Abschied von der Massenpartei: Die Entwicklung der Organisationsmuster von SPD und CDU seit der deutschen Vereinigung [1. Aufl.] 978-3-8244-4421-2;978-3-322-89629-2

Die Fusionen von SPD und CDU mit ihren jeweiligen ostdeutschen Schwesterverbänden am Vorabend der deutschen Vereinigung

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German Pages XVI, 347 [356] Year 2000

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Abschied von der Massenpartei: Die Entwicklung der Organisationsmuster von SPD und CDU seit der deutschen Vereinigung [1. Aufl.]
 978-3-8244-4421-2;978-3-322-89629-2

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVI
Einleitung (Karsten Grabow)....Pages 1-2
Front Matter ....Pages 9-9
Zur Typologie von Parteiorganisationen. Rahmen-, Massenintegrations-, Volkspartei — und retour? (Karsten Grabow)....Pages 11-32
Organisationsentwicklung von SPD und CDU in den alten Bundesländern (Karsten Grabow)....Pages 33-61
SDP/SPD und CDU in der DDR (Karsten Grabow)....Pages 62-91
Front Matter ....Pages 93-93
Faktoren der Organisationsentwicklung von SPD und CDU in den neuen Ländern (Karsten Grabow)....Pages 95-147
Die Stärke der Organisationen im Vergleich (Karsten Grabow)....Pages 148-171
Qualitative Aspekte der Parteiorganisationen (Karsten Grabow)....Pages 172-200
Strukturelle Differenzen und Erklärungen (Karsten Grabow)....Pages 201-261
Organisation und Wahlerfolg (Karsten Grabow)....Pages 262-290
Front Matter ....Pages 291-291
Abschied von der Massenpartei? (Karsten Grabow)....Pages 293-307
Back Matter ....Pages 309-347

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Karsten Grabow

Abschied von der Massenpartei Die Entwicklung der Organisationsmuster von SPD und CDU seit der deutschen Vereinigung

Karsten Grabow Abschied von der Massenpartei

~

Sozialwissenschaft

Karsten Grabow

Abschied von der Massenpartei Die Entwicklung der Organisationsmuster von SPD und CDU seit der deutschen Vereinigung

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Grobow, Korsten: Abschied von der Massenpartei : die Entwicklung der Organisationsmuster von SPD und CDU seit der deutschen Vereinigung 1 Karsten Grabow. - l. Aufl.. - Wiesbaden : Dt. Univ.-Yerl., 2000 (DUY : Sozialwissenschaft) Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 1999

ISBN 978-3-8244-4421-2 ISBN 978-3-322-89629-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-89629-2

l . Auflage Oktober 2000 Alle Rechte vorbehalten ©Springer Fachmedien Wiesbaden 2000

Urspriinglich erschienen bei Deutscher UniversiUits-Verlag GmbH, Wiesbaden, 2000 Lektorat: Ute Wrasmann / Sebastian Hammelsbeck

Das Werk einschlieBiich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Yerwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes isi ohne Zustimmung des Yerlages unzul.~ssig und strofbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfăltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.duv.de Hăchste inhaltliche und technische Qualităt unserer Produkte ist unser Ziei. Bei der Produktion und Verbreitung unserer Bucher wollen wir die Umwelt schonen. Dieses Buch ist deshalb auf săurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die EinschweiBfolie besteht aus Polyăthylen und dam it aus organischen Grundstoffen, die weder bei der Herstellung noch bei der Verbrennung Schadstoffe freisetzen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wăren und daher von jedermann benutzt werden durften.

Vorwort Der Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989 sowie die daraufhin einsetzende Transformation der ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen in Ostdeutschland übte aufBeteiligte wie Beobachter eine einzigartige Faszination aus. Gleichsam war er Bedingung und Anreiz für zahlreiche Hochschullehrerinnen und -Iehrer aus den alten Bundesländern sowie dem westlichen Ausland, den Transformationsprozeß mitzuerleben und seine zahlreichen Facetten durch unterschiedlich lange Lehr- und Studienaufenthalte an der Berliner Humboldt-Universität zu erforschen. Der besondere Reiz schien für alle darin zu liegen, daß sich gerade in Berlin der Forschung eine Art "Versuchsfeld" auftat, in dem - sozusagen in Echtzeit - beobachtet werden konnte, wie sich die Umgestaltung der Lebensverhältnisse im allgemeinen sowie der Etablierung der in den Osten übertragenen ökonomischen und politischen Institutionen im besonderen vollzieht. Folglich haben Transformationsstudien das Curriculum jener Generation, die nach 1990 an der Humboldt-Universität ein sozialwissens~haftliches Studium aufgenommen hat, geprägt wie kaum ein anderes Thema. Das Interesse der vergleichenden Transformationsforschung galt dabei den Fragen, nach welchen allgemeinen Mustern der politische und soziale Wandel in den Staaten des ehemaligen Ostblocks verläuft und welche politischen und ökonomischen Institutionen von den beteiligten Akteuren gewählt wurden, um die jungen osteuropäischen Demokratien und Marktwirtschaften zu stabilisieren. Die Transformation in Ostdeutschland galt dabei stets als Sonderfall. Denn im Unterschied zu den übrigen osteuropäischen Transformationsgesellschaften standen die Politikerinnen und Politiker in Ostdeutschland nicht vor der Frage, welche Institutionen wie (eigenes Design oder Kopie erprobter Institutionen westlichen Vorbilds) errichtet werden sollten, sondern waren, wie alle Ostdeutschen, Empfänger eines einzigartigen Institutionen- und Ressourcentransfers aus den alten Ländern. Mit Blick auf den Transformationsprozeß hob beispielsweise Helmut Wiesenthai hervor, daß die Entwicklung in Ostdeutschland durch den Institutionen- und Ressourcentransfer sowohl privilegiert als auch belastet ist, da die Institutionen und politischen Organisationen Westdeutschlands 1,md ihre erhoffte Leistungsfähigkeit einen "Referenzstandard" für die Entwicklung im Osten des Landes bildeten, und die Orientierung an diesem Standard eine laufende Bewertung in Form einer "Erfolg-Mißerfolg-Codierung" birgt (Wiesenthal 1996, s. auch Rose und Haerpfer 1996). Dje Transformationsforschung begleitete diesen Prozeß aus der Erkenntnis, daß der Transfer von Institutionen das eine, ihre erfolgreiche Implementierung in einer Region, deren Bewohner über vergleichsweise wenig Erfahrungen im Umgang mit diesen Institutionen verfügen, das andere ist. Die zentrale Frage war deshalb, ob die für den Osten neuen Spielregeln des gesellschaftlichen Lebens (z.B. parlamentarische DemoV

kratie, Parteien, Parteienkonkurrenz, Teilnahme am öffentlichen Leben auf freiwilliger Basis) akzeptiert und mit Leben ausgefüllt werden oder nicht. In diesem Sinne fragt die vorliegende Arbeit nach der Organisationsentwicklung der seit dem Vorabend der deutschen Vereinigung fusionierten ost-und westdeutschen Schwesterverbände von SPD und CDU. Zentrale Fragestellung dabei ist, ob sich nach Herstellung der formalen Organisationsgleichheit, die von einem massiven Transfer materieller und nicht-materieller Ressourcen begleitet wurde, in den Parteiorganisationen der neuen Bundesländem~~ine Annäherung an die Organisationsmuster der westdeutschen Schwesterverbände abzeichnet oder ob unter der Oberfläche des Ressourcentransfers Kräfte wirken, die eine konvergente Organisationsentwicklung behindern und am Ende gar die Herausbildung unterschiedlicher Organisationstypen zu konstatieren ist. Um diese Frage zu beantworten, war eine umfangreiche empirische Untersuchung der Organisationsmuster der Parteien notwendig. An dieser Stelle möchte ich mich nochmals bei allen an der Sammlung der Daten beteiligten Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern beider Parteien auf Kreis-, Bezirks- und Landesebene bedanken. Ohne ihre großzügige Unterstützung wäre ich niemals in der Lage gewesen, diese Untersuchung durchzuführen. Hervorheben möchte ich hier jedoch besonders Herrn Friedrich-Claus Schiumberger und Herrn Ulf Leisner von der Bundesgeschäftsstelle der CDU sowie Herrn Franz Müntefering und Herrn Jürgen Hitzges vom Parteivorstand der SPD, die mir bei der Vorbereitung der Datensammlung halfen und mir zusätzlich umfangreiches Material zur Mitgliederentwicklung in ihren Parteien zur Verfügung gestellt haben. Die Dissertation, auf der das vorliegende Buch beruht, wurde von Professor GertJoachim Glaeßner und Professor Herbert Kitschelt fachlich betreut. Beide haben die Arbeit kontinuierlich begleitet und mir in den Konsultationen sowie in längeren Briefwechseln wertvolle Anregungen gegeben. Dafür möchte ich mich auf diesem Wege noch einmal herzlich bedanken. Mein Dank gilt darüber hinaus Professor Wolfgang Müller sowie meinen Freunden und ehemaligen Kommilitonen Louise DavidsonSchmich, Lars Handrieb und Ingo Kollosche, die mir den Zugang zu den verschiedenen Parteiorganisationsebenen erleichterten und mir durch ihre Kritik halfen, schon sicher geglaubte Argumentationen zu überdenken. Jens Eisermann danke ich für die Hilfe bei der Datenauswertung, Andreas Lucius und Frank Vogel für ihre verläßliche technische Hilfe, wenn es darum ging, den gelegentlich hoch belasteten AMD-K5-Prozessor wiederzubeleben. Während der Arbeit an der Dissertation erhielt ich ein Promotionsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die finanzielle Förderung von seiten der Stiftung war mir eine ebenso willkommene und wichtige Hilfe wie die zahlreichen Seminare und Veranstaltungen, die die Gelegenheit boten, eigene Erkenntnisse mit Vertretern unterVI

schiedlichster Fachrichtungen zu diskutieren. Stellvertretend fur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Graduiertenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung bedanke ich mich auf diesem Wege bei Herrn Dr. Michael Müller und Herrn Dr. Dr. Anton Bös!. Mein größter Dank gilt jedoch meinen Eltern fur ihre Unterstützung auf einem Berufsweg, der durch zahlreiche Unwägbarkeiten gekennzeichnet sein kann. Kommilitonen, deren Eltern über ein Einkommen verfügen, das bei der Berechnung der Ausbild].mgsförderung über der Bemessungsgrenze lag, oder die zwischen Studienförderung und Berufseinstieg eine Einkommenslücke überbrücken mußten, wissen, wovon ich spreche. Aber nicht nur aus diesem Grund, sondern vor allem ftir ihr anhaltendes Interesse an meiner Arbeit sowie fur den ein oder anderen vielleicht auch unwissentlich gegebenen Fingerzeig ist es mir ein Bedürfnis, beiden an dieser Stelle herzlich zu danken.

Karsten Grabow

VII

Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen.................................................................

XIII

Einleitung ................................................................................................................... . Teil I Vorbetrachtungen: Organisationsstrukturen politischer Parteien ......................

9

1. Zur Typologie von Parteiorganisationen: Rahmen-, Massenintegrations-, Volkspartei- und retour?......................................................................................... 1.1 Rahmen- und Massenparteien ... .... .. ...... ... .... ... .... ..... ... .. ... ... ...... ..... .. ..... ...... .... .. .... 1.2 "Allerwelts-" und Volkspartei- Konzeption und Erscheinungsform................... 1.2.1 Konzept und Merkmale der Allerwehspartei ..................................................... 1.2.2 Volksparteien ... .. .. ... .. ... .. ... ... .. .. .. .. .. .. .. ... ... ......... .. .. .. ...... ... ...... ... .... ..... .. ... ... .... .. ... 1.3 "Wahl-professionelle" Parteien............................................................................. 1.4 Zusammenfassung ............................................................. ,...................................

11 14 19 19 22 25 27

2. Organisationsentwicklung von SPD und CDU in den alten Bundesländern .......... 2.1 Die westdeutsche SPD ........................................................................................... 2.2 Die westdeutsche CDU .......................................................................................... 2.3 Zusammenfassung .................................................................................................

33 33 45 56

3. SDP/SPD und CDU in der DDR............................................................................. 3.1 Die Sozialdemokratie in Ostdeutschland ............................................................... 3.2 Die CDU-Ost. Von der Block- zur gesamtdeutschen Regierungspartei............... 3.3 Zusammenfassung.................................................................................................

62 62 75 88

Teil II Die Entwicklung der Parteiorganisationen im Prozeß der deutschen Vereinigung .... ........ ........... .. ..... ..... .... .. ..... ..... ... .... ... .. ...... ... ........ .. .. .... .. ... .. .. ... ... ... .... ..

93

4. Faktoren der Organisationsentwicklung von SPD und CDU in den neuen Ländern.................................................................................................................... 4.1 Politisch-struktureller Kontext .............................................................................. 4.2 Intensität der Parteienkonkurrenz .......................................................................... 4.3 Die sozialen Voraussetzungen der Entwicklung politischer Organisationen ........ 4.4 Stärke der Stammlager .......................................................................................... 4.5 Investitionen in den Aufbau der Mitgliederorganisation ......................................

95 98 105 111 119 122 IX

4.6 Individuelle Motive und Bedingungen der Partizipation in Parteien.................... 4.7 Zusammenfassung und Ausblick...........................................................................

140 143

5. Die Stärke der Organisationen im Vergleich........................................................... 5.1 Allgemeiner Überblick ..................... ....................... ..... ......... ..... ....................... .... 5.2 Die lokalen Parteiorganisationen von SPD und CDU im Vergleich..................... 5.3 Die Organisation der Landesverbände und Bezirke.............................................. 5.4Fazit.......................................................................................................................

148 148 150 162 168

6. Qualitative Aspekte der Parteiorganisationen ......................................................... 6.1 Handlungsautonomie ............................................................................................. 6.2 Innerparteiliche Kohäsion ..................................................................................... 6.3 Die Verteilung innerparteilicher Entscheidungszentren ........................................ 6.4 Die Bedeutung der Organisationskomponenten als Wahlkampfressource ........... 6.5 Zusammenfassung.................................................................................................

172 173 177 185 195 197

7. Strukturelle Differenzen und Erklärungen ............... ........ .... ........ .... .. ....... .... .. ........ 7.1 Mitgliederdichte und -entwicklung in Ost-West-Perspektive: allgemeine Überlegungen ... ...................................... .... .. .. ..... .................................................. 7.2 Mitgliederdichte und-entwicklunginnerhalb der CDU ........................................ 7.2.1 Mitgliederdichte der CDU in Abhängigkeit der gesellschaftlichen und politischen Umweltbedingungen ....................................................................... 7.3 Mitgliederdichte und-entwicklunginnerhalb der SPD ......................................... 7.4 Investitionen in den Aufbau der Mitgliederorganisation

201

206 219 223

7.5 Differenzen im Aktivitätsprofil in Abhängigkeit der Sozialstruktur der Parteimitglieder ............ ..................... .... ............... .. .. ... .................. ......... ... .... ........ 7.6 Differenzen im Grad der Organisationsstärke der Landesverbände ...... ... .......... .. 7.7 Differenzen qualitativer Art.................................................................................. 7.8 Zusammenfassung.................................................................................................

231 239 246 257

8. Organisation und Wahlerfolg .................................................................................. 8.1 Organisation und Wahlerfolg auflokaler Ebene................................................... 8.2 Organisation und Wahlerfolg auf Landesebene.................................................... 8.3 Exkurs: Ausgewählte Faktoren des Wahlabschneidens ........................................ 8.4 Zusammenfassung .................................................................................................

262 263 276 282 290

X

202 204

Teiiiii Die Organisation von SPD und CDU in der Bundesrepublik ...............................

291

9. Abschied von der Massenpartei? .............................................................................

293

Anhang........................................................................................................................ A. Datenbasis und Auswahl der zugrunde gelegten Fälle ...........................................

309 309

B. Stichprobenfehler und -quellen ···············································'······························· C. Codierung der Variablen.........................................................................................

311 313

Literaturverzeichnis .....................................................................................................

329

XI

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

Tabellen 1.1 Typen von Parteiorganisationen im Zeitverlauf .. ... .. ... .. .. .. .... ... ... ... .... ... ... ...... .. ..... 1.4.1 Parteiorganisationstypen und deren Merkmale .................................................. 2.1.1 Mitgliederentwicklung in der SPD 1946- 1990 ................................................. 2.1.2 Berufsstruktur der SPD-Mitglieder .................................................................... 2.1.3 Arbeitsgemeinschaften der SPD ......................................................................... 2.2.1 Mitgliederentwicklung in der CDU 1950 - 1990 ............................................... 2.2.2 Vereinigungen und Sonderorganisationen der CDU ·········'································ 2.2.3 Berufliche Gliederung der CDU-Mitglieder ...................................................... 3.2.1 Soziale Zusammensetzung der Mitglieder der CDU-Ost ................................... 3.2.2 Mitgliederentwicklung der CDU-Ost bis zur Vereinigung................................ 4.2.1 Index der Intensität der Parteienkonkurrenz (IPK) ............................................ 4.3.1 Index der stärke der sozialen Basis (ISB) ........................................................... 4. 7 .I Vermutete Auswirkungen der Faktoren auf die Strukturierung der Parteiorganisationen ....... ... .. .. .. ... ... ... .. .. ..... .. .. ... ... ....... .. ... ........ .. ......... .. ... .......... .. .. .. ... .. 5.1.1 Die Entwicklung der Mitgliedschaft in SPD und CDU seit 1991 ...................... 5.2.1 Die Organisation der lokalen Verbände............................................................. 5.2.2 Grad der organisatorischen Stärke für die lokalen Parteigruppen ...................... 5.3.1 Die Organisation der Landesverbände und Bezirke beider Parteien.................. 5.3.2 Grad der Organisationsstärke der Landesverbände und Bezirke....................... 6.5.1 Qualitative Aspekte der Parteiorganisationen im Vergleich.............................. 7.2.1.1 Mitgliederdichte der ostdeutschen CDU-Landesverbände 1990 und 1997 .... 7.4.1 Organisationsstrategien der Parteien .................................................................. 7.4.2 Durchschnittliche Ausgaben der Landesverbände und Bezirke......................... 7.5.1 Aktivitätsprofil und Sozialstruktur der lokalen Parteiorganisationen ................ 7.5.2 Aktivitätsprofil der SPD-Unterbezirke in Abhängigkeit der Sozialstruktur...... 7.6.1 Organisationsstärke der CDU-Landesverbände in Abhängigkeit von............... 7.6.2 Organisationsstärke der SPD in den Ländern in Abhängigkeit von ................... A.l Die Datensammlung in den Landesverbänden und Part~ibezirken ...................... C.3.1 Beziehung zwischen den IPK-Komponenten, Mitgliederdichte und Organisationsstärke der CDU .······················································································· C.3.2 Beziehung zwischen den IPK-Komponenten, Mitgliederdichte und Organisationsstärke der SPD ........................................................................................... C.3.3 Beziehung zwischen den !SB-Komponenten, Mitgliederdichte und Organisationsstärke der CDU..................................................................................... C.3.4 Beziehung zwischen den !SB-Komponenten, Mitgliederdichte und Organisationsstärke der SPD ............................................................................................

13 29 33 37 39 46 51 52 77 78 110 118 144 149 152 154 164 165 198 217 225 229 233 235 240 242 311 325 326 326 327

XIII

C.4.1 Die Realisierung idealtypischer Organisationsmerkmale-Volkspartei ........... 327 C.4.2 Rahmenpartei ..................................................................................................... 328 C.4.3 Wahl-professionelle Partei ................................................................................. 328 Abbildungen 2.1.1 Berufsstruktur in der Bundesrepublik 1950- 1990 ............................................ 2.3 .l Positionierung von Anbietern im Dyopol ......... .. .... .. .... ... ... ... .... ...... .. .. ... .. ... .. ..... 3.3.1 Entwicklungsbedingungen der Parteien in der unmittelbaren Konstituierungsperiode 1989- 1991 ............................................................................................ 4.1 Faktoren der Organisationsentwicklung der Parteien............................................ 4.2.1 Konkurrenzraum der alten Bundesrepublik ........................................................ 4.2.2 Konkurrenzraum in den neuen Bundesländern .................................................. 4.5.1 Die materiellen Kosten der Mitgliederintegration .............................................. 4.5.2 Der Nutzen der Mitgliederintegration ................................................................ 4.5.3 Die Rentabilität der Mitgliederintegration ......................................................... 4.5.4 Kosten und Nutzen der Mitgliederintegration unter den Bedingungen nachlassender Bürger-Parteien-Bindungen................................................................ 4.6.1 Beteiligungsvoraussetzungen ............................................................................. 5.1.1 Mitgliederdichte und -Verhältnis der Parteien im Vergleich.............................. 5.2.1 Mitgliederdichte und Aktivität der CDU-Kreisverbände .... :.............................. 5.2.2 Mitgliederdichte und Aktivität der SPD-Unterbezirke ....................................... 5.2.3.1 Die Verteilung von S0 innerhalb der CDU ..................................................... 5.2.3.2 Die Verteilung von S0 innerhalb der SPD ...................................................... 5.2.4.1 Die Verteilung von S0 in West-West-Perspektive.......................................... 5.2.4.2 Die Verteilung von S0 in Ost-Ost-Perspektive............................................... 5.3.1 Mitgliederdichte und Aktivität der CDU-Landesverbände ................................ 5.3.2 Mitgliederdichte und Aktivitätsprofil der SPD-Landesverbände und -Bezirke. 5.4.1 Differenzen im Grad der Organisationsstärke der Landesverbände .................. 6.1.1 Der Grad der wahrgenommenen Handlungsautonomie der innerparteilichen Subverbände ....................................................................................................... 6.2.1 Die Intensität der Parteienkonkurrenz (IPK') innerhalb der CDU .................... 6.2.2 Die Intensität der Parteienkonkurrenz (IPK*) innerhalb der SPD ..................... 6.2.3 Grad der innerparteilichen Kohäsion.................................................................. 6.2.4 Abstand der (Regierungs-)Parteien und innerparteiliche Kohäsion- SPD ....... 6.2.5 Abstand der (Regierungs-)Parteien und innerparteiliche Kohäsion- CDU ...... 6.3.1 Die Verteilung innerparteilicher Entscheidungszentren ..................................... 6.3.2 Organisatorische Komplexität und Entscheidungsautonomie einzelner Amtsinhaber ... .... .. ......... ... .. .. ... .... ... .. ... .. ...... .. ... ... .. .. ..... .......... .. .... .... ...... ... ........ .. 6.4.1 Wahlkampfressourcen beider Parteien im Vergleich ......................................... XIV

35 58 90 97 107 108 128 129 130 132 142 150 157 158 161 161 162 162 166 167 169 176 180 181 182 183 184 192 193 197

6.5.1 Summe der Differenzen zwischen den Parteiorganisationen ............................. 7.2.1.1 Mitgliederdichte der CDU-Landesverbände in Abhängigkeit der Intensität der Parteienkonkurrenz ........ .. .. ... .. ... ............... ...... .. .... .. ... ... .. .. .. ... .. .. ... .. ..... .... . 7.2.1.2 Mitgliederdichte der CDU-Landesverbände in Abhängigkeit der Stärke der sozialen Basis .. .... .. .... .... .. .. .... ... .. ... ... .. ..... .. ... .. .... ..... .. ... ... ...... .... .. ... .. ........ ... ... . 7.2.1.3 Mitgliederdichte der CDU-Landesverbände in Abhängigkeit der politischgesellschaftlichen Umwelt.............................................................................. 7.2.1.4 Mitgliederdichte der CDU-Landesverbände in Abhängigkeit des Anteils der Katholiken in der Bevölkerung eines Bundeslandes ... .... ... .. .. ..... .... ... ... .. ... ... .. 7.2.1.5 Mitgliederdichte der CDU-Landesverbände in Abhängigkeit der Dichte privater landwirtschaftlicher Betriebe............................................................. 7.2.1.6 Mitgliederdichte der CDU-Landesverbände in Abhängigkeit der Stärke ihrer Stammanhängerschaft ... ....... .. .. .. ... ... .... ... .... .. .. .. ... .... ......... .. .. .. ... ..... ....... .... .... . 7.5.1 Parteimitglieder nach Alter .......... :...................................................................... 7.5.2 Aktivitätsprofil der SPD-Unterbezirke in Abhängigkeit des Abstands von der CDU .................................................................................................................... 7.5.3 Aktivitätsprofil der CDU-Kreisverbände in Abhängigkeit des Abstands von der SPD ............................................................................................................... 7.6.1 Die Organisationsstärke der CDU-Landesverbände in Abhängigkeit der politisch-gesellschaftlichen Umwelt................................................................... 7.6.2 Die Organisationsstärke der SPD-Landesverbände in Abhängigkeit der politisch-gesellschaftlichen Umwelt ................................................................... 7. 7.1 Die wahrgenommene Handlungsautonomie der CDU-Verbände in Abhängigkeit der Mitgliederausstattung und der Intensität der Parteienkonkurrenz ......... 7.7.2 Die innerparteiliche Position einzelner Personen in Abhängigkeit der WählerVolatilität und Organisationsgröße- CDU ........................................................ 7. 7.3 Die innerparteiliche Position einzelner Personen in Abhängigkeit der WählerVolatilität und Organisationsgröße- SPD ......................................................... 8.1.1 Mitgliederdichte und Kommunalwahlergebnisse der CDU-Kreisverbände ...... 8.1.2 Mitgliederdichte und Kommunalwahlergebnisse der SPD-Unterbezirke .......... 8.1.3 Aktivitätsprofil und Kommunalwahlergebnisse der CDU-Kreisverbände ......... 8.1.4 Aktivitätsprofil und Kommunalwahlergebnisse der SPD-Unterbezirke ............ 8.1.5 Organisationsstärke und Kommunalwahlergebnisse der CDU-Kreisverbände . 8.1.6 Organisationsstärke und Kommunalwahlergebnisse der SPD-Unterbezirke ..... 8.1.7 Kommunalwahlergebnisse der CDU-Kreisverbände im Lichte der CDULandtagswahlergebnisse...................................................................................... 8.1.8 Kommunalwahlergebnisse der SPD-Unterbezirke im Lichte der SPD-Landtagswahlergebnisse ............................................................................................. 8.2.1 Mitgliederdichte und Wahlerfolg der CDU-Landesverbände ............................

200 207 209 211 213 214 215 232 237 238 241 244 248 252 254 266 266 270 271 272 273 274 275 277

XV

8.2.2 Mitgliederdichte und Wahlerfolg der SPD-Landesverbände ............................. 8.2.3 Aktivitätsprofil und Wahlergebnisse der CDU-Landesverbände ....................... 8.2.4 Aktivitätsprofil und Wahlergebnisse der SPD-Landesverbände ........................ 8.2.5 Stärke der Organisation und Wahlergebnisse der CDU-Landesverbände ......... 8.2.6 Stärke der Organisation und Wahlergebnisse der SPD-Landesverbände .......... 8.3.1 CDU-Landtagswahlergebnisse in Abhängigkeit der Höhe der Wahlkampfausgaben .................................................................................. :.......................... 8.3.2 SPD- Landtagswahlergebnisse in Abhängigkeit der Höhe der Wahlkampfausgaben ..... .............. ............... ...... ..... ........................................................ ........ 8.3.3 CDU-Landtagswahlergebnisse in Abhängigkeit der Sympathiewerte der Spitzenkandidaten ..... ............. ...... ......................... ................................ .......... .. .. 8.3.4 SPD-Landtagswahlergebnisse in Abhängigkeit der Sympathiewerte der Spitzenkandidaten .... ........... ................. ............ ....... ................. ....................... .... 8.3.5 CDU-Landtagswahlergebnisse in Abhängigkeit der wirtschaftspolitischen Kompetenzzuschreibung .................. ..... ............................................. .... ...... .... ... 8.3 .6 SPD- Landtagswahlergebnisse in Abhängigkeit der wirtschaftspolitischen Kompetenzzuschreibung ..................................................................................... 9.1 Die typologische Positionierung von CDU und SPD in Ost- und Westdeutschland ........................................................................................................................

XVI

278 280 280 281 282 284 285 286 286 287 288 295

Einleitung Unter dem Beifall der Delegierten des Berliner Vereinigungsparteitags der SPD sagte Martin Gutzeit, Mitbegründer der ostdeutschen Sozialdemokratie und Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion der letzten DDR-Volkskammer, in Anlehnung an die legendäre Formulierung des Ehrenvorsitzenden der gerade vereinigten Partei, daß" ... nun zusammenwachse, was zusammengehört" (SPD 1990a: 101). Ähnlich optimistisch äußerte sich wenige Tage später der letzte Ministerpräsident der DDR und Vorsitzenden der ostdeutschen CDU, Lotbarde Maizere, auf dem Fusionsparteitag beider Schwesterparteien in Hamburg: "[Dem] ... Zusammenfinden (z.B. in der Wahlallianz für Deutschland, K.G., s. Kap. 3) folgt nun das Zusammenwachsen", befand de Maizere nach dem Beitritt der fünf ostdeutschen Landesverbände zur gesamtdeutschen CDU. Angesichts des vorhandenen Apparates und einer vergleichsweise hohen Mitgliederdichte seiner Partei verlieh er der Hoffnung Ausdruck, daß " ... die vereinte Volkspartei CDU durch dieses Zusammenwachsen neue Kräfte gewinnt und stärker wird" (CDU 1990: 39-41). Das Verfahren der staatlichen Vereinigung Deutschlands sowie die wenige Tage vorher vollzogenen Zusammenschlüsse der jeweiligen Schwesterverbände von SPD und CDU erzeugte bei den beteiligten Akteuren die Hoffnung auf eine möglichst rasche strukturanaloge Entwicklung der Parteiverbände in Ost und West. Davon, daß dies weit mehr ist als eine axiomatische Behauptung, zeugen nicht nur die oben genannten Aussagen der ostdeutschen Parteirepräsentanten. Auch die Verantwortlichen in den westdeutschen Parteien waren bestrebt, den Auf- bzw. Umbau der ostdeutschen Organisationen mit Hilfe massiver materieller und ideeller Transferleistungen zu forcieren. Innerhalb des Wendejahres 1990 haben die westdeutschen Unionsparteien den Umbau der ostdeutschen Schwesterorganisation durch den Transfer von Personal, Beratungsleistungen und finanziellen Mitteln unterstützt und mit Hilfe sogenannter ,,nachrückender Blockkader" sowie "Transformationseliten" (Schmidt 1997: Kap. 10) versucht, aus der ehemaligen Blockpartei eine bürgerlich-konservative Wahlallianz mit vergleichsweise starker organisatorischer Basis zu formen. Im Unterschied zur CDU begannen die Sozialdemokraten in Ostdeutschland den Aufbau ihrer Parteiorganisation aus dem Nichts, zunächst sogar unter den Bedingungen der Illegalität. Sie erfuhren aber von ihrer westdeutschen Schwesterpartei eine ebenso massive materielle wie immaterielle Unterstützung bei der Errichtung von leistungsfähigen Parteistrukturen, die von den Parteiorganisatoren als notwendig angesehen wurden, um unter den Bedingungen der kompetitiven Parteiendemokratie zu bestehen. So, wie mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands die formale Gleichheit administrativer Strukturen und institutioneller Verfahren erreicht wurde

(z.B. Wiederherstellung der Bundesländer in der ehemaligen DDR, Einführung des Parteienwettbewerbs und des Parlamentarismus u.a.), bedeutete die Vereinigung der jeweiligen SchwesteiVerbände von SPD und CDU die Errichtung von namensgleichen und - auf dem Papier - formal identischen Parteiorganisationen mit gleiChen Organisationsstrukturen im Osten Deutschlands (z.B. Landesverbände, lokale Parteiorganisationen, innetparteiliche Arbeitsgemeinschaften bzw. Vereinigungen). Das Interesse dieser Arbeit gilt der Entwicklung der Parteiorganisationsstrukturen der am Vorabend der deutschen Vereinigung fusionierten Parteien. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob sich nach Herstellung der formalen Gleichheit zwischen den jeweiligen SchwesteiVerbänden eine Annäherung der Organisationsmuster der ostdeutschen Parteiverbände an die der westdeutschen Organisationen ausmachen läßt, oder ob sich heute, knapp ein Jahrzehnt nach Vollzug der Einheit, signifikante organisatorische Differenzen zwischen den ost- und westdeutschen SchwesteiVerbänden von SPD und CDU festhalten lassen1. Anders gesagt: Mich interessiert, ob von den seit Oktober 1990 formal identischen Rahmenbedingungen des politischen Handeins sowie den Parteivereinigungen ein Impuls ausging, der eine konvergente Organisationsentwicklung der ostdeutschen Parteien an das Vorbild der westdeutschen Schwestetparteien begünstigte oder ob eventuell unter der Oberfläche des Organisationstransfers Kräfte wirken, die eine Allgleichung oder wenigstens eine Annäherung der Organisationsmuster behindern. Im Rahmen dieser Arbeit bildet die Struktur der Organisation der untersuchten Parteien die zu erklärende bzw. abhängige Variable. Auf der einen Seite ist diese Struktur durch quantitative Merkmale, wie die Mitgliederstärke und -entwicklung, Dichte und Aktivität der lokalen Parteiverbände (Kreisverbände und Unterbezirke) und der innetparteilichen Arbeitsgemeinschaften bzw. Vereinigungen und schließlich die Intensität der Kontakte zu nichtparteilichen Organisationen im lokalen Umfeld definiert. Diese Aspekte der Parteiorganisation fasse ich später (Kapitel 5) als Grad der organisatorischen Stärke zusammen, der die Grundlage des Vergleichs der quantitativen Merkmale der Parteiorganisationen bilden wird. Durch quantitative Aspekte allein ist die Struktur einer Parteiorganisation jedoch noch nicht hinreichend erfaßt. Deshalb beziehe ich qualitative Merkmale von Parteiorganisationen mit in die Untersuchung ein (Kapitel 6). Hierzu zählen neben dem Ein methodisches Problem besteht jedoch darin, daß es sich bei den westdeutschen Parteiverbänden um ,,moving targets" handelt, die selbst permanent Veränderungen ausgesetzt sind (s. z.B. Glaeßner 1993). Das heißt, auch auf der Ebene der Parteien fand kein vollkommen unmodifizierter Transfer der politischen Organisationen statt (allgemeiner s. z.B. Lehmbruch 1998). Diesem Problem versuche ich dadurch zu begegnen, indem ich zunächst Idealtypen von Parteiorganisationen vorstelle (Kap. 1) und dann die Frage beantworte, welchen Typen die westdeutschen Parteiorganisationen trotz aller Veränderungen heute entsprechen (Kap. 2). Im Lichte der Fragestellung nach einer möglicherweise konvergenten Organisationsentwicklung soll diese Typendiskussion helfen, die Frage zu beantworten, wohin sich die ostdeutschen Parteien entwickeln könnten.

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Ausmaß an wahrgenommener Handlungsautonomie der lokalen Parteiverbände, der Grad an innerparteilicher Kohäsion, die Lage der informellen innerparteilichen Entscheidungszentren, die Bedeutung der Mitgliederorganisation bzw. der Spitzenkandidaten der jeweiligen Partei als Wahlkampfressource sowie schließlich der Grad an Professionalisierung der Wahlkampfführung. Je nach Ausprägung dieser Merkmale lassen sich unterschiedliche Parteiorganisationstypen bestimmen, Die Parteiorganisationen von SPD und CDU sind angesichts ihrer empirischen Organisationsmerkmale als 'Volksparteien' charakterisiert worden (z.B. Schönbohm 1985, Lösche und Walter 1992), die als Mischformen zwischen verschiedenen Idealtypen organisatorische Elemente der 'Massenpartei' mit strategischen Elementen der sogenannten 'catch all-Partei' verbinden (Padgett 1996, Braunthai 1996, genauer s. Kap. 1, 2 und9). Somit läßt sich die Fragestellung präzisieren. Im Lichte der Untersuchungsergebnisse möchte ich die Frage beantworten, welchem Parteiorganisationstyp die ostdeutschen Verbände von SPD und CDU heute am ehesten entsprechen. Sind sie, nach den Vereinigungen mit ihren westlichen Partnern, auf dem Weg, sich zu organisatorisch vergleichbar starken Volksparteien mit Massenbasis zu entwickeln oder müssen wir im Osten des Landes Differenzen in den Organisationsmustern der untersuchten Parteien oder gar das Entstehen von Parteiorganisationen anderen Typs konstatieren? Sollte letzteres der Fall sein, dann schließen sich zwei weitere Fragen an: Erstens, wie die organisatorischen Differenzen zwischen den jeweiligen Schwesterverbänden erklärt werden können und zweitens, ob sie Konsequenzen auf die Fähigkeit der Parteien haben, Wählerunterstützung zu mobilisieren. Substantiell berührt die Fragestellung dieser Arbeit drei Themenbereiche der empirischen Politikwissenschaft Zum einen fällt sie in den Bereich der sektoralen Transformationsstudien (Parteiorganisationsentwicklung in den neuen Bundesländern seit der Vereinigung). Die den Vereinigungsprozeß begleitende Transformationsforschung orientiert sich theoretisch hauptsächlich an Fragen der Institutionenforschung (z.B. Eisen 1995). Diese wiederum stellt sich die Frage nach den Steuerungsleistungen sowie den spezifischen Bedingungen einer erfolgreichen Etablierung und Entwicklung neu ins Leben gerufener bzw. transferierter politischer Institutionen im allgemeinen sowie im besonderen Fall des Institutionentransfers in den neuen Bundesländern (z.B. Offe 1994, Lehmbruch 1998). Auffallend ist jedoch, daß der Organisationsentwicklung der ostdeutschen Parteien in der Transformationsforschung bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Zwar sind im Laufe der vergangeneu Jahre durchaus Untersuchungen zur Entwicklung der Organisationsmuster der Parteien in den neuen Ländern durchgeführt worden, doch waren diese· entweder eher deskriptiv (Linnemann 1994) bzw. auf eine Partei (Tiemann 1993, Neugebauer 1994a,b; Schmidt 1997) oder ein ostdeutsches Bundesland (Algasinger 1995) beschränkt. Mit dieser bun3

desweit angelegten Studie, die die Organisationsentwicklung von SPD und CDU in vergleichender Perspektive untersucht, möchte ich den Versuch unternehmen, die Befunde auf eine breitere empirisch-analytische Basis zu stellen. Obwohl es sich um eine Untersuchung innerhalb eines Landes handelt, fällt sie vom Design in den Bereich der Komparatistik. Vergleichende Untersuchungen innerhalb eines Landes sind möglich, wenn unterschiedliche soziale, ökonomische, politische, historische oder kulturelle Bedingungen in verschiedenen Regionen gegeben sind, d.h. verschiedene qualitative Kontextmerkmale vorliegen, die den Vergleich äquivalenter Vergleichsobjekte (z.B. vereinigter Parteiorganisationen) methodisch legitimieren (s. Lijphart 1971: 689, Putnam 1993, Sartori 1994: 20). Die Untersuchungsgrenze, entlang der ich die Organisationsentwicklung von SPD und CDU vergleiche, ist, wie oben gesagt, die Einteilung in west- und ostdeutsche Parteiverbände. Zwar ist diese Teilung durch die staatliche Vereinigung sowie die Zusammenschlüsse der jeweiligen Schwesterparteien formal aufgehoben worden, doch haben Untersuchungen beispielsweise über die Einstellungen gegenüber den Institutionen der parlamentarischen Demokratie oder die Intensität der politischen Partizipation der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern- gezeigt, daß hier noch immer teilweise erhebliche Unterschiede in Ost-West-Perspektive bestehen (z.B. Welsh 1995, Stöss 1997). Darüber hinaus trafen SPD und CDU auf eine Wählerschaft, die über weniger feste ideologische oder Wert-Bindungen an die ein oder andere Partei verfügen, zumal beides, Ideologie wie organisierte Partizipation in politischen Parteien, in den Augen vieler Ostdeutscher nach dem Ende der DDR zunächst als diskreditiert galt. Abgesehen von diesen informellen Grundlagen der Organisationsentwicklung stehen beide Parteien in Ostdeutschland vor rein quantitativ schwächeren Milieus, die heute noch immer das Rückgrat ihrer jeweiligen Schwesterpartei in den alten Ländern bilden (SPD: gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer; CDU: Katholiken, private Landwirte). Das heißt, ungeachtet der Herstellung der offiziellen staatlichen Einheit der Bundesrepublik herrschen noch immer unterschiedliche informelle, soziale wie politische Kontextfaktoren zwischen Ost- und Westdeutschland (z.B. Offe 1994, Wiesenthai 1996), die- in diesem Fall als unabhängige Variablen - ihrerseits für unterschiedliche Entwicklungspfade der untersuchten Parteien verantwortlich sein können2. Dies werde ich im Laufe 2 Diese Herangehensweise folgt eher dem von Adam Przeworski und Henry Teune (1970: Kap. 2) beschriebenen 'most-different-systems-Design' (MDSD), das sie vom 'most similar systems-Design' (MSSD) unterschieden haben. Im MSSD werden äquivalente Fälle (z.B. Mitgliederstärke bürgerliche'r Parteien, Dauerhaftigkeit von Regierungskoalitionen) aus Ländern (Systemen) untersucht, die sich durch einen Satz gemeinsamer Merkmale auszeichnen (z.B. hochentwickelte Industrieländer, westliche parlamentarische Demokratien). Werden dann Differenzen zwischen den untersuchten Fällen sichtbar, obwohl sie aus "most similar systems" ausgewählt wurden, folgt daraus, (i) daß die Gemeinsamkeiten der zugrunde gelegten Systeme zur Erklärung der Differenzen irrelevant sind und (ii) daß zunächst jeder weitere Unterschied zwischen den Systemen als erklärender Faktor angesehen werden muß. Das MDSD versucht nun, diese irrelevanten Faktoren zu

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der Arbeit überprüfen und mit Hilfe statistischer Verfahren (einfache und multiple Regressionen, Varianzanalyse) versuchen, den Einfluß der untersuchten Kontextfaktoren genauer zu bestimmen (s. Kap. 4 und 7). Drittens behandelt diese Arbeit Fragestellungen der ,,klassischen" Parteiensoziologie (z.B. Mitgliederentwicklung, Bedeutung der Mitgliederorganisation, Verteilung innerparteilicher Entscheidungszentren, wichtigste Wahlkampfressourcen) und ist als solche wiederum eine Fallstudie zur Organisationsentwicklung von Volksparteien in parlamentarischen Demokratien. Datenbasis und methodisches Vorgehen3 Um die zentrale Fragestellung dieser Untersuchung nach der Organisationsentwicklung von SPD und CDU seit 1990 sowie nach möglichen Differenzen der Organisationsmuster zwischen den jeweiligen Schwesterverbänden in Ost-West-Perspektive empirisch gesichert zu beantworten, ist es notwendig, eine ausreichend große Datenmenge zu sammeln, die es erlaubt, die Befunde der Untersuchung auf ihre Signifikanz hin zu überprüfen und- sofern möglich- für SPD und CDU in Ost- und Westdeutschland zu verallgemeinern. Die Untersuchungsergebnisse basieren im wesentlichen auf drei Quellen. Zum einen auf Materialien des SPD-Parteivorstands und der CDU-Bundesgeschäftsstelle zur Mitgliederentwicklung und sozialen Gliederung der organisierten Anhänger beider Parteien. Zum anderen aus Informationen, die ich mit Hilfe einer schriftlichen Befragung aus 146 lokalen Verbänden (Unterbezirke und Kreisverbände) im Herbst 1997 gesammelt habe. Im Anschluß an die Untersuchung der lokalen Verbände habe ich drittens mit insgesamt 17 Landes- bzw. Bezirksgeschäftsführerinnen und -geschäftsführem der Parteien ca. eineinhalbstündige standardisierte Interviews geführt. Aus vier Landesgeschäftstellen habe Informationen mittels schriftlicher ·und aus je einer Landes- sowie Bezirksgeschäftsstelle pertelefonischer Befragung erhalten (genauer s. Anhang: Tabelle A.l). Weitere Quellen sind Veröffentlichungen des Bundestages eliminieren. Hierbei werden Fälle aus Systemen untersucht, die sich qualitativ unterscheiden. Treten dann keine Differenzen zwischen den Fällen auf, heißt das, daß die Unterschiede in den Systemen zur Erklärung der Differenzen in den Fällen bedeutungslos sind. Im entgegengesetzten Fall gilt, daß " ... the differences between the two sets of systems become relevant and reference must be made to the systemic Ievel'' (Przeworski und Teune 1970: 35). In der Forschungspraxis ist es jedoch nicht möglich, exakt dem einen oder anderen Design zu folgen oder sich auf eines zu beschränken. Denn selbst, wenn die Unterschiede zwischen den zugrunde gelegten Systemen helfen, Unterschiede zwischen den untersuchten Fällen zu erklären, bleiben ,,Restgrößen" (oder unerklärte Varianzen, s. z.B. Scharpf 1997: 24), die mit Hilfe alternativer Strategien bzw. theoretischer Ansätze (z.B. der Akteurskonstellation in Parteien oder ihren angenommenen oder abgefragten Organisationspräferenzen) erklärt werden müssen (s. dazu Kap. 4 und 7). 3 Zur Auswahl der Fälle und zu den Problemen der Erhebung siehe Anhang, Teil A.

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(Rechenschaftsberichte der Parteien), Parteitagsprotokolle sowie die Befunde anderer (Fall-) Studien über die Organisationsentwicklung politischer Parteien in Ostdeutschland bzw. in osteuropäischen Transformationsländem. Die Ebene der lokalen sowie der Landesverbände und Bezirke bietet sich aus drei Gründen für die Untersuchung der Organisationsentwicklung der Parteien und möglicher Ost-West-Differenzen an. Zum einen, weil mit den Vereinigungen der Schwesterverbände formal die Teilung in Partei/West und Partei/Ost aufgehoben wurde. Studien, die nach möglichen Differenzen in den Organisationsmustern in Ost-West-Perspektive sowie und Erklärungen dafür suchen, können dies nur auf den der jeweiligen Bundespartei nachgeordneten Organisationsebenen, eben den Landes-, Bezirks- oder lokalen Verbänden, tun. Zum anderen fallen die Fragen, denen das Interesse dieser Arbeit galt (Mitgliederdichte, -entwicklung, Aktivität der innerparteilichen Arbeitsgemeinschaften sowie Vereinigungen, Intensität der lokalen Netzwerke), in den Zuständigkeitsbereich dieser Organisationsebenen. Abgesehen von dieser eher formellen Frage der Verantwortlichkeit gibt die Untersuchung der Organisationsentwicklung der Parteien auf Kreis- sowie auf Landesebene Auskunft über die organisatorische Stärke und Aktivität der Parteien an der Basis sowie über die Organisationspräferenzen der Verantwortlichen vor Ort, d.h. über ihre Wertschätzung der Mitgliederorganisation sowie ihre Anstrengungen zum Erhalt oder Ausbau der außerparlamentarischen Parteiorganisation. Im Anschluß an Maurice Duverger (1959: XI) bieten insbesondere Erkenntnisse über die Organisationsform einer Partei an der Basis den Schlüssel, um Aussagen über ihren Organisationstyp zu treffen (s. auch Kap. 1). Schließlich erlaubt es die Untersuchung der lokalen Verbände, der Landesorganisationen sowie der Bezirke, die Zahl der untersuchten Fälle im Rahmen einer Länderstudie deutlich zu erhöhen, womit schließlich die Chancen, daß die empirischen Befunde den Forderungen der statistischen Signifikanz zu genügen, entscheidend steigen (Kap. 5-7). Gliederung Diese Studie ist in drei Hauptteile gegliedert. Der erste Teil dient vor allem der Begriffsbestimmung sowie der Darstellung der Ausgangsposition für die anschließende Untersuchung. In Kapitel 1 stehen die Fragen im Vordergrund, welche Parteiorganisationstypen in der Literatur identifiziert wurden und warum es zu Übergängen von einem auf einen anderen Organisationstyp kam bzw. kommt. Hierbei kennzeichne. ich zunächst ideale Parteitypen anhand ihrer in der Literatur genannten charakteristischen Merkmale und stelle sie dann empirischen Erscheinungsformen politischer Parteien gegenüber. In Kapitel 2 schließt sich ein Überblick über die Organisationsentwicklung von SPD und CDU in den alten Ländern an. Unter der Fragestellung nach einer möglicherweise konvergenten Entwicklung der Organisationsmuster der Parteien in Ostdeutschland an die der westdeutschen Schwesterparteien geht es in diesem Abschnitt 6

darum zu klären, welche Organisationsformen beide Parteien in Westdeutschland im Laufe ihrer Entwicklung angenommen haben, welche Bedingungen den Wandel ihrer Organisationsmuster begünstigten und welchem Organisationstyp die Parteien am Vorabend der deutschen Vereinigung am ehesten zugeordnet werden können. Im 3. Kapitel folgt eine kurze Darstellung über die höchst unterschiedlichen Entwicklungen von CDU und SDP/SPD in der ehemaligen DDR bis zur Vereinigung mit ihren jeweiligen Schwesterverbänden. Im Vordergrund steht hier ein Blick auf die Wandlungs- und Umstrukturierungsprozesse in der ehemaligen Blockpartei sowie auf die Konstituierungsphase der neu gegründeten SDP/SPD, mit dem die jeweilige Ausgangssituation für die weitere Organisationsentwicklung beider Parteien in Ostdeutschland dargestellt werden soll. Der zweite Teil bildet den theoretischen sowie den empirischen Kern der Arbeit. Im 4. Kapitel diskutiere ich zunächst spezifische Bedingungen, unter denen sich die Entwicklung der Organisationsmuster beider Parteien in den neuen Ländern bis heute vollzog. Im Lichte der dort vorgestellten Entwicklungsbedingungen werde ich Hypothesen darüber formulieren, welche Wirkung von jedem der vorgestellten Faktoren auf die Entfaltung der Organisationsstrukturen ausgehen kann und welche Organisationsmuster sich angesichts der diskutierten Entwicklungsbedingungen in den neuen Ländern höchstwahrscheinlich herausgebildet haben. Die Kapitel 5 und 6 geben die Befunde der empirischen Untersuchung wieder. Die dabei beobachteten Differenzen in den Organisationsmustern und -verfahren werden in Kapitel 7 näher erklär;t. Im Mittelpunkt steht dabei, die im 4. Kapitel aufgestellten Hypothesen zu überprüfen und den Einfluß der dort vorgestellten Entwicklungsbedingungen der Parteien in den neuen Ländern mit Hilfe statistischer Verfahren genauer zu bestimmen. Kapitel 8 fragt nach dem Zusammenhang zwischen der organisatorischen Stärke der Parteien und ihrem Wahlerfolg. Im abschließenden Teil (Kapitel 9) fasse ich die Ergebnisse der Arbeit zusammen und ordne die untersuchten Parteiorganisationen auf der Grundlage ihrer empirischen Merkmale typologisch ein. Am Ende stelle ich die Befunde in den Kontext allgemeinerer und zum Teil normativer Überlegungen zur Bedeutung organisatorisch eventuell unterschiedlich starker Parteien für die Stabilität der parlamentarischen Demokratie und versuche, anband der Untersuchungsergebnisse einen Ausblick auf die mögliche Organisationsentwicklung der Parteien in der Bundesrepublik zu geben.

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Teil I Vorbetrachtungen: Organisationsstrukturen politischer Parteien

1. Zur Typologie von Parteiorganisationen. Rahmen-, Massenintegrations-, Volkspartei - und retour? Die Bildung von Idealtypen ist in den empirischen Wissenschaften von großer Bedeutung. Angesichts der Vielfalt der beobachteten Erscheinungen stellt sich allein des reinen Erkenntnisinteresses wegen die Frage, ob sie nicht ein Minimum gemeinsamer Merkmale aufweisen, die es erlauben, sie einer Klasse oder einem Typ zuzuordnen. Ohne dieses Ordnungsproblem blieben Beobachtung~n immer genau das, was sie zunächst sind, nämlich Einzelfälle mit all ihren Eigenarten. Ein weiterer Grund liegt in der Notwendigkeit, klar definierte Begriffe zu bilden, so daß Leser wissenschaftlicher Arbeiten wissen, wovon die Rede ist. Unbestritten ist in der Parteiensoziologie allerdings die Einsicht, daß es eine allgemeingültige Typologie politischer Parteien, die all ihren Erscheinungsformen sowie den jeweiligen Organisationsformen zugrunde liegenden Ursachen gerecht wird, nicht geben kann. Zu vielfältig für eine allgemeine Typologie sind sowohl die möglichen Typologieebenen (Hättich 1967: 375-77, Wiesendahl 1980: 215-44)1 als auch die historischen und institutionellen Bedingungen in den einzelnen Ländern, die die Organisationsformen von Parteien konditionieren (s. z.B. Epstein 1967:126-9, Kitscheil 1989a: 43, Wiesendahl 1998: 62-4). So hat Sigmund Neumann, einer der Pioniere der modernen Parteienforschung, betont, daß zur Erklärung der Organisationsstrukturen politischer Parteien den nationalen Besonderheiten Rechnung getragen werden sollte: " [Political parlies] ... must be seen within the complete Settings of the own govemmental systems. Only against this background of historical circumstances, institutional tradition, and national characteristics can the specific Manfred Hältich (1967) beispielsweise orientiert sich in einer möglichen Typologie an drei Aspekten: Erstens der Stellung der Parteien innerhalb der politischen Ordnung ("verfestigte Regierungspartei" vs. "verfestigte Oppositionspartei"), was allerdings wenig hilfreich ist, da über die beiden möglichen Vergleichsebenen (Raum, z.B. einzelne [Bundes-]Länder oder Zeit) kaum eine Partei unter den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie auf eine dieser Stellungen auf Dauer "gebucht" ist, zweitens der Zielsetzung (Klientel- oder Interessen- vs. Volks- oder gemeinwohlorientierten Partei) und drittens der Struktur politischer Parteien, wobei er diesbezüglich den Darlegungen Duvergers (s.u.) folgt. Andere Vorschläge zur Typenbildung (z.B. Wiesendahl 1980) orientieren sich ebenfalls an der Zielstellung sowie an der Ideologie der Parteien, wenngleich dies oftmals weniger mit empirischen Parteiorganisationstypen, sondern mit einer normativen Akzentuierung in der Forschung zu tun hat, ob man von Parteien neben dem für alle Parteien geltenden Aspekt der Stimmenmaximierung auch Integrations- oder inhaltliche Transmissionsaufgaben erwartet. Für die folgende Beschreibung der wesentlichen Merkmale der Organisationstypen, ihrer Erscheinungsformen und die Bedingungen für den Übergang von einem Typ auf den nächsten beziehe ich mich ausdrücklich auf solche Typen, die in westeuropäischen Staaten erschienen sind und lege, im Anschluß an Duverger (1959), Kirchheimer (1965) sowie Katz und Mair (1990, 1995) eine historischen Herangehensweise zugrunde. Dabei orientiere ich mich an Duvergers Argument (1959: XI), daß sich Parteitypen hauptsächlich nach der Art ihrer (lokalen) Organisation, weniger durch ihre Programme oder ideologis.:he Bekenntnisse bestimmen ließen.

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nature, issues, and contributions of the different party patterns be fully evaluated" (Neumann 1956: 4, zitiert nach Wiesendahl1998: 63). Typologien von Parteiorganisationen orientieren sich in der Regel an zwei Fragen: (1) wie ist die Organisation strukturiert und (2) wen versucht die Partei als Wähler zu mobilisieren. Zur Frage der internen Struktur zählen neben der Größe der Mitgliederorganisation die soziale Herkunft der Mitglieder und Wähler, die Art der lokalen Organisation (Wahlkomitees, Ortsgruppen, Betriebszellen oder sogenannte Milizen), der Grad der innerparteilichen Bürokratie, die Verteilung innerparteilicher Machtzentren und die Dauerhaftigkeit der Organisation. Die zweite Frage zielt auf das sogenannten 'electoral appeal' einer Partei, also darauf, mit welchen inhaltlichen Grundlagen sowie strategischen Mitteln eine Partei versucht, bestimmte Wählergruppen für sich zu mobilisieren. Die empirische Organisationsform einer Partei ist das Resultat einer Vielzahl von Faktoren. Hierzu zählen -im Anschluß an Neumann (s.o.)- einerseits organisationsexterne, institutionelle und soziale Aspekte, wie beispielsweise das Ausmaß und Ausgestaltung demokratischer Partizipationsrechte, das Wahlsystem, die Intensität der Auseinandersetzung zwischen den politischen Lagern, die Sozialstruktur der Wählerschaft, deren ideologische bzw. Wertbindung an "ihr" Lager oder die Entwicklung der sogenannten Partizipationskultur eines Landes; andererseits organisationsinterne Faktoren wie der ideologische Repräsentations- und Integrationsanspruch der Parteiführer, die Notwendigkeit mittels formaler Organisation dauerhafte politische Unterstützung zu mobilisieren und damit die 'Schlagkraft' der Organisation als Kampfverband ebenso wie als Wahlkampfapparat zu stärken sowie schließlich die Frage, wer die Organisation kontrolliert (z.B. Parteichefs oder Minister, Parlamentarier). Mit Blick auf den jeweiligen sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen2 möchte ich nachfolgend die charakteristischen Merkmale der wesentlichen Parteiorganisationsformen skizzieren. In der über hundertjährigen Entwicklungsgeschichte politischer Parteien in Westeuropa wurden im wesentlichen vier Organisationstypen voneinander unterschieden (s. Tabelle 1.1): zunächst die bürgerliche Honoratioren-, Kader- oder Rahmeppartei (Partei der individuellen Repräsentation), dann die Massenintegrationsparteien auf Klassen- oder Konfessionsbasis (Partei der sozialen Integration); dann sogenannte ,,Ailerweltsparteien" und schließlich die "wahl-professionelle" Parteiorganisation (Weber 2 Innerhalb der folgenden Darstellung beschränke ich mich auf den auch in der Literatur häufig anzutreffenden strukturfunktionalistischen Ansatz. Dieser benennt zwar die Bedingungen für die Entstehung einer Parteiorganisation und deren Wandel, doch es mangelt ihm an sogenannten "Mikrogrundlagen", welche deutlich machen, wie Parteiaktivisten auf die strukturellen Bedingungen reagieren und die Organisation ggf. verändern (dazu s. Kitschelt 1989a: 43-8, Müller 1997, sowie Kap. 2, 4.5 und 7.4 dieser Arbeit).

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1919/85, Neumann 1956, Duverger 1959, Panebianco 1988, Katz und Mair 1995). Jeder dieser Idealtypen ist durch einen Satz bestimmter Merkmale definiert, der ihn von anderen Typen unterscheidet. Tabelle 1.1 Typen von Parteiorganisationen im Zeitverlauf Zeit Entstehungsbedingungen Parteiorganisationstyp

Beispiel in Deutschland

Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts

begrenztes Wahlrecht, Zensuswahlrecht

Kader-, Rahmenpartei; "Partei der individuellen Repräsentation"

Ende des 19. Jahrhunderts bis ca.1960

allgemeines Wahlrecht, Konsolidienmg der Massendemokratie, feste soziale Bindungen

Massenintegrationspartei, SPD, Zentrum, bürokratische Massenpartei, ,,Partei der sozialen Integration"

ca.1960 bis Mitte der 80er Jahre

graduelle Auflösung ehe- ,,Allerweltspartei", Volks- SPD,CDU mals fester Klassenpartei mit sozial heterobindungen, Massengener Massenbasis kommunikationstechnologie

seitdem

weitere Auflösung stabiler sozialer Unterstützermiiieus, Nichtvorhandensein stabiler Beziehungen zwischen Parteien und ihren Anhängern

Nationalliberale, Deutsch-Konservative Partei, Fortschrittspartei

"wahl-professionelle" SPD, CDU in den alVolkspartei (mit schrump- ten, fender Massenbasis), Rahmenparteien (?)

SPD und CDU in den neuen Bundesländern(?)

