per se politisch ist, wäre zu groß für diesen kurzen gedanklichen Exkurs, doch was dieser dennoch markiert, ist die Unhintergehbarkeit der Verschiebung fort von festgesetzten Positionierungen und hin zu einer Sensitivität der Positionen, die im Prozess des Fotografierens selbst entstehen. Weit über die Funktionalität hinausreichend, ist das Fotografieren dabei ein Setting, welches Intensitäten evoziert und als Folge dessen Schnitte und Faltungen ermöglicht – den

Der Mann mit der Kamera

Mann mit der Kamera, die Fotografin des Objekts, die Betrachtenden der Bilder etc. Subjekte werden durch Objektive hervorgebracht: Im Modus der sensorischen Empfindlichkeit, der wechselseitigen Einstellung, der kontinuierlichen Stabilisierung und Auflösung.

A nmerkungen 1 | Der Beitragstitel verweist auf den Dokumentarfilm Der Mann mit der Kamera des sowjetischen Filmemachers Dziga Vertov aus dem Jahr 1929, er verwendet den Filmtitel hier jedoch als Figur, ohne sich weiterführend explizit mit dem Film zu beschäftigen. 2 | Siegel, Steffen: „Fotografieren“, in: Heiko Christians/Matthias Bickenbach/Nikolaus Wegmann (Hg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln 2015, S. 186–200. 3 | Ebd., S. 193. 4 | Mitchell, W. J. T.: What do pictures want? The lives and loves of images, Chicago 2010. 5 | Simondon, Gilbert: Die Existenzweise technischer Objekte, Zürich 2012. 6 | Siehe etwa Hayles, Nancy Katherine: Unthought. The power of the cognitive nonconscious, Chicago 2017. 7 | Barad, Karen/Schröder, Jürgen: Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, Berlin 2012. 8 | Ebd., S. 23. 9 | Ebd., S. 24. 10 | Vgl. ebd., S. 21. 11 | Ebd. 12 | Vgl. Latour, Bruno/Venn, Couze: „Morality and Technology“, in: Theory, Culture & Society 19/5–6.2002, S. 247–260. 13 | Hayles 2017, S. 144. 14 | Barad 2012, S. 26. 15 | Vgl. Simondon 2012, S. 12. 16 | Deleuze, Gilles: Das Bewegungsbild. Kino I, Frankfurt a. M. 1989. 17 | Siehe etwa Mulvey, Laura: „Visuelle Lust und narratives Kino“, in: Liliane Weissberg (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a. M. 1994, S. 48–65. 18 | Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2015.

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Auf der Suche nach dem Authentischen Essay über Damien Hirst, den Kunstmarkt und die Erfindung der Provenienz Ulli Seegers Als am 15. November 2017 bei Christie’s in New York ein Christus-Gemälde für 450,3 Millionen US-Dollar inklusive Aufgeld versteigert wurde, ging ein Raunen durch die Kunstwelt. Das bislang teuerste jemals versteigerte Kunstwerk, eine ca. 65 x 45 cm große Holztafel, soll von der Hand Leonardo da Vincis stammen und zeigt Christus als Salvator Mundi. Der Käufer, der das Gemälde im 2017 eröffneten Museum Louvre Abu Dhabi zeigen wolle, habe im Auftrag des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman gehandelt, war schon bald nach der Auktion aus der internationalen Presse zu erfahren. Das Museum nennt sich Universal Museum und vereint Kunstwerke und Kulturgüter aus verschiedenen Kulturen; insofern vermag auch das Bild des christlichen Erlösers nicht allzu sehr in der Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate zu verwundern. Bislang jedoch ist das Gemälde dort nicht angekommen; über den Verbleib wird öffentlich gerätselt. Anders als der Auktionspreis von knapp einer halben Milliarde US-Dollar suggeriert, ist die Provenienz des Werkes alles andere als gesichert.1 Ob das Bild tatsächlich von Leonardo da Vinci stammt oder vielmehr aus seinem Umkreis, ist fraglich. Der berühmte Renaissance-Maler, dem nur etwa 30 Gemälde zweifelsfrei zugeschrieben werden, ließ viele Werke nach seinen Entwürfen von Gehilfen in der Werkstatt fertigen. Einigen Serienbildern liegt ein Karton Leonardos zugrunde, nach dem seine Schüler eigenhändige Fassungen geschaffen haben. Auch vom Salvator Mundi existieren verschiedene Varianten. Das jetzt zum Rekordpreis versteigerte Exemplar, das um 1500 entstanden ist, tauchte 1913 im Sammlungskatalog der britischen Kaufmannsfamilie Cook auf, die es 1958 für 45 Britische Pfund als Werkstattbild versteigern ließ. Bevor es 2011 in der National Gallery in London erstmals als eigenhändiges Werk Leonardos öffentlichkeitswirksam prä-

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sentiert wurde, ist es mehrfach umfangreich restauriert und retuschiert worden. Bis zur Versteigerung 2017 folgten mehrere private Weiterverkäufe mit jeweils exorbitanten Preissprüngen sowie schließlich internationale Ausstellungen im Rahmen einer durch das Auktionshaus groß angelegten PR-Kampagne in Hongkong, London, San Francisco und New York. Erst diese strategische Dimension globaler Vermarktung konnte zu der Annahme führen, dass es keine Zweifel an der Echtheit des Gemäldes gäbe, wie Frank Zöllner vermutet, obwohl das Werk bei mehreren europäischen Museen aufgrund seiner lückenhaften Provenienz zuvor abgelehnt worden war (darunter in der Eremitage, den Vatikanischen Museen sowie der Berliner Gemäldegalerie).2 Die Herstellung einer internationalen Öffentlichkeit und Medienpräsenz, so seine These, legitimierte die vagen Herkunftsfiktionen und schien im Ergebnis den Markt über die Kunst triumphieren zu lassen. Elf Tage nach der spektakulären Kunstversteigerung des Salvator Mundi in New York endete am 26. November 2017 die 57. Kunst-Biennale in Venedig, in dessen Schatten auch Damien Hirst mit einer Doppelausstellung auf sich aufmerksam machte. Der Unternehmer und Sammler François Pinault hatte dafür seine beiden venezianischen Privatmuseen, den Palazzo Grassi sowie ein zum Ausstellungshaus umgebautes ehemaliges Zollgebäude auf der Punta della Dogana, zur Verfügung gestellt. Treasures from the Wreck of the Unbelievable hieß die Monumentalausstellung von Damien Hirst, die den Briten nach seiner legendären Auktion eigener Werke bei Sotheby’s in London, die ihm 2008 über 110 Millionen Britische Pfund einbrachte, wieder in die öffentliche Sichtbarkeit zurückbringen sollte. Tatsächlich lehrte die Ausstellung ihre Besucher das Staunen, wenn nämlich im klassizistischen Atrium des Palazzo Grassi ein riesiger, über 18 Meter großer kopfloser Koloss platziert war, der die Halle nahezu gänzlich ausfüllte. Metallisch schimmernd sieht der Demon with Bowl (Abb. 1) aus, als wäre es aus Bronze gemacht. Dem Ausstellungsführer jedoch ist zu entnehmen, dass er aus bemaltem Resin, einem schnell aushärtenden Gießharz, besteht. Was in seiner Gigantomanie wie ein überdimensionierter Fremdkörper in dem Palast wirkte, konnte in Wirklichkeit in Einzelteilen angeliefert und mit Sekundenkleber verbunden werden. Laut Handbuch handelt es sich bei der Monumentalfigur, die durch angedeutete Korallen- und Muschelreste auf dem Körper auf ihren Unterwasser-Fundort hinweisen soll, um die Kopie einer kleineren Bronze-Statue, die in einem Schiffswrack gefunden worden sei. Die Geschichte eines angeblich 2008 vor der Ostküste Afrikas im Indischen Ozean entdeckten Wracks aus der Antike bildet den Nukleus von Hirsts Kunstmärchen, um das herum alle Exponate an beiden Ausstellungsorten kreisen. Zentraler Protagonist sei Cif Amotan II., ein befreiter Ex-Sklave aus Antiochien im heutigen Nordwesten der Türkei, der von der Mitte des ersten bis zum frühen zweiten nachchristlichen Jahrhundert gelebt habe. Der frühere Skla-

