Abkehr vom Subjekt: Zum Sprachdenken bei Heidegger und Buber 9783495860137, 9783495484432

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Abkehr vom Subjekt: Zum Sprachdenken bei Heidegger und Buber
 9783495860137, 9783495484432

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil I: Heideggers Fundamentalontologie und Bubers dialogisches Denken
Abschnitt I: Die Aufgabe von Philosophie und ihr sprachlicher Vollzug
1. Heidegger: Echt verstandene Phänomenologie als Fragen nach dem Sinn von Sein
2. Buber: Philosophie als Hinzeigen auf eine ursprüngliche ›Wirklichkeit‹
3. Zwei Modelle: Philosophie als Heimkehr und Philosophie als Aufbruch?
Abschnitt II: Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹
1. Einleitender Exkurs: Die Orientierung am ›ich bin‹ in Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen und Ebners Das Wort und die geistigen Realitäten
2. Heidegger: Dasein als In-der-Welt-sein mit Anderen
2.1 Dasein: Jeweilig Welt bewohnen – Die Abkehr vom Subjekt-Objekt-Schema
2.2 Welt und Weltlichkeit in Sein und Zeit
2.2.1 Welt als bedeutungshafte Ordnung
2.2.2 Die ›Ökonomie‹ des In-Seins und die Frage nach deren Irritation durch Natur, Kunst und Leib
2.2.3 Die Freigabe – Konstitutionsakt oder Sein-lassen?
2.3 In-der-Welt-sein als Mitsein
2.3.1 Das Begegnen der Anderen – Kritik an der ›Einfühlungsdebatte‹
2.3.2 Die Frage nach dem Verhältnis von Um- und Mitwelt – Heideggers Auseinandersetzung mit dem ›Ich-Du‹ Teil I
2.3.3 Das Man als gesteigerte ›Heimeligkeit‹ des In-Seins
2.3.4 Die »metaphysische Egoität« – Heideggers Auseinandersetzung mit dem ›Ich-Du‹ Teil II
3. Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen
3.1 Die grundlegende Bipolarität von Ich und Welt
3.2 Die Ich-Es-Relation
3.2.1 Die Erfahrungswelt als Ordnung der Dinge
3.2.2 Das erfahrende Ich als ›klassisches‹ neuzeitliches Subjekt?
3.3 Die Ich-Du-Begegnung
3.3.1 Das Du als Unverortetes
3.3.2 Die zwischenmenschliche Begegnung als ausgezeichnetes Ich-Du
3.3.3 Das Ich als »Subjektivität«
3.3.4 Der ›dritte Ort‹: Das Zwischen
3.4 Das Eigen-wesen als ›Annexion‹ und das Zwischen als machtfreie Zone
Abschnitt III: Die Bestimmung und Rolle von Sprache
1. Heidegger: Sprache als eine Weise des In-Seins
1.1 Da-sein als Erschlossenheit
1.2 Befindlichkeit und Verstehen
1.3 Auslegung und Aussage
1.4 Die Frage nach der ›Vorsprachlichkeit‹ der Auslegung
1.5 Rede und Sprache
1.6 Das Gerede: Die Verselbständigung der Worte
1.7 Die Rede und das Zeichen
1.7.1 Exkurs: Husserls 1. Logische Untersuchung über »Ausdruck und Bedeutung«
1.7.2 Heideggers Differenzierung zwischen Verweisung und Zeichen
1.8 Rede als Miteinandersprechen
1.8.1 Die Mitteilung als ein ›Teilen‹ von Welt
1.8.2 Die Stimme: Anklang einer ›Betroffenheit‹ in jeder Rede
1.9 Vorsagen und Nachreden – Die Ambivalenz der Sprachauffassung in Sein und Zeit
2. Buber: Sprache als beziehungsstiftende Kraft
2.1 Die Bedeutung der Sprachthematik für Bubers dialogischen Ansatz
2.2 Besprechen und Ansprechen – Der Vorrang der Gesprochenheit des Wortes
2.3 Das echte Gespräch und sein Verfall im Gerede
2.4 Die Frage nach der Welt- und Regellosigkeit des Sprechens im Ich-Du
2.5 Exkurs I: Józef Tischners Analyse des Vorstellungsaktes
2.6 Jedes Wort ein Gespräch? – Die Frage nach einer fundamentalen Dialogizität des Wortes
2.7 Eine ›neue‹ Grammatik auf der Basis der Grundworte Ich-Du und Ich-Es?
2.8 Exkurs II: Bubers und Rosenzweigs Projekt einer »Verdeutschung der Schrift«
2.9 Das Schweigen und die Sehnsucht nach einem vollkommenen Ich-Du
2.10 Mittel-loses Sprechen vs. unmittelbares Entdecken
Abschnitt IV: Die Phänomene Wahrheit und Wahrhaftigkeit
1. Heideggers Wahrheitsbegriff in Sein und Zeit
1.1 Die Erschlossenheit des Daseins als ursprünglichste Wahrheit
1.2 Wahrheit und Sprache – Die Öffentlichkeit als Hort der Unwahrheit?
1.3 Die nicht überwundene Orientierung an der Aussage
1.4 Gemeinsamkeit als ein Sich-teilen von Wahrheit
2. Bubers Reflexionen zur Wahrheit in den Schriften zum dialogischen Prinzip
2.1 Das echte Gespräch als Manifestation von Wahrhaftigkeit
2.2 Wahrheit als Allgemeingut vs. Wahrheit als Aufgabe eines jeden Einzelnen
2.3 Die Dimension der ›Treue‹ – Eine Anbindung an das Seiende vor jeder konkreten Verbindlichkeit?
2.4 Ent-deckendes Reden vs. redliches Sprechen?
Abschnitt V: Entdeckung(en) einer ursprünglichen Verantwortung
1. ›Eigentlichstes‹ Reden: Heideggers Interpretation der vorlaufenden Entschlossenheit
1.1 Die Frage nach Ganzheit und Eigentlichkeit des Daseins
1.2 Heideggers existenzialer Begriff des Todes
1.2.1 Da-sein als ein Sein zum Tode
1.2.2 Der Tod als Möglichkeit und sein beständiger Aufschub
1.2.3 Die Angst als Erschlossenheit von Unheimlichkeit und Unzuhause
1.2.4 Das angstbereite Vorlaufen als ursprünglichste Selbstgewissheit: sum moribundus statt cogito sum
1.3 Die existenziale Analyse des Gewissens
1.3.1 Das Gewissen als Bezeugung eigentlichen Wählenkönnens
1.3.2 Das Gewissen als schweigender Ruf der Sorge
1.3.3 Das existenziale Schuldigsein
1.4 Die vorlaufende Entschlossenheit als Selbst-ver-antwortung
2. Bubers Konzeption eines ›eigentlichen Da-seins‹: Verantwortung als dialogisches Geschehen
2.1 Die Bedeutung der Verantwortungskonzeption für den dialogischen Ansatz
2.2 Der ›Monologismus‹ des Daseins – Bubers Kritik in Das Problem des Menschen
2.3 Personale Existenz als Ver-antwortung
2.3.1 Die Ausweitung des Sprachbegriffs
2.3.2 Verantwortung als Antworten auf einen Anspruch
2.3.3 Exkurs: Verantwortung bei Emmanuel Lévinas und der Bezug zu Bubers Konzeption
2.3.4 Die Verantwortung des Einzelnen
2.4 Bubers Rückgriff auf ein hebräisches Sprachdenken
2.5 Das ewige Du
2.6 Griechisches Denken vs. hebräisches Denken?
Abschnitt VI: Konzeptionen von Zeit und Zeitlichkeit
1. Heideggers Überlegungen zur Zeit in den 20er Jahren
1.1 Der Abbau alltäglicher wie philosophischer Vorurteile zur Zeit und die Entdeckung einer ursprünglichen Zeitlichkeit
1.2 Die ursprüngliche ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit des Daseins
1.3 Die Deutung der Tradition als ›Metaphysik der Präsenz‹
2. Ein mögliches Zeitdenken mit Buber
3. Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse des Vergleichs im Hinblick auf die Dimension der Zeit
4. Von der Zeitlichkeit des Daseins zur Temporalität des Seins
4.1 Heideggers Ent-deckung der Temporalität in Die Grundprobleme der Phänomenologie vom SS 1927
4.2 Das Scheitern einer geplanten »Kehre« und dessen Konsequenzen
Teil II: Heideggers Denken zur Sprache nach Sein und Zeit
Abschnitt I: Die radikale Distanzierung von traditionellen Sprachauffassungen und erste Hinweise zum ›Wesen‹ der Sprache
1. Die Hinwendung zur Sprache und die verschärfte Abkehr vom ›Subjekt‹
2. Das Phänomen ›Sprache‹ in den Vorlesungen von 1929/30–1933/34 – Korrekturen an der Sprachkonzeption von Sein und Zeit
3. Die Logik-Vorlesung vom SS 1934: Logik als Wissen von der Sprache
Abschnitt II: Heideggers philosophische Konzeption zur Zeit des Rektorats
1. Ein Philosoph ›schaltet sich ein‹
2. Heideggers Konzeption von Volk, Bestimmung und Arbeit 1933/34
3. Die Existenzialanalyse aus Sein und Zeit und die Bestimmung des Menschen um 1933/34
Abschnitt III: Die Entdeckung Hölderlins und der Kunst
1. Von der Arbeit zur Dichtung
2. Schaffen als ein »Stiften«
3. Dichtung als die »Ursprache eines Volkes«
4. Die »Flucht der Götter« – Heideggers Diagnose zum Zustand des Abendlandes
5. Kunst und Künstlichkeit – Erste Hinweise auf das ›Wesen‹ der Technik
6. Der Dichter und die Schriftstellerei – Distanzierung vom ›Prosaischen‹
Abschnitt IV: Eigentliches Denken und Sprechen als endgültige Überwindung der Metaphysik
1. Nietzsche als der letzte Metaphysiker und Heideggers Entdeckung des ›wahren‹ Nihilismus
2. Das Wort, die Hand und die Maschine
3. Sprechen, Handeln, Denken – Zum ›Wesen‹ der Philosophie
Abschnitt V: Versammlung in die Ortschaft der Sprache – Die Vorträge und Aufsätze aus den 50er Jahren
1. Vom Zeichen zur »Zeige«
2. Die Sprache als Monolog?
3. Gespräch und Übersetzung: Spiel der Differenzen oder Sammlung auf das ›Eine‹?
Abschnitt VI: Eine abschließende Interpretation von Heideggers Denken nach Sein und Zeit
1. Fundamentalontologie und seinsgeschichtliches Denken
2. Heideggers eigene Rückblicke und die Frage nach der ›Kehre‹
Schluss: Heideggers seinsgeschichtliches Denken und Bubers Dialogik – Anbahnung einer echten ›Begegnung‹?
Literaturverzeichnis
Schriften von Buber
Schriften von Heidegger
Andere Schriften
Personen- und Sachregister

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https://doi.org/10.5771/9783495860137 .

ALBER PHÄNOMENOLOGIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

2014

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Die philosophischen Konzeptionen Martin Heideggers und Martin Bubers eint das Ziel einer Überwindung des neuzeitlichen Subjektivitätsprinzips in seinen Gestaltungen von René Descartes bis hin zu Edmund Husserl. Von diesem gemeinsamen Anliegen ausgehend werden die Werke beider Denker in ein Gespräch gebracht, in dem der Fokus auf der Bedeutung der jeweiligen Sprachkonzeption für das Projekt einer Neubeschreibung menschlicher Existenz als eines Seins in der Welt mit Anderen liegt. Die vergleichende Interpretation von Heideggers Existenzialanalyse in den 20er Jahren und Bubers zeitgleich entwickeltem dialogischen Ansatz zeigt das philosophische Potential auf, das in Bubers Beschreibung des sog. Ich-Du-Verhältnisses hinsichtlich einer Destruktion eines isolierten Subjekts liegt, das auch Heidegger mit seiner Betrachtung des Daseins als eines unhintergehbaren In-der-Welt-seins als Konstruktion zu entlarven sucht. Die Analysen der jeweiligen Konzeptionen von Sprache sowie der Phänomene Wahrheit und Verantwortung stellen heraus, inwieweit der dialogphilosophische Ansatz auf eine radikalere Abgrenzung vom subjektzentrierten Denken der Neuzeit abzielt als Heideggers Entwurf in »Sein und Zeit«. In einer anschließenden Interpretation der Konzeption des späten Heidegger mit seiner Hinwendung zur Sprache als »Haus des Seins« wird jedoch gezeigt, inwiefern diese als eine Annäherung an eine ›dialogische‹ Konzeption im Sinne Bubers gedeutet werden kann.

Die Autorin: Meike Siegfried, geb. 1979, Studium der Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, 2009 Promotion im Fach Philosophie, zurzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum

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Meike Siegfried Abkehr vom Subjekt

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2014

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PHÄNOMENOLOGIE Texte und Kontexte Herausgegeben von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und Walter Schweidler

KONTEXTE Band 22

https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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Meike Siegfried

Abkehr vom Subjekt Zum Sprachdenken bei Heidegger und Buber

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

2014

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48443-2 (Print)

ISBN 978-3-495-86013-7 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

2014

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Teil I: Heideggers Fundamentalontologie und Bubers dialogisches Denken Abschnitt I: Die Aufgabe von Philosophie und ihr sprachlicher Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3.

Heidegger: Echt verstandene Phänomenologie als Fragen nach dem Sinn von Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buber: Philosophie als Hinzeigen auf eine ursprüngliche ›Wirklichkeit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Modelle: Philosophie als Heimkehr und Philosophie als Aufbruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Abschnitt II: Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹ . . . . . . . 1.

2.

Einleitender Exkurs: Die Orientierung am ›ich bin‹ in Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen und Ebners Das Wort und die geistigen Realitäten . . . . . . . . Heidegger: Dasein als In-der-Welt-sein mit Anderen . 2.1 Dasein: Jeweilig Welt bewohnen – Die Abkehr vom Subjekt-Objekt-Schema . . . . 2.2 Welt und Weltlichkeit in Sein und Zeit . . . . . .

33 33 59 72 82

. . . .

82 90

. . . . 2.2.1 Welt als bedeutungshafte Ordnung . . . . . . .

90 95 95

2.2.2 Die ›Ökonomie‹ des In-Seins und die Frage nach deren Irritation durch Natur, Kunst und Leib . . . 2.2.3 Die Freigabe – Konstitutionsakt oder Sein-lassen? .

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7 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

2014

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Inhaltsverzeichnis

2.3 In-der-Welt-sein als Mitsein . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Das Begegnen der Anderen – Kritik an der ›Einfühlungsdebatte‹ . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Frage nach dem Verhältnis von Um- und Mitwelt – Heideggers Auseinandersetzung mit dem ›Ich-Du‹ Teil I . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Das Man als gesteigerte ›Heimeligkeit‹ des In-Seins 2.3.4 Die »metaphysische Egoität« – Heideggers Auseinandersetzung mit dem ›Ich-Du‹ Teil II . .

3.

Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen . . . . . 3.1 Die grundlegende Bipolarität von Ich und Welt . . . 3.2 Die Ich-Es-Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Erfahrungswelt als Ordnung der Dinge . . . 3.2.2 Das erfahrende Ich als ›klassisches‹ neuzeitliches Subjekt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.3 Die Ich-Du-Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Das Du als Unverortetes . . . . . . . 3.3.2 Die zwischenmenschliche Begegnung als ausgezeichnetes Ich-Du . . . . . . . . 3.3.3 Das Ich als »Subjektivität« . . . . . . 3.3.4 Der ›dritte Ort‹ : Das Zwischen . . . .

. . . . .

. . . . . Die Frage nach der ›Vorsprachlichkeit‹ der Auslegung . Rede und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gerede: Die Verselbständigung der Worte . . . . Die Rede und das Zeichen . . . . . . . . . . . . . .

Abschnitt III: Die Bestimmung und Rolle von Sprache 1. Heidegger: Sprache als eine Weise des In-Seins . . 1.1 Da-sein als Erschlossenheit . . . . . . . . . . 1.2 Befindlichkeit und Verstehen . . . . . . . . . 1.3 Auslegung und Aussage . . . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

1.7.1 Exkurs: Husserls 1. Logische Untersuchung über »Ausdruck und Bedeutung« . . . . . . . . . . . 1.7.2 Heideggers Differenzierung zwischen Verweisung und Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.8 Rede als Miteinandersprechen . . . . . . . . . . . . 1.8.1 Die Mitteilung als ein ›Teilen‹ von Welt . . . . .

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119 124 126 131 131 137 137 139 144 144

. . . . . 148 . . . . . 157 . . . . . 161

3.4 Das Eigen-wesen als ›Annexion‹ und das Zwischen als machtfreie Zone . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.4 1.5 1.6 1.7

115

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163 172 172 172 175 177 181 186 191 197 197 203 207 207

Inhaltsverzeichnis

1.8.2 Die Stimme: Anklang einer ›Betroffenheit‹ in jeder Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.

1.9 Vorsagen und Nachreden – Die Ambivalenz der Sprachauffassung in Sein und Zeit . . . . . . . . . . Buber: Sprache als beziehungsstiftende Kraft . . . . . . . 2.1 Die Bedeutung der Sprachthematik für Bubers dialogischen Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Besprechen und Ansprechen – Der Vorrang der Gesprochenheit des Wortes . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das echte Gespräch und sein Verfall im Gerede . . . 2.4 Die Frage nach der Welt- und Regellosigkeit des Sprechens im Ich-Du . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Exkurs I: Józef Tischners Analyse des Vorstellungsaktes 2.6 Jedes Wort ein Gespräch? – Die Frage nach einer fundamentalen Dialogizität des Wortes . . . . . . . 2.7 Eine ›neue‹ Grammatik auf der Basis der Grundworte Ich-Du und Ich-Es? . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Exkurs II: Bubers und Rosenzweigs Projekt einer »Verdeutschung der Schrift« . . . . . . . . . . . . . 2.9 Das Schweigen und die Sehnsucht nach einem vollkommenen Ich-Du . . . . . . . . . . . . . . . . 2.10 Mittel-loses Sprechen vs. unmittelbares Entdecken . .

213 216 222 222 227 231 237 239 241 246 250 258 262

Abschnitt IV: Die Phänomene Wahrheit und Wahrhaftigkeit . 268 1. Heideggers Wahrheitsbegriff in Sein und Zeit . . . . . . . 268

2.

1.1 Die Erschlossenheit des Daseins als ursprünglichste Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Wahrheit und Sprache – Die Öffentlichkeit als Hort der Unwahrheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die nicht überwundene Orientierung an der Aussage . 1.4 Gemeinsamkeit als ein Sich-teilen von Wahrheit . . . Bubers Reflexionen zur Wahrheit in den Schriften zum dialogischen Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Das echte Gespräch als Manifestation von Wahrhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Wahrheit als Allgemeingut vs. Wahrheit als Aufgabe eines jeden Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Dimension der ›Treue‹ – Eine Anbindung an das Seiende vor jeder konkreten Verbindlichkeit? . . . .

268 276 278 280 283 283 286 288 9

https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

2014

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Inhaltsverzeichnis

2.4 Ent-deckendes Reden vs. redliches Sprechen?

. . . . 290

Abschnitt V: Entdeckung(en) einer ursprünglichen Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1.

›Eigentlichstes‹ Reden: Heideggers Interpretation der vorlaufenden Entschlossenheit . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Frage nach Ganzheit und Eigentlichkeit des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Heideggers existenzialer Begriff des Todes . . . . . .

295 295 298 298

1.2.1 Da-sein als ein Sein zum Tode . . . . . . . . . . 1.2.2 Der Tod als Möglichkeit und sein beständiger Aufschub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 1.2.3 Die Angst als Erschlossenheit von Unheimlichkeit und Unzuhause . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 1.2.4 Das angstbereite Vorlaufen als ursprünglichste Selbstgewissheit: sum moribundus statt cogito sum 309

1.3 Die existenziale Analyse des Gewissens

. . . . . . . 313

1.3.1 Das Gewissen als Bezeugung eigentlichen Wählenkönnens . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Das Gewissen als schweigender Ruf der Sorge . . 1.3.3 Das existenziale Schuldigsein . . . . . . . . . .

2.

1.4 Die vorlaufende Entschlossenheit als Selbst-ver-antwortung . . . . . . . . . . . . . . . . Bubers Konzeption eines ›eigentlichen Da-seins‹ : Verantwortung als dialogisches Geschehen . . . . . . . . 2.1 Die Bedeutung der Verantwortungskonzeption für den dialogischen Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der ›Monologismus‹ des Daseins – Bubers Kritik in Das Problem des Menschen . . . . . . . . . . . . . 2.3 Personale Existenz als Ver-antwortung . . . . . . . . 2.3.1 Die Ausweitung des Sprachbegriffs . . . . . . . 2.3.2 Verantwortung als Antworten auf einen Anspruch 2.3.3 Exkurs: Verantwortung bei Emmanuel Lévinas und der Bezug zu Bubers Konzeption . . . . . . 2.3.4 Die Verantwortung des Einzelnen . . . . . . . .

2.4 Bubers Rückgriff auf ein hebräisches Sprachdenken . 2.5 Das ewige Du . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Griechisches Denken vs. hebräisches Denken? . . . .

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313 315 317 319 324 324 326 330 330 331 334 340 344 348 352

Inhaltsverzeichnis

Abschnitt VI: Konzeptionen von Zeit und Zeitlichkeit . . . . 359 1. Heideggers Überlegungen zur Zeit in den 20er Jahren . . . 359

2. 3. 4.

1.1 Der Abbau alltäglicher wie philosophischer Vorurteile zur Zeit und die Entdeckung einer ursprünglichen Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die ursprüngliche ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Deutung der Tradition als ›Metaphysik der Präsenz‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein mögliches Zeitdenken mit Buber . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse des Vergleichs im Hinblick auf die Dimension der Zeit . . . . . . . . . . Von der Zeitlichkeit des Daseins zur Temporalität des Seins 4.1 Heideggers Ent-deckung der Temporalität in Die Grundprobleme der Phänomenologie vom SS 1927 4.2 Das Scheitern einer geplanten »Kehre« und dessen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

359 366 370 375 379 386 386 388

Teil II: Heideggers Denken zur Sprache nach Sein und Zeit Abschnitt I: Die radikale Distanzierung von traditionellen Sprachauffassungen und erste Hinweise zum ›Wesen‹ der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 1. 2.

3.

Die Hinwendung zur Sprache und die verschärfte Abkehr vom ›Subjekt‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Phänomen ›Sprache‹ in den Vorlesungen von 1929/30– 1933/34 – Korrekturen an der Sprachkonzeption von Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Logik-Vorlesung vom SS 1934: Logik als Wissen von der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

395

396 400

Abschnitt II: Heideggers philosophische Konzeption zur Zeit des Rektorats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 1. Ein Philosoph ›schaltet sich ein‹ . . . . . . . . . . . . . . 405 2.

Heideggers Konzeption von Volk, Bestimmung und Arbeit 1933/34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

410 11

https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

2014

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Inhaltsverzeichnis

3.

Die Existenzialanalyse aus Sein und Zeit und die Bestimmung des Menschen um 1933/34 . . . . . . . . .

. . . .

Abschnitt III: Die Entdeckung Hölderlins und der Kunst 1. Von der Arbeit zur Dichtung . . . . . . . . . . . . 2. Schaffen als ein »Stiften« . . . . . . . . . . . . . . 3. Dichtung als die »Ursprache eines Volkes« . . . . . 4. 5. 6.

. . . .