Im Laufe der Geschichte kam es zu graduellen Wandlungen bzw. zur Ablösung eines bis dahin vorherrschenden Typs durch den anderen. In der Parteiensoziologie sind solche Umbrüche mit der Metapher vom 'Lebenszyklus' politischer Organisationen veranschaulicht worden (z.B. Harrnel und Janda 1994: 262). 'Real existierende' Parteien sind deshalb in der Regel Mischtypen mit einem Übergewicht des einen oder anderen Typs (s. Müller 1996). Das Auftreten eines neuen Parteiorganisationstyps sowie qualitative Umbrüche innerhalb einer Organisation kann dabei entweder durch exogenen Wandel, d.h. Veränderungen der Umwelt, in denen Parteien agieren, wie Ausweitung des Wahlrechts, die Auflösung traditioneller Klassenbindungen, technologische Neuerungen oder deutliche Wahlniederlagen oder endogenen Wandel, z.B. durch Abwahl oder Ablösung der Parteiführung, oder allgemeiner, veränderte innerparteiliche Akteurskonstellationen

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bzw. -allianzen ausgelöst werden (s. Panebianco 1988: 240-42, Müller 1997), worauf ich im anschließenden Kapitel eingehen werde. 1.1 Rahmen- und Massenparteien Parteiorganisationen, wie wir sie heute in Westeuropa als dauerhafte und zwischen den Wahlen aktive Organisationen mit großer Mitgliederzahl kennen, sind ein "Geschöpf der Massendemokratie" (Mair 1989). Davor, als der politische Betrieb noch fest in den Händen einiger Aristokraten und bürgerlichen Honoratioren lag, die aus ihrer Mitte Abgeordnete in die sich herausbildenden Parlamente entsandten, war die Errichtung permanent aktiver Parteiorganisationen nicht nötig. Die vergleichsweise geringe Zahl der Wahlberechtigten erforderte nur geringe Koordination durch formale Organisation. Die lokalen Wahlkomitees, mit denen sich die politischen Kandidaten und amtierenden Parlamentarier angesichts der graduell wachsenden Wählerschaft eine lockere Form der Parteiorganisation schufen, dienten der Vorbereitung auf Wahlen, der Spendensammlung sowie der Kontaktpflege zwischen den Kandidaten und der Wählerschaft und stellten ihre Aktivität nach Ausgang der Wahlen weitgehend ein. Dieser Parteiorganisationstyp kam in der Regel ohne eingeschriebene Mitglieder aus, verzichtete gar auf jede Form der Mitgliederexpansion, bedurfte nicht einer dauerhaft angestellten und bezahlten Bürokratie und legte keinen Wert auf Versuche, politische Bildungsarbeit zu betreiben, denn diese brachten sowohl die Kandidaten als auch die sie umgebenden Förderer mit. Bei der idealen Rahmenpartei handelte es sich um eine fast ausschließlich wahlorientierte Gruppierung, die sich an ihre elitäre Klientel (Industrielle, Großbürgerliche, Landadel) wandte und von einflußreichen Persönlichkeiten, allen voran den Parlamentariern, kontrolliert wurde. Die zentrale Machtressource der Rahmenpartei waren demzufolge die Kandidaten bzw. deren persönliche Ressourcen. Im Anschluß an Weber (1919/1985), Neum'ann (1956), Duverger (1959) und Kitschelt (1989a) zeichnet sich die ideale Rahmenpartei durch folgende Merkmale aus: - Orientierung auf Stimmenmaximierung, -Kontrolle der Organisation durch die politischen Kandidaten (u.a. Parlamentarier) und ihren "Stab", -schwach entwickelte Organisationsstrukturen, - diskontinuierliche Aktivität, -geringe Mitgliederstärke, -kein Interesse am Wachstum der (Mitglieder)Organisation, - kein tiefer ideologischer Anspruch, - hoher Quotient aus Amtsinhabern und "Mitgliedern", -Finanzierung durch Eigenkapital und Spenden. Die Einführung des allgemeinen (Männer-)Wahlrechts gegen Ende des 19. Jahr-· hunderts (in Deutschland 1871) gilt in der Parteiensoziologie als die entscheidende

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institutionelle Bedingung für das Entstehen der Massenpartei (Duverger 1959, La Palombara/Weiner 1966, v. Beyme 1982, Mair 1990); siebeendete nach Max Weber" ... diesen idyllischen Zustand der Herrschaft von Honoratiorenkreisen und vor allem: der Parlamentarier" (1919/1985: 842). Mit der gewaltige Vergrößerung der Wählerschaft stieg die Notwendigkeit, organisatorische Voraussetzungen zu schaffen, die eine dauerhafte politische wie soziale Integration der Anhängerschaft garantierte. Die Integration der neuen Wahlberechtigten erfolgte über das Band der soziale Klassen- oder der Konfessionszugehörigkeit, d.h. die frühen Massenorganisationen waren Arbeiter- und (vorwiegend) katholische Parteien, in Deutschland die Sozialdemokratische Partei (SAP, seit 1890 SPD), später auch die KPD3 und die katholische Zentrumspartei. Zu den wichtigsten Anliegen der frühen Massenparteien zählte es einerseits, die große, sozial (entweder durch Klassen- oder Religionszugehörigkeit) definierte Anhängerschaft in den ideologischen Einflußbereich der Partei zu integrieren, um sie gemäß einer dominierenden Ideologie bzw. eines konfessionellen Bekenntnisses zu sozialisieren (Erziehungsfunktion der auch Weltanschauungsparteien genannten Organisationer;, siehe Weber 1919/85: 839). Zum anderen ging es darum, die politische Durchsetzungskraft und Leistungsfähigkeit der Partei mittels zahlenmäßiger Stärke der Anhängerschaft zu steigern, denn sie waren - wenn nicht gerade unter den Bedingungen des gesetzlichen Verbots aller Aktivitäten - als politisch stigmatisierte Außenseiter entstanden und befanden sich in teilweise militanter ökonomischer ebenso wie politischer Auseinandersetzung mit den Regierenden. So begünstigte beispielsweise in Deutschland der anhaltende Druck des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates auf die katholischen Verbände einerseits (z.B. der sogenannte Kulturkampf) sowie auf die Arbeiterbewegung und ihre Organisationen (Gewerkschaften und Partei) andererseits die Entstehung von katholischen sowie proletarischen Solidargemeinschaften, auf die sich das Zentrum bzw. die Sozialdemokratie stützen konnten. Gleichzeitig erforderte die Repressionen des Staates die Errichtung disziplinierter und schlagkräftiger Kampfverbände, mit denen sich die Katholiken und v .a. die Arbeiterbewegung, insbesondere unter den Bedingungen der Illegalität (Sozialistengesetze) den Attacken der Herrschenden erwehren konnte4. Schließlich waren die entstehenden Massenbewegungen

3 Auf die Organisation kommunistischer Parteien, namentlich die der KPD, gehe ich hier nicht näher ein, da sie erst später nach Abspaltung von der SPD entstand (s. z.B. Scho.rske 1981). Allgemeine Ausführungen finden sich bei Duverger (1959: 46-54 und 209-14). Interessant sind jedoch mit Blick auf die Organisation der Blockparteien in der ehemaligen DDR, auf die ich in Kapitel 3 eingehen werde, zwei Strukturmerkmale. Erstens, die Betriebszelle als Grundelement der Parteiorganisation, zweitens die elitäre Komponente der Parteiführung durch ,,Berufsrevolutionäre", die auf Parteischulen ausgebildet wurden. 4 Für eine ausführliche Darstellung zu den Bedingungen der Organisationsbildung der Sozialdemokratie in Deutschland siehe z.B. Detlef Lehnert (1983: 67-77). Der Weg des Zentrums zur Massen-

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bestrebt, die ,,kapitalistische" Methode der Wahlkampffinanzierung (Spenden) durch die demokratische Methode der Beitragszahlung zu ersetzen. Die Massenparteien versuchten so durch die Anzahl auszugleichen, was die bürgerlichen Honoratiorenparteien "von Hause aus" an standesgemäßen Ressourcen mitbrachten. Mit den Parteigruppen vor Ort (Ortsgruppe oder Sektion, Duverger 1959: 41-6) schufen insbesondere die Sozialdemokraten Instanzen, die über die reine Integrationsaufgabe politische Bildungsarbeit betrieben. Die Ortsgruppen waren aber nicht nur ein wichtiger Bestandteil der politischen Bildung, der Agitation und Erziehung, sondern dienten gleichzeitig der Rekrutierung des politischen Nachwuchses. Die Leitung der Ortsgruppen oblag in der Regel hauptamtlichen Funktionären. Damit führten die Arbeiterparteien eine weitere Neuerung ein, den bezahlten Berufspolitiker, der in der Tat von der Politik als Beruf lebte und später auch Einzug hielt in die anderen Parteien. Die Massenparteien errichteten mit der flächendeckenden Überziehung des Landes mit Ortsgruppen und der "Erfindung" des besoldeten Parteifunktionärs nicht nur einen bürokratisch organisierten Parteiapparat, indem Aufgaben geteilt und professionalisiert wurden (Mitgliederbetreuung, Agitation, politische Bildung), sondern sie etablierten die dauerhaft präsente außerparlamentarische Organisation. Durch die den Massenparteien nahestehenden gesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften und Arbeiter(sport)vereine auf der Seite der Sozialdemokratie, Handwerker- oder Angestelltenverbände und -zögerlich -der katholischen Kirche auf der Seite der konfessionellen Parteien errichteten sie enge und stabile Netzwerke mit der sie umgebenden Umwelt, d.h. sie erreichten eine bis dahin nicht gekannte gesellschaftliche Verwurzelung. In den konfessionellen Parteien übernahmen die berufsständischen Korporationen die Aufgabe der sozialen Integration (Duverger1959: 72), zeichneten sich jedoch gegenüber den nahestehende Verbänden der Arbeiterparteien durch ein höheres Maß an Autonomie aus. Mit der in der Gesellschaft verwurzelten, bürokratisierten Massenpartei war gegenüber den bürgerlichen Wahlvereinen ein völlig neuartiger Organisationstyp entstanden. Die Massenparteien markierte den Übergang der "Partei der individuellen Repräsentation" (Honoratioren- oder Rahmenparteien) zur "Partei der sozialen Integration" (Neumann 1956). Die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien in Westeuropa sowie die konfessionellen Parteien etablierten mit den Ortsgruppen und den nahestehenden Verbänden Organisationsstrukturen, die in der Lage waren, diese soziale Integration zu leisten und dadurch ihre Anhänger sozusagen "ein Leben lang" an/in die Organisation zu binden.

partei einschließlich der politischen Bedingungen ist beispielsweise sehr detailliert von Stathis Kalyvas (1996: 204-15) analysiert und dargestellt worden.

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Obwohl es bis heute kein verbindliches Kriterium dafür gibt, ab welcher Mitgliederstärke eine Partei als Massenpartei charakterisiert werden kann5, läßt sich die ideale Massenintegrationspartei durch folgende Merkmale definie~en (s. Katz und Mair 1990: 13, Wiesendahl1998a: 36-40): -eine zahlenmäßig große Mitgliedschaft (gemessen in Mitgliederdichte) im Vergleich zu anderen Parteien, -starke lokale Organisation (Orts-, Kreisverbände) - innerpart~iliche Bürokratie, d.h. Arbeitsteilung, Spezialisierung, Dauerhaftigkeit und Professionalisierung innerhalb des Parteiapparates, - hohe innerparteiliche Disziplin (Autorität der Parteileiter) und innerparteiliche Hierarchie, -Dominanz der professionallen Parteileiter über die Parlamentarier, -dichtes Netz an angeschlossenen Verbänden, - Parteiprogramme auf der Grundlage einer Weltanschauung oder Ideologie, - damit verbunden: soziale Integration einer durch soziale Klassen- oder Konfessionszugehörigkeit definierten Klientel als Mitglieder und Wähler. Die zentrale Machtressource in den Massenparteien war im Unterschied zu den bürgerlichen Rahmenparteien nicht mehr ein einzelner Kandidat sondern die Organisation selbst mit all ihren Mitgliedern, den angeschlossen Verbänden und dem aus einer Weltanschauung abgeleiteten Programm. Unter diesen Bedingungen wurde das einzelne Parteimitglied zum wichtigen Bestandteil der parteilichen Arbeit, beispielsweise als Freiwilliger in den Wahlkampfkolonnen oder als Aktivist vor Ort. Damit ist nicht gesagt, daß einzelne Kandidaten oder Persönlichkeiten keine Rolle mehr spielen. Massenparteien wurden auch immer von einzelnen angesehenen und einflußreichen Persönlichkeiten repräsentiert, die die Masse der Wähler mobilisiert haben, denken wir an August Bebel oder an Friedrich Ebert in der Blütezeit der deutschen Sozialdemokratie. Aber mit dem erfolgreichen Anwachsen der Partei gewann die außerparlamentarische Organisation immer mehr an Gewicht und wurde, im Gegensatz zum vorangegangen Organisationstyp, wenn nicht zum einzigen so doch zu einem zentralen politischen Akteur und zur wichtigen Macht- bzw. Mobilisierungsressource. Die erfolgreiche Etablierung der Massenintegrationspartei hatte mindestens drei wesentliche Folgen. Einerseits für die Parteien selbst, andererseits für die Strukturierung der nationalen Parteiensysteme. Mit der Entscheidung, am parlamentarischen 5 Der Einwand, daß auch eine kleine, unter Umständen sogar diskontinuierlich aktive Parteiorganisation Massenpartei sein kann, wenn sie aufgrund ihrer Programmatik versucht, potentiell alle Wählerinnen und Wähler zu erreichen, ist mir bekannt. Dies ist jedoch eine primär strategische Frage und sollte auch als solche behandelt werden. Beim Versuch verschiedene Parteitypen voneinander zu unterscheiden halte ich es um der Klarheit der Begriffsbildung halber jedoch für sinnvoll, sie in erster Linie nach der Art ihrer Organisation zu definieren (s. Duverger 1959: XI) und nicht danach, an wen sie sich wendet.

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Wettbewerb teilzunehmen, der Steigerung der Wahlstimmen und dem Ausbau des flächendeckenden Apparates galt es zum einen, einmal erreichte Erfolge (z.B. die Anzahl der Parlamentssitze oder die Organisation) zu verteidigen, auch um den Preis, das ursprüngliche Ziele dabei in den Hintergrund traten (s. Michels 1911/1989, Przeworski 1985). Andererseits hatte sich mit dem Anstieg der Mitgliedschaft und der Etablierung formal-demokratischer innerparteilicher Verfahren (interne Wahlen, Parteitage) der Einfluß der außerparlamentarische Organisation gegenüber der Parlamentsfraktionen und einzelner Personen erhöht. Somit verlagerte sich das innerparteiliche Zentrum von Einzelpersonen, hauptsächlich den Parlamentariern, hi~ zur Organisation mit all ihren Mitgliedern, angeschlossenen Verbänden, und insbesondere den von der Organisation repräsentierten weltanschaulichen Grundlagen. Duverger sprach in bezug auf die Organisation der sozialdemokratischen Parteien wenn nicht von einem Übergewicht der Organisation, so doch zumindest von einer annähernden Gleichverteilung oder Konkurrenz zwischen Parlamentariern und Amtsinhabern einerseits und den Organen der Mitgliederorganisation andererseits (1959: 202-9, siehe auch 6.3 in dieser Arbeit). Schließlich erwiesen sich die Strukturen der Massenintegrationsparteien, d.h. ihre Mitglieder, die mit der lokalen Gesellschaft verwurzelten Organisation sowie der straff organisierte, bürokratische Apparat, insbesondere der sozialdemokratischen Parteien, unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts als die adäquate Form der Parteiorganisation, die Masse der potentiellen Anhänger zu mobilisieren und die Anhänger dauerhaft an die Bewegung zu binden. Das Eintreten der Massen in den politischen Wettbewerb und die damit verbundene Konkurrenz der einzelnen Parteien um die Stimmen der Wähler veranlaßte auch die Parteien des bürgerlichen Lagers zur Übernahme einiger organisatorischer Verfahren der Massenparteien. In diesem Zusammenhang sprach Duverger (1959: 315-20) von der sogenannten ,,Ansteckung von Links", womit gemeint ist, daß auch die bürgerlichen Wahlvereine und später konservativ-bürgerliche Parteien dauerhafte Strukturen ihrer Organisation ins Leben riefen, wenngleich auf einem beständig niedrigerem Organisations- und Mitgliederniveau, denn eine permanente soziale Integration deckte sich weder mit den Auffassungen der liberal-bürgerlichen Parteiorganisatoren noch mit denen ihrer Klientel (s. Katz und Mair 1995: 11-2). In der Parteiensoziologie galt der Organisationstypus der Massenpartei mit fest gefügter Klassenbasis dennoch lange als charakteristische Organisationsform politischer Parteien des 20. Jahrhunderts. In der Tat hat dieser Organisationstyp die politische Landschaft in westeuropäischen Demokratien bis ca. Ende der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts dominiert.

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1.2 ,,AIIerwelts-" und Volkspartei- Konzeption und Erscheinungsform Die Verwendung der Begriffe ,,Allerwelts-" oder Volkspartei ist in der Literatur umstritten. Einerseits, weil Otto Kirchheimer, auf den die Bezeichnung ,,Allerweltspartei" zurückgeht, die Namen selbst synonym verwendete ("echte Volkspartei", 1965; "catch-all people's party, 1966), andererseits, weil auch in der anschließenden Diskussion nicht eindeutig zwischen Konzept und Erscheinungsform unterschieden wurde (s. Mintzel 1984: 49, 306; Haungs 1977). Zwar kommt Mintzel (1984: 107) nach detaillierter Textanalyse zu dem überzeugenden Schluß, Kirchheimer habe nicht einen Idealsondern einen Realtyp beschrieben (in der Tat diente ihm insbesondere die SPD als Vorbild, obwohl er seine Überlegungen empirisch nicht näher überprüfte s. z.B. Schmitt 1992: 1:33), dennoch schlage ich vor, Kirchheimers ,,Allerweltspartei" als Charakterisierung eines Idealtyps zu lesen und diesen gegen die empirische Erscheinungsform der Volkspartei, wie sie u.a. in der Bundesrepublik zu beobachten ist, zu kontrastieren. Zum Verständnis der Begriffe ,,Allerwelts"- und "Volkspartei" möchte ich nachfolgend kurz deren wesentlichen Merkmale herausstellen sowie die primären Gründe für den Übergang von der Massenintegrationspartei mit Klassenbasis zur "echten Volkspartei", die bestrebt ist, Angehörige aller Bevölkerungsgruppen als Wähler und Mitglieder zu mobilisieren bzw. zu integrieren. 1.2.1 Konzept und Merkmale der Allerweftspartei AllerweHsparteien sind, ebenso wie ihre empirische Erscheinungsform als Volkspartei, gegenüber der Massenintegrationspartei mit Klassen- oder Konfessionsbasis durch zwei wesentliche Merkmale charakterisiert, die es rechtfertigen, von der Entstehung eines neuen Organisationstyp zu sprechen: Zum einen durch ein verändertes Integrationsziel in bezug auf potentielle Mitglieder und Wähler, zum anderen durch die schrittweise Verabschiedung programmatischer Aussagen und Bekenntnisse, die aus einer Ideologie bzw. einer bestimmten Weltanschauung abgeleitet wurden. Kirchheimer, für den das Zeitalter der Massenintegrationspartei auf der Basis sozialer Klassenbindungen zu Beginn der 60er Jahre vorüber war, begründete den Wandel zur sogenannten Allerweltspartei mit veränderten sozialen Klassenkonfigurationen der westlichen Nachkriegsdemokratien, die er wiederum hauptsächlich auf die ökonomische Entwicklung zurückführte (1965: 28-9). Die westeuropäischen Nachkriegsdemokratien waren geprägt von der Etablierung des Keynesianischen Wohlfahrtsstaat (KWS). Dem KWS lag einerseits die Idee zugrunde, die Bürgerinnen und Bürger durch die Errichtung sozialer Sicherungsnetzwerke wie Altersversorgung, Gesundheitsfürsorge, Arbeitslosenunterstützung vor den möglichen Risiken der Marktwirtschaft abzusichern (s. z.B. Becker 1998), auf der anderen Seite, die gesellschaftliche Kaufkraft und damit die Binnennachfrage zu stärken.

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Darüber hinaus ist der KWS dadurch charakterisiert, daß die Tarifpartner, einheimisches Kapita'l und Gewerkschaften, einen sogenannten ,,Klassenkompromiß" schlossen (s. Pxzeworski 1985). Die Gewerkschaften vexzichteten auf die militante Führung von Arbeitskämpfen und die Forderung nach der Vergesellschaftung von Eigentum und erhielten dafür Zusagen des Kapitals, Gewinne in die einheimische Wirtschaft zu reinvestieren und moderaten Lohnzuwächsen zuzustimmen. Ein drittes entscheidendes Merkmal des KWS ist die Zunahme der Staatstätigkeit als Investor sowie als Arbeitgeber, was im Wachstum des öffentlichen Sektors mündete und schließlich die Herausbildung einer Entstehung einer starken Mittelschicht öffentlich Bediensteter förderte. Der KWS entwickelte sich in den 60er Jahren zu einer regelrechten "Wachstumsmaschine", infolgedessen der allgemeine Lebensstandard anstieg und die soziale Mittelschiebt anwuchs. Mit diesem Anwachsen der Mittelschicht, einer "Verbürgerlichung" der Arbeiterklasse gleich, lösten sich ehemals gegebene Klassenzugehörigkeilen ebenso auf wie die dahin stabilen Beziehungen zwischen den Parteien und ihrer Stamm-Anhängerschaft (Katz 1990). Solche sozioökonomischen Veränderungen bieten ihrerseits strategischen Parteipolitikern einen Anreiz, das Erscheinungsbild sowie das öffentliche Wirken ihrer Organisation den geänderten Bedingungen anzupassen. Die Bemühungen der. traditionellen Massenintegrationsparteien, allen voran der Sozialdemokratie, liefen angesichts der Auflösung der ehemals gegebener Klassenbasis darauf hinaus, das inhaltliche Profil der Partei derart zu ändern, daß sie für Bevölkerungsgruppen wählbar blieb bzw. wurde, die sich im Zuge des KWS von der Zugehörigkeit "ihrer" Klasse entfernten bzw. nie dazu gehörten. Die von Kirchheimer alternativ gebrauchten Bezeichnungen der "catch-all" oder "echten" Volkspartei widerspiegelt diese Bemühungen der strategischen Adaption an veränderte Umweltbedingungen. Der Wandel zur catch-all-Partei beinhaltete die Verabschiedung vom ,jdeologischen Ballast" (marxistischer ·Lehren) und hatte zum Ziel, eine Wählerschaft zu erreichen, die" ... potentiell die ganze Nation umfaßt" (Kirchheimer 1965: 34) D.h. die AllerweHsparteien versuchen mit schichtübergreifenden Integrationskonzepten, Angehörige aller sozialen Gruppen zu mobilisieren (die eine catch-all-Komponente). Dabei, so Kirchheinier, " ... gibt die [traditionelle Massenintegrationspartei, K.G.] die Versuche auf, die Massen geistig und moralisch einzugliedern, und lenkt ihr Augenmerk in stärkerem Maße auf die Wählerschaft, sie opfert ... eine tiefere id!!ologische Durchdringung für eine weitere Ausstrahlung und einem raschen Wahlerfolg" (27). Mit anderen Worten: diese AllerweHsparteien waren - in Anlehnung an N\!umann - mehr interessiert an gewinn- und wahlorientierter als an sozialer Integration. Diese weitgehend ideologiefreie Wahlorientierung, bei der die Kandidaten hauptsäch-

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lieh die Themen aufnehmen, von denen sie meinen, daß sie mehrheitsfähig sind (die andere catch-ali-Komponente), ist eine strategische Frage bzw. ein Phänomen des Wettbewerbs. Die Wettbewerbsorientierung der Allerweltsparteien führt nach Kirchheimer dazu, daß sich die Führer bzw. Spitzenkandidaten des Parteilabels bedienten wie eines Markenartikels. Konsequenterweise werden aber auch die Konkurrenten einen fast identischen Artikel (sprich: eine ideologisch bzw. inhaltlich genauso wenig profilierte Aussage) herausbringen, was schließlich, im Anschluß an Downs (1957), zwei Dinge verursacht: Erstens wird das. Wählen erschwert, da die Konkurrenten kaum noch voneinander zu unterscheiden sind, zweitens streben die zu ,,Allerweltsparteien" transformierten Konkurrenten in die Mitte des politischeh Konkurrenzraumes (zentripetale Konkurrenz). Für Kirchheimer war das Entstehen der AllerweHspartei vor allem ein Phänomen des politischen Wettbewerbs um die Stimmen der Wähler, die, bedingt durch die allmähliche Auflösung ökonomisch definierter Klassenbindungen, zunehmend ungebunden auf dem politischen Markt treiben. Aber die Trennung vom "ideologischen Ballast", die damit verbundene veränderte strategische sowie soziale Öffnung der Parteien, sind nicht die einzigen Merkmale dieses Parteityps, Die Allerweltspartei ist auch ein organisatorisches Phänomen (s. Mair 1989, Krouwel 1997), welches durch einen Bedeutungsverlust des einzelnen Mitglieds und das Anwachsen der innerparteilichen Heterogenität charakterisiert ist. Kirchheimer hat dem zuletzt genannten organisatorischen Aspekt allerdings kaum Beachtung geschenkt. Seiner Ansicht nach richtet sich die Aufmerksamkeit der Allerweltspartei auf Probleme der Führerauslese, und ihr wichtigster Beitrag liegt in der Mobilisierung der Wähler (39). Um sicherzustellen, daß Parteiname und Wahlbotschaft rechtzeitig " ... in Millionen Köpfe eingedrungen [ist]", bedienen sich die Spitzenvertreter moderner Massenkommunikationstechnik, vor allem des Fernsehens, und vermitteln ihre Ansichten so direkt an die potentiellen Wähler. Dadurch sinkt die Bedeutung des einzelnen Parteimitglieds als Repräsentant seiner Partei und als politische Ressource für die Partei, denn sie werden sowohl als Wahlkampfkolonne nicht mehr gebraucht und sind als möglicher "Gralshüter" ideologischer Prinzipien der flexiblen Marktanpassung der Parteiführung unter Umständen eher hinderlich. Das heißt aber nifht, daß die von Kirchheimer beschriebenen AllerweHsparteien keine Mitgliederparteien mehr sind, sondern lediglich, daß die Bedeutung sowie die Aufgabenstellung des einzelnen Mitglieds als politische Ressource gesunken ist. Im Rückblick wird deutlich, daß die reformierten Massenparteien mit Klassenbasis ihre Mitgliederschaft zum Teil sogar erheblich ausbauen konnten (s. Bartolini 1983 und Kapitel2). Z~sammengefaßt handelt es sich bei der idealen Allerweltspartei um einen politischen Verband, der auf feste Klassen- oder Milieubindungen verzichtet und versucht, Angehörige aller gesellschaftlichen Gruppen als vor allem als Wähler (weniger als 21

Mitglieder) zu mobilisieren. Zur Mobilisierung der Wähler, nach Kirchheimer das Hauptanliegen der Allerweltsparteien, bedienen sich die Spitzenvertreter weitgehend ideologiefreier Aussagen, welche die Partei für jedermann potentiell wählbar macht, sowie Vermittlungsverfahren, die schließlich das einzelne Mitglied sowie die gesamte außerparlamentarischen Organisation als zentrale Wahlkampfressource ablösen. Ideale Allerweltsparteien sind primär markt-, also wahlstimmenorientierte Verbände, für die Kirchheimer feststellt, daß sie von den führenden Repräsentanten konirolliert werden. 1.2.2 Volksparteien Volksparteien sind, wie oben gesagt, eine empirische Erscheinungsform von Parteiorganisationen. Ihre charakteristischen Merkmale decken sich teilweise mit denen der von Kirchheimer konzipierten Allerweltspartei. Das schließt jedoch nicht aus, daß auch um diese Bezeichnung hinsichtlich des Gebrauchs in der wissenschaftlichen Literatur Uneinigkeit darüber besteht, inwieweit der Name die Erscheinungsform rechtfertigt. Ein Grund dafür liegt in der oftmaligen Selbstbezeichnung von Parteien, die kaum den Merkmalen der AllerweHsparteien entsprechen (z.B. Badische Christlich-Soziale Volkspartei, Bremer Demokratische Volkspartei, Deutsch-Nationale Volkspartei, s. Mintzel 1984: 23). Andererseits wurden wegen der buchstäblichen Nähe des Wortes zur im Nachkriegsdeutschland diskreditierten Wendung der "Volksgemeinschaft" (ebd.: Kap. 1) sowie aufgrund der ,Jdeologie- oder Werte-Untreue" der idealen catchall Partei in der westdeutschen Parteienforschung immer wieder Versuche unternommen, für die zwei größten Parteien6 alternative Bezeichnungen zu finden. Das Spektrum der Namensgebung reicht von "Mitglieder- und Apparatepartei neuen Typs" (Mintzel im Anschluß an Neumann) über "rechte" und "linke", "bürgerliche" oder ,,sozialdemokratische" Volksparteien (Raschke), "Integrationspartei" (Wiesendahl), "Massenlegitimationspartei" (Stöss, für alle siehe Mintzel 1984: 137-8, v.a. 326-9) bis zur "modernen Volkspartei" (Schönbohm 1985). Allen Versuchen der Namensgebung lagen zunächst jedoch die gleichen Erscheinungen zugrunde, die auch Kirchheimer veranlaßten, vorn Aufkommen der Allerweltspartei zu sprechen, nämlich: die Auflösung der ökonomisch definierten Klassenbindungen und die daraus folgende Erodierung stabiler Beziehungen zwischen Massenintegrationsparteien und Stamm-Anhängerschaft (sinkende Parteiidentifikation, 6 Nach Kirchheimer (1965: 30) ist eine strukturelle Voraussetzung für den Wandel zur Allerweltspartei, daß es sich um eine große (Mitgliedschaft und Wähleranteil) und landesweit aktive Partei mit nationalem Regierungspotential und nicht um eine Klientel- oder Regionalpartei handelt. Wenn von deutschen Volksparteien die Rede ist, dann meistens mit Blick auf SPD und cpv. Die CSU zählen zwar einige hinzu (z.B. Mintzel 1975, 1984), die Partei bleibt aufgrund ihrer Begrenzung auf Bayern jedoch ein Sonderfall. Hier zeigt sie allerdings angesichts der Sozialstruktur ihrer Anhängerschaft, ihres 'electoral appeals' und der Art ihrer lokalen Organisation unbestritten Merkmale einer Volkspartei.

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siehe Haungs 1992: 180) und schließlich die erfolgreiche Werbung der Parteien um Anhänger aus allen sozialen Schichten. Soweit gehen Ideal und Erscheinungsform noch konform. Die Diskrepanzen beginnen jedoch mit den Folgen der Zunahme der sozialen Heterogenität der Anhängerschaft, der Frage der Größe sowie der Bedeutung der Mitgliedschaft. Kirchheimer zielte v.a. auf die stimmorientierte Seite der Parteien sowie die Beziehung zwischen . I Parteieliten und Wählerschaft, und postulierte einen Bedeutungsverlust des einzelnen ' ~ Mitglieds, dessen Bedeutung als politische und finanzielle Ressource (i) durch die Verwendung moderner Kommunikationskanäle durch die Parteiführung (ii) sowie durch die staatliche Parteienfinanzierung abnahm (z.B. Mair 1994). Fragen wie die Reproduktion der Parteiorganisation durch die Mitgliedschaft, Rekrutierung politischen Nachwuchses oder die in der (deutschen) Parteienforschung immens wichtige Frage der demokratiestabilisierenden Rolle großer Parteiverbände (z.B. Haungs 1994), interessierten ihn weniger. Der Blick auf die Organisationsentwicklung der westdeutschen Großparteien zeigt, daß sie Merkmale der idealen catch-all-Partei mit denen der klassischen Massenintegrationspartei verbinden (genauer s. Kap. 2). Im Zuge der innerparteilichen Reformen der westdeutschen Parteien, allen voran in der SPD Ende der fünfziger Jahre, wurde zwar tatsächlich eine programmatisch-inhaltliche Öffnung vollzogen, und die Partei verabschiedete sich von ideologischen Bekenntnissen bzw. Forderungen, dennoch blieben Fragen wie der weitere Ausbau der lokalen Parteiorganisation und Mitgliederwerbungweiterhin von großer Bedeutung (s. 2.1). Die CDU, die sich zwar hinsichtlich der Wählerintegration sowie ihrer politischen Orientierung seit ihrer Gründung als Volkspartei verstand (s. 2.2), betrieb seit den späten sechziger Jahren ganz massiv den Ausbau der außerparlamentarischen Organisation, einschließlich der Mitgliederexpansion, und galt erst dann, sowohl in Selbstverständnis ihrer Vertreter als auch in der Literatur, als "echte" bzw. ,,moderne" Volkspartei. Für Peter Haungs (1992) war sie angesichts der relativ hohen Mitgliederzahl, der sozialen Vielfalt der Mitglieder und Wähler, der Dichte und Aktivität der lokalen Parteiverbände einschließlich der innerparteilichen Vereinigungen sowie den Stimmenanteilen, die die CDU auf allen Ebenen des Landes bei Wahlen erreicht, der "Prototyp einer Volkspartei". Wulf Schönbohm (1985: 18) hat im Zusammenhang seiner Untersuchung der Organisation der CDU einen Katalog an Kriterien vorgestellt, die erfüllt sein sollten, wenn die Rede von einer Volksparteiist. Hierzu zählen: - hohe Mitgliederzahl und -dichte 7

7 Die kursiv gesetzten Merkmale gelten für beide Typen: Massenintegrations- und Volksparteien.

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- hohe Wähleranteile (Schönbohm legte "willkürliche, an der Realität orientierte" Größenordnungen zugrunde, ca. 700.000 Mitglieder und mindestens 30% aller Wähler), - ein schichtenübergreifendes Integrationskonzept und eine Programmatik, die alle Wählergruppen anspricht, -sozial relativ ausgewogene Mitglieder- und Wählerstruktur, - dauerhafte, auf allen politischen Ebenen präsente und aktive Organisation (neben einem Bundesverband auch Kreis- und Landesorganisationen, d.h. ein funktionsfähiger Apparat auf allen administrativen Ebenen, - innerparteiliche Verbände und Arbeitsgemeinschaften, - innerparteiliche Willensbildung nach den Grundsätzen der repräsentativen Demokratie, - funktionsfähige politische und organisatorische Führung -weltanschaulicher Pluralismus. Das heißt, zu den empirischen Merkmalen der Volksparteien zählen neben den von Kirchheimer benannten catch-all-Komponenten (Wahlprogramme ohne tiefergehende ideologischen Bekenntnisse, soziale Heterogenität der Wähler und Parteimitglieder) organisatorische Aspekte der klassischen Massenintegrationspartei (z.B. Massenmitgliedschaft, dauerhaft aktive lokale Parteiverbände, relativ hohe Bedeutung der gesamten außerparlamentarischen Organisation). Anders gesagt: Die Volkspartei ist nicht nur Erscheinungsform der Allerweltspartei, sie ist auch eine Massenpartei - mit sozial heterogener Anhängerschaft. Unter den Bedingungen des Parteienwettbewerbs in der Bundesrepublik erwies sich die Mischung aus Komponenten der Allerwelts- und Massenpartei nicht nur als erfolgreiche Adaption an sich ändernde gesellschaftliche Bedingungen (Auflösung ehemals stabiler Klassenbindungen), sondern galt, in den Parteien wie in der Forschung (v.a. Schönbohm 1985), als notwendige Voraussetzung für den weiteren politischen Erfolg. Die Öffnung für potentiell alle Bevölkerungsgruppen als Wähler und Mitglieder bedeutete aber gleichzeitig, daß die soziale Heterogenität der Mitgliedschaft stieg, was insbesondere innerhalb der SPD während der 60er und 70er Jahre deutlich wurde. Während sich in der früheren Massenintegrationspartei auf Klassenbasis die Anhängerschaft hauptsächlich aus Angehörigen einer ökonomisch definierten Klasse oder einer Konfessionsgemeinschaft rekrutierte, sind die Wähler und Mitglieder der zur Volkspartei gewandelten Organisation Angehörige unterschiedlichster sozialer Gruppen: Arbeiter, Angestellte, Beamte, Selbständige, Unternehmer usw. Das hat zur Folge, daß in Volksparteien das innerparteiliche Konfliktpotential steigt, da mit Zunahme der sozialen Diversifikation auch die Interessenvielfalt der Anhängerschaft zunimmt. Somit ist eine weiteres Merkmal von Volksparteien interner lnlliressenpluralismus, der in einer Vielzahl an innerparteilichen Verbänden seinen Ausdruck findet. Dies wiederum hat zur Folge, daß innerhalb der Organisation verschiedene Subver24

bände um Einfluß und Entscheidungsbeteiligung konkurrieren, wodurch die noch für klassische Massenintegrationsparteien charakteristische straffe hierarchische Gliederung mehr und mehr einer horizontal verzweigten Organisationsform weicht. Nach Samuel Eldersveld (1964: 9f.) entstehen in horizontal organisierten Parteien sogenannte 'stratarchies' (strategische Hierarchien), die durch " ... proliferation of the ruling group, the diffusion of power prerogatives and power exercise" gekennzeichnet sind. Diese Organisationsmuster resultieren schließlich in einer Zunahme an innerparteilicher Konkurrenz zwischen den verschiedenen Ebenen, also der lokalen Organisation, der Landesebene u.nd der Bundespartei einerseits, innerparteilichen Interessengruppen wie Arbeitnehmerverbänden, Selbständigen- und Unternehmergruppen und anderen programmatischen Flügel andererseits sowie zwischen den verschiedenen möglichen Machtzentren: Mitgliederörganisation, Parlamentsfraktionen und Amtsinhaber. Das heißt, neben den oben genann!en Merkmalen zeichnen sich Volksparteien durch komplexe Organisationsmuster aus, in denen programmatisch heterogene und in der Regel relativ selbständig handelnde Gruppierungen um innerparteilichen Einfluß konkurrieren (dazu s. Kap. 6). Seit Mitte der 80er Jahre wird in der Parteiensoziologie vom Entstehen eines weiteren Organisationstypus gesprochen, der streng genommen jedoch eine Modifikation der von Kirchheimer beschriebenen Parteiorganisationsform der idealen Allerweltspartei ist. 13 "Wahl-professionelle" Parteien Der Organisationstyp der sogenannten wahl-professionellen Partei (,,electoral professianal party", Panebianco 1988) ist, wie die AllerweHspartei auch, zuallererst ein Phänomen des Wettbewerbs, denn die Gründe, die die Herausbildung der Allerweltspartei begünstigten (Auflösung stabiler Anhänger-Parteien-Bindungen), hielten bzw. halten unvermindert an. Parteien konkurrieren unter diesen Bedingungen um die Unterstützung einer sozial weitgehend ungebundenen (volatilen) Wählerschaft, die ihre Stimme nicht mehr "wie von selbst" einer- ihrer - Partei gibt, sondern in der Tat begonnen hat, auszuwählen (Flanagan/Dalton 1990, Dalton/ Rohrschneider 1992). Charakteristisch für die wahl-professionellen Parteien ist die Verstärkung des Parteiapparates durch Experten, die sich - im Gegensatz zum klassischen "allroundPartdfunktionär", der v.a. für politische Agitation sowie das Funktionieren des innerparteilichen Lebens zu sorgen hatte - auf ihre Themen spezialisieren, seien dies ,,modernes" Organisationsmanagement, Datenverarbeitung und Kommunikation oder die mediengestützte bzw. inszenierte Wahlkampfführung. Während in den klassischen Massenintegrationsparteien und, wie eben gesehen, zum Teil auch noch in den Volksparteien der gesamte außerparlamentarische Apparat (Parteileiter, Funktionäre, Mitglieder) über einen relativ hohen Einfluß in der gesamten Partei verfügte und dem 25

weiteren Ausbau bzw. dem Erhalt der Mitgliederorganisation eine gewisse Bedeutung zukommt, verschiebt sich in der wahl-professionellen Partei das "Gravitationszentrum" der innerparteilichen Bemühungen weiter weg von der Integration (potentieller) Mitglieder zur Mobilisierung (potentieller) Wähler. Dazu bedienen sich die Strategen in den Führungsetagen der Parteien verstärkt eines hauptamtlichen Stabes, der den Wählermarkt beobachtet und die Kandidaten bei der Suche nach mehrheitsfähigen Themen unterstützt, darüber hinaus marktorientierter Verfahren, z.B. Umfragen, interner wie externer Wahlkampf- der Marketingagenturen, die die Spitzenkandidaten der Parteien in Wahlkampfzeiten vermarkten. Ein einfacher Indikator, den möglichen Trend zur (Wahl-) Professionalisierung zu überprüfen, bietet ein Blick auf die Verwendung des Budgets der Parteien für Öffentlichkeitsarbeit, Wahlkampfführung und Ausgaben für Beratungsleistungen (s. Kapitel2, 7.4 und 9). Im Anschluß an Panebianco (1988: 2667) können Parteiformationen als ideale wahl-professionalisierte Verbände definiert werden, wenn sie - sich hauptsächlich auf die Wählermobilisierung konzentrieren8 , - dabei die Spitzenkandidaten in den Vordergrund der Kampagnen stellen, - eigene Experten und/oder verstärkt nichtparteiliche Agenturen mit der Wahlkampf- , führung beauftragen, - einen kontinuierlichen Anstieg der Budgets für Öffentlichkeitsarbeit und Wahlkampfführung zeigen. Angesichts der Orientierung auf einzelne Kandidaten verliert in der idealen wahlprofessionelle Partei die starke außerparlamentarische Organisation einschließlich der Massenmitgliedschaft weiter an Bedeutung. Panebianco (1988: 266) hat dies wie folgt hervorgehoben: ,,Bureaucrats and members are still necessary, but their roles are now less important. ... Members and party bureaucrats have less weight both financially speaking and as links with voters, ... while public representatives appointed through election are correspondingly gaining in importance". Dennoch kann es sich auch bei den wahl-professionalisierten Parteien durchaus noch um mitgliederstarke Verbände mit hochentwickelten Organisationsstrukturen 8 Unbestritten ist, daß die Wahlorientierung primäres Ziel jeder Partei ist, die sich zur Teilnahme am politischen Wettbewerb entschließt, unabhängig davon, ob es sich um eine klassische Honoratiorenvereinigung, eine Massenpartei mit Klassenbasis oder eine für alle Bevölkerungsgruppen offen stehende Volkspartei handelt (s. Schlesiner 1984, Przeworski 1985). Worauf die Unterscheidung letztlich hinausläuft, sind die Relationen in den Parteien für den weiteren Ausbau bzw. den Erhalt der Mitgliederorganisation und der Vetwendung der zur Verfügung stehenden Mittel für Öffentlichkeitsarbeit und Wahlkampfführung, d.h. welche Organisationsstrategien Priorität haben (s.u. sowie 7.4).

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handeln. Was wahl-professionalisierte von anderen hier skizzierten Organisationstypen unterscheidet, ist die Wertschätzung der verantwortlichen Akteure in die einzelnen Organisationsebenen, daß heißt, die Frage, welcher Ebene (hier: Mitgliederorganisation oder einzelnen Spitzenkandidaten) die größte Aufmerksamkeit gewidmet wird. Heute hat es den Anschein, daß die Mitgliederorganisation zumindest als Wahlkampfressource und Finanzquelle an Bedeutung verliert. Gleichzeitig scheint es, als würden die Parteiorganisatoren weniger Wert auf den weiteren, kostspieligen Ausbau der Mitgliederorganisation legen und statt dessen versuchen, Wählerinnen und Wähler mit attraktiven Kandidatenangeboten und medienwirksamen Inszenierungen zu mobilisieren (s. 7.7 und 8.3). 1.4 Zusammenfassung Diese kurze Darstellung der charakteristischen Merkmale wesentlicher Parteiorganisationsformen diente zuallererst der Begriffsbestimmung für die spätere Untersuchung. Darüber hinaus sollte deutlich werden: Im Laufe der vergangeneu einhundertdreißig Jahre sind - aufeinander folgend - verschiedene Parteiorganisationstypen entstanden, die sich durch qualitative wie quantitative Merkmale wie Größe und Struktur der Mitgliederorganisation, die Bedeutung des einzelnen Parteimitglieds oder die der Spitzenkandidaten voneinander unterscheiden, ohne daß beim Übergang von einem Organisationstyp zum anderen zwangsläufig Merkmale des vorangegangenen völlig verschwanden. Die Verlagerung von Organisationsschwerpunkten innerhalb einer Partei oder gar der Übergang von einem Organisationstyp zu einem anderen stellt die Adaptionsfähigkeit bzw. -notwendigkeit in politischen Parteien unter Beweis. Parteien sind als überaus umweltabhängige Organisationen gekennzeichnet worden (s. Harmel. und Janda 1982). Um ihre zentralen Ziele weiterhin zu erreichen sind ihre Strategen - im schlimmsten Fall um die Gefahr des Verschwindens der Partei- gezwungen, auf exogene Veränderungen zu reagieren, seien dies Veränderungen in der Sozialstruktur der Wählerschaft und damit verbundene Verschiebungen der politischen Präferenzverteilungen, die Verfügbarkeit neuer Kommunikationswege, das Aufkommen neuer Konkurrenten oder drastische Stimmenverluste, um hier einige zu nennen. Die Verlagerung innerparteilicher Organisationsschwerpunkte ist dabei nur einer von mehreren möglichen Reaktionen. Der Austausch der Parteiführer9, strategische bzw. inhaltliche Adap9 Wolfgang Müller (1997) hat dies am Beispiel der Österreichischen Sozialdemokratie (SPÖ) gezeigt und in seiner Arbeit den sogenannten 'environmentalist'- mit dem 'purposive-action'-Ansatz verbunden. Er argumentiert, daß sich angesichts veränderter Umweltbedingungen (z.B. steigende Wählervolatilität, s. 45, 7.1 und 7.7) Organisationsschwerpunkte nicht "von allein" ändern, sondern der Wechs~l der die Partei kontrollierende Gruppen (z.B. Traditionalisten, OrganisationsbefürworteT vs. Modernisierer, Marketingbefürworter) und der Austausch der Parteiführung Faktoren sind, die innerparteilichen Wandel erklären.

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tionen, wie die Übernahme von Themen der Konkurrenten, sind andere. Mit Blick auf den Gegenstand dieser Arbeit, die Entwicklung der Parteiorganisationsmuster von SPD und CDU im Lichte der deutschen Vereinigung, habe ich in dieser Skizze den Schwerpunkt auf die Organisationsentwicklung gelegt. Die Übersicht auf der gegenüberliegenden Seite faßt noch einmal die wichtigsten Merkmale der hier vorgestellten Parteiorganisationstypen zusammen (Tabelle 1.4.1). Mit Blick auf die nachfolgende Untersuchung geht es hierbei um die Darstellung der charakteristischen Strukturmerkmale sowie der zentralen Macht- und Wahlkampfressourcen des jeweiligen Organisationstyps. Die frühesten Parteiorganisationen waren elitäre, wahlorientierte und diskontinuierlich aktive Komitees (Honoratioren-, Kader- oder Rahmenverbände), welche von den Parlamentariern ins Leben gerufen wurden, um im Wahlkampf die erforderliche Koordination zwischen ihnen und ihrer Klientel zu leisten und die Wiederwahl zu sichern. Die Kandidaten benutzten diese Komitees lediglich als Rahmen für ihre politischen Aktivitäten. Nachdem die um politische Emanzipation ringenden Bewegungen des Proletariats bzw. der Konfessionsgemeinschaften (i.d.R. Katholiken) die Erweiterung des Wahlrechts auf alle volljährigen Männer erzwangen, wurde es für sie notwendig, die Masse ihrer Anhängerschaft mittels Organisation politisch zu integrieren. Mit den Massenintegrationsparteien auf Klassen- bzw. konfessioneller Basis errichteten die Arbeiter- wie die konfessionellen Bewegungen Organisationen, die die erforderliche Integrationsleistung erbrachten. Gleichzeitig erwiesen sich die Massenparteien unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts als die am meisten geeignete Form der Parteiorganisation, die Wähler dauerhaft zu organisieren und zu mobilisieren. Obwohl angesichts der in den Massenintegrationsparteien vorherrschenden Weltanschauungen, der großen Mitgliedschaft und der Bedeutung des Apparates die Organisation als solche gegenüber der Parlamentsfraktion sowie einzelnen Spitzenvertretern enorm an Bedeutung gewann, blieben letztere zur Wahlkampfmobilisierung und Identitätsstiftung durchaus wichtiglO und waren gegenüber der Mitgliederorganisation zumindest gleichberechtigte (bzw. rivalisierende) Machtzentren. Die Fähigkeit der· Massenparteien, ihre große Anhängerschaft dauerhaft an die Organisation zu binden und sie mit Hilfe des starken lokalen Apparats zu mobilisieren zwangen die bis dahin dominanten bürgerlichen bzw. aristokratischen Rahmenorganisationen zu graduellen Adaption des Organisationstyps der permanent aktiven Parteiagentur (die These der ,,Ansteckung von links", Duverger 1959: 315-20, siehe auch

10 Robert Michels' wenig schmeichelhafte Ausführungen über das "Verehrungsbedürfnis der Massen" die ihrerseits "weltlicher Götter" bedürfen oder seine Bemerkung, daß in die Arbeiterwohnstuben neben die Luther- auch Bebelporträts gehängt wurden, mögen das illustrieren (s. Michels 1989; 46ff.).

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Perkins 1994)- wobei diese jedoch weiterhin auf den Versuch, eine Massenbasis aufzubauen, verzichteten. Tabelle 1.4.1 Parteiorganisationstypen und deren Merkmale Organisationstyp --+ Merkmale ..1Mitgliedschaft

Rahmenpartei

Massenintegrations- Volkspartei partei

klein

groß

Zielgruppe (Mitglieder kleine Klientel und Wähler)

groß

Aufgabe der Parteiorganisation

Mobilisierung der Wähler

Finanzierung

Spenden, Eigenkapital

kontinuierlich aktiver Apparat/lokale Organisation

nicht vorhanden

potentiell alle Angehörige einer sozial definierten Bürgerinnen und Klasse oder einer Bürger eines Religions gemeinLandes schaft politische (Wilpolitische Bildung, Kampfverband, lens)Bildung, AufWählermobilisierung stellungvon Kandidaten, Wahlen, Wählermobilisierung Mitgliedsbeiträge Mitgliedsbeiträge, (gelegentlich Spenstaatliche den) Parteienfinanzierung, auch Spenden vorhanden vorhanden

Bedeutung der Organisation als politische (Wahlkampf) Ressource Beziehungen der einzeinen Parteiebenen

unwichtig

sehr wichtig

tendenziell wenigerwichtig

informell, horizontal

hoch formalisiert, vertikal

stärker horizontal

wahl-professionelle Partei unter Umständen noch groß potentiell alle Bürgerinnen und Bürger eines Landes

Wählermobilisierung

staatliche Parteienfinanzierung, Mitgliedsbeiträge, Spenden (noch) vorhanden aber weniger wichtig - mit Ausnahme des "Stabes" von Experten weniger wichtig

relativ schwache vertikale Beziehungen gering hoch abnehmend nicht benannt Zentralisierungsgrad nicht benannt Parteidisziplin gering sehr hoch nachlassend Kontrolle der Partei Parlamentarier, Parteileiter, FunkParteileiter, Funk- Parlamentarier, Kandidaten, durch ... tionäre, Ideologen tionäre, sowie Par- Kandidaten, Amtslamentarier, Kan- inhaber Amtsinhaber didaten, Amtsinhaber Kandidaten Mitglieder und OrOrganisation und Kandidaten wichtigste politische ganisation Kandidaten Ressource Quellen: Duverger (1959), WildavskJ (1969), W1esendahl (1980), Panebmnco (1988), Katz und Mau (1995)

Parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung im Nachkriegseuropa, dem Anwachsen einer ideologisch weniger gebundenen Mittelschicht und dem Siegeszug der elek29

Ironischen Massenmedien transformierten die Massenpartei mit fest gefügter Klassenbasis zur sogenannten Allerweltspartei, in der aufgrund der Verabschiedung ideologischer Fundierung zugunsten kurzfristigerer wahlorientierter Ziele und veränderter Kommunikationstechnologien die Bedeutung des einzelnen Parteimitglieds sowie der Organisation als politische Ressourcen sank. In ihrer Erscheinungsform als sozial heterogene und- noch immer- vergleichsweise mitgliederstarke Volkspartei mit dauerhaft aktiven lokalen Verbänden zeigt sie jedoch nach wie vor Elemente der Massenintegrationspartei. Der vorläufig letzte Stufe der Parteiorganisationsentwicklung liegt die anhaltende Auflösung stabiler Beziehungen zwischen sozialen Klassen und "ihren" Parteien zugrunde. Der Übergang zur sogenannten "wahl-professionellen" Partei ist- wie der von der Massenpartei auf Klassenbasis zur Volkspartei- sowohl ein strategisches als auch ein organisatorisches Phänomen. Denn von der wahl-professionellen Partei wird behauptet, sie lege angesichts der nunmehr weitgehend von Klassenzugehörigkeilen gelösten Wähler- und potentiellen Anhängerschaft weniger Wert auf den Ausbau einer Massenorganisation und versucht statt dessen, mit Hilfe moderner Kommunikationstechnologien ihre Kandidaten zu vermarkten und ihre Unterstützer, die immer weniger an ,,ihre" Partei gebunden sind, hauptsächlich zu den Wahlen zu erreichen. Das ~in­ zeine Mitglied verliert dabei, ebenso wie der organisatorisch starke Unterbau der Parteien zumindest als Wahlkampfressource zunehmend an Bedeutung. Richard Katz und Peter Mair (1992: 25) haben hierfür konstatiert: " ... while the rnembership ... proved irrelevant to the elite party (Honoratioren- oder Rahmenpartei, K.G.), and proved central to the mass party, it was effectively marginalised by the catch-all party and has since become, once again, increasingly irrelevant to the cartel partyll ". Ähnlich argumentierte auch PeterLösche (1997: 805), für den angesichts sinkender Mitgliederzahlen in den westdeutschen Großparteien "offenkundig [zu sein scheint], daß die Zeit der Mitglieder- und ... Volkspartei vorbei ist".'Das "Ende der Volkspartei" zu proklamieren, erscheint jedoch ohne empirische Fundierung etwas 11 Katz und Mair veJWenden zwar mit der "Kartell-Partei" einen anderen Begriff als Panebianco mit der wahl-professionellen Partei, doch liegt auch hier das Argument zugrunde, daß sich Parteien nicht nur von der Unterstützung einer aktiven lokalen Basis unabhängig machen, sondern zunehmend auch vom Ausgang der Wahlen, da die Vertreter während ihrer Amtszeit langfristig irreversible Fakten schaffen (Zuteilung öffentlicher Posten an die Parteien über Jahre, z.B. die Ernennung von politischen Beamten auf Bundes- und Landesebene sowie in kommunalen Behörden, Runclfunkräten usw .) und sich so den Zugang zu Machtpositionen auf Dauer sichern (siehe z.B. Scheuch 1992, Der Spiegel, 26, 1998). Richard Katz und Peter Mair haben dieses Argument in einem Artikel veröffentlicht (1995), der eine überarbeitete Fassung des 1992er Papiers ist. Das o.g. Zitat ist in dem Artikel zwar nicht mehr enthalten, sinngemäß blieb die Aussage aber bestehen (1995: 201).

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voreilig, es sei denn, man beschränkt sich allein auf die Frage der Mitgliederstärke bzw. die Bedeutung der Mitglieder als finanzielle bzw. elektorale Ressource. Die Frage ist, wie sich- ungeachtet aller Mitgliederverluste seit Mitte der 1980er Jahre- die anderen Organisationsmerkmale der westdeutschen Volksparteien präsentieren. Zweifellos verlieren beide Parteien massiv an organisierter Unterstützung und damit auch ein charakteristisches Merkmal der Volkspartei (genauer Kap. 9). Allerdings ist es unwahrscheinlich anzunehmen, die heutigen Parteiorganisationen könnten sich zu reinen Kader- oder Rahmenparteien ,,zurückentwickeln", wenngleich sie, wie in Tabelle 1.4.1 gesehen, wieder stärker Merkmale "älterer" Organisationstypen aufweisen (z.B. Kandidatenorientierung). Aber die Organisationsform einer Partei ist weit mehr als nur der Versuch, mit Hilfe der auf soziale und institutionelle Bedingungen hin optimierten Organisation, Wählerstimmen zu maximieren. Außerdem haben einmal erreichte Organisationsstandards, wie eine große Mitgliedschaft, eine flächendeckend präsente lokale Organisation, die Existenz innerparteilicher Gliederungen oder ideologische Verpflichtungen gegenüber einer bestimmten Klientel eine gewisse Persistenz (Müller 1997: 308). Möglich ist jedoch, daß iq. Parteien in Abhängigkeit äußerer wie innerer Faktoren Organisationsmerkmale eines älteren Typs wieder auftauchen, sich mit neuen Merkmalen überlappen und sich Mischformen zwischen den hier skizzierten Typen bilden. So. zeigte beispielsweise Stephen Padgett (1996) in einem kurzen Überblick über die Entwicklung von SPD und CDU in den alten Bundesländern, daß sich innerhalb der Organisationen gewisse Schwerpunkte verlagert haben, die ihren heutigen Charakter jedoch nicht in Frage stellten12 . Das heißt, empirisch gesehen ist keine zeitgenössische Partei nur ideale Rahmenorganisation, Massenintegrations-, Allerwelts- oder wahl-professionelle Partei im hier skizzierten Sinne (s. z.B. Mintzel1983: 275, Koole 1996: 521, Panebianco 1988: 266). Statt dessen ist davon auszugehen, daß real existierende Parteien, wie jene, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, Elemente der hier umrissenen Organisationstypen-in unterschiedlicher Ausprägung- in sich vereinen (z.B. Müller 1996: 326), beispielsweise als mitgliederstarke Verbände mit dauerhaft aktiven lokalen Verbänden und innerparteilichen Vereinigungen Merkmale der klassischen Massenpartei zeigen, mit einer sozial heterogenen Mitglied- und Wählerschaft, klassen-oder schichtübergreifenden Mobilisierungsbemühungen ebenso Kennzeichen der Allerwelts- bzw. Volkspartei aufweisen und mit Steigerungen der Wahlkampfausgaben s.owie der Beschäftigung eigener und nichtparteilicher Wahlkampfexperten schließlich auch über Merkmale der wahl-professionalisierten Organisation verfügen. Neben der zentralen Problemstellung dieser Arbeit ergeben sich für die Organisation der großen Parteien in der Bundesrepublik folgende Fragen: Stehen Mitglieder12 Die Frage, um welche Organisationstypen es sich bei den westdeutschen SPD- und CDU- Verbänden heute handelt, steht im Mittelpunkt der folgenden Kapitel (s. dazu Kapite12, 5, 6 und 9).

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verluste und Wahlkampfprofessionalisierung in einem Verhältnis, d.h. folgt aus dem vorhergesagten Trend zur Professionalisierung der innerparteilichen Arbeit, hauptsächlich der Wahlkampfführung, ein weiterer Bedeutungsverlust der Mitgliederbasis und umgekehrt? Wenn ja, wird dort, wo die Bedeutung der Mitglieder als elektorale Ressource weiter fällt, die Partei wieder verstärkt von einzelnen Persönlichkeiten kontrolliert und repräsentiert? Ist in den alten Ländern angesichts permanenter Mitgliederverluste ein Abschied von der Massenintegrationspartei zu verzeichnen? Wie sind Parteien, die entweder immer mehr organisierte Anhänger verlieren oder möglicherweise erst gar keine Massenbasis erreichen, heute, eine Dekade nach der deutschen Vereinigung typologisch einzuordnen? Können SPD und CDU in Ostdeutschland als wahlprofessionalisierte Rahmenverbände gekennzeichnet werden? Meßbar wäre das, wie oben gesagt, an der Verwendung des zur Verfügung stehenden Budgets für Wahlkampfführung und Öffentlichkeitsarbeit in Relation zu den anderen Organisationsstrategien. Weitere Kriterien, die es rechtfertigen würden, Parteien als Rahmenverbände zu charakterisieren, wären im Anschluß an die von Duverger genannten Merkmale, eine geringe Mitgliederstärke, vergleichsweise schwach entwickelte lokale Parteistrukturen sowie ein meßbares Übergewicht entweder einzelner Amtsinhaber oder der Parlamentarier gegenüber den Organen der Parteiorganisation (z.B. Parteitage als Repräsentationsorgane des Mitgliederverbands, Programme, Parteivorstände als innerparteiliche · Institutionen) innerhalb der innerparteilichen Entscheidungsprozesse. Mit anderen Worten: ideale wahl-professionalisierte Rahmenparteien wären mitgliederschwache Verbände mit einem geringen Interesse am Ausbau der Mitgliederorganisation und mit gering entwickelter lokaler Infrastruktur, die von einzelnen Amtsinhabern oder den Abgeordneten kontrolliert werden, die sich primär auf die Wählermobilisierung konzentrieren und dafür die Unterstützung von marktorientierten Experten in Anspruch nehmen. Auf die zum Teil höchst unterschiedliche Entwicklung der Parteiorganisationen von SPD und CDU in West- und Ostdeutschland werde ich in den zwei folgenden Abschnitten näher eingehen. Um für die anschließemje Untersuchung der Organisationsentwicklung der Parteien seit der deutschen Vereinigung die Ausgangssituation darzustellen, steht dabei die Frage im Vordergrund, ob und inwieweit die empirischen Merkmale der Parteiorganisationen mit den hier genannten korrespondieren; d.h. um welche Organisationstypen es sich bei den westdeutschen Parteien handelt, zu denen sich - unter der Annahme einer konvergenten Entwicklung - die Parteien in den neuen Ländern entwickeln könnten.