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Abbildung 1: Damien Hirst, Demon with Bowl, bemalter Resin-Gießharz (Blick in die Ausstellung Treasures from the Wreck of the Unbelievable im Palazzo Grassi, Venedig 2017)

Fotografie: Ulli Seegers, © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2019

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Abbildung 2: Damien Hirst, Submerged Demon with Bowl (Leuchtkasten in der Ausstellung Treasures from the Wreck of the Unbelievable im Palazzo Grassi, Venedig 2017)

Fotografie: Ulli Seegers, © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Auf der Suche nach dem Authentischen

ve habe es in Freiheit zu immensem Reichtum gebracht, darunter auch eine große Sammlung von Kunstwerken und Artefakten aus dem gesamten Römischen Reich. Da der passionierte Sammler einen Tempel anlegen wollte, in dem die Werke gezeigt werden sollten, seien die sagenumwobenen Schätze – darunter neben Ankäufen auch „Kopien, Fälschungen und geplünderte Werke“, wie der erstaunte Leser aus dem Ausstellungsführer entnehmen kann – an Bord eines riesigen Schiffes namens Apistos (im englischen Manual wird als Übersetzung aus dem Altgriechischen „Unbelievable“ vorgeschlagen) gebracht worden, das unterging und seine Ladung „im Reich der Mythen“ versenkte. Nach etwa 2000 Jahren sei die versunkene Sammlung im Jahre 2008 in der Nähe des antiken Hafens Azania an der südöstlichen Küste Afrikas entdeckt und geborgen worden und nun – nach etwa zehn Jahren seit der Unterwasser-Ausgrabung – erstmals komplett zu sehen. Der Guide weist explizit darauf hin, dass einige der gezeigten Skulpturen noch vor der allfälligen Säuberung ihrer stark von Korallen, Seepocken und anderem Meeresgetier verkrusteten Oberflächen gezeigt würden, während andere Museums-Nachbildungen seien, die die Objekte besser in ihrer originalen, unzerstörten Form zeigten. Überwachsene Oberflächen und seltsame, amorphe Wucherungen an den Exponaten geraten auf diese Weise zum Ausweis vermeintlicher Authentizität. Ebenso wenig mögen vor diesem Hintergrund Materialangaben wie Aluminium, MDF, Silikon, Polyester oder Edelstahl verwundern, die neben klassisch antiken Materialien wie Marmor und Bronze in der Ausstellungsbroschüre zuhauf aufgezählt werden und sich damit durch den Status als Museumsrepliken erklären. Materialbedingte Zweifel an der Echtheit werden damit schon im Ansatz aufgegriffen und ins Gegenteil verkehrt. Als ein weiteres Instrument zur Vergewisserung der abenteuerlichen Schiffsgeschichte fungieren in der Ausstellung sowohl mehrere große Unterwasser-Fotografien des vorgeblich bronzenen Originals der Statue (Abb. 2) als auch eine Art Dokumentationsfilm, der Taucher und Unterwasser-Archäologen in Aktion zeigt und in einem pseudo-wissenschaftlichen Duktus auch zu Wort kommen lässt. Einer der Akteure merkt tiefgründig an: „History is written from fragments.“ Eine ähnliche Authentifizierungsstrategie verfolgt eine Fotografie (Abb. 3), die vorgibt, die Ausgrabung des bronzenen Kopfes der Statue zu zeigen, der angeblich 1932 im Tal von Tigris gefunden worden sei und der hier ebenfalls zu Ausstellungszwecken („Exhibition Enlargement“) in starker Vergrößerung (Abb. 4) gezeigt wird. Zusammen mit vielen weiteren Hunderten von Objekten, von Götterstatuen aus ganz unterschiedlichen Kulturen, Büsten, Statuetten, Figurinen, Münzen, Waffen, Schmuck und Keramik spannt Hirst ein Panorama auf, das mit seinen vielen verschiedenen kulturellen Einflüssen, der Gleichzeitigkeit und sogar Verbindung völlig heterogener Elemente geradezu typisch für den kulturellen Austausch der antiken Seefahrer rund um das

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Abbildung 3: Damien Hirst, Head of a Demon (Leuchtkasten in der Ausstellung Treasures from the Wreck of the Unbelievable im Palazzo Grassi, Venedig 2017)

Fotografie: Ulli Seegers, © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Mittelmeer sowie für den spätantiken Synkretismus allgemein zu nennen ist. Das Ausstellungsdisplay folgt dabei einer für Unterwasserfunde etablierten Szenografie, die neben Beschriftungen, präzisen Materialangaben, Expertenaufsätzen und Vitrinen vor allem auf Leuchtkästen, Videos und Foto- und Filmdokumente setzt. Parallel zu Damien Hirsts Präsentation in Venedig war im LVR-Landesmuseum in Bonn die Ausstellung Im Meer versunken. Sizilien und die Unterwasserarchäologie zu sehen, die ebenfalls genau dieser Inszenierungskonvention folgte (Abb. 5). Es gilt, den unsichtbaren Fundkontext für die BesucherInnen durch zusätzliches Ab-

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Abbildung 4: Damien Hirst, Head of a Demon, Bronze (Blick in die Ausstellung Treasures from the Wreck of the Unbelievable im Palazzo Grassi, Venedig 2017)

Fotografie: Ulli Seegers, © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2019

bildungsmaterial zu erschließen und anschaulich zu machen. Je weniger sich aus dem gezeigten Objekt selbst ableiten lässt beziehungsweise je fragwürdiger dieses erscheint, desto bedeutsamer werden Zusatzinformationen und einordnende Beschreibungen, die einen Wirklichkeitsbezug oft erst konstituieren. Die unglaubliche Rahmengeschichte vom ehemaligen Sklaven Amotan und seinem versunkenen Schatz wird im Begleitheft mottohaft eingeleitet von einer

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Abbildung 5: Ausstellungsansicht Im Meer versunken. Sizilien und die Unterwasserarchäologie, LVR-Landesmuseum Bonn, 12.10.2017–11.03.2018

Fotografie: Ulli Seegers

Sequenz aus Shakespeares Der Sturm, die bezeichnenderweise mit Begriffen wie Lüge, Wandlung, Reichtum und Fremdheit die zahlreichen Anspielungen des gesamten Plots aufnimmt und noch verstärkt. Freiheit und Gefangenschaft, Aufstieg und Untergang, Ehrlichkeit und Gier, Wahrheit und Mythos, Realität und Fiktion sind die unterschwelligen Begriffspaare, die den Rahmen für Hirsts Großprojekt abstecken. Nicht von ungefähr ist auch über dem Türsturz zum ersten Ausstellungsraum in der Punta della Dogana zu lesen: „Somehow between LIES and TRUTH LIES the TRUTH.“ Doppeldeutigkeiten, Ambiguitäten, Andeutungen – Damien Hirsts Verwirrspiel setzt sich damit auch im zweiten Ausstellungsort eindrucksvoll fort. Erneut werden vorgebliche Unterwasserfunde aus dem Wrack der Unbelievable gezeigt, deren breites Spektrum ebenfalls zwischen mehrere Meter großen Skulpturen und kleinteiligen Münzen variiert. Darunter befinden sich in Raum 3 auch eine Serie von antiken Torsi, die dem Begleitheft zufolge

Auf der Suche nach dem Authentischen „seit der Antike vielfach repliziert worden sind. Mehrere Versionen der Akte sind symptomatisch für die klassische Vorliebe für Formen, die sich zur Serialität eigneten, ein Trend, der der modernen Fetischisierung des Originals widerspricht.“ [Übers. U. S.]