. . . .

Die »Flucht der Götter« – Heideggers Diagnose zum Zustand des Abendlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunst und Künstlichkeit – Erste Hinweise auf das ›Wesen‹ der Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Dichter und die Schriftstellerei – Distanzierung vom ›Prosaischen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

416 422 422 425 428 432 435 440

Abschnitt IV: Eigentliches Denken und Sprechen als endgültige Überwindung der Metaphysik . . . . . . . . . . . 444 1. 2. 3.

Nietzsche als der letzte Metaphysiker und Heideggers Entdeckung des ›wahren‹ Nihilismus . . . . . . . . . . . Das Wort, die Hand und die Maschine . . . . . . . . . . . Sprechen, Handeln, Denken – Zum ›Wesen‹ der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

444 448 451

Abschnitt V: Versammlung in die Ortschaft der Sprache – Die Vorträge und Aufsätze aus den 50er Jahren . . . . . . . 457 1. Vom Zeichen zur »Zeige« . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 2. Die Sprache als Monolog? . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 3.

Gespräch und Übersetzung: Spiel der Differenzen oder Sammlung auf das ›Eine‹ ? . . . . . . . . . . . . . . . . .

463

Abschnitt VI: Eine abschließende Interpretation von Heideggers Denken nach Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . 471 1. Fundamentalontologie und seinsgeschichtliches Denken . . 471 2.

Heideggers eigene Rückblicke und die Frage nach der ›Kehre‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

481

Schluss: Heideggers seinsgeschichtliches Denken und Bubers Dialogik – Anbahnung einer echten ›Begegnung‹ ? . . . . . . 489

12 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

2014

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Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis . . . Schriften von Buber . . . Schriften von Heidegger . Andere Schriften . . . . .

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Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537

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Für meine Eltern und Matthias

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Vorbemerkung

Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung einer Arbeit, die im Januar 2009 von der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen wurde. Ihre Fertigstellung wurde von verschiedenen Personen auf unterschiedliche Weise begleitet und unterstützt, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. Als Betreuer der Dissertation hat Herr Prof. Dr. Alexander Haardt den Arbeitsprozess mit beständigem Interesse am Fortschreiten der Untersuchung und durch wertvolle bestärkende wie kritische Hinweise begleitet. Meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Hans-Ulrich Lessing danke ich vor allem für die Unterstützung in der Endphase des Promotionsprozesses. Die Diskussionen mit meinen Bochumer Freunden und Kollegen, auch den ehemaligen, haben einen wichtigen Beitrag zur Ausgestaltung dieser Arbeit geleistet. Zuletzt möchte ich meinen Eltern und meinem Lebensgefährten danken, denen dieses Buch gewidmet ist. Durch ihre Unterstützung und stete Anteilnahme am Fortgang meines Dissertationsprojektes, durch ihre Zuversicht und Geduld auch in den arbeitsintensivsten Phasen, haben sie wesentlich zum Gelingen dieses Projektes beigetragen. Bochum, im September 2010

Meike Siegfried

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Einleitung

Die vorliegende Untersuchung bringt mit Martin Heidegger und Martin Buber zwei Denker in ein Gespräch, von denen der eine zu den wirkungsmächtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts gehört, während der andere – wie die durch ihn wesentlich geprägte ›Dialogphilosophie‹ 1 generell – heute beinahe vergessen scheint. Auf das dialogische Denken, welches einst als zweite ›kopernikanische Wende‹ 2 begrüßt wurde, beruft sich in den gegenwärtigen philosophischen Debatten kaum eine Strömung oder Konzeption explizit. 3 Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass dialogphilosophische Gedanken hier sehr wohl präsent sind: So wird vor allem in den aktuellen Diskussionen um die Frage nach dem Anderen, d. h. nach der Möglichkeit einer echten Erfahrung des Fremden als Fremden, auf zentrale Einsichten der Dialogiker zurückgegriffen. 4 Nun gehen viele der Denker, welche sich den Themen Alterität Vgl. Bubers eigene Charakterisierung dieses Denkens und seiner bedeutendsten Vertreter wie Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Eugen Rosenstock-Huessy in Martin Buber, »Zur Geschichte des dialogischen Prinzips«, in: ders., Das dialogische Prinzip, 8. Aufl., Gerlingen 1997, 299–320. Im Folgenden wird der Sammelband zitiert als DP. 2 Karl Heim spricht von einer »kopernikanischen Tat«; vgl. Karl Heim, »Ontologie und Theologie«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Neue Folge Band 11 (1930), 325– 338, hier: 333. 3 Jedoch scheint Rosenzweigs Philosophie in den letzten Jahren eine gewisse Renaissance zu erfahren, was möglicherweise daran liegt, dass Lévinas sich stärker auf ihn als auf Buber beruft. 4 Das bedeutet nicht, dass der Name Buber oder der eines anderen Dialogphilosophen dabei explizit genannt wird; vielmehr lässt sich eine eigentümliche Scheu feststellen, sich direkt auf diese Denker zu beziehen, was schließlich den erwähnten Eindruck ihres ›Vergessenseins‹ erzeugt. Dass gegenwärtig jedoch auch versucht wird, das dialogische Denken wieder stärker in den Fokus zu rücken, belegt folgende jüngst erschienene Studie: Magdalena A. Wojcieszuk, »Der Mensch wird am Du zum Ich«. Eine Auseinandersetzung mit der Dialogphilosophie des XX. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 2010. Ziel dieser Untersuchung ist es, mit einer vergleichenden Interpretation der Ansätze von Buber, 1

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Einleitung

und Fremderfahrung widmen, vom Begründer eben der philosophischen Richtung aus, welcher sich auch Heidegger zu Beginn seines Denkens zugehörig fühlte: Emmanuel Lévinas setzt sich eingehend mit Edmund Husserls Phänomenologie auseinander und verortet sein Denken innerhalb dieser Bewegung. Ebenso schließen u. a. Józef Tischner, Paul Ricœur und Bernhard Waldenfels an Husserls Denken an, distanzieren sich aber gerade – wie Lévinas – von der Fundierung jeglichen Sinngeschehens in einem transzendentalen Ego sowie der Orientierung an einem vornehmlich theoretischen Bezug auf die Welt. 5 Wenn innerhalb der Phänomenologie oder bei ihr nahestehenden Philosophen somit der Gedanke einer ›Dezentrierung‹ des Subjekts oder einer grundlegenden ›Responsivität‹ menschlichen Seins eine zentrale Rolle spielt und dabei eine verstärkte Hinwendung zu Themen wie Alterität, Leiblichkeit und Sprache stattfindet, dann beziehen sich diese philosophischen Konzeptionen nicht selten auf Heidegger und seine kritische Absetzung von Husserls Bewusstseinsphänomenologie. Andererseits konfrontiert Karl Löwith schon Ende der 20er Jahre in Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen Heideggers Existenzialanalyse mit einem dialogischen Ansatz – hier: dem Ferdinand Ebners und Friedrich Gogartens – und sieht in diesem ein Potential, welches in Bezug auf eine Analyse des menschlichen Miteinanderseins dasjenige von Heideggers Ansatz deutlich übersteigt. 6 Ebner, Jaspers, Marcel und Löwith das Potential eines dialogischen Denkens, auch in direkter Abgrenzung von Lévinas’ Konzeption, aufzuzeigen. 5 Lévinas und Tischner beziehen sich explizit auf Bubers Ansatz, auch wenn sie sich – wie Waldenfels – von einigen Aspekten des dialogischen Denkens deutlich distanzieren. Beeinflusst von Buber sind auch die russischen Philosophen Semen Frank und Michail Bachtin; siehe dazu Alexander Haardt, »Michail Bachtin – ein Phänomenologe der Intersubjektivität?«, in: Phänomenologische Forschungen, Neue Folge Band 5 (2000), 217– 229 sowie ders., »Die Präsenz des Abwesenden. Zur Frage nach dem Anderen in der Sozialphänomenologie Jean-Paul Sartres und Semen L. Franks«, in: Metamorphose der Phänomenologie. Dreizehn Stadien von Husserl aus, hrsg. von Hans Rainer Sepp, Freiburg/München 1999, 189–210. Gerade auf Bachtin beziehen sich etliche der Autoren, die sich in aktuellen Diskussionen einem ›dialogischen‹ Ansatz verpflichtet fühlen; so präsentiert Peter Zima in seiner interdisziplinär angelegten Untersuchung zur »Theorie des Subjekts« als Antwort auf die postmodernen Subjektzerrüttungen eine »dialogische Subjektivität«, ohne sich ausdrücklich auf die Dialogphilosophen um Buber zu beziehen, während Bachtins Konzeption eine zentrale Rolle spielt; vgl. Peter V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, 2., durchges. Aufl., Tübingen 2007. 6 Diese Schrift Löwiths ist laut Buber der »eigentliche Beitrag der Phänomenologie«

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Auf der einen Seite lässt sich also bei etlichen Denkern eine Bezugnahme auf Heideggers und Bubers Denken ausmachen, so dass beide einer Denkbewegung zugeordnet werden, auf der anderen Seite wird eine kritische Distanzierung von Heideggers Konzeption oftmals gerade durch den Rückgriff auf ein ›dialogisches Denken‹ realisiert. 7 Auch bei den Dialogikern selbst bzw. in ihrem Umkreis wird Heideggers Philosophie in den 20er Jahren unterschiedlich aufgenommen: Eberhard Grisebach geht in seinem Werk Gegenwart durchweg kritisch auf Sein und Zeit ein; 8 Franz Rosenzweig hingegen zählt Heideggers Existenzialontologie in »Vertauschte Fronten« von 1929 explizit zum ›neuen Denken‹. 9 Die grundlegende Gemeinsamkeit in den Konzeptionen Heideggers und Bubers liegt zweifelsohne in der Abkehr von der subjektzentrierten Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit bzw. der Distanzierung von der Beschreibung des menschlichen Verhältnisses zur Welt durch das traditionelle Subjekt-Objekt-Schema. Beide Denker wollen den ›ganzen‹ Menschen in den Blick nehmen und begreifen das Ich im Sinne eines isolierten Subjekts als »Subjekt im schlechten Sinne« 10 . Dabei haben sie sich bei der Ausarbeitung ihrer Konzeptionen mitunter von den gleichen Vordenkern anregen lassen: Sowohl für Heidegger als zur Ich-Du-Thematik; vgl. DP 312. Gadamer bezieht sich in Wahrheit und Methode positiv auf Löwiths Untersuchung und greift die Bestimmung des nicht-gegenständlichen Anderen als eines ›Du‹ auf; siehe Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3., erw. Aufl., Tübingen 1972, 340 ff. 7 So auch bei Ludwig Binswanger, der zwar von Heideggers Daseinsanalyse ausgeht, sich aber kritisch gegenüber Heideggers Konzeption des Miteinanderseins positioniert; siehe Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, 5. Aufl., München/Basel 1973. 8 Siehe Eberhard Grisebach, Gegenwart. Eine kritische Ethik, Halle-Saale 1928, X f., 511 f., 524, 556 und 589 f. Vgl. auch ders., »Interpretation oder Destruktion? Zum kritischen Verständnis von Martin Heideggers ›Kant und das Problem der Metaphysik‹«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte VIII (1930), 199–232. 9 Dabei rekurriert er auf die Davoser Disputation und betont vor allem Heideggers Hinwendung zum Menschen als einem endlichen Wesen; vgl. Franz Rosenzweig, »Vertauschte Fronten«, in: ders., Kleinere Schriften, Berlin 1937, 354–356, hier: 355 f. 10 Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie, hrsg. von Otto Saame und Ina Saame-Speidel, Frankfurt a. M. 1996 (Heidegger-Gesamtausgabe Band 27), 122. Im Folgenden wird der Band der von Hermann Heidegger in Verbindung mit Friedrich-Wilhelm v. Herrmann bei Klostermann herausgegebenen Gesamtausgabe in Klammern mit der Sigle GA angegeben.

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auch für Buber spielen Diltheys, Kierkegaards und Nietzsches Denken eine bedeutende Rolle. So urteilt Theunissen: »Als Abkehr von der Philosophie des allgemeinen Subjekts und als Hinwendung zu je meinem faktischen Menschenich gehört der Dialogismus […] zur selben Denkbewegung wie der moderne Transzendentalismus insbesondere Heideggers und Sartres.« 11 Diese Charakterisierung deutet aber trotz der Herausstellung einer großen Nähe zwischen den beiden Ansätzen auch schon eine Differenz an: Die Überwindung des neuzeitlichen Subjektbegriffs wird bei Buber ausdrücklich verstanden als Absetzung des »selbstherrlichen, weltumschließenden, welttragenden, welterschaffenden Ich« 12 . Die Dialogphilosophie insgesamt wendet sich konsequent gegen jeglichen ›Transzendentalismus‹ im Ausgang von Kant, indem sie dem ›selbstherrlichen Ich‹ die »gegenseitige Wesensbeziehung« (DP 301) zwischen einander Begegnenden gegenüberstellt. Nun hat schließlich auch Heidegger die ›transzendentale Wende‹ seines Lehrers Husserl äußerst kritisch beurteilt, doch lassen die bei unterschiedlichen Autoren vorgenommene Konfrontation des heideggerschen Denkens mit einem dialogischen Ansatz sowie Theunissens Kommentar ahnen, dass Heideggers Konzeption in Bezug auf die Ablösung von einem subjektzentrierten Denken unterschiedlich beurteilt werden kann. Durch eine eingehende Betrachtung der Gemeinsamkeiten und Differenzen bei Heideggers und Bubers Versuch einer Überwindung des traditionellen neuzeitlichen Prinzips der Subjektivität ließe sich somit zeigen, welche Wege sich bei der Distanzierung vom »verherrlichten Subjekt« auftun – möglicherweise ohne dabei gleich die Vorstellung eines radikal »gedemütigten Subjekts« zu propagieren. 13 Ein direkter Vergleich von Heideggers und Bubers Konzeptionen wurde in der Forschung bislang jedoch selten vorgenommen, was durchaus an der erwähnten Zurückhaltung vieler Denker liegen mag, sich explizit auf die Dialogphilosophen zu beziehen. Bahnbrechend für die philosophische Rezeption Bubers und von zentraler Bedeutung auch für eine

Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin/New York 1977, 246. 12 Martin Buber, Die Frage an den Einzelnen, in: DP, 197–267, hier: 263. 13 Siehe zur näheren Charakterisierung dieser beiden Extreme Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, aus dem Franz. übers. von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Birgit Schaaff, München 1996, 26. 11

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Konfrontation von heideggerschem und buberschem Denken war daher die schon genannte Untersuchung Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart von Michael Theunissen (1965 in erster Auflage erschienen). Da sich dieses Werk jedoch zahlreichen Entwürfen innerhalb der Phänomenologie und der Dialogphilosophie widmet, werden Heideggers und Bubers Konzeptionen zwangsläufig keinem unmittelbaren Vergleich unterzogen. Zudem beschränkt sich Theunissen aufgrund der thematischen Ausrichtung seiner Untersuchung im Wesentlichen auf die Problematik des Zwischenmenschlichen. Diese Perspektive wird nun in den meisten Beiträgen eingenommen, die sich mehr oder weniger intensiv mit Buber und Heidegger beschäftigen, so wie die Analysen von Cullberg, Schrey, Fassbind und Yoon. 14 Im Mittelpunkt steht die Thematisierung des menschlichen Miteinanders auch in einem der wenigen Forschungsbeiträge, die sich dezidiert einer Gegenüberstellung des heideggerschen und buberschen Ansatzes widmen: Haim Gordon fragt in The Heidegger-Buber Controversy nach dem ontologischen Status der zwischenmenschlichen Ich-Du-Beziehung, nachdem er eine solche Prüfung – nicht zu Unrecht – als »virgin territory« 15 ausgegeben hat. Hingegen sucht Smith in seiner knappen, aber aufschlussreichen Studie zu Buber und Heidegger zwischen möglichst vielen Aspekten und Themen der beiden Konzeptionen Bezüge herzustellen. 16 Nicht 14 Siehe John Cullberg, Das Du und die Wirklichkeit. Zum ontologischen Hintergrund der Gemeinschaftskategorie, Uppsala 1933; Heinz-Horst Schrey, Dialogisches Denken, 3. Aufl., Darmstadt 1991; Bernard Fassbind, Poetik des Dialogs. Voraussetzungen dialogischer Poesie bei Paul Celan und Konzepte von Intersubjektivität bei Martin Buber, Martin Heidegger und Emmanuel Levinas, München 1995 sowie Seokbin Yoon, Zur Struktur der Mitmenschlichkeit mit Blick auf Husserl, Heidegger und Buber, Regensburg 1996. 15 Haim Gordon, The Heidegger-Buber Controversy. The Status of the I-Thou, Westport/CT 2001, XI. 16 Siehe Paul C. Smith, Das Sein des Du. Bubers Philosophie im Lichte des Heidegger’schen Denkens an das Sein, Heidelberg 1966. Auch bei Brunnhuber steht die Thematik des Zwischenmenschlichen nicht im Vordergrund; sein Beitrag zielt vielmehr auf den Aufweis eines »dialogischen Erkenntnisinteresses« – ein anderes Erkenntnisinteresse als das, welches im ›Verstehen‹ oder ›Erklären‹ aktiv sei; vgl. Stefan Brunnhuber, Der dialogische Aufbau der Wirklichkeit. Gemeinsame Elemente im Philosophiebegriff von Martin Buber, Martin Heidegger und Sigmund Freud, Regensburg 1993, 36. Auch Wahl versucht, verschiedene Aspekte des buberschen und heideggerschen Werkes zu berücksichtigen; siehe Jean Wahl, »Martin Buber und die Existenzphilosophie«, in: Martin Buber, hrsg. von Paul Arthur Schilpp und Maurice Friedman, Stuttgart 1963, 420–447.

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allein die Behandlung der Thematik des Zwischenmenschlichen bei Heidegger und Buber in den Blick zu nehmen bietet sich in der Tat an, und zwar aus folgenden Gründen: Einmal ist Bubers Begriff des Dialogs nicht allein auf das menschliche Miteinander bezogen, sondern begreift in letzter Konsequenz das menschliche Leben insgesamt als ein ›Zwiegespräch‹. Das bedeutet, dass auch eine Neubestimmung des menschlichen Bezugs zu den ›Dingen‹ ein wesentliches Thema der buberschen Abkehr vom ›selbstherrlichen Ich‹ darstellt. Zudem darf mit Blick auf Heidegger nicht nur der Bezug des Menschen zu andersartig Seiendem behandelt werden, sondern auch dessen ›Verhältnis‹ zum Sein überhaupt muss in die Untersuchung einbezogen werden. So wird einerseits der Gefahr entgegengetreten, Heideggers Konzeption auf eine reine Anthropologie zu reduzieren, andererseits eröffnet sich die Möglichkeit, nach einer Nähe zwischen Bubers Dialogik und Heideggers späterem, konsequent seinsgeschichtlichen Denken zu fragen. Wenn Heideggers Ansatz vorhin als Distanzierung vom neuzeitlichen Subjektivitätsprinzip charakterisiert wurde, so sollte dies also nicht bedeuten, dass im Vergleich mit Buber die – dessen Konzeption fremde – ›Seinsfrage‹ nicht berücksichtigt wird; jedoch soll hier vornehmlich ihre Rolle bei der Bestimmung des Wesens des Menschen im Mittelpunkt stehen, d. h. die Bedeutung des menschlichen Seinsbezugs bei der heideggerschen Neubestimmung von Subjektivität. 17 Als ein Leitfaden für den geplanten Vergleich zwischen Bubers und Heideggers Denken bietet sich die Thematisierung des Phänomens Sprache in den beiden Konzeptionen an. Beide Denker reflektieren schließlich ausdrücklich auf die Eigenart des philosophischen Redens, beide thematisieren das Miteinandersprechen als wesentliche Weise, mit Anderen zu sein, und sowohl bei Buber als auch bei Heidegger findet sich die Konzeption eines das konkrete menschliche Sprechen übersteigenden ›Zwiegesprächs‹. Zudem findet im Denken beider Philosophen so etwas wie ein ›linguistic turn‹ statt – eine ausdrückliche Hinwendung zur Sprache, welche ganz bewusst andere Akzente setzt

Dass sich – vor allem auch unter Einbeziehung der frühen Freiburger Vorlesungen und Texte – das Streben nach einer solchen Neubestimmung als wesentliche Kontinuität in Heideggers Denken herausstellen lässt und dass dies keineswegs bedeuten muss, Heideggers Konzeption als reine Anthropologie zu lesen, belegt auf eindringliche Weise Dieter Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910–1976, Frankfurt a. M. 1990.