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2. Organisationsentwicklung von SPD und CDU in den alten Bundesländern Der Blick auf die Organisationsentwicklung von SPD und CDU in den alten Bundesländern zeigt, daß beide Parteien verschiedene Organisationsstufen "durchliefen", die mit den in Kapitel 1 skizzierten Organisationstypen z.T. deutlich korrespondieren. Am Vorabend der deutschen Vereinigung präsentierten sich beide als Volksparteien mit (langsam erodierender) Massenbasis, sozial heterogener Mitglied- und Wählerschaft, vergleichsweise stark entwickelten lokalen Verbänden, miteinander um Einfluß konkurrierenden Ebenen, gleichzeitig aber auch mit einem Trend in Richtung Wahlprofessionalisierung. In diesem Kapitel fasse ich kurz die Organisationsentwicklung beider Parteien zusammen, stelle die charakteristischen Merkmale ihrer Parteiorganisation vor und benenne wichtige Gründe für die Wandlungen ihrer Organisationsform. 2.1 Die westdeutsche SPD Nach ihrer Wiederzulassung im Mai 1945 knüpften die Sozialdemokraten zunächst in bezug auf ihre Parteiorganisation, ihre Führung, die Anhängerschaft sowie die programmatischen Grundlagen an Vorkriegstraditionen an und etablierten in den Westzonen bzw. der späteren Bundesrepublik eine Arbeiterpartei mit Massenbasis. Unter dein Vorsitz Kurt Schumachers organisierte die Partei 1947 weit über 800.000 Mitglieder, darunter hauptsächlich Industriearbeiter, derenL Anteil an der Mitgliedschaft bei knapp 50% lag (Krebs 1996: 39). Die SPD galt unbestritten als Massenpartei mit Klassenbasis, als Fortsetzung der sogenannten "Solidargemeinschaft" Weimarer Tradition (Lösche und Walter 1992, Kolinsky 1993). Tabelle 2.1.1 Mitgliederentwicklung in der SPD 1946 - 1990 Mitglieder Jahr 711.448 1946 683.896 1950 589.051 1955 649.578 1960 710.448 1965 820.202 1970 998.471 1975 986.872 1980 916.386 1985 921.000 1989 919.000 1990" Quellen: SPD-Parteivorstand (1990), Braunthai (1994: 71), Scarrow (1996: 57) • nur SPD (West)

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Die Parteiorganisation wies neben der vergleichsweise großen Mitgliederzahl und einem Übergewicht der Arbeiter unter den organisierten Anhängern weitere deutlich Merkmale einer Massenpartei auf Klassenbasis auf. Das Machtzentrum lag fest in den Händen der Bonner Parteizentrale, die Bundestagsfraktion spielte eine eher untergeordnete Rolle in der innerparteilichen Hierarchie und war im Grunde genommen ausführendes Organ der von der Zentrale herausgegebenen Weisungen. Die lokalen Verbände der Partei jedoch, hier vor allem die Bezirke, deren Grenzen den preußischen Regierungs- bzw. den sogenannten ,,Agitationsbezirken" der SPD in der Weimarer Republik nachempfunden waren, genossen von Beginn an ein recht hohes Maß an Handlungsselbständigkeit, beispielsweise in Fragen der Höhe der Mitgliedsbeiträge oder der Personalrekrutierung. Den Bezirken standen besoldete Parteisekretäre vor, die in der Regel in der Partei sozialisiert wurden und ihre Qualifikation hauptsächlich über langjährige Mitgliedschaft und Treue zur Partei erworben haben. Diese Sekretäre waren ,,Parteisoldaten" im klassischen Sinne, die innerparteilich über hohes Ansehen und auch relativ hohen Einfluß verfügten. NachPeterLösche und Franz Walter (1992: 175 -84) handelte es sich bei der SPD in den Anfangsjahren der Bundesrepublik um eine zentralistisch organisierte Partei mit festen Wurzeln in der Arbeiterschaft und einem Hang zur "Verapparatung und B ürokratisierung". Die SPD verfügte zwar im Vergleich zur CDU über die stärkere Organisation, w~mit neben der hohen Mitgliederdichte auch die der lokalen Parteiverbände und eine hohe innerparteiliche Disziplin gemeint ist. Dennoch erwiesen sich weder die Struktur ihrer Organisation noch ihr programmatisches wie inhaltliches Erscheinungsbild als leistungsfähig genug, Wähler in dem Maße zu mobilisieren, um die angestrebten Mehrheiten im Bund zu erreichen. Während die Bundesregierung unter Kanzler Adenauer mit ihrem klaren Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft sowie zur Westintegration ganz offensichtlich die Interessen der Mehrheit der Wähler repräsentierte und die Unionsparteien zwischen 1949 und 1957 dreimal in Folge die Bundestagswahlen gewinnen konnten, 1957 sogar die absolute Mehrheit erreichten, blieben die Sozialdemokraten an der 30%-Marke stehen. Für das relativ schwache Abschneiden der SPD in den Bundestagswahlen von 1949 - 1957 wurden in der Literatur drei wesentliche Gründe genannt. Erstens repräsentierten die Unionsparteien im Gegensatz zur SPD die mehrheitsfähigen Themen, wobei CDU/CSU vom sogenannten Nachkriegskonsens der Bevölkerung profitierten. Zum anderen verlor die SPD, die sich primär als Partei der Industriearbeiterschaft mit einem ideologischen Fundament darstellte, mehr und mehr ihre Basis. Im Zuge technologischen Fortschritts sowie der Entwicklung des Keynesianischen Wohlfahrtsstaates (KWS) veränderte sich die Sozial- und Berufsstruktur der Bevölkerung und damit auch die Art der Politiknachfrage (s. z.B. Merke! 1993: 24-7). Mit dem Ausbau des KWS wuchs einerseits der allgemeine Lebensstandard - auch der der Arbeiterklasse 34

andererseits stieg die Zahl Angestellten in Verwaltung, öffentlichem Dienst und Dienstleistungsberufen, während der Anteil der Industriearbeiter, bis dahin die "natürliche" Anhängerschaft der Sozialdemokratie, kontinuierlich abnahm. Zwischen 1950 und 1990 sank der Anteil der Arbeiter an der erwerbstätigen Bevölkerung von 51% auf gut 37%; im gleichen Zeitrum stieg der Anteil der Angestellten und Beamten von 21% auf knapp 52% (s. Abb. 2.1.1). Abbildung 2.1.1 Berufsstruktur in der Bundesrepublik 1950- 1990

80 60 40 20 Angest./Bea.

0

1950

1961

1970

1985

1990

• Arbeiter

Quellen: Krebs (1996: 39); Statistisches Jahrbuch (1992: 114), Angaben für 1990 nur alte Bundeslän-

der

Unter diesen Bedingungen galt drittens die programmatische Orientierung der SPD, v.a. ihre ideologischen Grundlagenangesichts der mehr und mehr schrumpfenden Basis der Industriearbeiterschaft und veränderter politischer Präferenzen der potentiellen Klientel als historisch überholt. Durchbruch zur Volkspartei: Merkmale und Konsequenzen In Anbetracht dieser Entwicklung sowie unter dem Eindruck drei er Wahlniederlagen in Folge wuchs in der Partei der Druck nach Reformen. Hierbei standen besonders zwei Dinge im Vordergrund. Erstens ging es darum, die Partei für eine sich von traditionellen Klassenbindungen lösende Anhängerschaft sowie die neue Mittelschicht zu öffnen. Voraussetzung dafür war, daß sich die SPD von den programmatischen Grundlagen des Marxismus löste. Mit der Verabschiedung des Godesberger Programms 1959 markierten die Sozialdemokraten diese Öffnung. Sie bekannten sich darin zu den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie, akzeptierten die Prinzipien einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung unter der Bedingung einer sogenannten "mixed economy", welche die Kräfte des Marktes mit Hilfe gemischter Eigentumsverhältnisse, d.h. privatem ebenso wie öffentlichem Unternehmenseigentum und staatlicher Wirtschaftslen35

kung zügeln sollte. Darüber hinaus verabschiedeten sich die Sozialdemokraten von ihrer oppositionellen Haltung gegenüber der Bundeswehr, NATO-Mitgliedschaft und Westbindung der Bundesrepublik und schwenkten so mit Blick auf die Mobilisierung einer sozial wie politisch weiter gefächerten Wählerschaft auf einen programmatischen Kurs ein, der in der Literatur als "Logik des Machterwerbs und ideologischer Mäßigung" bzw. "Wahl zwischen reiner Lehre und Koalitions- und Mehrheitsfähigkeit" beschrieben wurde (Merke! 1993: 12, Braunthai 1996: 71-2, Mintzel 1983: 32-4, 227). Zweitens waren führende Bundestagsabgeordnete der SPD darum bemüht, die eher pragmatisch orientierte Fraktion gegenüber dem Parteiapparat und besonders gegenüber der Parteizentrale zu stärken, die bis dahin eine dominierende innerparteiliche Steilung innehatte. Diese ersten Modemisierungsbemühungen wurden zu Beginn der 60er Jahre mit einem Anstieg der Mitgliederzahlen sowie einer deutlichen Verbesserung des Bundestagswahlergebnisses belohnt. Gegenüber der Bundestagswahl 1957 stieg das Wahlergebnis der SPD 1961 um 4.5% auf 36.2% und erreichte 1965 mit 39.3% das bis dahin beste Ergebnis. Gleichzeitig stiegen die Mitgliederzahlen zwischen 1960 und 1965 von 650.000 auf 710.000. Innerhalb der Parteiorganisation verschob sich, trotz Mitgliederzuwachs, mit dem ein Bedeutungszuwachs der Mitgliederorganisation hätte verbunden sein können, das Gewicht tendenziell von der Zentrale in die Bundestagsfraktion. Gleichzeitig begann die bis dahin außerordentlich bedeutsame Position der Parteisekretäre in den Bezirken und Unterbezirken zu erodieren. Diese wurde mehr und mehr durch Geschäftsführer ersetzt, die zwar auf die Koordinierung und Verwaltung einer Massenorganisation trainiert waren, jedoch nicht mehr über das politische Gewicht der altgedienten Sekretäre verfügten (Lösche/Walter 1992: 186-88). Mit der innerparteilichen Machtverschiebung von der Parteizentrale in die Parlamentsfraktion(en) sowie der Ersetzung der Sekretäre durch Geschäftsführer adressieren Lösche und Walter Prozesse in der SPD, die Mitte der 60er Jahre angestoßen wurden und über zwei Jahrzehnte fortdauerten. Die Partei erlebte eine "Parlamentarisierung", die Verjüngung und Akademisierung der Funktionäre und Kader, die in der Regel in der Regel über einen hohen Bildungsabschluß verfügten, sowie eine "Verbürgerlichung" innerhalb und außerhalb der Organisation. Während die SPD bis in die späten 50er Jahre noch klar eine Partei mit festen Wurzeln in der Industriearbeiterschaft war, integrierte sie immer mehr Angestellte und Beamte und näherte sich in bezug auf das Integrationsprofil ihrer Mitglieder mehr und mehr an den Bevölkerungsdurchschnitt im Lande an. In Verbindung mit Abbildung 2.1.1 veranschaulicht die folgende Tabelle (Tab. 2.1.2) den Wandel der Sozialstruktur sowie die Zunahme der sozialen Heterogenität der SPD-Mitglieder im Zeitverlauf.

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Tabelle 2.1.2 Berufsstruktur der SPD-Mitglieder Stellung im Erwerbsleben 1952 1966 1975 1981 Arbeiter 45 28 32 27 Angestellte* 25 17 24 19 Beamte 10 10 5 8 5*** 5*** Selbständige** 4 14 Rentner 12 11 9 18 Hausfrauen 12 7 16 10 in Ausbildung**** k.A. 1 8 8 alle Angaben in Prozent, fehlende Werte bis 100% =keine Angaben * im privaten sowie im öffentlichen Sektor ** inklusive Landwirte *** ohne Landwirte ****Lehrlinge, Schüler und Studenten Quelle: Braunthai (1994: 75), Krebs (1996: 42)

1991 25 26 10.6 4.2 9 11.8 8.2

Wenngleich der Wandel der SPD von der Arbeiter- zur Volkspartei die Anpassung an veränderte Umweltbedingungen verdeutlicht, war die Partei auch bei den Wahlen 1965 nicht siegreich und blieb in der Opposition. Erst mit Eintritt in die Große Koalition 1966-69, in der die Partei ihre seit langem reklamierte Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen konnte und besonders nach der Regierungsübernahme 1969 zeitigten die Modemisierungs- bzw. Adaptionsbestrebungen in der Partei länger anhaltende Erfolge. Auf der einen Seite festigte sich das Entscheidungszentrum in der Fraktion .sowie im nun zugänglichen Regierungsapparat. Dieser übernahm mehr und mehr Aufgaben, die vormals der Parteizentrale zukamen, beispielsweise Wahlkampfführung und -Organisation. Auf der anderen Seite flori_erte jedoch auch die außerparlamentarische Organisation der Partei. Diese hatte zwar in Relation zur Bundestagsfraktion sowie den Regierungsmitgliedern an Gewicht verloren, spielte aber hinsichtlich der Mitgliederintegration sowie als "rückwärtige Kolonne" für die Partei in Parlament und Regierung eine wichtige Rolle. Die Zentrale übernahm mehr und mehr Verwaltungsund Koordinierungsaufgaben zwischen den Gliederungen sowie - neben Fraktion und Regierung - die Öffentlichkeitsarbeit und wandelte sich zu einer sogenannten innerparteilichen "Dienstleistungsagentur". Die Parteizentrale beschäftigte nicht nur interne Spezialisten mit der Wahlkampforganisation und -durchführung, sondern bediente sich auch zunehmend der Dienste gewerblicher Agenturen in Vorbereitung der Wahlen bzw. Vermarktung ihrer Spitzenvertreter und errichtete neben der Abteilung 'Öffentlichkeitsarbeit' eine weitere Abteilung 'Massenmedien' (Krebs 1996: 55). Gleichzeitig wurde die Organisation der Parteizentrale gestrafft, Fachabteilungen gegründet und mit dem Bundesgeschäftsführer eine zentrale Koordinierungs- und Managementinstanz ins Leben gerufen. Die SPD zeigte erste Merkmale der Professionalisierung im Sinne der oben skizzierten wahl-professionellen Partei.

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Zwischen 1970 und 1975 stieg die Mitgliederzahl auf fast eine Million. Der Mitgliederzuwachs ist jedoch nicht allein auf anhaltende Integrationsbemühungen von seiten der Partei zurückzuführen, sondern wurde- ähnlich wie innerhalb der CDUvon einer Verschärfung der Konkurrenzintensität zwischen den großen politischen Lagern sowie einer generellen ,,Politisierung" begünstigt!. Mitte der 70er Jahre hatte die SPD ein organisatorisches Stadium erreicht, das - mit Blick auf die eingangs diskutierten Organisationstypen-eine Mischung aus Massen-, Volks- und wahl-professionellen Partei darstellte. Mit gut einer Million Mitglieder aus nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen verfügte die Partei über eine außerordentlich große Mitgliedschaft und präsentierte sich unbestritten als Massenorganisation, in der die Parteizentrale, trotz ihres tendenziellen Machtverlusts, weiterhin innerparteilichen Führungsanspruch reklamierte. Darüber hinaus war die SPD als Mitgliederorganisation im ganzen Land organisatorisch präsent, d.h. sie verfügte über ein flächendeckendes Netz an permanent aktiven lokalen Parteiorganisationen. Die Entwicklung der SPD zur "professionalisierten Volkspartei mit Massenbasis" war allerdings nicht frei von Kosten. Denn mit der Vergrößerung der Mitgliedschaft, v .a. aber mit der gewachsenen sozialen Heterogenität der Mitglieder stieg gleichfalls das innerparteiliche KonfliktpotentiaL Seit den späten 60er Jahren war die SPD nicht mehr die ideologische Repräsentanz der Arbeiterklasse, die sich als solche ohnehin mehr und mehr auflöste, sondern verband Anhänger der APO, Vertreter der sogenannten "neuen Mittelschicht", d.h. Angestellte des privaten Sektors ebenso wie des öffentlichen Dienstes, Beamte und andere Berufs- bzw. soziale Gruppen unter dem Dach ihrer Organisation. Dieses Konfliktpotential äußerte sich unter anderem in den Auseinandersetzungen innerhalb und zwischen den innerparteilichen Arbeitsgemeinschaften (s. Braunthal1994: Kap. 4). Diese wurden zwar ursprünglich initiiert, um Angehörige verschiedener sozialer Gruppen (z.B. junge Menschen, Frauen, Selbständige, Arbeiter) an die Partei zu binden, doch angesichts der sozialen und politischen Heterogenität der in die Arbeitsgemeinschaften strömenden SPD-Anhänger stieg der Grad an innerparteilicher Fragmentierung, v.a. aus der potentiellen Frontstellung zwischen Intellektuellen, die in der AG ,,Jungen Sozialisten" dominierten und den Angehörigen der "alten" sozialdemokratischen Klientel, den Industriearbeitern.

Diese Politisierungswelle - für politische Kultur-Forscher geradezu ein Erwachen der aktiven Zivilgesellschaft - war Folge einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Ereignissen, die von der Studentenbewegung 1968 und dem Aufleben der Außerparlamentarischen Opposition bis hin zur Aufbruchstimmungangesichts Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen", dem gescheitMen Mißtrauensvotum Rainer Barzels gegen den Kanzler oder der Solidarität mit der Außenpolitik der Bundesregierung- bzw. heftiger Opposition dagegen- reichten (s. z.B. Schmitt 1992: 162).

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Tabelle 2.1.3 Arbeitsgemeinschaften der SPD -Junge Sozialistinnen und Sozialisten (Jusos) - Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) - Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (ASF) - Arbeitsgemeinschaft der Selbständigen -Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen (ASJ) -Arbeitsgemeinschaft für Bildungspolitik (AfB) - Arbeitsgemeinschaft "60 plus" Darüber hinaus behaupteten die Gebietsverbände, v.a. die Bezirke und Unterbezirke der Partei sowie einige Landesverbände ihr innerparteiliches Gewicht. Das stärkte zwar die politische Präsenz der Partei in der lokalen Gesellschaft. Dauerhaft aktive Parteiverbände vor Ort gelten als wichtige Voraussetzung für den politischen Erfolg, nicht nur bei Wahlen, sondern sind auch als Ort der politischen Bildungsarbeit von hoher Bedeutung. Außerdem sind es die lokalen Gliederungen, die im unmittelbaren Kontakt zu den (potentiellen) Anhängern stehen; sie betreiben die Mitgliederwerbung und -Verwaltung, die Wahlkampfführung und repräsentieren die Partei in der jeweiligen lokalen Gesellschaft. Die gegenüber der CDU komplexere Organisationsform der SPD, die aus Ortsverbänden, Unterbezirken, Bezirken, Landesverbänden und schließlich dem Bundesverband besteht, barg jedoch ohnehin Konfliktpotential von miteinander um innerparteilichen Einfluß konkurrierenden Ebenen. Mit der Zunahme der sozialen Heterogenität der Anhängerschaft sowie der anhaltend starken Stellung der Subgliederungen stieg das Ausmaß an Organisationskomplexität der SPD weiter an. Die Organisation der Sozialdemo.krraten wurde angesichts der gestiegenen innerparteilichen Fragmentierung seit ihrem Wandel von der klassischen Arbeiter- zur Volkspartei als "lose verkoppelte Anarchie" bezeichnet (Lösche und Walter 1992, Lösche 1997, siehe auch Kapitel 6 in dieser Arbeit). Diese Organisationspraxis ist davon gekennzeichnet, daß verschiedene Organisationsebenen (z.B. Parlamentsfraktion vs. Parteizentrale, Gebietsverbände vs. Parteizentrale, Arbeitsgemeinschaften untereinander usw.) um innerparteilichen Einfluß und Entscheidungsbeteiligung konkurrieren, darüber hinaus durch eine Vielfalt angestrebter Ziele, informellen Interaktionen zwischen den Akteuren, die - mit Charles Lindbiom (1959) - eher den ad hoc-Charakter eines "muddling through" haben als Ausdruck planvollen bzw. rational-effizienten Handeins sind.

Organisationsentwicklung seit den 80er Jahren Mit Beginn der 80er Jahre war das innerparteiliche Leben der SPD vor allem durch strategische und personelle Auseinandersetzungen geprägt. Schon vor dem Zerfall der sozialliberalen Koalition im Herbst 1982 kam es zu Verwerfungen zwischen Regierung 39

und Partei, namentlich zwischen Kanzler Schmidt, dem Arbeitnehmerflügel sowie der (innerparteilichen) Ökologie- und Friedensbewegung (Lösche und Walter 1992: 96-7, Krebs 1996: 108-9). Gleichzeitig verlor die Partei sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene Stimmanteile2 und - trotz aller Versuche neue Anhänger zu integrieren (z. B. Scarrow 1996: 62 und Anm. 16)- an Mitgliederstärke (s. Tabelle 2.1.1). Für die abnehmende Anziehungskraft der SPD lassen sich primär drei Gründe nennen. Erstens litt die SPD unter der anhaltenden Auflösung der Beziehung zu ihrer Stammanhängerschaft. Im Zuge der wohlfahrtsstaatliehen Entwicklung der Bundesrepublik nahm nicht nur die vormals dauerhafte Unterstützung sichemde ideologische Bindung der Arbeiter an ihre Partei ab, gleichzeitig sank auch die Notwendigkeit für den einzelnen, via Parteimitgliedschaft für die Verbesserung der materiellen Lebenssituation einzutreten (s. Katz 1990). Elmar Wiesendabi (1992) hat in diesem Zusammenhang von einer Tendenz zur "Entideologisierung" und ,,Entpolitisierung" in der Gesellschaft gesprochen, die sich in sinkenden Mitgliederzahlen der großen Parteien widerspiegeln kann. Zweitens änderten sich die Muster der Politiknachfrage von seiten der Anhängerschaft. Standen bis Ende der 60er Jahre vor allem Fragen nach materieller Existenzsicherung, permanenten Wirtschaftswachstums oder der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung im Vordergrund, orientierten sich die Bürgerinnen und Bürger mit Themen wie Entmilitarisierung, Schutz der Umwelt, direkte Partizipation, Gleichstellung zwischen Frauen und Männem u.a. stärker an Fragen, die in traditionsbewußten Massenparteien weniger leicht umsetzbar sind. Bürgerbewegungen (single issueBewegungen) erwiesen sich hier als leistungsfähiger, diese Themen aufzunehmen. In Verbindung mit der sinkenden Parteiidentifikation der potentiellen Anhängerschaft gilt ihr Aufleben seit den späten 70er Jahren als eine der Hauptgründe für die stagnierenden Mitgliederzahlen in den traditionellen Massenparteien (s. Kitschelt 1990). Darüber hinaus gelang es den Grünen verstärkt, in sozialdemokratische Lager einzudringen und insbesondere Jungwähler für sich zu mobilisieren (Schmitt 1992, Roth 1995). Elmar Wiesendabi argumentierte, daß die Organisationsform der Massenpartei angesichts einer " ... politisch interessierten ... Aktivbürgerschaft, die sich mit ihrer Kompetenz, Informiertheit, ihrem Selbstbewußtsein und Einflußstreben nicht mehr disziplinieren und führen lassen will und das Selbstverständnis als 'Parteisoldaten' abgelegt hat ... "

2 Die SPD erreichte bei den Bundestagswahlen 1980 42.9% der Stimmen, 1987 war dieser Anteil auf 37% gefallen. In den Ländern sank der SPD-Stimmenanteil im gleichen Zeitraum von 44.6% auf38.5%.

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immer weniger in der Lage ist, den veränderten Partizipationserwartungen besonders der jüngeren Bevölkerung zu entsprechen (1992: 13). Ähnlich argumentierten auch andere Autoren (z.B. Veen 1992, Rüttgers 1993, Rieger 1994). Sie alle hoben hervor, daß Massenparteistrukturen und ritualisierte Vorgänge in traditionellen Großparteien, wie z. B. ein strategischer Immobilismus der alten Kader, die viel zitierte "Ochsentour" durch die innerparteilichen Gremien oder - insbesondere von seiten der akademischen Forschung ausgemachte- Mängel an innerparteilicher Demokratie (z.B. Niedermayer 1989), jüngere, sowie an der Lösung punktueller Probleme interessierter Bürgerinnen und Bürger von organisierter Unterstützung in Massenparteien eher abhalten. Der dritte Grund für die sinkenden Mitgliederzahlen und Stimmenanteile der SPD während der 1980er Jahre liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung und deren arbeitsmarktdemographischen Konsequenzen. Die wirtschaftliche Entwicklung seit den 80er Jahren ist durch Zunahme des internationalen Wettbewerbs, gestiegene Kapitalmobilität, Internationalisierung der Produktionsprozesse sowie durch weitere Schrumpfung des industriellen Sektors bei gleichzeitigem Wachstum des sogenannten Dienstleistungssektors gekennzeichnet. Eine Folge davon ist, daß nicht nur die klassische Basis der Sozialdemokratie, Industrie- bzw. sogenannte ,,Blue-collar-Arbeiter", immer kleiner wird, sondern auch, daß innerhalb ihrer anderen Kerngruppe, den abhängig beschäftigten Arbeitnehmern, politische Präferenzen immer heterogener werden. Zum einen aufgrund der unterschiedlichen beruflichen Stellung·der abhängig beschäftigten Arbeitnehmerschaft, zu der neben (blue collar) Arbeitern mit unterschiedlicher Qualifikation, Angestellte mit den unterschiedlichsten Abschlüssen und Einkommensgruppen und schließlich auch Angehörige der 'technischen Intelligenz' (Ärzte, Lehrer, Verwaltungsangestellte mit Hochschulabschlüssen etc.) gehören. Zum anderen, weil sich allein die Tatsache, abhängig beschäftigt zu sein, nicht länger "automatisch" in Unterstützung für sozialstaatlich-redistributive Politik übersetzt. Unter diesen Bedingungen definieren sich Arbeitnehmer immer weniger als solche, sondern über ihre Position auf dem Arbeitsmarkt. Das heißt, wichtig wird hier, in welchem Sektor (international operierender oder einheimisch operierender Sektor, produzierender oder Dienstleistungsbereich, privater oder öffentlicher Sektor) sie beschäftigt ~ind. Daraus folgt, daß es für die Erklärung ihrer politischer Einstellungen nicht länger möglich ist, sie als homogene Gruppe zu betrachten und als eine Wähler- oder Mitgliederzielgruppe anzusprechen. Unter der Annahme, daß Arbeitnehmer polit-ökonomischen Strategien unterstützen, von denen sie annehmen, diese garantieren ihnen in Zukunft ein hohes und v .a.' sicheres Einkommen, argumentiert Kitschelt (1994a: 15-6), daß Beschäftigte in privaten, international operierenden Sektoren generell marktfreundlichere Strategien der (nächsten) Regierung bevorzugen, die die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Branche weiter stärken (z.B. Lockerung tariflich geregelter Arbeitsbeziehungen, Schaffung von In41

vestitionsanreizen für einheimisches wie internationales Kapital durch Steuervergünstigungen). Demgegenüber präferieren Beschäftige jener Sektoren, die entweder dem internationalen Wettbewerb nicht in dem Maße ausgesetzt sind oder von staatlichen Subventionen abhängen (Öffentlicher Dienst, Einzelhandel, oder personenbezogene Dienstleister wie z.B. die Post oder die Bahn) weiterhin protektionistische bzw. expansive öffentliche Strategien, weil sie schlimmstenfalls die mit expansiven öffentlichen Leistungen verbundenen Steuererhöhungen leichter als private Dienstleister oder international operierende Branchen durch Preiserhöhungen an die Kunden weitergeben können. Für die SPD entstand angesichts der eben skizzierten Prozesse ein bekanntes wahlstrategisches Dilemma (z.B. Patersan 1986: 144). Nach Kitschelt (1994a: 32) verschob sich die Verteilung der Wählerpräferenzen entlang der Hauptachsen des politischen Wettbewerbs in Richtung des libertären Pols (Themen, wie sie von den Grünen oder den Bürgerbewegungen aufgenommen wurden, s.o.) auf der einen Seite sowie in Richtung marktbejahender Positionen auf der anderen. Obwohl gerade der parlamentarisch operierenden Sozialdemokratie sogenannte "electoral Irade offs" nicht fremd sind (s. Przeworski 1985, Przeworski und Spraguel986), entwickelte sich die Suche nach einem Integrationskonzept, welches sowohl Angehörige der technischen Intelligenz (im privaten wie im öffentlichen Sektor) als auch unterschiedlich qualifizierte Industriearbeiter (im einheimisch produzierenden wie in international operierenden Bereichen) erreicht, zum brisantesten Problem der SPD. Ein umfassendes Integrationskonzept zu finden, war bzw. ist sowohl eine strategische als auch eine organisatorische Frage. Mit einer stärkeren libertären Orientierung hätte die SPD in den 1980em potentielle Sympathisanten der Grünen zurückgewinnen können, jedoch um die Gefahr, die Unterstützung ihrer traditionellen Klientel zu verlieren, die sich nach wie vor stärker an autoritären Themen (starker Staat, innere Sicherheit, restriktive Einwanderungspolitik) orientierte. Das gleiche galt für die ökonomische Profilierung der Partei. Eine programmatische Orientierung auf verbesserte Investitions- und Verwertungsbedingungen des einheimischen wie internationalen Kapitals oder den Abbau defizitfinanzierter öffentlicher Leistungen hätte der SPD eventuell mehr Unterstützung aus der technischen Intelligenz und der privaten mittelständischen Wirtschaft bringen können, barg jedoch das Risiko, den Zuspruch derer zu verlieren, die von einer liberalen Wirtschaftspolitik nicht profitieren (s. Kitschelt 1995)3. 3 Tatsächlich verlor die SPD in den 80er Jahren die Unterstützung männlicher Jungwähler mit geringer Berufsqualifikation, aber auch die von Facharbeitern in wirtschaftlich prosperierenden Regionen (z.B. in Baden-Württemberg), die in das Lager der Rechtswähler wechselten (z.B. Roth 1990, infas 1992, Feist 1992), wenngleich hervorgehoben werden muß, daß hierbei nicht allein ökonomische Aspekte eine Rolle spielten. In Anbetracht der Wahlerfolge der Republikaner sowie der DVU zwischen 1989 und 1992 wurden von der· Wahlforschung neben der Fragmentierung des Arbeitsmarktes hauptsächlich die Mobilisierung sogenannter 'Modernisierungsopfer' sowie Befürchtun-

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Voraussetzungen für eine erfolgreiche Anpassung an veränderte soziale wie ökonomische Rahmenbedingungen sind innerhalb der Parteiorganisation, daß die Parteiführung (die erst einmal über die Notwendigkeit solcher Adaptionen einig sein muß), ein relativ hohes Maß an strategischer Flexibilität genießt (siehe dazu Kapitel 6) und solche Anpassungen an den politischen Markt vornehmen kann. Ein Blick auf die organisatorischen Voraussetzungen der SPD gegen Ende der 80er Jahre zeigt, daß diese für eine strategisch Flexibilität der Parteiführung nur bedingt günstig waren. Zwar hat sich das innerparteiliche Machtzentrum weiter in die Parlamentsfraktion verschoben, und wurde in einem informellen Zirkel aus Angehörigen des Präsidiums, der Bundestagsfraktion sowie einzelner Landes-Ministerpräsidenten angesehen (Braunthal: 1994, Lösche/Walter 1992: 206). Gleichzeitig wurde die Parteizentrale weiter als Koordinierungsinstanz zwischen den Parteigliederungen ausgebaut, wodurch Voraussetzungen geschaffen wurden, mit denen ,,modernes" Organisationsmanagement wie auch eine effiziente Wahlkampfführung möglich wurden. Doch der Erfolg dieser Entwicklungen (hier insbesondere: effiziente Wahlkampfführung mit Blick auf die Mobilisierung neuer Wählergruppen und Wiedererlangung der Regierungsverantwortung) wurde immer wieder durch die eigene Parteistruktur, enge, z.T. ideologische Bindungen an Gewerkschaften (besonders IG Metall, ÖTV) sowie persönliche Auseinandersetzungen in der Parteiführung abgebremst. Der Ausbau der technischen Infrastruktur der Bundesparteizentrale signalisierte zwar seit den 80er Jahren eine Entwicklung der SPD in Richtung der wahl-professionellen Partei. Die Wahlkampforganisation und -führung verschob sich immer weiter in die Parteizentrale und dort insbesondere in die professionellen Agenturen (Krebs 1996: Kap. 5). Gleichzeitig stiegen, bei paralleler Zunahme des gesamten Haushaltsvolumens, auch die Ausgaben für Öffentlichkeitsarbeit und Wahlkampagnen der Bundespartei deutlich an(+ 4.2%), während die Zuschüsse an die untergeordneten Gliederungen, aus denen auch lokale Mitgliederwerbekampagnen finanziert werden, nur einen sehr kleinen Zuwachs verbuchten (+0.9%). Dennoch wurde die Schlagkraft der Parteizentrale als politisches und Wahlkampfzentrum mehrfach unterlaufen. Im Bundestagswahlkampf 1986/87 führte beispielsweise der Kanzlerkandidat der SPD, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau, seinen Wahlkampf über di~ Düsseldorfer Staatskanzlei und seinen dortigen Stab. Damit stellte er der Bonner Parteizentrale sowie der Bundestagsfraktion ein innerparteiliches Gewicht entgegen, wodurch die Wahlkampforganisation in zwei - rivalisierende - Apparate zerfiel (Krebs 1996: 151-58). Die angestrebte Effizienz der Parteizentrale als innerparteiliche Leitgen von Wählern in Großstädten und industriellen Ballungsräumen vor 'Ghettobildung' und 'Überfremdung' (sog. relative Deprivation) sowie Vertrauensverluste gegenüber den etablierten Parteien und dem politischen System im allgemeinen ('Protestwählen') als Faktoren ausgemacht, die halfen, den temporären Aufschwung rechtsextremer Parteien in der Bundesrepublik zu erklären (s. auch Leggewie 1989, Stöss 1989).

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und Schaltstelle wurde in der Folgezeit zusätzlich dadurch blockiert, daß sie, bedingt durch den mehrmaligen Führungswechsel in der Partei, mehr und mehr zum Ort personalpolitischer Auseinandersetzungen und nicht zum Führungsorgan wurde. So berief nicht nur jeder neue Parteichef eine/n neue/n Bundesgeschäftsführer/in, der/die wiederum einen eigenen Mitarbeiterstab mitbrachte4, auch wurde die innere Struktur der Parteizentrale, einschließlich der Aufgabenverteilung, immer wieder neu gegliedert (Braunthal1994: 56-8). Die organisatorische Vielfalt der SPD, angefangen vom Nebeneinander konkurrierender Macht- und Einflußzentren (informelles Machtzentrum aus Präsidiumsmitgliedem, MdB 's, Landesminister(präsidenten), Landesverbände, Bezirke, innerparteiliche Arbeitsgemeinschaften) über die Konflikte zwischen den Parteiführem, die soziale Heterogenität der Mitgliedschaft und dem oben skizzierten strategischen Repräsentationsproblem behinderte nicht nur die Entfaltung der SPD zu einer "rational-effizient" handelnden Organisation, sondern erschwerte auch die Mehrheitsfähigkeit der Partei bis Mitte der 90er Jahre. Mit Blick auf die Struktur der Organisation sowie die innerparteilichen Verfahren der SPD bleibt festzuhalten, daß sie eher einer ,)ose verkoppelten Anarchie" miteinander konkurrierender Einflußzentren entspricht, in der rational-effizientes Handeln schwer möglich ist (Lösche 1997). Bei der westdeutschen SPD handelte es sich am Vorabend der deutschen Vereinigung um eine Partei, in der Merkmale von drei der in Kapitel 1 skizzierten Organisationstypen sichtbar wurden. Mit einer Basis von weit über 900.000 Mitgliedern präsentierte sie sich zur Vereinigung als eine Massenpartei "per excellence", die neben einer noch immer außerordentlich hohen Mitgliederdichte über (mehr oder weniger) einflußreiche innerparteiliche Arbeitsgemeinschaften sowie ein dichtes, permanent aktives Netz lokaler Gliederungen verfügte. Noch Mitte der 90er Jahre definierte sich die SPD eindeutig als Massenpartei und war bestrebt, die Zahl der organisierten Anhänger zu steigern, zumindest aber zu halten. Das Organisationsverständnis der Partei äußerte sich in einem Bericht der Arbeitsgruppe "Mitgliederentwicklung", in dem es heißt: 4 Der rasante Führungswechsel innerhalb der SPD mag das illustrieren (vgl. Braunthai 1994: 104-6). Nach dem Wechsel des Parteivorsitzes von Willy Brand! auf Hans-Jochen Vogel 1987 übernahm Anke Fuchs das Amt der Bundesgeschäftsführerin von Peter Glotz. Als 1991 der Parteivorsitz auf Björn Engholm überging, wurde mit Karlheinz Blessing ein Gewerkschafter Bundesgeschäftsführer, der den "Schultersch!uß" zur gewerkschaftich organisierten Basis festigen sollte. Seine Amtszeit endete kurz nach der des Parteichefs. Es folgte 1993 das Führungsduo ScharpingNerheugen, das zwei Jahre später durch Lafontaine/Müntefering abgelöst wurde. Unter der Leitung Franz Münteferings entfaltete sich in der Parteizentrale mehr denn je die interne "Professionalisierung" ebenso die der Wahlkampfführung und Öffentlichkeitsarbeit, was u.a. die Medieninszenierungen der Mitgliederwerbekampagne "Rot steht Dir gut" (1995) bzw. die Präsentationen des im März 1998 gekürten Kanzlerkandidaten Gerhard Sehröder unter Beweis stellten.

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"Ziel ist die Stabilisierung der Mitgliedschaft bei derzeit ca. 850.000 SPDMitgliedem .... Die SPD will Mitgliederpartei bleiben und nicht zu einem bloßen Wahlkampfapparat werden, über den die hauptamtlichen und die Mandatsträgerinnen und Mandatsträger im Hinblick auf Medienwirkung verfügen" (SPD 1995: 3-5). Mit Blick auf programmatischen Orientierung zeigte die SPD darüber hinaus deutliche Merkmale einer Volkspartei. Ungeachtet der Integrationsprobleme versuchte sie, Angehörige aller Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Hinsichtlich der sozialen Gliederung ihrer organisierten Anhänger (s. Tab. 2.1.2) und ihrer Wähler sowie den Stimmanteilen (in der Regel 30%+x) entsprach sie dem Typus, wie er in Kapitel 1 im Anschluß an Kirchheimer (1965) und Schönbohm (1985: 18) definiert ist. Gleichzeitig orientierte sich zumindest die Parteispitze auf professionelle Wahlkampfführung und Öffentlichkeitsarbeit. Der Anstieg der hauptamtlich beschäftigten Mitarbeiter der Parteizentrale sowie deren Ausbau zur Koordinierungsdrehscheibe zwischen den Gliederungen der Partei, einschließlich der Beschäftigung von Marketingagenturen und -Spezialisten sowie ein Anstieg der Ausgaben für Öffentlichkeitsarbeit und WahlkampfführungS veranschaulichen die Entwicklung zur wahl-professionellen Partei (s. Krebs 1996: 153-4, s. auch Kap. 9). Welches dieser Attribute sich in der Entwicklung der Parteiorganisation fortsetzt, welches an Übergewicht gewinnt, und vor allen Dingen, welche Organisationsmuster die Partei in den neuen Bundesländern nach der deutschen Vereinigung aufweist, ist Gegenstand der späteren Untersuchung. Im folgenden Schritt geht es zunächst darum, die Organisationsentwicklung der westdeutschen CDU zu skizzieren und ihre charakteristischen Merkmale herauszustellen. 2.2 Die westdeutsche CDU Bei der CDU handelt es sich um eine Neugründung nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Die Partei war zunächst nur in den Bundesländern organisiert und verstand sich als bürgerlich-konfessionelle Sammlungsbewegung, die bestrebt war, die konfessionelle Zersplitterung der Weimarer Zeit zu vermeiden (Mintzel 1984, Kleinmann 1997). Im Unterschied zur SPD war das politische Integrationskonzept der CDU von Beginn an schichtenübergreifend angelegt. Die Partei versuchte über ein pluralistisches Wertund Weltanschauungskonzept, das katholisch-soziale, liberale, marktorientierte sowie konservative Aspekte einschloß, potentiell alle Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren. 5 Zwischen 1984 und 1989 stiegen die Gesamtausgaben der SPD von DM 197.5 Mio. auf DM 275.5 Mio. Davon entfielen 1984 DM 83.5 Mio. bzw. 42.3% auf Öffentlichkeitsarbeit und Wahlkampfführung. 1989 betrugen die Ausgaben für Öffentlichkeitsarbeit und Wahlkampfführung dann knapp DM 128 Mio. bzw. 46.5% der gesamten Ausgaben (s. Bundestag, 10. Wahlperiode, Bundestagsdrucksache 10/4104; 11. Wahlperiode, Bundestagsdrucksache 11/8130, siehe auch Kapitel 9).

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Mit Blick auf die Wählerstruktur der CDU spricht Wulf Schönbohm (1985: 16-8) davon, daß die Partei bereits kurz nach ihrer Gründung eine Volkspartei war, der es gelang, die unterschiedlichsten sozialen Gruppen (Selbständige, hier v.a. Landwirte, Angestellte, Beamte, mehrheitlich katholische Arbeiter) anzusprechen. Hinsichtlich ihrer Organisation blieb die CDU jedoch noch lange eine beinahe lupenreine Rahmenpartei. Von der lokalen Ebene bis hin zur Bundespolitik wurde die CDU allenthalben von angesehenen Persönlichkeiten repräsentiert, die ihrerseits wenig Interesse am Ausbau der Organisation signalisierten. Die Partei war als Bundesverband bis 1950 gar nicht organisiert, sie verfügte in den Anfangsjahren der Bundesrepublikwenn überhaupt - nur über eine schwach entwickelte lokale Organisation (s. Schönbohm 1985: 46), die nur in Wahlkampfzeiten aktiviert wurden, um die Spitzenkandidaten zu unterstützen und hatte eine geringe Mitgliederbasis (s. Tabelle 2.2.1). Zu den deutlichen rahmenparteilichen Strukturmerkmalen der CDU zählten neben der überragenden Stellung des Parteivorsitzenden und Kanzlers Adenauer die einflußreichen Positionen einzelner Bundes- und Landesminister und Ministerpräsidenten mit den dazugehörenden Fraktionen im Bundestag sowie in den Landtagen, welche die schwach entwickelte Basis der außerparlamentarischen Organisation kompensierten bzw. unnötig erschienen ließen. Tabelle 2.2.1 Mitgliederentwicklung in der CDU 1950- 1990

Jahr 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1989 1990.

Mitglieder ca. 200.000 ca. 215.000 ca. 230.000 288.000 330.000 590.000 693.000 719.000 663.000 655.600

Quellen: Schönbohm (1985: 83), CDU-Bundesgeschäftsstelle (1992), Scarrow (1996:

57), 'nur CDU (West)

Organisatorisch war die Partei darüber hinaus stark zersplittert. Das widerspiegelt sich u.a. in der weitgehend autonomen Stellung der Landesverbände. Bereits mehrere Jahre vor Gründung des Bundesverbandes der CDU aktiv, beharrten die Landesverbände auf ihren Autonomierechten und pflegten auch nach Gründung des Bundesverbandes Ressentiments gegenüber dem Ausbau der Bundespartei (Schmid 1990: 54-8). Da die Partei auch ohne hochentwickelte Organisation fünf Bundestagswahlen in Folge (1949- 65) gewinnen und somit das politische Geschehen in der Bundesrepublik maß-

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gehlich bestimmen konnte, sahen ihre Repräsentanten auch keinen zwingenden Grund, den Ausbau der außerparlamentarischen Organisation zu forcieren. Gegen Ende der fünfziger Jahre änderte sich diese Situation. Die CDU sah sich gleichzeitig zweier Probleme ausgesetzt, die den Anstoß für innerparteilichen Reformen gaben. Auf der einen Seite begann die unangefochtene Stellung Konrad Adenauers zu erodieren6. Auf der anderen Seite war die CDU mit einer seit Bad Godesberg gewandelten SPD konfrontiert, die ohnehin über die weitaus höher entwickelte und flächendeckend präsente Organisation verfügte, nun aber bestrebt war, in bis dahin angestammte Wählergruppen der CDU vorzudringen. Das bis dahin die Organisationspolitik der CDU dominierende "Laisser-faire" schien den veränderten Anforderungen des politischen Wettbewerbs nicht mehr zu entsprechen. Ansätze der Parteireform Die zu Beginn der 60er Jahre einsetzenden Diskussion um innerparteiliche Reformen hatte das Ziel, die außerparlamentarische Organisation der CDU soweit zu stärken, daß der Erfolg nicht allein vom Erscheinungsbild einzelner Spitzenpolitiker abhängig blieb. Die Organisatoren der CDU äußerten gar die Befürchtung, daß die Partei, im Falle eines Regierungsverlustes in Bonn zerfalle, da sie kaum über eine flächendeckende organisatorische Basis verfügte (Scarrow 1996: 65-6). Fortan standen deshalb Mitgliederwerbung und -integration, Ausbau und Kompetenzerweiterung der lokalen Parteiverbände sowie eine straffere Koordinierung der Parteiarbeit durch die Zentrale im Vordergrund der Reformbemühungen. Im Lichte dieser Reformen argumentiert Schönbohm (1985), daß sich die CDU seit Mitte der 60er Jahre vom Modell der Honoratiorenpartei verabschiedete und sich auf den Weg zur demokratischen Mitgliederpartei begab. Damit ist gemeint, daß nicht nur verstärkt die Integration neuer Mitglie· der im Mittelpunkt der Reformbestrebungen stand, sondern auch, die Partei programmatisch zu profilieren und demokratische Abstimmungs- und Beteiligungsverfahren für die Basis zu fördern. Einen Anreiz, sowohl verstärkte Mitgliederwerbung als auch registrierung (bis dahin in der CDU wenig verbreitet) zu betreiben, bildete für die Partei, hier besonders für die lokalen Verbände, das geänderte Parteiengesetz, welches im Sommer 1967 in Kraft trat und demokratische Aspekte in den Parteien beleben sollte. Dieses Gesetz beinhaltete u.a., daß die Entsendung von Delegierten zu Parteitagen so6 Schönbohm (1985: 53-5) veranschaulicht den Beginn des Endes der Adenauer-Ära mit der sogenannten ,,Präsidentschaftskrise" 1959. Adenauer hatte den von der Mehrheit der Partei präferierten Nachfolger für das Amt des Parteichefs und möglichen Kanzlers, Ludwig Erhard, als Unionskandidaten für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen, ohne dies mit maßgeblichen Parteigremien abzustimmen. Die anschließende Debatte endete mit einer Nominierung eines neuen Präsidentschaftskandidaten (Heinrich Lübke). Die damit verbundene Abstimmungsniederlage Adenauers signalisierte nicht nur einen schleichenden Autoritätsverlust des Parteichefs, sondern markierte gleichsam das Ende der ,,Ära Adenauer".

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wie der Einfluß der Gebietsverbände bei innerparteilichen Wahlen nicht mehr über die Wahlergebnisse dieser Verbände, sondern über deren Mitgliederstärke geregelt wird (Scarrow 1996: 66). Gegen Ende der 60er Jahre verschob sich der innerparteiliche Schwerpunkt zugunsten der außerparlamentarischen Organisation. Dies läßt sich an drei Punkten veranschaulichen: Erstens wurde den Kreisverbänden, die innerhalb der CDU die kleinste selbständig handelnde Organisationseinheit bilden, als Repräsentant der Partei in den Städten und Gemeinden mehr Beachtung geschenkt und sie erhielten - neben Fragen der Mitgliederwerbung und Budgetverwendung- größeren Handlungsspielraum in der Politikformulierung. Zweitens wurde die für die CDU bis dahin typische ad-hoc-Entscheidungspraxis der Parteiführer durch demokratische Entscheidungsverfahren ersetzt, wobei dem Parteitag als oberste Entscheidungsinstanz eine größere Beachtung gewidmet wurde. Drittens stieg die Zahl der Parteimitglieder zwischen 1962 und '69 um 22% auf gut 300.000. Das heißt, die Partei als Organisation begann, sich vom Einfluß der Regierungen und Fraktionen in Bund und Ländern sowie von Einzelpersonen zu lösen und sich als politischer Akteur zu konstituieren. Dennoch verlief der Prozeß der Entwicklung der außerparlamentarischen Organisation recht schleppend. Trotz des Mitgliederanstiegs fehlte vielen Kreisverbänden noch die notwendige personelle Basis, um von den eingeräumten Autonomierechten effektiv Gebrauch zu machen. Darüber hinaus vertraten gerade ältere Parteiaktivisten die Ansicht, eine hochentwickelte und permanent aktive Parteiorganisation sei eher Sache einer Klassen- bzw. Weltanschauungspartei, nicht aber die der CDU. Solange die Partei in Bonn die Regierungsverantwortung innehatte, und damit ihr primäres Ziel erfüllt sah, überwogen die Vorbehalte gegenüber der weiteren Stärkung der außerparlamentarischen Organisation. Dies änderte sich nach 1969, als die CDU erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Regierungsverantwortung im Bund verlor, auch nur geringfügig. Denn die CDU/CSU bildete noch immer die stärkste Fraktion im Bundestag, und die Tatsache, daß die Union auf der Oppositionsbank Platz nehmen mußte, lag weniger an eigenen Stimmenverlusten (gegenüber der Bundestagswahl 1965 nur- 1.5 %) sondern daran, daß sich die FDP für eine Koalition mit den Sozialdemokraten entschied. In der nachfolgenden Debatte darum, wie dieser ,,Betriebsunfall" möglichst schnell behoben werde könne, setzte sich in der Partei die Strömung um den Fraktionsführer im Bundestag, Rainer Barzel, durch, die auf Rückkehr in die Regierungsverantwortung via Fraktionsarbeit anstatt auf den weiteren Ausbau der Organisation setzte (Schönbohm 1985: 99-115, Lange 1994: 135-43). Damit blieben die Bemühungen der Organisationsreformer, welche den begonnenen Ausbau der Organisation fortsetzen wollten, weitgehend ergebnislos.

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Entfaltung der außerparlamentarischen Organisation Ähnlich wie die SPD gegen Ende der fünfziger Jahre ihre anhaltende Erfolglosigkeit bei den Wahlen zum Anlaß entscheidender innerparteilicher Reformen machte, nutzte auch die CDU eine offensichtlich längere Oppositionsphase zu einem umfassenden Ausbau des Parteiapparates sowie der gesamten außerparlamentarischen Organisation. Nachdem die Partei bei den Bundestagswahlen 1972 deutlich geschlagen wurde, setzte sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, sie könne nur über eine Reformierung der Organisation in die Regierungsverantwortung zurückkehren. Mit der Wahl Helmut Kohls zum Parteivorsitzenden und Kurt Biedenkopfs als Generalsekretär übernahmen 1973 zwei Strategen die Führung der Partei, die sich konsequent für den Ausbau der CDU zur Mitgliederpartei einsetzten (s. Anm. 8). Im Vordergrund der innerparteilichen Arbeit standen hauptsächlich vier Gesichtspunkte: Erstens eine forcierte Mitgliederwerbung, zweitens der konsequente Ausbau der lokalen Parteiverbände, drittens eine programmatische Profilierung der Partei und viertens die Entwicklung der Bundesgeschäftsstelle zur wichtigen Koordinierungs- und Steuerungsinstanz. Mit der BündeJung administrativer Ressourcen in der Parteizentrale (z.B. Anstieg der hauptamtlich Beschäftigten von 150 Personen auf 250 zwischen 1970 und 1976, Gründung von Abteilungen zur Mitgliederwerbung, Wahlkampfführung, Öffentlichkeitsarbeit und Programmgestaltung, Errichtung einer EDV-gestützten Mitgliederdatei, Kompetenzerweiterung des Generalsekretärs) erhöhte sich deren Managementkapazität deutlich. Nach dem Grundsatz ,,Es ist immer Wahlkampf" bedienten sich die Strategen in der Parteizentrale - ähnlich wie der Konkurrent SPD - vermehrt wissenschaftlicher Methoden zur Erkundung des Wählerpotentials und sie begannen, die dauerhafte Nähe zu den Parteianhängern über die Nutzung verschiedener Medien wie Tagespresse, eigener Publikationen sowie Nutzung öffentlicher und später verstärkt privater TV- und Radiostationen zu suchen (Radunski 1980, Grafe 1986, Lange 1994: 280). Schönbohms Fazit, daß sich die CDU im Laufe der 70er Jahre zur ,,modernen Volkspartei" entwickelte (1985: 295-303), orientierte sich allerdings weniger an Professionalisierungstendenzen der Wahlkampfführung und Öffentlichkeitsarbeit, sondern mehr am Ausbau einer dauerhaft aktiven, mitgliederstarken organisatorischen Basis der Partei. Mit anderen Worten: als Modemisierung galten sowohl innerhalb der Partei als auch in der ihre Entwicklung interpretierenden Forschung Aspekte aus dem Organisationsrepertoire ,,klassischer" Massenparteien wie das Anwachsen der Mitgliedschaft oder der Ausbau dauerhaft aktiver lokaler Geschäftsstellen. Der Prozeß der Modernisierung der Parteiorganisation mündete in einer tendenziellen Stärkung des außerparlamentarischen Apparats gegenüber einzelnen Personen und den parlamentarischen Instanzen. Begünstigt durch die Politik der staatlichen Parteienfinanzierung entwickelte sich die Organisation der CDU in den siebziger Jahren regelrecht zu einer "Wachstumsmaschine". Zwischen 1970 bis 1976 verdreifachte sich

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das Einkommen des Bundesverbands von gut 50 Mio. DM auf 150 Mio. DM, wovon die Partei wiederum einen durchschnittlichen Anteil von knapp 30% in Öffentlichkeitsarbeit und Mitgliederwerbung re-inverstierte, was sich durch steigende Mitgliederzahlen und in erhöhten Beitragsaufkommen der neuen Mitglieder auszahlte (Schönbohm 1985: 258- 63, Schmid 1990: 144), welches die Partei wiederum für den weiteren Ausbau der Organisation verwenden konnte. Die Mitgliederzahl der CDU verdoppelte sich in diesem Zeitraum auf gut 650.000 und erreichte mit 735.000 im Jahre 1983 ihren Höchststand. Durch die Neuorganisation der Kreisverbandsarbeit gelang es der CDU in den siebziger Jahren, die Leistungsfähigkeit der gesamten Parteiorganisation zu steigern. Die Kreisgeschäftsstellen waren nicht mehr nur die Adresse der Partei am Ort, sondern betrieben - ähnlich wie die Landesgeschäftsstsellen - Öffentlichkeitsarbeit, Mitgliederwerbung, Wahlkampfführung, Koordination der untergeordneten Parteigliederungen und eigene, lokalpolitische Programmarbeit (s. Schönbohm 1985: 271-94, Lange 1994: 171-82). Darüber hinaus begannen die Kreis- und Ortsverbände, über die innerparteilichen Vereinigungen bzw. Zugehörigkeilen der Mitglieder, lokale Netzwerke zu nichtparteilichen Organisationen (Kirche, Gewerkschaften, Unternehmer- u.a. Berufsverbände) herzustellen, um das (lokal-)politische Profil der gesamten Partei zu schärfen und Positionen der Partei in verschiedene gesellschaftliche Bereiche zu vermitteln (s. Suckow 1989). Neben der BündeJung administrativer Ressourcen in der Bundesgeschäftsstelle, der organisatorisch wie inhaltlichen Profilierung der Landesparteien zu eigenständigen Politikanbietern und innerparteilichen Machtzentren, dem Ausbau der lokalen Parteiorganisation und dem rasanten Mitgliederzuwachs widerspiegelt sich die Modemisierung der Parteiorganisation in der gewachsenen Bedeutung der innerparteilichen Vereinigungen. Die Vereinigungen (s. Tab. 2.2.2) reflektieren die korporatistisch-ständische Struktur der Partei, die bereits im allgemeinen Integrationsanspruch aus der Gründungsphase der Partei zum Ausdruck kam (Mintzel 1983: 28). Im Lichte des Ausbaus der Organisation fiel den Vereinigungen die Aufgabe zu, den sogenannten vor-parteilichen Raum für die CDU zu mobilisieren, d.h. potentielle Anhänger unterschiedlichster sozialer Herkunft für eine Mitarbeit zu gewinnen, ohne daß diese Parteimitglieder werden mußten. Gleichzeitig entwickelten sich die Vereinigungen, hier insbesondere die JU sowie der RCDS, zu wichtigen Rekrutierungsfeldern für den Parteinachwuchs (Hacke! 1978, v. Winter 1993) und spielten hinsichtlich der programmatischen Profilierung eine zunehmend größere Rolle. Die konstante Zunahme der Mitgliedschaft unterstreicht den Integrationserfolg, den die Partei mit Hilfe die innerparteilichen Vereinigungen erreichte.

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Tabelle 2.2.2 Vereinigungen und Sonderorganisationen der CDU Vereinigungen -Junge Union (JU)" - Frauenvereinigung der CDU (FV) - Sozialausschüsse der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) - Mittelstandsvereinigung der CDU (MIT)" - Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU (KPV)" - Wirtschaftsvereinigung der CDU -Union der Vertriebenen und Flüchtlinge in der CDU" Sonderorganisationen - Wirtschaftsrat der CDU e.V. -Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS)" -Schüler-Union (SU) - Evangelischer Arbeitskreis (EAK)" *gemeinsamer Verband von CDU und CSU

Zu Beginn der 80er Jahre hatte die CDU einen Organisationsstand erreicht, der es erlaubt, die CDU als hochentwickelte Massen-, oder in den Worten Wulf Schönbohms, als ,,moderne Volkspartei" zu charakterisieren. Dafür sprechen neben den Mitgliederzahlen die soziale Heterogenität der Mitglieder (s. Tabelle 2.2.3), die Existenz eines flächendeckenden Netzes lokaler Parteiverbände einschließlich der in ihnen aktiven Vereinigungen, die sich zu wichtigen Integrations- und Partizipationsfeldern entwikkelt hatten, sowie die Tatsache, daß alle vertikalen Gliederungsebenen der Partei (Bundespartei, Landes- und Kreisverbände) über fest angestellte, auf Verwaltung, Öffentlichkeitsarbeit und Wahlkampfführung spezialisierte Parteifunktionäre verfügten (s. Lange 1994: 277-83, 488). Darüber hinaus wurden in der Partei demokratische Verfahren institutionalisiert, z.B. steigende Bedeutung der Parteitage auf Bundes- und Landesebene als Diskussionsfeld der Parteiprogramme oder verbesserte Partizipationsmöglichkeiten der Anhänger. Zusammenfassend läßt sich somit feststellen, daß sich die Partei als Organisation gegen Ende der 70er Jahre gegenüber den Fraktionen und einzelnen Spitzenvertretern als eigenständiger politischer Akteur emanzipiert hatte. Die strategischen Kosten dieser Modemisierung lagen - ähnlich wie bei der SPD - in einer Zunahme der organisatorischen Komplexität der gesamten Partei. Zwar wurde angesichts der BündeJung administrativer Ressourcen in der Parteizentrale sowie angesichts deren gewachsenen innerparteilichen Gewichts in der Literatur des öfteren von einer Zentralisierung der Partei gesprochen (z.B. Scheer 1977, Grafe 1986, Lehmbruch 1990). Tatsächlich blieben in der CDU jedoch polyarchische Organisationszüge charakteristisch.

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Tabelle 2.2.3 Berufliche Gliederung der CDU-Mitglieder

Stellung im Erwerbsleben 1969 1980 1991* Arbeiter 12.1 10.6 9.1 Angestellte • • 23.4 27.6 28.7 Beamte 13.3 12.4 12.8 Selbständige*** 30.3 25.0 23.8 Rentner 7.4 5.0 4.7 Hausfrauen k.A. k.A. 11.3 in Ausbildung**** k.A. k.A. 3.6 alle Angaben in Prozent * Angaben für die alten Länder ** im privaten sowie im öffentlichen Sektor ***inklusive Landwirte und 'Helfer in Familienbetrieben' **** Lehrlinge, Schüler und Studenten Quellen: Schönbohm (1985: 216), Haungs (1992: 193) Die Studie von Josef Schmid (1990), welche die Organisation der CDU im Lichte des bundesdeutschen Föderalismus untersucht, belegt die relativ eigenverantwortliche Position aller Gliederungen der Partei, sowohl in vertikaler (Bundes-, Landes- KreisOrtsverbände) als auch in horizontaler (Parteizentrale, Fraktionen, Arbeitsgemeinschaften) Sicht. Mit Blick auf die Ressourcenausstattung einzelner Landesverbände (Mitgliederstärke, Finanzen, Personal, Regierungsmacht im Land) sowie auf die parallel zum Ausbau der Bundesparteizentrale vollzogene Neuorientierung der Landesgeschäftstellen, deren Aufgaben denen der Bundesgeschäftststelle glichen, untermauert Schmid die starke Position der Landesverbände im Gefüge der gesamten Parteiorganisation. Die starke Stellung einzelner Landesverbände festigte sich während der 70er Jahre v.a. in den CDU-regierten Bundesländern wie Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein oder Berlin, die sich (i) über den Bundesrat zu einflußreichen politischen Instanzen entwickelten bzw. (ii) über spezielle Politikangebote zu landestypischen "policy-Agenturen" profilierten. Somit verfügt die CDU über eine komplizierte Binnenstruktur, in der die verschiedenen Organisationsebenen ineinander verschränkt sind, gleichzeitig aber auch nebeneinander her bestehen und um innerparteilichen Einfluß konkurrieren. Im Anschluß an Samuel Eldersveld (1964), der mit seiner Arbeit dem "Mythos" der zwangsläufigen Oligarchisierung in Parteiorganisationen entgegentrat, handelt es sich bei dieser Organisationsform um sogenannte "stratarchies", die gekennzeichnet sind durch " ... the enlargement of the ruling group of an organization, its power stratification, the involvement of !arge numbers of people in group decision-making, and, thus, the diffusion and proliferation of control throughout the structure" (99).