Fünf der aufgrund der reduzierten Formen eher modern anmutenden Bronze-Torsi werden auf einem Podest an der Stirnwand gezeigt (Abb. 6). Links davon erstrahlt in einem Leuchtkasten eine Fotografie, die das identische Arrangement angeblich auf der International Surrealist Exhibition 1936 in London zeigt (Abb. 7). Selbst wenn Salvador Dalí bei seiner Rede im Rahmen der Ausstellung, die in den New Burlington Galleries stattfand und den Surrealismus in England bekannt machte, einen Tiefseetaucheranzug trug, so wurden laut Ausstellungskatalog jedoch keinerlei griechische Skulpturen gezeigt. Wie schon zuvor bei der angeblichen Ausgrabung des Kopfes des Dämons mit Schale im Tigris-Tal, bedient sich der Künstler der Fotomontage beziehungsweise der Nachstellung einer vermeintlich historischen Aufnahme. Und wieder ist die Botschaft dieselbe: Fotografien können als historische Dokumente nicht lügen und sind als Belege geschichtlicher Authentizität über jeden Zweifel erhaben. Fotografien als Echtheitsbelege sind jedoch spätestens seit dem 2006 im Kölner Auktionshaus Lempertz für 2,4 Millionen Euro versteigerten und 2008 als Fälschung von Wolfgang Beltracchi identifizierten vermeintlichen Campendonk-Gemälde Rotes Bild mit Pferden in Verruf geraten. Um marktfähig zu werden, bedurfte das Bild einer nachvollziehbaren Provenienzangabe. Das kriminelle Ehepaar stattete die Fälschung kurzerhand mit einer fiktiven Provenienz aus, indem der Großvater von Helene Beltracchi, der 1992 gestorbene Aachener Unternehmer Werner Jägers, posthum zum Erblasser erklärt wurde, der seiner Enkelin eine ganze Reihe an Kunstwerken vermacht habe. Eine trickreiche Verbindung einer realen Person mit einer erfundenen Sammlung, zumal glaubhaft vorgetragen von der Enkelin selbst. Zum Beweis für die Existenz der Sammlung wurden auf alt getrimmte s/w-Fotos vorgelegt, die angeblich die Großmutter, Josefine Jägers, und im Hintergrund die an der Wand hängenden vermeintlichen Bilder der großväterlichen Sammlung zeigen (Abb. 8). Tatsächlich jedoch sitzt Helene Beltracchi als ihre eigene Großmutter verkleidet am Tisch. Die bewusst unscharfen, gekonnt patinierten Abzüge suggerieren, dass es sich hier um historische Fotos aus der Vorkriegszeit handelt, die die Authentizität der Bilder belegen mögen. Damien Hirst bedient sich nicht nur in dem montierten Foto von der Londoner Surrealisten-Ausstellung eines surrealistischen Gestaltungsprinzips: der Collage-Technik. Das Prinzip Collage, das wesentlich aus der Kombination von

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Abbildung 6: Damien Hirst, Five Antique Torsos, Bronze (Blick in die Ausstellung Treasures from the Wreck of the Unbelievable in der Punta della Dogana, Venedig 2017)

Fotografie: Ulli Seegers, © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Heterogenem und der Verbindung des Auseinanderliegenden besteht, bestimmt vielmehr die gesamte Ausstellung. Der Künstler zeigt das diachron und kulturell Entfernte im synchronen Durchgang. So werden nicht nur die griechische Hydra mit der indischen Kali im handfesten Kampf unlösbar verbunden, sondern auch Poseidon und Steven Spielbergs Weißer Hai. Für die goldene Büste der Göttin Hathor saß offenbar Kate Moss Modell, während das Vorbild für die ägyptische Gottheit Aton offenkundig in der Sängerin Rihanna auszumachen ist. Zu antiken Helden und mythologischen Göttinnen gesellen sich zeitgenössische Heroen der Fantasy- und Comicwelt sowie Akteure der Pop- und Trashkultur auf Augenhöhe. Mickey Mouse, Goofy und Barbie erscheinen gleichermaßen überwuchert und aus der Tiefe des Meeres gezogen. Für die Archäologie der Gegenwart sind alle gleich. Wegen dieser durchgehenden Erfindung von Zusammenhängen und Provenien-

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Abbildung 7: Damien Hirst, Five Antique Torsos in Surrealist Exhibition (Leuchtkasten in der Ausstellung Treasures from the Wreck of the Unbelievable in der Punta della Dogana, Venedig 2017)

Fotografie: Ulli Seegers, © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2019

zen hat man Damien Hirst als „Lügenbaron der Lagune“ bezeichnet.3 Andere warfen ihm Geschichtslosigkeit vor: „Hirst interessiert sich nicht für die Kunst und ihre Geschichte, sondern allein für seine eigene Abenteuererzählung. Anders als Künstler vor ihm, egal ob im 16. oder im 20. Jahrhundert, versucht er nicht, mit seinen Werken eine Tradition fortzusetzen oder zu dementieren, sich im Vergleich mit vorangehenden Künstlern als originell, provokant oder beeinflusst zu erweisen oder einen neuen Stil zu begründen.“4

Doch ist es wirklich so, dass Hirst den BesucherInnen nur plump etwas vormacht und sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen betrügt? Kann man von einem Künstler im Jahre 2017 ernsthaft noch originelle oder gar stilbildende Absichten erwarten oder ist das mit den Kunsttheorien der Postmoderne nicht längst obsolet? Tatsächlich wird kaum eine Besucherin bei der Betrachtung einer ver-

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Abbildung 8: Helene Beltracchi als Großmutter Josefine Jägers vor gefälschten Bildern. Ein undatiertes Foto, das die Echtheit der Gemälde bezeugen sollte

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krusteten Micky Maus an die Geschichte von der antiken Schiffshavarie glauben. Ganz im Gegenteil: Raum für Raum dekonstruiert der Künstler seine Mär und legt immer deutlicher die Konstruiertheit und Fiktionalität der Geschichte offen. Immer unwahrscheinlichere Figuren-Anordnungen, HiTech-Materialien und das Fehlen jedweder Zeitangaben zum Entstehungskontext der Objekte im Ausstellungsführer tragen zusehends dazu bei, dass der Betrachter an der Story zweifelt. So verstanden steht Damien Hirst mit dieser Ausstellung weniger für eine Künstlerschaft, die „von einer Idee von Kunstgeschichte Abschied genommen“ hat,5 als vielmehr für eine Form postmoderner Authentizitätskritik. Hirst, so scheint es, wendet den Authentizitätsbegriff konsequent auf den künstlerischen Gegenstand und seine Inszenierung an und zeigt gerade durch die Überbetonung seinen Konstruktionscharakter. Auf diese Weise werden auch abgeleitete Kategorien wie Originalität, Echtheit, Ursprünglichkeit oder Unverfälschtheit unterwandert. Die Suche nach den antiken Schätzen der Unbelievable steht damit immer auch für die Suche nach dem Authentischen. Sie gleicht ebenso der Suche nach dem

Auf der Suche nach dem Authentischen

versunkenen Atlantis, jenem Sehnsuchtsort unverstellter Ursprünglichkeit, an den man glauben muss, um ihn finden zu können. Sollte das „Wrack des Unglaublichen“ damit gar als eine Parabel auf den Kunstmarkt zu lesen sein? Oder müsste man das Schiff eher den „Ungläubigen“ zuschreiben, die vom Glauben an die Kunst und ihren schier unglaublichen Auktionspreisen abgefallen sind? Der Kunstmarkt jedenfalls, das haben alle drei Beispiele gezeigt, setzt zum Zwecke der Generierung ökonomischer Werte weiterhin auf das Authentische, Originale, Einzigartige und damit auf Schätze, die erst noch gehoben werden müssen und für ihre Identitätsbildung anschließend einer schlüssigen Provenienzangabe bedürfen. Geht es also tatsächlich um eine geschichtslose Kunst, wie Wolfgang Ullrich meinte? Oder geht es vielmehr darum, die Konstruiertheit von Geschichtsschreibung selbst offenzulegen? Notwendigerweise lässt sich die historische Wirklichkeit nur durch einige wenige Zeitdokumente erschließen. Der Historiker interpretiert aus Fragmenten und schafft auf der Grundlage eigener Deutungen Sinnzusammenhänge. Geschichte erweist sich damit immer schon als eine besondere Verbindung von objektiven Gegebenheiten und subjektiven Schlussfolgerungen. Die „patchwork provenance“6, die dem Salvator Mundi despektierlich attestiert worden ist, und die nicht minder für Hirsts Ausstellung Treasures from the Wreck of the Unbelievable sowie für Beltracchis Provenienzbetrug gilt, bildet so verstanden auch die Bedingung der Möglichkeit von Geschichtsschreibung, ohne dass damit gleich der Beliebigkeit das Wort geredet wäre. Eine trennscharfe Linie zwischen Realität und Fiktion, Geschichte und Mythos gibt es nicht. Insofern handelt es sich sowohl bei Werken der Kunst wie bei solchen der Geschichtsschreibung um mehr oder weniger plausibilisierte Deutungsangebote, die mehr oder weniger kluge Sinnkontexte eröffnen. Absolutely free? Nur bedingt. Der exorbitante Auktionspreis für den Salvator Mundi hat Staunen über den Kunstmarkt und die ungeheuren Summen hervorgerufen, die Menschen für Kunst aufbringen. Bereits 2007 hatte Hirst in der White Cube Gallery in London den mit 8601 Diamanten besetzten Platinabguss eines Schädels präsentiert, der auf der Stirn einen 52-Karat-Diamanten aufweist. Das Werk mit dem Titel For the Love of God wurde im August 2007 für 50 Millionen Britische Pfund verkauft und stellte zeitweilig die teuerste Arbeit zeitgenössischer Kunst dar. Zweifellos lag genau dieser Rekordpreis im Kalkül des Künstlers, der seit Beginn seiner Karriere für Sensationen, Spektakel und Gigantomanie bekannt ist. Auch die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Kunstforum International (Bd. 259, März–April 2019) ist dem Staunen gewidmet. Der Untertitel des von Paolo Bianchi herausgegebenen Bandes lautet Plädoyer für eine existenzielle Erlebensform. „Staunen“, so heißt es noch vor dem Inhaltsverzeichnis gleich auf der zweiten Seite,