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als die Konzeptionen der im 20. Jahrhundert so dominanten Analytischen Philosophie. 18 Das Thema ›Sprache‹ war es schließlich auch, das Ende der 50er Jahre zu den beiden persönlichen Begegnungen Heideggers und Bubers führte, die bislang bekannt sind: 19 Sie trafen sich im Frühjahr 1957 und im Sommer 1958 im Rahmen zweier Arbeitsbesprechungen zu einer Tagung, welche sich im Januar 1959 in München und Berlin dem Phänomen der Sprache widmen sollte und an der beide als Vortragende teilnehmen wollten. Letztlich konnte Buber jedoch zu dieser Tagung nicht anreisen, weil seine Frau Paula Buber-Winkler einige Monate zuvor verstorben war. Auf Bubers Anregung hin wurde schließlich im Juli 1960 in München eine – kleiner gehaltene – Fortsetzung der Tagung unter dem Titel »Wort und Wirklichkeit« veranstaltet, auf der Buber mit »Das Wort, das gesprochen wird« den Eröffnungsvortrag hielt. 20 Über das Zusammentreffen der beiden Denker bei den Vorbereitungsveranstaltungen ist jedoch kaum etwas bekannt. Allerdings geben Hans Fischer-Barnicol und Clemens Podewils, der damalige Generalsekretär der Bayerischen Akademie und Mitorganisator der Tagung, in ihren Beiträgen zum Band Erinnerung an Martin Heidegger einige Hinweise auf die Umstände und Gestaltung dieser beiden Begegnungen. So berichtete Buber laut Fischer-Barnicol von einem Spaziergang mit Heidegger, bei dem sie ohne Vorbehalte miteinander gesprochen hätten. 21 Dabei sei von Heidegger auch eine Einladung auf die berühm18 Jedoch wird eine Unüberbrückbarkeit des ›Grabens‹ vor allem zwischen der Sprachkonzeption Heideggers und der Analytischen Philosophie zunehmend in Frage gestellt; so demonstrieren u. a. folgende Beiträge, dass ein Gespräch zwischen Heidegger und Hauptvertretern der Analytischen Philosophie sehr wohl möglich ist: Dagmar Borchers, Der große Graben – Heidegger und die Analytische Philosophie, Frankfurt a. M. u. a. 1997; Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, 2. Aufl., Stuttgart 2003 und Udo Tietz, Sprache und Verstehen in analytischer und hermeneutischer Sicht, Berlin 1995. 19 Zudem berichtet Werner Kraft, dass Buber vermutlich Heideggers Vortrag »Dichten und Denken. Zu Stefan Georges Gedicht ›Das Wort‹« (am 11. 05. 1958 in Wien) gehört habe; vgl. Werner Kraft, Gespräche mit Martin Buber, München 1966, 80. 20 Zur ausführlicheren Dokumentation der Vorbereitungen zur Sprachtagung vgl. den Kommentar Asher Biemanns zu Bubers Vortrag »Das Wort, das gesprochen wird«, in: Martin Buber Werkausgabe. Band 6: Sprachphilosophische Schriften, bearb., eingel. und komm. von Asher Biemann, Gütersloh 2003, 178–183. Dieser Band wird im Folgenden zitiert als MBW VI. 21 Buber habe einen direkten Kontakt mit Heidegger nach eigener Aussage zunächst

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te Hütte in Todtnauberg ausgesprochen worden, die Buber allerdings nicht angenommen habe. 22 Trotz dieser Überlieferungen muss man aber wohl Biemann folgen, der konstatiert, dass Bubers Begegnung mit Heidegger ein immer noch »eher undurchsichtiges Kapitel in beider Biographien« (MBW VI, 67) darstellt. Deutlich zu Tage tritt hingegen eine inhaltliche Auseinandersetzung Bubers mit Heidegger: Sein Vortrag »Das Wort, das gesprochen wird« enthält einige offenkundige Seitenhiebe in Richtung des heideggerschen Sprachdenkens bzw. Heideggers Beitrages »Der Weg zur Sprache« von der Tagung im Januar 1959. Doch auch in etlichen seiner früheren Texte geht Buber – mal ausführlicher, mal nur sehr knapp – auf Heideggers Denken ein. Die eingehendsten Diskussionen der heideggerschen Philosophie finden sich in den Schriften Das Problem des Menschen (1943) sowie Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie (1952). Im ersten der beiden Werke geht Buber vor allem auf die Daseinsanalyse in Sein und Zeit kritisch ein. In Gottesfinsternis dagegen reflektiert er auf einige Aspekte der Philosophie Heideggers nach der ›Kehre‹. Während die Erwähnungen Heideggers in zahlreichen Schriften Bubers nahelegen, dass dieser die Entwicklung des heideggerschen Denkens mit Interesse verfolgt hat, 23 scheint auf Seiten Heideggers keine eingehendere Rezeption der buberschen Konzeption stattgefunden zu haben. Wenn in dessen Texten hin und wieder von einem sog. Ich-Du-Verhältnis die Rede ist, dann nennt er zumindest keine Namen vermieden – es wird deutlich, dass Heideggers Rektorat Buber hat zögern lassen. Dann habe sich Buber aber von einer kleinen Hebel-Lesung Heideggers geradezu ›bezaubern‹ lassen; vgl. Hans A. Fischer-Barnicol, »Spiegelungen – Vermittlungen«, in: Erinnerung an Martin Heidegger, hrsg. von Günther Neske, Pfullingen 1977, 87–103, hier: 90 f. 22 Vgl. Fischer-Barnicol 1977, 91 f. Siehe auch den Brief Fischer-Barnicols an Buber vom 03. 11. 1964, wo er auf Bubers Ablehnung der Einladung auf die Hütte eingeht; vgl. Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. 3 Bände, hrsg. und eingel. von Grete Schaeder, hier: Band III: 1938–1965, Heidelberg 1975, 623 ff. 23 So reagiert er – wenn auch oft beiläufig und die Thesen stark verkürzend – immer wieder auf neue Schriften Heideggers, etwa in »Zur Situation der Philosophie« (1948), »Geltung und Grenze des politischen Prinzips« (1953), »Der Mensch und sein Gebild« (1955), »Dem Gemeinschaftlichen folgen« (1956), »Rosenzweig und die Existenz« (1956), »›Seit ein Gespräch wir sind‹. Bemerkungen zu einem Vers Hölderlins« (1957) und »Gläubiger Humanismus« (1963). Zudem sagte Buber Günther Neske zu, einen Beitrag für eine Festschrift anlässlich Heideggers 70. Geburtstages zu schreiben, konnte diesen jedoch aus gesundheitlichen Gründen schließlich nicht liefern. Geplant waren Ausführungen zum hebräischen Verb ›haja‹ (›sein‹); vgl. dazu MBW VI, 67.

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– am wahrscheinlichsten ist eine Vermittlung dieses Gedankens durch Löwiths schon genannte Habilitationsschrift. Dass Heidegger jedoch – wie Fischer-Barnicol vermutet – gar nichts von Buber selbst gelesen hat, 24 lässt sich inzwischen widerlegen: So hat er offensichtlich Bubers Aufsatz »Religion und modernes Denken« 25 zur Kenntnis genommen, in dem sich Buber u. a. auch mit Heidegger auseinandersetzt. Sein Kommentar gegenüber Hannah Arendt kann jedoch – trotz einer sich zuvor ausdrückenden wohlwollenden Haltung gegenüber Buber – nicht anders als ›vernichtend‹ genannt werden: »[…] von der Philosophie hat er offenbar keine Ahnung; er braucht sie für sich wohl auch nicht.« 26 Sehr bemerkenswert ist hingegen eine briefliche Äußerung Heideggers gegenüber seiner Frau Elfride, in der Bubers Aufsatz »Hoffnung für diese Stunde« 27 als »ausgezeichnet« beurteilt wird. 28 Doch auch wenn auf beiden Seiten ein Zur-Kenntnis-Nehmen der jeweils anderen Konzeption ausgemacht werden kann – die Beziehung beider Denker zueinander kann durchaus mit dem buberschen Ausdruck der »Vergegnung« 29 beschrieben werden. Denn obwohl Buber Siehe Fischer-Barnicol 1977, 93. 1952 im Merkur erschienen, später in Gottesfinsternis eingefügt; vgl. Martin Buber, Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie, in: ders., Werke. Erster Band: Schriften zur Philosophie, München/Heidelberg 1962, 503– 603, hier: 550 ff. Im Folgenden wird dieser Band zitiert als W I. 26 Vgl. Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925–1975 und andere Zeugnisse, aus den Nachlässen hrsg. von Ursula Ludz, 3., durchges. und erw. Aufl., Frankfurt a. M. 2002, 134. 27 Ebenfalls zuerst im Merkur publiziert, dann aufgenommen in den Band Hinweise; vgl. Martin Buber, »Hoffnung für diese Stunde«, in: ders., Hinweise. Gesammelte Essays, Zürich 1953, 312–326. Im Folgenden wird diese Essaysammlung zitiert mit der Sigle H. 28 Vgl. »Mein liebes Seelchen!« Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915– 1970, hrsg., ausgew. und komm. von Gertrud Heidegger, München 2007, 279. Zu diesem sehr aufschlussreichen Kommentar, in dem Heidegger sich auch inhaltlich etwas ausführlicher zu Bubers Konzeption äußert, siehe die abschließende Diskussion von Heideggers seinsgeschichtlichem und Bubers dialogischem Denken (Schluss). Zudem war Heidegger bestens vertraut mit Martin Bubers Ausgabe der »Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse« (1910); vgl. Reinhard May, Ex oriente lux. Heideggers Werk unter ostasiatischem Einfluß. Im Anhang: Tamio Tezuka: Eine Stunde bei Heidegger (japanisch/ deutsch), Wiesbaden 1989, 16, 58 und 66. 29 Mit diesem bekannt gewordenen Ausdruck beschreibt Buber die missglückte – oder besser: letztlich nicht existente – Beziehung zu seiner Mutter, welche die Familie verließ, als Buber noch ein kleines Kind war; siehe Martin Buber, Begegnung. Autobiographische Fragmente, 2. Aufl., Stuttgart 1961, 6. 24 25

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dezidiert Stellung gegenüber der Philosophie Heideggers bezieht, findet eine intensive und differenzierte Auseinandersetzung mit dieser in seinen Schriften letztlich nicht statt. Erst recht hat sich Heidegger nie wirklich auf die Grundkonzeption der Dialogik – d. h. den Aufweis der Möglichkeit eines echten ›Einandergegenübers‹ – eingelassen bzw. nie ausdrücklich nach einer möglichen Nähe zwischen dem dialogischen Denken und seiner eigenen Philosophie gefragt. 30 Wenn nun versucht werden soll, dieser tatsächlichen ›Vergegnung‹ eine inszenierte ›Begegnung‹ beider Denker entgegenzusetzen, muss – wie bei jedem Vergleich unterschiedlicher philosophischer Konzeptionen – Folgendes beachtet werden: Trotz der Suche nach Gemeinsamkeiten darf das je Eigene der beiden Konzeptionen nicht verdeckt oder verwischt werden. So eint Buber und Heidegger das Ziel einer Überwindung des neuzeitlichen Subjektivitätsprinzips, wobei die Deutung der ›Sprachlichkeit‹ menschlichen Seins hier wie dort eine zentrale Rolle spielt – doch bilden beide Denker ihre eigene Terminologie aus und beschreiben auch dann, wenn sie dieselben Begriffe wählen, nicht zwangsläufig dasselbe Phänomen. 31 Das bedeutet für den angestrebten Vergleich: Dieser darf sich weder die Begrifflichkeit Heideggers noch die Bubers zu eigen machen, sondern muss strenggenommen beiden gegenüber gleichermaßen Distanz wahren. 32 Um eine gleichsam ›dritte‹ Sprache zu finden, in welcher über beide philosophischen Entwürfe gesprochen werden kann, ohne der einen mehr ›Gewalt‹ anzutun als der anderen, soll zu Beginn des eigentlichen Vergleichs ein Leitmotiv für die gesamte Untersuchung vorgestellt werden. Dabei wird einerseits an Metaphern und Motive angeknüpft, die im Denken beider Philosophen zu finden sind, andererseits ist durch die Einführung dieser bildlichen Ebene die Gefahr gebannt, die eine Konzeption beständig durch die Begrifflichkeit

Siehe dazu auch Helmut Vetter, »Heidegger im Kontext der dialogischen Philosophie – mit Blick auf E. Grisebach«, in: Kultur – Kunst – Öffentlichkeit. Philosophische Perspektiven auf praktische Probleme. Festschrift für Otto Pöggeler zum 70. Geburtstag, hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Elisabeth Weisser-Lohmann, München 2001, 157–171. 31 Dies wird sich u. a. in Bezug auf die Rede vom ›Begegnen‹ zeigen. 32 Dass dies nicht immer gelingen kann, wird jedoch allein dann deutlich, wenn eine Überschrift für die einzelnen Abschnitte gefunden werden muss, unter der beide Konzeptionen behandelt werden können. 30

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der anderen zu fassen und an ihr zu messen. 33 Gleichzeitig wird so ein Rahmen dafür geschaffen, den Vergleich konsequent im Sinne eines Gesprächs zu arrangieren, in welchem beide Konzeptionen zunächst – scheinbar unabhängig voneinander – selbst zu Wort kommen, ihr eigenes Profil jedoch erst im Lichte des jeweils anderen Entwurfs gewinnen. Das bedeutet: Was in den Einzelinterpretationen von Heideggers und Bubers Konzeptionen zu Wort kommt ist stets schon geprägt durch das fragende und hörende Bezogensein auf die philosophische Rede des anderen. Insgesamt ergibt sich nun folgende Gliederung für den geplanten Vergleich: In einem ersten Teil wird Heideggers Denken der 20er Jahre mit Bubers Dialogik in Beziehung gesetzt. Der Fokus liegt dabei im Rahmen des heideggerschen Denkens auf der Konzeption von Sein und Zeit, d. h. der Fundamentalontologie. Diese Gegenüberstellung von Heideggers Daseinsanalyse und Bubers dialogischem Denken wird in sechs Abschnitte unterteilt, die jeweils ein bestimmtes Thema oder Phänomen in den Blick nehmen und im abschließenden Kapitel einen zusammenfassenden Vergleich zwischen Heideggers und Bubers Ansatz vornehmen. Wie schon erwähnt soll ein Schwerpunkt auf der Interpretation der beiden Sprachkonzeptionen liegen, es müssen aber auch andere grundlegende Aspekte der beiden Entwürfe ausführlicher besprochen werden, um einen angemessenen Vergleich der beiden Versuche einer Neubestimmung von ›Subjektivität‹ durchführen zu können. Abschnitt I stellt zunächst die Frage nach der Aufgabe von Philosophie und ihrem sprachlichen Vollzug bei beiden Denkern. Dabei wird auch das eben angekündigte Leitmotiv für den gesamten Vergleich präsentiert. Anschließend soll die Bestimmung des Verhältnisses von ›Ich‹ und ›Welt‹ in beiden Konzeptionen untersucht werden, d. h. auch die Thematisierung der Dimension des menschlichen Miteinanderseins. Eingeleitet wird dieser zweite Abschnitt durch einen Exkurs zum ›ich bin‹ in Heideggers frühen Freiburger Texten und Ebners Das Wort und die geistigen Realitäten. Abschnitt III widmet sich schließlich der Bestimmung von Sprache in Heideggers Denken Mitte bis Ende der 20er Jahre sowie in Bu33 Auf die Gefahr der ›Gleichmacherei‹ und das in ihr liegende ›Gewaltpotential‹ weisen Buber und – vor allem der späte – Heidegger schließlich selbst durch ihre Konzeptionen von Gespräch und Übersetzung nachdrücklich hin.

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Einleitung

bers Dialogphilosophie. Dabei werden Bezüge zu Husserls ›Sprachkonzeption‹ auf der einen und den Gedanken bedeutender Dialogiker wie Rosenzweig und Rosenstock-Huessy auf der anderen Seite hergestellt. Abschnitt IV fragt in direktem Anschluss an das Sprachkapitel nach den Konzeptionen von Wahrheit und Wahrhaftigkeit bei beiden Denkern, bevor in Abschnitt V schließlich eine ausgezeichnete ›Rede‹ bei beiden Philosophen in den Mittelpunkt rückt: der Gewissensruf als Artikulation von ›Selbstverantwortung‹ bei Heidegger und das Geschehen dialogischer Verantwortung bei Buber als Ereignis echter ›Zwiesprache‹. Zuletzt wird der Bestimmung von Zeit und Zeitlichkeit in Heideggers Schriften der 20er Jahre nachgegangen und nach einem möglichen Zeitdenken mit Buber gefragt. Zugleich präsentiert dieser Abschnitt VI eine Zusammenfassung der Ergebnisse des gesamten bisherigen Vergleichs im Hinblick auf die Dimension der Zeit und leitet zur Thematisierung von Heideggers Denken nach der ›Kehre‹ über. Diese wird schließlich im zweiten Teil der Arbeit vorgenommen, der sich erneut in sechs Abschnitte gliedert. Der Schwerpunkt soll dabei auf Heideggers Denken zur Sprache nach Sein und Zeit liegen. Dieser zweite Teil wird deutlich kürzer ausfallen als der erste, weil er von der hier bereits dargestellten Gesamtkonzeption Bubers und den herausgestellten Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dieser und der heideggerschen Fundamentalontologie ausgeht und gezielt nach einer möglichen Annäherung zwischen Heideggers späterem Entwurf und einem ›dialogischen Denken‹ fragt. 34 In den Blick rückt dabei zunächst die Distanzierung von traditionellen Sprachauffassungen in Heideggers Texten direkt nach Sein und Zeit, d. h. zwischen 1929 und 1934 (Abschnitt I). Nach einer Diskussion von Heideggers Engagement als Rektor 1933/34 im zweiten Abschnitt wird seine Hinwendung zur Kunst, vor allem zur Dichtung Hölderlins, ausführlich thematisiert. Anschließend wird in Abschnitt IV Heideggers Konzeption eines ›eigentlichen‹ Philosophierens und Sprechens als endgültige Überwindung der Metaphysik interpretiert, bevor die Bestimmung von Sprache in den Texten der 50er Jahre in den Blick rückt. Der zweite Teil endet mit einem Vergleich des heideggerschen Denkens nach der sog. ›Kehre‹ mit der früheren Konzeption der FunSo spricht Theunissen vom »der Dialogik in mancher Hinsicht tief verbundene[n] Seinsdenken des späten Heidegger«, ohne dieser Spur weiter nachzugehen; vgl. Theunissen 1977, 498.

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Einleitung

damentalontologie, wobei auch die Frage nach der treffendsten Bezeichnung für diesen ›Wandel‹ in Heideggers Denken diskutiert wird. Der abschließende Vergleich von Heideggers seinsgeschichtlichem und Bubers dialogischem Denken fragt nach der möglichen Anbahnung einer echten ›Begegnung‹ zwischen den Konzeptionen. Die zentralen Ergebnisse der gesamten Untersuchung wieder aufgreifend stellt dieser Abschnitt zugleich den Abschluss des gesamten Vergleichs dar.

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Teil I: Heideggers Fundamentalontologie und Bubers dialogisches Denken

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Abschnitt I: Die Aufgabe von Philosophie und ihr sprachlicher Vollzug

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Heidegger: Echt verstandene Phänomenologie als Fragen nach dem Sinn von Sein

Die Frage ›Was ist Philosophie?‹ ist in nahezu allen Vorlesungen Heideggers zwischen 1919 – dem Jahr, aus dem die frühesten erhaltenen Vorlesungen stammen – und 1927, dem Erscheinungsjahr von Sein und Zeit, präsent. Die Bestimmung dessen, was Philosophie ausmacht, vollzieht sich dabei stets in einer Auseinandersetzung mit den leitenden Begriffen und Ideen von Weltanschauung und Wissenschaft und hält sich in einem ständigen, wenn auch oftmals indirekten Gespräch mit der husserlschen Phänomenologie. 1 Im Fokus der frühen Freiburger Vorlesungen (1919–1923) steht das Bemühen, einen phänomenologischen Zugang zur faktischen Lebenserfahrung zu finden. 2 Philosophie ist für Heidegger hier weder den Einzelwissenschaften gleichzusetzen, noch sei es ihre Aufgabe, eine Weltanschauung auszubilden. 3 In seiner Vorlesung im Kriegsnotsemester 1919 nennt Heidegger die Philosophie – als Phänomenologie – eine »vortheoretische Urwissenschaft« 4 ; im WS 1919/20 charakteriEs ist oft bemerkt worden, dass Husserl in den Vorlesungen dieser Zeit nur eine »marginale Rolle« zu spielen scheint; vgl. Oliver Cosmus, Anonyme Phänomenologie. Die Einheit von Heideggers Denkweg, Würzburg 2001, 17. Tatsächlich werden andere zeitgenössische Konzeptionen (Diltheys Lebensphilosophie oder der Neukantianismus) sehr viel eingehender diskutiert, doch weil Heidegger von Beginn an Philosophie als Phänomenologie vorstellt, ist Husserls Grundansatz beständig mitthematisch. 2 Siehe als ausführliche Thematisierung des Philosophiebegriffs der frühen Freiburger Vorlesungen Georg Imdahl, Das Leben verstehen. Heideggers formal anzeigende Hermeneutik in den frühen Freiburger Vorlesungen. (1919–1923), Würzburg 1997. 3 Zentrale Bezugstexte bei der Abgrenzung der Philosophie von Wissenschaft und Weltanschauung sind Husserls »Philosophie als strenge Wissenschaft« und Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen. 4 Martin Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, in: 1

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siert er sie als »Ursprungswissenschaft des faktischen Lebens an sich« 5 . Besonders einsichtig wird die Grundtendenz dieser frühen Vorlesungen Heideggers bezüglich einer Situierung der Philosophie zwischen Wissenschaft und Weltanschauung jedoch in der Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks vom SS 1920: Es geht Heidegger hier ausdrücklich nicht darum, nach einer Brücke zwischen Wissenschaft und Weltanschauung zu suchen, sondern diese Scheidung selbst als eine solche aufzuzeigen, die »an der Wurzel unecht ist […], weil sie in einer Dimension ›vollzogen‹ ist, die dem Ursprünglichen gegenüber, in dem verbleibend Philosophie sich expliziert, sekundär abgesetzt und verdinglicht ist« 6 . Als diese Ursprungssphäre jeglicher Einzelwissenschaft sowie jeglicher Weltanschauung zeigt sich jedem echt hinsehenden Philosophen nach Heidegger: das »selbstweltliche Dasein« (GA 59, 75). 7 Schon hier deutet sich die ›Transformation‹ der Bewusstseinsphänomenologie Husserls in eine »Hermeneutik der Faktizität« an, die schließlich in der so betitelten Vorlesung vom SS 1923 ihren prägnantesten Ausdruck findet. 8 Philosophie wird hier präsentiert als »die im ders., Zur Bestimmung der Philosophie, hrsg. von Bernd Heimbüchel, Frankfurt a. M. 1987 (GA 56/57), 1–117, hier: 63. 5 Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, hrsg. von Hans-Helmuth Gander, Frankfurt a. M. 1992 (GA 58), 65. 6 Martin Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung, hrsg. von Claudius Strube, Frankfurt a. M. 1993 (GA 59), 12. 7 Insgesamt zeigt sich jedoch, dass Heideggers Bestimmung der Philosophie in Bezug auf die beiden möglichen Beschreibungsmodelle Wissenschaft und Weltanschauung in den 20er Jahren durchgehend schwankt. So bezeichnet er die Philosophie 1919/20, wie gesehen, durchaus als eine spezifische Wissenschaft, eben als ›Urwissenschaft‹ ; 1920/21 jedoch konstatiert er einen »prinzipielle[n] Unterschied zwischen Wissenschaft und Philosophie«; vgl. Martin Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, in: ders., Phänomenologie des religiösen Lebens, hrsg. von Matthias Jung und Thomas Regehly, Frankfurt a. M. 1995 (GA 60), 1–156, hier: 3. Später charakterisiert er wiederum die Philosophie als »absolute Wissenschaft vom Sein«; siehe Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2005 (GA 24), 15. In der ersten Vorlesung in Freiburg nach Heideggers Rückkehr heißt es dann: »Philosophie ist schon, von Grund aus, Weltanschauung, und zwar notwendig in der Weise der Haltung, was einen bestimmten Bezug zur Bergung einschließt.« (GA 27, 379) 8 Heidegger entlarvt Husserls Bewusstseinsphänomenologie als »Sorge um die erkannte Erkenntnis« – sie entferne alles, was eine absolute Evidenz und Gewissheit gefährden könnte. Somit ist sie für Heidegger nichts anderes als eine »Angst vor dem Dasein«; vgl.

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faktischen Leben selbst seiende Weise des Erkennens, in der faktisches Dasein sich rücksichtslos zu sich selbst zurückreißt und unnachsichtlich auf sich selbst stellt« 9 . Mit der Betonung eines immer historischen, situationsgebundenen Interpretierens der Existenz geht eine beständige Warnung vor jeglichen ›Objektivierungstendenzen‹ innerhalb der Philosophie und ihren Begriffsbildungen einher. Schon in Grundprobleme der Phänomenologie im WS 1919/20 beschreibt Heidegger echtes Philosophieren als »sich ständig neu bis auf den Grund aufwühlendes, nie ruhendes Problembewußtsein«, als eine »Angelegenheit lebendigen, persönlichen Seins und Schaffens« (GA 58, 5). Indem Philosophieren so als leidenschaftliches, dabei in einem ursprünglichen Sinne strenges 10 Problematisieren der »trivialsten Trivialitäten« (GA 58, 36) aufgefasst wird, enthüllt Heidegger zugleich die Sehnsucht nach allgemein verbindlichen Voraussetzungen als »die maskierten Schreie der Angst vor der Philosophie« (GA 63, 19). Die Wandlung der heideggerschen Philosophieauffassung von einer Hermeneutik des faktischen Lebens zur Artikulation der Seinsfrage kann jetzt als eine Radikalisierung des phänomenologischen Demaskierungsgestus gefasst werden, der sich in den oben skizzierten Forderungen nach einer unnachgiebigen Rücksichtslosigkeit des philosophischen Fragens bereits ausdrückt: Durch die ab Mitte der 20er Jahre fokussierte »Frage nach dem Sinn von Sein« 11 will Heidegger Martin Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1994 (GA 17), 97. Zur prägnanten Unterscheidung zwischen der reflexiven Haltung der husserlschen Phänomenologie und Heideggers Konzeption einer »a-theoretisch-hermeneutischen« Phänomenologie siehe Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Hermeneutik und Reflexion. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, Frankfurt a. M. 2000 sowie Manfred Riedel, »Zur Urstiftung der phänomenologischen Hermeneutik. Heideggers frühe Auseinandersetzung mit Husserl«, in: Phänomenologie im Widerstreit, hrsg. von Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Frankfurt a. M. 1989, 215–233. 9 Martin Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, hrsg. von Käte BröckerOltmanns, Frankfurt a. M. 1988 (GA 63), 18. 10 In deutlicher Anspielung auf Husserl behauptet Heidegger, die der Philosophie eigentümliche Strenge sei »ursprünglicher als alle wissenschaftliche Strenge«, denn es gehe in jedem echten Philosophieren darum, »das Bekümmertsein in seiner ständigen Erneuerung in die Faktizität des Daseins zu erheben und das aktuelle Dasein letztlich unsicher zu machen« (GA 59, 174). 11 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 18. Aufl., unveränd. Nachdr. der 15., an der Hand der Gesamtausg. durchges. Aufl. mit den Randbemerkungen aus dem Handexemplar des Autors im Anh., Tübingen 2001, 1. Im Folgenden zitiert als SZ.