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Auf der einen Seite hat eine solch komplexe Organisationsstruktur aus eigenverantwortlich handelnden Subverbänden zwar den Vorteil, daß diese unabhängig von der Zentrale auf die spezifischen Anforderungen in ihrem Handlungsfeld reagieren (beispielsweise mit eigenen Landes-Wahlkampfprogrammen, eigenverantwortlichen Verwendung des Budgets) und zur Profilierung der gesamten Partei beitragen können. Andererseits erschwert eine dezentrale und so komplexe Struktur unter Umständen eine effiziente Entscheidungstindung und läuft auf Verfahren hinaus, die Schmid (1990: 277-84), in Anlehnung an verschiedene Arbeiten zur Organisationsforschung, mit "garbage can"- Entscheidungen oder- strukturell- mit "adhocracies" umschreibt. Die CDU seit den 1980er Jahren Mit Beginn der 80er Jahre, als die Union wieder die Regierungsverantwortung im Bund übernahm, verschob sich jedoch das Gewicht der innerparteilichen Arbeit zurück in die Fraktion sowie in den Regierungsapparat. Die Aktivität in den lokalen Verbänden begann zu sinken und es kam, nach Lange (1994: 427), zu Motivationsverlusten der Mitgliedschaft sowie zur Reaktivierung von Honoratiorenstrukturen. Die Partei orientierte sich wieder verstärkt auf die Regierungsarbeit sowie die Verteidigung ihrer elektoralen Position(en - in Bund und Ländern). Daß Mitte der 80er Jahre jedoch die Wähleranteile wie auch die Mitgliederzahlen fielen (s. Tabelle 2.2.1), ist jedoch nicht allein ein Ergebnis gesunkener Aufmerksamkeit gegenüber dem weiteren Ausbau der außerparlamentarischen Organisation, sondern wurde einerseits von Entwicklungen, unter denen Mitgliederorganisationen im allgemeinen zu leiden haben (s.u.), andererseits von der Regierungsposition der Partei mit verursacht. Die CDU verlor nach der Regierungsübernahme 1982 die Sympathien konservativer Anhänger, die sich vom Regierungswechsel die Realisierung einer ,,konservativen Wende" versprachen, die allerdings weitgehend ausblieb (s. z.B. Grafe 1987, Grande 1988). Hinzu kamen ,,hausgemachte" Probleme der Partei (Skandale, wie beispielsweise Kiel 1987) sowie die Tatsache, daß eine Regierungspartei infolge der notwendigen Vielfalt ihrer Politik immer Gefahr läuft, Mitglieder oder enttäuschte Wähler zu verlieren, was sich besonders in den Wahlen "2. Ordnung" (Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen) aber auch in Bundestagswahlen widerspiegelt. Ähnlich wie die SPD litt auch die CDU unter der geringen Bereitschaft insbesondere jüngerer Menschen, Großparteien beizutreten, der Konkurrenz durch single issueBürgerbewegungen, die effizienter als Großparteien die veränderten Partizipationsinteressen der Bürger kanalisierten, und einer Lockerung der Beziehung zu ihren Starnmanhängergruppen bzw. einer sinkenden Parteiidentifikation (s. Wiesendahl 1990, 1992). Die CDU war dabei insbesondere von einem anhaltenden Säkularisierungstrend in der Gesellschaft betroffen. In der Wahlforschung wurde ein Zusammenhang zwischen abnehmender Religiosität respektive wachsender Säkularisierung (gemessen in 53

der Häufigkeit des Kirchenbesuchs) und der Unterstützung christlich-demokratischer Parteien beobachtet (Falter und Schumann 1992: 204-7). Allerdings zielt dieser Zusammenhang v .a. auf die Wahlneigung - weniger auf die Bereitschaft des individuellen Engagements in Massenorganisationen - darüber hinaus wird deutlich, daß die CDU trotz Einbußen der Wählerstimmen (zwischen 1983 und 1990 ein Verlust von 55%) im internationalen Vergleich unter den westeuropäischen christlich-demokratischen Parteien noch recht gut abschnitt (v. Keersbergen 1995). Ungeachtet der Lockerung der Partei-Anhänger-Beziehungen versuchte die Parteiführung jedoch weiterhin, neue Mitglieder zu integrieren. Insbesondere unter den Aktivisten, die den Ausbau der CDU zur Mitgliederpartei erlebten, blieb die Auffassung verbreitet, daß eine mitgliederstarke und aktive lokale Basis - einschließlich der hier skizzierten Merkmale wie Präsenz der innerparteilichen Vereinigungen, Kontakte zu nichtparteilichen Verbänden und Organisationen - eine notwendige Bedingung für den politischen Erfolg (hier: das Erreichen von Mehrheiten) ist. Darüber hinaus wurde versucht, eine organisierte Unterstützung durch das Angebot verbesserter Partizipationsanreize (Besuchsrecht für Versammlungen und Mitentscheidungsmöglichkeiten für Sympathisanten der Partei auf lokaler Ebene, sogenannte ,,Schnuppermitgliedschaften'') attraktiver zu gestalten (z.B. Konrad-Adenauer-Stiftung 1995: 161-2, Scarrow 1996 Kap. 8). Die Parteistrategen waren bemüht, interessierte Bürgerinnen und Bürger für eine Mitarbeit auf Zeit zu gewinnen, ohne daß diese zwangsläufig der Partei beitreten sollten. Daß heißt, die Partei versuchte, durch die Lockerung der Grenzen zwischen formaler und informeller Mitgliedschaft, nach Susan Scarrow (1990, 1996) die Lockerung der Exklusivität der formalen Mitgliedschaft, neue Anhänger zu gewinnen. Der Schwerpunkt der innerparteilichen Bemühungen blieb jedoch die Verteidigung der 1982/83 gewonnenen Regierungsverantwortung. Zwar wurde hinsichtlich der innerparteilichen Machtverteilung von einer Dreiteilung zwischen Parteiorganisation bzw. der Parteizentrale (in Person des Generalsekretärs), der Bundestagsfraktion und des ,,zurückeroberten" Bundeskanzleramtes gesprochen (Lange 1994: 507), doch wurde längerfristig der organisationspolitische Kurs der Eigenständigkeil der außerparlamentarischen Parteiorganisation zunehmend zugunsten einer Anpassung an die Regierungsbedingungen abgeändert. Dabei verlor die Bundesgeschäftsstelle deutlich an Gewicht, einerseits, da die Fraktionsspitze, die CDU-Bundesminister, insbesondere aber der Kanzler die Parteiführung mehr und mehr an sich zogen und die Partei schließlich zum Anhängsel des Kanzleramtes machten, andererseits weil parallel zum Ausbau der Zentrale auch die Arbeit der Landesgeschäftsstellen 'modernisiert' wurden (s. Haungs 1992: 194). Auch auf Landesebene ist die Arbeit nach Fachabteilungen organisiert worden, ebenso stieg die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter in den Landesund Kreisverbänden von knapp 600 auf insgesamt 1.050, wovon wiederum ca. 640 54

Mitarbeiter Angestellte der Landesparteien waren, die in den Kreisgeschäftsstellen arbeiteten (s. Schmid 1990: 146). Die Bonner Zentrale, die 1988 bei fortan rückläufigem Trend noch 209 hauptamtlichen Mitarbeiter beschäftigte, konzentrierte sich die Informations- und Koordinationsarbeit zwischen den Parteigliederungen und das Wahlkampfmanagment auf Bundesebene, während man gleichzeitig bemüht war, sowohl die interne Kommunikation durch die elekronische Vemetzung der Geschäftsstellen als auch die Informations- und Öffentlichkeitsarbeit in (z.T. parteieigene) Wirtschaftsunternehmen auszulagern (CDU-Bundesgeschäftsstelle 1992: 85, Lange 1994: 462-66). Mit Blick auf die Gewichtung innerparteilicher Arbeit beschrieb Leggewie (1990) den Zustand der Partei seit Ende der 80er Jahre als Rückkehr zum ,,Kanzlerwahlverein neuen Typs", womit er eine anhaltende Tendenz zur Personalisierung der Wahlkampfführung7 sowie die Rü~kverschiebung der Machtzentrale ins Bundeskanzleramt meint. Auch Walter (1997: 809-10) urteilt, daß sich die Partei in Richtung des Kanzlerwahlvereins (zurück)entwickelte und der Parteivorsitzende die Gremien der Parteiorganisation weitgehend entmachtete. Die Entlassung Heiner Geißlers, der während der siebziger Jahre ein enger Gefährte Helmut Kohls im Prozeß der Modemisierung der Parteiorganisation war und weiterhin bestrebt war, deren Einfluß gegenüber dem Regierungsapparat zu erhalten, aus dem Amt des Generalsekretärs der Partei illustrierte das neue Machtgefüge bzw. die Schwerpunksetzung innerhalb der CDU unter der uneingeschränkten Herrschaft des Bundeskanzlers. Trotz deutlicher Mitgliederverluste und einem deutlichen Zug zm Personalisierung präsentierte sich auch die westdeutsche CDU zur deutschen Vereinigung als relativ mitgliederstarke Volkspartei im Sinne der Charakterisierung aus dem ersten Kapitel. Noch immer integrierte und mobilsierte sie Mitglieder bzw. Wähler aus allen Teilen der Bevölkerung, und verfügte - ungeachtet aller Ermüdungserscheinugen an der Basis- über eine vergleichsweise starke außerparlamentarische Organisation, d.h. ein flächendeckendes Netz an lokalen Verbänden, einschließlich der darin aktiven innerparteilichen Vereinigungen. Darüber hinaus wies die CDU für Volksparteien typische polyarchische Organisationsmuster auf, in der- !rotz der überragenden Stellung des Parteivorsitzenden - verschiedene Ebenen (Zentrale, Fraktion, Regierungsmitglieder; Landesverbände, Vereinigungen) um innerparteilichen Einfluß konkurrierten. Daß die CDU Ende der 80er Jahre unter Mobilisierungs- und Integrationsproblemen litt, muß auf die oben erwähnten Abnutzungserscheinungen der Regierungspartei 7 Nicht nur unter den besonderen Bedingungen des Wahlkampfs im Vereinigungsjahr 1990, sondern auch bei den folgenden Bundestagswahlen waren die Kampagnen stark auf die Person des Bundeskanzlers zugeschnitten. Beispielsweise zeigten zwei Drittel der 94er Wahlplakate den Parteivorsitzenden, z.T. ohne jeden weiteren Text. Ebenso konzentrierte sich ein Großteil der 1V-Spots ganz auf den Kanzler: "Die Person selbst war die Botschaft, die keiner weiteren Erklärung bedurfte ... Die CDU setzte auf die klare Personalisierung" (CDU-Bundesgeschäftsstelle 1994: 13).

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sowie die allgemeineren Rekrutierungsprobleme von Großorganisationen zurückgeführt werden. Inwieweit sie ohne die Implosion der DDR und die damit auf die Tagesordnung tretende Frage der deutschen Vereinigung weiter an Wählerunterstützung verloren hätte (s. z.B. Lange 1994: 466), ist eine- empirisch gesehen- müßige Frage. Die CDU, allen voran der Kanzler, spielte konsequent die "nationale Karte" (s. 3.2) und profitierte dabei sowohl vom Vereinigungswillen (besonders der Ostdeutschen) sowie von der relativen Schwäche der SPD. Mit Blick auf die eingangs entwickelte Typologie gilt, daß sich auch die westdeutsche CDU am Vorabend der deutschen Vereinigung als Volkspartei mit (schrumpfender) Massenbasis darstellte, in der sichTendenzen zur Wahlprofessionalisierung abzeichneten (klare Personalisierung, Fachabteilungen für Marketing und Wahlkampfführung, Beschäftigung externer Agenturen, s. z.B. Lange 1994, Radunski 1996, s. auch Kap. 9). 2.3 Zusammenfassung Hinsichtlich ihrer Organisationsform sowie in bezugauf ihr "electoral appeal" handelte es sich bei SPD und CDU zum Zeitpunkt der Vereinigung mit ihren entsprechenden ostdeutschen Schwesterverbänden um Volksparteien, die im Sinne der eingangs entwickelten Typologie von Parteiorganisationsformen Elemente von Massenparteien mit denen der catch all-Partei verbinden und Züge zur Wahlprofessionalisierung zeigen. Das bestätigt die im ersten Kapitel aufgestellte Aussage, daß keine Partei ,,nur" Rahmen- (in diesem Fall: Kanzlerwahlverein), Massen-, Allerweltspartei oder Wahlkampfmaschine ist, sondern in ihrer Organisationswirklichkeit Aspekte jeder dieser Organisationsformen erkennen läßt. Vier strukturelle Merkmale können für die Organisation von SPD und CDU festgehalten werden, die ihren Charakter als Volksparteien unterstreichen (vgl. Merkmalskatalog der Volkspartei in Kapitel 1). Erstens verfügten beide Parteien am Vorabend der deutschen Vereinigung über eine relativ große Zahl organisierter Anhänger unterschiedlichster sozialer Herkunft und mobilisieren Wähler aller sozialer Gruppen. Zweitens existierte in beiden Parteien ein dichtes Netz lokaler Parteiverbände, die als Schnittstelle zwischen Partei und lokaler Gesellschaft wichtige Integrations- und Repräsentationsaufgaben wahrnehmen. Drittens zeichneten sich beide Organisationen durch eine hochentwickelte innerparteiliche Vemetzung von Arbeitsgemeinschaften bzw. Vereinigungen aus, die nicht nur der fachlichen Profilierung dienen, sondern (potentielle) Anhänger im sogenannten vor-parteilichen Raum anziehen so~len. Diese Merkmale trugen viertens dazu bei, daß der gesamte außerparlamentarische Apparat im Rahmen der Organisation beider Parteien an Gewicht gewann und sich gegenüber den Fraktionen und Einzelpersonen zu einem gleichberechtigt wichtigem politischen Akteur konstituierte. Sichtbar wurde das unter anderem durch einen Anstieg der Bedeutung der Parteitage als oberstes Entscheidungsgremium (besonders in der CDU

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zwischen Mitte der 60er und Ende der 80er Jahre), einen nachweisbar starken Einfluß der Parteizentrale auf die Parlamentsfraktionen (SPD bis Ende der 50er Jahre, CDU Mitte der 60er bis Ende der 80er Jahre) sowie die anhaltenden Versuche, die Mitgliederbasis zu erweitern oder zumindest auf dem augenblicklichen Niveau zu halten. Die Annäherung beider Parteien, sowohl hinsichtlich der Organisationsform als auch der wahlstrategischen Integrationsvorstellungen begann gegen Ende der fünfziger Jahre mit der Verabschiedung des Godesberger Programms der SPD. Bad Godesberg stellte eine inhaltlich-programmatisch Neuorientierung dar und war auf die Integration von Mitgliedern sowie Wählern jenseits alter Klassenzugehörigkeilen orientiert. Mit der erfolgreichen Modernisierung der Parteiorganisation der CDU bis Anfang der 80er Jahre kann der Annäherungsprozeß als abgeschlossen angesehen werden. Auffällig ist hierbei, daß beide Parteien anhaltende Oppositionsphasen bzw. deutliche Wahlniederlagen zum Anlaß für Veränderungen ihres Integrationsprofils bzw. ihrer Organisation nahmen8. Die Reformierung zu mitgliederstarken Volksparteien begann für SPD und CDU jedoch von zwei entgegengesetzten Polen. Die Sozialdemokraten starteten nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges als Arbeiterpartei und verfügten, neben einer relativ hohen Zahl an Mitgliedern und disziplinierter "Parteisoldaten", über eine flächendeckende lokale Organisationsbasis. Von 'diesem Punkt aus begab sich die SPD auf den Weg zur sozial und programmatisch geöffneten Volkspartei. Die CDU war dagegen in den Anfangsjahren der Bundesrepublik nur s'chwach organisiert. Die Partei entwickelte sich von einem lose organisierten und sporadisch aktiven "Wahlverein" lokaler Honoratioren, angesehener Landes- und Bundespolitiker zu einer dauerhaft aktiven und auf allen Ebenen des Landes präsenten Organ_isation, die mit mehr als 700.000 organisierten Anhängern deutliche Züge einer Massenpartei aufwies. Der Annäherungsprozeß von SPD und CDU, der von seiten der akademischen Linken als "Weg zum Einparteienstaat" kritisiert wurde (Narr 1977), stellt die Adaptionsfähigkeit bzw. -notwendigkeit von bzw. in Parteien unter Beweis. Gleichzeitig korrespondiert er mit einer Ende der zwanziger Jahre von Harold Hotelling (1929) entwickelten Theorie der optimalen Marktpositionierung zweier Konkurrenten in einem eindimensional gedachten Wettbewerbsraurn, die ich hier kurz wiedergebe, um den Annäherungsprozeß beider Parteien zu veranschaulichen. 8 Nach Müller (1997) sind Veränderungen der Umweltfaktoren (z.B. Verschiebung der sozialen Gliederung der Wählerschaft, Wahlniederlagen) gleichsam Anreiz und notwendige Bedingung für inhaltlich-programmatischen und/oder organisatorischen Wandel innerhalb von Parteien (environrnental approach). Die wichtigste Bedingung für den Wandel ist jedoch meist der Austausch der Parteiführung. Innerhalb der SPD ist dies mit dem Wechsel der Parteiführung von den "Parteisoldaten" Kurt Schurnacher und später Erich Ollenhauer auf die "Fraktionselite" um Herbert Wehner und Carlo Schrnid Ende der 50er Jahre sowie in der CDU mit dem Übergang der Parteiführung vorn Fraktionspartei-Befürworter Rainer Barzel auf die Mitgliederpartei-Befürworter Helmut Kohl und Kurt Siedenkopf in den frühen 70er Jahren deutlich geworden.

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Hotelling, der die spätere Arbeit Anthony Downs' (1957) maßgeblich beeinflußte, argumentierte, daß sich in einem eindimensionalen Konkurrenzraum, der durch die Endpunkte 0 und 1 definiert ist, die Anbieter eines identischen Artikels in die Mitte des Wettbewerbsraumes bewegen9 (s. Abb. 23.1). Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist eine Situation, an der sich beide Anbieter an den Punkten Punkten 0.25 und 0.75 befinden. Hier steht es unentschieden, beide Konkurrenten kontrollieren jeweils 50% des Marktes. Stammkunden von A sind alle Konsumenten entlang der Strecke 00.5, die von B alle von 0.5-1. Da aber sowohlAalsauch B daran interessiert sind, den Markt zu beherrschen, versuchen sie, dem anderen Marktanteile durch Bewegungen auf der Konkurrenzsachse abzunehmen. Würde sich jedoch nur einer bewegen, beispielsweise nur B von 0.75 nach 0.55 rücken, dann hätte dieser Anbieter das Spiel gewonnen, denn für alle Kunden von A, die zwischen 0.45 und 0.5 liegen, wären die Wegekosten, die nun beim Kauf in Geschäft B entstehen, geringer. Demzufolge wird sich A ebenso in die Mitte bewegen, um zu vermeiden, das Spiel um die Kunden zu verlieren. Es entsteht eine zentripetale Konkurrenzsituation, bei der sich die Anbieter um die Mitte plazieren und um die Konsumenten zwischen 0.45 und 0.55 konkurrieren. Abbildung 2.3.1 Positionierung von Anbietern im Dyopol SPD (strategisch)

Anbieter A

0

0.25

----

CDU (organisatorisch)

AnbieterB

0.45 0.55 0.5

0.75

1

In der späteren Anwendung dieser Theorie auf die strategische Positionierung von Parteien wurden die Annahmen modifiziert. Anthony Downs legte für seine Theorie der Zweiparteienkonkurrenz zugrunde, daß die Präferenzen der Wählerschaft (der Kunden bei Hotelling) in Form einer Gauss'schen Glockenkurve gleich- bzw. normalverteilt sind, was heißt, ideologischen Lager an den Rändern und ,,multi-peaked" Verteilungen entlang der Konkurrenzachse werden zunächst ausgeschlossen (s. Sartori 1976). Otto Kirchheimer schloß sich den Überlegungen Downs' an, als er für die catch 9 Wichtig sind hier, wie in allen Modellen, die Annahmen. Erstens wird unterstellt, die Anbieter sind gewinnorientiert, zweitens daß die Kunden ihre Kaufentscheidung nach nur einer Überlegung, nämlich den Wegekosten, treffen. Drittens wird angenommen, A und B bieten identischen Artikel zu gleichen Preisen an und viertens, die Kunden verübeln den Anbietern nicht, daß sie sich von ihrer ursprünglichen, einer eventuell für den einzelnen günstigen Position links von 0.25 bzw. rechts von 0.75 fortbewegen, d.h. die Bewegungen sind für A und B sozial kostenlos (s. Hirschman 1974).

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all-Partei postulierte, sie bringe exakt den gleichen Artikel heraus wie ihr Konkurrent, bestenfalls in anderer Verpackung, womit er den Trend zur zentripetalen Konkurrenz illustrierte. Die Annahme identischer Politikinhalte ist, verglichen mit den Annahmen zur Präferenzverteilung der Wählerschaft, der weitaus umstrittenere Punkt innerhalb der späteren Debatte.lO Mit Blick auf die sozialen Grundlagen des Parteienwettbewerbs in der Bundesrepublik kann zumindest die Annahme der Präferenzverteilung insofern als erfüllt unterstellt werden, als daß sich im Zuge der wohlfahrtsstaatliehen Entwicklung des Landes ,,alte" Klassenzugehörigkeilen mehr und mehr auflösten und sich mit Anwachsen einer sozialen Mittelschicht die politischen Präferenzen im Sinne einer Normalverteilung um den Mittelpunkt des Konkurrenzraumes sammelten. Insofern waren die Versuche der Sozialdemokraten, Wähler und Mitglieder jenseits alter Klassenzugehörigkeilen durch ideologiebefreite Programminhalte anzusprechen eine strategische Adaption an veränderte Umweltbedingungen, die ihrerseits (rationalen) Parteistrategen immer einen Anreiz bieten, darauf zu reagieren (s. Anm. 8). Die SPD bewegte sich vom Stadium einer Klassenpartei (repräsentiert durch die Position 0.25 auf dem Hotelling-Kontinuum, welches hier für den Moment als ,,klassisches" LinksRechts-Spektrum dienen soll) in Richtung der politischen Mitte und positionierte sich inhaltlich moderat und potentiell für eine weitgefächerte Anhängerschaft wählbar ,)eft of center" (Braunthal1996). Die "Modemisierung der CDU", genauer genommen, der Ausbau der außerparlamentarischen Organisation, war weniger eine strategische als eine organisatorische Adaption. Eine Veränderung ihres "electoral appeals" war für die Union nicht notwendig, denn es gelang ihr von Beginn an viel eher, Wähler aus nahezu allen sozialen Schichten der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Aber die SPD; die sich nach der strategischen Reform immer mehr zum Hauptkonkurrenten der Union entwickelte (und dies bis heute geblieben ist, s. Kap. 6), verfügte bis Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre über die schlagkräftigere Organisation, sowohl hinsichtlich der Mitgliederstärke als auch in bezugauf die Dichte des lokalen Parteiapparates. Zudem setzte sich in der CDU mehr und mehr die Ansicht du'rch, die Partei könnte ohne eine vergleichbar starke außerparlamentarische Organisation im Falle des Regierungsverlustes zerfallen. Folglich setzte die CDU auf die Erweiterung ihrer Organisation. Den Reformern gelang es im Laufe der 70er Jahre, mit Hilfe von Mitglieder-Werbekampagnen und ver10 Zu den umstrittenen Punkten in der Theorie der Zweiparteienkonkurrenz nach Downs und Kirchheimer zählt unter anderem auch die Frage nach den politischen Kosten solcher strategischer Bewegungen (s. z.B. Sartori 1976, Schmitt 1987, Kitscheil 1994a: 117-9) sowie die Annahme, Parteien seien homogene "Teams", die ausschließlich an der Beherrschung des Marktes interessiert sind (z.B. Harrnel und Janda 1994). Hinzu kommt, daß das bundesdeutsche Parteiensystem, bedingt durch den Verlauf der gesellschaftlichen Konfliktlinien und das Wahlsystem mehr als ein Dyopol ist. Insofern ist die Darstellung eine starke Abstraktion, welche die Richtung der Entwicklung beider Parteien veranschaulichen soll.

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stärkten Investitionen in den Ausbau der lokalen Basis sowohl die Mitgliederzahlen als auch die Dichte der lokalen Parteiverbände, und damit die organisatorische Schlagkraft der gesamten Partei deutlich zu steigern. Liest man das Hotelling-Kontinuum als eines, dessen Enden durch 'hochorganisierte Massenpartei' (0) und 'Honoratiorenpartei bzw. Wahlverein' (1) repräsentiert werden, bewegte sich die Partei vom Stadium eines relativ locker organisierten Wahlvereins (0.75) in Richtung Massenpartei (0.45). Abgesehen von einem ideologisch wie programmatisch für potentiell alle Wählerinnen und Wähler offenen "electoral appeal" galt eine mitgliederstarke Organisation mit den dazugehörigen Merkmalen seitdem als die am meisten geeignete - und von den Strategen beider Parteien heute mehr oder minder intensiv angestrebte - Organisationsform von Parteien unter den Bedingungen volksparteilicher bzw. zentripetaler Konkurrenz. Die politischen Erfolge von SPD und CDU in den 70er und frühen 80er Jahren (für die SPD die Regierungsphase; für die CDU die Rückkehr in verschiedene Landesregierungen und schließlich in die Bundesregierung) wurden größtenteils auf das Vorhandensein einer leistungsfähigen und dauerhaft aktiven Massenbasis zurückgeführt (Schönbohm 1985). Dies hat bis heute hinsichtlich der Integrationsbemühungen in beiden Parteien eine nachhaltige Wirkung. In beiden Parteien werden nach wie vor Versuche unternommen, die Zahl der Mitglieder zu steigern bzw. wenigstens auf dem derzeitigen Niveau zu halten, wenngleich auch dies mit unterschiedlicher Intensität geschieht (s. Kapitel 7). Angesichts anhaltend sinkender Parteiidentifikation seit den 80er Jahren, den damit verbundenen Integrations- und Repräsentationsproblemen einerseits sowie andererseits alternativer Wahlkampftechniken und Finanzierungsquellen stellen sich heute jedoch die Fragen, inwieweit es den Parteien noch gelingt, ihren Mitgliederstand zu halten und v .a. neue Mitglieder zu gewinnen und ob sie diese überhaupt noch als schlagkräftige Wahlkampfreserve und als Einkommensquelle brauchen. Die mehr oder weniger deutlichen Anzeichen einer Wahlprofessionalisierung in beiden Parteien legen zumindest die Vermutung nahe, daß die Strategen der Parteien auf Mitglieder zumindest als Wahlkampfreserve verzichten können und verstärkt auf alternative Vermittlungsmedien als das einzelne Mitglied, das vor Ort, im Freundes- und/oder Kollegenkreis Basisarbeit betreibt, zurückgreifen. Wie bereits am Ende vom Kapitel 1 angesprochen, gaben die anhaltenden Mitgliederverluste von SPD und CDU seit den 80er Jahren Anlaß zu argumentieren, die Zeiten der Mitglieder- oder gar der Volkspartei seien vorbei (z.B. Lösche 1997) bzw. Massenintegrationsparteien befänden sich in Anbetracht des Mitgliederschwunds in einer Integrations- und Legitimationskrise (z.B. Raschke 1992, Wiesendahl1992). Betrachtet man die Zahlen der Mitgliederentwicklung von SPD und CDU bis zum Vorabend der deutschen Vereinigung, erscheinen diese Aussagen zunächst wenig plausibel. Denn es ist zweifelhaft, inwiefern allein ein absoluter Mitgliederrückgang zwi-

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sehen 1983 und 1990 von 926.000 auf 919.000 innerhalb der SPD bzw. von 735.000 auf gut 655.000 bei der CDU die Rede vom "Ende" oder einer ,,Krise" der Massenpartei in den alten Ländern rechtfertigtll. Volksparteien definieren sich zwar, ebenso wie andere Massenparteien, wesentlich über die Mitgliederstärke. Doch zu den charakteristischen Merkmalen zählen weitere Aspekte, wie die soziale Komposition der Anhängerschaft, dauerhaft aktive lokale Organisationen oder eine annähernd gleichberechtigte Rolle der außerparlamentarischen Organisation gegenüber den Fraktionen und Einzelpersonen (s. Tabelle 1.4.1). Erst wenn auch hinsichtlich dieser Merkmale Veränderungen deutlich werden, kann von einem Wandel des Organisationstyps gesprochen werden (s. dazu Kap. 9). Unbestritten ist, daß sich die Verbände von SPD und CDU in den alten Bundesländern am Vorabend der deutschen Vereinigung als zwei relativ mitgliederstarke Volksparteien präsentierten, die zweifellos erste ,,Auflösungs-" bzw. Wandlungssymptome, z.B. Mitgliederverluste bei gleichzeitig steigender Passivität an der Basis, aber auch einen Hang zur Personalisierung und Wahlkampfprofession~lisierung, zeigten. Von dieser Basis aus expandierten sie in den Osten des Landes und versuchten hier, vergleichbar starke Organisationsstrukturen zu etablieren. Inwieweit dies gelang sowie die Frage danach, ob die seit dem 2. Oktober 1990 gesamtdeutsch operierende CDU von den vorhandenen Organisationsstrukturen der Ost-CDU profitierte, wird im Mittelpunkt der nachfolgende Untersuchung stehen. Doch zuvor möchte ich die charakteristischen Merkmale beider Parteiorganisationen in der ehemaligen DDR skizzieren. Im Vordergrund steht dabei, die qualitativ wie zeitlich höchst unterschiedliche Organisationsentwicklung von SPD und CDU zu umreißen und die Ausgangslage für die anschließende Untersuchung der Organisationsentwicklung beider Parteien in den neuen Bundesländern seit der Vereinigung darzustellen.

11 Wenn sich jedoch auch in der nachfolgenden Untersuchung ein anhaltender Mitgliederrückgang zeigen sollte, dann müssen Versuche unternommen werden, diese Entwicklung zu erklären. Die hier angesprochene Lockerung ehemals stabiler Beziehungen zwischen Parteien und ihren Anhängern und das damit verbundene Absinken einer sozial oder ökonomisch definierten Parteiidentifikation spielen dann zur Erklärung von Mitgliederverlusten eine wichtige Rolle. Darüber hinaus wäre es auch möglich, daß Parteiorganisatoren in Anbetracht der gestiegenen Kosten zur Integration neuer Mitglieder weniger in den weiteren Ausbau der außerparlamentarischen (Mitglieder-) Organisation investieren und auf alternative, kostengünstigere Ressourcen zurückgreifen. Dies werde ich an späterer Stelle diskutieren (s. 4.5, 6.4 und 7.2).

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3. SDP/SPD und CDU in der DDR 3.1 Die Sozialdemokratie in Ostdeutschland Die Organisationsgeschichte der ostdeutschen Sozialdemokratie als eigenständige Parteiformation ist kurz. Am Abend des 40. Jahrestags der DDR kam es in einem Pfarrhaus in der Nähe Berlins zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei (SDP), nachdem über den Sommer 1989 die informellen Grundlagen zur Parteigründung erarbeitet wurden (Formulierung inhaltlicher Grundsätze, Koordinierung mit anderen oppositionellen Bewegungen). Bei Gründung der SDP handelte es sich um eine lupenreine "outside"-Gründung im Sinne Duvergers (1959: 8-15). Die Partei wurde jenseits des in der DDR geltenden Rechts gegründet, denn zu diesem Zeitpunkt waren Existenz und Aktivität politischer Parteien außer denen, die in der sogenannten 'Nationalen Front' vertreten waren, verboten. Dementsprechend verfügte sie über keinerlei parlamentarische Anbindung, d.h. die Partei wurde außerhalb des "parlamentarischen Betriebs" der DDR gegründet, mit den Zielen, (i) diesen tatsächlich zu verwirklichen und (ii) in die Legislative bzw. später auch Exekutive einzuziehen. Im Gründungsaufruf forderten die Versammelten u.a. eine umfassende Demokratisierung des politischen Lebens in der DDR, einschließlich der Sicherung von Bürgerrechten und der Zulassung weiterer Parteien, einen Wandel der Wirtschaft zur sozial und ökologisch regulierten Marktwirtschaft mit unterschiedlichen Eigentumsformen. Sie bekannten sich zur gleichberechtigten Zweistaatlichkeil Deutschlands mit der Option einer späteren Vereinigung im Rahmen der weiteren europäischen Integration und beantragten die Aufnahme in die $ozialistische Internationale (Braunthal 1994: 28, Schuh/Von der Weiden 1997: 155-7). Organisatorisch orientierten sich die SDP-Gründer zunächst an der Errichtung einer Art basisdemokratischen Rätewesens (s. Linnemann 1994: 78). Kleine Ortsgruppen, von denen aus Delegierte in die nächst höheren Ebenen gewählt werden, sollten die Basis der Partei bilden, was einerseits auf die Entstehung einer relativ straff organisierten vertikalen Gliederung hinauslief, andererseits durch die Forderung nach einer Trennung zwischen Parteiamt und Mandat sowie Begrenzung der jeweiligen Amtsdauer basisdemokratisch organisiert werden sollte. Die basisdemokratische Orientierung der Gründungsphase wurde zusätzlich dadurch symbolisiert, daß- wie bei den Grünen in der Bundesrepublik- Spr~cher statt Vorsitzende gewählt wurden (s. Tiemann 1993: 416). Mit den Initialen SDP unterstrichen die Gründer der Partei ihre Eigenständigkeil gegenüber der westdeutschen SPD, die von der Parteigründung ebenso überrascht wurde wie die DDR-Staatssicherheit, und dem Affront gegenüber der Honecker-Administration insofern skeptisch gegenüberstand, als daß sie ihre Erfolge in der deutschdeutschen Annäherung (z.B. das gemeinsame Strategiepapier mit der SED aus dem Jahre 1987, s.u.) nicht aufs Spiel setzen wollte (s. Silvia 1993, Braunthal1994: 27-8). 62

Trotz beidseitigen Zögerns (s.u.) begann kurz nach der Gründung der SDP die Annäherung beider deutscher sozialdemokratischen Parteien. Gegen Ende des Jahres 1989 gab es einen gemeinsamen Ausschuß von SDP und SPD, der Positionen der Sozialdemokraten zur Frage der deutschen Vereinigung erarbeitete sowie die ersten in Aussicht stehenden freien Wahlen in der DDR vorbereitete. Die westdeutsche SPD unterstütze die ostdeutschen Sozialdemokraten beim Aufbau der Parteiorganisation mit Beratungen, Material und Personal. Gleichzeitig traten zahlreiche SPD-Spitzenvetreter aus dem Westen auf Wahlkampfveranstaltungen der ostdeutschen Sozialdemokraten auf. Die Umbenennung der ostdeutschen Sozialdemokraten in SPD sowie die Ernennung Willy Brandts zum Ehrenvorsitzenden der Partei im Januar 1990 symbolisiert die Verabschiedung jedes Versuchs einer eigenständigen Entwicklung, wie sie noch im Schwanter Statut angelegt war. Entwicklung der Parteiorganisation Die Gründung der SDP erinnert an die Konstituierung bürgerlich-oppositioneller Parteien aus dem Schoß politischer Clubs des vergangeneu Jahrhunderts (vgl. Duverger 1959: 3). Im Oktober 1989 hatten vierzig hauptsächlich evangelische Pfarrer, Intellektuelle, Lehrer und Studenten eine Partei ins Leben gerufen und politische Mitbestimmungsrechte reklamiert. Was darauf folgen mußte, war die Entwicklung einer dazugehörigen Organisation. Die Ausgangsbedingungen dafür waren vergleichsweise ungünstig, denn die Partei begann buchstäblich bei Null. In der Anfangsphase operierte die SDP nicht nur unter den Bedingungen der Illegalität, es fehlte an Räumen, technischer Infrastruktur und Mitgliedern. Die Bemühungen der Parteigründer sowie der Aufbauhelfer aus der westdeutschen SPD richteten sich folglich auf den Aufbau der Organisation einschließlich der Erweiterung der Mitgliederbasis. Zwischen Oktober und Jahresende 1989 stieg die Zahl der Mitglieder auf ca. 15.000 und pendelte sich im Frühjahr 1990 bei gut 24.000 ein. Hinsichtlich der Organisationsstruktur orientierten sich die Parteistrategen zwar am komplexen Aufbau der westdeutschen SPD, doch erwies sich die Errichtung eines flächendeckenden Apparates auf lokaler Ebene (Kreis-, Regionalverbände). aufgrund der geringen Mitgliederzahlen als äußerst schwierig (s. Linnemann 1994: 83-8). So wichtig der Aufbau einer leistungsfähigen Organisation für die Partei war, die Sozialdemokraten orientierten sich gleichzeitig auf die ersten freien Wahlen in der DDR, wobei der Wahlkampf von zwei Vertretern der West-SPD sowie einer aus den alten Ländern stammenden Agentur gemanagt wurde (vgl. Braunthai 1994: 35). Entgegen der Ausrichtung des Hauptkonkurrenten, der rasche Wahlen bevorzugte, favorisierten die SPD (Ost) einen möglichst späten Wahltermin, da ihnen, verglichen mit der bürgerlich-konservativen Allianz aus CDU, DA und DSU, die notwendigen organisatorischen Ressourcen nicht zur Verfügung standen (s. 3.2). 63

Auf der anderen Seite wurde der ostdeutschen SPD in Umfragen ein günstiges Wahlergebnis prophezeit. Dieser Optimismus gründete sich vor allem auf zwei Aspekte: Erstens wurde die Tatsache, daß es sich bei der ostdeutschen Sozialdemokratie um eine Neugründung handelte, die nicht wie die CDU (Ost) als Blockpartei in den Machtapparat der SED involviert war, als Vorteil angesehen. Zweitens nahmen die Meinungsforscher an, die Mehrheit der DDR-Bürger würde sich nicht prompt in das ,,Abenteuer Markt" stürzen, sondern eine von der SPD befürwortete Alternative zwischen zentralisierter Staats- und sozialer Marktwirtschaft, den sogenannten 'Dritten Weg' befürworten (s.u.). Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Diaspora-Partei SPD? Die Schwäche der ostdeutschen SPD nach der Volkskammerwahl1990 Bei den Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 erreichten die Sozialdemokraten mit knapp 22% der Stimmen und 88 von 400 Sitzen ein für sie niederschmetterndes Ergebnis. Die Partei war zwar mit 7 Ministern, u.a. dem Außen- und Finanzressort, für fünf Monate an der Großen Koalition und der Regierung de Maiziere beteiligt (s. Anm. 13), doch blieben sowohl das Wahlergebnis als auch die Entwicklung der Parteiorganisation im Verlauf des Wendejahres weit unter den Erwartungen der Sozialdemokraten. Für das schwache Abschneiden bei den Volkskammerwahlen lassen sich hauptsächlich zwei Gründe nennen: Erstens die zögerliche bzw. zahlreich konditionierte Haltung der Partei zur Frage der deutschen Einheit, einschließlich der angestrebten Wirtschaftsund Sozialpolitik und zweitens die relativ große Distanz zwischen den Repräsentanten der Partei und der erhofften Anhängerschaft. In Vorbereitung der Volkskammerwahlen hatte sich zwar innerhalb der Partei eine Mehrheit gefunden, die, im Gegensatz zu ursprünglichen Positionen der SPD/Ost, eine relativ schnelle Vereinigung beider deutscher Staaten befürwortete. Aber die Sozialdemokraten favorisierten ein Vereinigungsszenario nach Artikel 146 des westdeutschen Grundgesetzes und veranschlagten für den gesamten Einigungsprozeß eine Zeitspanne zwischen drei bis fünf Jahren (Braunthal1994: 32). Darüber hinaus orientierten sie sich an einer paneuropäischen Lösung, welche die deutsche Vereinigung nur im Einklang mit den Alliierten und im Zusammenhang mit einer umfassenden Integration der (ost)europäischen Nachbarstaaten in die Europäische Union vorsah (ebd.). Die sozial- und wirtschaftspolitischen Leitlinien der SPD/Ost orientierten sich an einer sozial und ökologisch verantwortlichen Marktwirtschaft auf der Grundlage gemischter Eigentumsverhältnisse (kooperatives, Gemeinschafts-/Staats- und Privateigentum). Die ostdeutschen Sozialdemokraten vermieden zwar entschieden den Begriff 'Sozialismus' in ihren sozialökonomischen Grundsätzen und bezeichneten ihr Konzept als 'soziale Demokratie', dennoch waren zentrale Vorstellungen stark an der Aufrechterhaltung sozialpolitischer Errungenschaften der untergehenden DDR bzw. an ,,klassi64

sehen" sozialistischen Themen orientiert, wie z.B. das Recht auf Arbeit, Ziel der Vollbeschäftigung, sozialer Wohnungsbau, Erhalt des Gesundheitssystems u.a. (SPD/Ost 1990). Mit dieser zahlreich konditionierten Haltung der Partei zur Vereinigungsprozedur erreichte sie am Volkskammer-Wahltag nicht die vorherrschende Stimmung in der Bevölkerung. Vor allem nicht die erhoffter "traditioneller" Anhängergruppen, hauptsächlich Industriearbeiter, die jeder Form sozialistischer Politik ablehnend gegenüberstanden und sich von ihrer Wahlentscheidung eine möglichst rasche Partizipation am westlichen Lebens- und Konsumstandard versprachen. Die von den westdeutschen Unionsparteien massiv unterstützte konservativ-bürgerliche ,,Allianz für Deutschland" aus CDU, Demokratischen Aufbruch und Deutscher Sozialer Union mobilisierte mit Losungen wie ,,keine (sozialistischen) Experimente", "Einheit jetzt" und der Aussicht auf eine rasche Vereinigung nach Artikel 23 GG (Anschluß der DDR an den Geltungsbereich des Bonner Grundgesetzes) die Mehrheit der Wähler aus dem nicht vorhandenen "Stammlager" der Sozialdemokratie. Auf der anderen Seite litt die ostdeutsche SPD unter der intellektuellen wie programmatischen Distanz zwischen den Repräsentanten der Partei und der erhofften Anhängerschaft. Aus den Reihen der Arbeiter wählten nur knapp 25% die SPD/Ost, während ca. 50% ihre Stimme der Allianz gaben (s. Rudzio 1991: 174). Die Sozialdemoktaten in der DDR waren v.a. evangelische Pfarrer, Intellektuelle und sogenannte "Professionals" (Lehrer, Mediziner, Ingenieure, Rechtsanwälte, höhere Angestellte), mit denen sich die Mehrheit der Wähler nicht zu identifizieren vermochte. Aber selbst unter den ,,Professionals" wählten nur knapp 23% die SPD, während ca. 28% die CDU bzw. 31% die PDS unterstüzten (s. Silvia 1993: 28). Das heißt, die SPD/Ost mobilisierte kaum Unterstützung aus den Anhängergruppen, die das elektorale Rückgrat der westdeutsche SPD bilden. Sie erreichte weder die Arbeiter, noch die Angehörigen der 'technischen Intelligenz', die, in der DDR sozialisiert, entweder noch die PDS oder das aus der Bürgerbewegung hervorgegangene Bündnis 90 unterstütze. Die ostdeutsche SPD war zunächst, vergleichbar mit den westdeutschen Grünen bzw. Bündnis 90, eine Milieupartei ("Pfarrerpartei", s. Braunthal1994: 36). Auch bei den anschließend durchgeführten Kommunal-, Landtags- bzw. Abgeordnetenhauswahlen (KW und LTW/AW) sowie bei der Bundestagswahl (BTW) im Herbst 1990 erreichte die SPD im Osten mit jeweils durchschnittlich 20.9% (KW), 27.6% (LTW) und 27.2% (BTW) für sie enttäuschende Ergebnisse. Lediglich in den administrativen Zentren der ehemaligen DDR, den Ostberliner Stadtbezirken (KW: 34%, AW: 32.1 %) und in fünf weiteren früheren Bezirkshauptstädten I sowie im Land

Dies waren Rostock (28.1 %), Schwerin (26.4%), Potsdam (33.2%), Magdeburg (32.9%) und Leipzig (35.1 %), siehe Neues Deutschland vom 8. Mai 1990, S. 1 und 5.

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Brandenburg (LTW: 38.2%) schnitt die SPD erfolgreicher ab und stellte dort die Bezirks- bzw. Oberbürgermeister respektive die Landesregierung. Gleichzeitig entwickelte sich die Parteiorganisation nur sehr langsam. Mit ca. 24.000 Mitgliedern gegen Ende des Einheitsjahres verfügte die Partei in den neuen Ländern über eine nur geringe Zahl organisierter Anhänger und demzufolge eine dünne Personaldecke2. Hierfür müssen- neben den bereits genannten Gründen für die relativ schwache Wahlperformanz der SPD - fünf weitere Faktoren hervorgehoben werden: Erstens das Integrationsproblem der Sozialdemokraten nach dem Ende des DDR-Regimes bzw. der vorangegangenen Ph(!se der Nazi-Diktatur, in der einerseits die Sozialdemokraten verfolgt (1933-45) andererseits in die SED zwangsintegriert wurden (1946). Zweitens, ein Argument, das ich wie das anschließende von Stephen Silvia (1993) übernehme, die Ostpolitik der westdeutschen SPD. Drittens innerparteiliche Spannungen in der SPD, sowohl innerhalb der Gründungsgeneration der SDP als auch in Ost-West-Perspektive. Viertens die Politik der internen Personalrekrutierung der Partei einschließlich des Personaltransfers von West nach Ost, der einerseits zwar die Leistungsfähigkeit der Partei steigerte, andererseits jedoch verhinderte, daß sich mehr Einheimische mit Blick auf eine innerparteiliche Laufbahn in der Partei engagierten. Fünftens, in enger Verbindung mit den Punkten eins und vier, der Mangel an einem ausreichenden Reservoir an treuen Parteianhängem, sogenannten 'believers' (s. Panebianco 1988: 25-30), die bereit waren, die zeitintensive Basisarbeit für die Partei zu leisten. Alle fünf Aspekte wirken zusammen, d.h. nur in einer integrierten Betrachtung können sie die Organisationsschwäche der ostdeutschen Sozialdemokraten im Wendejahr 1990 erklären. Wenn ich sie nachfolgend einzeln betrachte, dann nur, um ihre jeweilige Auswirkung genauer zu beleuchten. (1) Integrationsprobleme: Die erhofften "traditionellen" Bindungen zwischen Arbeitern und SPD aus der Weimarer Republik (besonders in Sachsen und Thüringen) waren im Laufe der vorangegangenen 55 Jahre (12 Jahre Nazi-Diktatur, 43 Jahre SEDHerrschaft) gekappt. Die Generation der 'alten' Sozialdemokraten war entweder nicht mehr am Leben oder bis zum Bau der Berliner Mauer in den Westen abgewandert. Die größtenteils gewerkschaftlich organisierten Arbeiter der DDR waren entweder Mitglieder der SED oder eher unpolitisch, auf jeden Fall aber mit der Wende kaum für eine Mitarbeit in einer (Arbeiter-)Partei zu gewinnen. Die Anstrengungen der Sozialdemokratie, gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer, d.h. Arbeiter und Angestellte wiederzugewinnen, blieben weitgehend erfolglos. Obwohl mit knapp 4 Millionen gewerkschaftlich Organisierten am Vorabend der deutschen Vereinigung ein durchaus beachtliches Anhängerpotential für die ostdeutsche SPD vorhanden war, blieb ein Mit2 Zum Vergleich: dieser Mitgliederstand entsprach ungefähr dem eines durchschnittlichen SPD-Bezirks bzw. Landesverbandes in den Stadtstädten der alten Bundesländern, z.B. den Bezirken Ostwestfalen-Lippe, Braunschweig oder dem Landesverband der Partei in Hamburg, s. KapitelS.

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gliederzulauf aus. Wäre beispielsweise von den Gewerkschaftsmitgliedern im Osten ein in etwa gleicher Anteil wie in den alten Ländern der SPD beigetreten, dann hätte die Partei ca. 240.000 neue Mitglieder gewonnen (Silvia 1993: 39). Doch zu nah waren alle Parallelen für Arbeiter und Angestellte eines gleichzeitigen parteilichen Engagements mit der gerade überwundenen SED-Dominanz sowie den mehr oder minder freiwillig motivierten Pflichtmitgliedschaften in den der SED nahestehenden Massenorganisationen. Die SPD konnte aus diesem Potential, beispielsweise durch Präsenz in den Betrieben, nicht weiter schöpfen. Für die ostdeutsche Sozialdemokratie bestand ein Integrationsproblem, sowohl unter der erhofften "traditionellen" Anhängerschaft als auch in den übrigen Bevölkerungsgruppen. Ohne der späteren Untersuchung der Partizipationsmotive der Bürgerinnen und Bürger in der (ehemaligen) DDR allzuweit vorzugreifen (s. dazu 4.3 und 4.4), bleibt hier festzuhalten, daß die Bereitschaft zur freiwilligen Teilnahme an demokratisch verfaßten Großorganisationen angesichts des gerade vollzogenen Endes von teilweise unfreiwilligen bzw. alternativlosen Mitgliedschaften in Massenorganisationen bzw. -bewegungen (SED, andere Blockparteien, FDJ, Kampfgruppen u.a.) sowie beruflicher Neuorientierungen einschließlich vollkommen veränderter Arbeitsmarktbedingungen nur sehr gering ausgeprägt war (s. Tiernano 1993: 421). So ist anzunehmen, daß selbst potentiell Interessierte, die die allwöchentlichen Parteigruppenversammlungen, FDJ-Meetings und andere regelmäßige Veranstaltungen gerade hinter sich gelassen haben, zur sofortigen organisierten Teilnahme in einer Partei - wenngleich unter völlig anderen Bedingungen und anderer Zielsetzung - nicht bereit waren. Wenn überhaupt, dann engagierten sich Jüngere (z.B. Studenten) bevorzugt im Bündnis 90, Angehörige der alten 'Eliten' noch eher in der PDS (Ruescherneyer 1998: 1057) während ein Teil der technischen Intelligenz die (ehemalige) DDR in Richtung Westen verließ (s. Braunthal1994: 41). (2) Die Ostpolitik der westdeutschen SPD: Stephen Silvia (1993) argumentierte, daß sich die Ostpolitik der westdeutschen SPD hinsichtlich der Mitgliederintegration der Ost-SPD im Endeffekt kontraproduktiv ausgewirkt hat. Die Annäherungs- und Anerkennungsstrategie der westdeutschen Sozialdemokraten an die DDR und die Staatspartei gipfelte 1987 im 'Gemeinsamen Strategiepapier von SPD und SED', welches von der gleichberechtigten Existenz beider deutscher Staaten ausging. In diesem Papier, dessen Ziel u.a. darin bestand, innerhalb der DDR sowie der SED eine ,,argumentative Streitkultur" zu fördern und Reformern eine Plattform zu bieten, anerkannte die westdeutsche SPD-Führung die SED als den einzig legitimen Ansprechpartner in Fragen der innerdeutschen Politik. Um die Errungenschaften der deutsch-deutschen Annäherung nicht aufs Spiel zu setzen, ging von seiten der West-SPD weder Protest aus, als von der SED beispielsweise das Zentrum der oppositionellen Bewegung in der DDR, die Umweltbibliothek der Berliner Zionsgemei~de, geschlossen wurde, noch 67

begrüßte die Partei die Gründung der SDP (s.o.). Silvia meint schließlich, daß sowohl die westdeutsche als auch die später vereinigte SPD angesichts dieser Annäherungsstrategie an die SED sowie ihres anfänglichen Zögems bei der Anerkennung der SDP insbesondere unter den "grassroot"-Aktivisten der Bürgerbewegung der ehemaligen DDR auf Vorbehalt stieß und letztlich potentielle Anhänger verlor. (3) Innerparteiliche Spannungen: Die Partei litt unter inhaltlichen sowie personellen Auseinandersetzungen. Nach dem Eintritt in die Große Koalition schwanden mehr und mehr ursprüngliche basisdemokratische Arbeitsformen der Partei, die von einer zunehmenden Alltags- und Wettbewerbsorientierung der Spitzenvertreter verdrängt wurden. Im Anschluß an Neugebauer (1994b: 93) förderte dies die Entfremdung zwischen der Parteibasis, die nach wie vor die Ideale der Bürgerbewegung pflegte (z.B. innerparteiliche Arbeit nach dem Vorbild der Runden Tische, Gemeindegruppenarbeit oder Diskussionszirkel auf lokaler Ebene) und der Parteiführung, die sich zusehends an "westlichen Muster" der sogenannten 'electoral competition' orientierte. Zu den innerparteilichen Auseinandersetzungen, die eine großflächigere Identifikation zwischen Partei und Anhängerschaft im Osten und damit die Entfaltung der Parteiorganisation behindert hat, zählt auch das von der West-SPD dominierte Agendasetting innerhalb der Partei (z.B. Rueschemeyer 1998: 109), welches im Zusammenhang mit der wenig populären Wahlkampfführung der Partei (s.u.), eine Entfremdung zwischen Partei und erhoffter Anhängerschaft weiter förderte. Während die ostdeutschen Sozialdemokraten in erster Linie um einen sozialdemokratisch profilierten Weg der deutschen Vereinigung rangen, wurden sie vonseitenihrer westdeutschen Partner, die unmittelbar nach Mauerfall noch ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet hatten, mit Themen konfrontiert, für die ein Bewußtsein in den neuen Ländern kaum entwickelt war (beispielweise die Frage nach dem Ausstieg aus der Kernenergie, s. Braunthal1994: 30). Mitentscheidend für die schwache organisatorische und elektorale Performanz war die Position der Partei während des Bundestagswahlkampfs 1990. Anders als der Bundeskanzler, der als der Repräsentant der Bundesrepublik eine überwältigend große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler im Osten für die rasche deutsche Vereinigung begeisterte (s. 3.2), kalkulierte der SPD-Kanzlerkandidat, Oskar Lafontaine, öffentlich die materiellen wie immateriellen Kosten der Vereinigung und traf damit alles andere als die Meinung der möglichen Anhängerschaft im Osten, die nach Silvia (1993: 37) " ... wanted to hear Lafontaine congratulate them for throwing off the yoke of communism ... Instead, Lafontaine gave them lectures on the excessive costs and social hardship generated by unity, lectures that, by implication, faulted the eastemers for freeing themselves".

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Zu den personellen Auseinandersetzungen, die zur Schwächung der Partei beitrugen, zählen schließlich auch die Stasi-Vorwürfe gegen den Parteichef und Fraktionsvorsitzenden Ibrahim Böhme, der daraufhin seine Ämter niederlegte, ebenso wie die Frage nach der Integration beitrittswilliger ehemaliger SED-Mitglieder. Hier waren die Auffassungen anfangs geteilt, bis sich die pragmatische Position durchsetzte, wonach ehemalige SED-Mitglieder, die die Partei vor dem 7. Oktober verließen sofort, die anderen, sofern sie nach eingehender individueller Prüfung als "unbelastet" galten, nach Ablauf eines Jahres in die SPD aufgenommenwerden konnten (Braunthal1994: 31). (4) Personalpolitik: Die Gründung einer Partei mit einem sicheren Stimmenpotential jenseits aller Sperrklauseln bzw. gesellschaftlichen Brandmarkungen als "Outlaw" ist für jene potentiellen Anhänger durchaus attraktiv, die sich Hoffnungen darauf machen, via Parteimitgliedschaft und innerparteiliche Aktivität in öffentliche Ämter gewählt zu werden (s. auch 4.6). Im Anschluß an Angelo Panebianco (1988: 25-30) handelt es sich bei diesen Anhängern um sogenannte Karrieristen bzw. laufbahnorientierte Mitglieder, die, so beschrieben, selbstverständlich nur als Idealtyp eines Parteimitglieds verstanden werden dürfen. Tatsächlich aber waren mit den bevorstehenden Volkskammer-, Kommunal- und Landtagswahlen 1990 eine ganze Reihe zum Teil höchst attraktiver Mandate und Ämter auf (noch existierender) staatlicher, kommunaler und Landesebene zu vergeben. Darüber hinaus trat auch die Partei selbst als Arbeitgeber auf und bot den ein oder anderen einflußreichen Posten, z.B. den Landesvorsitz oder die Geschäftsführung des Landesverbands. Wenngleich der Einsatz sogenannter "Transfereliten" aus dem Westen (Schmidt ~997: 305-8) kaum Bedeutung für die Rekrutierung der Volkskammer- und Landtagsabgeordneten sowie die Besetzung von kommunalen Ämtern hatte (s. z.B. Cusack 1996: 8), kann angenommen werden daß die Politik der innerparteilichen Personalrekrutierung einschließlich des Personaltransfers aus den alten Bundesländern in die ehemalige DDR auf Ebene der Landespolitik (Spitzenkandidaten sowie vor allem Regierungs- und Verwaltungsbeamte) den weiteren Zulauf laufbahninteressierter Anhänger begrenzte. Ein Blick auf die "politische Herkunft" der Abgeordneten im Osten des Landes zeigt, daß sich diese hauptsächlich aus ,,Aktivisten der ersten Stunde" rekrutierten, also Gründungsmitgliedern bzw. solchen, die der Partei in den ersten drei Monaten nach ihrer Gründung beitraten. Dies gilt für die SPD-Abgeordneten der ersten frei gewählten Volkskammer ebenso wie für die Abgeordneten der ersten Landtage in den ostdeutschen Ländern. Hier bildete die Gründergeneration mit 80% die Mehrheit, gefolgt von 12%, die nach März 1990 in die SPD eintraten. Nur 3.4% der SPD-Landtagsabgeordneten kamen aus den alten Ländem3. Auch in die Kommunalwahlen im Mai 1990 zog 3 Ich habe dies nach den Informationen der Volkskammer sowie der Landtage ausgezählt. Siehe Volkskammer der DDR, 10. Wahlperiode (WP); Landtag (LT) Mt;cklenburg· Vorpommern, 1. WP;

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die Partei, mit der prominenten Ausnahme des ehemaligen Oberstadtdirektors aus Hannover, Heinrich Lehmann-Grube, in Leipzig, mit einheimischen Kandidaten, wenngleich sie aufgrund der geringen Mitgliederausstattung nicht überall Kandidaten aufstellen konnte (s. FAZ 85.1990: 2). " Auf Landesebene ergab sich jedoch ein anderes Bild. Lediglich in Brandenburg und Sachsen-Anhalt kam es zu rein ostdeutschen Duellen der Spitzenkandidaten von SPD und CDU (Stolpe vs. Diestel sowie Gies vs. Höppner) während in MecklenburgVorpommem und Thüringen zwei westdeutsche SPD-Kandidaten antraten und sich in Sachsen gar ausschließlich zwei westdeutsche Kandidaten um das Amt des Ministerpräsidenten bewarben4. Wenngleich die SPD bei den Landtagswahlen im Oktober 1990 nur in Brandenburg ausreichend Stimmen erhielt, um zusammen mit der FDP und Bündnis 90/Grüne eine Ampelkoalition zu bilden, wird auf der der Regierung nachgeordneten Ebene der Ministerial- und Verwaltungsbürokratie der sogenannte Elitentransfer sehr deutlich. Alle in den neuen Ländern tätige Staatssekretäre stammten aus Westdeutschland (Derlien 1997: 375) und waren größtenteils Mitglied einer Partei. Im Falle Brandenburgs waren von den 12 Staatssekretären 7 Mitglieder der SPD, die anderen verteilten sich - in Abhängigkeit der Parteizugehörigkeit der Landesminister(innen) auf FDP (2) und B'90 (2) bzw. waren parteilos. Horst Damskis (1997: Kap. 2 und 3) zeigt exemplarisch an den Fällen Brandenburgs und Sachsens, daß auch die Mehrheit der Spitzenbeamten auf Landesebene (i) aus Westdeutschland stammte und (ii) Mitglied einer Partei war. So kamen im Land Brandenburg knapp 60% der höheren Verwaltungsbeamten aus den alten Ländern bzw. aus West-Berlin. Davon waren wiederum knapp drei Viertel Mitglied der SPD. Dieser sogenannte 'Rangeffekt' sinkt jedoch auf der Kommunalebene auf ca. 15% ab (Derlien 1998: 13). Ein in diesem Zusammenhang letzter Blick richtet sich auf die Führungsstrukturen der Landesverbände. Hier zeigt sich ein in etwa gleiches Bild wie bei der Besetzung der Spitzenpositionen auf der Ebene der Landesregierungen. Alle fünf SPD-Landesvorsitzenden waren einheimische Aktivisten der ersten Stunde, während zwei Geschäftsführer (Brandenburg, Sachsen-Anhalt) aus den alten Ländern kamen ..

LT Brandenburg, 1. WP; Landtag Sachsen-Anhalt, 1. WP; LT Thüringen, 1. WP; LT Sachsen, 1. WP. 4 In Mecklenburg-Vorpommern kandidierte der damalige schleswig-holsteinische Justizminister Klingner für die SPD gegen den CDU-Kandidaten Gomolka, in Thüringen der damalige nordrhein-westfälische SPD-Fraktionsvorsitzende Fahrtmann gegen den CDU-Kandidaten Duchac. Das Duell in Sachsen bestritten Kurt Biedenkopf für die CDU sowie die damalige SPD-Bundesgeschäftsführerin Anke Fuchs. Alle drei SPD-Bewerber(innen) scheiterten, nahmen die mit ihrer Position verbundenen Landtagsmandate nicht an und kehrten auf ihre ehemaligen Posten zurück (s. FAZ, 15.10. 1990: 2).