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Ulli Seegers „ist das verlorene Lebensgefühl unserer Zeit. Von klein auf bewegen wir uns neugierig durch die Welt. Wenn plötzlich etwas Außergewöhnliches unsere ganze Aufmerksamkeit fordert, können wir ins Staunen geraten. Doch heutzutage hat es viele Gegenspieler: Langeweile, Müdigkeit, Erschöpfung, Sättigung, Sensationshunger.“

Damien Hirst kommt in dieser Ausgabe nicht vor. Auch dies mag zunächst erstaunen, hat er die Kunstwelt mit seiner Biennale-Arbeit in Venedig 2017 doch mehr als verblüfft. Und dennoch bildet seine Arbeit geradezu das Gegenbild zum Staunen. Zwar unterlaufen auch seine Treasures from the Wreck of the Unbelievable grundlegende Gewissheiten in der Wahrnehmung, wenn sich vermeintlich antike Unterwasserschätze als bloße Nachbildungen und die eigenartige Zusammenstellung von scheinbar Altem, Rarem, Schönem und Außergewöhnlichem sowie von allerlei Kuriositäten als Wunderkammer-Persiflage herausstellen. Doch ist der illusionistische Bluff einmal durchschaut, erweist sich die aufwändig und mit hohem Materialaufwand angelegte Monumentalausstellung als bloßes Spiel mit dem Effekt, das der Erkennende wohlig belächelt. Kitsch, Pomp, Witz und Überwältigung sind dabei immer auch die klassischen Stilelemente Hollywoods, die uns nicht unbedingt weniger, aber zumeist weniger nachhaltig amüsieren. Insofern erstaunte auch Anfang Januar 2019 die Meldung nicht, dass der 18 Meter hohe Demon with Bowl aus dem Palazzo Grassi eine neue Heimat gefunden hat, die vielleicht auch seinem steten Oszillieren zwischen ökonomischem und symbolischem Kapital gerecht werden kann: das Casino von Las Vegas.

A nmerkungen 1 | Hier und im Folgenden vgl. Zöllner, Frank: Leonardo da Vinci. The Complete Paintings, Köln 2018 (Vorwort zur Neuedition). 2 | Zöllner, Frank: Salvator Mundi. Der Triumph des Marktes über die Kunst? Leonardos Serienproduktion und deren Stellung in Kunstmarkt, Vortrag auf dem 35. Deutschen Kunsthistorikertag, 29.03.2019. 3 | Hanssen, Frederik: „Damien Hirst in Venedig. Lügenbaron der Lagune“, in: Der Tagesspiegel, 15.06.2017, https://www.tagesspiegel.de/kultur/damien-hirst-in-venedig-luegenbaron-der-lagune/19934858.html [21.04.2019]. 4 | Ullrich, Wolfgang: „Kunst jenseits der Kunstgeschichte“, in: ideenfreiheit. Der Blog von Wolfgang Ullrich, https://ideenfreiheit.wordpress.com/2018/03/24/kunst-jenseits-der-kunstgeschichte/ [26.03.2018]. 5 | Ullrich 2018, ebd.

Auf der Suche nach dem Authentischen 6 | Carrigan, Margaret: „Salvator Mundi’s patchwork provenance now includes a 50-year stop in Louisiana“, in: The Art Newspaper, 19.09.2018, https://www.theartnewspaper.com/ news/salvator-mundi-s-patchwork-provenance-now-includes-a-50-year-stop-in-louisiana [21.04.2019].

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Von Strategien (nicht nur) im unternehmerischen Sinne, samt eines Plädoyers für deren künstlerische Entwendung Timo Skrandies „Besser den Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach.“ (Spruch) „Lasst uns Piraten sein.“ (Steve Jobs) „We can park the van and walk to town / Find the cheapest bottle of wine that we could find / And talk about the road behind / How getting lost is not a waste of time / Le Bois d’amour will take us home / In the moment we will sing as the forest sleeps.“ (Jack Johnson) „Immer radikal, niemals konsequent.“ (Walter Benjamin)

Offensichtlich gibt es zahlreiche Varianten, sich strategisch zu verhalten beziehungsweise verhaltensleitende Strategien zu entwickeln. Sie reichen von kulturgeschichtlichen Großkonzepten bis hin zu ganz pragmatischen Alltagsklugheiten.1 Strategien sind insofern Praktiken der Rationalisierbarkeit unseres Denkens und Handelns – gerade dann, wenn sie mit dem Unberechenbaren rechnen. Mehr noch: Strategien werden verstanden als Matrizen zur Berechnung des Unkalkulierbaren, zur rationalen Formung und Anordnung des Unbedachten, Unbeherrschten, Irrationalen. Sie dienen der Beherrschung und Kanalisierung von Komplexitäten, indem sie ihnen planerische Form zu geben versuchen. Strategien besitzen Geltung als rationale Formgebungen und sind damit im weltbildenden Sinne produktiv.

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Eine erste, vorläufige Antwort auf die Frage Was ist eine Strategie? könnte also lauten: Eine Strategie ist eine genau geplante, rationale Vorgehensweise mit formulierten Absichten und Zwecken und dem definierten Ziel einer berechenbaren und schließlich vorteilhafteren (heißt: gewinnträchtigen oder machtvollen) Situation. Wie dem auch sei: Versteht man Strategien als Praxis2 und ist man an Kunst als einer entwendenden Strategie interessiert, lohnt es, sich diesbezüglich begrifflich rückzuvergewissern. Strategie setzt sich aus dem altgriechischen straós (Heer) und agein (Führer) zusammen, strategos ist der Heerführer oder General. Selbstverständlich ist Strategie nicht nur in kriegerischen Handlungen allgegenwärtig,3 der Sport kennt sie (insbesondere der Mannschaftssport), die Politik und auch für den Alltag spricht man von strategischem Handeln oder Vorgehen. Wegen der Intimität von Ökonomie, unternehmerischem Handeln und Arbeit (zu der Kunst in einem prekären Verhältnis steht)4, soll hier der Strategie im ökonomisch-unternehmerischen Feld (zunächst) besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Eine jede solche Strategie ist durch eine zielorientierte Perspektivierung unternehmerischen Handelns auf die Zukunft hin geprägt: Profitmaximierung, eine bessere Marktpositionierung, die Umstrukturierung des Unternehmens für die Entwicklung etwa neuer Tätigkeitsfelder oder die Besetzung von (neuen) Nischen, die Differenzierung des Angebots, die Übernahme der Kostenführerschaft, die Expansion auf dem Markt (etwa durch Übernahme von Konkurrenten) und ähnliches mehr sind Ziele, die Gegenstand einer Strategieplanung sein können. Die Strategie ist hierbei verstanden als der „Aktionsplan, der sich mit gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen im Umfeld eines Unternehmens und zukünftigen Entwicklungen eines Unternehmens befasst und Entscheidungen über finanzielle und menschliche Ressourcen darstellt, um Leistungen zu steigern und langfristige Ziele zu erreichen.“5