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die Phänomenologie schließlich in ihre »eigenste und reinste Möglichkeit« 12 zurückbringen. Indem die recht verstandene Phänomenologie nun nach Heidegger nichts anderes als eine »Fundamentalontologie« 13 sein kann, avanciert das ›Sein‹ zum »echte[n] und einzige[n] Thema der Philosophie« (GA 24, 15). Folgende grobe Schritte auf dem Weg hin zur Beschränkung des Philosophierens auf die ›Fundamentalfrage‹ nach dem Sein werden in den Vorlesungen ersichtlich: Im Ausgang von der Herausstellung des faktischen Lebens nimmt Heidegger zunächst eine ›Ontologisierung‹ des Lebensvollzugs vor und arbeitet somit wesentliche Teile der späteren Daseinsanalyse aus. Gefragt wird zunächst also ausschließlich nach dem spezifischen Sein des Daseins – ein Fragen, welches nicht zuletzt Husserls Phänomenologie laut Heideggers Ausführungen in der Vorlesung Einführung in die phänomenologische Forschung (WS 1923/24) versäumt. 14 Erst in einer zweiten Zuspitzung des radikalen Fragens rückt schließlich das Sein überhaupt in den Mittelpunkt des heideggerschen Philosophierens. 15 Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, hrsg. von Petra Jaeger, 3., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1994 (GA 20), 184. 13 Heideggers Gebrauch des Begriffs »Fundamentalontologie« ist nicht einheitlich: In Sein und Zeit entsteht nicht selten der Eindruck, gemeint sei lediglich die existenziale Analytik des Daseins (vgl. etwa SZ 14 und 194 sowie GA 24, 319 f.), wobei beständig betont wird, dass diese zur Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt hinführe; siehe SZ 37. Dann wiederum wird als »fundamentalontologische Problematik« die Seinsfrage ausgegeben und von der »fundamentalontologischen Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt« gesprochen; siehe SZ 183, 196, 316, 406 sowie § 83. In Metaphysische Anfangsgründe der Logik (1928), wo der Übergang zu einer »Metaphysik des Daseins« und einer »Metontologie« hin proklamiert wird, wird die Fundamentalontologie als in sich dreischrittig charakterisiert: Zu ihr als »Grundlegung der Ontologie überhaupt« gehöre 1) die Interpretation des Daseins als Zeitlichkeit, also die Analytik des Daseins; 2) die temporale Exposition des Seinsproblems, also die Analytik der Temporalität des Seins, und 3) der »Umschlag« bzw. die »Kehre« hin zur »Metontologie«; vgl. Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, hrsg. von Klaus Held, Frankfurt a. M. 1978 (GA 26), 196 f. und 201. Vgl. zur engeren und weiteren Bedeutung der ›Fundamentalontologie‹ auch Emil Kettering, Nähe. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen 1987, 98. 14 Vgl. etwa GA 17, 274. 15 Den Weg hin zur Konzeption von Sein und Zeit vollzieht Kisiels umfassende Untersuchung nach; vgl. Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s »Being and Time«, Berkeley u. a. 1993. Heidegger selbst nennt bekanntlich in »Mein Weg in die Phänomenologie« Franz Brentanos Dissertation über Aristoteles und Carl Braigs Schrift Vom Sein als frühe Anstöße für die Entwicklung der Seinsfrage; vgl. Martin Heidegger, »Mein Weg in die Phänomenologie«, in: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, 12

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Diese Engführung des philosophischen Fragens auf eine vor allen anderen Selbstverständlichkeiten zu entlarvende ›Trivialität‹ soll nun eingehend interpretiert werden. Da das Ziel dieser Auslegung der anschließende Vergleich mit Bubers Konzeption darstellt, steht die Analyse des heideggerschen Philosophiebegriffs unter einem spezifischen Hinblick: Was bedeutet diese Beschränkung des Philosophierens auf die eine Frage? Wie kann das Verhältnis von Dasein und ›Sein‹ von Heideggers Ausführungen ausgehend beschrieben werden und wie gestaltet sich vor dem Hintergrund dieser Voraussetzungen das Philosophieren als ausdrückliches Sprachgeschehen? In Sein und Zeit und den begleitenden Marburger Vorlesungen nähert sich Heidegger in jeweils unterschiedlicher Weise der Kernthese von der Ausgezeichnetheit der ›Seinsfrage‹ an. Während die Vorlesungen Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (SS 1925) und Die Grundprobleme der Phänomenologie (SS 1927) über einen Umweg zur Herausstellung der Dringlichkeit einer Wiederholung dieser Frage führen – über eine ausführliche Darstellung der Phänomenologie Husserls bzw. über eine »phänomenologisch-kritische Diskussion einiger traditioneller Thesen über das Sein« (GA 24, 35) –, setzt Heidegger in Sein und Zeit unmittelbar mit der Erklärung der Notwendigkeit des Forschens nach dem Sein ein. Was die beiden Vorlesungen in umfassenden Interpretationen einschlägiger ontologischer Annahmen von Konzeptionen der Antike bis hin zur modernen Logik aufweisen möchten, inszeniert das Sein und Zeit einleitende ›Vorwort‹ 16 in einer unerreichten Eindringlichkeit, indem es behauptet, ein radikales, echtes Fragen nach dem Sinn 81–90, hier: 81 f. (Im Folgenden wird das Buch zitiert als ZSD). Besonders in der Vorlesung zum Sophistes (WS 1924/25) wird jedoch die neue Orientierung an dem zu erfragenden Sein deutlich. Die Überschrift eines Paragraphen heißt: »Die Vergessenheit der Frage nach dem Sinn von Sein. Zur Ausarbeitung dieser Frage auf dem Boden einer Hermeneutik des Daseins« (siehe Martin Heidegger, Platon: Sophistes, hrsg. von Ingeborg Schüßler, Frankfurt a. M. 1992 (GA 19), § 65). Heidegger behauptet hier nachdrücklich: Die »Frage nach dem Sinn von Sein steht am Anfang, weil sie jeder konkreten Frage nach der bestimmten Seinsstruktur eines Seienden die mögliche sinnmäßige Führung geben muß« (GA 19, 447 f.). Eine umfassende Interpretation der Entwicklung des heideggerschen Denkens bis zur Sophistes-Vorlesung bietet Markus J. Brach, Heidegger – Platon. Vom Neukantianismus zur existenziellen Interpretation des »Sophistes«, Würzburg 1996. 16 Als ein solches bezeichnet Heidegger den vorangestellten Text in der 1949 erschienenen Einleitung zur 5. Auflage von »Was ist Metaphysik?«; vgl. Martin Heidegger, »Ein-

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von Sein sei bislang versäumt worden. Das hier angeführte Zitat aus dem Sophistes soll demonstrieren, wie die ›Seinsfrage‹ die antiken Denker – Platon und Aristoteles – noch »in Atem« hielt und in die »Unruhe trieb«, während uns heute diese »Verlegenheit« nach Heidegger völlig befremdet. § 1 von Sein und Zeit skizziert anschließend wie im Zeitraffer den Prozess des »Vergessens« 17 der Seinsfrage als eine Geschichte der Trivialisierungen, Verzerrungen und Verfremdungen des von den Griechen – wenn auch nur fragmentarisch – erarbeiteten Bestandes. Den ›Verfall‹ des echten Fragens nach dem Sein setzt Heidegger aber unmittelbar in der Antike selbst an: Schon hier habe »sich ein Dogma ausgebildet, das die Frage nach dem Sinn von Sein nicht nur für überflüssig erklärt, sondern das Versäumnis der Frage überdies sanktioniert« (SZ 2). 18 Eine Kombination dreier Vorurteile macht er als komplexen ›Hinderungsmechanismus‹ aus, der den ursprünglichen Frageeifer zum Verstummen brachte und über Jahrtausende den Diskurs über das Sein regelte: Man glaubte und glaubt immer noch, ›Sein‹ sei erstens der allgemeinste Begriff, daher zweitens undefinierbar und somit drittens völlig selbstverständlich. Doch Heideggers nähere Befragung dieser drei Behauptungen entlarvt die Sicherheit bezüglich des Seins als Trug. Erstens lasse die Besonderheit der Allgemeinheit des Seinsbegriffs, alle gattungsmäßige Allgemeinheit zu übersteigen, diesen Begriff gerade als den »dunkelsten« überhaupt erscheinen. Weiterhin fordere die aus der Allgemeinheit zu Recht gefolgerte Undefinierbarkeit des Seins dazu auf, hier weiterzufragen; drittens habe zwar niemand in »jedem Verhalten zu leitung zu ›Was ist Metaphysik?‹«, in: ders., Wegmarken, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2004 (GA 9), 365–383, hier: 378. 17 Vgl. zur »Vergessenheit« der Seinsfrage GA 19, § 65 und SZ 2, 21, 35 und 49. Man kann demnach schon in Bezug auf das Programm von Sein und Zeit von der Diagnose einer spezifischen ›Seinsvergessenheit‹ sprechen. 18 Vgl. zu Heideggers ambivalenter Beurteilung des Verhältnisses der griechischen Philosophie – hier: Platons und Aristoteles’ – zur Frage nach dem Sinn von Sein GA 19, 190 und 466 f. Einmal wird hier das Forschen nach dem Sein als die philosophische Frage der Griechen bezeichnet, dann wird wiederum behauptet, sie hätte bei den griechischen Denkern keine eigene Formulierung gefunden. Eine Lösung dieses offenkundigen Widerspruchs liegt in folgender Differenzierung: Die Griechen fragten laut Heidegger zwar nach dem Sinn von Sein, beantworteten die Frage aber vorschnell, weil die Antwort ihnen selbstverständlich schien. Die Bestimmung von Sein, die nach Heidegger unausdrücklich die griechische Ontologie leitet, lautet bekanntlich: Sein meint Anwesenheit; vgl. SZ 25.

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Seiendem, in jedem Sich-zu-sich-selbst-verhalten« (SZ 4) ernsthafte Schwierigkeiten mit dem Verständnis des Ausdrucks ›sein‹, doch diese »durchschnittliche Verständlichkeit« (SZ 4) entpuppt sich nach Heidegger gerade als hintergründige »Unverständlichkeit«. So verweist er nachdrücklich auf die Tatsache, dass wir zwar stillschweigend ständig das ›Sein‹ denken und aussprechen, uns unter ihm selbst aber kaum etwas denken können: »Kann man sich so etwas vorstellen wie Sein? Faßt einen beim Versuch dazu nicht der Schwindel?« (GA 24, 18) 19 Ein genaues Hinsehen auf die von Heidegger gewählte Begrifflichkeit zeigt: Die vermeintliche Gewissheit bezüglich des Seins erscheint plötzlich als Bewältigungsversuch einer grundlegenden Unsicherheit. Heidegger präsentiert das Vergessen als gewaltsame »Verstümmelung« (GA 20, 185), als hartnäckige Verdrängung einer Irritation. 20 Ein Akzeptieren der Ungewissheit des Seinsbegriffs würde bedeuten, den ›Schwindel‹ zu ertragen und auf eine das Fragen einschläfernde Medikation – im Sinne eines Zurückgreifens auf traditionelle Meinungen – zu verzichten. Mit der Forderung, sich der Problematik des Seins zu stellen, formuliert Heidegger also erneut – und in verschärfter Form – das Ideal rückhaltloser Aufrichtigkeit. Um die Ausgezeichnetheit der Seinsfrage als erster und tiefster Frage begreifbar zu machen – denn die Entlarvung vorschneller Behauptungen ließe sich ja auch für andere Forschungsgebiete fordern –, muss Heidegger jedoch aufzeigen, inwieweit die Frage nach dem Sinn von Sein eine fundamentale Bedeutung für alle anderen möglichen Fragen der Philosophie, der positiven Wissenschaften, ja des alltägliDer Konzeption der analogia entis steht Heidegger entsprechend ablehnend gegenüber; siehe folgende Bemerkung aus dem SS 1931: »Die Analogie des Seins – diese Bestimmung ist keine Lösung der Seinsfrage, […] sondern der Titel für die härteste Aporie, Ausweglosigkeit, in der das antike Philosophieren und damit alles nachfolgende bis heute eingemauert ist.« (Martin Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Q 1–3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft, hrsg. von Heinrich Hüni, Frankfurt a. M. 1981 (GA 33), 46) Siehe auch die eingehendere Diskussion der Stellung Heideggers zur analogia entis in Jean-François Courtine, »Zwischen Wiederholung und Destruktion – die Frage nach der analogia entis«, in: Heidegger und Aristoteles. Heidegger-Jahrbuch 3, hrsg. von Alfred Denker, Günter Figal u. a., Freiburg/München 2007, 109–129. 20 Heidegger selbst spricht mehrfach von einem »Abdrängen« der Seinsfrage; vgl. GA 26, 19 sowie GA 24, 252 und GA 20, 185. Der Gebrauch des aus der Psychoanalyse entlehnten Begriffs der »Verdrängung« liegt hier vor allem deshalb nahe, weil es sich beim Vergessen der Seinsfrage anscheinend um ein ›motiviertes Vergessen‹ handelt, welches somit strukturell dem von Freud analysierten Phänomen gleicht. 19

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chen Umgangs mit Seiendem generell hat. In letzter Konsequenz muss er behaupten, dass das Fragen überhaupt nur möglich ist aufgrund eines ›Zugangs‹ zum Sein, welches eine Art ›Grundphänomen‹ darstellt, das den Weg zu anderen Phänomenen erst eröffnet. Betrachtet man die drei ›Hauptvorurteile‹ der ontologischen Tradition genauer, dann bezeugen sie nach Heidegger schließlich, dass das Verständnis von Sein all unser Erkennen, Sprechen und Verhalten zu Seiendem überhaupt durchdringt. Unser jeweils konkretes Sein zu uns selbst und zu andersartigem Seienden wurzelt in einem vorgängigen Seinsbezug – das ›Sein‹ ist uns in gewissem Sinne das Vertrauteste schlechthin. Heidegger pointiert: »Wir müssen Sein verstehen, damit wir an eine seiende Welt ausgeliefert sein können, um in ihr zu existieren« (GA 24, 14). Dieses Verstehen von Sein ist dann gegenüber dem konkreten Erfahren des Seienden »in einem bestimmten Sinne früher« (GA 24, 14). Das bedeutet aber auch: Wenn in näherem Nachfragen die »sonnenklare Selbstverständlichkeit« (SZ 2) des Seins sich als trügerisch erweist, meldet sich ein Unbegriffenes, ›Rätselhaftes‹ in all unserem Umgang mit Seiendem. Abgedrängt wurde in der Trivialisierung der Seinsproblematik nach Heidegger also ein für ›unser‹ eigenes Seinkönnen und das alles anderen Seienden konstitutives Vorher im Sinne eines Apriori oder eines ›Ursprungs‹. 21 Indem das Sein somit alles konkrete Seiende sowie deren spezifische Seiendheit übersteigt, ist es nach Heidegger zugleich ein »transcendens«, und zwar nicht eines unter anderen wie in der mittelalterlichen Transzendentalienlehre, sondern ein »transcendens schlechthin« (SZ 38). Das Sein ›ist‹ selbst kein Seiendes wie der Mensch oder die Natur, aber es liegt all diesem Seienden in gewissem Sinne ›zugrunde‹ bzw. ›überschreitet‹ es. 22 Und nur weil das Gefühl des schwankenden Bodens, welches den Fragenden beim Forschen nach dem ›Sein‹ erfasst, unser menschliches Sein als solches trifft und es in sich selbst fraglich werden lässt, wird die fundamentale Verdrängung der Seinsfrage als Flucht in tradierte ›Gewissheiten‹ überhaupt plausibel. Heideggers Philosophieren entpuppt sich somit als das Bedenken Vgl. zur »Apriorität« des Seins GA 24, 26 f. und 461 ff. Blust spricht hier explizit von einer Grundlegungsproblematik; siehe Franz-Karl Blust, Selbstheit und Zeitlichkeit. Heideggers neuer Denkansatz zur Seinsbestimmung des Ich, Würzburg 1987, 14. Indem Heidegger die Erschlossenheit von Sein als »veritas transcendentalis« (SZ 38) bestimmt, entpuppt sich die Grundlegung zugleich als eine spezifische Form von Transzendentalphilosophie. 21 22

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Heidegger: Echt verstandene Phänomenologie als Fragen nach dem Sinn von Sein

eines Ursprungs oder Grundes als Ermöglichung menschlichen Seins und nicht-menschlichen Seins als eines bestimmten Seins. Wenn Heidegger als Ausgang des Fragens nach dem Sinn von Sein ›unser‹ grundlegendes – wenn zumeist auch nur vage ausgebildetes – Seinsverständnis bestimmt, rückt das (menschliche) Dasein in den Fokus des fundamentalontologischen Projektes: Dass ›wir‹ Sein immer schon verstanden haben, ist nach Heidegger keine periphere Eigenart des Menschen, sondern eine ihm wesenhafte Weise zu sein, die dieses Seiende von andersartigem Seienden unterscheidet. Das Früher fragend wieder-holen könne überhaupt nur ein solches Seiendes, das als ontisches zugleich ontologisch verfasst ist, also in seinem Existieren immer schon eine Seinsbeziehung hat. Die Seinsfrage ist somit nach Heideggers Bestimmungen nichts anderes als die »Radikalisierung einer zum Dasein selbst gehörigen wesenhaften Seinstendenz, des vorontologischen Seinsverständnisses« (SZ 15). Oder noch pointierter: »Menschsein heißt schon philosophieren« (GA 27, 2). 23 Indem Sein und Zeit somit den Weg über eine Auslegung – Hermeneutik – der spezifischen Seinsweisen des Daseins geht, schließt die Philosophie als Fundamentalontologie ausdrücklich einen Prozess der ›Selbsterkenntnis‹ 24 des philosophierenden Wesens ein bzw. vollzieht sich wesentlich als eine solche. »Dasein ist ihm selbst ontisch ›am nächsten‹, ontologisch am fernsten, aber vorontologisch doch nicht fremd.« (SZ 16) Das Sichzurückbringen des Seienden Mensch vor die echte Möglichkeit des Fragens nach dem Sinn von Sein entpuppt sich so als das ›Abenteuer‹ der Existenz: Das Dasein selbst sowie die ›Welt‹, in der sich Dasein vollzieht, werden sich im echten Fragen nach dem Sein in einem anderen Licht zeigen als im Abdrängen dieser Fundamentalfrage der Philosophie. Es ist deutlich geworden, dass die heideggersche Konzeption von 23 Eine Identifikation zwischen ›Mensch‹ und ›Dasein‹ muss allerdings mit Vorsicht betrachtet werden. 24 Dieses Motiv arbeitet vor allem Barbara Merker konsequent heraus. In dies., Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserls, Frankfurt a. M. 1988 analysiert sie die Fundamentalontologie als ein »Drama der Selbsterkenntnis« und begreift Sein und Zeit als die Biographie derer, die den Zustand der ›Eigentlichkeit‹ erreicht haben. Cosmus hingegen kritisiert jegliche Interpretationen, welche in Sein und Zeit eine »Art ›Anleitung zur Eigentlichkeit‹ als dem letztlichen Telos aller philosophischen Bemühung« hineinlesen wollen; siehe Cosmus 2001, 53 f.