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Zusammengefaßt heißt das schließlich: Die unmittelbar nach der Wende neu zu besetzenden Mandate und Parteiämter wurden schnell- und zwangsläufig- an Aktivisten der ersten Stunde vergeben. Die später zur Wahl stehenden Positionen wurden auch mit Griindungsaktivisten, z.T. denselben Kandidaten, besetzt, aber auch, je höher die Position war, mit Vertretern aus dem Westen. Somit waren alle innerparteilichen Positionen bzw. Ämter, die aus der Parteimitgliedschaft folgen, schnell vergeben. Damit entfiel jedoch zunächst für alle weiteren Interessenten, deren potentielles Interesse an einer Mitgliedschaft sich an einem öffentlichen Mandat oder einem Parteiamt orientierte, ein wichtiges Partizipationsmotiv. (5) Mangel an 'believers ': Der Aufbau einer mitgliederstarken Parteiorganisation ist nicht nur zeitintensiv, sondern verlangt einen Anhängertyp, der bereit ist, seiner Partei treu und ohne Erwartung einer materiellen Gratifikation zu dienen. Dies ist nach Angelo Panebianco (1988: 25-30) der sogenannte 'believer' bzw. der treue Parteiaktivist. Voraussetzung für ein ausreichend großes Reservoir an treuen Parteiaktivisten ist, daß stabile ideologische oder Wertbindungen zwischen Partei und Anhängerschaft bestehen. Dies ist neben der Intensität der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Partei und Herrschaftsapparat bzw. zwischen den Parteien auch eine Frage der Zeit. Da sich die ostdeutsche SPD weder auf eine ideologische Mobilisierung (wie beispielsweise die SPD zur Zeit ihrer Entstehung Mitte des 19. Jahrhunderts oder später angesichtsder stark mobilisierenden Auseinandersetzung während der Regierung Brand!, s. 2.1) stützen konnte, noch ausreichend Zeit hatte, eine eigene Tradition zu begründen, entfielen diese Bedingungen für das Wachstum einer stabilen Beziehung zwischen Partei und "ihren" Anhängern. Potentielle Parteimitglieder orientieren sich unter diesen Bedingungen eher an kurzfristigen Anreizen bzw. Motiven zur Partizipation. Dies sind in erster Linie immaterielle Anreize wie Prestige, Amtsmacht sowie zweckrationale Aspekte (Politikgestaltung) aber auch materielle Anreize (z.B. Diäten, Pensionsanspriiche, Dienstwagen usw.). Die Parteiämter, mit denen diese privaten, materiellen Teilnahmeanreize verbunden sind, waren aber, wie eben angesprochen, größtenteils schnell vergeben. Was blieb, waren die materiell wenig lukrativen, zeitaufwendigen Tätigkeiten an der Basis, für die ein Reservoir an treuen Gefolgsleuten notwendig ist: die Organisation von Parteiversammlungen, da~ Suchen nach geeigneten Räumen, Rednern und Themen, Verwaltung der Mitgliederkartei, Präsentation der Partei vor Ort, z.B. in Fußgängerzonen oder vor Einkaufszentren, Haustüraktionen zur Mitgliederwerbung sowie schließlich die Bereitschaft zur Kandidatur für Stadtverordnetenversammlungen, Gemeinderäte usw. Stammanhänger, die bereit sind, diese innerparteiliche Kärrnerarbeit zu verrichten, waren aufgrund fehlender tradierter wie ideologischer Bindungen an die SPD nicht in ausreichend großer Zahl vorhanden. Sogenannte 'Karrieristen', d.h. potentielle Anhänger, die mit ihrem Engagement auf ein lukratives innerparteiliches Amt zielen, hatten wegen der oben angesprochenen Personalpolitik 71

bzw. -rekrutierungsmuster nur noch vergleichsweise geringe Chancen, dieses Ziel zu erreichen. Die in Aussicht stehende innerparteiliche Arbeit bot für diese potentielle Anhängergruppe ('latente Karrieristen') einen zu geringen Anreiz für innerparteiliches Engagement. Das heißt, die ostdeutsche SPD verfügte nicht über die zum Aufbau einer mitgliederstarken Parteiorganisation notwendigen Bindungen zu einer zahlenmäßig großen Anhängerschaft (s. auch Conradt 1995). Mit ca. 25.000 Mitgliedern Ende 1990 hatte die Partei das Potential ihrer Anhängerschaft weitgehend ausgeschöpft. Sie hat Partizipationsmotive offeriert und damit den ,,harten Kern" derer mobilisiert, die sich unabhängig von allen Fragen nach einer Entlohnung für die Partei einsetzen und versuchen, über innerparteiliche Aktivität einen Dienst am Gemeinwesen ebenso wie für die Partei zu leisten. Darüber hinaus konnte sie auch all jene erreichen, die mit ihrer Teilnahme vornehmlich das Erreichen eines Mandats oder öffentlichen Amtes anstrebten. Mit der Besetzung der Ämter und Mandate war auch aus einer rein laufbahnorientierten Sicht eine Sättigungsgrenze erreicht. Entwicklungslinien seit 1990 Aufgrund der geringen Zahl organisierter Anhänger litt die Partei an einer schwach entwickelten innerparteilichen Struktur, in der beispielsweise die innerparteilichen Arbeitsgemeinschaften, für die Partei ein wichtiges Rekrutierungsfeld für den Nachwuchs sowie Ort (lokal)politischer Profilierung, so gut wie nicht vorhanden. waren (Linnemann 1994: 84-7) sowie, insbesondere auf kommunaler Ebene, unter einem chronischen Mangel an eigenen Kandidaten für öffentliche Ämter (FAZ 8.5.1990: 2). Ende September 1990 fusionierten die zwei so unterschiedlich strukturierten Schwesterparteien auf einem gemeinsamen Parteitag in Berlin. Die mitgliederstarke Volkspartei aus dem Westen stand einer mitgliederschwachen Organisation gegenüber, die kaum über Bindungen zu einer größeren Anhängerschaft verfügte. Angesichts der schwach entwickelten organisatorischen Basis und der - bis auf genannten Ausnahmen5 - geringen Wählermobilisierungskraft der SPD in oben die den neuen Ländern verstärke die Führung die Bemühungen in den ,,Aufbau/Ost" der Parteiorganisation. Auf dem Fusions-Parteitag wurde der Beschluß gefaßt, die Entwicklung der Parteiorganisation in den neuen Ländern mit Hilfe eines "Strukturhilfeprogramms" zu forcieren (s. auch Neugebauer 1994b). Im Vordergrund dieses Programms, für dessen Implementation eine eigene Parteikommission gegründet wurde, 5 Das administrativen Zentrum der ehemaligen DDR, Ost-Berlin, sowie noch mehr Brandenburg entwickelten sich rasch zur sozialdemokratischen "Wahlhochburgen". Zwar erreichte die SPD hier auch nur relativ wenige Mitglieder ca. 1.400 (Ost-Berlin) bzw. 5.800 (Brandenburg), mobilisierte jedoch, wie oben erwähnt, bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus 32.1% bzw. zum Landtag 38.2% der Wählerinnen und Wähler, womit zumindest hier ein Trend zur Wähleqmrtei mit geringer Mitgliederstärke vorgezeichnet war. 72

standen die Werbung und Integration neuer Mitglieder, die Ausdehnung der lokalen Parteiorganisation, einschließlich der "gesellschaftlichen Vorfeldarbeit" (Präsenz in den Betrieben, Tätigkeit der innerparteilichen Arbeitsgemeinschaften), die Schulung des Personals sowie eine Steigerung der Öffentlichkeitsarbeit (SPD-Parteivorstand 1993). Das Programm sah vor, daß jedes Parteimitglied für die Dauer von drei Jahren einen festgelegten Beitrag in einen "Strukturhilfefond" einzahlen sollte, wodurch von 1991 bis 1994 insgesamt über 41 Mio. DM akquiriert wurden. Die Mittel aus diesem Fond wurden wiederum für "apparative" (Unterhaltung der Geschäftsstellen in den SPD-Landesverbänden, Personalkosten) und "operative" Zwecke (Aufbau lokaler Parteiverbände, Mitgliederwerbung, Öffentlichkeits- und Programmarbeit) verwendet. Aufgrund der geringen finanziellen Selbständigkeit der ostdeutschen SPD-Landesverbände, beispielsweise wegen des geringen Beitragsaufkommens der wenigen Mitglieder, flossen jedoch allein zwei Drittel des zur Verfügung stehenden Geldes in die sogenannten apparativen Aufgaben. Der Partei standen demnach für den Aufbau lokaler Verbände (Unterbezirke, Ortsvereine) und die Erweiterung der Mitgliederbasis in den neuen Ländern ca. 13.5 Mio. DM zur Verfügung. Ein Blick auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen der SPD im Osten signalisiert allerdings, daß sich diese Kampagne für die Partei kaum auszahlte. Die Mitgliedschaft fiel sogar in den beiden auf die Programminitiierung folgenden Jahren und erreichte Ende 1994 gegenüber dem Programmstart eine Steigerung um 511 Mitglieder. Weiter unten (4.5) gehe ich auf das Verhältnis von Kosten und Nutzen von Investitionen in die Erweiterung der Mitgliedschaft unter den Bedingungen nachlassender Parteibindungen (im Westen) sowie schwach entwickelter sozialer Voraussetzungen der Partizipation in Parteien (im Osten) näher ein. Aber ein kurzer Blick auf die Kosten der Mitgliederentwicklung (ohne Berücksichtigung des Verhältnisses von Ein- und Austritten) deutet zumindest an, daß es sich bei der Mitgliederwerbung um ein sehr kostspieliges Unterfangen handelt, welches den Aufwand nicht unbedingt rechtfertigt. Angenommen, von den 13.5 Mio. Mark wurde nur ein Drittel unmittelbar für Mitgliederwerbung und -integration verwendet6, also 4.5 Mio. Mark, dann ,,kostete" bei einem Netto-Gewinn von 511 neuen Mitgliedern jedes Mitglied der Partei knapp 9.000 Mark. Legt man einen durchschnittlichen Monatsbeitrag von DM 10,- zugrunde?, den das

6 Es ist nicht genau bekannt, wie hoch der Anteil aus diesem Sonderfond tatsächlich war, den die Partei für die Mitgliederwerbung "Ost" verwendet hat. Das liegt hauptsächlich daran, daß den Landesverbände bzw. den Unterbezirke die Mittel pauschal zugeteilt wurden und sie diese in eigener Regie verwendeten. Die Einschätzung, daß angesichts der Dreiteilung der 'operativen Aufgaben' (s.o.) auch ca. ein Drittel des Fonds in die unmittelbare Mitgliederwerbung investiert wurde, hielten die Landesgeschäftsführer in den Interviews jedoch für realistisch. 7 Die Mitgliedsbeiträge in der SPD sind einkommensabhängig. Sie schwanken von DM 5 für Mitglieder mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen zwischen DM 600 und DM 1.200 und

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Neumitglied an die Partei zurückzahlt, dann wären die Integrationskosten für die Partei -zunächst ohne jede weitere Aktivität des Neumitglieds- nach gut 73 Jahren gedeckt. Anders ausgedrückt: Damit der Partei ein tatsächlich nachweisbarer Nutzen vom Mitgliederzuwachs entsteht, müßte ein Neumitglied langfristig einen immateriellen Nutzen stiften, d.h. zur Kandidatur für öffentliche Ämter bereit sein, die Partei durch permanente Aktivität oder erneute Mitgliederwerbung unterstützen usw. Da aber erfahrungsgemäß der Anteil der aktiven Parteimitglieder auf 20-30% beschränkt ist (detaillierter dazu Kapitel 5), was in diesem Falle bei einem großzügig unterstellten Aktivistenanteil von 30% hieße, daß nur ca. 150 der 511 neuen Mitglieder der Partei auch einen längerfristigen Nutzen per innerparteilichen Engagements stiften, verschlechtert sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis für die Partei noch mehr. Wie oben erwähnt, komme ich auf diesen Gesichtspunkt im vierten Kapitel zurück. Die an dieser Stelle bereits augenscheinlichen quantitativen Differenzen zwischen den Schwesterverbänden, insbesondere die geringe Mitgliederstärke, signalisieren ein organisatorisches "Ostgefälle" (Silvia 1993: 44) innerhalb der SPD. Abgesehen von den angesprochenen Organisationsdifferenzen symbolisiert das Verhältnis aus Parteimitgliedern und Mandats- bzw. Amtsinhabern im Osten die Entstehung einer Mandatsträgerpartei, also genau das Gegenteil von dem, was der innerparteilichen Arbeitsgruppe 'Mitgliederentwicklung' als Organisationsziel vorschwebte (s. 2.1). Das Mitglieder-Mandatsträger/Amtsinhaber-Verhältnis der SPD in den neuen Ländern das allerdings zwangsläufig aus der geringen Mitgliederstärke folgte - betrug Ende 1990 3:1 (s. Neugebauer 1994a: 42-3, Rueschemeyer 1998: 107) gegenüber einem Verhältnis von ca. 20:1 in der westdeutschen Schwesterorganisation. Die Frage ist, ob die Partei, die nach der Wende in den neuen Ländern nicht über eine mitgliederstarke, lokalpolitisch aktive und profilierte organisatorische Basis verfügte, noch andere, deutlichere Strukturmuster einer primär wahlorientierten Rahmen~ partei zeigt. Das schlösse ein, daß es sich bei der ostdeutschen Sozialdemokratie auch heute noch um eine relativ mitgliederschwache Parteiformation handelt, deren innerparteiliches Zentrum hauptsächlich in den Landtagsfraktionen sowie bei einzelnen Personen, d.h. bei den Fraktions- oder Landesvorsitzenden oder, wenn möglich, bei Ministern bzw. Ministerpräsidenten auszumachen sein wird und sie die Vergrößerung ihrer außerparlamentarischen (Mitglieder-)Organisation in d6n Hintergrund stellt. Diesen Fragen werde ich in der späteren Untersuchung nachgehen. Im zweiten Teil dieses Kapitels folgt zunächst ein Überblick über Aufgaben, Organisationsentwicklung und Wandel der CDU in der ehemaligen DDR. Dem schließt sich eine Zusammenfassung an, die einen Ausblick auf die organisatorischen Voraus-

DM 400 für jene, die über 7.000 Mark/Monat verdienen. Nach Braunthai (1994: 63) liegt der durchschnittliche Mitgliedsbeitrag eines SPD-Mitgli:!ds bei DM 8.40,-.

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setzungen beider Parteien in den östlichen Bundesländern für ihre weitere Entwicklung seit der Fusion mit den entsprechenden westdeutschen Schwesterverbänden gibt.

3.2 Die CDU-Ost. Von der Block- zur gesamtdeutschen Regierungspartei Die Grtindung bzw. Wiederzulassung politischer Parteien in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) erfolgte nach dem Ende des li. Weltkrieges, ähnlich wie in den Westzonen, auf die Initiative der Militäradministration (SMAD). Der SMAD ging es zunächst darum, mit Hilfe antifaschistischer und demokratisch organisierter Parteien, das politische Leben in ihrer Besatzungszone wiederzubeleben. Die Pläne der Militärbehörden und der aus der Sowjetunion zurtickkehrenden Kommunisten schlossen auch die Zulassung bürgerlicher Parteien ein (Leonhard 1990: 497). Im Juni 1945 kam es mit Wiedergrtindung von KPD und SPD, der Grtindung der Liberalen Partei (LDPD) sowie der CDU zum Entstehen einer Parteienlandschaft, welche jedoch gleich, den Intentionen der SMAD und der Kommunisten entsprechend, in der sogenannten "antifaschistisch-demokratischen Einheitsfront", einem Vorläufer des späteren Blocks der "Nationalen Front" zusammengefaßt wurden. Dennoch hielten sich die Kommunisten auch nach der Bildung der Einheitsfront mit Formulierungen zurtick, die auf die schnelle Errichtung eines kommunistischen Regimes hätten hindeuten können. Statt dessen bemühten sie sich um gute Beziehungen zu den bürgerlichen Parteien, um den erforderlichen Neubeginn auf eine möglichst breite gesellschaftliche Basis zu grtinden. Den beiden bürgerlichen Parteien fiel im Block die Aufgabe zu, Christen, Bürgerliche und Nicht-Kommunisten zu integrieren und sie langsam vom Kurs der KPD zu überzeugen (beispielsweise in der Frage der Bodenreform 1946). Die CDU in der SBZ versuchte, an Vorkriegstraditionen anzuknüpfen und wandte sich in ihrem Grtindungsaufruf an alle christlichen und antifaschistisch-demokratische Bevölkerungsgruppen, einschließlich konfessionell gebundener Arbeiter. Unter Führung der ersten Vorsitzenden Andreas Hermes 'und Jakob Kaiser hatte es in der Frtihphase der SBZ den Anschein, als könne sich die CDU als bürgerlich-demokratische Alternative gegenüber den Arbeiterpa,rteien, allen voran der KPD, behaupten und eine gewisse politische Unabhängigkeit bewahren. Aber der von den Kommunisten dominierte Block, der die einzige Handlungsebene der Parteien bildete, sowie die SMAD verhinderten die weitere Entwicklung der nicht-kommunistischen Parteien zu ~~e~bständigen politischen Kräften. Nachdem die CDU-Führer Zweifel am Verfahren der Bodenreform deutlich machten und sich nicht bereit erklärten, an den Wahlen zum ersten Volkskongreß8 1946 teilzunehmen, wurden sie von der Militäradministration abgelöst und durch loyale Funktionäre ersetzt (Gradl1981, Richter 1991). 8 Der Volkskongreß war der Vorläufer der Volkskammer. Er wurde nach seiner zweiten Zusammensetzung 1948 mit der Einrichtung eines Ausschusses beauftragt, der die Verfassung der DDR ausarbeiten sollte.

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Die Ablösung Hermes' Ende 1945 und die Kaisers zwei Jahre später, waren gleichbedeutend mit dem Ende des Versuchs, in der SBZ eine demokratische Partei mit christlichen Grundsätzen zu errichten. Die Gleichschaltung der politischen Kräfte in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands wurde 1946 mit der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED auf den Weg gebracht und 1948 durch die Gründung der Nationalen Front, der neben SED, LDPD, CDU auch die im Jahr der Blockbildung gegründete National-Demokratische Partei (NDPD) und die Bauernpartei (DBD) sowie weitere Massenorganisationen (FDGB, FDJ, Frauen- und Kulturbund) angehörten, zementiert. Gegen Ende der vierziger Jahre setzten in den Parteien der SBZ die für stalinistische Systeme typischen "Säuberungswellen" ein, denen innerparteilich Oppositionelle zum Opfer fielen. Durch die Mischung aus Repression und Vergabe von Herrschaftsprivilegien an die Führer und Funktionäre der Blockparteien (z.B. Posten in den neu zu besetzenden Ministerien der DDR) sicherten sich die SED-Führer die Loyalität ihrer Verbündeten, die sie mehr und mehr in den Herrschaftsapparat kooptierten. Mit der Gründung der DDR im Oktober 1949 und der einsetzenden Besetzung mit SED-Ioyalen Funktionären bis 1952 wurde die CDU fester BeParteiämter aller standteil des kommunistischen Regimes. Die Partei ließ, besonders nach Ernennung Gerald Göttings 1966 zum Vorsitzenden, kaum noch eigenes Profil erkennen. Wie die anderen Blockparteien hat auch die CDU nie eigene politische Programme formuliert, die Aufnahme neuer Mitglieder mußte :.... ebenso wie die Themen upd die Zusammensetzung der Delegierten zu Parteitagen - mit den SED-Kreisleitungen und z.T. der Staatssicherheit abgesprochen werden, und in der Volkskammer gab es, bis auf eine Ausnahme9, keinen Widerspruch zu den Entscheidungen der SED. Organisation der Block-CDU Der CDU in der DDR oblag in erster Linie die Aufgabe, Bevölkerungsgruppen zu integrieren, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft oder ihres Berufes nicht in das Integrationskonzept der SED paßten. Vornehmlich waren das sogenannte "progressive" Christen (solche, die sich zum SED-Regime loyal verhielten), einschließlich Arbeiter, aber auch Handwerker, Gewerbetreibende, Selbständige, Künstler und teilweise Pastoren, wenngleich der Partei deren Integration äußerst schwer fiel. .

9 In diesem Zusammenhang wird, da einmalig, immer wieder ein Ereignis hervorgehoben (z.B. v. Ditfurth 1991: 74, Schmidt 1997: 41). Bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen 1972 votierten 14 von 52 CDU-Volkskammerabgeordneten gegen das Vorhaben, acht weitere enthielten sich der Stimme. Vorausgegangen waren allerdings Verhandlungen zwischen CDU-Vorstand und den SED-Gremien, wonach die CDU-Abgeordneten hier eine Gewissensentscheidung treffen konnten. Die SED konnte sich dieses Verfahren ohne weiteres leisten, denn sie verfügte aufgrund der unabhängig vom "Wahlausgang" zugeteilten Mandate an sich und die nahestehenden Organisationen (FDGB, FDJ, Kulturbund) über die ständige Mehrheit in der Volkskammer.

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Ein Blick auf die soziale Struktur der CDU-Mitglieder (Tabelle 3.2.1) suggeriert für den Moment den Eindruck, daß die CDU einen "quasi-volksparteilichen Charakter" aufwies (Lapp 1988: 14). Die Partei konnte allerdings nicht aus freien Stücken um Mitglieder werben und diese integrieren, sondern erhielt von der SED Kontingente (Zielgruppen), die sich im Laufe der Zeit änderten, was sich wiederum in der Zusammensetzung der Mitgliedschaft ausdrückte. So gesehen handelte es sich bei der CDU nach erfolgter Blockbildung nicht um eine Volkspartei im Verständnis der westlichen Parteienforschung, sondern um einen Loyalitätsbeschaffer der SED in Kreisen, die sie nicht erreichte bzw. aus ideologischen Gründen nicht erreichen wollte, denn sie beanspruchte hauptsächlich die Integration von Angehörigen der Arbeiterklasse. Tabelle 3.2.1 Soziale Zusammensetzung der Mitglieder der CDU-Ost 1985 1951 17.9 10.0 Arbeiter 275 39.0 Angestellte 14.5 17.0 (Genossenschafts)Bauem 115 12.0 Handwerker/Gewerbetreibende 4.4 13.0 freiberuflich Tätige/Selbständige 18.4 9.0 Hausfrauen 5.7 Sonstige Angaben in Prozent Quelle: Lapp (1988: 15)

Die Organisation der Ost-CDU zeigte in einigen Punkten bemerkenswerte_ Ähnlichkeiten mit Strukturen und Verfahren, die in der Literatur für (i) kommunistische, (ii) revolutionär-avantgardistische, (iii) Einheitsparteien und schließlich (iv) proletarischen Massenorganisationen hervorgehoben wurden (Duverger 1959). Hierzu zählen zum einen die Existenz von Betriebszellen (zu i und iv), zum anderen die Schulung von Parteikadern auf der Grundlage einer "wissenschaftlichen Weltanschauung" (zu i, ii und iv), die Bürgschaft für Neumitglieder durch verdiente Altmitglieder (zu i bis iv), ein hohes Maß an innerparteilicher Kontrolle durch ideologische "Säuberungen" (i bis iii) und die strenge zentralistische Führung der Partei (i bis iv). Obwohl nach der Schließung der CDU-Betriebsgruppen durch die SED 1952, die die Repräsentation der Arbeiter für sich allein reklamierte, ein Merkmal kommunistischer Parteien entfiel, und auch die "Säuberungswellen" nachließen, nachdem alle entscheidenden Positionen mit. treuen Gefolgsleuten besetzt wurden (v. Ditfurth 1991), blieben mit den ideologischen Kaderschulungen, der Bürgschaft und der zentralistischen Führung die anderen Verfahren erhalten. Somit handelte es sich hinsichtlich der Organisationsverfahren der DDR-CDU eher um eine Art "Filiale" der SED als um eine christlich-demokratische Partei mit Wurzeln in bürgerlichen Bevölkerungsgruppen.

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Mit dem Vorhandensein eines engmaschigen Parteiapparates auf allen admi.ni: strativen Ebenen des Landes (Orts-, Kreis-, Landes-/Bezirksverände) und einer- trotz aller Schwankungen- relativ großen Mitgliederzahl (Tabelle 3.2.2) kamen zwei Me-rkmale der Massenpartei hinzu. Tabelle 3.2.2 Mitgliederentwicklung der CDU-Ost bis zur Vereinigung Mitglieder Jahr 207.000 1946 180.000 1950 105.000 1955 ca. 70.000 1960 ca. 90.000 1965 ca. 100.000 1970 ca. 100.000 1975 125.000 1980 131.000 1985 130.000 1989 Quelle: Lapp (1988: 16)

Der rasante Mitgliederrückgang zwischen 1946 und 1960 geht auf die Absetzung der ersten Vorsitzenden und der Bildung des Blocks, nach der viele Anhänger der Partei ebenso wie die abgesetzten Vorsitzenden die DDR in Richtung Westen verließen, zurück sowie auf die innerparteilichen "Säuberungswellen" in den fünfziger Jahren (v. Ditfurth 1991) und die Kontingentierung der Mitgliederzahlen und -anteile durch die SED. Nach dem Mauerbau stabilisierten sich die Mitgliederzahlen jedoch und nahmen bis zur "Wende" stetig zu. Die Mitgliedschaft in der CDU bot zunehmend, wie die in den anderen Blockparteien auch, gewisse individuelle Karrierechancen in der DDR und eine der sogenannten NisChen, in denen viele den Nachstellungen der SED-Mitgliedswerber entkommen konnten. Die Wende zur gesamtdeutschen Regierungspartei Erkennbare Anzeichen für einen personellen wie inhaltlichen Wandel in der BlockCDU zeigten sich über den Sommer 1989. Die Ausreisewellen von DDR-Bürgern, die Ereignisse am 40. Jahrestag der DDR (z.B. Massendemonstrationen in Ostberlin, Gorbatschow-Besuch), der erste Führungswechsel an SED- und Staatsspitze (Kreni: gegen Honecker) sowie die anhaltenden Massenproteste gegen das SED-Regime, zu dem die CDU, wie die anderen Blockparteien zu diesem Zeitpunkt zweifellos gehörte, gaben den Anlaß für interne Reformdiskussionen. Bevor sich in der Partei sogenannte "nachrückende Blockeliten" (Schmidt 1997: Kap. 10) an die Parteispitze setzen konnten, der CDU-Hauptausschuß Anfang November 1989 den langjährigen Parteichef Götting absetzte und Lothar de MaizieJ:e zum neuen Parteivorsitzenden wählte, hatte sich im Spätsommer 1989 mit dem ,,Brief aus 78

Weimar" ein erster Reformerkreis zu Wort gemeldet. Im Vordergrund dieser Initiative (detai~liert s. z.B. Schmidt 1997: 49-55) standen noch nicht die Diskussion um das politische System der DDR oder die Rolle der CDU ~ls Blockpartei. Der ,,Brief aus Weimar" war lediglich ein Versuch, die massiven innenpolitischen Probleme des DDR-Regimes zu artikulieren und dabei einen Anstoß zu geben, welchen Beitrag die CDU- als eigenständige Partei- zur Lösung dieser Probleme leisten könne. Den Verfassern schwebte - im Rahmen der bestehenden politischen wie sozialen Ordnung der DDR- eine innerparteiliche wie gesellschaftliche Demokratisierung vor, die beispielsweise demokratische Entscheidungsverfahren in der Partei, stärkere Repräsentation der CDU auf allen Leitungsebenen sowie eine Änderung des DDR-Wahlverfahrens beinhalten sollte. Gleichzeitig forderten sie die Aufdeckung der wirtschaftlichen Lage der DDR, Reisefreiheit sowie die Anerkennung der oppositionellen Bürgerbewegung (Neues Forum). Anfang Dezember beschloß der Vorstand der CDU, die Blockformation zu verlassen. Mit Lothar de Maiziere, der auf einem Sonderparteitag im Dezember 1989 in Berlin in seinem Amt durch die Wahl der Delegierten legitimiert wurde, rückten auch weitere Funktionäre, wie Generalsekretär Martin Kirchner, in die neue Führungsetage der Ost-CDU. Nach Ute Schmidt (1997: Kap. 10) handelt es sich hierbei um einen "Elitenaustausch", bei dem an der Parteispitze ,,Blockeliten", also die alte Führung, durch ,,nachrückende Block-" bzw. "Transformationseliten" ersetzt wurden10. Auf diesem Sonderparteitag Ende 1989 distanzierte sich die CDU offiziell von sozialistischen Vorstellungen (wie sie beispielsweise noch im Weimarer Brief angelegt waren), bekannte sich zu den Grundlagen ,der sozialen Marktwirtschaft, und der Parteivorsitzende plädierte für eine baldige Vereinigung Deutschlands (FAZ 18.12. 1989). Gleichzeitig wurde der Beschluß gefaßt, die Organisations- und Leitungsstruktur zu verändern. Der Apparat mit dem mächtigen Hauptvorstand wurde verkleinert, ein neues Präsidium gewählt und man verständigte sich darauf, die lokalen Führungspositionen neu zu wählen sowie die Partei nach entsprechend durchgeführter Gebietsreform in Landesverbände zu gliedern (Schmidt 1994: 48-9). Bis zur Ernennung de Maizieres zum Parteivorsitzenden, der zunächst als politisch weitgehend "unbelastet" galt, hatte die CDU im Westdeutschland nahezu jeden 10 Zur Gruppe der ,,nachrückende Blockelite" zählten in der Regel Funktionäre der mittlerem ad-

ministrativen, Verwaltungs- und kirchlichen Führungsebene: Beispielsweise Kirchenräte (Kirchner), Kommunalpolitiker (Rat-des-Kreises-Mitglieder wie z.B. der spätere thüringische Ministerpräsident Duchac) aber auch CDU-Bezirksvorsitzende wie der spätere Minister im de MaiziereKabinett Reichenbach aus Kari-Marx-Stadt/Chemnitz. Als "Transformationselite" definiert Ute Schmidt (1997: 300) Personen, die in der Block-CDU zunächst kaum aktiv waren bzw. keine entscheidenden Positionen bekleideten und erst während des Herbstes 1989 zu den Trägem der innerparteilichen Reformbestrebungen wurden. Hierzu zählt z.B. Lotharde Maiziere, der im CDUHauptvorstand Mitglied der Arbeitsgruppe 'Kirchenfragen' war, dort aber keine innerparteiliche Leitungsfunktion ausübte. 79

offiziellen Kontakt zu ostdeutschen CDU vermiedenll. Auch nach dem Sonderparteitag blieb die Einstellung der westdeutschen CDU-Strategen zur ostdeutschen COU zunächst zögerlich. Denn völlig unklar war die Frage, ob die ostdeutschen Christdemokraten- !rotz des einsetzenden Wandels- überhaupt noch über einen Rückhalt in der DDR-Bevölkerung verfügte. Die westdeutsche CDU favorisierte die Neugründung einer konservativen Partei in der DDR, wobei der Demokratische Aufbruch (DA), hervorgegangen aus Kreisen der Oppositionsbewegung des Wendeherbstes, als möglicher Gründungskern im Gespräch war (Lange 1994: 467-8). Nach der Wahl de Maizieres zum Parteivorsitzenden sowie dem von ihm angekündigten Kurswechsel gingen Vertreter der westdeutschen CDU jedoch dazu über, die Kontakte zur Ost-CDU zu verstärken. Mit Beginn des Jahres 1990 hatte sich in der westdeutschen CDU die Ansicht durchgesetzt, die ehemalige Blockpartei gleichzeitig mit dem DA zu fördern. Der DA verfügte als Neugründung über den Vorteil, als politisch unbelastet zu gelten und hatte Wurzeln in der Bürgerbewegung. Aber die ca. 130.000 Mitglieder, das flächendeckende Netz der insgesamt 227 Geschäftsstellen (s. Schmidt 1994: 73, Anm. 11) sowie eine für DDR-Verhältnisse relativ komfortable finanzielle Ausstattung12 der ostdeutschen CDU boten für die CDU-West einen optimalen strategischen Vorposten, in Ostdeutschland Fuß zu fassen. In Anbetracht der immer lauter werdendeh Forderung nach freien Wahlen in der DDR forcierte die westdeutsche CDU ihre Unterstützungen der beiden Parteien. Die Strategen der Unionsparteien kündigten angesichts der bevorstehenden Volkskammerwahlen an, eine ,,Allianz gegen den Sozialismus/für Deutschland" zu bilden, der neben Ost-CDU und DA auch die sich bürgerlich-konservativ gebende Deutsche Soziale Union (DSU), die von der CSU gefördert wurde, angehörte. Die westdeutsche CDU unterstütze massiv die Wahlkampfführung der Allianz. Die Ost-CDU wurde im Laufe ihrer vierzigjährigen Geschichte nach 1948-52 im Frühjahr 1990 zum zweiten Mal von einem übermächtigen Partner gewissermaßen einverleibt. Es ~~_gann ein Transfer von Beratern, Wahlkampfexperten und Werbematerial. Die CDU-Bundesgeschäftsstelle übernahm die Presse- und Öffentlichkeits11 Wenn es bis zum Fall der DDR Kontakte zwischen CDU und den Vertretern der Honecker-Administration gegeben hatte, dann wendeten sich die Unionspolitiker, beispielsweise der damalige bayerischen Ministerpräsident Franz-Josef Strauß mit seinem Projekt des Milliardenkredits Anfang der 80er Jahre oder zuvor der damalige Schatzmeister der CDU, Waller Leisler Kiep, Mitte der 70er Jahre, gleich direkt an den Staatsratsvorsitzenden bzw. dessen Berater und nicht an Vertreter der Blockparteien (s. Der Tagesspiegel2. 10. 1997). 12 Die Partei verzichtete zwar offiziell auf die Vermögenswerte .der ostdeutschen CDU, doch Ute Schmidt (1997: 123-4) argumentierte, daß (i) nach der Vereinigung von CDU/Ost und Bauernpartei ca. 4.7 Mio DM in die Parteikasse flossen und (ii) die Partei später staatliche Zuwendungen an die im März 1990 gewählte Volkskammerfraktion für den Aufbau der Landtagsfraktionen verwendete. Neben der vorhandenen Infrastruktur der Ost-CDU stellte dies gegenüber der Situation, in der sich die ostdeutsche SPD befand, einen klaren Vorteil dar.

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arbeitfür die Allianz, die Produktion und Verteilung der Wahlkampfmaterialien, Vertreter der westdeutschen CDU traten auf Wahlveranstaltungen auf und die westlichen Landesverbände nahmen den Aufbau bzw. die Reorganisation der Partei in den noch bestehenden 15 Bezirken der DDR an sich. Gleichzeitig begannen die Dachverbände · von Frauenunion und Mittelstandsvereinigungen der CDU-West, vergleichbare Organisationen im Osten ins Leben zu rufen (Lange 1994:469, Schmidt 1997: 137-43). Das unmißverständliche Wahlkampfbekenntnis der Allianz gegen jede Art "sozialistischer Experimente" sowie für einen raschen Anschluß der DDR an das Bundesgebiet brachten ihr einen unangefochtenen und von vielen Beobachtern in dieser Höhe nicht vorhergesagten Erfolg. Bei den Wahlen zur Volkskammer erreichte die Allianz mit 48.2% und 193 von 400 Sitzen zwar nicht die absolute Mehrheit, aber dennoch die Regierungsverantwortung und Lotbar de Maiziere wurde zum Ministerpräsidenten einer Großen Koalitionl3 gewählt. In der turbulenten Legislaturperiode der ersten und letzten frei gewählten Volkskammer brachten die Koalitionäre eine Reihe von Gesetzentwürfen auf den Weg, worüber schließlich zwar die Große Koaltion zerbrach (v .a. in der Frage nach den Modalitäten des Beitritts), nicht aber das veranschlagte Tempo der schnellen Vereinigung abnahm. Mit dem lnkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, den gemeinsamen Verhandlungen von DDR und BRD mit den Siegermächten (2+4-Gespräche) und der Unterzei~hnung des Einigungsvetrages hatten die Koalitionspartner, später die Vetreter der Allianz allein, die Weichen auf die Herstellung der deutschen Einheit gestellt. Flankiert wurde der Einigungsprozeß vom Engagement der Bundesregierung und insbesondere von dem des Kanzlers, der seine Richtlinienkompetenz voll ausschöpfte (Lehmbruch 1990: 472). Teilweise im Alleingang und vollkommen unabhängig von organisatorischen Fragen "seiner" Partei in der noch bestehenden DDR schuf der Kanzler irreversible innen- wie außenpolitische Fakten (beispielsweise bei der Einigung mit den damaligen Präsidenten der UdSSR und der USA, Michail Gorbatsch"ow und George Bush, über die volle Souveränität des vereinigten Deutschlands) und ebnete so den Weg zur Herstellung der staatlichen _Einheit am 3. Oktober 1990. Analog zum Verfahren der deutschen Vereinigung erfolgte der Zusammenschluß der CDU-Schwesterverbände in Form eines Beitritts der CDU-Ost zur CDU-West bzw. zur "CDU Deutschlands". Zuvor (Januar bis März 1990) hatten sich die ostdeutschen CDU-Bezirke - in formaler Analogie zur Organisation der westdeutschen Partei und mit deren Unterstützung - zu Landesverbänden zusammengeschlossen und begonnen, die Partei an der Basis zu reformieren. 13 Die Große Koalition aus Allianz, SPD-Ost und Ost-Liberalen wurde notwendig, da für wichtige Entscheidungen in der Volkskammer Zwei-Drittel-Mehrheiten erforderlich waren.

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Über den Sommer 1990 hatte innerhalb der Ost-CDU ein Personalaustausch stattgefunden. Hierbei wurde ein Großteil der alten Block-CDU-Kader bis hinunter auf die lokale Ebene durch nachrückende Block- oder Transformationskader ersetzt. So konnte zwar mit neuen Amtsinhabern eine Arbeitsfähigkeit der Organisation sichergestellt werden, doch waren das größtenteils politische Laien, die mehr oder weniger zufällig bzw. in Ermangelung an personellen Alternativen an die Führungspositionen gelangten (vgl. Schmidt 1997: 299). Gleichzeitig wurden die Reihen der Ost-CDU gestärkt. Im August 1990 schloß sich der DA der Ost-CDU an. Einen Monat später folgte mit ca. 6.000 Mitglieder die Bauernpartei (DBD). Die CDU-Ost brachte somit insgesamt 134.400 Mitglieder (s. CDU 1992) und ein dichtes Netz an Ortsverbänden und lokalen Geschäftsstellen mit in den Bund. Die Fusion zur gesamtdeutschen Partei wurde am Vorabend der staatlichen Vereinigung auf dem 38. der westdeutschen und gleichzeitig 1. Parteitag der gesamtdeutschen CDU in Harnburg vollzogen. Davor hatten sich bereits die Ostberliner CDUKreisverbände der Westberliner CDU angeschlossen. Im Unterschied zur Berliner CDU-Fusion, bei der als einzige Konzession an die Vereinigung lediglich der Landesvorstand um sechs Christdemokraten aus Ost-Berlin erweitert wurde, wählten die Delegierten des Vereinigungsparteitages einen neuen Bundesvorstand und Lothar de Maiziere wurde alleiniger Stellvetreter Helmut Kohls als Parteichef. Hinsichtlich der Struktur der Parteiorganisation, sowohl in vertikaler (Orts-, Kreis- und Landesver- · bände) als auch in horizontaler Perspektive (innerparteiliche Vereinigungen und Arbeitskreise) sowie hinsichtlich der programmatischen Grundlagen wurden ansonsten Aufbau und Verfahren14 der westdeutschen CDU formal identisch übernommen. Nach der Fusion der Partei standen zwei Dinge im Vordergrund: die Vorbereitung der Landtags- und Bundestagswahlen (Oktober und Dezember 1990) sowie der weitere Aufbau bzw. Umstrukturierung der lokalen Verbände der Partei in den neuen Ländern. Bei den Wahlen profitierte die CDU, wie schon bei den Volkskammer- und Kommunalwahlen in den neuen Bundesländern von ihrer konsequenten Haltung zur deutschen Vereinigung, der Abneigung der Mehrheit der Ostdeutschen gegenüber "sozialismusverdächtiger" Politik - vor allem unter den Arbeitern, von denen in einigen Regionen (z.B. in Sachsen) bis zu 60% die CDU wählten- sowie de~ Hoffnung, im Osten des Landes ein "Wirtschaftswunder", wie es die Bundesrepublik in den 1950er und frühen 1960er Jahren erlebte, wiederholen zu können (z.B. Habermas 1990). Ungeachtet aller organisatorischen Fragen, wie beispielsweise die bevorstehende Ver14 Die einzige Ausnahme bildete hier die Frage des horizontalen innetparteilichen Finanzausgleichs. Aufgrund der vergleichsweise geringen Mitgliederstärke und der daraus folgenden finanziellen Schwäche der ostdeutschen Kreis- und Landesverbände wurde ihnen die Abführung der Mitgliedsbeitragsanteile an die Bundespartei erlassen. Statt dessen legte auch die CDU-Parteizentrale ein ,,Aufbauprogramm/Ost" auf, mit dessen Hilfe die Leistungsfähigkeit der lokalen Organisation in Ostdeutschland gesteigert werden sollte.

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schlankung der Organisation, der zunächst noch ungeklärten Frage nach der Integration bzw. Weiterbeschäftigung der sogenannten ,,Blockflöten", des bereits im Wendejahr einsetzenden Mitgliederschwundes oder der Suche nach geeignete(re)n Spitzenkandidaten auf LandesbeneiS gelang es der CDU im Osten des Landes, sich mit einer "geborgte~ Identität" (Segert 1994: 40-2) als wirtschaftspolitischer Hoffnungsträger zu präsentieren. Die Partei, die in drei Ländern mit Polit-Amateuren antrat, erreichte bei den Landtagswahlen im Oktober 1990 mit durchschnittlich 41.3% im Osten (ohne OstBerlin) die Regierungsverantwortung in vier der fünf neuen Länder. Bei den darauffolgenden Bundestagswahlen kam die CDU bundesweit mit 43.8% der Stimmen (44.5% im Westen, 42% im Osten) zwar auf ihr bis dahin niedrigstes Ergebnis seit 1949, dochangesichtsdes überraschend hohen Stimmanteils der FDP (11 %) und dem · schwachen Abschneiden der SPD (33.5%) und der West-Grünen, die mit 4.7% der Zweitstimmen den Wiedereinzug in den 12. Bundestag verfehlten, konnte die Regierungskoalition fortgesetzt werden. Bei der Umstrukturierung der Parteiorganisation der ostdeutschen CDU hatten wiederum drei Strategien Priorität: Erstens die Verschlankung des Mitarbeiterstabes der Kreisgeschäftsstellen der ehemaligen Blockpartei bei gleichzeitigem Aufbau und Effizienzsteigerung der Organisation auf Landes- und Kreisebene, zweitens die Steigerung der lokalpolitischen Aktivität (z.B. durch Aktivierung der innerparteilichen Vereinigungen) und drittens die Werbung bzw. Integration neuer Mitglieder. Eine mitgliederstarke und lokalpolitisch aktive wie profilierte Organisation erschien den Strategen der Parteizentrale, die überwiegend in der Zeit der "Modemisierung der CDU" (s. 2.2) ihre Vorstellungen über die Organisationsform und -praxis der Partei gewonnen hatten, als die am meisten geeignete Parteiorganisationsform, um einerseits bei Wahlen weiterhin erfolgreich sein zu können, andererseits um einen möglichst großen Teil der Bevölkerung an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Der Umstrukturierungsprozeß schloß zunächst die Verringerung der Zahl hauptamtlicher Parteimitarbeiter ein, die von 1.700 auf 175 reduziert wurde. Gleichzeitig betrieb die Bonner Parteizentrale eine Zusammenlegung von Kreisgeschäftsstellen, denn beides, die hohe Mitarbeiterzahl sowie die Vielzahl an Geschäftsstellen (mit teilweise sehr kleinem J?inzugsbereich) erschien der Partei nicht länger trag- und vor allem finanzierbar. Darüber hinaus kündigte Generalsekretär Rühe ein Aufbauprogramm für die Kreis- und Landesgeschäftsstellen im Osten an, nachdem v.a. die technische Infrastruktur (Computer, Faxgeräte, Kopierer usw.) ausgebaut sowie durch 15 Joachim Auer, Baden-Württemberger und ehemaliges CDU-MdL in Sachsen-Anhalt, brachte die Frage der CDU-Spitzenkandidaten drastisch zum Ausdruck: "Damals hätte man auch eine Vogelscheuche aufstellen und CDU draufschreiben können, die wäre auch gewählt worden" (s. Berliner Zeitung 15. 4. 1998: 6).

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Schulungen der Geschäftsführer und -führerinnen deren Managmentfähigkeiten verbessert werden sollte. Hierfür stellte die Bum;lespartei insgesamt vier Millionen Mark zur Verfügung. Im Jahr 1991 betrugen die Zahlungen an die ostdeutschen Landesverbände acht Millionen Mark (CDU 1992: 15-7, Schmidt 1994). Gleichzeitig lief das Aufbauprogramm aber auch auf die Herstellung der Personalentscheidungshoheit der Zentralen hinaus (Schmitigkdl, sozialstaatliche Verteilung

..------··//./ ·. ·-...

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reine Mukl-

--+---------,..,..-----------Orientierung 0 .

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1.00

CDU

0 ,,Rechts-autoritäre" Politik

Das heißt, während in den alten Bundesländern Bedingungen herrschen, die die Entwicklung der Parteiorganisationen zu relativ kohäsiven und vor allem mitgliederstarken Verbänden begünstigt, spricht die Struktur des Parteiensystems in den neuen Ländern erstens für eine geringere Intensität der Parteienkonkurrenz und zweitens für Bedingungen, unter denen die Bereitschaft der Sympathisanten zur Mitgliedschaft geringer ist. Die Annahmen zu den vermuteten Auswirkungen der. Intensität der Parteienkonkurrenz auf die Struktur der Organisationen werde ich nachfolgend konkretisieren infähige Regierung gebildet werden kann. Mit "blackmail "-Potential meint Sartori, daß (kleinere) Parteien am Rande des politischen Spektrums die Richtung der Parteienkonkurrenz beeinflussen (zentrifugal oder zentripetal) und somit die großen Parteien zwingen, sich entweder nach ,)inks" oder nach "rechts" zu bewegen, um an diesen Rändern nicht zu verlieren. Spätestens seit der zweiten Legislaturperiode in den ostdeutschen Ländern erfüllen weder B'90/Grüne noch die FDP die erste Bedingung. Nach Sartoris Charakterisierung sind sie deshalb nicht relevant.

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dem ich die bisher noch sehr allgemeinen Überlegungen auf die einzelnen Bundesländer anwende. Die Intensität der Parteienkonkurrenz stelle ich in Form eines Index dar, auf dessen Grundlage ich später (Kap. 6 und 7) die Überlegungen aus diesem Abschnitt überprüfen werde.

Index der Intensität der Parteienkonkurrenz (IPK) Den Index der Intensität der Parteienkonkurrenz (IPK) bilde ich aus vier Komponenten: der Anzahl der in den Landesparlamenten vertretenden Parteien, der Anzahl der durch die Parteien in den jeweiligen Parlamenten repräsentierten deavages, der Art der Regierung (Alleinregierung, Große Koalition, Koalition) sowie dem Abstand (in % der Wahlstimmen) der zwei größten Parteien voneinander9. Wie alle Indizes ist auch der IPK ein dimensionsloser Wert, denn für die Bedingungen der Intensität der programmatischen Konkurrenz gibt es keine verbindlichen Maßeinheiten bzw. Indikatoren. Jeder, der zur Formulierung von Hypothesen oder zur komparativen Darstellung eines Sachverhaltes auf Indizes zurückgreift, wird wahrscheinlich unterschiedliche Indikatoren verwenden, sei es aus Gründen der Verfügbarkeit der zugrunde gelegten Daten oder aus subjektiven Gründen der Auswahl der Indikatoren. So kann die Verwendung von Indizes nicht dem Anspruch genügen, verbindliche Maße für eine soziale Erscheinung darzustellen. Indizes sind jed~ch eine verläßliche Möglichkeit, Differenzen anband konstant gehaltener Indikatoren aufzuzeigen und sie dienen schließlich der Formulierung von Hypothesen. Dem Index IPK liegt im Anschluß an die vorangegangen Überlegungen die Idee zugrunde, daß mit steigendem Wert für IPK auch die Wahrscheinlichkeit steigt, daß die Parteien kohäsiv, mitgliederstark und lokal aktiv sind. Mit anderen Worten: je höher der Wert für IPK desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, organisatorisch starke Parteiformationen anzutreffen (Hypothese 4.2.1).

9 Diesen Index werde ich in Kapitel 6 (6.2) durch einen weiteren, IPK*, ergänzen. Im Unterschied zu IPK basiert IPK* auf Angaben der Befragten zur inhaltlichen Konkurrenz unter Berucksichtigung der aktivierten Konfliktdimensionen sowie zur Konkurrenz um Wählerstimmen.

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Tabelle 4.2.1 Index der Intensität der Parteienkonkurrenz (IPK) {3) (2) (1) Anzahl der Anzahl der re- RegierungsLand form präsentierten Parteien cleavages 1.0 1.0 1.5 Ba.-Wü. 0.0 1.0 1.0 Bayern 0.5 1.0 1.5 Berlin 0.0 0.0 0.5 Brandenburg 1.0 1.0 0.5 Bremen 1.0 1.0 1.0 Harnburg 1.0 1.0 1.0 Hessen 0.5 0.0 0.5 Meckl.-V. 0.0 1.0 1.0 Niedersachsen 1.0 1.0 0.5 NRW 1.0 1.0 1.0 Rh.-Pfalz 0.0 1.0 0.5 Saarland 0.0 0.0 0.5 Sachsen 0.0 1.0 1.0 Sachsen-Anh. 1.0 1.0 1.0 Schlesw.-H. 0.5 0.0 0.5 Thüringen

{4) Abstand der Parteien voneinander 0.0 0.0 0.5 0.0 1.0 1.0 1.0 0.5 1.0 0.5 1.0 0.0 0.0 0.0 1.0 0.5

(5) IPK 0:1-4) 3.5 2.0 3.5 0.5 3.5 4.0 4.0 1.5 3.0 3.0 4.0 1.5 0.5 2.0 4.0 1.5

Legende: Spalte (1): Anzahl der in den Landesparlamenten vertretenen Parteien: 2 = 0; 3 = 05; 4 = 1.0; 5 =15 Spalte (2): Anzahl der von den Parlamentsparteien repräsentierten cleavages: einer= 0; zwei = 1 Spalte (3): Regierungsform: Alleinregierung = 0; Große Koalition = 05; Koalition = 1.0 Spalte (4): Abstand der zwei Parteien in der Mitte; klein = Intensität der programmatischen Konkurrenz ist hoch; groß= Intensität der programmatischen Konkurrenz ist gering; Abstand > 10% =

0; Abstand ~ 5% = 05; Abstand < 5% = 1.0 kursiv geschriebene Bundesländer sind jene, deren SPD- und CDV-Landesverbände ich in die Untersuchung aufgenommen habe. Stand: 31.12. 1997

Wertebereich IPK: rnin = 0; max = 4.5 {1.5, 1,1,1) 0 IPK-Ost {ohne Berlin): 1.2 0 IPK-West: 3.25 Differenz: 2.05 (signifikant auf 5%-Niveau) In Verbindung mit Abbildung 4.2.1lassen sich aus Tabelle 4.2.1 zwei Folgerungen ableiten und für die Formulierung von untersuchungsleitenden Annahmen verwenden. Erstens wird deutlich, daß die Parteien in den alten Bundesländern in einer relativ hoch kompetitiven Umwelt agieren. Nach den Überlegungen dieses Abschnitts heißt das, daß CDU und SPD in Westdeutschland unter Bedingungen miteinander konkurrieren, welche die Existenz (i) relativ kohäsiver und (ii) organisatorisch profilierter Ver-

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bände (hohe Mitgliederzahlen, aktive innerparteilichen Vereinigungen und lokalen Netzwerke) begünstigen bzw. erfordern (Hypothese 4.2.2). Zweitens wurde sichtbar, daß das ostdeutsche Parteiensystem (i) weniger fragmentiert ist als das westdeutsche (s.o.) und (ii) auch die Intensität der Parteienkonkurrenz - gemessen anhand der hier zugrunde gelegten Komponenten - weniger ausgeprägt ist. Das gilt insbesondere für jene Länder, in denen die Regierungsparteien die jeweilige Parteienlandschaft deutlich dominieren, v.a. in Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt (s. Spalten 3 und 4). Aber auch über alle Indikatoren gesehen gilt, daß beide Parteien in Ostdeutschland in einem Umfeld agieren, in dem einerseits die Bereitschaft der Anhänger zur Mitgliedschaft weniger ausgeprägt sein könnte ebenso wie die Notwendigkeit zur Bildung straff organisierter Verbände weniger zwingend ist. Unter der Annahme, daß die Struktur von Parteiorganisationen tatsächlich dem Einfluß äußerer Determinanten unterliegt, folgt, daß die Verbände von CDU und SPD im Osten (i) weniger kohäsiv und (ii) organisatorisch weniger pr~filiert sein könnten (Hypothese 4.2.3). Das würde einschließen, daß sie nicht nur über eine geringere Mitgliederdichte, sondern insgesamt auch über eine schwächere Organisation (z.B.lokale Verbände, s. Kap. 5) verfügen. Formal ausgedrückt hieße das: Wenn innerhalb der Organisationsstrukturen der jeweiligen Schwesterparteien Differenzen bestehen, also gilt: ~SPO/Ost/West, dann können diese mit Differenzen der Intensität der Parteienkonkurrenz zurückgeführt werden. Oder kürzer: Wenn ~SPO/Ost/West, dann (auch) wegen ~IPK/Ost/West. Wie in allen anderen Fällen erfolgt der Test dieser Hypothesen in den nachfolgenden Kapiteln (5-7). Jetzt schließt sich eine Betrachtung der sozialen Basis der Entwicklung beider Parteien an. Von dieser wurde behauptet, sie stelle den gesellschaftlichen "Mutterboden" dar, auf dem sich politische Organisationen entwickeln. 4.3 Die sozialen Voraussetzungen der Entwicklung politischer Organisationen Nicht immer entwickeln sich politische Initiativen im Sinne ihrer Initiatoren. Parlamente beispielsweise verabschieden Gesetze, richten mit ihrer Durchführung beauftragte Regierungsbehörden ein, investieren in den Erhalt dieser Behörden und doch zeigt sich in empirisch-retrospektiven Untersuchungen: manche Gesetze ändern etwas und manche nicht (z.B. Rothstein 1996). Das Problem mangelnder Performanz, d.h. deutliche Unterschiede zwjschen der erhofften Wirkung einer politischen Initiative und dem zu beobachtenden Resultat betrifft auch politische Parteien. Oft klaffen zwischen den Intentionen ihrer Gründer und der Organisationswirklichkeit Lücken. Die Mitgliederwerbung und-integrationgelingt - trotz aller Bemühungen - nicht im erhofften Umfang (s. 3.1), der notwendige Kern aktiver Anhänger ist zu klein, es gelingt mitunter nicht, flächendeckend Basisverbände

aufzubauen usw.

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In der vergleichenden Transformations- und Institutionenforschung wurde hervorgehoben, daß der Erfolg einer politischen Initiative, gleichgültig ob es sich dabei um ein Gesetz oder den Versuch handelt, eine Behörde mit neuen Kompetenzen auszustatten oder eine politische Organisation wie eine Partei zu etablieren, sich nicht ,,automatisch", sozusagen per Beschluß, einstellt, sondern von einem ,,korrespondierenden informellen Unterbau" (Offe 1994: 45) konditioniert wird, der als notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung einer politischen Initiative (in diesem Falle die Herausbildung mitgliederstarker Parteiorganisationen) angesehen werden muß (s. 7.1). Dieser informelle soziale Unterbau ist im Anschluß an Robert Putnam (1993) und Claus Offe (1994) durch positive Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den politischen Institutionen (einschließlich der Massenorganisationen) eines Landes sowie eine aktive Teilnahme am öffentlichen Leben gekennzeichnet. Hierzu zählen die Mitgliedschaft in politischen Großorganisationen, also auch die in Parteien ebenso wie in wirtschaftlichen und zivilen Freiwilligenverbänden (Gewerkschaften, Handwerkskammern, Untemehmerverbände, Sportvereinen usw.) sowie die Teilnahme an Wahlen oder regelmäßige Lektüre der Tagespresse. Darüber hinaus zählen aber auch aktuelle, tagespolitische Faktoren (z.B. Lebensstandard und -Zufriedenheit, Arbeitslosenquoten u.a.) zu den Merkmalen des sozialen Unterbaus, denn sie beeinflussen ihrerseits das "politische Klima" eines Landes. Zusammengefaßt bilden beide Aspekte die soziale Basis, auf der sich politische Initiativen entwickeln. Dieser Abschnitt adressiert in erster Linie die Frage nach der Mitgliederentwicklung der Parteien in den neuen Ländern. Im Lichte der Partizipationsforschung stelle ich nachfolgend Überlegungen darüber an, welche sozialen Voraussetzungen die Herausbildung mitgliederstarker Parteien begünstigen., Anhand ausgewählter Merkmale werde ich dann versuchen, die Stärke der sozialen Basis in den Bundesländern zu bestimmen und aus den Ergebnissen Hypothesen zu formulieren, welche Konsequenzen der entsprechende Grad der sozialen Basis auf die Mitgliederstärke der Parteien haben kann. Partizipationskultur, Stärke der Zivilgesellschaft und soziales Kapital Partizipationsforschltr haben darauf hingewiesen, daß zwischen konventionellen und nicht konventionellen Formen der politischen Beteiligung ein deutlicher Zusammenhang besteht (Kaase 1990, 1992; v. Deth 1996) und argumentiert, daß "ältere" politische Organisationsformen (z.B. Parteien, Gewerkschaften) dort stärker entwickelt sind, wo auch Formen unkonventioneller Beteiligung (z.B. Demonstrationen, Verkehrsblokkaden, Hausbesetzungen) hoch entwickelt sind. Das heißt, in einem sozialen Kontext, der durch hohe Beteiligungsgrade am politischen Leben im allgemeinen gekennzeichnet ist, beispielsweise durch hohe Wahlbeteiligung oder hohe Organisationsgrade von 112

zivilen Vereinen ist letztlich auch die Wahrscheinlichkeit hoch, stark entwickelte (konventionelle) politische Organisationen, wie mitgliederstarke Parteien anzutreffen, weil von den verschiedenen Formen der Partizipation ein sich gegenseitig mobilisierender Effekt auszugehen scheint (s. auch Bames und Kaase 1979, Kitschelt 1996). Andere Studien zur Etablierung demokratischer Institutionen und/oder Organisationen haben gezeigt, daß ihre erfolgreiche Entwicklung maßgeblich von einer entwikkelten Zivilkultur abhängig ist. Zu einer entwickelten civic culture zählen nach Almond und Verba " ... political activism, readiness to participate, concem with public issues, rule of law, discipline respect for opponents, compliance with the majority ..." (Almond und Verba 1963, zitiert nach Sztompka 1993: 89). Robert Putnam (1993) argumentierte in diesem Sinne, daß v .a. langfristig gewachsene individuelle und kollektive Erfahrungen und Tradition im Umgang mit demokratischen Institutionen Voraussetzung für ihre erfolgreiche Etablierung sind. Dort, wo demokratische Institutionen oder politische Organisationen an Traditionen aktiver politischer Teilnahme und Selbstorganisation der Bürgerinnen und Bürger anknüpfen können, stoßen sie auf günstigste Entwicklungsbedingungen und umgekehrt. Diese Merkmale bilden soziales Kapital, das, wie produktives Kapital Voraussetzung für die Herstellung materieller Güter und Dienstleistungen ist, über Erfolg und Effizienz demokratischer Institutionen entscheidet. Nach Putnam entstehen durch die freiwillige Mitarbeit in (nichtstaatlichen) Verbänden horizontale Interaktionsformen zwischen den Beteiligten, wie gegenseitige Anerkennung, Vertrauen, kommunikative Fähigkeiten, Teamgeist, und Erfahrungen im Umgang mit unterschiedlichen Meinungen sowie Möglichkeiten der kollektiven Problemlösung. Im Unterschied zu produktivem Kapital jedoch läßt sich soziales Kapital nicht drucken, respektive per Knopfdruck produzieren, borgen oder transferieren, sondern muß wachsen. Genau diesem langfristigen Aspekt gilt die Skepsis der Transformationsforscher. Denn die Fähigkeit zur Selbstorganisation und aktive Teilnahme am öffentlichen Leben " ... is not something given" (Sztompka 1993: 87). Da die Bürgerinnen und Bürger in den in den Ländern es ehemaligen Ostblocks (zu denen die DDR zweifellos zählte) über mehrere Generationen lang kaum die Möglichkeit hatten, sich in Form von Freiwilligenverbänden und Interessengruppen zu organisieren,lO mangelt es nun, unter den Bedingungen der Demokratie westlicher Prägung, an Erfahrungen im Umgang mit demokratischen Institutionen und Selbstorganisationen in Form von Interessengruppen, Freiwilligenverbänden und schließlich politischen Parteien (Lewis 1992, Offe 1994, Merke! 1995, Padgett 1996). Unter diesen Bedingungen, so die 10 Ausnahmen bildeten hier sicher die Möglichkeit der Organisation von Protest unter dem Dach der Gewerkschaftsbewegung in Polen sowie unter dem der evangelischen Kirche in der ehemaligen DDR.