Die hohe Risikohaftigkeit, die mit jeder versuchten Vorausschau aufs Zu-Künftige verbunden ist, wird in der Regel durch eine hohe Rationalität des Entwurfs zu kompensieren versucht: überlegtes Handeln, Konzentrierung von Kräften, konsequentes Agieren, Vergemeinschaftung des Unternehmens vom Management bis runter zur Belegschaft, Differenzierung der Gesamtstrategie in Ebenen unterschiedlicher Abstraktion (von Leitbildstrategien im Sinne von Visionen bis hin zu funktionalen Strategien für Alltagsabläufe)6, Entscheidungsorientierung an einer Matrix. Ineins aber mit solchen oder ähnlichen Maßnahmen und Vorhaben hat Strategie zu berücksichtigen, dass das, was in ihr entworfen ist, de jure zu realisieren

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ist, es de facto aber noch nicht ist, nie ist; kurz: Strategie hat stets mit Potenzialität zu rechnen, ja, mehr noch, sie ist von ihr heimgesucht, durchzogen. Was Strategie ist, ist noch nicht Welt, was Welt als Wirklichkeit geworden ist, kann Strategie gewesen sein – oder gerade nicht, was die Unzulänglichkeit der Strategie bedeutete. Es wird deutlich: Unter Strategie ist nur im Rahmen eines ersten definitorischen Versuchs eine starre Matrix zu verstehen, die in einer vermeintlich pragmatischen, als Strategem beziehungsweise Taktik bezeichneten Form dann Flexibilität zu beweisen habe – als sei Strategie eine festliegende Theorie, deren flexible Praxis die Taktik des alltäglichen Handelns sei. Differenzierte Strategie-Theorien gehen vielmehr davon aus, dass ein hohes Maß an Flexibilität schon in der rationalen Planung von Nöten ist, um eine Strategie im Sinne der vorgenannten erwünschten Effekte beziehungsweise Zwecke erfolgreich sein zu lassen. Während Michael E. Porter diesbezüglich zwar immerhin die Notwendigkeit flexibler und beweglicher Strategien insbesondere für den Bereich der Wettbewerbsanalyse erörtert,7 gehen zwei andere, hier hervorzuhebende Autoren – jeder auf seine Weise – deutlich weiter: Henry Mintzberg (a) vergleicht verschiedene Modelle des strategischen Managements miteinander,8 um an ihnen Chancen und Probleme eines quasi meta-strategischen Strategie-Konzepts zu erörtern. Und Fredmund Malik (b) entwirft eine Allgemeine Theorie strategischen Managements mit Rückgriff auf die Theorie komplexer Systeme und die Kybernetik.9 (a) So wird bei Mintzberg verständlich, dass Strategie der Name für ein Wechselverhältnis von Plan und Muster ist – einem zukunftsorientierten Plan und einem aus vergangenem, erfolgreichem Verhalten resultierenden Muster. In der ökonomischen Praxis zeigt sich, dass beabsichtigte Strategien zur Umsetzung von Unternehmenszielen (Plan) oft nicht realisiert werden (Muster). Das ist nicht überraschend. Interessanter ist die Frage, ob realisierte Strategien immer beabsichtigt gewesen sind. Man ahnt es: Die Antwort lautet Nein.10 Um sich den Grund hierfür klar zu machen, wäre bei der Bedeutung von Planung anzusetzen. Mintzberg diskutiert sie ausführlich und kritisch11 und zeigt, dass unter Planung meist verstanden wird, an die Zukunft zu denken, diese zu kontrollieren, Prognosen zu formulieren, Entscheidungen zu treffen, verschiedene getroffene Entscheidungen zu vereinen, schließlich Planung als formalisiertes, ergebnisorientiertes Verfahren anzusehen. Nur letzteres (Planung als Formalisierung), so Mintzberg, könne als eine plausible Vorstellung von Planung verstanden werden, zumindest so lange gesehen wird – und es wird meist nicht gesehen –, dass „Formalisierung ein relativer und kein absoluter Begriff ist. […] Planung als Prozeß […] darf nicht als Entscheidungsfindung, Strategieentwicklung, sicherlich auch nicht als Manage-

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Timo Skrandies ment oder als die bevorzugte Möglichkeit betrachtet werden, eines dieser Dinge zu tun, sondern lediglich als Versuch gelten, Teile davon zu formalisieren – mit Hilfe von Aufspaltung, Artikulation und Rationalisierung.“12

Insofern Planung also ein „Versuch“ bleiben muss, da Strategieschritte und -ziele im Status des Potenziellen verbleiben und daher nicht sicher ist, ob die Strategieziele sich zu einem (zum Beispiel unternehmerisch erfolgreichen) Muster gebildet haben werden, hat das Konsequenzen für den Strategie-Begriff. Es führt zu einer Differenzierung von drei Strategiequalitäten, von denen insbesondere die dritte nochmals die Strategien stets implizite Potenzialität und Offenheit des Zu-Künftigen verdeutlicht. Die erste Qualität des Verhältnisses von beabsichtigter und realisierter Strategie, also einem Plan-Muster-Verhältnis, ist die bewusste Strategie, die schlicht anzeigt, dass die unternehmerischen Absichten vollkommen realisiert wurden. Zweitens gibt es unrealisierte Strategien, die Plan geblieben und nie Muster geworden sind. Schließlich gibt es „einen dritten Fall, in dem wir von einer sich herausbildenden (emergent) Strategie sprechen – hier war ein realisiertes Muster nicht ausdrücklich vorgesehen.“13 Das lateinische emergere meint so viel wie auftauchen, hervorkommen, sich zeigen und ist für eine Befassung mit kultureller Produktivität interessant, da damit die spontane Herausbildung von Phänomenen beziehungsweise Kontexten benannt werden kann, die nicht auf einen Ursprung oder ihre Herkunft zurückgeführt beziehungsweise induziert werden können. Dabei ist das System als solches zu komplex für eine Beobachtung, als dass seine Eigenschaften auf jene seiner Einzelelemente zurückzuführen beziehungsweise von diesen her ableitbar wären. Was heißt das für unternehmerische Strategien? Eine emergente Strategie im Mintzbergschen Sinne besteht nicht nur aus vorvereinbarten Absichten, sondern legt besonderes Augenmerk auf Prozesse und Aktivitäten der Beteiligten, man könnte sagen: auf die performative Praxis. „Es wurden einzelne Maßnahmen gesetzt, die im Laufe der Zeit zu einer Einheitlichkeit oder Muster zusammenwuchsen.“14 Der Effekt ist, dass die Strategie als solche, ihre Prozesshaftigkeit und Anlage, ihre festen und losen Kopplungen mit Rahmenbedingungen und ihr inhärentes Verhältnis von Plan und Muster sichtbar, reflektierbar und modifizierbar wird und bleibt. Die Abstimmung, wie weiter vorzugehen sei, erwächst aus der wechselseitigen Anpassung der Akteure aneinander. So entstehen ungeplante, unvorhersehbare Muster von Handlungen, die flexibel bleiben.15 „Es bedarf eines kontrollierten Vorgehens, doch dabei müssen die Türen für Lernerfahrungen geöffnet bleiben. Strategien müssen sich also, mit anderen Worten, einerseits formen

Von Strategien (nicht nur) im unternehmerischen Sinne und andererseits formuliert werden. [Das] bedeutet etwa, daß die groben Umrisse bewußt festgelegt werden (beispielsweise die Absicht, in ein anspruchsvolleres Marktsegment vorzudringen), während zugleich zugelassen wird, daß sich die Details (wann, wo und wie) auf dem Weg dorthin ergeben. Das bedeutet nicht, daß Strategien, die sich erst im Laufe der Zeit herausbilden, notwendigerweise schlecht und bewußte Strategien zwangsläufig gut sind. Effektive Strategien stellen das richtige Verhältnis zwischen beiden her, so daß den jeweiligen Bedingungen Rechnung getragen wird. Sie nutzen die Fähigkeit zum Vorausblick, berücksichtigen aber auch die Notwendigkeit, sich an unerwartete Ereignisse anzupassen.“16