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Philosophie als einer immer ›tiefer‹ vordringenden »Grund-Freilegung« (SZ 8) in einer fundamentalen Differenz gründet und die ganze Dynamik ihres Fragens aus dieser Unterscheidung bezieht. Indem Heidegger in Sein und Zeit von Beginn an mit dem Gegensatzpaar ontologisch/ontisch operiert – wenn auch ohne ausdrückliche Benennung der »ontologischen Differenz« 25 –, lässt er einerseits einen tiefen Riss zwischen Sein überhaupt und Seiendem aufklaffen, suggeriert aber zugleich eine prinzipielle Zugänglichkeit 26 des Seins, welche die Kluft zu überbrücken scheint. Diese grundlegende Differenz generiert eine Vielzahl von Gegensatzpaaren, durch die Heideggers Ansatz das Springen zwischen ontologischer und ontischer Ebene realisiert. Zentral ist einmal die zeitbezogene Begrifflichkeit: Das Sein ist ›früher‹ und wurde vergessen, kann aber prinzipiell erinnert werden. Vielfach wird auch eine Metaphorik des Sehens und des Lichts verwendet: Das Sein ist zunächst und zumeist verborgen und soll offenbar gemacht werden. Zudem liegt eine topographisch geprägte Begrifflichkeit nahe, um den ›Abstand‹ zwischen Vergessen und Erinnern auszudrücken: Sein ist uns das Fernste und das Nächste zugleich und somit augenscheinlich nicht gänzlich entrückt. Dass dieses Konzept der ausdrücklichen Aneignung eines immer schon ›Gewussten‹ eine Kreisbewegung impliziert, ist offensichtlich. Heidegger selbst thematisiert schließlich die unumgängliche Zirkularität und auffällige »Rück- oder Vorbezogenheit« (SZ 8) der Seinsfrage, die nach etwas sucht, was vorgängig immer schon verstanden ist, und dabei den Weg über die Aufdeckung der Den Begriff der »ontologischen Differenz« als Kennzeichnung der »Scheidung zwischen Sein und Seiendem« prägt Heidegger erst in Die Grundprobleme der Phänomenologie von 1927; vgl. GA 24, 22. Diese Unterscheidung liegt aber der Konzeption der Seinsfrage als solcher von Beginn an zugrunde, wie schon die Ausführungen in der Sophistes-Vorlesung vom WS 1924/25 bezeugen. Max Müller berichtet nach einer mündlichen Mitteilung Heideggers, dass in der ersten Ausarbeitung des nicht erschienenen 3. Abschnitts des 1. Teils von Sein und Zeit eine dreifache Differenz vorgesehen gewesen sei: die transzendentale oder ontologische Differenz im engeren Sinn (der Unterschied des Seienden von seiner Seiendheit), die transzendenzhafte oder ontologische Differenz im weiten Sinne (der Unterschied des Seienden und seiner Seiendheit vom Sein selbst) und drittens die transzendente oder theologische Differenz im strengen Sinne (der Unterschied des Gottes vom Seienden, von der Seiendheit und vom Sein); vgl. Max Müller, Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, Heidelberg 1949, 67. 26 Davon, dass das Sein ›zugänglich‹ ist, spricht Heidegger oft und zumeist gänzlich unbeschwert, vgl. etwa GA 24, 28, 319, 320 und 466 f. 25

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eigentlichen Seinsweise des Fragenden nimmt, die zunächst und zumeist nicht realisiert, aber durchaus ›erreichbar‹ ist. Trotz einer prinzipiellen Näherbarkeit des Seins ist aber fraglich, wie weit dessen Zugänglichkeit tatsächlich reichen soll bzw. was ›Zugänglichkeit‹ hier überhaupt meint. Soll die Beunruhigung, die mit dem Infragestellen der traditionellen Meinungen über das Sein einhergeht, wirklich in einem zweiten Schritt wieder überwunden werden? Kann das Stellen der Seinsfrage den ›Grund‹ unseres konkreten Seins tatsächlich enthüllen im Sinne einer »theoretisch-begriffliche[n] Interpretation des Seins« (GA 24, 15)? Folgende Behauptung Heideggers legt dies nahe: »Das Gesuchte im Fragen nach dem Sein ist kein völlig Unbekanntes, wenngleich zunächst ganz und gar Unfaßliches.« (SZ 6; Hervorhebung M. S.) Das Sein scheint sich nur im ersten radikalen Aufgeben der traditionellen Meinungen als Unbegreifliches zu erweisen, dann aber ›fassen‹ zu lassen. In Einleitung in die Philosophie betont Heidegger ausdrücklich: »Philosophieren heißt das Sein als solches zu begreifen suchen« (GA 27, 217). Ebenso könnte jedoch die Forderung einer Destruktion der ontologischen Vorurteile bedeuten, dass das ›Rätselhafte‹ des Seins grundsätzlich ausgehalten werden muss. So betont Heidegger in Kant und das Problem der Metaphysik geradezu pathetisch, dass wir uns mit der Frage nach dem Sein »an den Rand der völligen Dunkelheit« 27 heranwagten. Es ginge allein darum, »nicht vorzeitig auszuweichen, sondern die volle Eigentümlichkeit des Seinsverständnisses sich näherzubringen« (GA 3, 226 f.). In seiner deutlich späteren Vorlesung über Hölderlins Hymne »Der Ister« (SS 1942) grenzt Heidegger das echte Rätsel von der alltäglichen Bedeutung eines versteckt-verzwickten Zusammenhangs, der aufgelöst werden kann, scharf ab. 28 Er plädiert hier dafür, das Rätsel als Rätsel zu nehmen. Gälte dies auch schon für das Rätselhafte des Seins in Sein und Zeit, dann ginge es im Stellen der Seinsfrage gerade darum, sich dem Un-vorstellbaren als Un-vorstellbaren zu nähern. 29 Die Konzeption der Fundamentalontologie als ›Selbsterkenntnis‹ des Philosophierenden erweitert und verschärft die Frage nach der ZuMartin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1991 (GA 3), 226. 28 Vgl. Martin Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, hrsg. von Walter Biemel, Frankfurt a. M. 1984 (GA 53), 41. 29 Vgl. GA 24, 18. 27

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gänglichkeit noch in einer bestimmten Hinsicht: Wenn das Sein deshalb ›enthüllt‹ werden kann, weil wir durch unser Seinsverstehen bzw. durch die Chance des Verstehens unseres Seins immer schon einen ›Zugang‹ zu ihm haben, dann läge die Bedingung der Möglichkeit der »Erschlossenheit von Sein« (SZ 38) als dem ›Grund‹ alles Seienden als Seienden im Dasein, also im spezifischen Vollzug eines bestimmten Seienden. Heidegger betont schließlich immer wieder: Das Sein gibt es nur, sofern »das existierende Dasein sich selbst so etwas wie Sein gibt« (GA 26, 195). An anderer Stelle: »[…] nur solange Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, ›gibt es‹ Sein.« (SZ 212) Wenn sich dieses dagegen einer vollständigen Aufhellung per se verweigerte, müsste dies folgende ›Rückwirkung‹ auf das Selbstverhältnis des Daseins haben: Dessen Selbstdurchsichtigkeit dürfte nicht als beruhigende Heilung von einem entfremdenden Selbstbild begriffen werden, sondern entpuppte sich letztlich als Anerkennung einer fundamentalen ›Bodenlosigkeit‹ des eigenen Seins, das immer schon auf etwas bezogen ist, das nicht ›dingfest‹ gemacht werden kann. Der Grund würde zum Ab-grund. 30 Wie steht es also um das Fragenkönnen nach dem Sein? Meint Zugänglichkeit hier ein tatsächliches Begreifen? Hat der Ansatz beim seinsverstehenden Dasein zur Folge, dass das Sein in die Eigen- und Machtsphäre des Daseins hereingenommen wird – ist es dem sich selbst erkennenden Dasein somit grundsätzlich verfügbar oder gar von seinem Seinsverstehen abhängig? 31 Die eingehendere Betrachtung zweier zentraler Charakterisierungen der philosophischen Fundamentalfrage durch Heidegger selbst soll diesen Problemen um Zugänglichkeit und Entzug des Seins nachgehen. Erstens soll die Deutung der Seinsfrage als »metaphysische Erinnerung« interpretiert werden, die Heidegger in einigen seiner Vorlesungen um 1928 mit Bezug auf die In Sein und Zeit ist an einer Stelle vom Grund als Abgrund die Rede: Heidegger betont hier, ›Grund‹ sei nur als ›Sinn‹ zugänglich, selbst wenn es sich dabei um den »Abgrund der Sinnlosigkeit« handelte; vgl. SZ 152. Der Begriff des Ab-grunds spielt in Heideggers Denken unmittelbar nach Sein und Zeit jedoch eine zentrale Rolle, siehe etwa die Bestimmung der Freiheit als eines Abgrundes des Daseins in »Vom Wesen des Grundes«; vgl. Martin Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: GA 9, 123–175, hier: 174. Zur Abgründigkeit des Seins und der zentralen Bedeutung dieses Gedankens für die ›Kehre‹ siehe die Ausführungen zum späten Heidegger in Teil II dieser Arbeit. 31 Vgl. SZ 212. Heidegger redet hier explizit von der »Abhängigkeit des Seins, nicht des Seienden, von Seinsverständnis«. 30

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Anamnesislehre Platons vornimmt. 32 Zweitens wird die Darstellung der echt verstandenen Phänomenologie als eines redenden Offenlegens des Seinsphänomens diskutiert, wie sie Heidegger in Sein und Zeit (§ 7) vorstellt. Als eine Form von Wiedererinnerung lässt sich die Seinsfrage auf den ersten Blick in besonderer Weise als zirkulär deuten, weil hier sehr deutlich die Urvertrautheit des Seins angezeigt scheint: »Sein ist das, woran wir uns wieder erinnern, was wir uns als etwas geben lassen, das wir dabei als solches verstehen, was sich uns schon und immer schon gegeben hat; was nie fremd, sondern immer bekannt, ›unser‹ ist. Sein ist demnach solches, was wir immer schon verstehen und woran wir uns nur wieder zu erinnern brauchen, um es als solches zu nehmen. Sein erfassend erfassen wir nichts Neues, sondern ein im Grunde Bekanntes« (GA 26, 186).

Besonders dominant ist hier – im Zuge der Inspiration durch die platonische anamnesis – die ›zeitbezogene‹ Dimension der Seinsfrage. Behauptet wird: Wir müssen uns nur wieder an das Sein erinnern, wir haben es schließlich immer schon und können es folglich wieder-holen. Das Wieder-holen scheint anzuzielen: die ausdrückliche Präsentwerdung eines letztlich ›Immerwährenden‹ – wobei hier freilich die Gefahr besteht, das Sein so selbst als ein Seiendes zu verstehen, das eben immer da ist. Ausdrücklich wird das Sein hier jedoch erneut als das niemals Fremde, sondern immer schon Bekannte herausgestellt; andererseits wird aber auch angedeutet, dass es zwar zu uns gehöre, dass wir es aber nicht selbst ›geschaffen‹ – konstituiert – hätten. So steht das ›unser‹ im Text bezeichnenderweise in Anführungszeichen: Das Sein hat sich uns »gegeben«, heißt es, und wir haben es uns »geben lassen«. Das bedeutet aber: Im Eigenen meldet sich – wenn auch vorsichtig – ein Entzug. Das Dasein hat nach Heidegger zwar immer schon mit dem Sein zu tun, aber diese Vertrautheit kann aufgrund der ontologischen Differenz offensichtlich nicht mit dem Bekanntsein irgendeines Seienden aus der unmittelbaren Heimsphäre des Daseins identifiziert werden. Während ich im Bereich der Gegenstände über das Seiende, welches mir gehört, mein ›Eigentum‹ ist, in der Regel verfügen kann, verweist die ›Bekanntheit‹ des Seins auf eine Zugehörigkeit, die eine 32 Konkret in Die Grundprobleme der Phänomenologie (hier liegt der Akzent auf der Herausstellung der Zeit als dem Horizont des Seinsverstehens) sowie in Metaphysische Anfangsgründe der Logik und in der Einleitung in die Philosophie; vgl. GA 24, 465; GA 26, 9 f. und 186 f. und GA 27, 214 f.

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Nicht-Hörigkeit des Eigenen anzeigt. Das heißt: Die naheliegende Deckung zwischen dem Bekannten und dem Erkannten – als dem Angeeigneten oder dem Selbstentworfenen – wird in Frage gestellt. Möglicherweise besteht die Nähe hier also tatsächlich im Zugänglichsein eines prinzipiell Unfassbaren. 33 Diese Charakterisierung entspräche dann allerdings gerade einer spezifischen Umschreibung von Fremderfahrung: Husserl deutet in den Cartesianischen Meditationen das Fremde als »Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« 34 ; im Nachlass findet sich die Charakterisierung des Fremden als »Zugänglichkeit in der eigentlichen Unzugänglichkeit, im Modus der Unverständlichkeit« 35 . Die Vertrautheit des Seins wäre dann mit ›Fremdheit‹ durchsetzt – oder noch präziser, obgleich irritierender: Die Vertrautheit entpuppte sich als eigentliche Fremdheit. Es ist ein durchweg zwiespältiger, mitunter paradox anmutender Bezug zum Sein, den das heideggersche Spiel mit den oben herausgestellten Differenzpaaren und ihren Abwandlungen aufscheinen lässt: ein Oszillieren zwischen Verweigerung und Verfügbarkeit des Seins sowie Macht und Ohnmächtigkeit des Daseins dem Sein überhaupt sowie dem eigenen Sein gegenüber. Inwieweit die Frage nach dem Sein ›etwas‹ in die Sicht bringen soll und kann, was das nicht-philosophierende Existieren beständig übersieht, thematisiert § 7 von Sein und Zeit. Heidegger bestimmt hier als Methode der Untersuchung die Phänomenologie: »Mit der leitenden Frage nach dem Sinn des Seins steht die Untersuchung bei der FunZu dieser Interpretation gelangt Johannes Oberthür in seiner Analyse der Einleitung von Sein und Zeit in ders., Seinsentzug und Zeiterfahrung. Die Bedeutung der Zeit für die Entzugskonzeption in Heideggers Denken, Würzburg 2002. Er geht davon aus, dass sich bereits in Sein und Zeit das Seinsphänomen als ein verborgenes zeigt. Im Zuge der Daseinsanalyse, so Oberthür, findet jedoch eine Abkehr von dieser Konzeption des verschlossenen Grundes zugunsten einer fundamentalen Einschließungstendenz des Daseins statt. Auch Blust macht als das Ziel der Seinsfrage aus, die Rätselhaftigkeit des Seinsbegriffs in ihrer ganzen Schärfe hervorzuheben; vgl. Blust 1987, 14 f. 34 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, hrsg., eingel. und mit Reg. vers. von Elisabeth Ströker, 3., durchges. Aufl., Hamburg 1995, 117. Im Folgenden zitiert als CM. 35 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dritter Teil: 1929–1935, hrsg. von Iso Kern, Den Haag 1973 (Husserliana Band XV), 631. Im Folgenden wird der jeweilige Band der Husserliana mit der Sigle Hua angegeben. Vgl. zu Husserls Bestimmungen des Fremden auch Bernhard Waldenfels, »Erfahrung des Fremden in Husserls Phänomenologie«, in: Phänomenologische Forschungen, Band 22 (1989), 39–62. Siehe auch seine Interpretation in ders., Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a. M. 1997, hier: 25 f. 33

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damentalfrage der Philosophie überhaupt. Die Behandlungsart dieser Frage ist die phänomenologische.« (SZ 27) Die Leitbegriffe der heideggerschen Präsentation der Phänomenologie – Offenbarkeit und Verdecktheit – verweisen nun unmittelbar auf die vorhin formulierte Frage nach der Zugänglichkeit des Seins. Um die Methode von Sein und Zeit zu skizzieren, zerlegt Heidegger zunächst den Terminus ›Phänomenologie‹ in seine zwei Komponenten ›Phänomen‹ und ›Logos‹ und führt diese auf ihre griechischen Ursprungsbedeutungen zurück.36 Der Ausdruck ›yainmenon‹ leitet sich vom Verb ›yafflnesjai‹ her, was ›sich zeigen‹ bedeutet – dies durchaus die gängige Übersetzung im Wörterbuch. Grundsätzlich ist nach Heidegger das Phänomen somit das »Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare« (SZ 28). Die Phänomene sind »die Gesamtheit dessen, was am Tage liegt oder ans Licht gebracht werden kann« (SZ 28). Während die Erscheinungen etwas indizieren, was sich selbst nicht zeigt, verbirgt sich hinter dem Phänomen nach Heideggers Bestimmung also nichts anderes; es präsentiert sich selbst – und zwar völlig offen, gleichsam nackt – und bedeutet so »eine ausgezeichnete Begegnisart von etwas« (SZ 31). Der Gegenbegriff zu diesem Offenliegen und somit das direkte Pendant zum Phänomen ist nach Heidegger die »Verdecktheit«. 37 Als Phänomen in einem vorzüglichen Sinne – d. h. als ›etwas‹, das Gegenstand einer ausdrücklichen Aufweisung werden muss – präsentiert Heidegger nun das, »was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht« (SZ 35). Als ein solches, so Heidegger, habe sich nun gerade das Sein des Seienden erwiesen; dieses lässt sich also begreifen 36 Diese Etymologien stellen zentrale Momente der Beschäftigung mit Aristoteles in den 20er Jahren dar, vor allem sind sie in Einführung in die phänomenologische Forschung und in Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie zu finden; vgl. GA 17, 9 ff. sowie Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, hrsg. von Mark Michalski, Frankfurt a. M. 2002 (GA 18), 46 ff. Siehe zum Phänomenbegriff außerdem GA 20, § 9. 37 Zu den möglichen Ausprägungen der ›Verdecktheit‹ siehe SZ 36 sowie GA 20, 118 f. Ein Phänomen kann laut Heidegger noch unentdeckt sein, verschüttet oder verstellt. Es gibt seinen Bestimmungen nach außerdem zufällige Verdeckungen und notwendige, d. h. solche, die in der Art des Entdeckten gründen.

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als ein ›Sich-von-sich-selbst-her-Zeigendes‹, das sich jedoch zunächst nicht zeigt, aber irgendwie zum ›Sich-alltäglich-Zeigenden‹ dazugehört. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit Heidegger in diesem Paragraphen lediglich die spezifischen Seinsstrukturen des Seienden als ausgezeichneten Gegenstand der Phänomenologie im Blick hat oder ob er das Sein überhaupt als ein Phänomen bzw. das Phänomen im ursprünglichsten Sinne begriffen wissen will. 38 Die oben angeführte Charakterisierung dessen, was in ausgezeichnetem Sinne Phänomen sei, entspricht durchaus den Ausführungen zur zunächst und zumeist unausdrücklichen Bezogenheit auf ›Sein‹ in allem Umgang mit Seiendem. Jenes entpuppte sich ja gerade als »vorgängig und mitgängig, obzwar unthematisch« (SZ 31). Das konkrete Seiende – so lassen sich Heideggers Ausführungen deuten – ›verweist‹ in gewisser Weise auf das Sein, aber nicht wie eine Erscheinung, die etwas anderes sich indirekt melden lässt (denn dann rückte das Sein gefährlich nahe heran an die Konzeption eines ›Ding an sich‹). Weil das Sein selbst nicht ›ist‹, ›gibt es‹ das Sein nur, bzw. es hat sich immer schon gegeben, wie der bereits thematisierte Vergleich mit der anamnesis prägnant hervorhebt. Denkt Heidegger hier tatsächlich das Sein selbst als Phänomen, dann bedeutete dies aber ausdrücklich: Sein überhaupt ist als ›etwas‹ Offenbares entdeckbar. Jedoch lässt sich nach Heidegger der »phänomenologische« Phänomenbegriff vom »vulgären« Phänomenbegriff nicht gänzlich ablösen, 39 was bedeutet: Das Sichzeigen des Phänomens ist angewiesen auf ein Offenbarmachen durch ein spezifisches Seiendes. Das Offenbare ist in seinem Offenbarsein nach Heidegger immer schon verwiesen auf eine bestimmte Seinsweise des Daseins, auf den ›lgo@‹. Auch Heideggers Konzeption von Phänomenologie bedenkt somit ausdrücklich die jeweils bestimmte Weise des Zugangs zum Phänomen. Lgo@ wird in § 7 nun bestimmt als Rede – alle anderen gängigen Übersetzungen wie ›Vernunft‹, ›Urteil‹, ›Begriff‹, ›Definition‹, ›Grund‹ und ›Verhältnis‹ lassen sich nach Heidegger aus dieser – von ihm unterstellten – Grundbedeutung ableiten. 40 Rede meint hier ein OffenbarmaBegreift man das Sein überhaupt gerade nicht als Phänomen, so endete die phänomenologische Herangehensweise konsequenterweise mit dem Ende der Daseinsanalyse. 39 Vgl. SZ 31. 40 Vgl. SZ 32 und 34. 38

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chen dessen, wovon in der Rede ›die Rede‹ ist: Der lgo@ lässt sehen. Heidegger geht bei dieser Bestimmung des lgo@ als eines ›Sehenlassens‹ auf Aristoteles’ Ausführungen in Peri hermêneias zurück. Zwar sei nach Aristoteles jede Rede bedeutsam, aber nicht jede Rede sei als ein Offenbarmachen im Sinne des aufweisenden Sehenlassens bestimmbar. Allein die etwas als etwas feststellende, die apophantische Rede, suche das, worüber geredet wird, offenbar zu machen. 41 Aus dem augenscheinlichen inneren Bezug der Rede zum Phänomen, den Heidegger meint aufgedeckt zu haben – Phänomen: ein Sichzeigen, logos: ein Sehenlassen –, entwickelt er schließlich folgenden ›Vorbegriff‹ von Phänomenologie: »Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen« (SZ 34). 42 Was sagt die Präsentation der Phänomenologie als Methode der angestrebten Untersuchung nun aus über Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit des Seins in der Konzeption von Sein und Zeit? Indem das Phänomen als Sichzeigen präsentiert wird, scheint es auf den ersten Blick keinerlei Merkmale eines Entzugs an sich zu tragen. Im Gegenteil: Es hält nichts von sich zurück, es verbirgt nichts. Umgekehrt scheint auch die Konzeption des lgo@ als eines Zugänglichmachens davon auszugehen, ein vollkommenes Sichzeigen des anvisierten ›Gegenstandes‹ garantieren zu können. Ist das Sein selbst also als Phänomen entdeckbar, dann ist seine ›Rätselhaftigkeit‹ offenkundig überwindbar. Doch was genau meint nun das spezifische Sehenlassen des lgo@ als ein solches ›Lassen‹, welches das Sich-selbst-Zeigen von etwas anderem ermöglicht? Angezeigt ist durchaus eine spezifische ›Aktivität‹, nämlich die des Offenbarmachens im Sinne eines Aufweisens, Aufzeigens – eine ausdrückliche Artikulation ist impliziert. Heidegger nennt 41 Alle möglichen Arten der Rede aber wurzeln nach Aristoteles in einem grundlegenden Offenbaren (dhlo‰n). Vgl. zu Heideggers Interpretation des Anfangs von Peri hermêneias auch GA 20, 115 f. sowie Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, hrsg. von Walter Biemel, Frankfurt a. M. 1976 (GA 21), §§ 12–13. 42 Zum Vergleich siehe Husserls »Prinzip aller Prinzipien«, wie er es in § 24 der Ideen I formuliert: »[…] daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt« (Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, neue, auf Grund der handschriftl. Zusätze des Verf. erw. Aufl., hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1950 (Hua III), 52).