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Transformationsforscher, ist die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zur aktiven Teilnahme an für sie neuartigen politischen Organisationen eher gering. Dieser Perspektive schließen sich auch Piotr Sztompka (1993) und Peter Mair (1996) an. Sie machen einen Mangel an ,,Bürgerkompetenz" (civil competence) als eine Hinterlassenschaft der kommunistischen Regimes aus. Ihrer Ansicht nach hinterließen die kommunistischen Systeme Osteuropas, in denen vertikale Interaktionsformen auf betrieblicher Ebene, Befehlsempfang und -ausführung und "eine patemalistische Staatserwartung vorherrschten, denkbar ungünstige Bedingungen für die Herausbildung einer entwickelten Zivilgesellschaft, in der jede Partizipation auf freiwilliger Leistungserbringung beruht. In diesem Sinne resümierte Claus Offe (1994), daß Anlaß zu der Vermutung bestehe, der mit den Institutionen kollektiven Handeins korrespondierende informelle Unterbau (respektive eine entwickelte soziale Basis) in der Ex-DDR sei " ... nicht nur nicht vorhanden, ... sondern durch die ... langfristig sedimentierten Erfahrungen und Einstellungen der Bevölkerung in seinem Entstehen eher behindert ..." (45-6). Die Auffassung, daß eine langfristig gewachsene Teilnahmebereitschaft in den neuen Bundesländern in vergleichsweise schwach entwickelt ist, ist in der (ostdeutschen) Transformationsforschung weitgehend unbestritten. Inwieweit das für die Entwicklung der Parteiorganisationen in den neuen Ländern, bei denen es sich schließlich auch um Instanzen freiwilligen kollektiven Handeins handelt, und hier insbesondere für die Mitgliederentwicklung zutrifft, wird später zu prüfen sein. Obschon diese langfristigen partizipationskulturellen Aspekte (nicht vorhandenen Traditionen mit politischen Freiwilligenverbänden) offenbar ungünstige Voraussetzungen für eine gleichartige Entwicklung der Parteiorganisationen in den neuen Ländern signalisieren, wird die Errichtung einer für die Herausbildung mitgliederstarker Parteien günstigen informellen sozialen Grundlage von kurzfisiigeren, tagespolitischen Ereignissen zusätzlich erschwert.

Kurzfristige Partizipationsbedingungen und nicht intendierte Folgen des Vereinigungsszenarios Unter diese kurzfristigeren Ereignisse fallen im wesentlichen drei Aspekte, die ein niedrigeres Partizipationsniveau in den neuen Bundesländern verursachen können. Erstens zerfiel mit der untergehenden DDR die Legitimität der gesellschaftlichen Verbände und Massenorganisationen (z.B. DSF, FDGB, FDJ, SED). Ob aus Gründen dieses immensen Legitimitätsschwundes, der moralischen Diskreditierung der genannten Verbände und Organisationen oder aus dem persönlichen Drang, diesen "Zwangsver-

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anstaltungen" entfliehen zu können: kollektives politisches Handeln erlebte mit dem Ende der DDR einen massiven Abschwung. Zweitens waren die Bürgerinnen und Bürger spätestens mit Einsetzen der Währungsunion mit einer marktwirtschaftliehen Entwicklung konfrontiert, die ihrerseits enorme Anpassungsleistungen an die Bedingungen des Marktes erforderten. Unabhängig davon, in welche Richtung diese Marktanpassungsprozesse verliefen (Arbeitslosigkeit auf der einen, Beschäftigung mit Überstunden, individuelle Karrierechancen etc. auf der anderen Seite), ist es plausibel zu unterstellen, daß die marktwirtschaftliche Entwicklung zunächst wenig Raum für ein vergleichsweise hohes Maß an politischem Engagement ließ. Obwohl ein allgemeingültiger Zusammenhang zwischen hoher. Arbeitslosigkeit und zunehmender politischer Interessenlosigkeit oder gar Apathie theoretisch nicht einwandfrei nachgewiesen ist (s. Büchel/Falter 1994), unterstelle ich, in Form einer Arbeitshypothese, daß hohe Arbeitslosigkeit politische Passivität fördert.ll Ich meine, Arbeitslosigkeit wird größtenteils als eine fatale Begleiterscheinung der deutschen Vereinigung verstanden und dem Wirken der importierten wirtschaftlichen und politischen Institutionen angelastet. Da bis auf die PDS die Parteien wesentlicher Bestandteil dieses Institutionenimports sind, spricht einiges für die Annahme, daß sie für Verschlechterungen der Lebenssituationen, die mit Arbeitslosigkeit verbunden sind, verantwortlich gemacht werden und Arbeitslose in den neuen Ländern am ehesten die PDS oder- im Sinne der 'Apathiehypothese' (s. Anm. 11) gar keine Partei unterstützen. Als importierte politische Institutionen unterliegen die CDU als maßgeblich verantwortliche Partei in den ersten acht auf die Vereinigung folgenden Jahren und -wahrscheinlich in abgeschwächter Form auch die SPD Entwicklungsrisiken, die beispielsweise von Claus Offe (1994: 47) als mögliche ,,Abstoßungsreaktion" gekennzeichnet wurden. Der dritte tagespolitische Aspekt, der die Herausbildung einer für die Entwicklung politischer Organisationen günstigen sozialen Basis behindert haben dürfte, liegt im Verfahren der deutschen Vereinigung selbst. Die Entscheidung, die deutsche Vereinigung formal nach (dem mittlerweile gestrichenen) Artikel 23 des Grundgesetzes durchzuführen, garantierte zwar den Import funktionserprobter politischer und marktwirtschaftlicher Institutionen (Rose/Haerpfer 1996), begrenzte aber gleichzeitig über das "polity-taking" hinaus gehende Engagement der Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland hinsichtlich einer eigenständigen politischen Gestaltung. Außerdem gilt, daß sowohl die Existenz politischer Parteien als auch deren Entwicklung eng mit historisch gewachsenen Konfliktmustern verbunden sind (s. 4.2). Ließen sich die formalen Organisationsstrukturen noch relativ einfach in den Osten transferieren, gilt dies nicht 11 Büchel und Falter (1994) nennen in ihrer Untersuchung zumindest zwei mögliche Szenarien der politischen Beteiligungsformen (Langzeit-)Arbeitsloser. Ihnen zufolge führt Arbeitslosigkeit entweder in politische Interessenlosigkeit (Apathiehypothese) oder aber in verstärktes politisches Engagement, wobei eine Neigung zur Opposition wahrscheinlich ist (Anti-Regierungshypothese).

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für die notwendigen informellen Grundlagen der Entwicklung der Parteien wie beispielsweise die Konkurrenzmuster, von denen eine mobilisierende Wirkung ausgehen kann. Schließlich stellte die Bundesregierung nicht nur "blühende Landschaften" in Aussicht, sondern investierte tatsächlich Milliarden in den wirtschaftlichen Aufbau der neuen Länder. Auch das führte dazu, daß zusätzliches politisches Engagement eher überflüssig erschien und sich die Mehrzahl der Ostdeutschen in die Position eines "armchair ref!ectors" oder "policy-Konsumenten" begab. Je mehr sich diese erhofften Vorteile entweder erschöpft hatten oder sich nicht einstellten - in den Worten Helmut Wiesenthais (1996: 35) - es den westdeutschen Akteuren (Bundes- und Landesregierungen) schwerer fiel, ihrer "Veranstalterhaftung" gerecht zu werden, wuchsen Enttäuschung und Resignation, was sich wiederum negativ auf politische Aktivität auswirken kann (z.B. Raschke 1992). Folgerungen Wie aber kann man nun die Wirkung der hier kurz skizzierten lang- und kurzfristigen sozialen Entwicklungsbedingungen der Parteien operationalisieren und empirisch handhabbar machen? Wenn die Aussagen der Partizipationsforscher stimmeq, daß ein politisch aktives Leben im allgemeinen eine notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung (als generell sinnvoll anerkannter) politischer Organisationen ist, dann müßten dort, wo die politische Teilnahme und Selbstorganisation von seilen der Bürgerinnen und Bürger besonders intensiv ist, auch die Parteiorganisationen von SPD und CDU stark entwickelt sein. Ich orientiere mich hier an der ,Aussage Putnams (" ... the more civic the context, the better the government"; 1993: 182) und meine, daß vom steigendem Grad an zivilgesellschaftlichem Engagement die Parteiorganisationen profitieren und sie dort, wo das zivile Engagement hoch ist auch stark entwickelt sind und umgekehrt. Darüber hinaus meine ich, daß die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme in Parteien vom tagespolitschen 'Klima' beeinflußt wird. Mit Blick auf die drei oben skizzierten kurzfristigen Gesichtspunkte - Aversion gegen organisiertes politisches Handeln der Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen DDR, individuelle Marktanpassung, passives "polity"- sowie "policy-taking", beschränke ich mich auf den zweiten und lege für die Zwänge der individuellen Marktanpassung Arbeitsmarktzahlen der Länder zugrunde.12 In Form einer Arbeitshypothese meine ich, daß die allgemeine Partizipationsbereitschaft ebenso wie die in politischen Parteien mit steigender Arbeitslosigkeit sinkt und umgekehrt (s. Anm. 16).

12 Das hat allein den praktischen Hintergrund, daß Arbeitsmarktzahlen relativ leicht zugänglich sind.

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Mit Hilfe eines Index (ISB, s.u.) werde ich versuchen, diese Überlegungen zu konkretisieren. Der ISB ist ein Indikator, der die Politisierung des gesellschaftlichen Umfeldes bzw. die Stärke der sozialen Basis darstellt, in dem die Parteien operieren.

Index der Stärke der sozialen Basis (ISB) Auf der Grundlage von Veröffentlichungen des Bundesamtes für Statistik (Statistische Jahrbücher) sind in die Bildung des ISB folgende Daten eingegangen: die Arbeitslosenquoten der Länder, die Anzahl eingetragener Sportvereine, die freiwillige Organisation des privaten Handwerks in den jeweiligen Kammern bzw. Innungen und schließlich die durchschnittliche Wahlbeteiligung in den Ländeml3- aus Gründen der Vergleichbarkeit gebildet aus Wahlen seit 1990. Bei der Auswahl dieser Einzelindikatoren bin ich den weiter oben skizzierten Überlegungen zur Bedeutung des sozialen Kapitals gefolgt. Ich meine, daß mit Blick auf die Intensität des Vereinslebens sowie auf den 'Organisationsgrad' kleinerer privatwirtschaftlicher Handwerksbetriebe Rückschlüsse auf die Stärke der sozialen Basis möglich sind, weil durch den freiwilligen Zusammenschluß14 soziale Netzwerke entstehen, in denen sich kooperative und kommunikative Fähigkeiten entwickeln. Im Anschluß an Ohlemacher (1993) sind diese Netzwerke "soziale Relais" bzw. ,,Brücken der (politischen) Mobilisierung", in denen politische Meinungen gebildet und transportiert werden und sich die Teilnehmenden u.U. gegenseitig zur weiteren Partizipation mobilisieren .15

13 Ich vernachlässige hierbei jedoch mögliche mobilisierende Effekte einzelner Wahlen z.B. durch geringe Abstände zwischen den Parteien in den Ländern (s. 4.2) oder die Wirkung einzelner Spitzenkandidaten sowie der offensichtlichen Tatsache, daß die Wahlbeteiligung (WB) zwischen Europa-, Landtags- und Bundestagswahlen schwankt. Das gilt aber für alle Bundesländer. Als Faustregel gilt hier WB: EW < LTW < BTW.

14 Hierbei gilt es jedoch zu berücksichtigen, daß diese Zusammenschlüsse in der Regel interessen-

orientiert sind. So, wie sich einzelne Sport-, Jagd-, Wander-oder Kleingartenvereinen anschließen, sind auch Handwerksbetriebe an gewissen Vorteilen, die sich aus der Mitgliedschaft ergeben interessiert. Daß mit steigender Zahl solcher freiwilligen Assoziationen der 'Politisierungsgrad' steigt, kann als ,,Nebenprodukt" verstanden werden, das wir bei der Formulierung von Hypothesen heranziehen können.

15 Dies entspricht ganz zweifellos einem positiven Verständnis von sozialen Verbänden bzw. Vereinigungen. Kritiker könnten hier allerdings sofort mit dem Argument kontern, daß sich in diesen Verbänden nicht Partizipationsbereitschaft entwickelt, sondern Klientelismus oder "Vereinsmeierei", die einer positiv verstandenen Politisierung entgegenwirken. Der Schlüsselbegriff innerhalb der theoretischen, d.h. der vorurteilsfreien, Diskussion ist hier jedoch die "horizontale Kooperation" (im Sinne Putnams 1993), in der jede/r "primus inter pares" ist und dauerhaft hierarchische, vertikale Beziehungen nicht vorkommen. 117

Tabelle 4.3.1 Index der stärke der sozialen Basis (ISB) (2) (1) (3) Land AL/Land WB/Land Vereinsdichte Ba.-Wü. Bayern Berlin-W Berlin-0 Brandenburg Bremen Harnburg Hessen Meckl.-V. Niedersachsen NRW Rh.-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anh. Schlesw.-H. Thüringen

3.0 3.0 1.0 1.5 1.0 1.0

15 2.0 0.0 1.5 1.5 2.5 1.5

OS 0.0 2.0 0.5

2.0 1.5 3.5 2.0 0.0 1.5 1S 2.0 1.5 2.0 2.0

2.0 1S

(4) OG-Handwerk

0.5 2.0 0.5 0.0

1S 0.0 1S 1.5 2.0 3.0 0.0

2S

2S

OS

2S 3S

1.0 2.0 1.5 3.0 3.0

1.5

OS

OS 'lS 2S

1.0 1S 1S

2.5

3S 2.0 2.0 0.0 0.5 1.0

(5) ISB (Ll-4)

8S 6.0 6.5 5.0 5.0 6.0 3.0 9.0 5.0 9.0 7.0 10.0 8.0 3.0 3.5

3S

8S

3.0

7.5

Legende: Spalte (1): Arbeitslosenquote/Land < 4% des Bundesdurchschnitts (BD) = 3; AL/Land ::; 4% BD = 25, AL/Land::; 2% BD = 2; AL/Land= BD = 1.5; AL/Land~ 2% BD = 1.0; AL/Land~ 4% BD = 05; AL/Land> 4% BD = 0.0 Spalte (2): Wahlbeteiligung/Land > 5% des Bundesdurchschnitts = 35; WB/Land~ 5% BD = 3.0; WB/Land~ 25% BD = 2.5; WB/Land= BD = 2.0; WB/Land::; 2.5% BD = 1.5; WB/Land::; 5% BD = 1.0; WB/Land < 5% BD = 0.5; WB/Land::; 10% BD = 0.0 Spalte (3): Vereinsdichte (VD) =Anzahl(#) der Sportvereine/1.000 Einwohner; VD/Land ~ 0.6 BD = 3.0; VD/Land ~ 0.4 BD = 25; VD/Land ~ 0.2 BD = 2.0; VD/Land = BD = 1.5; VD/Land ::; 0.2 BD = 1.0; VD/Land ::; 0.4 BD = 0.5; VD/Land < 0.4 BD = 0.0 Spalte (4): Organisationsgrad des privatwirtschaftliehen Handwerks=# Innungen/# Handwerksbetriebe* 100 (OGH); OGH/Land > 0.2 BD = 3.0; OGH/Land ~ 0.2 BD = 25; OGH/Land ~ 0.1 BD = 2.0; OGH/Land = BD = 1.5; OGH/Land::; 0.1 BD = 1.0; OGH/Land::; 0.2 BD = 0.5; OGH/Land < 0.2 BD = 0.0 kursiv geschriebene Bundesländer sind jene, deren SPD- und CDU-Landesverbände ich in die Unter· suchung aufgenommen habe. Quellen: Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik 1996, Dalton 1996, eigene Berechnungen

Wertebereich ISB: min = 0; max = 12S (3, 3, 3.5, 3)* 0 ISB/West = 7.5 0ISB/Ost = 5 Differenz= 2S (statistisch signifikant auf 5%-Niveau) * die Uneinheitlichkeit der scores gegenüber IPK ergab sich aus den unterschiedlichen Ausprägungen der einzelnen Indikatoren

118

Tabelle 4.3.1 gibt einen Überblick über die Stärke der sozialen Basis der einzelnen Bundesländer. Innerhalb der integrierten Betrachtung der Einzelindikatoren im ISB zeigt sich eine Differenz zuungunsten der neuen Bundesländer (Tabelle 4.3 .1, Spalte 5). Aufgrund dieses Unterschieds schließe ich mich Offes (1994) Urteil an, der meint, daß in den neuen Bundesländern die für den Aufbau politischer Organisationen notwendige soziale Basis (der informelle Unterbau) relativ schwach entwickelt ist16 . Aus den vorangestellten Überlegungen zum Zusammenhang zwischen der Stärke dieser sozialen Basis und den Entwicklungspfaden politischer Organisationen lassen sich folgende Hypothesen für den Prozeß der Herausbildung der Organisationsstrukturen von SPD und CDU in den ostdeutschen Ländern ableiten. Im Anschluß an die von den Partizipationstheoretikern unterstellte Beziehung, daß ein relativ hoch politisiertes soziales Umfeld eine notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Etablierung politischer Organisationen darstellt, folgt die Annahme, daß mit steigendem Wert für den ISB die Parteiorganisationen stärker entwickelt sind (Hypothese 4.3.1). Im Kontext der vorliegenden Daten heißt das, daß SPD und CDU in den neuen Bundesländen hinsichtlich quantitativer Aspekte, hauptsächlich in der Mitgliederstärke bzw. -dichte (MD), schwächer organisiert sein könnten, da hier die soziale Basis deutlich schwächer entwickelt ist (Hypothese 4.3.2). Das heißt, wenn die ostdeutschen Parteien mitgliederschwächer sind, dann können diese Differenzen auch durch die unterschiedliche Stärke der sozialen Basis erklärt werden. Kürzer gesagt, wenn ßMD/Ost/West, dann auch wegen ßiSB/Ost/West. 4.4 Stärke der Stammlager Obwohl es sich bei SPD und CDU in Westdeutschland um Volksparteien mit einem sozial weitgefächerten Wähler- und Mitgliederprofil handelt, verfügen beide noch immer über relativ feste Wurzeln zu Stammlagem. Stammlager, oder stabile Bindungen zu einer Anhängergruppe, sind zumindest eine notwendige Bedingungen für das Vorhandensein eines vergleichsweise großen Reservoirs an treuen Parteianhängem. Diese wiederum bilden das Potential der sogenannten 'believers' (Panebianco 1988:·Kap. 2),

16 Die Überlegung, daß zwischen hoher Arbeitslosigkeit und Partizipationsbereitschaft ein Zusam-

menhang besteht, hat sich im Grunde bestätigt. Obwohl die Korrelationen der einzelnen Indikatoren nicht besonders stark sind, gehen sie zumindest in die intendierte Richtung. Das negative Vorzeichen in den Beziehungen zwischen Arbeitslosenquote und Wahlbeteiligung (r = - 0.19) und zwischen Arbeitslosenquote und der Vereinsdichte (r =- 0.44) signalisiert, daß mit steigender Arbeitslosenquote die Wahlbeteiligung ebenso wie die Intensität des Vereinslebens abnimmt. Das heißt, Merkmale einer entwickelten sozialen Basis werden schwächer, wenn die Arbeitslosenquote steigt. Darüber hinaus wurden auch ,,Synergien" zwischen den Beteiligungsgraden sichtbar, wie sie von Bames und Kaase 1979 hervorgehoben wurden. Die Korrelationen zwischen der Wahlbeteiligung und der Vereinsdichte betragen r = 0.43 sowie zwischen Wahlbeteiligung und dem Organisationsgrad des privaten Handwerks r =0.33.

119

also jener Anhängergruppe, die eher dazu bereit ist, ihre Partei auch durch den Beitritt und aktive Mitgliedschaft zu unterstützen. Ein Blick auf die Stammlager der CDU in den alten Ländern zeigt, daß die Partei (i) in läncilichen Gegenden, (ii) dort, wo der Anteil der Christen, insbesondere der Katholiken an der Gesamtbevölkerung, am höchsten ist (s. z.B. Haungs 1992: 206-7) sowie (iii) dann, wenn beide Merkmale zusammenfallen, am meisten Mitglieder hat. Anders gesagt, ländliche Gegenden mit einem vergleichsweise hohen Anteil an Katholiken sind die sogenannten Hochburgen der CDU in den alten Ländern. Das betrifft jedoch nicht nur die Mitgliederstärke, sondern auch die Wahlergebnisse, wie beispielsweise ein Blick auf die lokalen CDU-Verbände im Emsland oder entlang des Niederrheins zeigt. Hier erreicht die CDU überdurchschnittlich hohe Wahlergebnisse und verfügt über eine außerordentlich hohe Mitgliederdichte (s. Kap. 8). Obwohl konfessionell fundierte Politikansätze auch in der westdeutschen Union längst an Bedeutung verloren haben (z.B. Haungs 1992: 189), und auch die Beziehungen zwischen Landwirten und den Unionsparteien angesichts der EU-Agrarpolitik mitunter höchst angespannt waren, kann die CDU in den alten noch immer auf ein Stammpotential religiös gebundener Bürgerinnen und Bürger sowie an Landwirten zurückgreifen, sei es als Wählergruppe oder als potentielle Mitgliederbasis. Ein Blick auf die Ost-West-Verteilung der christlichen Bevölkerung sowie der potentiellen Basis auf dem Lande veranschaulicht ein Rekrutierungsdefizit für die ostdeutsche CDU. Die Bevölkerung in den alten Ländern gehört zu etwa gleichen Teilen den beiden größten Religionsgemeinschaften art; ca. 44% der Bürgerinnen und Bürger sind Protestanten, 43% Katholiken. Demgegenüber ist gut die Hälfte der ostdeutschen Bevölkerung konfessionslos, knapp 40% evangelisch, und nur ca. 6% der Ostdeutschen sind katholischen Glaubens17. Somit entfällt für die CDU in den neuen Ländern von vornherein ein wichtiges Rekrutierungsreservoir bzw. ein Stammlager, zumal sie einen relativ hohen Anteil an Protestanten an die SPD verlor, die, wie in Kapitel3 dargelegt, eine der Hauptquellen der ostdeutschen Sozialdemokratie bilden (s. auch Braunthai 1994: Kap. 2). Auch hinsichtlich der Basis auf dem Lande werden für die ostdeutsche CDU ungünstige Mitgliederrekrutierungsbedingungen sichtbar. Während in den alten Bundesländern ca. 344.000 selbständige Lanpwirte ein starkes (potentielles) CDU-Reservoir darstellen, ist diese Basis mit knapp 15.000 in den neuen Ländern wesentlich schwächer)S 17 Die Angaben beruhen auf Daten aus den statistischen Jahrbücher der einzelnen Bundesländer, 1997 und 1998. Siehe dazu auch Gibowski und Kaase (1991: 11-15). 18 Siehe Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik 1998: 156. Im Verhältnis zu allen Erwerbstätigen entsprechen die Angaben für die alten Länder 0.96% und 0.23% für die neuen. In Kapitel 7 werde ich die Angaben für die jeweiligen Bundesländer konkretisieren.

120

Für die SPD in den neuen Ländern gilt insbesondere, daß sie als Neugründung nicht über entsprechende Verbindungen zu jenen Stammanhängern verfügt, welche die westdeutschen SPD-Verbände mitgliederstark gemacht haben. Obwohl die SPD in Westdeutschland längst keine klassische Arbeiterpartei mehr ist, zeigt ein Blick auf ihre Stammlager, daß sie (i) in industriellen Ballungszentren sowie (ii) unter Gewerkschaftsmitgliedern überdurchschnittlich stark ist. Das gilt sowohl für die Mitgliederstärke als auch hinsichtlich der Wahlergebnisse. So, wie die CDU in den alten Ländern überdurchschnittlich hohe Unterstützung aus dem Lager der selbständigen Landwirte oder der katholischen Bevölkerung erfährt, sind industrielle Zentren mit einem hohen Anteil an Industriearbeitern und/oder Gewerkschaftsmitgliedern die Hochburgen ·der westdeutschen SPD. Beispielsweise liegen die Landesverbände Saarland und NRW mit einer Mitgliederdichte von 4.4 bzw. 1.75 zum Teil weit über dem Durchschnitt der westdeutschen SPD-Landesverbände von 1.55 (s. Kap. 5). Die SPD-Unterbezirke im Ruhrgebiet erreichen aber nicht nur überdurchschnittliche Werte für die Mitgliederdichte, z.B. die UB Oberhausen (2), Essen (1.78), Duisburg (2.26) oder Mühlheim (2.8), sondern z.T. auch sehr hohe Stimmenanteile (Duisburg 58.6%). Vergleichbar starke industrielle Ballungszentren mit einem ähnlich hohen Anteil erwerbstätiger Industriearbeiter gibt es dagegen in den neuen Ländern kaum noch. Die früheren Industriezentren der ehemaligen DDR, z.B. im Raum Halle/Bitterfeld/Merseburg in Sachsen-Anhalt sowie um Leipzig oder in den Braunkohlerevieren Südbrandenburgs sind jene, die vom wirtschaftlichen Strukturwandel seit der Wende am stärksten betroffen waren und heute die mit den höchsten Arbeitslosenquoten sind. So liegen die Arbeitslosenquoten bis auf Leipzig, das mit einer Quote von 17.1% gegenüber 18.4% in Sachsen leicht unter dem Landesdurchschnitt liegt, in den genannten Regionen zum Teil sehr deutlich über den ohnehin schon extrem hohen Quoten der Länder, z.B.; Halle 20.2%, Merseburg 20.9%, Bitterfeld 24.1% gegenüber 19.7% in SachsenAnhalt sowie die südbrandenburgischen Regionen mit durchschnittlich 23% gegenüber 20% im gesamten Land Brandenburg. In Verbindung mit den Überlegungen aus Abschnitt 4.3 zum Verhältnis zwischen Arbeitslosenquote und der Bereitschaft zur Mitarbeit in Parteien, die Bestandteil des westdeutschen Institutionentransfers waren, heißt das, daß die SPD in den neuen Bundesländern auf äußerst ungünstige Voraussetzungen stieß, um insbesondere Arbeiter zu integrieren, zumal traditionelle Bindungen zwischen Arbeitern und der Partei nicht existierten und gerade die Arbeiter in den neuen Ländern die CDU unterstützten (Rudzio 1991: 174-8, s. auch 7.3). Blickt man auf das zweite traditionelle Mitgliederpotential der SPD, Gewerkschaftsmitglieder, fallen zunächst kaum Differenzen auf, .die sich für die Parteiverbände in Ostdeutschland negativ auswirken können. Der Anteil gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer (DGB und DAG) liegt in den neuen Ländern mit einem Wert 121

von ca. 15% nur geringfügig unter dem in den alten Ländern (ca. 17%). Insofern ist durchaus ein Mitgliederpotential vorhanden, vorausgesetzt, ostdeutsche Gewerkschaftsmitglieder würden die SPD in gleichen Dimensionen wie in den alten Ländern unterstützen. Dies ist jedoch, wie oben gesehen, nicht der Fall (s. 3.1 und 43). Zusammengeraßt heißt das: Dort, wo die Parteien auf traditionelle Stammanhängergruppen stößt, ist auch die Wahrscheinlichkeit hoch, daß sie auch vergleichsweise viele Mitglieder integrieren kann (Hypothese 4.4.1). Angesichts der geringeren Stärke der Stammanhängergruppen, die beide West-Parteien mitgliederstark machen (CDU: Katholiken, private Landwirte; SPD: beschäftigte Arbeiter, Gewerkschaftsmitglieder), stehen die Parteien in den neuen Ländern vor einem Rekrutierungsproblem. Deshalb ist es wahrscheinlich, daß beide letztlich über geringere Mitgliederzahlen verfügen (Hypothese 4.4.2). Formal gesagt: wenn ~Mitgliederdichte/Ost/West, dann auch wegen ~Stammanhängergruppen/Ost/West. In Kapitel 7 werde ich diese Hypothesen mit Blick auf den Anteil der Katholiken an der Bevölkerung, der Dichte privater Landwirtschaftsbetriebe (CDU) sowie der Mitgliederdichte der Gewerkschaften (SPD) in den untersuchten Bundesländer überprüfen. Im folgenden Schritt betrachte ich die Motive und Bedingungen für den Ausbau einer Mitgliederorganisation von seiten der Parteiorganisatoren. Dazu möchte ich zunächst kurz rekapitulieren, worin der Nutzen mitgliederstarker und organisatorisch entwickelter Verbände für Parteien besteht. Dies werde ich in einer zuerst kontextfreien Darstellung veranschaulichen. Im Anschluß daran werde ich die Überlegungen zum Nutzen der Mitgliederintegration für die Parteien in den neuen Ländern konkretisieren um daraus Hypothesen für die anschließende Untersuchung ableiten. 4.5 Investitionen in den Aufbau der Mitgliederorganisation Warum versuchen Parteien, Mitglieder zu integrieren? Die Antwort auf diese Frage besteht zunächst aus zwei Teilen. Zum einen, weil die Organisatoren der Parteien (Parteivorsitzende, Generalsekretärinnen und -Sekretäre, Geschäftsführer) daran interessiert sind, möglichst viele Bürgerinnen und Bürger zu erreichen, d.h. über dauerhafte Mitgliederbeziehungeil stabile ideologische oder Wert-Bindungen zur Bevölkerung einzugehen und die Partei in der Bevölkerung zu verankern. Zum anderen, weil sie sich von der Integration vieler Anhänger eine Verbesserung der finanziellen Ausstattung ihrer Organisation (Mitgliedsbeiträge) sowie Steigerung der organisatorischen Leistungsfähigkeit ihrer Partei versprechen, was in erster Linie heißt, daß die Organisatoren mit einem absoluten Mitgliederzuwachs auch einen absoluten Aktivitätszuwachs erwarten bzw. in vielen Mitgliedern auch eine wichtige Wahlkampfressource sehen. Darüber hinaus dient die Mitgliederintegration der Rekrutierung politischer Nachwuchskräfte. Beides, sowohl die Integration einer möglichst großen Zahl an Mitgliedern als auch die damit verbundene Erwartung, die "Schlagkraft" der Organisation zu steigern,

122

wurde von der überwiegenden Mehrheit der Organisatoren der westdeutschen Volksparteien als notwendige Bedingung dafür angesehen, politisch erfolgreich zu sein. Dieser Erfolg drückt sich zuletzt in den Stimmen aus, die eine Partei am Wahltag erhält. Obwohl Parteien weitaus mehr sind, als der organisierte Versuch, Wählerstimmen zu maximieren19 , ist die "office-seeking"-Perspektive zentral für das Verständnis ihres Handelns. Denn selbst für Parteien, von denen angenommen werden kann, sie folgen eher einer Logik der "constituency representation" (z.B. die SPD zur Zeit ihrer Gründung oder die Grünen in den späten 70er, frühen 80er Jahren) als die einer "electoral competition" (s. Kitschelt 1989a), ergibt sich erst die Möglichkeit der Beeinflussung oder Mitgestaltung von Politik, wenn sie entweder als Koalitionspartner oder allein Wahlämter ("offices") besetzen kann, vorausgesetzt, daß sie sich überhaupt zur Teilnahme an der parlamentarischen, also Wettbewerbsdemokratie beteiligen. Der Weg in die Wahlämter führt über (die Steigerung von) Wahlstimmen. Das heißt, primäres Ziel parteilichen Handeins ist das Erreichen von Wahlämtern durch das Erreichen oder die Steigerung dazu notwendiger Wahlstimmen. Eine mitgliederstarke Parteiorganisation gilt dafür, wie oben gesagt, als notwendige Voraussetzung bzw. als ·Mittel (Ressource), dieses Ziel zu erreichen, sie ist sozusagen, in kurzfristig-wahlorientierter Perspektive "Mittel zum Zweck" (s. auch Schlesinger 1984). Der Blick auf die Geschichte politischer Parteien in Buropa aber hat gezeigt, daß hochentwickelte Massenparteiorganisationen jedoch nicht die einzige Ressource parteilichen Erfolgs sind (s. Kap. 1). Wir können uns deshalb theoretisch die zur Verfügung stehenden Ressourcen als Kontinuum vorstellen, das von zwei Polen eingerahmt wird. Auf der einen Seite bildet die Organisation selbst mit all ihren Mitgliedern, den ihr angeschlossenen lokalen Verbänden, Arbeitsgemeinschaften und ihrem Programm jene Ressource, mit denen Parteien versuchen, Wähler zu binden und in Wahlkampfzeiten für.sich zu mobilisieren (Konzept der Massenpartei auf Klassenbasis z.T. auch Volkspartei mit Massenbasis). Auf der einen Seite stehen einzelne Kandidaten, deren persönliche Ressourcen, wie Ansehen, Reputation, angenommene Problemlösungskompetenz sowie deren öffentlichkeitswirksame Präsentation durch verschiedene (Massen)Medien (wahl-professionelle Kaderstrategie). Der organisatorische Zustand einer Partei, d.h. ob es sich beispielsweise um eine elitär-individualistische oder wahl-professionalisierte Rahmenpartei oder um eine programmatische Massenparteiorganisation handelt, ist weit mehr als eine Folge der Anstrengungen oder Investitionen der Parteiführer in den Aufbau der Mitgliederorganisation. Er ist, wie bereits gesagt, abhängig von der Intensität der programmatischen Kon19 Schlesingers Aussage, daß " ...the ultimate lest of a party's strength ... lies in its ability to win elections" (1984: 377) ist sicherlich zwingend, doch umfaßt das Spektrum erfolgreichen Handeins von Parteien beispielsweise auch die Stabilisierung des Wählermarktes und nicht zuletzt auch die der Demokratie, s. z.B. Haungs (1994: 113), Gabriel und Niedermayer (1997: 278). Siehe auch Kapitel 9.

123

kurrenz, der Stärke der sozialen Basis, der der Stammlager der Parteien und nicht zuletzt eine Frage der Ideologie einer Partei20 . Wenn jedoch Parteiorganisationen von Grund auf neu zu errichten sind, was seit 1990 für die SPD in den neuen Ländern !rotz massiver Aufbauhilfe der Schwesterpartei - noch eher zutrifft als für die CDU, dann stellt sich die Frage, auf welche der oben genannten Ressourcen zur Wählermobilisierung die Parteien eher zurückgreifen werden. Investieren sie in den Aufbau mitgliederstarker Verbände und versuchen damit, auch langfristige, über den reinen Wahlerfolg hinausgehende Ziele wie Sicherung der (erweiterten) Reproduktion der Organisation zu erreichen oder folgen sie eher der Logik der kurzfristigen Wählermobilisierung und verzichten auf den kostspieligen Aufbau eines organisatorisch hochentwikkelten Parteiverbands? Doug Perkins bemerkte in seiner Studie zu den wahrscheinlichen Organisationsstrategien politischer Parteien in post-kommunistischen Staaten Osteuropas allgemein, daß " ... due to the fact !hat it is both cheap and efficient, ... the media based cadre strategy is by far the most common" (Perkins 1996: 368, Hervorhebung. K.G., s. auch Segert 1996). Obwohl die sozialen und institutionellen Bedingungen in der ehemaligen DDR gegenüber den ehemaligen Staaten des Ostblocks (z.B. Rußland, Weißrußland, Rumänien) eher die Herausbildung organisatorisch wie programmatisch profilierter Verbände gegenüber der Option "reiner Personenorientierung" begünstigen (s. auch Kitschelt 1994b sowie 4.1), spricht Perkins hier einen Aspekt an, der auch für die Herausbildung der Organisationsstrukturen der Parteien in den neuen Ländern eine Rolle spielen kann. Perkins' Aussage liegt nämlich die Idee zugrunde, daß Organisatoren angesichts gegebener institutioneller, politischer und sozialer Kontextfaktoren ("constraints") Entscheidungen über die Struktur einer Organisation treffen, die ihnen das Erreichen eines vorher identifizierten Ziels respektive einen maximalen Nutzen (Wahlerfolg) zu minimalen Kosten ("by media based cadre strategy") einbringt. Bevor ich mich der Frage nach Kosten-Nutzen-Relationen zuwende, möchte ich kurz die Argumente für und gegen die Mitgliederintegration, die über den notwendigen Stamm einer Mitgliederbasis hinausgeht, zusammenfassen. 20 Beispielsweise legten Klassenparteien mit einem tiefen ideologischen bzw. weltanschaulichen Bekenntnis hohen Wert auf die Mitgliederintegration, um sie im Sinne der Parteiideologie zu sozialisieren. Allerdings gilt hier, daß die Mitgliederintegration für die Parteien fast ohne materielle Kosten verbunden war (s.u.), da die Mitgliedschaft für den einzelnen viel eher "Ehrensache" war. Mit Auflösung der Klassenkonfiguration der westlichen Länder infolge der wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung sowie anhaltender Säkularisierungsprozesse sank jedoch nicht nur die Bedeutung des integrierenden Bandes einer Ideologie oder Weltanschauung, sondern auch, wie in Kapitel 1 dargestellt, die Notwendigkeit einer politisch motivierten Parteimitgliedschaft für den einzelnen. Aufgrund dieser "Entideologisierung" in der Gesellschaft wie in den Parteien selbst (s. Kirchheimer 1965, Wiesendahl 1990) sowie der Schwierigkeiten der Messung ideologischer Bekenntnisse von seilen der potentiellen Anhängerschaft habe ich den Zusammenhang zwischen Ideologie und Mitgliederintegrationsbemühungen in dieser Arbeit empirisch nicht näher untersucht.

124

Argumente für und wider die Mitgliederorganisation Susan Scarrow (1994, 1996: Kap. 2) benennt für die Mitgliederintegration sieben Gründe, die ich hier kurz zusammenfasse, diese aber - soweit möglich - jeweils mit einem Gegenargument konfrontiere.

Nutzen des Mitgliederzuwachses nach Scarrow (1994, 1996) 1. Parteimitglieder sind loyale Wähler

Gegenargumente

1'. Unabhängig davon, wie viele Mitglieder eine Partei tatsächlich hat, Parteimitglieder repräsentieren nur einen kleinen Teil der gesamten Wählerschaft (s. Mair 1994) 2. Parteimitglieder können durch ihre tägli2'. Angesichts der sinkenden gesellchen Kontakte im Kreis der Familie,ihrer schaftlichen Reputation von Parteien Freunde und Kollegen Unterstützung für (s. z.B. v. Beyme 1993) kann die inihre Partei mobilisieren (opinion Ieader) formelle Werbung für sie leicht ins Gegenteil umschlagen 3. Mitglieder sind eine wichtige Finanzquelle 3'. Parteien haben längst alternative für Parteien (jinancial benefits) Quellen ihrer Finanzierung erschlossen (Wahlkampfkostenerstattung, staatliche Parteienfinanzierung, s. Katz und Mair 1992, Raschke 1993, Landfried 1997) 4. Parteimitglieder leisten freiwillige Arbeit 4'. kein Gegenargument (i) zum Erhalt der Organisation und (ii) im Wahlkampf (labour /campaigning benefits) 5. Mitglieder sind ein Bindeglied zwischen 5'. (i) Parteien rekurrieren zur der Partei als Organisation und der BeSammlung von Informationen auf völkerung und informieren die Parteifühprofessionelle Agenturen/ Institute rung über die "gesellschaftliche Meinung" .oder ihre "think tanks" (outreach/linkage benefits) (ii) Parteiführer sind politische Unternehmer und als solche machen sie die "gesellschaftliche Meinung" (Schumpeter 1942) 6. Mitglieder sind eine Quelle neuer politi6'. kein Gegenargument scher Ideen (innovation benefits) 7. Mitglieder sind potentielle Kandidaten und 7'. kein Gegenargument sichern somit die Reproduktion der Parteiorganisation (personnel benefits) (electoral benefits)

125

Scarrows pro-Mitglieder-Argumente beinhalten beide oben genannten Aspekte: die langfristige Perspektive des Organisationserhalts, einschließlich der Finanzierung über Beiträge sowie Schulung und Auswahl geeigneter politischer Kandidaten sowie die eher kurzfristige Orientierung auf Wahlunterstützung via Mitgliederexpansion und Ausbau der Organisation. Unbestritten ist, daß Parteien auf einen Mitgliederstamm und deren "Input-Leistungen" angewiesen sind. Darüber hinaus entsteht einzelnen Verbänden (Kreis- oder Landesverbänden) weiterer innerparteilicher Nutzen durch größere Mitgliederzahlen. Wie in Kapitel2 genannt, änderten mit Einführung des neuen Parteiengesetzes 1967 die Delegiertenschlüssel für Parteitage. Die anteilige Entsendung der Parteitagsdelegierten eines Verbands richtet sich seitdem nicht mehr nach den erreichten Wahlstimmen, sondern nach Mitgliederstärke des entsprechenden Verbands. Das heißt, je mehr Mitglieder ein lokaler oder Landesverband hat, desto mehr Delegierte kann er anteilig zu Parteitagen entsenden, respektive die innerparteilichen Entscheidungsprozesse mitgestalten. Die Integration von Mitgliedern stiftet jedoch nicht nur einen (oder mehrere) Nutzen, sondern verursacht auch Kosten. Diese sind zweifacher Art. Auf der einen Seite handelt es sich um materielle Integrationskosten. Sie entstehen hauptsächlich aus Mitgliederwerbekampagnen. Auf der anderen Seite verursacht das nominelle Wachstum einer Parteiorganisation immaterielle und zum Teil nicht intendierte Organisationskosten. Hierbei handelt es sich z.B. um das Anwachsen der innerparteilichen Bürokratie, die Zunahme an strategischer Unbeweglichkeit oder die an innerorganisatorischer Komplexität oder auch Konkurrenz verschiedener innerparteilicher Subverbände (z.B. Tan 1997). Diese Kosten-Nutzen-Relationen möchte ich im nächsten Schritt, zunächst kontextfrei, dann mit Blick auf die Situation in den neuen Ländern diskutieren, um daraus Hypothesen zum Prozeß ihrer Organisationsentwicklung abzuleiten. Kosten- und Nutzenfunktion der Mitgliederintegration- allgemeine Anmerkungen Parteien, die an mehr Mitgliedern und dem Ausbau der Organisation interessiert sind, müssen integrative Strategien verfolgen, mit denen sie potentielle Anhänger für eine Mitgliedschaft gewinnen. In der Regel nutzen sie hierfür teure Werbekampagnen, entweder gezielt wie beispielsweise das 1995er Projekt "Rot steht Dir gut" der SPD, die direkte Ansprache von Anhängern auf Parteiveranstaltungen oder Haustüraktionen, bei denen Aktivisten interessierte Anhänger zu Hause aufsuchen und versuchen, sie für eine Mitgliedschaft zu gewinnen oder andere Strategien, wie das sogenannte "street canvassing". Das schließt ein, daß Informationen über Interessenten eingeholt werden müssen, die Aktivisten Zeit für die Ansprache potentieller Mitglieder investieren, ebenso bei der Repräsentation der Partei im lokalen Kontext, z.B. auf Volksfesten oder

126

Geschäftsstraßen. Außerdem müssen Werbe- und Informationsbroschüren geschrieben, gedruckt und verteilt werden, d.h. den Parteien entstehen Integrationskosten, die ich als Investitionen in das nominelle Wachstum der Mitgliederorganisation betrachte. Die Frage ist, ob und ab wann sich diese Investitionen lohnen, daß heißt, ob und wann den Parteien ein meßbarer Nutzen aus der Mitgliederintegration bzw. dem nominellen Wachstum der Organisation entsteht. Wie alle politischen Organisationen benötigen auch Parteien einen gewissen Mitgliederstamm, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Zur Integration des notwendigen Mitgliederstamms entstehen jedoch Kosten, die wir uns als Kurve mit degressivem Verlauf21 vorstellen können. Das heißt, der Zuwachs der y-Größen (in diesem Fall die Gesamt-Integrationskosten k) ist immer kleiner als der Zuwachs der x-Größen, die in diesem Falle die Zahl der Mitglieder (m). Die theoretische Kostenentwicklung möchte ich nachfolgend veranschaulichen. Stellen wir uns hierzu einen neu zu errichtenden lokalen Parteiverband vor. Da dem Verband bereits vor Integration der ersten Mitglieder Kosten entstanden sind {Büros mußten angemietet, Telefonanschlüsse mußten gelegt werden usw.) liegt der Schnittpunkt der Kostenkurve mit der y-Achse nicht bei Null, sondern einem positiven Wert für y, sagen wir einer Kosteneinheit Angenommen, zur Integration der ersten 10 Mitglieder muß eine Partei 3 Kosteneinheiten (z.B. DM 3.000,-) aufwenden, dann betragen die Gesamtkosten (k) nunmehr 4 Kosteneinheiten {also DM 4.000,-). Bei der Integration der nächsten 10 Neumitglieder steigen zwar die Gesamtkosten weiter, doch ist der Kostenzuwachs (t.k) für die neuen Mitglieder kleiner. Er liegt jetzt, gegenüber den 3 Einheiten, die zur Integration der ersten 10 Mitglieder notwendig waren, bei sagen wir - 2.5 Einheiten. Eine Geschäftsstelle ist bereits vorhanden, das zur Integration notwendige Werbematerial ebenso, die Mitgliedswerber verfügen über gewisse Erfahrungen usw. Der Kostenzuwachs für die nächsten 10 Mitglieder ist dann noch geringer, beispielsweise 2 Kosteneinheiten. Hat der Verband m Mitglieder erreicht, dann verursacht die Integration jedes zusätzlichen Mitglieds (m+1) zwar immer noch Kosten, doch liegen diese unter denen, die bis zur Integration des m-ten Mitglieds notwendig waren (s. Abbildung 4.5.1).

21 Bei Kurven mit degressivem Verlauf gilt: Ll.x > Ay für alle x,y. Im Falle der Kostenkurve gilt dies für alle x

~

0 und alle x ~ 1 bei der Nutzenkurve.

127

Abbildung 4.5.1 Die materiellen Kosten der Mitgliederintegration

11 10

-

---------------------------------------

9

-~--~----1- - - - -~-- - - - ~- - - -

:

s:::

:

I

I

m

m+1

'

Cll

( /)

0

e

~

ca

6

5

(/)

4

CJ

3

Cll

2

0

2

3

m-1

m+2

Mitglieder

Einen ähnlich Verlauf nimmt auch die Nutzenkurve des nominellen Ausbaus der Organisation. Ihr Schnittpunkt mit der x-Achse liegt jedoch nicht bei Null, sondern bei einem positiven Wert für m. Das heißt, es entsteht erst dann ein meßbarer Nutzen (u) für die Partei (z.B. lokale Präsenz, Verbindungen zu anderen politischen und nichtpolitischen Verbänden, Öffentlichkeitsarbeit), wenn die Partei über eine bestimmte personelle Basis, sagen wir mehr als zehn Mitglieder, verfügt. Mit der Integration jedes neuen Mitglieds steigt auch die Stärke und Aktivität einer Parteiorganisation, d.h. der Gesamtnutzen (u). Genau dies ist von den Organisatoren mitgliedssuchender Parteien gewollt. Jedoch fällt beim nominellen Mitgliederzuwachs der relative Nutzen (t.u), den die Partei erwarten kann. Denn mehr als eine lokale Geschäftsstelle kann nicht errichtet werden, ebenso wie nicht mehr als ein geschäftsführender Vorstand ge~ählt oder ein lokaler Spitzenkandidat gekürt werden kann, die Anzahl sowie die Aktivität der innerparteilichen Vereinigungen ist nicht beliebig zu steigern usw. Darüber hinaus ist anzunehmen, daß der Anteil der Aktiven an der gesamten Mitgliedschaft beschränkt ist, unabhängig davon, daß die Mitgliederzahl absolut steigt. Dieser Anteilliegt erfahrungsgemäß bei ca. 20% der Mitglieder (z.B. Falke 1982, Haungs 1990, Greven 1987). Die Mitgliederintegration stößt also auf einen Grenznutzen. Ist dieser Punkt erreicht, dann entsteht der Partei kein meßbarer Nutzenzuwachs durch zusätzliche Mitgliederintegration mehr (Abbildung 4.5.2).

128

Abbildung 4.5.2 Der Nutzen der Mitgliederintegration 12 11 10

c

Cl)

tl ::I c

e

9 8

7 -------------

6

111

Ul Cl)

(!}

4

3 2 0+---~---~---+---4~--+---4---~---+---4

0

2

3

m-1

m

m+1

m+2

Mitglieder

Für das Problem des Grenznutzens (~u) ist es vollkommen unerheblich, daß der Gesamtnutzen der durch eine zuletzt betrachteten Einheit, sagen wir m+ 1 Mitglieder, gestiftet wird, größer ist (in diesem Beispiel 95 Nutzeneinheiten), als der, den z.B. die ersten 30 Mitglieder stiften (6 Nutzeneinheiten). Entscheidend ist, daß beim Übergang von m auf m+ 1 Mitglieder kein Nutzenzuwachs mehr stattfindet. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Mitgliederintegration läßt sich als Rentabilität der Mitgliederintegration ausdrücken und kann ebenfalls in Form eines Diagramms veranschaulicht werden (Abbildung 4.5.3). Vorausgesetzt, daß gilt: ~u > ~k für die rnWerte zwischen 1 und m, dann erreichen beide Kurven einen Schnittpunkt, in diesem Falle den Punkt (m, r). Dieser Punkt symbolisiert einen Zustand, an dem der Nutzen (u) die Kosten (k) der Mitgliederintegration erreicht hat22 . Mit jedem weiteren Mitglied (m+ 1) ist das Verhältnis von Kosten und Nutzen des weiteren Ausbaus der Organisation positiv. Von diesem Punkt an haben sich die Investitionen in die Mitgliederwerbung rentiert, d.h. der Nutzen der mitgliederstarken Organisation entspricht ab (m, r) zumindest den zum Ausbau des Apparates aufzubringenden Kosten und liegt für alle weiteren m über den materiellen Kosten der Mitgliederintegration.

22 Dieser Punkt wird auch Effizenzpunkt genannt und ist definiert als "use of resources ... that ... prices of outcomes (bzw. der Grenznutzen) be equal to marginal costs" (den Grenzkosten, s. Lane 1996: 122). 129

Abbildung 4.53 Die Rentabilität der Mitgliederintegration 11 10 9

- - - - -- - - -- -- - --- - /""

8 7 /

6 5 4

3

2

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2

3

m-1

m

m+1

m+2

Mitglieder Soweit ist dies eine zunächst kontextfreie Darstellung des Problems der Integrationskosten und dem entstehenden Nutzen durch die Mitgliederwerbung. Sie kann jedoch für die Situation relativ stabiler Anhänger-Parteien-Beziehungen als gegeben angesehen werden, da der Zulauf in die Parteien unter den Bedingungen stabiler Bindungen sozusagen ,,natürlich", über die Klassen- oder Konfessionszugehörigkeit erfolgte und die Parteien weitgehend ohne aufwendige Kampagnen auskamen. Im nächsten Schritt blicke ich auf das Verhältnis von Integrationskosten und -nutzen unter heutigen Bedingungen und wende die Überlegungen abschließend auf den Prozeß der Organisationsentwicklung der Volksparteien in der Bundesrepublik an.

Kosten- und Nutzenfunktion der Mitgliederintegration unter heutigen Bedingungen Während Kosten- und Nutzenfunktion der Mitgliederintegration unter den Bedingungen stabiler alignments auf einen Rentabilitätspunkt hinausliefen, läßt sich dieser Punkt angesichts der gegenwärtigen Bedingungen, unter denen Parteien in der Bundesrepublik im allgemeinen sowie im besonderen Falle Ostdeutschlands agieren, viel schwerer erreichen. Zum einen, weil die Distanz zwischen Bürgern (potentiellen Mitglieder) und Parteien in den alten Ländern zugenommen hat23 , zum anderen, weil diese Distanz in den neuen Ländern von vomherein groß ist. 23 Nach Kleinhenz (1995: 53-4) nahm der Bevölkerungsanteil ohne feste Parteibindung (Parteiidentifikation oder PID) in den alten Ländern zwischen 1972 und 1987 von 20 auf 25% zu. Zur Erklärung der abnehmenden Parteiidentifikation, einschließlich der sinkenden Mitgliederzahlen der Parteien in den alten Ländern ist in der Forschung eine Reihe von Gründen genannt worden (z.B. Beck, Dalton und Flanagan 1984, Dalton und Rohrschneider 1992). Im Vordergrund stehen dabei drei eng miteinander verbundene Ansätze: erstens die Auflösung sozialer Klassen infolge wohlfahrtsstaatlicher Politik, zweitens der sogenannte Wertewandel bedingt durch wohlfahrts-

130

In den neuen Ländern sind nicht nur die allgerneinen Parteibindungen schwächer als in den alten Ländern, sondern auch die Stammlager beider Parteien (s. 4.4). Die schwächeren Bindungen der Ostdeutschen an die eine oder andere Partei äußert sich (i) in den niedrigeren PID-Werten,24 sowie (ii) in der höheren Wählerfluktuation, der sogenannten Volatilität. Der Volatilitätsindex (VI) repräsentiert die Veränderungen der Stimmenanteile (Pit) aller Parteien (i = 1, 2, ... , n) eines Parteiensystems oder eines (Bundes)Landes gegenüber der vorherigen Wahl (Pit_l) und wird folgendermaßen berechnet (vgl. Bartolini und Mair 1990: 20-2):

n VI= Y2 [I IPit- Pit-111· i=1 Dieser Volatilitätsindex liegt in den neuen Ländern mit einem Wert von 13.8 deutlich über dem der alten Länder von 6.8 und signalisiert, daß die Ostdeutschen weniger stark an eine ("ihre") Partei gebunden sind25 . Angesichts der im Westen gelockerten und der im Osten schwachen Bindungen zwischen den potentiellen Anhängern und den Parteien sind die Integrationskosten entweder gestiegen bzw. von vornherein vergleichsweise hoch. Das heißt, die Parteien sind unter diesen Bedingungen gezwungen, zur Integration eines Mitglieds mehr Aufwand zu betreiben als zu Zeiten, da Mitglieder aufgrund stabiler Klassen- oder konfessioneller Bindungen sozusagen "von alleine" ihrer Partei beitraten. Gleichzeitig ist die Bedeutung (oder der Nutzen) starker Mitgliederorganisationen - zumindest als Wahlkampfressource- beständig gesunken (Katz und Mair 1990, 1992, Perkins 1996), da den Spitzenkandidaten mit den elektronischen Massenmedien sowie professionellen Marketingagenturen gegenüber der Mitgliederorganisation alternative, und zum Teil kostengünstigere Mobilisierungskanäle zur Verfügung stehen. Im Anschluß an Otto staatliche und Bildungspolitik und drittens die Ansicht, daß insbesondere der Organisationstypus der Massenpartei heute eine nicht mehr adäquate Partizipationsinstanz darstellt, um den veränderten Teilnahmeansprüchen der potentiellen Anhängerschaft gerecht zu werden (Wiesendahl1992). Siehe auch Kap. 2. 24 Um gegenüber Kleinhenz (1995) aktuellere Daten zu erhalten, habe ich die PID anband einer neueren Bevölkerungsumfrage (ALLBUS 1996) herauszufinden versucht. Wenngleich die Angaben hier gegenüber denen von Kleinhenz höher liegen, wird deutlich, daß die PID-Werte in den neuen Ländern unter denen in Westdeutschland liegen. Im einzelnen verteilen sich die PID der Bürgerinnen und Bürger nach diesem Sampie wie folgt: PID/West '96: 86.9% der Bevölkerung gaben an, Bindungen zu einer Partei zu haben (CDU 32.5%, SPD 29.2%, B'90/Grüne 15.8%, FDP 9.4%). PID/Ost '96: 81.6% identifizieren sich mit einer Partei (CDU 26.3%, SPD 25.9%, PDS 14.5%, B'90/Grüne 10%, FDP 4.9%).

25 Die Grundlage bildeten hier die Veränderungen zwischen den beiden letzten Landtagswahlen bis 1995 in jenen Ländern, die in die Untersuchung aufgenommen wurden. Angesichts der relativ großen Wählerwanderungen von der CDU zur SPD sowie zur PDS bei den Landtagswahlen 1998 in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommerr. dürfte VI/Ost jetzt noch größer sein.

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Kirchheimer (1965) und Leon Epstein (1976) heißt das, daß sich Parteiführer und Spitzenkandidaten über moderne Massenmedien direkt an ein großes Auditorium wenden und ihre Botschaften dem Wähler unmittelbar- ohne den "Umweg" der Mitgliederorganisation- mitteilen können. Zwar wird auch heute noch der Wahlkampf von vor Ort aktiven Mitgliedern geführt, beispielsweise in Fußgängerzonen, Einkaufspassagen oder durch Auftritte prominenter Politikerinnen auf Volksfesten, doch zeigen neuere Studien, daß Wahlen durch TV-Kampagnen bzw. öffentliche Darstellungen der Spitzenkandidaten entschieden werden (z.B. Kepplinger 1998, s. auch 8.3). Den Bedeutungsverlust, respektive den gesunkenen Nutzen der mitgliederstarken Organisation habe ich in der folgenden Abbildung (Abb. 4.5.4) mit u/neu beschrieben, die veränderten Integrationskosten mit k/neu. Abbildung 4.5.4 Kosten und Nutzen der Mitgliederintegration unter den Bedingungen nach-

lassender Bürger-Parteien-Bindungen26

----u

--o--u/neu ••••• -k --k/neu

m-1

m

m+1

m+2

Mitglieder

Da, wie oben skizziert, durch die gewachsene bzw. von vornherein vergleichsweise große Distanz zwischen Parteien und Bürgern die Kosten zur Integration neuer Mitglieder beständig gestiegen sind, gleichzeitig aber der Nutzen der mitgliederstarken Organisation als Wahlkampfressource gefallen ist, heißt das, daß unter diesen Bedingungen die Werte für u/neu an keiner Stelle mehr die von k/neu erreichen, d.h. k/neu > u/neu für alle m27 .

26 Die gestrichelten Linien repräsentieren den Verlauf der Kosten-Nutzen-Kurve aus Abbildung 4.5.3.

27 Dies gilt zumindest im Rahmen dieses Modells. Realistischerweise kann es heißen: Wenn sich k/neu und u/neu treffen, dann an einem Punkt, der deutlich jenseits von m in Abb. 4.5.3 liegen wird. An der hier getroffenen Aussage ändert diese Einschränkung jedoch nichts.