(b) Ähnlich wie Mintzberg geht auch die Theorie des Managements komplexer Systeme von Fredmund Malik davon aus, dass es für eine erfolgreiche Strategie im Kontext unternehmerischen Managements eines beweglichen, flexiblen Prozesshandelns bedarf, das nicht vom Strategiekonzept abgekoppelt gesehen werden darf. Anders als Mintzberg, der nicht explizit auf eine dem Management externe Großtheorie zurückgreift, wählt Malik den Einsatz über den evolutions- und systemtheoretischen Ansatz der Kybernetik. Was für Mintzberg die Emergenz, ist für Malik die „Komplexität“17: „Kybernetisches Management heißt Selbst-Organisation: Organisiere ein komplexes System so, dass es sich selbst organisieren kann. Das ist das Motto, das sich in der Komplexitätsgesellschaft des 21. Jahrhunderts durchsetzen wird, wenn es weiterhin Fortschritt geben soll. [...] Kybernetisches Management ist der entscheidende paradigmatische Schritt zu dem, was ich Selbstkonzepte nenne: Vom Steuern zum Sich-Selbst-Steuern, vom Regulieren zum Sich-Selbst-Regulieren, vom Lenken zum Sich-Selbst-Lenken, vom Organisieren zum Sich-Selbst-Organisieren, vom Gestalten zum Sich-Selbst-Gestalten und vom Entwickeln zum Sich-Selbst-Entwickeln, also zur Evolution. Diese Lösungen sind die einzig funktionierenden, weil wir Systeme nicht oder nur noch teilweise durchschauen und verstehen können. Sie sind wegen ihrer Dynamik, Vernetztheit und Indeterminiertheit – also Komplexität – nicht mehr analysierbar, non-computable und in ihrem Verhalten nicht voraussagbar.“18

Malik will zeigen, wie man solche komplexen Systeme „dennoch lenken und gestalten kann.“19 Innerhalb solcher komplexen Systeme muss dann jedes Konzept unzulänglich erscheinen (oder es tatsächlich sein), das unter Strategie das aufgrund der Kenntnis von Regeln beabsichtigte, erwartete oder realisierte Verhalten versteht. Adäquater ist es, den Begriff Strategie für „die Regeln bzw. das Regelsystem selbst zu verwenden.“20 In den Blick kann dann jener „Mechanismus beziehungsweise jene Kombination von Mechanismen [kommen], die es einer Unternehmung zu jedem beliebigen Zeitpunkt ermöglicht, für die jeweilige, im Vo-

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Timo Skrandies raus meistens nicht bekannte Umweltsituation und deren mögliche oder wahrscheinliche Entwicklung grundlegende Regeln im Sinne eines Regelsystems zu bestimmen, die das Verhalten ihrer Teile einschließlich ihrer Mitarbeiter auf zunächst nicht näher bestimmte Zeit bestimmen.“21

Das ist das Plädoyer für ein Strategieverständnis, bei dem eine polyzentrische, spontane, selbstorganisierende Ordnungsart des Systems mit einer Form der Problemlösung als „kybernetisch orientierte, evolutionäre Managementlehre“ kombiniert wird.22 Mit Mintzberg und Malik ist viel für ein differenziertes Verständnis von Strategie gewonnen. Gleichwohl wird auch hier – verständlich für den unternehmerischen Bereich, der die Arbeit regiert – an Kriterien wie Fortschritt, Lenkung, Formalisierung, Anpassung, Erfahrungslernen, Effektivität festgehalten. Strategie meint auch hier noch eine Agency – trotz aller konzeptionellen Berücksichtigung des Evolutiven und Emergenten –, die handlungstheoretisch den Verbund von Zweck, Mittel und Ziel sichert und Leben scheinbar planbar, lenkbar, prognostizierbar macht. So scheint es, dass die der Strategiehandlung eigene Instabilität und Unbestimmbarkeit, von der auch Mintzberg und Malik ausgehen, noch nicht sich in ganzer Konsequenz entfalten konnte. Daher jetzt zur Entwendung. In Edgar Allen Poes The Purloined Letter23 (von 1844) lag der „entwendete Brief“ zuerst in den Räumen der Königin offen herum und wurde von dort ein erstes Mal durch den intriganten „Minister D.“ entwendet, indem dieser das Schriftstück durch ein ähnlich aussehendes an selber Stelle ersetzte. Dabei wurde er zwar von der königlichen Inhaberin des Briefes beobachtet, diese konnte ihn aber wegen des Briefinhalts nicht zurückhalten, da eine dritte Person im Raum war, der König, der von dem Inhalt nichts erfahren sollte. Dieser erstmals entwendete Brief, der dem Minister zum Machterhalt dient, da er die Bestohlene erpressbar macht, wird nun im Büro des Ministers von diesem so versteckt, indem er ihn ebenfalls offen sichtbar deponiert. Dupin wiederum24 – anders als der Polizeipräfekt mit seinen Leuten – erahnt und erkennt diese List des Obszönen und wendet sie seinerseits als appropriierende Strategie gegen den Übeltäter selbst – mit einer zweiten Entwendung: Bei einem ersten Besuch entdeckt er den Brief tatsächlich in einem offenen Kartenhalter, um ihn bei einem zweiten, auf die Entwendung hin angelegten Besuch gegen ein Faksimile auszutauschen. Er belässt also den Brief (besser: einen Brief!) als solchen an identischer Stelle, tauscht ihn aber gegen ein in Material und Adressierung identisches Papier aus. Nichtsahnend wird der Minister seine Erpressungen fortzusetzen versuchen, bis sich die Lage zuspitzt und er den Brief (der bis dato noch eine Art Schläfer-Dasein führte) zu aktivieren hat, um seine vermeintliche, erpresserische Trumpfkarte auszuspielen.

Von Strategien (nicht nur) im unternehmerischen Sinne

Nimmt er den Brief erneut zur Hand, wird er am Inhalt des Textes erkennen, dass es ein anderes Schriftstück ist und der Brief nun nicht mehr in seinem Sinne politisch ins Spiel gebracht werden kann – nur um den Preis der eigenen Destruktion, die ihrerseits wiederum ohnehin unausweichlich ist, da der Minister aufgrund der zweiten Entwendung weiß, dass er enttarnt ist. Was insofern die hier vorgenommene Entwendung der Strategie aus dem Reich des Managements, des Unternehmertums, der Ökonomie, die allesamt die Arbeit regieren und rationalisieren, angeht, sieht man nun Schritt für Schritt: Strategie als – wie in den Bestimmungen eingangs dieses Textes – abstraktes Konzept einer Vorgehensweise mit beabsichtigter Zweck- und Zielvorgabe zu verstehen, trifft nur als formale Angabe zu. Die dem Strategischen innewohnenden Qualitäten der Potenzialität, Emergenz und Komplexität verweisen die Strategen – gewollt oder nicht – aufs Offene und Unbestimmte. So ist Strategie vor allem Handlung, Praxis – eine Praxis der Stabilisierung und Destabilisierung von Relationen, eine Praxis der Formung, Formierung, Formalisierung, des Entwickelns von Regelsystemen, aber auch der List, des Kunstgriffs, die Umsetzung einer überraschenden Idee in Form taktischer Maßnahmen, das spontane Agieren mit Unvorhersehbarem.25 Strategien im Feld ökonomischer Rationalität – selbst wenn sie als emergent oder kybernetisch verstanden werden – basieren auf Formalisierung „mit Hilfe von Aufspaltung, Artikulation und Rationalisierung“ (wie oben bereits zitiert). Die Zweckbindung unternehmerischer Rationalität an einen Raum klarer Entscheidungen und Zielvorstellungen ist nicht aufzugeben – es wird kalkuliert. Als Formalisierung ist die Strategie ein rationales Vorgehen zur Schaffung klarer Ordnungs- und Machträume als ortbares und geortetes System: Durchführung eines Plans zur Schaffung eines rationalen Musters (Malik und Mintzberg fügen hinzu: wie immer es entsteht). Im unternehmerischen Feld von Finanz-, Unternehmensund Arbeitswelt ist sie die Praxis einer zweckmäßigen Entwendung heterogener Ansprüche zur Erreichung eines homogenen Ziels (mehr Macht, Erfolg, Gewinn, Fortschritt o. ä.). Doch wird diesem strategischen Vorgehen seinerseits stets – auf Schritt und Tritt könnte man sagen – etwas entwendet: die Sicherheit des Zwecks und der Erreichung des Ziels. Das ist aber keine dystopische Düsternis, Willfährnis oder Schicksal, sondern wird von der Strategie selbst, als die ihr eigene (besser: ihr eignende) Enteignung und Entwendung produziert, schlicht indem sie ihre Schritte geht, die sie meint, gehen zu müssen, indem sie sich als Praxis realisiert und materialisiert. In diesem Tun entwendet die Strategie den Brief als Realisierung ihres Plans (bei Poe: nach den Regeln des Systems bloßer Sichtbarkeit, mithin der Obszönität) und ent-setzt durch diese Performance ineins alle Zweck- und Zielsetzungen, die durch ein Subjekt etwaig mit dem Brief hätten verbunden worden sein können:

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Der Brief ist nicht (mehr) verwendbar, er ist unverwendbar und bleibt damit – trotz seines Besitzes und seiner (obszönen) Anwesenheit – entwendet. Anders gesagt: Die Subjekt-Objekt-Verhältnisse tauschen. Noch im Verlauf der strategischen Praxis scheint sich das Ziel der Rationalisierung/Aneignung/Entwendung des Objektes zu realisieren. Mit der vermeintlichen Erreichung des gesetzten Ziels zeigt sich aber, dass die Strategie des Subjekts durch das Objekt bedingt wird, von diesem her seine Strategie allererst erhalten hat und als Subjekt bestimmt und verortet wurde. Die Strategie des Objekts ist die des „attracteur étrange“ und damit „die Strategie von niemandem mehr“.26 Jacques Lacan, der auch die Etymologie des englischen Originaltitels (The purloined letter; loin von altfrz. loigner, als Ortsattribut von au loing oder longé) erörtert, weist auf die dem Brief eigene – und damit vom Strukturalismus her auch für eine Dekonstruktion gewonnene – Bewegung (als Signifikant) hin: Es ist der „einen Umweg nehmende Brief, derjenige, dessen Weg prolongiert wurde (das ist die buchstäbliche Übersetzung des englischen Wortes), oder, um auf das Briefpostvokabular zurückzugreifen, der unzustellbare Brief, der uns hier beschäftigt. Simple and odd, wie man es uns von der ersten Seite an ankündigt, ist hier also die Einzigartigkeit des Briefes auf ihren einfachsten Ausdruck gebracht, der, wie der Titel anzeigt, das wahrhaftige Subjekt der Erzählung ist: da der Brief einen Umweg gehen kann, hat er einen Weg, der ihm eigen ist. Ein Zug, durch den sich hier seine Inzidenz als Signifikant bestätigt. Denn wir haben begreifen gelernt, daß der Signifikant sich nur in einer Verschiebung erhält, die mit unseren Tagesnachrichten in Laufschrift oder mit den rotierenden Gedächtnissen unserer Maschinen-die-wie-Menschen-denken vergleichbar ist, weil er alternierend funktioniert, indem sein Prinzip fordert, daß er seinen Ort verläßt, um zirkulär zu ihm zurückzukehren.“27

Nicht der Brief ist es, dem als quasi-passives Objekt ein Platz zugewiesen wird, sondern die Subjekte in ihrer Intersubjektivität sind es, die durch den Brief als Ding auf ihre Plätze/Orte und deren jeweilige Verschiebungen und Relationen verwiesen werden. Der „Brief und sein Umweg [führt] über ihre Auftritte und ihre Rollen Regie“.28 Der Brief ist zwar da, aber er ist nicht benutzbar, er ist entwendet, aber nicht zu verwenden. Und so sind auch Strategien im Modus des Ästhetischen zu verstehen: Sie agieren inmitten von als homogenisiert annoncierter gesellschaftlicher Räume, bleiben hierzu heterotop, sind dabei entwendend (d. i. Rationalität ästhetisch aneignend) und zugleich unzustellbar (bleiben einer restlosen Aneignung entzogen). Das birgt die Möglichkeit, Strategien künstlerisch-ästhetischer Praxis in funktionaler Hinsicht als Reflexionsfiguren der Rationalitäten und Bestimmtheiten gesellschaftlicher (und globaler) Handlungen und Konzepte zu verstehen.29

Von Strategien (nicht nur) im unternehmerischen Sinne

So gesehen, sozusagen mit einem Foucaultschen Blick auf das Gesellschaftliche als Ordnung von Diskursen, wären künstlerische Strategien solche Qualitäten künstlerischer Praxis, die für die – wie paradox – (Er-)Schaffung des Un-Ordentlichen zuständig sind und als Reflexionsfiguren Ordnungen und Ordnungsstrategien sichtbar machen (können). Man kann das so sehen, gesetzt man versteht, dass das Voraussetzungen in den historischen Konstellationen des Verhältnisses von Arbeit und Kunst hat: „Der Kult der Kunst setzt eine Aufwertung der Fähigkeiten voraus, die mit der Vorstellung vom Wesen der Arbeit verbunden sind. Doch ist diese Aufwertung weniger die Entdeckung des Wesens menschlicher Tätigkeit, als dass sie die Landschaft des Sichtbaren, das Verhältnis von Tun, Sein, Sehen und Sagen neu zusammensetzt. Welche spezifische Form auch immer die ökonomischen Kreisläufe annehmen, in die die künstlerischen Praktiken sich einfügen: diese sind niemals eine ‚Ausnahme‘ gegenüber den anderen Praktiken. Die künstlerischen Praktiken repräsentieren oder gestalten die Aufteilungen dieser anderen Tätigkeiten neu.“30

Damit – in der Perspektive des Strategie-Begriffs – ist die Bewegung von Kunst, ihre strategische Praxis eine doppelte: Sie verwendet Strategien in der ihr eigenen Arbeit, die aber im Verhältnis zu gesellschaftlicher Rationalität und zu sich selbst heterogen und heterotop bleiben, da nicht die Erfüllung eines Ziels ihr Zweck ist, sondern ihr Spiel. Ort beziehungsweise Status (Status?) von Kunst ist jener des entwendeten Briefes: Eingelassen in als homogen praktizierte Macht- und Ordnungsverhältnisse gesellschaftlicher Systeme, kann von ihr her ästhetisch reflektiert werden, wie und warum Subjekte und Objekte an ihren Plätzen so agieren, wie sie es tun und welche Subjekt-Objekt-Ordnungen beziehungsweise -Relationen sie schaffen. Dabei bleibt Kunst uneinnehmbar – sie ist zwar, wie der Brief bei Poe, offen vorhanden (und scheinbar – auch ökonomisch – zuhanden) und kann doch nicht zu Zwecken einer Homogenisierung des Systems und dessen (machtorientierte) Vereindeutigung verwendet, angeeignet, zugestellt werden. Sie ist vor Ort, in einer entwendenden Beharrung, ist nicht absolutely free, aber doch gelegentlich.

A nmerkungen 1 | Der vorliegende Text ist die veränderte Fassung eines Unterkapitels aus: Skrandies, Timo: Arbeit und Ästhetik. Fortschritt, Strategie, Körper. Unveröffentlichte Habilitationsschrift, Düsseldorf 2008.