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als konstitutive Verhaltungen des Fragens, als welches die konkrete Rede in Sein und Zeit sich ausgestalten soll, das »Hinsehen auf«, »Begreifen von«, das »Wählen« und Finden eines »Zugangs« (SZ 7). Das redende Dasein als Garant für eine Erreichbarkeit des Seins scheint die Frage nach dem Sein nur ›richtig‹ angehen und durchführen zu müssen, um dem Erfragten auf die Spur zu kommen. Aufgrund der ›Rücksicht‹ auf das Sich-selbst-Zeigen des Phänomens kann das fragende Offenbarmachen als ein zielgerichtetes Suchen aber kein gewaltsames Ans-Licht-Zerren sein, sondern es beinhaltet offenkundig auch eine ›passive‹ Seite. 43 Das phänomenologische Fragen meint kein neugieriges In-die-Dinge-Hineinfahren. Hinstarrende Neugier ist nach Heidegger das »Unverweilen beim Nächsten« (SZ 172) – und zwar beim nächsten Seienden. Die Neugier will wissen und hält keine Beunruhigung aus. Ebenso wenig kann aber der ›logos‹ hier als technisch-beherrschte Anwendung eines bereitgestellten methodischen Rüstzeugs begriffen werden – vielmehr enthüllt er sich vor dem Hintergrund des Vergleichs mit der anamnesis in seinem suchenden Fragen als ein Hinnehmen des Sich-gebenden. 44 In Die Grundprobleme der Phänomenologie unterscheidet Heidegger bekanntlich drei »Grundstücke der phänomenologischen Methode« (GA 24, 26): die Rückführung des Blicks vom Seienden auf das Sein (phänomenologische Reduktion), das Entwerfen des vorgegebenen Seienden auf sein Sein als aufweisendes Sehenlassen des Phänomens (phänomenologische Konstruktion), den kritischen Abbau der traditionellen Begriffe und Vorurteile (phänomenologische Destruktion). Es zeigt sich vor dem Hintergrund der eben durchgeführten Interpretationen, dass alle drei Ausprägungen des Sehenlassens des

Das Begriffspaar Aktivität/Passivität ist dem heideggerschen Denken hier bewusst aufgezwungen; es wird in Sein und Zeit annäherungsweise durch das Paar Entwurf/ Geworfenheit ausgedrückt; vgl. zur Diskussion des Verhältnisses von Aktivität und Passivität in der Phänomenologie generell Rolf Kühn, Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie, Freiburg i. Br./ München 1998. Der Anhang liefert einen dichten Überblick über Konzepte radikalisierter Passivität in der Phänomenologie im Ausgang von Heideggers Denken nach der ›Kehre‹. Diskutiert werden vor allem Lévinas und Merleau-Ponty. 44 Blust hebt in seiner Interpretation des heideggerschen Phänomenologiekonzepts in Sein und Zeit diese ›passive‹ Seite prägnant hervor; vgl. Blust, 1987, 28. Siehe ebenso Cosmus 2001, 42 f. Zentral wird das ›Lassen‹ in Sein und Zeit erneut bei der Interpretation des Bewendenlassens als eines verstehenden Entwerfens von Bewandtnis. 43

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Seins 45 – Rückführung, Entwerfen und Abbau – geprägt sein müssten von einer spezifischen Enthaltsamkeit. 46 Bezieht man die phänomenologische Herangehensweise also auch auf die Annäherung an das Sein überhaupt, so wird erneut dessen tatsächliche Fassbarkeit fraglich, weil wieder die Vorgängigkeit eines Sichgebens aufscheint: Das Sichzeigen des Phänomens verspricht zwar einerseits eine Offenheit, die von keinem Dunkel durchdrungen scheint, lässt andererseits aber wieder auf die höhere Komplexität eines Zeigens raten, das im Zugänglichmachen eines Unbegreifbaren beschlossen liegt, welches als solches der Mächtigkeit des Zugang Suchenden entzogen ist. Dennoch ist auch im Rahmen von Heideggers Phänomenologiekonzeption die Frage nach Erreichbarkeit und Entzug des Seins nicht eindeutig zu entscheiden. Abschließend soll daher die Frage nach der möglichen Nähe oder Ferne des Seins in der konkreten Ausgestaltung des Philosophierens als einer spezifischen Rede diskutiert werden, um die Seite des Offenbarmachens noch eingehender zu betrachten. Die Hervorhebung des grundlegenden Seinsverständnisses des Daseins, die Charakterisierung des Philosophierens als eines Fragens und nicht zuletzt die Zielvorgabe dieses Prozesses verwiesen offenkundig immer schon auf die Dimension der Sprache: Es geht Heidegger ausdrücklich um den Sinn von Sein. Die Charakterisierung des ›lgo@‹ als Bestandteil der Methode der heideggerschen Untersuchung bezeugt endgültig das ausdrückliche Bedenken des Umstands, dass die Frage nach dem Sein sich als Sprachgeschehen vollzieht, oder vorsichtiger formuliert: als eine spezifische Form von Rede. Auf einen engen Zusammenhang von Sein und Sprache weist aber bereits das Zitat aus dem Sophistes im ›Vorwort‹ von Sein und Zeit hin, allerdings ohne diese Beziehung näher zu erläutern: Die – oberflächliche – Vertrautheit des Seins wird hier als eine Vertrautheit mit dem Ausdruck ›seiend‹ gedeutet. Die Anerkennung der ›Verlegenheit‹, welche das echte Fra45 Dabei ist wieder nicht vollkommen eindeutig, ob Sein überhaupt Phänomen werden kann oder ob es zunächst um ein ursprüngliches Sehen der Seinsarten Existenz, Zuhandenheit usw. geht. 46 Wenn Phänomenologie als Aufweis des Seins in sich aber ›aktivisch-passivisch‹ strukturiert ist, dann müsste diese Verfassung auch das Vergessen der Seinsfrage prägen. Dieses Vergessen verwiese dann weniger auf ein ›aktives‹ Abdrängen der durch die Rätselhaftigkeit des Seins erzeugten Irritation, sondern vielmehr auf ein Sichverbergen des Seins selbst. Ein solches wird jedoch in Sein und Zeit noch nicht gedacht; vielmehr ist hier Verdeckung immer als Privation des grundlegenden Sichzeigens konzipiert.

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gen nach dem Sein hervorruft, bedeutet dann das Eingeständnis, dass eine »Antwort auf die Frage nach dem, was wir mit dem Wort ›seiend‹ eigentlich meinen« (SZ 1), fehlt. Immer wieder macht Sein und Zeit das vorgängige Seinsverständnis an dem Faktum fest, dass wir das ›Sein‹ beständig ansprechen bzw. mitsprechen lassen: »Jeder versteht: ›Der Himmel ist blau‹ ; ›ich bin froh‹ und dgl.« (SZ 4) Und weiter: »Wir wissen nicht, was ›Sein‹ besagt. Aber schon wenn wir fragen: ›was ist ›Sein‹ ?‹ halten wir uns in einem Verständnis des ›ist‹, ohne daß wir begrifflich fixieren könnten, was das ›ist‹ bedeutet.« (SZ 5) 47 Heißt dies aber, dass Heidegger letztlich nach einer Wortbedeutung sucht, wenn er nach dem Sein forscht? Meint die Frage nach dem Sinn von Sein, eine Grundbedeutung des ›ist‹ auszumachen bzw. eine solche ›wiederzuerinnern‹ ? 48 Das hieße, das Sein wäre insofern »Sinn und Grund« (SZ 35) des Seienden, als das Verstehen des Ausdrucks ›Sein‹ die Möglichkeit böte, Seiendes überhaupt erst zu verstehen. Denn ›Sinn‹ ist laut Sein und Zeit das, »worin sich die Verständlichkeit von etwas hält« (SZ 212); ›Sinn‹ ist nach Heidegger das »Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird« (SZ 151). Zugänglichkeit des Seins meinte dann das Verfügbarsein der Bedeutung von ›Sein‹ bzw. ›sein‹, ›ist‹, ›bin‹ usw. Aber gibt es denn nach Heidegger überhaupt eine einheitliche Bedeutung, die auf die FassbarVgl. auch GA 20, 194: »Gefragt ist auf dem Grunde dieses unbestimmten Vorverständnisses des Ausdrucks ›Sein‹.« 48 Diese Deutung liegt in der Tat nahe und wird in der Forschung vielfach diskutiert; siehe etwa Wolfgang Stegmüllers Analyse der Funktionen des ›ist‹ in ders., Sprache und Logik, Darmstadt 1969 mit den entsprechenden Bemerkungen zu Heideggers Seinsfrage. Vor allem aber Ernst Tugendhats Aufsätze in ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992 (konkret: »Heideggers Seinsfrage«, 108–135, und »Die Seinsfrage und ihre sprachliche Grundlage«, 90–107) unterwerfen Heidegger einer fundamentalen Kritik. Tugendhat bemängelt vor allem zwei Punkte: Heidegger ginge einmal stillschweigend davon aus, dass Sein immer Sein von Seiendem meint, und zweitens setze die Frage nach dem Sinn von dem Sein voraus, man könne die Bedeutungen des ›ist‹ in den verschiedenen Verwendungsweisen – als Kopula, als veritatives ›ist‹ sowie als Anzeige von Identität und Existenz – auf eine Grundbedeutung reduzieren. Dass Heidegger selbst eingesteht, eine gemeinsame Grundbedeutung nicht ausmachen zu können, wird letztlich ignoriert. Die Kritik der Analytischen Philosophie wird aufgegriffen von Carl Friedrich Gethmann in ders., Verstehen und Auslegung, Bonn 1974; vgl. Kapitel 2.1.3: Zur Grammatik und Semantik des Seinsbegriffes. Hier wird überzeugend aufgezeigt, inwieweit die sprachanalytische Diskussion zumeist übersieht, dass ihre Einwände gegen Heideggers Ontologie dessen eigener Kritik am metaphysischen Seinsbegriff gar nicht widersprechen. 47

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keit des Seins verwiese? »Wir verstehen das ›ist‹, das wir redend gebrauchen, und begreifen es nicht« (GA 24, 18). Kann es ›begreifbar‹ gemacht werden? In der Vorlesung Einführung in die Metaphysik von 1935 präsentiert Heidegger unterschiedliche, ganz alltägliche Formulierungen, die alle ein ›ist‹ in verschiedener Verwendung enthalten. 49 Einige dieser Sätze seien mit Heideggers Erläuterung der jeweiligen konkreten Bedeutung angeführt: 1) »Gott ist«, das bedeutet wirklich gegenwärtig; 2) »Der Vortrag ist im Hörsaal«, d. h. er findet statt; 3) »Der Mann ist aus dem Schwäbischen«, d. h. er stammt dort her; 4) »Der Becher ist aus Silber«, d. h. er besteht aus … ; 5) »Der Bauer ist aufs Feld«, das bedeutet er hält sich dort auf; 6) »Er ist des Todes«, d. h. dem Tod verfallen. Heidegger hält es nun für »schwierig, vielleicht sogar unmöglich, weil wesenswidrig« (EM 69), eine identische Bedeutung als allgemeinen Gattungsbegriff hervorzuheben, unter den sich die genannten Weisen des ›ist‹ als Arten subsumieren ließen. Eine Definierbarkeit nach der gängigen Vorgehensweise schließt er also aus – es sei erinnert an die Diskussion der ›Allgemeinheit‹ des Seinsbegriffs als eines der drei traditionellen Vorurteile. 50 Jedoch geht nach Heidegger »ein einheitlich bestimmter Zug« durch alle Bedeutungen hindurch. Er behauptet: »Die Begrenzung des Sinnes von ›Sein‹ hält sich im Umkreis von Gegenwärtigkeit und Anwesenheit, von Bestehen und Bestand, Aufenthalt und Vor-kommen.« (EM 69) Keine einheitliche Grundbedeutung lässt sich also aufzeigen, aber eine gewisse Einheitlichkeit bezüglich dessen, was beim Nennen des ›ist‹ mitanklingt. 51 Das heißt: Ein ›Begreifen‹ des Seins durch eine Analyse der Verwendungsweisen des ›ist‹ scheitert. Kein greifbarer Sinn, das bedeutet aber dann auch: kein einfach verfügbarer ›Grund‹. In derselben Vorlesung, in der auf die enge Verbindung von Sein 49 Vgl. Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 6. Aufl., Tübingen 1998, 68. Im Folgenden zitiert als EM. 50 Franzen kommentiert die Ablehnung Heideggers, die Einheit des Seins als die der Gattung zu qualifizieren, mit dem Hinweis, dass in Sein und Zeit allerdings ständig die Rede von verschiedenen Seinsarten sei: von Zuhandenheit, Vorhandenheit usw.; vgl. Winfried Franzen, Von der Existenzialontologie zur Seinsgeschichte, Meisenheim a. G. 1975, 13. 51 Wobei Heidegger schließlich gerade diese Deutung des Seins als ›Anwesenheit‹ als Ausdruck der von ihm höchst kritisch hinterfragten ›Vorhandenheitsontologie‹ betrachtet.

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und Sprache generell viel stärker eingegangen wird als in Sein und Zeit, liefert Heidegger auch eine Grammatik des Wortes ›Sein‹. Das Substantiv ›Sein‹ geht zurück auf den Infinitiv ›sein‹ – seiner Wortart nach ist ›Sein‹ also ein Verbalsubstantiv. Beim Flektieren dieses Verbs falle aber auf: ›Sein‹ und ›bin‹ zeigen sich als stammesmäßig verschiedene Wörter. Daher schließt Heidegger eine Etymologie der Formen ›sein‹, ›bin‹ und ›war‹ bzw. ›gewesen‹ an und macht ›leben‹, ›aufgehen‹ und ›verweilen‹ als die anfänglichen Bedeutungen der drei Stämme aus, die im abstrakten ›sein‹ bzw. ›Sein‹ erloschen seien: »Das Wort wird ein Name, der etwas Unbestimmtes nennt.« (EM 56) Einerseits deutet Heidegger hier also die Möglichkeit an, dem Ausdruck eine ursprüngliche Lebendigkeit zurückzugeben und aus dem bloßen Nennen eines Namens ein tatsächliches Begreifen zu machen, andererseits scheitert die Suche nach einer gemeinsamen ›Urbedeutung‹ erneut. 52 Zudem muss Heidegger darauf achten, dass er sich mit seinen Analysen nicht im ›Dschungel‹ aufeinander verweisender Bedeutungen verliert, denn die Herausstellung des vermeintlichen ›einheitlichen Zuges‹ des ›ist‹ legt nahe, dass dieses wiederum nur verstanden werden kann, wenn andere Bedeutungen erschlossen sind. Wenn ›Sinn‹ jeweils einen Horizont meint, der die Möglichkeit von Verstehbarkeit eröffnet, dann stellt sich sogar die Frage, ob ein Ende des ›Begründens‹ überhaupt jemals erreicht werden kann. Schließlich entpuppt sich bereits die Frage nach dem Sinn von Sein als Suche nach dem Sinn eines Sinns. 53 Dennoch ist nach Heidegger Folgendes offenkundig: Wir haben ›Sein‹ in allem Sprechen bereits verstanden bzw. müssen es vorgängig verstanden haben, weil wir immer Seiendes anreden und auf Seiendes bezogen sind. »Seiendes ist in gewissem Sinne alles, wovon wir reden, was wir meinen, wozu wir uns verhalten, und wenn auch nur als zu einem Unzugänglichen« (GA 20, 195). Alles Sprechen ist nach Heidegger also ›ontisch-ontologisch‹ verfasst bzw. trägt diese Differenz aus – Vgl. zur hier nur knapp skizzierten Diskussion von Grammatik und Etymologie von ›Sein‹ in der Einführung in die Metaphysik EM 40 ff. 53 Hier treibt die Frage nach dem Sinn offenkundig über den Bereich des Sprachlichen hinaus, denn Heidegger verrät ja bereits in der Einleitung zu Sein und Zeit, dass der Sinn von Sein die Zeit sein soll: Sein soll »aus der Zeit begriffen werden« (SZ 18). Indem die Zeitlichkeit selbst nicht mehr auf einen Sinn hin befragt wird, weil sie es ist, die früher als jedes Früher und so als jedes Apriori ist (vgl. GA 24, 463), scheint sie in eine Unzugänglichkeit zu rücken, welche die des Seins übersteigt. 52

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Sprache ist in sich zwiefältig. 54 Das bedeutet: ›Sein‹ ist im Sprechen beständig anwesend, aber nicht mitthematisch wie anderes Seiendes dies sein könnte. Ein Sprechen, das diese Zwiefältigkeit nicht verwischt, sondern im Sprechen das ›Sein‹ wieder-erinnert, müsste die Präsenz des Seins ausdrücklich ›mitklingen‹ lassen. Eine in ihrer ontisch-ontologischen Verfasstheit ›transparente‹ Sprache darf die beständige Bezogenheit auf das Sein im Reden eines Seienden über Seiendes zu Seiendem nicht verschweigen. Die Philosophie im heideggerschen Sinne will aber schließlich nicht beim Reden über Seiendes stehen bleiben, sondern das Seinsphänomen selbst zugänglich machen. Doch kann ein unmittelbares Sprechen vom Sein überhaupt gelingen? Dass das Sein nicht beredbar ist wie das Seiende, dass nicht über es gesprochen werden kann wie über irgendeinen ›Gegenstand‹, ist deutlich. Wenn Heidegger das theoretische Fragen generell als »erkennendes Suchen des Seienden in seinem Daß- und Sosein« (SZ 5) charakterisiert, ist offenkundig, dass die Seinsfrage gar kein solches Fragen meinen kann. 55 So ›entschuldigt‹ sich Heidegger selbst für all das »Ungefügte und ›Unschöne‹ des Ausdrucks« in Sein und Zeit mit folgender Bemerkung: »[…] ein anderes ist es, über Seiendes erzählend zu berichten, ein anderes, Seiendes in seinem Sein zu fassen. Für die letztgenannte Aufgabe fehlen nicht nur meist die Worte, sondern vor allem die ›Grammatik‹.« (SZ 39) 56 Die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt verlangt ganz offensichtlich »eine eigene Begrifflichkeit«, die sich »wesenhaft abhebt gegen die Begriffe, in denen Seiendes seine bedeutungsmäßige Bestimmtheit erreicht« (SZ 6). Konsequenterweise begreift Heidegger die phänomenologische Destruktion 57 im Wesentlichen als ein Hinterfragen und Abbauen tra54 Siehe zur ontisch-ontologischen Verfasstheit der Sprache das Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag »Zeit und Sein« von Dr. A. Guzzoni (in: ZSD, 27–60, hier: 55). Eine nähere Interpretation dieser spezifischen Verfasstheit findet hier allerdings nicht statt. 55 Daher ist es problematisch, wenn Heidegger die drei Momente des Fragens – das Gefragte, Erfragte, Befragte – direkt auf die Seinsfrage bezieht; vgl. SZ, § 5. 56 Siehe auch die Parallelstelle in den Prolegomena (konkret: GA 20, 203 f.). 57 Wie die im 2. Teil von Sein und Zeit geplante »am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie« (SZ 21 f.) hätte aussehen können, wenn sie durchgeführt worden wäre, lassen vor allem die Vorlesungen Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (SS 1925) und Die Grundprobleme der Phänomenologie (SS 1927) sowie die Auseinandersetzung mit Kant in Phäno-

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ditioneller, festgefahrener Begriffe und Begriffskomplexe: »[…] Dasein verfällt […] seiner mehr oder minder ausdrücklich ergriffenen Tradition. Diese nimmt ihm die eigene Führung, das Fragen und Wählen ab.« (SZ 21) Sprechen als anamnesis im heideggerschen Sinne schließt immer eine Selbstreinigung der philosophischen Begrifflichkeit ein, deren Ergebnisse aber ebenfalls beständig durch eine erneute Verhärtung bedroht sind. 58 Es muss im gelingenden Philosophieren nach Heidegger also vor allem darum gehen, die im Ruf ›Zu den Sachen selbst!‹ artikulierte »Entdeckung der Möglichkeit des Forschens« (GA 20, 185) als Möglichkeit zu bewahren. 59 Die andere Seite der Selbstreinigung neben der Kritik überlieferter Begriffe, die zu bloßen ›Namen‹ geworden sind, stellt also das eigene Prägen einer spezifischen Sprache dar, welche die Macht der Verdeckungen bannen soll. Vor allem Heideggers zahlreiche Wortneuschöpfungen und Etymologien sind dieser Suche nach einer dem Projekt ›Seinsfrage‹ angemessenen Rede geschuldet. 60 Philosophie muss »die Kraft der elementarsten Worte« (SZ 220) wiederbeleben und schützen, ohne zügellose »Wortmystik« zu betreiben. Auffällig ist auch, dass in Sein und Zeit an zentralen Stellen immer wieder – allermenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (WS 1927/28) und Kant und das Problem der Metaphysik (1929) ahnen. 58 Vgl. dazu etwa GA 20, 119. 59 Figal begreift vor dem Hintergrund der heideggerschen Bestimmung der Phänomenologie als »Möglichkeit des Forschens« das Wiederholen der Seinsfrage im Wesentlichen als »Befreiung aus den sprachlichen Perspektiven und Bindungen« der Tradition; siehe Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a. M. 1988, 40. 60 Siehe als ausführliche Darstellung der spezifischen Sprache von Sein und Zeit Erasmus Schöfer, Die Sprache Heideggers, Pfullingen 1962. Letztlich müsste Heidegger tatsächlich ein neues ›Regelwerk‹ des phänomenologischen Sprechens entwerfen oder die traditionelle Grammatik aufsprengen. So verweist er mehrfach auf den misslichen Umstand, vom Sein immer wieder wie von einem Seienden reden zu müssen – die Grammatik zwingt ihn z. B. beständig dazu zu sagen, dass das Sein ›sei‹ ; vgl. etwa GA 27, 392. Tatsächlich fordert Heidegger in Sein und Zeit eine »Befreiung der Grammatik von der Logik« (SZ 165), was eine Herausstellung der »Grundformen einer möglichen bedeutungsmäßigen Gliederung des Verstehbaren überhaupt« (SZ 166) bedeute. Seine knappen Skizzen zu dieser Forderung machen deutlich, dass nach Heidegger allein vor dem Hintergrund der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit die unterschiedlichen grammatischen Phänomene ›verstanden‹ werden können. Es geht bei dieser Befreiung also letztlich nicht um das Schöpfen einer neuen Grammatik, sondern um eine tiefere Interpretation der bestehenden. Zur Problematik der sprachlichen Durchführung der Programmatik von Sein und Zeit siehe auch Blust 1987, § 6.

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dings zumeist in Abwandlungen – ein Terminus auftaucht, der bereits in Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen eine zentrale Rolle spielte: die »formale Anzeige«. 61 Die schon hier leitende Absicht Heideggers, die Angemessenheit der traditionellen philosophischen Terminologie für eine Auslegung des faktischen Lebens radikal in Frage zu stellen und die Wachheit für dieses nicht durch die einschlummernde Wirkung des Rückgriffs auf überlieferte Konzeptionen zu gefährden, hat diese spezifische Form der Auslegung der Faktizität des Daseins ausgebildet. Die formale Anzeige präsentiert Heidegger in den frühen Freiburger Vorlesungen und Texten dementsprechend als reflektierten Einsatz bestimmter Wörter bzw. Begriffe in einer solchen Weise, die keine starren Vorurteile, keine unhintergehbaren Vorentscheidungen über das zu Verstehende mit sich bringt. Indem das philosophische Reden in formal anzeigender Weise also gleichsam jeden zentralen, aus Alltagssprache oder Fachsprache bekannten Begriff mit einem Hinweis versieht, ›Vorsicht – der Begriff muss aus dem faktischen Leben selbst geschöpft sein!‹, geht sie gegen die beständige Objektivierungstendenz des Zugriffs auf die Phänomene an. Da sie aber vornehmlich eine Warnung beim Gebrauch herkömmlicher, bekannter Wörter und Begriffe ausspricht, hat sie vor allem einen »prohibitiven (abhaltenden, verwehrenden) Charakter« 62 . Heidegger pointiert: »[…] die formale Anzeige ist eine Abwehr, eine vorhergehende Sicherung, so daß der Vollzugscharakter noch frei bleibt.« (GA 60, 64) 63 Sie lässt sich vor diesem 61 Siehe SZ 114, 116, 117, 231, 313 und 315. Die erste ausführliche Präsentation der formalen Anzeige findet sich in Einleitung in die Phänomenologie der Religion (WS 1920/21), doch gebraucht Heidegger diesen Terminus noch in Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/30); siehe Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2004 (GA 29/30), 421 ff. Vgl. zur eingehenden Interpretation der formalen Anzeige Imdahl 1997 sowie Theodore Kisiel, »Die formale Anzeige. Die methodische Geheimwaffe des frühen Heidegger«, in: Heidegger – neu gelesen, hrsg. von Markus Happel, Würzburg 1997, 22–40. 62 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, hrsg. von Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt a. M. 1985 (GA 61), 141. 63 Der auch bei Husserl zentralen Unterscheidung zwischen Gehalts- und Bezugssinn fügt Heidegger als drittes Moment des phänomenologischen Zugangs den Vollzugssinn hinzu. Vermieden werden soll so eine – nach Heidegger bei Husserl latent vorhandene – Identifizierung von Bezug und theoretischer Einstellung, die das Seiende als Gegenstand, Objekt in die Sicht nimmt; vgl. GA 60, 59 und 62 f.