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Mit anderen Worten: Unter der Annahme, daß sowohl die Kosten der Mitgliederintegration als auch der damit verbundene Nutzen generell degressiv verlaufen, und sich beide Kurven unter den Bedingungen relativ stabiler Beziehungen zwischen den Bürgern und "ihren" Parteien treffen (was heißt, daß sich die Mitgliederintegration ab diesem Punkt rentiert hat) meine ich, daß sich unter den heutigen Bedingungen nachlassender oder nicht gegebener stabiler Bürger-Parteien-Bindungen die Mitgliederintegration mit dem Ziel, eine schlagkräftige Wahlkampfressource zu erschließen, kaum auszahlt. Die Zahlen für die Ausgaben der Mitgliederwerbung und der Mitgliederentwicklung der SPD/Ost (s. 3.1) scheinen dies durchaus zu belegen. Bevor ich aus diesen Überlegungen Folgerungen für den Prozeß der Organisationsentwicklung von SPD und CDU in den neuen Ländern ableite, möchte ich einen Blick auf die immateriellen Organisationskosten werfen, die bei nominellen Wachstum einer Mitgliederorganisation entstehen. Immaterielle Kosten der Mitgliederwerbung und -expansion Die Mitgliedschaft in einer Partei stellt für das einzelne Mitglied einen gewissen individuellen Wert dar, der als relativer Wert der Mitgliedschaft rW[PM] gegenüber Nichtmitgliedern gekennzeichnet werden kann. Hierbei handelt es sich gewissermaßen um ein privates Gut (genauer gesagt um ein sogenanntes "Club-Gut"), in dessenGenuß eben nur gelangt, wer bereit ist, der Partei Freizeit, Engagement und Beitragszahlungen zur Verfügung zu stellen. Im "Tausch" für diese veräußerten Ressourcen erhält ein Parteimitglied das Recht, an Versammlungen und an innerparteilichen Abstimmungen teilzunehmen, erhält politische Insiderinformationen, hat die Möglichkeit, (mehr oder weniger) direkt das politische Geschehen mitzubestimmen oder - mit steigendem innerparteilichen Engagement- die Chance, auf der innerparteilichen Karriereleiter aufzusteigen und schließlich Entscheidungspositionen zu besetzen, die mit Reputation,

Einfluß eventuell gar Einkommen verbunden sind. Unabhängig davon, von welchen Mitgliedstyp man für die folgenden Überlegungen (politikbewußte Mitglieder oder sog. ,,Karrieristen") ausgeht, aktiven Mitgliedern . sowie Entscheidungsträgem kann ein gewisses Interesse am Erhalt ihrer exklusiven Mitgliedschaftsprivilegien unterstellt werden (s. Perkins 1994), denn genau diese definieren den Wert ihrer Mitgliedschaft gegenüber Nichtmitgliedern. Angesichts sinkender Mitgliederzahlen sowie einem beobachteten Mangel an innerparteilicher Demokratie (z.B. Wiesendabi 1992) wurde in den Parteien wie in der Forschung jedoch argumentiert, Parteien sollten neue integrative Strategien verfolgen, die eine Mitgliedschaft sowie innerparteiliches Engagement für potentielle Anhänger attraktiver machen. Drei Möglichkeiten stehen dabei zur Debatte: Erstens kann die Entscheidungsbefugnis auf einen größeren Mitgliederkreis ausgedehnt werden (basisdemokratische Entscheidungen). Das gleiche gilt auch für innerparteiliche Verbände, wie lokale und 133

fachliche Gliederungen, denen mehr Handlungs- und Entscheidungsbefugnisse eingeräumt werden können (subsidiäre Organisationsstrategie). Drittens können die Parteien die Grenze zwischen eingeschriebenen Anhängern (Mitglieder:n) und nichteingeschriebenen Sympathisanten lockern, und an diese verschiedene Mitgliedschaftsprivilegien, wie das Recht, an Veranstaltungen der Partei teilzunehmen, verteilen. Das heißt, in den Worten Susan Scarrows (1994, 1996), Parteien sind, um die Attraktivität der Partizipation zu steigern und letztlich eine Mitgliedschaft insgesamt attraktiver zu gestalten, gezwungen, den Grad der Inklusivität zu steigern, bzw. den der Exklusivität zu Iokkern. Aber auch hier gilt: keine der drei Möglichkeiten ist für die Organisation kostenlos. Der Zuwachs an innerparteilicher Demokratie verschlechtert wie die Streuung von Entscheidungsbefugnissen nicht nur den relativen Wert der ehemals alleinigen Inhaber von Entscheidungsmacht, sondern begrenzt unter Umständen gleichzeitig die strategische Kapazität der gesamten Parteiführung (s. z.B. Wiesendahl1984). Im Anschluß an das "Gesetz der kurvilinearen Disparität", das von John D. May (1973) aufgestellt wurde und meint, daß die Basis einer Partei in der Regel militanter (oder programmatisch prinzipienfester) ist als die eher pragmatisch orientierten Parteiführer, wurde ins Feld geführt, daß Mitglieder - ebenso wie ein Apparat angeschlossener gesellschaftlicher Organisationen - die strategische Flexibilität der Parteiführung behindern können (Schmitt 1987, Scarrow 1996). Wenngleich dieses "Gesetz" empirisch umstritten ist (Kitschelt 1989b), kann es die immer wieder zu beobachtenden Ressentiments von Parteiführern gegenüber basisdemokratischen Verfahren, wie beispielsweise "Urwahlen" der Parteiführung oder Mitgliederbefragungen hinsichtlich des geeigneten Spitzenkandidaten illustrieren28 . Auch eine subsidiäre Organisationspolitik, bei der den innerparteilichen Verbänden größere Handlungs- und Entscheidungsbefugnisse zugebilligt werden, begrenzt die Entscheidungsautonomie der ehemals alleinigen Entscheidungsträger und verschlechtert unter Umständen deren strategische Flexibilität. Die Interpretation von Parteien als "lose verkoppelte Anarchien" (Lösche und Walter 1992, Krebs 1996, Lösche 1997, Walter 1997) verdeutlicht das Problem der nachlassenden Kohärenz der gesamten Organisation bei steigender Autonomie der Subverbände. Auch die dritte der genannten Strategien zur Steigerung der Attraktivität innerparteilichen Engagements, die Lockerung der Grenzen zwischen eingeschriebenen Mitgliedern und nicht eingeschriebenen Sympathisanten, ist nicht kostenfrei. Denn der relative Wert der Parteimitgliedschaft für eingeschriebene Mitglieder fällt gegen Null, . 28 z:B. die Abneigung in der SPD-Führung in der Frage nach einer Urabstimmung über den Kanzlerkandidaten der Partei.: ,,Nichts spricht für eine Mitgliederbefragung" (Franz Müntefering, siehe Der Spiegel1996, 23: 23).

134

wenn nunmehr assoziierte Nichtmitglieder fast gleiche Privilegien genießen. Mit anderen Worten: warum soll jemand dauerhaft individuelle Ressourcen wie Mitgliedsbeiträge und Freizeit in den Dienst der Partei stellen, wenn die damit verbundenen Privilegien auch "umsonst" zur Verfügung gestellt werden.29 Das heißt, das nominelle Wachstum der Mitgliederorganisation verschlechtert nicht nur den individuellen relativen Wert von aktiven Parteimitgliedern und Entscheidungsträgem, sondern birgt auch die Gefahr einer gewissen Immobilität des gesamten Parteiapparates. Robert Michels (1911) beispielsweise hat das anhand des Zusammenhangs von wachsender Organisationsgröße und zunehmender Komplexität und Hierarchisierung der Organisation verdeutlicht. Für ihn war es zwar unvermeidlich, daß angesichts der Massenmitgliedschaft der Parteien ein System der Repräsentation bzw. innerparteilichen Arbeitsteilung errichtet werden müsse, doch führte dies schließlich zwangsläufig zur Bürokratisierung der Organisation und zur Oligarchie, d.h. zur Konzentration von Entscheidungsmacht an der Parteispitze ebenso wie zu eineni strategischen Konservatismus. Ähnlich argumentierte auch Seymour Martin Lipset (1962: 16). Der Preis wachsender Organisationsgröße, so Lipset, ist das Anwachsen der innerparteilichen Bürokratie, die in der Regel in strategischer Immobilität mündet (s. auch Tan 1997). Mitgliedersuchende Parteien stehen somit gewissermaßen vor einem Dilemma. Zum einen sind sie gezwungen, an interessierte, potentielle Anhänger durch die Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen bzw. vergrößerte Inklusivität zusätzliche private bzw. Clubgüter zu verteilen, um den Schritt für eine Mitgliedschaft attraktiver zu gestalten. Zum anderen verschlechtern beide Optionen sowohl den relativen privaten Vorteil, den Entscheidungsträger sowie aktive (bzw. auch eingeschriebene) Mitglieder bis dato ausschließlich genossen als auch die strategische Handlungsfreiheit der Parteieliten. Das heißt schließlich, die Bereitstellung zusätzlicher privater bzw. selektiver Anreize als partizipationsfördernde Strategie für potentielle Anhänger läßt sich nicht beliebig steigern (s. Jäger 1973: 133). Formale Hierarchien in einer Organisation stellen außerdem durchaus eine dynamische Komponente dar, weil die Ungleichheit der privaten Entlohnung (oder die Privilegien) pro jeweiliger Stufe in der Organisation einen Anreiz bietet, auf der internen Karriereleiter aufzusteigen (Panebianco 1988: Kap.2). Somit ist auch der Abbau von innerparteilicher Hierarchie ab einer bestimmten Stufe kontraproduktiv.

29 Siehe auch Wolfgang Jäger (1973). Die Erweiterung der selektiven Anreize hält er weder für realistisch noch für wünschenswert, wobei er sich hinsichtlich der selektiven Anreize v .a. auf den f'atronageeffekt bezieht.

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Folgerungen Unter Kosten-Nutzen-Erwägungen erscheint es demnach zunächst immer günstiger, auf den kostspieligen Aufbau einer Mitgliederorganisation, die über den Stamm der notwendigen Basis hinausgeht, zu verzichten und statt dessen mit kleineren, wirtschaftlich effizienten Kaderorganisationen zu operieren. Einerseits, weil die zur Integration neuer Mitglieder aufzubringenden Kosten angesichts der relativ schwach entwickelten Bindungen zwischen Parteien und Bürgern in den neuen Ländern relativ hoch sind und gleichzeitig der (kurzfristige) Nutzen einer mitgliederstarken Parteiorganisation als Wahlkampfressource deutlich gefallen ist. Andererseits, weil mit Ausbau der Mitgliederorganisation unter Umständen eine Zunahme an strategischer Immobilität verbunden sein kann, ebenso wie die Integration neuer Mitglieder die exklusiven Positionen bisher privilegierter Mitglieder und Entscheidungsträger begrenzen kann. Das heißt, allein unter Kosten-Nutzen-Erwägungen erscheint es für die Parteien in den neuen Ländern, die ihre Organisation entweder von Grund auf zu errichten hatten oder grundlegend umstrukturieren mußten, günstiger zu sein, die Mitgliederintegration zugunsten einer kurzfristig erfolgversprechenden und kastengünstigeren Strategie (Wahl- oder Kandidatenorientierung) zurückzustellen (Hypothese 4.5.1). Aber kann man annehmen, daß in Parteien überhaupt solche Kalkulationen durchgeführt werden, d.h., daß sie von seiten ihrer Führung nach Effizienzkriterien oder Abwägungen über immaterielle Kosten organisiert werden? Die Schlußfolgerung, Parteiorganisatoren würden angesichts der oben genannten Kosten-Nutzen-Problematik von vomherein auf integrative Strategien verzichten und sich statt dessen auf kurzfristig mobilisierende Aspekte (z.B. die sogenannte wahl-professionalisierte Strategie) beschränken, setzt drei Annahmen voraus, die empirisch äußerst schwer zu halten sein dürften. Die erste Annahme wäre, Parteiorganisatoren stünden tatsächlich nur zwei Entscheidungsoptionen zur Verfügung, unter denen sie eine Wahl zu treffen hätten: der Ausbau der Mitgliederorganisation einerseits und die wahl-professionelle Kaderstrategie andererseits. Die zweite Annahme wäre, es gäbe Parteimanager, die im Sinne rationaler Entscheidungskriterien genau jene Option wählen, die ihnen angesichts bestehender "constraints" (eine nur relativ schwach entwickelten sozialen Basis, schwache Stammlager) den größten Nutzen (in diesem Falle Wahlstimmen und -ämter) zu den geringsten Kosten (in diesem Falle eine mediengestütze, wahl-professionalisierte Kaderstrategie) einbringen. Die dritte Annahme wäre, daß es sich bei Parteiorganisatoren allein um "Marketingdirektoren" handelt, die versuchen, ein bestimmtes Produkt (hier den Spitzenkandidaten) zu vermarkten. Diese Annahmen würden jedoch wesentliche Aspekte der Organisationspraxis ignorieren. So reizvoll es auf den ersten Blick erscheint, den Parteiorganisatoren aus 136

theoretischer Perspektive rationales Organisationsmanangment zu unterstellen, ist es allem Anschein nach unrealistisch, dies auch ohne weiteres für die tatsächliche Organisationspolitik zu erwarten (z.B. Wiesendabi 1998). Deshalb ist es notwendig, zur Erarbeitung untersuchungsleitender Hypothesen einige Einschränkungen allgemeinerer Art sowie Konkretisierungen mit Blick auf die jeweilige Ausgangssituation von SPD und CDU in den neuen Ländern vorzunehmen. Erstens ist ein Minimum an Mitgliedern ohne jeden Zweifel notwendig, denn Mitglieder sind es, die eine Parteiorganisation arbeitsfahig machen und sie im lokalen Kon~ext repräsentieren. Selbst unter der Annahme, Parteiorganisatoren orientierten sich an der Kaderstrategie und folgten zu deren Realisiefllng Effizienzkriterien, wäre es schwer, den für das Erreichen einer optimalen Mittel-Ziel-Relation notwendigen Punkt der Mitgliedergröße (m) zu 'ermitteln. Das heißt, selbst unter der o.g. Annahme würde es rationalen Parteiorganisatoren schwer fallen, einen Rentabilitätspunkt zu finden. Zweitens ist es höchst unwahrscheinlich, daß Parteiorganisatoren nur eine primäre Organisationsstrategie (sei dies mediengestütze, wahl-professionalisierte Kaderstrategie oder die Errichtung einer zahlenmäßig starken Mitgliederorganisation) verfolgen. Die Organisationspraxis von Volksparteien, bei denen es sich um SPD/Ost und CDU/Ost nach der Vereinigung zumindest formal handelt, ist de facto eher an universellen Maximierungsstrategien (Mitglieder, Aktivität, Wahlstimmen, Policy-Kontrolle oder -Mitbestimmung, Wahlämter) als an einer Optimierungsstrategie der verfügbaren Ressourcen orientiert. Im Unterschied zu wirtschaftlichen Unternehmungen sind Parteien (wenngleich mit abnehmender Tendenz) Instanzen, die nicht ein Produkt, sondern gleichzeitig politische Werte, früher sogar Weltanschauungen und Ideologien, vermitteln und den Bürgerinnen und Bürgern lokale politische Partizipations- und Gestaltungsforen anbieten wollen, d.h. Parteien "produzieren" kollektive, gesellschaftliche Güter (s. z.B. Schlesinger 1984). Aus diesen, zum Teil normativen bzw.- im Anschluß an Jäger (1973) nicht rationalisierbaren - Erwägungen leitet sich ihr Integrationsanspruch auch heute noch ab. Drittens ist es in der Parteienlehre vollkommen unstrittig, daß große Parleiorganisationen sogenannte ,,minimal effiziente" Einrichtungen sind (s. z.B. Wiesendabi 1984, Schlesinger 1984, Schmid 1990, Lösche und Walter 1992). Das heißt, die Organisationspraxis von Volksparteien ist nicht allein von einer primären Strategie gekennzeichnet, sondern folgt, wie eben gesagt, vielseitigen Maximierungsbemühungen, die sich untereinander nicht zwangsläufig ausschließen müssen. Mit anderen Worten: Die Organisationspolitik von Volksparteien ist nicht notwendigerweise ein Nullsummenspiel, bei dem größere Aufmerksamkeit gegenüber der einen Strategie (z.B. Ausbau der Mitgliederorganisation) zwangsläufig zu einer geringeren Aufmerksamkeit gegen-

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über weiteren Strategien (z.B. Stimmenorientierung, policy-Kontrolle) führt, d.h. zwischen den möglichen Strategien besteht nicht zwangsläufig ein Zielkonflikt Viertens ist es _möglich, daß von den jeweiligen westdeutschen Schwesterparteien ein gewisser "Vorbildeffekt" ausgeht. Im Laufe der vergangeneu Jahre haben zwar auch SPD und CDU im Westen einen zum Teil deutlichen Substanzverlust hinnehmen müssen, dennoch definieren sie sich noch immer als "Mitgliederparteien" (s. Kap. 2). Darüber hinaus haben sie massive Hilfe in den Ausbau der Mitgliederverbände im Osten geleistet, zu der auch die Schulung der heutigen Parteiorganisatoren in den neuen Ländern gehörte. Allerdings ist hier einzuschränken, daß es sich bei den Organisatoren der westdeutschen Volksparteien durchaus um strategische Akteure handeln kann, die aus fehlgeschlagenen Strategien zur erweiterten Mitgliederintegration lernen und ihren Kollegen in den neuen Ländern durchaus alternative Konzepte zum Ausbau der Mitgliederorganisation nahelegen könnten. Soweit zu den notwendigen Einschränkungen an der Annahme, Parteiorganisatoren folgten bei der Errichtung der Organisation (i) einer dominanten Strategie und (ii) Effizienzkriterien. Der Blick auf die konkreten Ausgangsbedingungen von CDU und SPD in den neuen Ländern zeigt jedoch, daß zumindest für die Organisationsentwicklung der CDU Teile dieser Annahme aufrechterhalten werden können. Die CDU in den neuen Ländern verfügte mit der Vereinigung bereits über eine organisatorische Basis, d.h. lokale Geschäftsstellen waren ebenso vorhanden wie eine überaus hohe Zahl (und somit auch Dichte) an Mitgliedern. Daher waren von vornherein geringere Anstrengungen in den Ausbau der lokalen Parteiorganisation und Mitgliederwerbung notwendig, zumal von seilen der Bundesgeschäftsstellen eine Verschlankung des Apparates auf die Tagesordnung gesetzt wurde und die westdeutsche Parteiführung eine zögerliche Haltung gegenüber (i) der Weiterbeschäftigung ehemaliger Blockkader und (ii) Integration neuer Anhänger (evtl. Alt-SED-Mitglieder) zeigte (s. Schmidt 1997, sowie Kapitel 3). Darüber hinaus liegt die Verantwortung für die Mitgliederintegration (fast ausschließlich) bei den lokalen Verbänden, d.h. den Kreis- und Ortsverbänden, so daß anzunehmen ist, daß von seilen der Landesverbände ohnehin geringere Anstrengungen in das nominelle Wachstum der Mitgliederorganisation unternommen werden. Schließlich befand sich die CDU bundesweit in der Regierungsposition, womit zumindest auf gesamtstaatlicher Ebene das Primärziel realisiert war. Regierungsparteien tendieren viel eher dazu, den weiteren Aufbau der außerparlamentarischen Organisation zugunsten der Bestandswahrung (hier: die Verteidigung der Regierungsposition) zu vernachlässigen, was ein Blick auf die Geschichte der westdeutschen CDU bis Ende der 60er und seit Beginn der 80er Jahre unterstreicht (s. Kap. 2). In Anbetracht dieser Ausgangsbedingungen halte ich es in Verbindung mit den oben dargelegten Kosten-Nutzen-Erwägungen des Ausbaus der Mitgliederorganisation für möglich, aus der o.g. Hypothese (4.5.1) die Aussage aufrechtzuerhalten, daß die 138

ostdeutschen CDU-Landesverbände im Vergleich zur SPD/Ost sowie den Schwesterverbänden im Westen weniger Mittel in den weiteren Ausbau der lokalen Parteiorganisation sowie zur zusätzlichen Mitgliederintegration investieren und statt dessen versuchen werden, mit dem vorhandenen Bestand auszukommen. Die Hypothese lautet in diesem Falle: Die Organisatoren der ostdeutschen CDU-Landesverbände unternehmen geringere Anstrengungen in den weiteren Ausbau der Mitgliederorganisation (Hypothese 4.5.2). Ob damit allerdings verbunden ist, daß innerhalb der ostdeutschen CDU dann verstärkt eine mediengestützte, wahl-professionalsierte Kaderstrategie bevorzugt wird, kann hier nicht zwingend prognostiziert werden, da - wie oben gesagt das Spektrum möglicher Organisationspolicies umfangreicher ist, als zwischen Ausbau der Mitgliederorganisation und Kaderstrategie zu wählen. Es ist durchaus möglich, daß die Partei die ihr zur Verfügung stehenden (finanziellen) Mittel hauptsächlich zum Bestandserhalt (z.B. Personalausgaben, Ausgaben für den laufenden Geschäftsbetrieb usw .) verwendet. Sollte sich im Laufe der Untersuchung herausstellen, ,daß zwischen den CDUSchwesterverbänden deutliche Differenzen in der Struktur der Parteiorganisation (SPO) bestehen, z.B. in der Mitgliederdichte oder im gesamten Grad der organisatorischen Stärke (S 0 , siehe dazu Kapitel 5), dann ließen sich diese Differenzen eventuell auch auf geringere Investitionen von seilen der ostdeutschen CDU-Organisatoren in den weiteren Ausbau der Mitgliederorganisation (~InvestPO) zurückführen. Formal ausgedrückt: wenn ~SPO/CDU, dann auch wegen ~InvestPO. Für die SPD in den neuen Ländern ergibt sich eine andere Ausgangssituation. Hier galt es, die Parteiorganisation von Grund auf neu zu errichten. Neben dem Aufbau arbeitsfähiger Landesverbände schloß dies die Gründung lokaler Verbände, einschließlich der innerparteilichen Arbeitsgemeinschaften sowie der Etablierung lokaler Netzwerke ein. Ein Grundstock an Mitgliedern ist dazu unverzichtbar. Da sich aber, wie oben gesehen, die Mitgliederintegration in Volksparteien nicht allein an der Frage der Integration eines notwendigen, die Arbeitsfähigkeit der Partei garantierenden Mitgliederstarums orientiert, und es darüber hinaus auch äußerst schwer ist, genau diesen Mitgliederstamm zu ermitteln, ist es wahrscheinlich, daß innerhalb der ostdeutschen SPD - ungeachtet der (theoretischen) Kosten-Nutzen-Problematik des nominellen Wachstums der Organisation - nachhaltige Anstrengungen in Mitgliederwerbung sowie Ausbau der Organisation unternommen werden. Die Hypothese lautet also: Innerhalb der ostdeutschen SPD werden relativ große Anstrengungen in den Ausbau der Mitgliederorganisation unternommen, die sich in überdurchschnittlich hohen Ausgaben der Landesverbände für Mitgliederwerbung und anderen integrativen Strategien niederschlagen (Hypothese 4.5.3). Sollte sich diese Hypothese in der späteren Untersuchung bestätigen, d.h. InvestPO/SPD/Ost > InvestPOJSPD/West, gleichzeitig aber, wie unter 4.2. bis 4.4 vor139

hergesagt, Differenzen in der Struktur der Parteiorganisation zwischen den SPDSchwesterverbänden bestehen, dann können die Differenzen nicht auf geringere Anstrengungen von seilen der ostdeutschen SPD-Verantwortlichen in den weiteren Aufbau der Mitgliederorganisation zurückgeführt werden, sondern müssen mit anderen Faktoren erklärt werden. Als letzten Bestimmungsfaktor der Organisationsentwicklung von SPD und CDU in den neuen Ländern betrachte ich die Beteiligungsmotive und -bedingungen einzelner Anhänger und Anhängerinnen, denn schließlich sind es die - kontextbedingten Entscheidungen einzelner Akteure, eine Partei zu unterstützen, die letztlich ihr organisatorisches Erscheinungsbild mit bestimmen. 4.6. Individuelle Motive und Bedingungen der Partizipation in Parteien Unter den Bedingungen der liberalen Demokratie sind Parteien, wie alle anderen Freiwilligenverbände auch, gezwungen, ihrer potentiellen Anhängerschaft verschiedene Teilnahmeanreize zu bieten, damit eine Mitgliedschaft überhaupt interessant wird. Im Anschluß an James Q. Wilson (1974!1995) und Angelo Panebianco (1988) lassen sich drei Arten der Teilnahmeanreize30 unterscheiden: erstens solidarische Anreize (wie Gruppen- oder Gemeinschaftszugehörigkeit), zweitens zweckgerichtete Stimuli (z.B. die Möglichkeit für den einzelnen, Politik im allgemeinen oder in "seinem Sinne" zu gestalten) und drittens (im-)materielle private Statusanreize (z.B. innerparteiliche oder öffentliche Ämter sowie die damit verbundenen Privilegien). Die von Parteien offerierten Teilnahmeanreize korrespondieren mit den angenommenen Teilnahmemotiven eines einzelnen Parteimitglieds. Obwohl in der (vorwiegend englischsprachigen) Literatur die Motive der Parteimitgliedschaft bzw. des innerparteilichen Engagements hauptsächlich mit dem Gewinn von Amtsprivilegien in Verbindung gebracht werden (z.B. Schaltschneider 1942, Downs 1957, Schlesinger 1984, 1994), reicht das Spektrum der Teilnahmemotive über das Ideal des "office seekers" weit hinaus. Potentielle Parteimitglieder können die Partei entweder als politische Heimat bzw. als Ort gemeinschaftlichen Handeins verstehen (solidarischer oder Gemeinschaftsanreiz), als Ort, Politik im allgemeinen oder in ihrem speziellen Interesse zu beeinflussen (zweckgerichteter Anreiz), oder aber als Ort beruflicher Entwicklung bzw. persönlicher Profilierung ansehen (Statusanreiz).

30 Andere Autoren gliedern die Anreize in zwei Arten: (i) soziale bzw. kollektive sowie (ii) individuell-materielle Stimuli. So beispielsweise Wolfgang Jäger (1973), der mit Blick auf das auf Mancur Olson (1965) zurückgehende Kollektivgutproblem argumentierte, daß Parteien soziale bzw. Kollektivgüter (Politik) "produzieren", die für potentielle Mitglieder anziehend wirken können und um das Kollektivgutproblem zu lösen - gleichzeitig selektive Anreize (nach Jäger hauptsächlich Patronage) bereitstellen (s. dazu auch 4.5).

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Aus diesen idealisierten Beitrittsmotiven lassen sich wiederum zwei ideale Mitgliedertypen ableiten, nach Panebianco (1988: 26-30) "politikbewußte" bzw. "treue" (die sogenannten 'believers') oder ,)aufbahnorientierte" Mitglieder (sogenannte Karrieristen). Believers sind organisierten Anhänger, die der Partei emotional, ideologisch, inhaltlich oder per Tradition eng verbunden sind. Diese Mitglieder orientieren sich vornehmlich an kollektiven (Gruppenidentität), politischen oder sozialen Prozeßund Zweckanreizen und sind bereit, ihrer Partei gewisse "Opfer" zu bringen, ohne dafür eine materielle Entlohnung zu erwarten. Dagegen sind die sogenannten laufbahnorientierte Anhänger am Erreichen verschiedener Vorteile interessiert, die sich aus innerparteilichen Ämtern oder öffentlichen Mandaten via Parteiaktivität ergeben, seien diese materieller (z.B. Diäten, Pensionsansprüche) oder immaterieller Art (Prestige, Amtsmacht). Nach Max Webers Unterscheidung (1919/1985) sind dies solche Anhänger, die sich im Unterschied zu den politiktreuen Anhängern vornehmlich darauf orientieren, von der Politik zu leben und nicht }Ur sie. Die Organisationsstärke einer Partei hängt entscheidend davon ab, inwieweit es ihr gelingt, ausreichend motivierte Anhänger, believers oder laufbahnorientierte Mitglieder, zu finden. Aber nicht alle Parteien sind für die idealisierten Mitgliedertypen gleichermaßen attraktiv. So gilt, daß Parteien, die sich bereits in Regierungsverantwortung befinden, generell attraktiver für laufbahnorientierte Mitglieder sind als Parteien, die über kein Regierungspotential verfügen. Ebenso gilt, daß nicht alle potentiellen Mitglieder gleichermaßen in der Lage sind, ihre Partei durch engagierte Mitarbeit zu unterstützen. Was neben den Motiven (Politikgestaltung, Parteitreue oder Karriereambitionen) z~hlt, sind die individuellen Beteiligungsressourcen (s. Abb. 4.6.1). Hierzu zählen insbesondere verfügbare Zeit, Zugang zu Kommunikationswegen, ausbildungsbedingte Fähigkeiten, Organisationstalent und nicht zuletzt Geld (Beiträge). Der empirischen Forschung sind jedoch Grenzen gesetzt vorherzusagen, wer per se laufbahnorientiert ist bzw. zur Gruppe der believers gehört. Ein überzeugtes Parteimitglied kann sowohl Lehrerin, Ärztin, Facharbeiter, Pförtner, Schülerin, jung oder alt sein usw. Durch den Blick auf die sozialstruktureilen Merkmale der Parteimitglieder (SSPM) wird es allerdings möglich, die Bedingungen dafür zu konkretisieren, welche Mitgliedergruppe über günstigere Beteiligungsvoraussetzungen verfügt bzw. welche Mitgliedergruppen eine hohe innerparteiliche Aktivität begünstigen31 . 31 Diese Überlegungen (Ressourcenmodell) bieten zwar einen geeigneten Zugang zur Benennung der Beteiligungsvoraussetzungen von potentiellen Parteimitgliedern, doch sie bergen die Gefahr des sogenannten "ökologischen Fehlschlusses" bei der Arbeit mit Aggregatdaten (s. Robinson 1950, Kleinhenz 1995). Die Bezeichnung "ökologisch" hat zwar ihren Ursprung in der Zugrundelegung geographischer Merkmale (Regionen, Wahlkreise usw.) als Analyseeinheiten, doch das Problem gilt auch bei anderen Anwendungen. Es beginnt im allgemeinen damit, daß Aggregatdaten, wie pro-Kopf-Einkommen in der Region X, Durchschnittsalter der Bewohner der Stadt Y oder - wie im Falle dieser Untersuchung - die berufliche Gliederung der Mitglieder eines Parteiverbandes Z zur Benennung der Bedingungen individuellen Verhaltens herangezogen werden. Das Problem be-

141

Abbildung 4.6.1 Beteiligungsvoraussetzungen

(Teilnahmemotive

verfügbare Zeit für innerparleiH hes Engagement

Im Anschluß an Falke (1982), Neu, Bürklin und Veen (1997) verfügen insbesondere Angestellte (im privaten Sektor, v .a. aber im öffentlichen Dienst), Beamte, Lehrlinge, Studenten, darüber hinaus Mitglieder mit höheren Bildungsabschlüssen sowie generell jüngere Mitglieder über die günstigste Schnittmenge an Beteiligungsressourcen. Gleichzeitig gilt besonders für Angestellte im öffentlichen Dienst, Beamte und zum Teil Studenten, daß sie innerparteiliche Aktivität mit einer Laufbahnerwartung in/durch die Partei verbinden. Demgegenüber verfügen Selbständige, (Schicht-)Arbeiter, Pensionäre sowie generell ältere potentielle Mitglieder entweder nicht über die notwendige Zeit, die entsprechenden Qualifikationen oder (Karriere)Ambitionen, um sich in einer Partei aktiv zu engagieren. Aus einer rein 'office'-orientierten Perspektive ließe sich hier beispielsweise fragen, warum eine erfolgreiche Unternehrnenn ihre ohnehin knappen Teilnahmeressourcen (verfügbare Zeit) in eine aktive Parteimitgliedschaft investieren sollte, wo sie doch private Vorteile (z.B. hohes Einkommen, Prestige, Entscheidungsmacht) längst anderenorts erhält32. Diese Überlegungen laufen auf folgende Schlußfolgerungen hinaus: Nach dem Ressourcenmodell der innerparteilichen Aktivität ist zu erwarten, daß das Aktivitätsprofil (s. dazu Kap. 5) steigt, je höher der Anteil jener Mitgliedergruppen ist, die über die günstigsten Beteiligungsvoraussetzungen verfügen. Das heißt, je höher der Anteil steht darin, daß die Aggregatdaten keine Rückschlüsse auf individuelles Verhalten erlauben. Beispielsweise kann selbst aus einer hohen Korrelation zwischen relativ großen Anteil an Arbeitern oder Selbständigen in einem Parteiverband und überdurchschnittlich passiver Parteiorganisation nicht zwingend gefolgert werden, daß sich Selbständige oder Arbeiter nicht an Parteiarbeit beteiligen (s. dazu z.B. Sirnon 1979). Insofern kann ich die folgenden Aussagen nur auf die Gebietseinheiten (z.B. SPD in Sachsen-Anhalt) anwenden, nicht aber auf die individuellen Mitglieder.

32 Ich erinnere hier dringend an das oben angesprochene Problem des ökologischen Fehlschlusses. Die sozialstrukturellen Aspekte benennen lediglich Partizipationsvoraussetzungen und geben günstige bzw. ungünstige Voraussetzungen an. Darüber, ob eine einzelne Unternehrnenn ebenso wie ein Schichtarbeiter tatsächlich zu weniger aktiver Arbeit bereit oder in der Lage ist, kann man mit Hilfe einer deduktiven Argumentation keine Vorhersagen treffen.

142

der öffentlich Bediensteten, Beamten, Lehrlinge/Studenten und generelle jüngerer Mitglieder ist, desto aktiver ist die Parteiorganisation (Hypothese 4.6.1). Beide Parteien in den neuen Ländern hatten jedoch kaum die Möglichkeit, über die parteinahen Jugendorganisationen (z.B. Schülerunion, RCDS, Sozialistischer Studentenbund) vergleichsweise stabile Bindungen zu jüngeren Sympathisanten aufzubauen. Insofern könnte hier ein Rekrutierungsdefizit bestehen, daß sich letztlich auf das Aktivitätsprofil (AP, s. Kap. 5) der Parteien auswirkt. Wenn in der folgenden Untersuchung Unterschiede im Grad der innerparteilichen Aktivität zwischen den jeweiligen Schwesterverbänden sichtbar werden sollten, dann eventuell auch deshalb, weil die Parteien in den neuen Ländern weniger aktive Unterstützung jüngerer Sympathisanten erhalten (Hypothese 4.6.2). Kürzer gesagt: Wenn ö.SP0/0/W (bzw. AAP), dann eventuell auch wegen D.SSPM/0/W (s. 7.5). 4.7 Zusammenfassung und Ausblick Dieses Kapitel verfolgte primär zwei Ziele. Erstens galt es, Überlegungen darüber anzustellen, welche Faktoren die Entwicklung der Organisationsstrukturen von SPD und CDU in den neuen Bundesländern seit der Vereinigung mit den je'Yeiligen westdeutschen Schwesterparteien beeinflussen, zweitens, daraus Hypothesen zu formulieren, wie diese Faktoren die Herausbildung der Organisationsmuster beeinflussen können. Hierzu habe ich sechs Faktoren näher betrachtet, die in der Transformations-, Parteienund allgemeineren Organisationsforschung als wesentlich für die Entwicklung innerparteilicher Organisationsmuster angesehen werden (z.B. Duverger 1959, Harmel und Janda 1982, Panebianco 1988, Kitschelt 1989a, Scott 1992, Offe 1992): Erstens den politisch-strukturellen oder institutionellen Kontext, in dem beide Parteien operieren, zweitens die Intensität der Parteienkonkurrenz, drittens die sozialen Voraussetzungen der Herausbildung organisatorisch starker Massenparteien westlichen Vorbilds, viertens die Stärke traditioneller Stammlager der Parteien, fünftens Überlegungen über die Investitionen der Parteiführer in den Aufbau einer Mitgliederorganisation und schließlich die individuellen Motive und Bedingungen der Partizipation in Parteien. Die angenommenen Auswirkungen der diskutierten Faktoren der Parteienentwicklung fasse ich im nachfolgenden Überblick zusammen (s. Tabelle 4.7.1). Anhand der in diesem Kapitel dargelegten Entwicklungsfaktoren bleibt als vorläufige Antwort auf die Frage, zu welchen Parteiorganisationsformen sich SPD und CDU in den neuen Bundesländern entwickelt haben, sozusagen als übergreifende Hypothese festzuhalten, daß die Anzeichen überwiegen, die die Herausbildung organisatorisch schwächerer Parteiverbände begünstigen. Mit anderen Worten: Ich vermute, daß trotz eines gewissen Konvergenzpotentials ,,klassische" organisatorische Aspekte der Mitglieder- oder Massenpartei (hohe Mitgliederzahlen und -dichte, hohe Anzahl und Stärke der innerparteilichen Vereinigungen und Arbeitsgemeinschaften, engma143·

schige lokale Netzwerke,.ausgewogenes Ve'rhältnis zwischen den Elementen der Parteiorganisation und Einzelpersonen bei Entscheidungsprozessen und Wählermobilisierung) in den ostdeutschen Parteien weniger stark entwickelt sind. Einerseits, weil die spezifischen politischen wie sozialen Kontextbedingungen, hier v .a. die geringere Intensität der Parteienkonkurrenz, die geringere Stärke der sozialen, informellen Basis sowie die der traditionellen Stammlager und schließlich die geringeren Bindungen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern (in PID oder Volatilität) die Herausbildung mitgliederstarker Verbände erschweren, andererseits, weil die Verantwortlichen, zumindest innerhalb der CDU, angesichts der überaus kostspieligen Mitgliederintegration eher auf die Stärkung der organisatorischen Basis verzichten und versuchen könnten, mit dem vorhandenen Potential auszukommen. Tabelle 4.7.1 Yennutete Auswirkungen der Faktoren auf die Strukturierung der Partei-

organisationen Entwicklungsfaktor la. politisch-struktureller Kontext außerhalb der Partei lb. Organisationstransfer 2. Intensität der Parteienkonkurrenz 3. Stärke der soziale Basis 4. Stärke der (traditionellen) Stammlager 5. Investitionen in den Aufbau der Organisation Sa. in Verbindung mit 2.-4. 6. individuelle Partizipationsressourcen (SSPM, Anteil jüngerer Mitglieder)

begünstigt konvergente Entwicklung der Organisationsmuster der jeweiligen Schwesterverbände ja ja nein nein nein CDU eher nein SPD? eher nein eher nein

Im Anschluß an Petr Kopeckys Fragestellung "What kind of Party Organization is likely to emerge?" (1995) halte ich es in Anbetracht der hier diskutierten Entwicklungsbedingungen für wahrscheinlich, daß sich SPD und CDU in den neuen Ländern zu deutlich mitgliederschwächeren Parteiformationen entwickelt haben. Sollte dies zutreffen, dann ist es, unter der Annahme, daß in mitgliederstarken Verbänden die Organisation mit ihren Elementen in der innerparteilichen Willensbildung sowie als zentrale Wahlkampfressource gegenüber einzelnen eine zumindest gleichberechtigt hohe Bedeutung genießt, während in mitgliederschwächeren Verbänden einzelne eher die kleine Organisation kontrollieren und deren zentrale Wahlkampfressource sind, ebenso 144

wahrscheinlich, daß sich die ostdeutschen Parteien, sofern möglich, eher um die ,Jeadership in office" oder um die Führungselite (z.B. Parlamentarier, Amtsinhaber) organisieren (s. auch Rüb 1998), unabhängig davon, daß auch in den neuen institutionelle Bedingungen herrschen (Parlamentarismus, Verhältniswahl mit innerparteilichen Listen), welche die Organisation gegenüber einzelnen stärkt. Das heißt, in den neuen Ländern herrschen überwiegend Bedingungen, die die Herausbildung mitgliederschwächerer Parteien begünstigen, in denen mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit Merkmale einer (wahl-professionellen) Kaderstrategie zu beobachten sein werden. In der folgenden Untersuchung stehen somit drei Fragen im Vordergrund. Erstens, ob sich die Vermutungen best~tigen und die ostdeutschen Parteiverbände tatsächlich schwächer organisiert sind als ihre westdeutschen Schwesterverbände. Zweitens, ob in Ost-West-Perspektive Organisationsdifferenzen bestehen, die es erlauben, von der Herausbildung eines gegenüber der Volkspartei mit Massenbasis alternativen Organisationstyps zu sprechen. Neben einem Blick auf die Mitgliederentwicklung und Integrationsbemühungen schließt das die Untersuchung der qualitativen Organisationsmerkmale ein, einschließlich der Frage danach, wer die Organisation kontrolliert und die zentrale Wahlkampfressource bildet. Drittens, ob diese Organisationsstrukturen bzw. -differenzen das Ergebnis bewußter strategischer Planungen sind, oder aber von den externen Kontextfaktoren konditioniert werden. Vorausgesetzt, daß Unterschiede in den Organisationsmustern in der vermuteten Richtung deutlich werden, geht es im Anschluß an die folgende Untersuchung darum, die Differenzen zwischen den jeweiligen Schwesterverbänden zu erklären. Hierfür möchte ich abschließend ein Erklärungsmodell vorschlagen. Wie zu Beginn dieses Ka_pitels gesagt, gilt das Interesse der Untersuchung den im Laufe der vergangeneu knapp zehn Jahre entstandenen Organisationsstrukturen der ostdeutschen Parteien. Das heißt, die Struktur der Parteiorganisation (SPO) ist im Rahmen der weiteren Untersuchung die abhängige bzw. zu erklärende Variable. Sie kann nach den Überlegungen dieses Kapitels als (statistisches) Modell33 ausgedrückt werden. (1)

SPO = ao + b1 PSK + b2 IPK + b3 ISB + b4 STAMM+ b5 INVEST + b6SSPM

33 Die Abkürzungen in der Regressionsgleichung entsprechen den einzelnen Punkten bzw. Entwick-

lungsfaktoren dieses Abschnittes: PSK =politisch-struktureller Kontext, IPK = Intensität Parteienkonkurrenz, !SB =Stärke der sozialen Basis, STAMM= Stärke der Stammlager, INVEST = Investitionen in den Aufbau der Mitgliederorganisationen, SSPM = Sozialstruktur der Mitglieder. Die Beta-Koeffizienten (b1, ... , b6) stehen für den Anstieg der Regressionsgeraden.

145

Sollten dann im Laufe der Untersuchung signifikante Differenzen (L'l) innerhalb der Struktur der Parteiorganisation in Ost-West-Perspektive deutlich werden, also gelten !lSPO/Ost/West, dann möchte ich diese Differenzen, wie am Ende der jeweiligen Abschnitte dieses Kapitels gesagt, mit den tatsächlichen (bzw. hier z.T. noch vermuteten) Unterschieden der unabhängigen Variablen erklären. Gegenüber dem oben genannten Modell ginge es hier nicht mehr darum, SPO durch die unabhängigen Variablen zu beschreiben, sondern die Unterschiede in SPO durch die Unterschiede in den unabhängigen Variablen zu erklären. Weil die institutionellen Faktoren in Ost- und Westdeutschland seit der Vereinigung formal gleich sind, d.h. LlPSK/Ost/West = 0, entfällt gegenüber (1) der Wert für den politisch-strukturellen Kontext (PSK) aus dem folgenden Modell. Für eine spätere Erklärung möglicher Differenzen der Organisationsentwicklung der Parteien bliebe dann stehen: Wenn L'lSPO/Ost/West, dann wegen L'liPK/0/W, LliSB/0/W, LlSTAMM/0/W, L'liNVEST/0/W und !lSSPM/0/W. In Form eines statistischen Modells hieße das: (2) l'lSP0/0/W =l'liPK/0/W + l'llSB/0/W + l'lSTAMM/0/W + l'llNVEST/0/W + l'lSSPM/0/W

Dieses Modell ist jedoch nicht mehr als eine annäherungsweise Wiedergabe des späteren Vorgehens. Erstens ist die Struktur einer Parteiorganisation viel zu komplex, als daß sie mit Hilfe einer Regressionsgleichung beschrieben werden könnte. Wie zu Beginn dieses Kapitels gesagt, ist SPO mindestens zweifacher Art. Zum einen enthält sie quantitative Merkmale. Hierzu zählen Mitgliederstärke und -entwicklung, Dichte und Aktivität der lokalen Parteiverbände (Kreisverbände und Unterbezirke) und der innerparteilichen Arbeitsgemeinschaften bzw .. Vereinigungen und schließlich die Intensität der Kontakte zu nichtparteilichen Organisationen im lokalen Umfeld. Diese Merkmale fasse ich im anschließenden Kapitel zum Grad der Organisationsstärke zusammen und stelle sie in Form eines Index (S 0 ) dar, der die Grundlage des Vergleichs der quantitativen Merkmale der Parteiorganisationen bildet. Auf der anderen Seite ist die Struktur der Organisation durch qualitative Aspekte gekennzeichnet. Neben der Frage nach dem Grad der innerparteilichen Kohäsion zählen hierzu beispielsweise das Ausmaß der wahrgenommenen Handlungsautonomie der lokalen Parteiverbände, die Verteilung der Entscheidungszentren34 in den Parteien sowie die Frage nach den wichtigsten Wahlkampfressourcen. Diese Merkmale werde ich in Kapitel6 untersuchen. 34 Das Ausmaß der wahrgenommenen Handlungsautonomie der lokalen Parteiverbände sowie die Verteilung der Entscheidungszentren in den Parteien sind für die Charakterisierung von Parteiorganisationen wichtige Indikatoren, zu deren möglicher Ausprägung ich in diesem Kapitel noch nichts gesagt habe. Sie stehen jedoch in enger Verbindung mit den vermuteten Varianzen in SPO und werden später (Kapitel 6) ausführlich betrachtet.

146

Zweitens ist es sehr wahrscheinlich, daß zwischen den unabhängigen Variablen ein statistischer Zusammenhang besteht, d.h. beispielsweise die Werte für IPK der Bundesländer mit denen für ISB korrelieren. Dieses Problem - die sogenannte Multikollinearität - führt dazu, daß innerhalb multivariater Regressionsanalysen (mit mehr als einer unabhängigen Variable) die Aussagekraft der Beta-Koeffizienten (d.h. der Wert für den Anstieg der Regressionsgeraden, b1, b2, ... , bn, siehe Modell 1) beeinflußt wird und sie an Aussagekraft verlieren (vgl. Kennedy 1992: Kap. 11). 1 Aus diesen Gründen werde ich in Kapitel 7 die Ergebnisse zuerst einzeln betrachten. Das heißt, ich untersuche zunächst die Beziehung zwischen Mitgliederdichte (MD) der Parteiverbände und den Kontextvariablen (MD ~7 IPK, ISB, STAMM, INVEST), dann die zwischen Aktivitätsprofil und Sozialstruktur der Mitglieder (AP ~7 SSPM) sowie die zwischen Organisationsstärke und den unabhängigen Variablen (S 0 ~7 IPK, ISB, STAMM, INVEST) und schließlich die zwischen den qualitativen Merkmalen und den beeinflussenden Faktoren. Am Ende fasse ich die Ergebnisse, soweit es methodisch sauber möglich ist, zusammen. In den beiden folgenden Kapiteln stehen zunächst jedoch die quantitativen und qualitativen Merkmale der Parteiorganisationsstrukturen im Mittelpunkt. In ihrem Zusammenwirken geben sie eine Antwort auf die Frage, wie die Organisationsmuster von SPD und CDU in den neuen Bundesländern heute beschaffen sind und welchem Organisationstyp sie am ehesten entsprechen.

147

5. Die Stärke der Organisationen im Vergleich In diesem Kapitel steht der Vergleich quantitativer Merkmale der Parteiorganisationen im Vordergrund. Hierzu zählen neben der augenblicklichen Mitgliederdichte der einzelnen Partien, die Entwicklung der Mitgliedschaft seit 19911, der Anteil der aktiven Mitglieder, die Aktivität der innerparteilichen Vereinigungen und Arbeitsgemeinschaften sowie die Intensität der Zusammenarbeit mit nichtparteilichen Verbänden. Diese Merkmale fasse ich im Laufe der Untersuchung zu einem Index (Grad der organisatorischen Stärke, S0 ) zusammen, der die Grundlage für den Vergleich der quantitativen Organisationsmuster bildet2. Im Rahmen dieser Untersuchung soll der Blick auf die Ausprägung der quantitativen Merkmale der Parteiorganisationen helfen, die eingangs gestellte Frage zu beantworten, ob die Verbände von SPD und CDU in den neuen Bundesländern ähnliche Organisationsmuster zeigen wie ihre Schwesterverbände im Westen oder ob sich hinsichtlich der Organisationsstärke Unterschiede erkennen lassen, die eventuell die Herausbjldung eines anderen Organisationstyps signalisieren. Der erste Teil dieses Kapitels gibt zunächst einen allgemeinen Überblick über Dichte und Entwicklung der Mitgliedschaft beider Parteien in Ost- und Westdeutschland. Dann folgt die Untersuchung der organisatorischen Stärke der lokalen Parteiverbände, der dritte Teil untersucht die Organisationsstärke der Landesverbände bzw. der Bezirke von SPD und CDU in vergleichender Perspektive.

5.1 Allgemeiner Üb~rblick Hohe Mitgliederzahlen gehören zu den charakteristischen Merkmalen einer Volkspartei: Ein Blick auf die Gesamt-Mitgliederentwicklung zeigt jedoch, daß beide Parfeien seit 1991 einen deutlichen Substanzverlust hinnehmen mußt~n (s. Tabelle 5.1.1). Die SPD verlor zwischen 1991 und 1997 insgesamt 15.1% der organisierten Anhängerschaft, die CDU 15.9%. Während sich die Mitgliederentwicklung für beide Parteien in den alten Ländern mit -15.5% für die SPD und -11.2% für die Ctm in ähnlichen Dimensionen bewegt, zeigen sich in den neuen Ländern erhebliche Differenzen3. Die CDU startete zwar in Die Mitgliederentwicklung habe ich seit 1991 betrachtet, weil nach Meinung der Landesgeschäftsführer erst seit dem Aufbau gemeinsamer Mitgliederdateien verläßliche Angaben für die Entwicklung in den neuen Bundesländern vorliegen. Siehe dazu auch Braunthal1994: Kap. 2. 2 Zur Berechnung von S0 siehe 5.2 und Anhang, Teil C 1.

3 Hierbei ist es wichtig zu beachten, daß die Mitgliederentwicklungper Parteien mitunter ganz unterschiedlichen Bedingungen folgt, siehe Kapitel 2 (für die westdeutschen Parteiverbände) und 3 (für SPD und CDU in Ostdeutschland) sowie Kapitel 7. 148

~ie Vereinigung mit einer relativ hohen Mitgliedetzahl (Ende 1990 knapp 110.000 Mitglieder), sie mußte jedoch im Laufe der. anschließenden acht Jahre insgesamt einen Mitgliederverlust von knapp 43% hinnehmen. Ein Blick auf die Ein- und Austrittsbewegungen veranschaulicht die Dimensionen des Mitgliederumschlags seit der Wende.

Tabelle 5.1.1 Die Entwicklung der Mitgliedschaft in SPD und CDU seit 1991 CDU/0 4 SPD/W1 CDU/W3 Jahr SPD/0 2 641.454 29584 109.709 890.287 1991 94.267 619579 28.164 857.488 1992 83.794 601.549 28.546 1993 832.795 596.477 30.387 77.800 1994 818.987 71.804 590.092 29.877 1995 '787.773 67.712 29.663 764.134 583.505 1996 29.772 62.703 568.997 751.725 1997

..

1. alle westdeutschen SPD-Landesverbande und Bezuke, emschheßhch ,,Berhn-West" 2. alle ostdeutschen SPD-Landesverbände, einschließlich ,,Berlin-Ost" 3. alle westdeutschen CDU-Landesverbände plus ganz Berlin 4. alle fünf ostdeutschen CDU-Landesverbände Quellen; Bundesgeschäftsstelle der CDU (1998), SPD-Parteivorstand (1997), eigene Berechnung

Von den gegenwärtig knapp 63.000 Mitgliedern der ostdeutschen CDU-Landesverbände, das entspricht ungefähr der Mitgliedetzahl der CDU- Landesverbände Hannover bzw. Rheinland-Pfalz, sind ca. 40% (bzw. 25.000) im Laufe des Jahres 1990 bzw. danach der Partei beigetreten4, ca. 60% (oder 38.000 Mitglieder) waren schon Mitglieder der Blockpartei. Das heißt, seit 1990 verließen knapp 72.000 Mitglieder der Block-CDU ihre (ehemalige) Partei. Dagegen konnte die SPD ihre Mitgliedetzahlen kqn_stant halten - wenngleich auf erheblich niedrigerem Niveau gegenüber der CDU in den neuen sowie der SPD in den alten Ländern. Mit insgesamt knapp 30.000 Mitgliedern in allen fünf Landes- sowie den Kreisverbänden aus den östlichen Be'zirken Berlins entspricht die Mitgliedetzahl der SPD in den neuen Ländern in etwa der des SPDBezirks Rheinland-Hessen-Nassau bzw. des Landesverbands Schleswig-Holstein. Absolute Zahlen geben jedoch wenig Aufschluß über die relative Mitgliederausstattung. Der Blick auf die Mitgliederdichte ([Mitglieder/Wahlberechtigte]*lOO) sowie das Mitgliederverhältnis West/Ost verdeutlicht, daß beiden ostdeutschen Parteien eine organisierte Massenbasis fehlt. 4 Mit den für Bundestagswahljahre üblichen Spitzenwerten. 20~ der heutigen Mitglieder traten der Partei 1990 bei, weitere 7.2% kamen 1994 hinzu. Die Mitgliederstatistik gibt allerdings nicht darüber Auskunft, inwieweit die Eintritte seit 1990 auf Wohn- oder Arbeitsplatzwechsel, beispielsweise durch sogenannte 'Transferkader' aus den alten Ländern, zurückgeführt werden müssen. Die Arbeiten von Thomas Cusack (1996) und HolSt Damskis (1997) legen die Vermutung nahe, daß, wie beispielsweise beim Wechsel des ehemaligen Berliner Innensenato!S Schönbohm nach Brandenburg, Eintritte in ostdeutsche CDU-Landesverbände durch Ortswechsel westdeutscher Mitglieder zustande kamen.

149

Abbildung 5.1.1 Mitgliederdichte und -Verhältnis der Parteien im Vergleich

Mitgliederdichte (MD) MD-Verhältnis West :Ost Mitgliederverhältnis West:Ost

SPD/W 1.55 6 25

SPD/0 0.25 1 1

SPD 1.29

CDU 1.04

CDU/W CDU/0 1.17 0.52 2.25 1 9.1 1

1,8·.---------------------------------------------- , 1 ,6

·1 -~~-----------------------------------------l

1,4 1,2

O,B 0,6

0 ,4

0,2 0

+----..&.---j,....--"""----+SPD SPD{W SPD/0

CDU

courw

CDU/0

Quelle: eigene Berechnung nach Angaben der CDU-Bundesgeschäftsstelle (1998) und des SPD-Parteivorstands (1997)

Denn während die SPD in den alten Ländern unter 10.000 Wahlberechtigten durchschnittlich 155 Mitglieder zählt, sind es in den neuen Ländern 25 Mitglieder. Bei der CDU fällt die Differenz mit einem Verhältnis von 117 zu 52 Mitgliedern unter 10.000 Wahlberechtigten gegenüber der SPD zwar geringer aus, dennoch wird auch für die ostdeutsche CDU deutlich, daß sie weit davon entfernt ist, Mitglieder- oder Massenintegrationspartei zu sein. Damit ist in struktureller Hinsicht bereits eine deutliche Differenz zwischen den Parteiorganisationen von SPD und CDU in Ost-West-Perspektive deutlich geworden. Im folgenden Schritt steht der Blick auf die Organisation der lokalen Parteiverbände im Mittelpunkt. Aktive und organisatorisch profilierte lokale Organisationen gehören, ebenso wie eine hohe Mitgliederdichte, zu den notwendigen Definitionskriterien sowohl der Massenintegrations- als auch der Volkspartei (Schönbohm 1985, siehe auch Tabelle 1.4.1.). Die Frage des anschließenden Abschnitts wird sein, ob sich die geringere Mitgliederstärke der Parteien in den neuen Ländern auch in einer geringeren organisatorischen Stärke an der Basis widerspiegelt. 5.2 Die lokalen Parteiorganisationen von SPD und CDU im Vergleich Permanent aktiv~ lokale Parteiorganisationen sind nicht nur ein notwendiges Kriterium zur Benennung eines Parteiorganisationstyps, sie liegen auch im Interesse der Organisatoren. Die Kreisverbände der CDU sowie die Unterbezirke der SPD sind die kleinsten selbständig agierenden Formationen innerhalb der jeweiligen Parteiorganisation. 150

Sie betreiben die Mitgliederintegration und -betreuung, stellen die Kandidaten zu den Kommunalwahlen auf, führen (dazu) eigene Kreis- und Unterbezirksparteitage durch, koordinieren die Arbeit der Ortsverbände, pflegen den Kontakt zu nichtparteilichen Organisationen im lokalen Kontext, und sie sind angehalten, eigene Wahlkampfstrategien und kommunalpolitische Programme zu entwerfen (Suckow 1989, Schmid 1990, Lösche und Walter 1992). ,,Lebendige Kreisverbände/Unterbezirke" sind, in Anlehnung an Horst Becker und Bodo Hornbach (1983) jene, in denen die Mitglieder nicht nur formal Partizipationsmöglichkeiten vorfinden, sondern diese aktiv nutzen. Dazu gehört einerseits, daß sich ein möglichst hoher Anteil der Mitglieder an den regulären Veranstaltungen (hauptsächlich Mitgliederversammlungen der Ortsgruppen) beteiligt, darüber hinaus zusätzliche Veranstaltungen wie Straßenkampagnen, politische Schulungen, Betriebsbesichtigungen u.a. organisiert, daß die innerparteilichen Vereinigungen (CDU) bzw. Arbeitsgemeinschaften (SPD) aktiviert werden und daß Netzwerke zu nichtparteilichen Verbänden geknüpft sind. Enge Kontakte zu nichtparteilichen Verbänden und Organisationen im lokalen Umfeld spielen für die Mobilisierung von Anhängern eine ebenso wichtige Rolle wie für die Übertragung politischer Inhalte in die entsprechenden (zivilen) Verbände. Die innerparteilichen Vereinigungen bzw. Arbeitsgemeinschaften tragen ihrerseits zur inhaltlichen Profilierung sowie zur Mobilisierung von Anhängern im sogenannten "vorparteilichen" Raum bei, in dem Anhänger in die Parteiarbeit integriert werden (Hackel 1978, von Winter 1993). Als ,;nnerparteiliche Säulen" (Schönbohm 1985: 229) sind die Vereinigungen der CDU sowie die Arbeitsgemeinschaften der SPD in struktureller Hinsicht nicht nur Ausdruck des volksparteilichen, also klassenübergreifenden Organisationsprinzips beider Parteien, sondern tatsächlich wichtige Integrationskanäle für Anhänger unterschiedlichster sozialer Herkunft. Anderseits zählen Programmarbeit sowie die Erarbeitung kommunalpolitischer Konzepte zu den Aufgaben der lokalen Parteiorganisationen, denn zweifellos ist die Basis eine wichtige Quelle politischer Ideen. Schließlich gelten organisatorisch profilierte lokale Parteiverbände, nach Ansicht der Parteiorganisatoren ebenso wie für die Parteienforschung, als wichtige Quelle für die Wählermobilisierung. Wulf Schönbohm (1985: 244-53) hat in seiner Studie über die "Modemisierung der CDU" gezeigt, daß die Partei auf kommunaler Ebene mit dem Ausbau der Kreisverbände zu aktiven Agenturen kompetitive Nachteile gegenüber der SPD ausgleichen konnte. Spätestens seit dieser ,,nachgeholten Parteibildung", wie Hermann Scheer (1977) den Prozeß des Ausbaus der außerparlamentarischen Organisation etwas irreführend nannte, die mit einer allgemeinen Verbesserung der elektoralen Performanz der CDU auf kommunaler Ebene zusammenfiel, gilt der organisatorisch stark profilierte lokale Parteiverband mit all den dazugehörigen Merkmalen als notwendige Bedingung für eine dauerhafte Wählermobilisierung und -bindung. Der Zusamm~nhang zwischen organisatorischer 151

Stärke der (lokalen) Parteiorganisationen und dem Wahlerfolg wird später noch genauer zu prüfen sein (Kap. 8). Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung stehen quantitative Aspekte der lokalen Organisationen, da die übergreifende Fragestellung dieser Arbeit die Entfaltung der Organisationsmuster und nicht die der Programmatik adressiert. Die organisatorische Potenz der lokalen Parteigruppen habe ich anband der oben genannten Indikatoren untersucht. Vor Darstellung und Diskussion der Organisationsstärke möchte ich die Ergebnisse der Erhebung im einzelnen kurz erläutern. Tabelle 5.2.1 gibt die Stichprobenmittelwerte für alle acht Variablen wieder, welche in die Berechnung des Organisationsindex der lokalen Parteiverbände (S 0 /lokale PV) eingehen werden. Vorab wird deutlich, daß die Angaben aus dieser Stichprobe für Mitgliederdichte (Zeile 1), und -entwicklung (Zeile 2) mit Ausnahme der Mitgliederentwicklung der CDU in den neuen Ländern die Daten aus dem vorange&angenen Abschnitt (5.1) voll bestätigen, die nicht anband einer AuswahJ5 getroffen wurden, sondern auf Angaben aus allen Parteiverbänden beruhten. Tabelle 5.2.1 Die Organisation der lokalen Parteiverbände SPD SPD/W CDU CDU/W CDU/0 Variable !'J. 1.22 059 - 0.92 1.65 1.51 1.06 1. -31.80 -22.40 -9.40 - 11.35 -14.30 - 15.80 2. 2050 2150 +5.60 14.60 15.90 18.40 3. 750 + 2.69 11.80 4.81 11.30 5.76 4. 4.10 5.00 - 0.78 4.47 5.78 5.30 5. 1.62 +0.02 1.91 1.86 1.61 6. 1.60 4.15 - 1.07 6.20 5.22 6.00 4.82 7. 2.27 +0.13 2.71 2.14 2.60 2.20 8. 40 36 73 73 37 N= 146

SPD/0 0.24 -3.60 2650 10.80 3.70 1.38 450 2.13 33

!'J. - 1.41 +10.70 +11.90 - 1.00 - 0.77 - 053 - 1.70 - 058

!'J. = Differenz (Ost - West) 1. Mitgliederdichte: (Mitglieder/Wahlberechtigte)*100 2. Mitgliederentwicklung 12/91 bis 12/97, in Prozent 3. Anteil aktiver Mitglieder, in Prozent 4. regelmäßige Veranstaltungen/Jahr (Mitgliederversammlungen der Ortsgruppen u.ä.) 5. Anzahl der innerparteilichen Vereinigungen bzw. Arbeitsgemeinschaften (bei der CDU max. 8, bei .derSPD max. 8) 6. Aktivität der innerparteilichen Vereinigungen bzw. Arbeitsgemeinschaften: WB {0,3}, 0 ="diese Vereinigung/Arbeitsgemeinschaft ist nur formal installiert"; 3 = "die Arbeit ist recht aktiv" 7. Anzahl der nichtparteilichen Verbände und Organisationen, mit denen die Partei zusammenarbeitet 8. Intensität dieser Kontakte: WB {1,4}, 1 ="eine Zusammenarbeit besteht kaum"; 4 ="die Zusammenarbeit ist regelmäßig"

5 Zur Auswahl der untersuchten Fälle sowie zur Betrachtung der Stichprobenfehler siehe Anhang, TeilAundB.

152

Sichtbar wird auch, daß einzelne Merkmale der Kreisverbände bzw. Unterbezirke der Parteien in den neuen Ländern gelegentlich deutlich über denen der jeweiligen westdeutschen Schwesterverbänden liegen. Zum Beispiel übertreffen die ostdeutschen CDU-Kreisverbände die westdeutschen im Anteil aktiver Mitglieder (Zeile 3), in der Anzahl regelmäßiger Veranstaltungen im Jahr (Zeile 4) und - wenngleich geringfügiger und bei niedrigerer Zahl - in der Intensität der Kontakte zu nichtparteilichen Verbänden (Zeile 8). Die ostdeutschen SPD-Unterbezirke liegen deutlich in der Mitgliederentwicklung (Zeile 2) und im Anteil der aktiven Mitglieder über den westdeutschen SPD-Verbänden (Zeile 3). Widerspiegeln sich diese partiellen Organisationsvorteile auch im Gesamtbild der organisatorischen Stärke der lokalen Parteigruppen, d.h. können die ostdeutschen Verbände von SPD und CDU trotz der zum Teil erheblich geringeren Mitgliederausstattung insgesamt gegenüber den westdeutschen Verbänden an organisatorischer Stärke aufholen oder bleiben sie auch in einer integrierten Betrachtung der Organisationskomponenten unteor dem Organisationsniveau der westdeutschen Parteigliederungen? Der Grad der Organisationsstärke (S 0 ) gibt hier Auskunft. S 0 ist ein Index und wie alle Indizes ein dimensionsloser Wert, der einen Vergleich der Organisationsstärke der lokalen Parteiverbände ermöglicht. In die Bildung des Organisationsindex gingen für alle lokalen Parteigliederungen die acht Variablen aus Tabelle 5.2.1 ein, so daß sich ein über die Betrachtung der Mitgliederdichte allein hinausgehendes Bild des organisatorischen Profils herstellen läßt6. Da es sich um einen konstruierten Wert handelt, der allein dem Vergleich der organisatorischen Potenz der Parteiverbände dient, interessieren hier weniger die Zahlenwerte der einzelnen Verbände (die von Forschungsdesign zu Forschungsdesign unterschiedlich sein können, je nach dem, wie die organisatorische Stärke definiert ist), sondern v.a. die beobachteten Differenzen der Stichprobenmittelwerte. Daß die ostdeutschen Parteiverbände über eine deutlich geringere Zahl organisierter Anhänger verfügen, woraus die geringere Mitgliederdichte folgt, wurde nicht nur im einleitenden Teil dieses Kapitels deutlich, sondern ist an anderer Stelle bereits ausführlich dargestellt worden (z.B. Braunthal, 1994: 30-1, Scarrow 1996: 63, Schmidt 1997: 127). Wie die organisatorische Potenz allerdings als Zusammenspiel der übrigen Organisationskomponenten aussieht, wurde in den angesprochenen Studien nicht berücksichtigt. Der Grad der Organisationsstärke leistet genau diese integrierte Darstellung. Wenngleich, wie oben gesagt, weniger den ermittelten Einzelwerten für S0 , sondern hauptsächlich den Differenzen der Durchschnittswerte Bedeutung beigemessen werden sollte, wurde durch die Art der Codierung das Zusammenwirken aller untersuchten Variablen erlaßt, wodurch S0 Ausdruck der absoluten .organisatorische Kapazität einer 6 Zurgenauen Berechnung von S0 siehe Anhang, Teil C 1.