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Timo Skrandies 2 | Es mag für den vorliegenden Kontext genügen, bei Praxis an Handlung, Durchführung und Performanz zu denken und sie auch als eine Form des performativen Expertenwissens zu verstehen. Praxis ist eine sinnliche, auf Produktion und Materialität von Welt bezogene Tätigkeit – und damit ist sie Arbeit an Kultur, Gesellschaft und Subjektivität. Vgl. zur Begriffsgeschichte von Praxis: Bien, Günther/Kobusch, Theo/Kleger, „Praxis, praktische“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Darmstadt 1998, S. 1277–1307. 3 | Vgl. Luttwak, Edward: Strategie. Die Logik von Krieg und Frieden, Lüneburg 2003, S. 16. 4 | Vgl. Wiener, Jürgen (Hg.): Der Wert der Arbeit. Annäherungen an ein kulturelles Paradigma in Mittelalter, Neuzeit und Moderne, Düsseldorf 2015. 5 | Camphausen, Bernd: Strategisches Management, München 2003, S. 15. Vgl. auch die Zusammenstellung verschiedener wirtschaftswissenschaftlicher Positionen zum Strategie-Begriff, zum Beispiel bei Montgomery, Cynthia A./Porter, Michael E. (Hg.): Strategie, Wien 1996. Aktueller Sternad, Dietmar: Strategieentwicklung kompakt. Eine praxisorientierte Einführung, Wiesbaden 2015. 6 | Vgl. Simon, Walter: Kursbuch Strategieentwicklung. Analyse – Planung – Umsetzung, München 2008, S. 35 ff. 7 | Porter, Michael E.: On Competition, Harvard 1998; ders.: Wettbewerbsstrategie. Methoden zur Analyse von Branchen und Konkurrenten, Frankfurt a. M./New York 1999; ders.: „Die Wettbewerbskräfte – neu betrachtet“, in: Harvard Business Manager, Mai 2008, S. 20–26. 8 | Mintzberg, Henry u. a. (Hg.): The Strategy Process. Concepts, Contexts, Cases, Upper Saddle River/New Jersey 2003; ders.: Strategy Safari. Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Managements, Heidelberg 2007. 9 | Malik, Fredmund: Strategie des Managements komplexer Systeme. Ein Beitrag zur Management-Kybernetik evolutionärer Systeme, Bern 2008. 10 | Mintzberg 2007, S. 23. 11 | Mintzberg, Henry: Die strategische Planung. Aufstieg, Niedergang und Neubestimmung, München/Wien 1995, S. 7–29 u. 265–373. 12 | Ebd., S. 19. 13 | Mintzberg 2007, S. 23 f. 14 | Ebd., S. 24 f. 15 | Ginge es an dieser Stelle um ästhetische Phänomene, könnten Free Jazz und Zeitgenössischer Tanz gute Beispiele sein. 16 | Mintzberg 2007, S. 25. 17 | Malik (2008, S. 168) bestimmt: „Unter ‚Komplexität‘ versteht man die Tatsache, dass reale Systeme ungeheuer viele Zustände aufweisen können. Selbst in noch relativ einfachen Fällen ist die Komplexität meistens größer, als man zu erfassen vermag. Komplexität kann man quantifizieren und mithilfe des Begriffs Varietät messen […]: Varietät ist die Anzahl der

Von Strategien (nicht nur) im unternehmerischen Sinne unterschiedlichen Zustände eines Systems bzw. die Anzahl der unterscheidbaren Elemente einer Menge.“ 18 | Ebd. 19 | Ebd., S. IX f., bes. S. 153–309. 20 | Ebd. 21 | Ebd., S. 164. 22 | Ebd., S. 311. 23 | Poe, Edgar Allan: „Der entwendete Brief“, in: ders., Erzählungen, Berlin 1981, S. 386–406. 24 | … der bei Poe auf den ersten Blick als gewitzter Stratege erscheint, bei Lacan aber gar nicht gut wegkommen wird, jedenfalls nicht als heldenhaftes, sondern eher als ein dem Wiederholungszwang ausgesetztes Subjekt. Vgl. Lacan, Jacques: „Das Seminar über E. A. Poes ‚Der entwendete Brief‘“, in: ders., Schriften I, Berlin 1996, S. 7–60. 25 | In Hinblick auf eine „Kunst des Handelns“ unterscheidet Michel de Certeau Strategie und Taktik wie folgt: Er bezeichnet „als Taktik ein Handeln aus Berechnung, das durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt ist. Keine Abgrenzung einer Exteriorität liefert ihr also die Bedingung einer Autonomie. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie muß mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgegeben ist, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert. Sie ist nicht in der Lage, sich bei sich selbst aufzuhalten […]. [S]ie ist eine Bewegung ‚innerhalb des Sichtfeldes des Feindes‘, wie von Bülow sagte, die sich in einem von ihm kontrollierten Raum abspielt. […] Sie profitiert von ‚Gelegenheiten‘ und ist von ihnen abhängig; sie hat keine Basis, wo sie ihre Gewinne lagern, etwas Eigenes vermehren und Ergebnisse vorhersehen könnte. Was sie gewinnt, kann nicht gehortet werden. Dieser Nicht-Ort ermöglicht ihr zweifellos die Mobilität – aber immer in Abhängigkeit von den Zeitumständen –, um im Fluge die Möglichkeiten zu ergreifen, die der Augenblick bietet. Sie muß wachsam die Lücke nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer auftun. Sie wildert darin und sorgt für Überraschungen. Sie kann dort auftreten, wo man sie nicht erwartet. Sie ist die List selber. Insgesamt gesehen ist sie eine Kunst des Schwachen […].“ Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 89. Hingegen zu Strategie hält de Certeau (ebd., S. 87 f.), dessen Sympathien eindeutig auf Seiten der Taktik liegen, fest: „Als Strategie bezeichne ich die Berechnung (oder Manipulation) von Kräfteverhältnissen, die in dem Moment möglich wird, wenn ein mit Willen und Macht versehenes Subjekt (ein Unternehmen, eine Armee, eine Stadt oder eine wissenschaftliche Institution) ausmachbar ist. Sie setzt einen Ort voraus, der als etwas Eigenes beschrieben werden kann und somit als die Basis für die Organisierung von Beziehungen zu einer Exteriorität dienen kann, seien dies Stoßrichtungen oder Bedrohungen (Kunden oder Konkurrenten, Feinde, das Umland der Stadt, Forschungsziele und -gegenstände etc.). Wie beim Management ist jede ‚strategische‘ Rationalisierung vor allem darauf gerichtet, das ‚Umfeld‘ von dem ‚eigenen Bereich‘, das heißt vom Ort der eigenen Macht und des eigenen Willens, abzugrenzen.“ Diese Beschrei-

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Timo Skrandies bungen von Taktik und Strategie erinnern an das, was Bourdieu als „Strategien der Häresie“ und „Erhaltungsstrategien“ unterscheidet: „Diejenigen, die bei gegebenen Kräfteverhältnissen das spezifische Kapital – Grundlage der Macht oder der für ein Feld charakteristischen spezifischen Autorität – (mehr oder weniger vollständig) monopolisieren, neigen eher zu Erhaltungsstrategien – Strategien, die im Feld der Produktion kultureller Güter tendenziell die Orthodoxie vertreten –, die weniger Kapitalkräftigen dagegen (die oft auch die Neuen und damit meist Jüngeren sind) eher zu Umsturzstrategien – Strategien der Häresie. Erst die Häresie, die Heterodoxie als kritischer, oft im Zusammenhang mit der Krise auftretender Bruch mit der Doxa bringt die Herrschenden dazu, ihr Schweigen zu brechen und jenen Diskurs zur Verteidigung der Orthodoxie, des rechten Denkens im doppelten Sinne, zu produzieren, mit dem ein neues Äquivalent zur schweigenden Zustimmung der Doxa geschaffen werden soll.“ Bourdieu, Pierre: Soziologische Fragen, Frankfurt a. M. 1993, S. 109. 26 | Baudrillard, Jean: La Transparence du Mal, Paris 1990, S. 178 ff.; und Gehrke, Claudia (Hg.): Der Tod der Moderne. Eine Diskussion, Tübingen 1983, S. 84. Ausführlich hierzu Skrandies, Timo: Echtzeit – Text – Archiv – Simulation. Die Matrix der Medien und ihre philosophische Herkunft, Bielefeld 2003, S. 250–257. 27 | Lacan 1996, S. 28 f.; vgl. auch den Kommentar Derridas hierzu. Derrida, Jacques: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und Jenseits, Berlin 1987, bes. S. 211–218; auch Muller, John P./Richardson, William J. (Hg.): The Purloined Poe. Lacan, Derrida & Psychoanalytic Reading, Baltimore/London 1988. 28 | Lacan 1996, S. 29. 29 | Vgl. Skrandies 2008. 30 | Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin 2008, S. 70. Diesen Gedanken im engeren Kontext von Kunst und Politik ebd., S. 75–99.

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