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Hintergrund ihrer Funktion treffend als das »Sagen des Unsagbaren« 64 bezeichnen. Mit dem Einsatz der formalen Anzeige versuchte Heidegger also zu Beginn der 20er Jahre ein zurückhaltendes Sprechen zu realisieren, wollte ein nur vorläufiges Bestimmen des Auszulegenden leisten, denn die Lebendigkeit des faktischen Daseins sollte nicht in einem die Faktizität fest-stellenden Sprechen abgetötet werden. Doch die Anforderungen an eine philosophische Rede, welche nicht bei einer Hermeneutik des Daseins stehen bleiben soll, sind höher – vor allem vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen zur möglichen Unverfügbarkeit des Seins: Das Sein gibt sich in jedem Sprechen und im Philosophieren muss der Sprechende es sich ausdrücklich geben lassen. Die philosophische Rede müsste sich als ein Sprechen vollziehen, in welchem die grundlegende Bezogenheit auf das Sein durchscheint, welches zugleich aber gerade das Scheitern des Greifens nach dem Sein anklingen lässt. Doch kann Sprache überhaupt einen solchen, in ihrem Vollzug selbst liegenden Entzug artikulieren – kann Sprache die Fremdheit in der Seinsvertrautheit aufscheinen lassen und somit ihre eigene ›Abgründigkeit‹ ? Letztlich müsste eine solche Rede zugleich über sich selbst sprechen – über ihre eigene ›Leistung‹ oder ›Unzulänglichkeit‹ in Bezug auf eine explizite Artikulation der Seinsbezogenheit. Heideggers Probleme, sein philosophisches Konzept als Rede zu realisieren, zeigen: Das Sein kann augenscheinlich niemals selbst ›Gegenstand‹ von Rede sein. Es ist immer nur im Sprechen über Seiendes mitgesprochen. Das bedeutet aber letztlich, dass die Selbstkritik der Sprache des sich in dieser Destruktion selbst erkennenden Daseins niemals eine ›Reinheit‹ des Seinsphänomens garantieren kann, die von nichts ›Vulgärem‹ mehr affiziert wäre – immer wird das Sein innerhalb einer bestimmten Ordnung (im Rahmen einer konkreten Grammatik z. B.) anvisiert bzw. mitgesprochen. Schon die Suche nach einer Grundbedeutung des ›ist‹ verwies auf diese Problematik, denn es ist fraglich, ob aus der eventuellen Auffindbarkeit einer solchen in einer oder auch in zwei, drei spezifischen Sprachen auf ein ›Begreifen‹ des Seins bzw. umgekehrt aus dem Scheitern der Suche nach einer Grundbedeutung auf einen Entzug des Seins überhaupt geschlossen werden darf. So stellt sich erneut die Frage nach dem Verhältnis von Daseinsauslegung und Seinsfrage, von Seinsverständnis und Sein: Entscheidet 64

Brach 1996, 229.

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nicht die konkrete Sprache letztlich – das ausdrücklich gemachte Seinsverständnis – über das Sichzeigen oder Sich-nicht-Zeigen des Seins? Dass ein Sichzeigen des Sichentziehens von Sein vielleicht nur dann möglich ist, wenn geschwiegen wird, lässt sich nach diesen Überlegungen schon ahnen. So formuliert Heidegger selbst als wesentliche Forderung der Phänomenologie: »[…] vor dem Wort und vor dem Ausdruck immer zuerst die Phänomene und dann die Begriffe!« (GA 20, 342) 65

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Im Mittelpunkt einer jeden Diskussion der Eigenart des buberschen Denkens steht die Frage, ob Buber als Theologe, als Philosoph oder konkreter als Religionsphilosoph bezeichnet werden sollte. Folgende Bemerkung Bubers mag dem einen Leser als ›Warnung‹ erscheinen, einem anderen vielleicht als Neugier weckendes Versprechen: »Ich philosophiere nicht mehr als ich muß« 66 . Zwar könnte Buber mit eben demselben Recht sagen, er ›theologisiere‹ nicht mehr als er müsse – doch von einem Ideal der Philosophie als (strenger) Wissenschaft ausgehend wird man Bubers programmatischen Satz zwangsläufig als Ankündigung eines eher assoziativen als argumentativ stichhaltigen Den65 Vor dem Hintergrund dieser Bemerkung Heideggers liegt die Annahme nicht fern, er denke den logos der Phänomenologie gar nicht als Sprache, sondern als ein reines, jeder konkreten Sprache vorausgehendes ›Denken‹ oder gar schlichtes unstrukturierendes ›Vernehmen‹. Tatsächlich bemerkt Heidegger in § 7 von Sein und Zeit, dass der lgo@ in ursprünglicheren, vorsynthetischen Weisen des ›Wahrnehmens‹ gründe: in a—sjhsi@ und nhsi@. Die Phänomenologie – dies betont er selbst – steht aufgrund ihrer Synthesisstruktur immer schon in der Möglichkeit des Verdeckens. Letztlich verweist diese Problematik auf die Frage nach dem Verhältnis von Phänomen und Zugang in der Phänomenologie überhaupt. So liest sich Heideggers Bemerkung wie die Variation des Kommentars Schelers, der im Hinblick auf die Selbstgegebenheit des Phänomens die phänomenologische Philosophie als »fortwährende Entsymbolisierung der Welt« bezeichnet; siehe Max Scheler, »Phänomenologie und Erkenntnistheorie«, in: ders., Schriften aus dem Nachlaß. Band 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre, 2., durchges. und erw. Aufl. mit einem Anhang hrsg. von Maria Scheler, Bern 1957, 377–430, hier: 384. Vgl. zur Rolle der Sprache in der Phänomenologie generell Ernst W. Orth, »Das Phänomen der Sprache und die Sprachlichkeit des Phänomens«, in: Phänomenologische Forschungen, Band 8 (1979), 7–30. 66 Martin Buber, »Antwort«, in: Schilpp/Friedman 1963, 589–639, hier: 601.

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kens und Schreibens lesen. Buber gehörte dann zum Kreis der sog. ›Dichterphilosophen‹, wie etwa Kierkegaard, Nietzsche und auch der späte Heidegger gern genannt werden. In der Tat hat Buber ein Gesamtwerk geschaffen, das außerordentlich facettenreich ist: Neben seinen ›philosophischen‹ Schriften verfasste er zahlreiche religionswissenschaftliche Studien, übersetzte mit Franz Rosenzweig zusammen die hebräische Bibel, lieferte Schriften zur Pädagogik, fungierte als Herausgeber u. a. der chassidischen Erzählungen, schrieb auch einen Roman, ein Drama und zahlreiche Gedichte. Dabei kristallisiert sich seit Anfang der 20er Jahre, seit Ich und Du, jedoch immer deutlicher ›das Dialogische‹ als die wesentliche Entdeckung des buberschen Denkens heraus. Diese wird aber nicht allein reflektiert in den sog. »Schriften zum dialogischen Prinzip«, sondern die Thematisierung dieser ganz eigenen ›Sphäre‹ menschlicher Wirklichkeit durchzieht Bubers gesamtes Schaffen nach Ich und Du. Das bedeutet: Die einzelnen ›Disziplinen‹, welche Bubers Gesamtwerk umfasst, greifen – jedenfalls ab Anfang der 20er Jahre – auf das gleiche Grundmotiv einer ›dialogischen Wirklichkeit‹ zurück, dieses wird aber jeweils aus einem ganz bestimmten Blickwinkel heraus betrachtet. Die einzelnen Bereiche des buberschen Denkens lassen sich somit einerseits nicht sauber voneinander trennen, fügen sich andererseits aber auch nicht zu einem in sich vollkommen harmonischen Bau zusammen. Buber selbst äußert sich im Vorwort zur dreibändigen Werkausgabe eher skeptisch zum Begriff des ›Werks‹ : Ist es nicht immer »etwas in sich Abgeschlossenes«, etwas »nicht über sich Hinausweisendes« (W I, 7)? Eine Durchsicht der eigenen Schriften habe aber folgendes Ergebnis gebracht: »[…] fast keine bot das Ende eines zu Äußernden dar, fast jede lenkte zuletzt, ohne daß ich es gewollt hatte, den Blick auf etwas noch Uneinbezogenes, aber doch wohl dereinst Einbeziehbares.« (W I, 7) 67 Wie also lässt sich das Gesamtwerk eines Autors fassen, der es selbst explizit weder als in sich geschlossenes Ganzes noch als zusammenhangloses Sammelsurium vereinzelter Gedanken begreift? Buber selbst findet für sich folgende Lösung: »Werk, so sah ich ein, ist die 67 Hier kann durchaus eine gewisse Parallelität zum der Heidegger-Gesamtausgabe vorangestellten Motto »Wege – nicht Werke« gesehen werden; vgl. Martin Heidegger, Frühe Schriften, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1978 (GA 1).

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volle Atemeinheit einer Idee, wie sie je und je dem betrachtenden und bedenkenden Menschen widerfährt.« (W I, 7) Wie sich ein Denken entfaltet, in welchem sich eine solche Erfahrung ausdrückt – ein prägendes Widerfahrnis immer neu zur Sprache zu bringen –, dies soll im Folgenden näher thematisiert werden. Während bei Heidegger sowohl Sein und Zeit als auch die entsprechenden Vorlesungen aus der Marburger Zeit einen systematischen Aufriss von Methode und Verlauf der geplanten Analysen bieten, fehlt bei Buber eine solche Ebene der expliziten Methodenreflexion in der Regel vollkommen. Es sind vor allem zwei kleine Schriften, welche eine Art erläuternde Beilage zu Ich und Du sowie den dieses Werk ergänzenden Texten darstellen, in denen der Autor seinen eigenen Standpunkt in der Philosophiegeschichte deutlich macht: das Nachwort zum Sammelband Das dialogische Prinzip (1954) sowie die kleinere, noch spätere Schrift »Aus einer philosophischen Rechenschaft« (1961). Der letztgenannte Text soll nun einer eingehenderen Interpretation unterzogen werden. 68 Die Frage nach dem eigenen Selbstverständnis wird hier von Buber eindeutig zugunsten der Philosophie entschieden, wobei er trotz einer Selbstcharakterisierung seines Denkens als eines philosophischen weiterhin jegliches ›Schubladendenken‹ ablehnt. 69 Buber geht in der »Rechenschaft« auf die Problematik einer Ein68 Dabei ist aufgrund der Knappheit der buberschen Ausführungen auf der einen Seite und der Komplexität der heideggerschen auf der anderen eine deutliche Asymmetrie zwischen den Darstellungen der beiden Philosophiekonzeptionen nicht zu vermeiden. 69 In gewissem Sinne stellt die Konzentration auf die »Rechenschaft« eine Verkürzung des buberschen Philosophiebegriffs dar, denn nicht selten stellt Buber die philosophische Haltung einer religiösen gegenüber und präferiert eindeutig letztere, etwa in der Rede »Philosophische und religiöse Weltanschauung« (in: Martin Buber, Nachlese, Heidelberg 1965, 128–135; im Folgenden wird der Band zitiert als NL) sowie vor allem in Gottesfinsternis. Dass die Fokussierung auf die »Philosophische Rechenschaft« aber keine Verzerrung des buberschen Denkens darstellt, ist erstens durch den rückblickenden Charakter garantiert (Buber schreibt diesen Text in der Endphase seines Schaffens); zweitens wird sich zeigen, dass Buber seinen eigenen Begriff von Philosophie durchaus von dem philosophischen Denken absetzt, das er in seinen kritischen Bemerkungen zur Philosophie angreift; drittens fordert die Wahl zwischen einer Bestimmung seines Denkens als einer Theologie oder einer Philosophie aufgrund der buberschen Gottesvorstellung eindeutig eine Entscheidung für die letztere Alternative. Dagegen dokumentieren die Konzeptionen einiger anderer Vertreter eines ›dialogischen Denkens‹ eine sehr viel radikalere Abgrenzung gegenüber der Philosophie, z. B. die Ebners und Rosenstock-Huessys. Theunissen nennt Rosenstock-Huessys Denken entsprechend eine »Antiphilosophie«, vgl. Theunissen 1977, 358.

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ordnung und Klassifizierung seines Werks ein, indem er auf die Genese seiner philosophischen Mitteilung reflektiert. In dieser Beschreibung eines Prozesses mit dem ›Endergebnis Philosophie‹ wird schon deutlich, dass das philosophische Denken Bubers von einem ›anderen Ort‹ seinen Ausgang nimmt. Es gilt hier in hohem Maße der Satz Lévinas’, jede philosophische Erfahrung ruhe auf einer »vorphilosophischen Erfahrung« 70 . Tatsächlich präsentiert Buber sein Philosophieren als vorsichtiges Formen eines Ungeformten, als sich zurückhaltendes Zeigen auf eine begrifflich unfassbare Wirklichkeit – kurz: als ein riskantes ›Über-setzen‹, ohne Schiffbruch zu erleiden. Bubers Philosophie ist – dies wird im Folgenden einsichtig werden – immer ein Philosophieren, das sich selbst in Anführungszeichen setzt. Es ist wichtig zu wissen, dass die »Philosophische Rechenschaft« einen Vorabdruck einzelner Passagen einer tatsächlichen Antwort Bubers auf bestimmte Fragen bezüglich seines Werkes darstellt, nämlich einen Ausschnitt aus dem von Buber selbst verfassten Schlussbeitrag des Aufsatzbandes Martin Buber. 71 Versammelt sind hier verschiedene Forschungsbeiträge, die sich Bubers Denken widmen und mitunter sehr kritische Einwände formulieren. Der recht starke Titel der »Rechenschaft« (im Sammelband heißt der Beitrag schlicht »Antwort«) kann nun einerseits als Reaktion auf die beharrliche Diskussion um die Einordnung des buberschen Werkes gelesen werden, andererseits entspricht der Begriff durchaus dem Selbstverständnis eines Denkers, der behauptet, dass jede Ansprache auch eine Verantwortlichkeit wecke. Die zu gebende Antwort kann zudem – dies Bubers Prämisse – nur als eine ›persönliche‹ ausfallen, denn philosophische Erkenntnis ist für Buber stets »eine Selbstbesinnung des Menschen« 72 , d. h. des Menschen als eines Individuums. Entsprechend muss der Philosoph nach Buber »in den Akt der Selbstbesinnung in Wirklichkeit ganz eingehen, um der menschlichen Ganzheit inne werden zu können« (W I, 316). Der Philosophierende muss »diesen Akt des Hineingehens in jene einzigartige Dimension als Lebensakt vollziehen«, und dies »ohne vorbereitete philosophische Sicherung, er muß sich also alledem aussetzen, was einem widerfahren kann, wenn man wirklich lebt« (W I, 316). 70 Vgl. Peter Engelmann (Hrsg.): Philosophien. Gespräche mit Michel Foucault u. a., Graz u. a. 1985, 102. 71 Gemeint ist Bubers schon zitierte »Antwort« in Schilpp/Friedman 1963. 72 Martin Buber, Das Problem des Menschen, in: W I, 307–407, hier: 315.

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Philosophie im Sinne Bubers kann also immer nur vom tatsächlichen Leben ausgehen, von der vom Philosophen faktisch ›erlebten‹ Wirklichkeit. 73 So beginnt Bubers Selbsterklärung als Philosoph in der »Rechenschaft« in der Tat mit einem ›biographischen‹ bzw. nach dem Muster einer Biographie stilisierten Bericht über die Wurzeln seines dialogischen Denkens: 74 In den Jahren 1912–1919 habe er konkrete »Seinserfahrungen« gemacht, die ihm in wachsendem Maße als eine große »Glaubenserfahrung« gegenwärtig geworden seien. Als eine Glaubenserfahrung bestimmt Buber »eine Erfahrung, die den Menschen in all seinem Bestande, sein Denkvermögen durchaus eingeschlossen, hinnimmt, so daß durch alle Gemächer, alle Türen aufsprengend, der Sturm weht« 75 . Buber präsentiert also ein ›erschütterndes‹ Erlebnis – oder besser: mehrere, sich zu einer Erfahrung verdichtende Erlebnisse – als Ursprungsmoment seiner Philosophie. Doch was bedeutet diese aufrüttelnde Glaubenserfahrung konkret? Was meint Buber in diesem Zusammenhang mit ›Glaube‹, was versteht er hier unter ›Erfahrung‹ ? Buber unterscheidet zwei Formen des ›Glaubens‹ 76 : Glauben im Sinne eines Meinens, dass …, fixierbar in Aussagen wie ›Gott ist ewig‹ 73 Hier ist die Prägung Bubers durch die Lebensphilosophie – vor allem Diltheys – deutlich zu erkennen. 74 Das ›Ideal‹ der philosophischen Selbstbesinnung als Lebensakt drückt sich in zahlreichen als ›biographisch‹ präsentierten Episoden in Bubers Schriften aus. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel ist die Schilderung des ›Einfalls‹, Gott sei nur in der zweiten Person anredbar. Diese Erkenntnis sei ihm nach einer Begegnung mit einem Geistlichen gekommen (hier bezieht er sich auf ein Treffen mit dem englischen Pfarrer Hechler 1914). Buber berichtet über diese Begegnung sowohl in den Vorträgen Religion als Gegenwart als auch in seinen Autobiographischen Fragmenten, datiert das prägende ›Erlebnis‹ allerdings jeweils unterschiedlich; vgl. zu dieser Episode Rivka Horwitz, Buber’s Way to »I and Thou«. An Historical Analysis and the First Publication of Martin Buber’s Lectures »Religion als Gegenwart«, Heidelberg 1978, 179. Auffällig ist zudem, dass Buber zwar immer betont, aus eigenen Erfahrungen heraus zu schreiben – doch scheute er sich davor, Objekt für Biographen zu werden. Die Problematik einer Reduzierung der jeweiligen Philosophie auf die Persönlichkeit und das Leben des Autors hat er also durchaus gesehen; vgl. dazu Gerhard Wehr, Martin Buber. Leben – Werk – Wirkung, Zürich 1999, 11. 75 Martin Buber, »Aus einer philosophischen Rechenschaft«, in: W I, 1109–1122, hier: 1111 f. 76 Am prägnantesten tut er dies im Beitrag Zwei Glaubensweisen (1950). Der Komplex ›Glauben‹ verweist bei Buber auf bestimmte Phänomene, die in späteren Abschnitten dieser Untersuchung thematisiert werden, z. B. die Verantwortung als dialogisches Geschehen sowie vor allem die Deutung Gottes als eines »ewigen Du«.

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oder ›Gott ist gerecht‹, und Glauben im Sinne einer Verbundenheit. Mit dem ersten Glaubensbegriff identifiziert er die christliche ›pistis‹, zur Charakterisierung der zweiten Glaubensweise rekurriert er auf den Glaubensbegriff der jüdischen Tradition: ›Emunah‹ sei Glaube, der bekennt, Gott zu vertrauen. Glaube meint hier also ein ›Sich-anbindenan‹, nicht ein in bestimmten Lehrsätzen niedergelegtes ›Wissen‹. In Ich und Du heißt es: »Er glaubt, sagte ich; damit ist aber gesagt: er begegnet.« 77 Gemeint ist in der »Philosophischen Rechenschaft« offenkundig nicht »der ›Glaube‹, an den sich das Wort ›daß‹ knüpft, […] sondern der Glaube, der mit dem Dativ konstruiert wird, der also, der Vertrauen und Treue bedeutet« 78 . Der Begriff der ›Erfahrung‹ hingegen wird bei Buber zumeist mit dem Akt der Vergegenständlichung identifiziert, doch hier – in der »Rechenschaft« – meint er nach eigenem Hinweis »einfach das mir selbst unmittelbar bekannt Gewordene« (W I, 1111; Fn. 1). Mehrfach verweist Buber auch auf einen ganz spezifischen Erfahrungsbegriff, den er im Rahmen seines dialogischen Denkens bewusst einsetzt: das erneut ans Hebräische angelehnte Verständnis eines ›Erkennens‹ nicht als eines den Erkenntnisgegenstand objektivierenden Hinsehens, sondern wiederum im Sinne eines Begegnungsgeschehens. Das Entscheidende ist hier laut Buber nicht, dass man einen Gegenstand betrachtet, sondern dass man mit ihm in Kontakt, in Berührung kommt. Diese Erfahrung sei »eine echt biographische Erfahrung, das heißt, das, was man so erfährt, erfährt man durch den Gang des eigenen, persönlichen Lebens, durch das jeweils erlebte Schicksal« 79 . ›Erkennen‹ im biblischen Sinne meint also: »das Stiften einer besonderen und ausschließlichen Beziehung« 80 zwischen den Partnern der Begegnung. Während die philosophische Rede vom ›Erkennen‹ nach Buber konsequent vom Subjekt-Objekt-Schema ausgeht, meint das biblische Erkennen also eine gegenseitige Beziehung zweier Wesen zueinander. 81 Martin Buber, Ich und Du, in: DP, 5–136, hier: 62. Martin Buber, »Der Glaube des Judentums«, in: ders., Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, Köln 1963, 187–200, hier: 187. Im Folgenden wird der Band zitiert als JJ. 79 Martin Buber, Recht und Unrecht. Deutung einiger Psalmen, in: ders., Werke. Zweiter Band: Schriften zur Bibel, München/Heidelberg 1964, 951–990, hier: 988. Im Folgenden wird der Band zitiert als W II. 80 Martin Buber, »Die Erwählung Israels«, in: W II, 1037–1051, hier: 1039. 81 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung etwa NL 128. 77 78

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Die »Glaubenserfahrung« als Ausgangspunkt für die philosophische Mitteilung meint also nicht das Empfangenhaben einer einfach weiterzugebenden ›Botschaft‹ im Sinne eines bestimmten Textes, der mündlich oder schriftlich reproduzierbar und übermittelbar ist, sondern vielmehr die Erfahrung eines Angesprochenseins von einem Anderen her. Sie bedeutet als Ursprungsort der buberschen Philosophie das ereignishaft erfahrene Stehen in einer Verbundenheit mit einem Gegenüber. Buber überschreitet nun aber den eigenen Lebensbereich, indem er die Glaubenserfahrung nicht als rein subjektives Erlebnis beurteilt. Der sich herauskristallisierende Erfahrungszusammenhang wird reflektiert als etwas für das menschliche Denkgut Bedeutendes. Nur vor dem Hintergrund einer solchen Einschätzung kann schließlich aus dem möglicherweise ›sprachlosen‹ In-der-Erfahrung-Stehen überhaupt eine Philosophie entspringen, die Anderen etwas anzeigen will, nämlich eben die Möglichkeit der echten Verbundenheit. Buber geht es schließlich mit eigenen Worten »um die große Voraussetzung für den Anbeginn des Philosophierens und seinen Fortgang, um die Dualität der Ich-Du- und Ich-Es-Grundworte« (W I, 1113). Er fährt fort: »Obgleich sie der Grundverhalt im Leben jedes Menschen mit allem Seienden ist, achtete man ihrer kaum. Es mußte auf sie hingezeigt, sie mußte in den Grundfesten des Daseins aufgezeigt werden. Eine vernachlässigte, verdunkelte Urwirklichkeit war sichtbar zu machen.« (W I, 1113) 82 Schon hier liegt eine gewisse ›Objektivierung‹ vor, die eine zweite Ebene erreicht, wenn der Zusammenhang in einem konkret formulierten Text tatsächlich mitgeteilt werden soll. Doch wie genau schildert Buber diese Umwandlung eines persönlich Erfahrenen in eine philosophische Mitteilung als Hinzeigen auf eine ›vergessene‹ Wirklichkeit? Bemerkenswert ist die Wahl seiner Begrifflichkeit, die eine durchweg 82 Buber betont hier auch – wohl direkt gegen Heidegger –, dass nicht »vom Sein« zu reden war, sondern »einzig von dem menschlichen Doppelverhältnis zum Sein« (W I, 1113). Er bezeichnet dieses Denken dann ausdrücklich als »anthropologisches«; vgl. dazu auch W I, 309 ff., wo Buber in einer kurzen Auseinandersetzung mit Kants vier Fragen die zentralen Punkte einer gelingenden philosophischen Anthropologie nennt. Das Wesentliche ist hier die weiter oben dargestellte Konzeption der Philosophie als Selbstbesinnung im Sinne eines Lebensaktes. Bubers gesamte Philosophie mit dem Schlagwort »philosophische Anthropologie« zu benennen wäre jedoch aus mehreren Gründen problematisch. Vor allem müsste eine deutliche Abgrenzung gegenüber der im 20. Jahrhundert entstandenen »philosophischen Anthropologie« im engen Sinne erfolgen. Zudem hat sich Buber selbst nie endgültig und eindeutig auf eine spezifische philosophische Disziplin festgelegt.