153

Parteiorganisation ist. Hat beispielsweise der Geschäftsführers eines mitgliederschwachen ostdeutschen CDU-Kreisverband (KV) angegeben, daß in seinem KV ca. 30% der Mitglieder gegenüber 18.4% des Stichprobendurchschnitts aktiv sind und darüber hinaus 7 von 8 möglichen innerparteilichen Vereinigung gegenüber durchschnittlich 5.3 arbeiten, dann erhält dieser KV für die Berechnung von S0 zwar einen niedrigen Wert für Mitgliederdichte aber gleichzeitig höhere Werte für den Anteil aktiver Mitglieder und die Anzahl der im KV aktiven innerparteilichen Vereinigungen. Das heißt, ein mitgliederschwacher (oder in anderen Merkmalen unterdurchschnittlicher) Verband kann in S 0 die schwächere Ausprägung eines Merkmals durch stärkere Ausprägungen anderer Merkmale kompensieren7. Der Wertebereich der Organisationsstärke liegt zwischen 0 und 1, wobei 0 hieße: ,,Diese Parteigruppe existiert nur auf dem Papier". Der Wert 1 repräsentiert die Aussage: ,,Diese Parteigruppe liegt in allen Merkmalen deutlich über dem Stichprobendurchschnitt", respektive sie ist "äußerst stark organisiert". Tabelle 5.2.2 Grad der organisatorischen Stärke für die lokalen Parteigruppen (S 0 !lokale PV) CDU SPD CDU/W CDU/0 SPD/W SPD/0 0.12" 0.55 0.11" 0.55 0.61 0.49 0.58 0.47 So/lokale PV 40 73 73 N= 146 37 36 33

""

""

S0 {0,1}, 1'. =Differenz, *statistisch signifikant aufO.Ol-Niveau

Die Antwort auf die oben gestellte Frage, ob sich die organisatorischen Differenzen der Verbände von SPD und CDU in den neuen Ländern, wie sie die unterschiedlichen Werte für die Mitgliederdichte signalisieren, auch in einer integrierten Betrachtung fortsetzen oder ob sie angesichts einiger Organisationsvorteile an organisatorischer Potenz gegenüber den westdeutschen Parteiverbänden aufholen, ist zweiseitig. Auf der einen Seite wird sichtbar, daß der Grad der organisatorischen Stärke der lokalen Verbände in den neuen Ländern auch in einer integrierten Betrachtung der Strukturdaten unter dem der Kreisverbände und Unterbezirke beider Parteien in den alten Ländern liegt. Es gilt: L'1S 0 !lokale Parteiverbände/0/W bzw. (1)

S0 KV/CDU/W > S 0 KV/CDU/0 S0 UB/SPD/W > S 0 UB/SPD/O

7 Durch die tendenziell "ostfreundliche" Art der Codierung (s.u.) ist S 0 nicht nur Ausdruck der absoluten Organisationsstärke eines Parteiverbands. Angesichts der extremen Differenzen in der Mitgliederausstattung war es gleichsam notwendig, die Organisationsmerkmale in eine statistisch vergleichbare Dimension zu bringen (s. 7.3 und 7 .6).

154

Andererseits sind die Differenzen in S 0 nicht so groß, wie es der Blick auf die Mitgliederdichte allein vermuten läßt (s. Tabelle 5.2.1). Das istangesichtsdes Verfahrens zur Messung der organisatorischen Stärke zunächst auch nicht weiter überraschend, da die im Osten viel geringcrre Mitgliederdichte nur eine von acht gleichwertig betrachteten Variablen ist. Zum anderen wird aber auch deutlich, daß die übrigen Strukturdaten zur Messung der organisatorischen Potenz der lokalen Parteigruppen die Mitgliederdefizite zum Teil kompensieren. Die SPD in den neuen Ländern profitiert hierbei insbesondere vom hohen Anteil der aktiven Mitglieder sowie der relativ konstanten Mitgliederentwicklung. Die ostdeutschen Christdemokraten gleichen die geringen Mitgliederausstattung sowie die erheblichen Mitgliederverluste gegenüber den westlichen Schwesterverbänden ebenfalls durch den höheren Anteil aktiver Mitglieder sowie die größere Za)Il regelmäßiger Veranstaltungen aus. Darüber hinaus übertreffen sie leicht die westlichen Kreisverbände im Grad der Intensität der Kontakte zu nichtparteilichen Verbänden und erreichen den gleichen Aktivitätsgrad der innerparteilichen Vereinigungen (s. Tabelle 5.2.1, Zeilen 6 und 8). Das heißt, ungeachtet der meßtechnischen Seite, die - wie eben gesagt - alle Merkmale gleichwertig berücksichtigt, kompensieren die ostdeutschen lokalen Parteigliederungen in der Messung der Organisationsstärke teilweise die beträchtlichen Mitgliederdefizite. Das wiederum signalisiert, daß allein die Zahl der Mitglieder für das Aktivitätsprofil der Parteigruppen letztendlich nicht entscheidend ist. Der schwache bzw. ganz fehlende positive Zusammenhang zwischen der Mitgliederdichte und dem Aktivitätsprofil (AP) verdeutlichen dies (s. Abb. 5.2.1 und 5.2.2). Bevor ich das Verhältnis zwischen Mitgliederdichte und Aktivitätsprofil der einzelnen Parteien genauer betrachte, gilt es, den Begriff der innerparteilichen Aktivität zu präzisieren, denn je nach unterschiedlicher Definition des Begriffs gelangen Untersuchungen zu unterschiedlichen Angaben. Wolfgang Falke (1982) beispielsweise unterschied zwischen aktiven, teilnehmenden und passiven Mitgliedern und legte der Zuordnung (i) die Häufigkeit des Besuchs von Parteiveranstaltungen wie Mitgliederversammlungen, Mitgliederwerbeaktionen, "street canvassing" u.ä. sowie (ii) die Bereitschaft zur Übernahme eines öffentlichen Amtes bzw. innerparteilichen Mandats zugrunde. Andere Autoren (z.B. Niedermayer 1989) haben angeregt, innerparteiliche Aktivität (i) nach der Beteiligung der Mitglieder an Politikformulierung sowie an der Personalauswahl (ii) sowie nach "partizipatorischen" und ,,nichtpartizipatorischen" Gesichtspunkten zu unterscheiden, da mitunter allein die Häufigkeit der Veranstaltungsteilnahme recht wenig über innerparteiliche Aktivität aussagt, beispielsweise dann, wenn sich überdurchschnittlich viele

155

Mitglieder an geselligen Veranstaltungen, die zwar zur Stiftung von Gemeinsinn förderlich sein können, aber kaum an Programm- oder Strategiediskussionen beteiligen8. Trotz des berechtigten Einwandes von Niedermayer bin ich zur Messung der innerparteilichen Aktivität den Anregungen Falkes gefolgt und habe die in Tabelle 5.2.1 genannten Merkmale der innerparteilichen Aktivität (Variablen 3 bis 8) zur Bildung des Aktivitätsprofils berücksichtigt9. Das Aktivitätsprofil ein Maß, welches das Engagement eines Parteiverbandes in mehreren Belangen widerspiegelt. Genauer gesagt: Es ist die Kombination der sechs in Tabe1le 5.2.1 genannten Aktivitätsmerkmale. Neben dem Anteil aktiver Mitglieder (im o.g. Sinne Falkes) sind im AP Angaben über die Häufigkeit der Parteiveranstaltungen (reguläre und nicht reguläre Mitgliederversammlungen der Ortsgruppen) pro Jahr, die Anzahl der in den Kreisverbänden etablierten innerparteilichen Vereinigungen bzw. Arbeitsgemeinschaften, deren Aktivität, sowie die Anzahl der nichtparteilichen Verbände und Organisationen, mit denen die Parteien auf lokaler Ebene kooperieren und schließlich die Intensität dieser Kontakte enthalten. Ebenso wie der Grad der Organisationsstärke (S 0 ) ist AP sowohl ein dimensionloser Vergleichsindex als auch Ausdruck der absoluten Aktivität eines ParteiverbandslO, der mit einem Wertebereich zwischen 0 (extrem schwach) und 1 (äußerst aktiv) definiert ist. Der Blick auf das Verhältnis zwischen Mitgliederdichte und Aktivitätsprofil zwischen den jeweiligen Parteiverbänden bestätigt die bereits oben getroffene Aussage, daß zwischen der Mitgliederausstattung und der Aktivität einer Parteiorganisation kaum ein positiver Zusammenhang besteht. Mit anderen Worten: Viele Mitglieder respektive eine hohe Mitgliederdichte ist kein hinreichendes Kriterium dafür, daß ein Parteiverband auch überdurchschnittlich aktiv im hier durch AP definierten Sinn ist. Zwar liegt das in diesem Sampie berechnete durchschnittliche Aktivitätsprofil der westdeutschen CDU-Kreisverbände mit 0.56 geringfügig über dem der ostdeutschen Kreisverbände (0.53), doch ist die Differenz von 0.03 Punkten in AP statistisch nicht signifikant. Das heißt, anband dieser Beobachtung kann nicht gefolgert werden, daß überhaupt ein Unterschied in AP zwischen den CDU-Schwesterverbänden besteht. 8 Als gesicherte Erkenntnis über die Teilnahmeintensität in den lokalen Parteigliederungen (Ortsgruppen und Kreisverbänden) gilt, daß sie bei Diskussionen unmittelbar lokalpolitischer Belange sowie bei innerparteilichen Wahlen und Nominierungen (z.B. dem Aufstellen der Kandidatenlisten) höher ist als bei Wahlkampfaktivitäten, dagegen bei Diskussion programmatischer sowie bundes-politischer Themen fallt (s. z.B. Suckow 1989). 9 Dies ergab sich hauptsächlich aus praktischen Erwägungen bei der schriftlichen Befragung. Eine Testrunde zu Beginn der Untersuchung ergab, daß der Fragebogenrücklauf mit Vereinfachung der Antwortvorgaben zunahm. Mit anderen Worten: Die Bemühungen, eine möglichst große Fallzahl zu erreichen, gehen mitunter zu Lasten der Qualität der Antworten. 10 Zur Berechnung von AP s. Anhang Teil C 1.

156

Oder, exakt formuliert: die anband dieser Beobachtung errechnete Wahrscheinlichkeit dafür, daß AAP zwischen den CDU-Schwesterverbänden gleich 0 ist, ist so großll, daß die Aussage, es besteht zwischen den ost- und westdeutschen CDU-Verbänden eine Differenz im Grad ihrer Aktivität (aus~edrückt in AP), nicht aufrecht erhalten werden kann. Abbildung 5.2.1 Mitgliederdichte und Aktivität der CDU-Kreisverbände (v 1: v3-v8 , aus Tabelle 5.2.1)



0,90,80,7-

b

~

.1•

..

0,2 --

0,1 -0 0

0,5





8. a. 0,5- ': :-. -:-~ -- ""'()- *1 0.05 157

in den alten Ländern verdeutlicht zudem ein Blick auf das Verhältnis zwischen beiden Variablen. Der Quotient aus Aktivitätsprofil und Mitgliederdichte (AP/MD), der als 'Aktivitätsnutzen des Mitgliederverbands' gelesen werden kann, beträgt für die westdeutschen CDU-Kreisverbände 0.37 gegenüber 0.89 für die Kreisverbände in den neuen Bundesländern. Innerhalb der lokalen SPD-Verbände bestehen nicht nur extreme Differenzen in der Dichte ihrer organisierten Anhänger und deutliche im Grad der Organisationsstärke, sondern auch im AktivitätsprofiL Die Unterbezirke in den alten Ländern erreichen im Durchschnitt ein höheres Aktivitätsprofil als die in den neuen Ländern (SPD/West: 0.63 vs. SPD/Ost: 0.52). Die Differenz, MP = 0.11, ist statistisch signifikant12. Der Blick auf das Verhältnis zwischen Mitgliederdichte und Aktivitätsprofil (' Aktivitätsnutzen des Mitgliederverbands') zeigt jedoch, daß sich das immense Mitgliederdefizit der ostdeutschen SPD-Unterbezirke gegenüber den westdeutschen Schwesterverbänden nicht in gleichem Maße in Defiziten des Aktivitätsprofils niederschlägt. Abbildung 5.2.2 Mitgliederdichte und Aktivität der SPD-Unterbezirke

(v1 : v3-v8 , aus Tabelle 5.2.1) 0,9

[][]

:;EI]----- .. _ ~-t-+- +I c + ... I

0,6 0.

0. Aberaufgrund der vergleichsweise hohen Mitgliederdichte sowie der relativ hohen wahrgenommenen Handlungsautonomie der innerparteilichen Gliederungen in beiden westdeutschen Parteiorganisationen, die ich oben als Indikator für eine lose Verkopplung bzw. volksparteiliche Organisation gekennzeichnet habe, gehe ich - zunächst unabhängig von der Frage nach der Regierungsbeteiligung - von einer annähernden Gleichverteilung von Organisation, Fraktion und Amtsinhabern in Fragen der innerparteilichen Entscheidungstindung aus. Denn in mitgliederstarken Parteien (Massen- und/oder Volksparteien) wie CDU/West und SPD/West genießt die Mitgliederorganisation bzw. ihre Organe (Parteitage, Programme, Vorstand, Arbeitsgemeinschaften) ein relativ hohes Maß an Bedeutung und reklamiert als Hüter programmatischer Grundsätze oder Werte Einfluß auf die Entscheidungstindung der gesamten Partei. Unter diesen Bedingungen konkurrieren verschiedene Ebenen um Einfluß, was wiederum die Entscheidungsautonomie einzelner begrenzt. Im Anschluß an die typologischen Anmerkungen von Duverger (s.o.) sowie die Arbeiten von Schmid (1990) über die CDU sowie Lösche und Walter (1992) über die SPD zur ist daher für die West-Parteien zu erwarten: 0"" F"" P. Demgegenüber werden mitgliederschwächere Parteien - zumal dann, wenn programmatische Grundsätze weniger entwickelt sind und die innerparteilichen Subverbände ein vergleichsweise geringes Maß an Handlungsautonomie wahrnehmen - eher von Abgeordneten und/oder Amtsinhabern kontrolliert, d.h. hier herrschen Bedingungen, die die Konzentration von Entscheidungsmacht in den Händen einzelner, die ,)eadership in office", begünstigen (s. Kopecky 1995, Pridham 1996, Perkins 1996). Für die ostdeutschen Verbände ergibt sich daher die Erwartung P/F > 0. Genau dies bestätig~n die Daten aus Abbildung 6.3.1. Innerhalb der CDU wird deutlich, daß die Werte für die Fraktionen und einzelne Repräsentanten der Partei, also ,,F" und ,,P", in den ostdeutschen Verbände im Durchschnitt höher liegen (F/West: 0.46 vs. F/Ost: 055; P/West: 0.41 vs. P/Ost: 0.45), während die Bedeutung der Elemente der Organisation auf die innerparteilichen Entscheidungen im Osten geringer ist15 (0/West: 0.41 vs. 0/0st: 0.34). Die innerparteiliche Entscheidungsmacht in der ostdeutschen CDU konzentriert sich demnach eher in den Landtagsfraktionen oder bei 15 Das Übergewicht der Fraktionen sowie einzelner Amtsinhaber ist jedoch nicht vollkommen unab-

hängig von der Frage der Regierungs(mit)beteiligung. So liegen in den Landesverbänden, die zum Zeitpunkt der Untersuchung an der Regierung beteiligt waren, zwar alle Werte für ,,P" und "F" über denen für "0" (Sachsen: P =0.54, F =0.6, 0 =0.4; Thüringen: P =0.58, F =0.67, 0 =0.26; MV: P =0.52, F =0.48, 0 =0.22), was zwar so auch für den brandenburgischen Verband gilt, der sich bis Herbst 1999 in der Opposition befand (P =0.38, F =0.6, 0 =0.25), doch fällt zumindest in Sachsen-Anhalt der ,,P"-Wert ab. Hier ist die Relation 0 (0.5)"' F (0.49) > P (0.33).

191

einzelnen Personen, wenngleich deren Vorsprung in Ost-West-Perspektive relativ gering bleibt (l,:lPj: 0.04) und nicht vollständig geklärt werden kann, ob diese Verteilung der innerparteilichen Entscheidungszentren auf die Größe und Struktur der Organisation oder die Frage der Regierungsbeteiligung zurückzuführen ist (~. Anm. 15). Abbildung 6.3.1 Die Verteilung innerparteilicher Entscheidungszentren

0,9 0,8 0 ,7 0 ,6

+------------:;;7;;------~.6:l-j ~---- ---__J,~--__J,t.aiil!::::::~U ,:>!L..._ _.."...~

0,5 0 ,4 0,3

•Organisation OFraktionen • Personen

0,2 0,1

0 CDUJW

CDU/0

SPDJW

SPD/0

Legende: 0 ="ohne Einfluß"; 1 =,,sehr großer Einfluß auf die Entscheidungen des LV" 0 = Organe der Parteiorganisation (Parteitag, Programm, Landesvorstand bzw. -ausschuß als Institution) F = Landtagsfraktion P = einzelne Repräsentanten der Partei (Ministerpräsidenten, Ministerinnen, Minister, Senatoren, Landesvorsitzende(r), Fraktionschef(in) als Person N = 135, s. Tabelle 6.5 .1

Wesentlich größere Differenzen zwischen den möglichen Entscheidungszentren bestehen innerhalb der SPD. Die hier zugrunde gelegten Organe der Organisation (Parteitage, Programm, Vorstand als Institution) beeinflussen die innerparteilichen Entscheidungsfindung in den ostdeutschen SPD-Verbänden weit weniger als innerhalb der westdeutschen SPD (l,:lOj Ost-West: 0.26). Demgegenüber genießen einzelne Amtsinhaber in der ostdeutschen SPD einen größeren Einfluß auf die innerparteilichen Entscheidungen (j,:lPj Ost-West: 0.09). Dieser ist zwar auch dann am höchsten, wenn ein Landesverband an der Regierung beteiligt ist oder ganz alleine stellt (Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen), doch zeigt sich ein tendenzielles Übergewicht der Parlamentsfraktion sowie einzelner Repräsentanten der Partei auch im Oppositionslandesverhand Sachsen16 sowie, wie in Abbildung 6.3.1 dargestellt, im Durchschnitt aller ostdeutschen SPD-Verbände. Das heißt, die oben angesprochenen Vermutungen darüber, daß die kleinen ostdeutschen Parteien eher von den Parlamentariern und ein16 So stehen in innerhalb der sächsischen SPD deutlich höhere Werte für die Fraktion und Einzelpersonen von F = 0.55 und P = 0 .49 einem niedrigen Wert für die Elemente der Organisation (0 = 0 .3) gegenüber.

192

zeinen Amtsinhabern kontrolliert werden, während in den westdeutschen Parteien ein annähernd ausgewogenes Verhältnis zwischen den Elementen der Mitgliederorganisation, den Parlamentsfraktionen und einzelnen Amtsinhabern besteht, haben sich bestätigt und gelten zumindest innerhalb der SPD vollkommen unabhängig von der Regierungs(mit)beteiligung. Ebenso hat sich die Vermutung bestätigt, daß zwischen dem Grad an wahrgenommener Handlungsautonomie der innerparteilichen Gliederungen und der Position einzelner Personen ein negativer Zusammenhang besteht Ge höher wHA desto kleiner ,,P"). Unter 6.1 habe ich argumentiert, daß eine hohe Handlungsautonomie der lokalen Parteiverbände einschließlich der dort aktiven innerparteilichen Vereinigungen bzw. Arbeitsgemeinschaften in komplexen Organisationsmustern und innerparteilichen Entscheidungsverfahren resultiert und als ein deutliches Anzeichen für sogenannte lose verkoppelte Organisationsebenen bzw. als Indikator für eine volksparteiliche Organisation angesehen werden kann. Hier konkurrieren mehrere organisatorische sowie strategische Ebenen um Repräsentation und Entscheidungsbeteiligung, was letztendlich die strategische Beweglichkeit und die Entscheidungsautonomie der Parteileiter bzw. der Spitzenkandidaten einschränken kann. Demgegenüber tendieren Parteien mit einer geringeren wahrenommene Handlungsautonomie ihrer Subgliederungen, sich eher um die Führungsgruppe zu organisieren. Abbildung 6.3.2 Organisatorische Komplexität und Entscheidungsautonomie einzelner Amtsinhaber

c:

0

....Cll

IIJ

a.

0,9 -0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0 0

SPD/0 0

CDU/00

0,1

SPD/W

• • CDU/W

0,2 0,3 0,4 0,5 0.6 0,7 0,8 0,9

wHA

r = -038, N = 135

Wie in Abschnitt 6.1 gesehen, reklamieren die innerparteilichen Gliederungen in den ostdeutschen Parteiverbänden gegenüber der Parteispitze eine geringe Handlungsautonomie. Gleichzeitig verfügen einzelne Amtsinhaber über ein höheres Maß an Entscheidungsfreiheit. Setzt man die ermittelten Durchschnittswerte für das Ausmaß der wahrgenommeneneu Handlungsautonomie mit denen für die Bedeutung, die einzelne 193

Amtsinhaber in bezug auf die innerparteilichen Entscheidungsprozesse genießen, in Beziehung, ergibt sich die vorhergesagte negative Korrelation17 (s. Abb. 6.3.2), die die Tendenz signalisiert, daß in weniger komplex organisierten Parteien einzelne mehr Entscheidungsfreiheit genießen bzw. die Organisationen kontrollieren. Die im Durchschnitt annähernde Gleichverteilung zwischen den Organen der Organisation, den Landtagsfraktionen und einzelnen Personen auf die innerparteilichen Entscheidungsprozesse in den westlichen Parteiverbänden bestätigen die oben angesprochenen komplexen Verfahren der Entscheidungsfindung. Zwar genießen auch hier die Abgeordneten gegenüber der Organisation im Schnitt ein leichtes Übergewicht, doch sind die Differenzen zwischen den hier untersuchten Elementen der Mitgliederorganisation, den Fraktionen, und Einzelpersonen recht klein (s. Abb. 6.3.1 und Tabelle 6.5.1). Eine annähernde Gleichverteilung möglicher Entscheidungszentren ist typisch für Parteien mit großer, sozial heterogener Mitgliedschaft, aktiven innerparteilichen Vereinigungen bzw. Arbeitsgemeinschaften, hochentwickelter innerparteilicher Arbeitsteilung sowie relativ großer Bedeutung der Programme; zusammengenommen also wesentliche organisatorische Merkmale von Massen- bzw. Volksparteien. Besonders auffällig ist hierbei die recht hohe Bedeutung der Organe der Organisation, zu denen - wie bereits mehrfach gesagt - auch das Programm und die Delegiertenversammlungen als oberstes formales Entscheidungsgremium zählen, innerhalb der westlichen SPD-Verbände. Das heißt, daß die Funktionäre an der Parteibasis (Unterbezirksund Bezirksgeschäftsführer/innen), die für diese Untersuchung befragt wurden, über ein ausgeprägtes Programmbewußtsein verfügen und die Organe der Organisation auf die innerparteilichen Entscheidungen insgesamt repräsentiert sehen wollen. Bei geringerer Intensität (im Rahmen dieser Untersuchung) gilt das auch für die CDU in den alten Bundesländern. Deutlich anders ist die Situation in den Parteiverbänden der neuen Länder. Hier übertreffen die Fraktionen die Organe der Organisation in der Entscheidungstindung bei weitem. In der ostdeutschen SPD sind es darüber hinaus v .a. einzelne Amtsinhaber, die den Zugang zu Entscheidungspositionen kontrollieren. Die Kontrolle der Partei durch die Abgeordneten oder Amtsinhaber ist, wie oben dargelegt, ein wesentliches Merkmal sogenannter Komitee- oder Rahmen- oder ,,Parteien der individuellen Re-

17 Die Korrelation ist zwar negativ, doch mit r

= -0.38 nicht besonders stark. Das liegt daran, daß innerhalb der westdeutschen SPD-Verbände, für die ein überaus hohes Maß an wHA beobachtet wurde (s. Abb. 6.1.1), alle drei hier untersuchten Entscheidungsebenen annähernd gleich hohe Werte erreichen und auf einem relativ hohen Niveau um Entscheidungsbeteiligung konkurrieren (s. Abb. 6.3.1). Wenngleich dies die Befunde der Parteienforschung bestätigt, wonach die SPD eine Partei mit einer vergleichsweise ausgewogenen innerparteilichen Machtbalance ist, widerspiegeln die relativ hohen "P"-Werte (hier 054) den immer deutlicher werdenden Zug zur Personalisierung auch innerhalb der westdeutschen SPD.

194

präsentation", die Kitschelt (1989a: 42) im Anschluß an Weber (1919/88), Neumann (1956) und Duverger (1959) wie folgt beschrieb: "Framework parties ... with an individualist spirit and mode of political action ... develop loose organizations with a small membership and are govemed by elites of notables whose chief aim is to win political office". Daß eine "real existierende" Parteiformation lupenrein dem Idealtyp einer Organisation entspricht, ist jedoch nicht zu erwarten. Dagegen spricht schon die Tatsache, daß es sich bei den Verbänden von CDU und SPD in den neuen Ländern nicht um reine Honoratiorenkomitees handelt, die sich alle vier Jahre im sogenannten caucus versammeln und dann zur Wahl stellen, sondern um dauerhaft aktive Verbände mit flächendeckender, lokaler Infrastruktur, die sich nicht zuletzt ihrem Verfassungsauftrag stellen. Aber in Verbindung mit der geringen Mitgliederstärke, insbesondere der SPD, sprechen die Ergebnisse mehr und mehr dafür, daß sich die Parteien in den neuen Ländern zu andersartigen Organisationstypen entwickelt haben, die weniger den komplex organisierten westdeutschen Schwesterverbänden, sondern mehr den von der Forschung charakterisierten Rahmenverbänden entsprechen. 6.4 Die Bedeutung der Organisationskomponenten als Wahlkampfressource Politische Parteien ziehen mit einer ganz unterschiedlichen Verteilung der zur Verfügung stehenden Ressourcen in den Wahlkampf. Stark vereinfacht lassen sich zwei wesentliche Ressourcen ausmachen - einzelne. Spitzenkandidaten einerseits sowie die Mitgliederorganisation andererseits - die wiederum unterschiedlichen Organisationstypen zugeordnet werden können (s. Tabelle 1.4.1). Für die bürgerlichen Wahlkomitees des 19. Jahrhunderts ist die Bezeichnung als "Parteien der individuellen Repräsentation" (Neumann 1956) charakterisierend. Hier stellten sich einzelne, angesehene Bürger, Amtsinhaber oder "elder statesmen", die über entscheidende individuelle Ressourcen wie Zeit, Geld, Reputation und persönliche Verbindungen verfügten, zur Wahl. Die Kandidaten waren dank ihrer persönlichen Ausstattung und Wirkung für das Komitee selbst die wesentliche Ressource, die, sofern überhaupt nötig, der Öffentlichkeit entsprechend den technischen Möglichkeiten bekanntgemacht wurden. Massenparteien dagegen kompensierten durch die Zahl ihrer Mitglieder und die Stärke ihrer Organisationen, was ihnen an persönlichen, sozialen bzw. ökonomischen Ressourcen fehlte (s. Duverger 1959: 81-4). Professionelle Agitatoren, vor allem aber die Mitglieder, die sich aufgrundeiner gemeinsamen Klassen- oder Weltanschauungsbasis in der Partei sammelten (s. dazu Kalyvas 1996: 63-76, 206-15) und sie als "Wahlkampfkolonnen" repräsentierten sowie ein aus der Klassenzugehörigkeit oder einer Welt-

195

anschauung abgeleitetes Programm entwickelten sich - neben den Spitzenkandidaten zu den entscheidenden Wahlkampfressourcen dieser Parteiformationen. Mit dem Wandel der alten Massenparteien auf Klassen- oder Weltanschauungsbasis zu sogenannten catch all-Parteien setzte ein gradueller Bedeutungsverlust der Mitgliederorganisation einschließlich der programmatischen Basis als zentrale Wahlkampfressource ein. Otto Kirchheimer (1966) und später auch Leon Epstein (1967, 1968) sowie Richard Ka~z und Peter Mair (1994) diagnostizierten eine Verschiebung von der Mitgliederorganisation zur Präsentation einzelner Spitzenkandidaten bzw. deren Wahlbotschaften via Massenmedien. Angelo Panebiancos Begriff der wahl-professionalisierten Partei (1988: 262-7) pointierte diese Entwicklung zur öffentlichkeitswirksamen Darstellung einzelner Kandidaten, bei der die Bedeutung des dauerhaft aktiven Mitgliederverbands als wichtigste Wahlkampfressource zunehmend sinkt. Dieser Abschnitt gibt die Einstellungen der unteren und mittleren Funktionärsebene zu den wichtigsten Wahlkampfressourcen beider Parteien in Ost-West-Perspektive wieder.l8 Hierbei habe ich zwei wesentliche Ressourcen unterschieden. Auf der einen Seite steht die Organisation, zu der neben der Mitgliedschaft dauerhaft aktive lokale Parteiverbände im Sinne von Kapitel 5 sowie das Programm zählen. Die andere Seite bilden einzelne Repräsentanten (Spitzenkandidaten) und deren mediengestützte Inszenierung. Die Werte 0 und 1 repräsentieren die jeweiligen Pole, wobei 0 hieße: ,,Die Organisation (Mitglieder, aktive lokale Parteiverbände, das Programm) ist unsere wichtigste Wahlkampfressource". Je höher die Werte steigen, desto mehr erlangt die öffentlichkeitswirksame Darstellung einzelner Spitzenkandidaten an Bedeutung. Die folgende Abbildung gibt die Ergebnisse der Untersuchung wieder, wobei die obere Säule die Meinung der Funktionäre zur augenblicklichen Situation widerspiegelt und die untere einen Ausblick darauf gibt, welche Option perspektivisch gestärkt werden sollte. Die Angaben signalisieren, daß bis auf die Funktionäre der ostdeutsche SPD die anderen nach wie vor in der Organisation mit den dazugehörenden Merkmalen die zentrale Wahlkampfressource sehen. Die westdeutsche SPD liegt deutlich im Bereich "Organisation".19 Das zeigt auch, daß es zum Zeitpunkt der Untersuchung (Herbst 1997/Frühjahr 1998) an der Basis keine Mehrheit für eine rein medieninszenierte Wahlkampfführung gab. Der Trend (bzw. der Wunsch der Funktionäre an der Basis) 18 Zur Fragestellung in der Erhebung sowie zur Codierung siehe Anhang, Teil C.2. 19 Daß die SPD nach der Nominierung Gerhard Schröders ihren Kandidaten regelrecht insze~ierte (u.a. Magdeburger Parteitag, April1998) und auch die Bundestagswahlkämpfe der CDU 1990 und 1994 sehr stark auf die Person des Kanzlers zugeschnitten waren, sind Entscheidungen, die in den jeweiligen Parteizentralen fallen. Mich interessiert hier vor allem die Ansicht an der Basis über die Bedeutung verschiedener Optionen bzw. der Wunsch, welche Ressourcen gestärkt werden sollen.

196

geht sogar zu einer Stärkung der Organisation als Wahlkampfressource. Die SPD ist vom Selbstverständnis her Programm- und Mitgliederpartei (SPD 1992, 1995a), und die Funktionäre an der Basis sowie in den Ländern sind offensichtlich nicht bereit, dieses Verständnis ohne weiteres der Option 'Personalisierung' zu opfern. Abbildung 6.4.1 Wahlkampfressourcen beider Parteien im Vergleich '

0,4~

CDU/W

0146

..

'

042 Q,47

CDU/0 --

o augenblickl.l • perspektiv.

'

o,44

SPD/W

10,4 :

'

SPD/0

0

0,1

0,2

0,3

0,4

0,5

0,55 0,56 0,6

0,7

0,8

0,9

0 ="die Organisation ist unsere primäre Wahlkampfressource", 1 = "einzelne Spitzenkandidaten und deren medienwirksame Darstellung sind unsere primäre Wahlkampfressource" N = 135, s. Tabelle 6.5.1

Ähnliches gilt auch für die westdeutsche CD U. Kurzfristig gesehen .widerspiegeln diese Angaben die Meinung in der Partei, sich von der Inszenierung des SPDKanzlerkandidaten zu distanzieren und einen betont inhaltlichen Wahlkampf zu führen, wie es z.B. vom damaligen Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble mehrfach betont wurde (z.B. auf dem Bundesparteitag am 18.5. 1998 in Bremen). Längerfristig scheint die "Modemisierung" der Parteiorganisation, mit der auch eine stärkere programmatische Fundierung verbunden war, insofern einen nachhaltigen Einfluß auszuüben, als daß auch die Funktionäre an der Basis nicht des möglicherweise schnelleren Erfolgs wegen auf einen Personalisierungskurs einschwenken mögen. In der CDU, sowohl in den alten als auch in den neuen Ländern, überwiegen hinsichtlich der Wahlkampfressourcen (noch immer) die Organisationsbefürworter. Allerdings geht der Trend in Richtung eines mehr personenorientierten Wahlkampfes, wobei der Zuwachs von 0.05 innerhalb der ostdeutschen CDU eine etwas stärkere Tendenz anzeigt. Lediglich die SPD in den neuen Ländern favorisiert schon jetzt recht klar die Option 'personenorientierter Wahlkampf' und möchte daran auch in Zukunft nichts ändern. 6.5 Zusammenfassung Das Interesse dieses Kapitels galt den Fragen nach der wahrgenommenen Handlungsautonomie der lokalen Parteiverbände, einschließlich der dort tätigen innerparteilichen

197

Vereinigungen und Arbeitsgemeinschaften, dem Grad an innerparteilicher Kohäsion, der Verteilung innerparteilicher Entscheidungszentren sowie der Frage, welche Wahlkampfressourcen nach Ansicht der Parteifunktionäre im Augenblick von Bedeutung sind und in Zukunft verstärkt werden sollten. Diese Aspekte adressieren sowohl die konkrete Fragestellung der Untersuchung nach der Entwicklung der Parteiorganisationsmuster von CDU und SPD in den neuen Bundesländern und lassen gleichzeitig, in Verbindung mit den Erkenntnissen aus dem vorherigen Kapitel, ein recht deutliches Profil der Organisationsform und -verfahren beider Parteien entstehen. In Tabelle 6.5.1, die die Stichprobenmittelwerte der in diesem Kapitel untersuchten Organisationsmerkmale wiedergibt, fasse ich die Befunde zusammen. Tabelle 6.5.1 Qualitative Aspekte der Parteiorganisationen im Vergleich Variable CDU CDU/W CDU/0 SPD SPD/W lf>l OstWest 0.70 0.09 1. 0.75 0.79 0.78 0.88 2. 0.76 0.74 0.03 0.82 0.77 0.83 0.34 3a. 0.38 0.41 0.07 0.42 055 050 0.46 055 0.09 054 3b. 058 0.43 0.41 0.45 0.04 3c. 057 0.54 4a. 0.42 0.43 0.42 0.01 0.48 0.44 4b. 0.47 0.01 0.46 0.47 0.47 0.40 0.34 Llf>l N = 135'' 68 35 33 67 37

SPD/0 0.65 0.80 0.29 0.49 0.63 0.55 0.56 30

lf>l OstWest' 0.23 0.03 0.26 0.09 0.09 0.11 0.16 0.97

1. wahrgenommene Handlungsautonomie der lokalen ParteiOrgamsattonen, WB (0;1), 0 = "dte lokalen Verbände übernehmen ausschließlich Vorgaben der übergeordneten Organisationsebenen", 1 = "die lokalen Verbände entscheiden vollkommen selbständig über ihre Belange" 2. innerparteiliche Kohäsion, WB (0;1), 0 ="die Organisation ist zersplittert", 1 = "der Zusammenhalt in der Organisation ist sehr stark" 3.Entscheidungszentren auf Landesebene, WB (0;1), 0 ="ohne Einfluß", 1 =,,sehr großer Einfluß" a) Organe der Organisation (Mitglieder, Parteitag, Landesvorstand bzw. -ausschuß) b) die Landtagsfraktion c) einzelne Repräsentanten der Partei (Ministerpräsidenten, Minister/innen, Landesvorsitzende/r, Fraktionsvorsitzende/r) 4. Bedeutung der Organisationskomponenten als Wahlkampfressource, WB (0;1), 0 ="die Organisation ist unsere primäre Wahlkampfressource"; 1 = "einzelne Spitzenkandidaten und deren medienwirksame Darstellung sind unsere primäre Wahlkampfressource" a) augenblicklich b) perspektivisch-nonnativ *Alle Differenzen in dieser Tabelle mit IL'.I ~ 0.09 sind mindestens statistisch signifikant auf dem 5%Niveau (p-value : 6%) führen (0AP: 0.55). Demgegenüber sind Unterbezirke in der Opposition aktiver (0AP: 0.67), auch dann, wenn sie relativ weit abgeschlagen sind (L'!SPD-CDU > 6%; 0AP: 0.65). D.h. Oppositionsverbände neigen gegenüber Regierungsverbänden, insbesondere, wenn diese mit einem komfortablen Vorsprung führen, zu höherer Aktivität (s. Abb. 75.2). Sie versuchen, ihre Situation durch überdurchschnittliche Aktivi236

tät zu verbessern. Darüber hinaus sind Unterbezirke, die sich mit der CDU in einer hoch kompetitiven Auseinandersetzung32 befinden (L\SPD-CDU < 6%), ebenfalls überdurchschnittlich aktiv (0AP: 0.66). Abbildung 7 .5.2 Aktivitätsprofil der SPD-Unterbezirke in Abhängigkeit des Abstands von derCDU



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40%) handelt es sich um thüringische, mecklenburg-vorpommersche und - wie bereits gesagt - um sächsische, in denen sich die CDU eher auf ihre Stammanhängerschaft stützen kann. In Thüringen trifft sie auf überdurchschnittlich viele Katholiken, in Mecklenburg-Vorpommem kann sich die Partei zum Teil noch auf ländliche Milieus stützen, oder aber profitiert, wie in Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpornrnem davon, daß siezum Zeitpunkt der Untersuchung- die Landesregierung stellte (s.o. und Abb. 8.1.7). Demgegenüber liegen die CDU-Verbände in Brandenburg und den Ostberliner Bezirken, die bereits während der DDR-Zeit zu den weniger stark entwickelten CDU-Domänen zählten, in abgeschlagener Position und erreichen sowohl weniger Mitglieder als auch Wähler6.

6 Wahlausgänge von t1 zu tz ändern sich mitunter schnell und sind mit systematischen Faktoren kaum zu erklären. So hat die CDU in Brandenburg die Daueropposition im Herbst 1999 angesichts der großen Unzufriedenheit der Wählerinnen und Wähler in den neuen Ländern mit dem Erscheinungsbild der rot-grünen Bundesregierung in deren ersten Amtsjahr sowie des Austauschs der Führungsriege verlassen, allerdings ohne eine deutliche Steigerung ihrer Organisationsstärke. Das unterstreicht jedoch die Aussage dieses Abschnitts, daß zwischen Mitglieder- bzw. Organisationsstärke der Parteien und ihrem Wahlabschneiden kaum ein Zusammenhang besteht, oder anders gesagt, starke Parteiorganisationen keine hinreichende Bedingungen für dauerhaften Wahlerfolg sind und umgekehrt.

268

Auch für die SPD wird der Hochburg-Effekt ebenso wie die Wirkung der Landesparteien auf das Abschneiden der Unterbezirke sichtbar. In den alten Ländern sind es besonders die klassischen Hochburgen (wie die traditionellen Industriezentren im Ruhrgebiet), in denen die SPD am erfolgreichsten ist und auch am meisten Mitglieder integrieren kann. Die Punkte am rechten oberen Rand der Abbildung 8.1.2 repräsentieren Unterbezirke aus den Industriezentren im Ruhrgebiet (Oberhausen, Essen, Duisburg) und in Niedersachsen (Salzgitter, Wolfsburg), gefolgt von den Universitätsstädten Göttingen, Sielefeld und Aachen. In den neuen Ländern erreicht die SPD ihre höchsten Kommunalwahlergebnisse in Brandenburg und Ost-Berlin und hat dort auch die meisten organisierten Anhänger7. Zweitens schwächt sich der Zusammenhang zwischen Mitgliederausstattung und Kommunalwahlergebnissen deutlich ab, wenn anstelle der Mitgliederdichte das Aktivitätsprofil der lokalen Verbände zugrunde gelegt wird. Wie in KapitelS gesehen, entsteht aus hohen Mitgliederzahlen nicht zwangsläufig ein Aktivitätsvorsprung. Wenn in vorliegenden Untersuchung überhaupt ein positiver Zusammenhang zwischen Mitglie.derdichte und Aktivitätsprofil der lokalen Verbände sichtbar wurde, so fiel dieser recht schwach aus8. Das heißt, obwohl zwischen Mitgliederdichte und Wahlerfolg de~ lokalen Verbände durchaus positive Zusammenhänge bestehen, tritt gleichzeitig ein bestenfalls nur schwacher zwischen Mitgliederdichte und Aktivitätsprofil auf, woraus ich gefolgert habe, daß die Mitgliederdefizite der ostdeutschen Verbände kaum Auswirkungen auf die Aktivität haben (s. 5.2). Wenn aber einerseits zwischen Mitgliederdichte und Wahlergebnissen positive Zusammenhänge bestehen, andererseits aber zwischen Mitgliederdichte und Aktivitätsprofil kaum, folgt daraus, daß zwischen Aktivitätsprofil und Wahlerfolg auch kaum positive Zusammenhänge sichtbar werden. Anders gesagt: Treffen die Verbände auf eine für sie günstige Wählerstruktur (CDU: Ka7 Für die Vermutung, daß viele Mitglieder, wenn überhaupt, evtl. nicht die Ursache, sondern das Resultat von Wahlerfolgen sind, finden sich jedoch nur schwache empirische Belege. Diese Vermutung unterstellt einen anziehenden Effekt bereits erfolgreicher Verbände, sei es aus einer officeseeking-Perspektive oder aber, weil es individuell befriedigend sein kann, zu den Siegern zu gehören. Aber auch nach dem 'Gewinn bzw. dem Erhalt ihrer kommunalen Mehrheiten konnten kaum Eintrittswellen beobachtet werden. Zwar steigen die Mitgliederzahlen in den brandenburgischen SPD-Unterbezirken nach den siegreichen Kommunalwahlen 1994 im Schnitt um 4% auf durchschnittlich 345 Mitglieder, doch blieben die Mitgliederzahlen nach den 1998er Kommunal'!l'ahlen auf dem Vorwahlniveau. In den genannten westdeutschen SPD-Unterbezirken fielen die Mitgliederzahlen auch im Jahr ihrer kommunalen Wahlerfolge um durchschnittlich 12% gegenüber dem Vorjahr (s. auch Anm. 13). 8 So war nur innerhalb der SPD wurde ein Zusammenhang zwischen Mitgliederdichte und Aktivitätsprofil von r = 0.36 sichtbar, der sich jedoch in der Untergliederung eindeutig abschwächte und für die ostdeutsche SPD deutlich negativ ausfiel, s. Abb. 5.2.2. Innerhalb der CDU wurde ebenfalls kein positiver Zusammenhang zwischen Mitgliederdichte und Aktivitätsprofil deutlich, s. Abb. 5.2.1.

269

tholiken, Landwirte, sog. bürgerliche Umgebung; SPD: Industriezentren, Arbeiterwohngebiete, früher auch Universitätsstädte), genießen sie einen vergleichsweise hohen Mitgliederzulauf ebenso wie sie in ihren Revieren überdurchschnittlich hohe Wahlunterstützung erhalten. Die vergleichsweise vielen Mitglieder sind aber keine Quelle überdurchschnittlich hoher Aktivität. Folglich kann nicht gesagt werden, daß die erfolgreichsten Verbände dies einem hohen Aktivitätsgrad ihrer Mitglieder verdanken. Die zwei folgenden Abbildungen veranschaulichen die Beziehung zwischen dem unter 5.2 definierten Aktivitätsprofil und dem Wahlerfolg der lokalen Verbände. Sie zeigen, daß zwischen Aktivitätsprofil und Wahlerfolg kein Zusammenhang besteht. Gerade die erfolgreichsten Kreisverbände liegen zum Teil weit unter dem durchschnittlichen Aktivitätsprofil, während die weniger erfolgreichen und zum Teil abgeschlagenen (ostdeutschen) Verbände überdurchschnittlich aktiv sind, davon allerdings nur wenig profitieren. Abbildung 8.1.3 Aktivitätsprofil und Kommunalwahlergebnisse der CDU-Kreisverbände 70 ~

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APCDU-KV

0AP/CDU: 0.54 0AP/CDU/West: 056 0AP/CDU/Ost: 053 ~: 0.03 (nicht signifikant)

0 Wahl!CDU/West: 42.1% 0 Wahl/SPD/Ost: 32.1% LlWahl: 10%

Pearsons r: (AP ~ Wahl) CDU/W ( t ): r =- 0.48 CDU/0 (0): r =- 0.05 CDU/ges. r =- 0.18

Der fehlende Zusammenhang zwischen Mitgliederdichte und Aktivitätsprofil einerseits, Aktivitätsprofil und Wahlerfolg andererseits wird neben Stärke und Verlauf der Korrelationskoeffizienten dadurch verdeutlicht, daß die erfolgreichsten westdeutschen CDU-Kreisverbände, die zwar - wie eben gesehen - durchaus die mitgliederstärksten sind (s. Abb. 8.1.1), zu den unterdurchschnittlich aktiven gehören und in Abbildung 8.1.3 deutlich nach links verschoben sind, während die abgeschlagenen ostdeutschen Kreisverbände, die zum Teil auch unter der durchschnittlichen Mitglieder-

270

dichte der CDU im Osten liegen, in die Mitte der Abbildung 8.13 gerückt sind. Dies bestätigt die Ergebnisse aus Abschnitt 7 5, wonach erstens Oppositionsverbände im Schnitt zu mehr Aktivität neigen, zweitens, daß sich hohe Mitgliederzahlen nicht in Aktivitätsvorsprüngen niederschlagen (vgl. 5 .2) und drittens, daß zwischen überdurchschnittlicher Aktivität und Wahlerfolg kein Zusammenhang besteht. Abbildung 8.1.4 Aktivitätsprofil und Kommunalwahlergebnisse der SPD-Unterbezirke 60

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APSPD-UB

0AP/SPD: 0.60 0AP/SPD/West: 0.63 0AP/SPD /Ost: 0.52 dAP: 0.11 (signifikant auf 5%-Niveau)

0 Wahi/SPD/West: 38.8% 0 Wahl/SPD/Ost: 32% ßWahl: 6.8%

Pearsons r: (AP B Wahl) SPD/W ( +): r =0.01 SPD/0 (o): r = -0.73 SPD/ges. r =-0.10

Auch innerhalb der SPD läßt sich anband der empirischen Befunde nicht von einem Zusammenhang zwischen Aktivitätsprofil und Kommunalwahlergebnissen der Unterbezirke sprechen (s. Abb. 8.1.4). Zwar zeichnen sich die westdeutschen Unterbezirke gegenüber ihren ostdeutschen Schwesterorganisationen durch ein durchschnittlich höheres Aktivitätsprofil aus und erreichen im Schnitt auch höhere Wahlergebnisse. Dennoch gilt hier, ebenso wie bei der CDU, daß die erfolgreicheren Unterbezirke im Westen - mit einer Ausnahme9 - und besonders in den neuen Ländern unterhalb des jeweiligen durchschnittlichen Aktivitätsprofils liegen, während die überdurchschnittlich aktiven Unterbezirke nur vergleichsweise wenig oder wie der mit dem höchsten Wert für AP (UB Dresden/Elbe/Röder AP: 0.88; Wahl 14.7%) von der überdurch9 Der Unterbezirk Oberhausen, eine klassische SPD-Hochburg, ist sowohl mitgliederstark (MD: 2) als auch überdurchschnittlich aktiv (AP: 0.67) und erfolgreich (Wahl 57.7%) und somit auch für den unter 5.2 beobachtete leicht positive Korrelation zwischen Mitgliederdichte und Aktivitätsprofil der westdeutschen SPD-Unterbezirke mit verantwortlich.

271

schnittliehen Aktivität gar nicht profitieren. In Anbetracht der für beide Parteien zum Teil sogar deutlich negativen Korrelationen zwischen Aktivität der lokalen Verbände und dem Abschneiden bei den Kommunalwahlen heißt das schließlich, daß kommunaler Wahlerfolg nur wenig von der Aktivität der Mitglieder abhängt und die im Sampie beobachteten Differenzen im Grad der lokalen Aktivität für das zentrale Anliegen der Parteien ohne nennenswerte Konsequenzen bleiben. Ein Blick auf die Beziehung zwischen dem gesamten Grad der Organisationsstärke (S 0 ) und dem Wahlerfolg der lokalen Verbände beider Parteien bestätigt diese Aussage. Da im Grad der Organisationsstärke bzw. im Index S 0 alle quantitativen Organisationsmerkmale enthalten sind, in beiden Fällen zwischen Wahlerfolg und Mitgliederdichte ein recht deutlich positiver Zusammenhang, gleichzeitig aber zwischen Wahlerfolg und Aktivitätsprofil kaum ein Zusammenhang sichtbar wurde, fällt schließlich auch die Beziehung zwischen Stärke der lokalen Parteiorganisation und Wahlerfolg insgesamt relativ schwach, für die ostdeutschen Verbände sogar negativ aus. Abbildung 8.1.5 Organisationsstärke und Kommunalwahlergebnisse der CDU-Kreisverbände 70

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: i 0.07 Mitgliederentwicklung CDU-Kreisverbände: JlMEWCDU: -15.9% vs. 0MEWCDU: -15.8% = IL'>i 0.1% JlMEWCDU/W: -11.2% vs. 0MEWCDU/W: -9.4% = IL'>I1.8% JlMEWCDU/0:- 42.8% vs. 0MEWCDU/O: -31.8% =IL'>ill% Bei den Abweichungen (iL'>fl0i) handelt es sich um "normale" Stichprobenfehler, denn im Sampie waren überdurchschnittlich viele mitgliederstarke CDU-Verbände enthalten (im Westen z.B. aus dem Emsland und aus der niederrheinischen Gegend, im Osten aus Mecklenburg-Vorpommem und Thüringen). Bei der Mitgliederentwicklung tritt entweder genau das gleiche auf., d.h. es sind überdurchschnittlich viele Kreisverbände in der Stichprobe, die weniger Verluste hatten, oder aber, die Vorsitzenden waren- nach eigenen Angaben- zum Teil nicht vollständig informiert und griffen deshalb gelegentlich auf Schätzwerte für die Mitgliederentwicklung seit 1991 zurück. Das gilt auch für die SPD. Die leichten Abweichungen in der Mitgliederdichte der westdeutschen SPD-Verbände kommen dadurch zustande, daß weniger mitgliederstarke Verbände (z.B. aus dem Saarland) in der Stichprobe enthalten waren. 311

Mitgliederdichte SPD-Unterbezirke: !J.MDSPD: 1.29 vs. 0MDSPD: 1.22 =löl 0.07 !J.MDSPD/W: 1.55 vs. 0MDSPD/W: 1.65 = löl 0.1 !J.MDSPD/0: 0.25 vs. 0MDSPD/O: 0.24 = löl 0.01 Mitgliederentwicklung SPD-Unterbezirke: !J.MEWSPD: -15.1% vs. 0MEWSPD: -11.35% = löl3.75% !J.MEWSPD/W: -15.5% vs. 0MEWSPD/W: -14.3% =löl1.2% !J.MEWSPD/0: +/- 0 vs. 0MEWSPD/O:- 3.6% = löl3.6% Darüber hinaus habe ich einige West-Bezirke nicht untersucht, deren durchschnittliche MEW unter !J.MEWSPD/W liegen, z.B. Harnburg (- 27.8%) SchleswigHolstein (-15.8%), Baden-Württemberg (-16.4%) oder Hessen-Süd mit- 17.4%. Die Abweichungen zwischen !J.MEWSPD/0 und 0MEWSPD/O gehen in erster Linie auf Rechercheprobleme in den Unterbezirken zurück, denn hier waren -wie bei der CDU -nicht immer alle Daten verfügbar. Bei den Angaben zur Mitgliederdichte und -entwicklung der Landesverbände und Bezirke (vgl. Tabelle 5.3.1) werden gegenüber den wahren MD- und MEW-Werten sowie denen Werten der lokalen Verbände z.T. größere Abweichungen deutlich, die (i) mit der Auswahl der Landesverbände bzw. der Bezirke und (ii) mit der kleineren Fallzahl der Stichprobe zusammenhängen. Mitgliederdichte CDU-Landesverbände: !J.MDCDU: 1.04 vs. 0MDCDU: 0.8 = löl 0.24 !J.MDCDU/W: 1.17 vs. 0MDCDU/W: 1.1 = löl 0.07 dagegen ist: !J.MDCDU/0: 0.52 vs. 0MDCDU/O: 0.52 = löl 0, weil ich alle ostdeutschen CDULandesverbände einbezogen habe. MEW CDU-Landesverbände: !J.MEWCDU: -15.9% vs. 0MEWCDU:- 28.1'% = löl12.2% ~MEWCDU/W:- 11.2% vs. 0MEWCDU/W: -10.8% = iöl 0.4% !J.MEWCDU/0:- 43.2% vs. 0MEWCDU/O:- 43.2% =;= iöl 0, s.o. So liegen beispielsweise die Daten dieser Stichprobe für die durchschnittliche Mitgliederdichte der CDU in zwei Fällen (CDU, CDUJW) unter den tatsächlichen Werten (!J.MDCDU), was darauf zurückzuführen ist, daß die Stichprobe Angaben aus Landesverbänden wiedergibt, die unter der durchschnittlichen Mitgliederdichte von 1.17 für die CDU in den alten Ländern liegen (beispielsweise Bremen, 0.74 und die westlichen Kreisverbände Berlins, 0.81), während andere Landesorganisationen, deren

312

Mitgliederdichte über dem Durchschnitt liegen (z.B. Hessen, 1.32; Saarland, 2.62), nicht berücksichtigt wurden. Daß die Schwankungen um ~-tMD in der Untersuchung der Landesverbände größer sind als bei den Kreisverbänden liegt, wie oben gesagt, auch an der kleineren Fallzahl von N = 12 (6/6). Bei den KV hat N = 73 (37/36) dafür gesorgt, daß sich !rotz Angaben aus mitgliedsschwächeren Landesverbänden die Angaben aus den lokalen Organisationen letztlich dichter an ~-tMD annäherten. Für die SPD ergeben sich in diesem Sampie geringere Schwankungen um ~-tMD und ~-tMEW. Die deutlichste Abweichung ist die der Mitgliederdichte (1.1 im Sampie gegenüber ~-tMD von 1.29), was - ebenso wie bei der CDU - damit zusammenhängt, daß die Werte der vier ostdeutschen Landesverbände, die in die Stichprobe eingingen und die Verbände in den östlichen Stadtbezirken Berlins den gesamten Durchschnitt der Mitgliederdichte nach unten gezogen haben. Mitgliederdichte SPD-Landesverbände und Bezirke: ~-tMDSPD: 1.29 vs. 0MDSPD: 1.1 = lfll 0.19 ~-tMDSPD/W: 1.55 vs. 0MDSPD: 1.65 = lfll 0.10 ~-tMDSPD/0: 0.26 vs. 0MDSPD/O: 0.25 = lfll 0.01 Mitgliederentwicklung SPD-Landesverbände und Bezirke: ~-tMEWSPD: -15.1% vs. 0MEWSPD: -11.5% = lfll3.6% ~-tMEWSPD/W: -15.5% vs. 0MEWSPD/W: -16.2% = lfll 0.7% ~-tMEWSPD/0: +/-0% vs. 0MEWSPD/O: + 0.6% = lfll 0.6% Insgesamt spiegeln die Ergebnisse der Stichprobe für beide Ebenen, die lokale ebenso wie die der Landesverbände und Bezirke, die wahren Werte für MD und MEW in ihrer Richtung recht genau wider.

C. Codierung der Variablen 1. Variablen aus KapitelS In Kapitel 5 habe ich mit dem Aktivitätsprofil (AP) und dem Grad der Organisationsstärke (S 0 ) zwei Indizes gebildet, die den Vergleich zwischen den Parteiorganisationen ermöglichten, indem die teilweise enormen Schwankungen der Einzelmerkmale in einen gemeinsamen Wertebereich {0,1} überführt wurden. Darüber hinaus sind sie durch die Art ihrer Berechnung ein Ausdruck des absoluten Aktivitätsprofils bzw. der absoluten quantitativen Organisationsstärke, da relative Schwankungen bzw. Defizite durch Vorsprünge in anderen Merkmalen ausgeglichen werden können. Die Indizes aus KapitelS habe ich wie folgt berechnet:

313

Aktivitätsprofil (AP) Das Aktivitätsprofil der lokalen Verbände wurde aus den Organisationsmerkmalen bzw. Variablen 3 bis 8 aus Tabelle 5.2.1 gewonnen. Im einzelnen: - v3: Anteil aktiver Mitglieder, - v4: Anzahl regelmäßiger Veranstaltungen/Jahr, - v5: Anzahl der aktiven innerparteilichen Vereinigungen bzw. Arbeitsgemeinschaften, - v6: Aktivität der innerparteilichen Vereinigungen bzw. Arbeitsgemeinschaften, - v7: Anzahl der nichtparteilichen Verbände und Organisationen, mit denen die Partei zusammenarbeitet und - v8: Intensität dieser Kontakte Grundlage der Codierung der Rohdaten war deren jeweilige Abweichung vom Stichprobenmittelwert, d.h.ILl.vin-0vil für i = 1 bis 6 (oder v3 bis v8) und n = 1 bis 73 für beide Parteien. Nach der Subtraktion Vin-0Vi habe ich jeder Verbandsvariablen eine Ordnungszahl (OZ) zugeordnet, deren Maximalwerte je nach Zuordnungsgröße und Ausprägung der Variablen variieren konnte. Die Umrechnung in einen Bereich zwischen 0 und 1 folgte durch die Division mit dem Maximalwert der ZuordnungszahL AP ist der Mittelwert aller so gewonnenen Quotienten für die lokalen Verbände. Konkret hieß das am Beispiel der CDU: v3: Anteil aktiver Mitglieder/KV: 0v3 = 18.4% >::