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›technische‹ Auffassung sowohl des ›Übersetzens‹ dieser Begegnung in eine allgemeinverständliche Sprache als auch des Kommunikationsvorgangs überhaupt nahelegt: Da er eben keine »Botschaft empfangen« habe, die weitergegeben werden könnte, müsse das Einmalige in Allgemeines »verwandelt« werden, d. h. es müssten Begriffe für letztlich Unbegriffliches gefunden werden, die »gehandhabt« und »übermittelt« werden können. Aus Ich-Du muss, so Buber, ein Es »gemacht« werden, es muss eine »Transmission« in die Es-Sphäre stattfinden. 83 Die philosophische Rede wird hier also eingesetzt, um eine spezifische Erfahrung teilbar zu machen; sie soll diese Erfahrung bewahren und entfernt sich doch von ihr. Diese Herausforderung eines Mitteilens des letztlich Unmitteilbaren sieht Buber als Ansatzpunkt einer jeden – wahrhaftigen – Philosophie. Eine Philosophie in diesem Sinne »dient« also, wie Buber selbst betont, sie dient aber keiner »Folge offenbarter Sätze, sondern einem erfahrenen, einem wahrgenommenen Verhalt, den mitteilbar zu machen sie eingesetzt worden ist« (W I, 1113). Die Philosophie ist hier also keinesfalls als ›Magd‹ der Theologie bestimmt – eine Lehre Gottes auszubilden ermöglicht die bubersche ›Glaubenserfahrung‹ gerade nicht. 84 Die Übertragung des individuell Erfahrenen in eine bestimmte Begrifflichkeit (hier: die philosophische) bezeichnet Buber insgesamt als eine Transformation bzw. eine logisierende Bearbeitung. ›Logisieren‹ meint hier eben die zu leistende Umformung des Nicht-Geordneten, die Umarbeitung des sich den Denkgesetzen – etwa dem Satz des Widerspruchs – nicht von vornherein fügenden ›Erfahrenen‹ in einen mitteilbaren Zusammenhang, der nun in sich schlüssig ist. 85 Vgl. zu diesem Absatz insgesamt W I, 1112. Vgl. zur Philosophie als Magd auch Franz Rosenzweig, »Das neue Denken«, in: Rosenzweig 1937, 373–398, hier: 389. Rosenzweig schreibt: »Nicht zur Hausmagd darf Theologie Philosophie erniedern, aber genau so entwürdigend ist die Rolle der Monatsfrau, welche Philosophie in neuerer und neuster Zeit der Theologie zuzumuten sich gewöhnt hat. Das wahre Verhältnis der beiden erneuerten Wissenschaften […] ist geschwisterlich, ja bei ihren Trägern muß es zu Personalunion führen. Die theologischen Probleme wollen ins Menschliche übersetzt werden und die menschlichen bis ins Theologische vorgetrieben.« 85 Vgl. zur Charakterisierung des Logisierens W I, 1112 und zur Thematisierung des Satzes vom Widerspruch NL 131. Auf den Begriff des ›logos‹ geht Buber hier nicht näher ein. Eine etwas ausführlichere Interpretation des lgo@ bei Heraklit liefert der Text »Dem Gemeinschaftlichen folgen«. Hier übersetzt Buber lgo@ als ›Wort‹ und ›Sinn‹ und rückt die tatsächliche Gesprochenheit der Sprache als gemeinsames ›Wohnen 83 84

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Wie aber kann eine solche ›Bearbeitung‹ eines begrifflich nicht Fassbaren überhaupt gelingen? Zeigt nicht schon die auffällig mechanisch wirkende Beschreibung des Logisierens an, dass ein unüberbrückbarer Riss zwischen unmittelbarer Erfahrung und mitteilbarem Denkzusammenhang besteht, und letztlich nach Bubers Ansatz ja auch gerade bestehen bleiben soll? Indem Buber fordert, das logisierende Denken dürfe »der Konsistenz nichts von jener Wirklichkeit selber opfern, auf die hinzuzeigen die geschehene Erfahrung befahl« (W I, 1112), bedenkt er selbst die Schwierigkeit seiner Transformation, die zu keinem System, wohl aber zu einem geordneten, sich einer überzeugenden Argumentationsstruktur nicht verweigernden Entwurf führen soll. Wenn das Logisieren auch hier soviel bedeutet wie ein Offenlegen, ein Erhellen – und Bubers Rede von der verdunkelten Urwirklichkeit legt dies nahe –, dann muss eine echte Philosophie ihren begrifflich nicht durchdringbaren präphilosophischen Ausgangspunkt zumindest noch als gleichsam ›blinden Fleck‹ durchscheinen lassen. Besonders prägnant erfasst Buber die Herausforderungen und Grenzen seines Philosophierens im Gedanken eines ›bezeugenden Zeigens‹. Die hier angedachte Weise eines die Ursprungswirklichkeit aller Philosophie bewusst nicht repräsentierenden Sprechens reflektiert schließlich explizit auf das Problem der Zugänglichkeit einer begrifflich unzugänglichen ›Sphäre‹. Das Denken und Lehren musste laut Buber – im Rückblick in seiner »Rechenschaft« – »von der Aufgabe des Zeigens bestimmt sein« (W I, 1113). Ein vielzitiertes Bild Bubers, welches sein Selbstverständnis als eines Philosophen eindringlich veranschaulicht, soll die Besonderheit dieses spezifischen Hinweisens deutlich machen: »Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus.« (W I, 1114) Zeigen meint hier anscheinend weniger ein direktes Aufweisen, sondern vielmehr ein vorsichtiges Angeben der Richtung und ein Freigeben dieser Richtung für eigene Erfahrungen des Partners im Philosoim Kosmos‹ in den Mittelpunkt: Heraklit hebe hervor, dass wir, »wenn wir dem Logos gemäß erkennen und denken, dies nicht isoliert, sondern gemeinschaftlich tun«, denn »noch zum Selbsterkennen hilft einer dem andern« (Martin Buber, »Dem Gemeinschaftlichen folgen«, in: MBW VI, 103–123, hier: 111 f.).

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phieren – denn einen solchen schließt Bubers Konzeption ausdrücklich ein. Das bubersche Hinweisen geht den zu zeigenden ›Gegenstand‹ also nicht unvermittelt an bzw. präsentiert das Gezeigte gerade nicht als einen ›Gegen-stand‹, als ein verfügbares Objekt. Vielmehr macht es den eigenen Zeigegestus als solchen deutlich, verschweigt nicht das mögliche Auseinanderdriften von Zeigevollzug bzw. Zeichen und ›anvisierter‹ Wirklichkeit. Die Konsequenz: Weder wird auf ein Aufgehen des zu Zeigenden im Zeigen abgezielt noch auf eine Negation des Zeigens im Haben des Gezeigten. 86 Dieses ausdrückliche Hinweisen begreift Buber zugleich als ein Zeugen – der Einsatz der eigenen Person wird hier erneut bekräftigt: »Ich zeuge für Erfahrung und appelliere an Erfahrung.« (W I, 1114) 87 In diesem Appell liegt somit auch eine ständige Neuerprobung der Tragfestigkeit des Gedankens. Buber charakterisiert sein Denken ausdrücklich als ein solches, das den echten Dialog sucht, d. h. das unvoreingenommene Gespräch: »Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.« (W I, 1114) Diese Aussage soll nicht ausdrücken, Buber habe keinen eigenen Standpunkt 88 – nur verbietet das vorsichtige Hinzeigen letztlich jegliche Dogmatisierung der Rede von der aufgewiesenen ›Wirklichkeit‹. 89 Die Begriffe Zeuge/Zeugnis spielen vor allem in der Sphäre des Rechts und in den geoffenbarten Religionen eine zentrale Rolle. Buber In der Forschung äußert sich vor allem Jochanan Bloch ausführlicher zum buberschen Zeigebegriff: Die bubersche Rede zeige gerade auf eine Wirklichkeit hin, für die sie eben nicht stellvertretend stehe. Das im Philosophieren Gesagte sei also gerade nicht eine Repräsentation dieser Wirklichkeit; vgl. Jochanan Bloch, Die Aporie des Du, Heidelberg 1977, 17 ff. sowie ders., »Berechtigung und Vergeblichkeit des dialogischen Denkens«, in: Martin Buber. Bilanz seines Denkens, hrsg. von Jochanan Bloch und Haim Gordon, Freiburg i. Br. 1983, 62–81, hier: 64 f. 87 Vgl. zum ›Zeugnisablegen‹ auch DP 122 sowie Martin Buber, »Von der Verseelung der Welt«, in: NL, 146–157, hier: 146. 88 Legt man das Zitat in dieser Weise aus, schwächt man Bubers Position, indem man ihr jede inhaltliche Verbindlichkeit nimmt. 89 Bemerkenswert ist eine deutliche Nähe zwischen dem buberschen Modell des bezeugenden Zeigens und dem Modus der Hermeneutik des Selbst, wie ihn Paul Ricœur in Das Selbst als ein Anderer vorstellt. Die Form der Gewissheit, welche dieses Werk trage, sei ein Bezeugen, das kein bloßes Meinen bedeute, aber dennoch auf eine Letztbegründung verzichte. Die Gewissheit wird von Ricœur ausdrücklich als ein nicht-doxisches Wissen vorgestellt; vgl. Ricœur 1996, 32 ff. Die Unterscheidung, die Ricœur hier zwischen Glauben, dass und Glauben an durchführt, entspricht zudem Bubers genannter Differenzierung zwischen dem Wesen der pistis und dem Wesen der emunah. 86

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möchte vor allem Assoziationen wecken, die sich mit der Bedeutung der Begriffe in letzterem Bereich verbinden, was folgendes Bild deutlich macht: In »Zwiesprache« illustriert Buber sein bezeugendes Zeigen mit dem Hinweis auf Grünewalds Isenheimer Altar. Er zeige auf die Wirklichkeit »mit einem Zeigefinger, den ich so ausstrecken möchte wie Grünewalds Täufer« 90 – sicherlich ebenso nachdrücklich, aber nicht anklagend. Bei Karl Barth ist der Täufer mit dem überlangen ausgestreckten Finger Symbol für das Zeugnisgeben im Sinne eines Hinweisens weg von sich selbst auf ein ganz Anderes. Bubers Zeigen und Zeugen trägt – wie gesehen – ebenfalls dieses Moment des Verzichts auf die Fassbarkeit des Gezeigten wesentlich in sich. 91 Wie aber kann das konkrete Sprechen aussehen, welches das Übersetzen des Unbegrifflichen angeht? Wie realisiert sich ein Sprechen, das das ›Geheimnis‹ 92 der Urwirklichkeit wahrt und sie als Geheimnis dennoch aufzeigt? Buber: »Wenn eines Menschen Sprache Wirklichkeit, verdunkelte Wirklichkeit zeigen, aufzeigen will, wird sie […] den paradoxen Ausdruck nicht scheuen dürfen.« 93 Besonders wichtig ist ihm, dass die Sprache das Einzigartige nicht gänzlich abstumpft. Dies vermag Bubers Einschätzung nach vor allem der lebendige Dialog zu garantieren: Die geforderte Konkretheit sei »nicht dem isolierten Wort im Wörterbuch eigen, wo die Sprache uns nur ihre generelle Seite, ihre Verwendbarkeit zeigt, sondern dem Wort in seinem lebendigen Kontext, im Kontext des echten Gesprächs, des echten Gedichts, des echten Gebets, der echten Philosophie; da erst erschließt es uns das Einmalige« 94 .

Bubers Hoffnung für die Zukunft fragt daher nach einer Ablösung der »denkerischen Dialektik« durch die Dialogik: »Wann wird die Handlung des Denkens die Gegenwart des Gegenüberlebenden ertragen, einschließen, meinen?« (DP 180) Ausdrücklich geht es ihm nicht um Martin Buber, »Zwiesprache«, in: DP, 137–196, hier: 188. Siehe exemplarisch Karl Barth, Der Christ als Zeuge, Heft 12 der Schriftenreihe »Theologische Existenz heute«, hrsg. von Karl Barth und Eduard Thurneysen, München 1934. In dem kurzen Text »Der Altar« liefert Buber eine eindringliche Bildbeschreibung des Grünewaldwerkes, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine überwältigende Rezeption erfahren hat; vgl. Martin Buber, »Der Altar«, in: ders., Ereignisse und Begegnungen, 2. Aufl., Leipzig 1920, 13–21. 92 Vgl. zum oft auftauchenden Begriff des ›Geheimnisses‹ oder des ›Geheimnisvollen‹ in Bezug auf die ›Urwirklichkeit‹ exemplarisch DP 21, 41 und 69 sowie Bloch 1977, 21 f. 93 Buber 1963, 600. 94 Buber 1963, 596. 90 91

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das bloß »aufnahmebereite und zum Symphilosophieren geneigte Du«, sondern um »den Andern, den anders und anderes Denkenden« (DP 179). 95 An der spezifischen Sprache von Bubers Ich und Du – als dem Hauptwerk seiner Dialogik – lassen sich durchaus einige Merkmale ablesen, die dem Versuch geschuldet sind, ein lebendiges Sprechen von der Urwirklichkeit zu realisieren. Auch ohne eine eingehende Analyse des eigentümlichen Stils dieser Schrift können einige wesentliche Charakteristika der Form und Organisation dieses Textes aufgezeigt werden. Auffällig ist, dass der Satzbau über weite Strecken parataktisch ausgerichtet ist, wobei die vielen kurzen Sätze – unterstützt durch zahlreiche Parallelismen – einen dichten, letztlich dichterischen Text erzeugen, der nicht selten in einem pathetischen, ja geradezu ›prophetischen‹ Tonfall spricht. Einer durchgängigen Argumentation geschuldete Satzanschlüsse wie ›deshalb‹, ›also‹ usw. werden selten gebraucht – besonders durch kausale und konzessive Konjunktionen eingeleitete Erklärungen oder Korrekturen treten kaum auf. Erläuternde Begriffsbestimmungen oder gar Definitionen sucht der Leser meist vergeblich. 96 Vor dem Hintergrund dieser Merkmale wird Bubers Stil in Ich Vgl. zur herausragenden Bedeutung des Gesprächspartners im »neuen Denken« auch Rosenzweig 1937, 387. Rosenzweig interpretiert hier die gesamte abendländische Philosophie als unermüdliches Streben nach einer zeitlosen, sprachlosen (Wesens-)Erkenntnis. Indem er das neue Philosophieren dezidiert als ein »Sprachdenken« begreift, betont er die Bedeutung des Anderen für dieses Denken: »[…] der Unterschied zwischen altem und neuem, logischem und grammatischem Denken liegt nicht in laut und leise, sondern im Bedürfen des andern und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit: denken heißt hier für niemanden denken und zu niemandem sprechen (wobei man für niemanden, wenn einem das lieblicher klingt, auch alle, die berühmte ›Allgemeinheit‹, setzen kann), sprechen aber heißt zu jemandem sprechen und für jemanden denken; und dieser Jemand ist immer ein ganz bestimmter Jemand und hat nicht bloß Ohren wie die Allgemeinheit, sondern auch einen Mund.« Rosenzweig deutet die radikale Verleugnung der Zeit- und Sprachlichkeit des Philosophierens letztlich als Angst vor dem Tod – dem Tod nicht als ›Erlösung‹ der Seele vom Körper, sondern als tatsächlichem Ende des Daseins. Als einen aktuellen Versuch, Philosophie als ein Gespräch zu etablieren, siehe Adriaan T. Peperzak, »Daß ein Gespräch wir sind«, in: Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, hrsg. von Bernhard Waldenfels und Iris Därmann, München 1998, 17–34, hier: 24 f. und 31 f. 96 Vielmehr werden zahlreiche Begriffe der philosophischen – oder auch biblisch-hebräischen – Tradition übernommen, ohne ihre konkrete, neue Bedeutung im Rahmen der eigenen Konzeption zu umreißen. Bloch deutet diesen Einsatz bestimmter traditioneller Begriffe jedoch nicht als unreflektierte Übernahme, sondern schreibt ihr eine subversive ›Revolutionskraft‹ zu. So behauptet er, im Schreiben der Dialogiker generell 95

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und Du oftmals als ›impressionistisch‹, ›erzählend-beschreibend‹ oder gar ›lyrisch‹ bezeichnet. Der englische Übersetzer Ronald G. Smith nennt Ich und Du ein ›philosophisch-religiöses Gedicht‹ und Grete Schaeder bescheinigt dem Text einen »gehobenen Tonfall der Verkündigung«, welcher sich in der »atemlos-beschwingten und fast rhythmisch-gegliederten Rede« ausdrücke. 97 Auffällig ist auch, dass immer wieder kurze Einschübe Frage- und Antwortgeschehen simulieren. Diese knappen Dialogteile versuchen so explizit, eine andere Stimme zu Wort kommen zu lassen. Auch spricht der ›Autor‹ den Leser oft ganz unvermittelt mit ›du‹ an, fingiert also ein Gespräch zwischen Philosoph und Rezipient. 98 Aber schon diese Passagen zeigen die Schwierigkeiten eines Schreibens auf, das den Anderen als Gegenüber sucht: Es ist offensichtlich, dass diese eingeschobenen Dialogteile eher einer Stimme das letzte Wort lassen, als dass eine tatsächliche Gleichberechtigung der unterschiedlichen Stimmen konsequent durchgehalten wird; das Gespräch ist hier eben auch nur ein konstruiertes. 99 Insgesamt bleibt nach dieser kurzen Betrachtung einiger Merkmale der konkreten philosophischen Rede Bubers der Eindruck, dass

seien die Worte »umfunktioniert, so wie aufrührerische Studenten einen öffentlichen Vortrag, der informieren soll, zu einem Happening umfunktionieren« (Bloch 1983, 64). Inwieweit diese durchaus originelle Beschreibung Bubers Anlehnung an bestimmte Begriffe hinsichtlich ihrer ›Sprengkraft‹ in Bezug auf die Tradition nicht doch überschätzt, das werden die Diskussionen in den folgenden Abschnitten zeigen. 97 Siehe zu dieser Beschreibung Grete Schaeder, Martin Buber. Hebräischer Humanismus, Göttingen 1966, 118 sowie zu den anderen genannten Charakterisierungen des buberschen Stils Malcolm L. Diamond, »Dialog und Theologie«, in: Schilpp/Friedman 1963, 208–219, hier 208. Zum Stil von Ich und Du finden sich in der Forschung viele Bemerkungen, aber kaum ausführlichere Analysen; vgl. etwa Wilfrid Rohrbach, Das Sprachdenken Eugen Rosenstock-Huessys. Historische Erörterung und systematische Explikation, Stuttgart u. a. 1973, 132 f. und Bernhard Casper, Das dialogische Denken. Eine Untersuchung der religionsphilosophischen Bedeutung Franz Rosenzweigs, Ferdinand Ebners und Martin Bubers, Freiburg i. Br. u. a. 1967, 271 sowie Nathan Rotenstreich, »Gründe und Grenzen von Martin Bubers dialogischem Denken«, in: Schilpp/ Friedman 1963, 87–118, hier: 116. Inwieweit Buber selbst auf die Dichtung gewirkt hat, zeigt am Beispiel Paul Celans – dessen »Gespräch im Gebirg« deutliche Züge einer Buber-Rezeption trägt – Bernard Fassbind; vgl. Fassbind 1995. 98 Vgl. DP 15, 27, 35 ff., 49 f., 104 und 105 f. 99 Vor allem das mit einem imaginierten ›Gegner‹ inszenierte Gespräch Bubers am Ende von »Zwiesprache« zeigt, dass es äußerst schwierig ist, das »andere« Denken als Denken des tatsächlich »Anderen« im eigenen Text sprechen zu lassen; vgl. DP 188 ff.

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sich die Dimension des Bezeugens durchaus eindringlich realisiert. Inwieweit es aber tatsächlich möglich ist, mit oder in der Sprache das ›Geheimnis‹ der Urwirklichkeit der Verbundenheit aufscheinen zu lassen, ist nach diesen skizzenhaften Charakterisierungen des philosophischen Redens bei Buber weiter offen. Die in Abschnitt III folgende Interpretation der buberschen Sprachkonzeption wird diese Thematik erneut aufgreifen und vertiefen.

3.

Zwei Modelle: Philosophie als Heimkehr und Philosophie als Aufbruch?

Heidegger und Buber begreifen beide ihr Philosophieren als ein Sehenlassen oder Entbergen: Heidegger will die Frage nach dem Sinn von Sein ihrer jahrtausendealten Vergessenheit entreißen; Buber möchte auf eine heute »verdunkelte Urwirklichkeit« (W I, 1113) hinzeigen und somit ein »verschüttetes Gut« (DP 309) freilegen. 100 Demnach kreist das Denken Bubers um das Zur-Sprache-Bringen einer menschlichen Grunderfahrung, das Heideggers um das Erfragen des fundamentalen Grundes menschlichen (und nicht-menschlichen) Seins. 101 Dabei wird bei beiden Denkern die im Philosophieren zu erlangende Selbstdurchsichtigkeit bzw. Selbstbesinnung des Philosophierenden als ein Akt des ganzen existierenden Menschen begriffen. Buber jedoch verweist dezidiert auf die prinzipielle Abgehobenheit des Philosophierens als eines mehr oder weniger gewaltsamen Ordnens und Systematisierens eines präphilosophisch Erfahrenen – Heidegger betont hingegen stärker das immer schon latente Philosophieren des Daseins als Dasein. Dabei hebt er jedoch – vor allem in den frühen Freiburger Vor100 Auf diese Ähnlichkeit im Ansatz beider Denker verweist auch Smith in seinem Buber-Heidegger-Vergleich; siehe Smith 1966, 1 f. Vgl. dazu auch Brunnhuber 1993, 129. 101 Die Grunderfahrung Bubers meint also eher eine grundlegende, fundamentale Erfahrung, die »Grunderfahrung« Heideggers, meint man damit den Bezug zum Sein, das Vordringen zum ›Grund‹. Den Terminus »Grunderfahrung« gebraucht Heidegger selbst – durchaus auch im Sinne der ›fundamentalen Erfahrung‹ ; vgl. etwa Martin Heidegger, »Was ist Metaphysik?«, in: GA 9, 103–122, hier: 109. Vgl. auch EM 11, wo Heidegger von der »Grunderfahrung des Seins« spricht. Zentral ist die Rede von den »Grunderfahrungen« auch in den frühen Freiburger Texten, vor allem in der Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks (SS 1920), wo Heidegger nach dem konkreten, historischen Dasein als Ursprungssphäre jeglicher Wissenschaft und Weltanschauung fragt.

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lesungen – den Primat der nicht-theoretischen Selbstbekümmerung des je faktischen Daseins vor einer jeden dieses ›versachlichenden‹ Philosophie hervor und bestimmt als die Aufgabe der Phänomenologie, »immer von neuem die Brandfackel in alle sachlich-systematische Philosophie zu werfen« (GA 59, 174). Beide Philosophen reflektieren zudem ausdrücklich auf die konkrete Eigenart ihres jeweiligen Hinzeigens auf die abgedrängte ›Wirklichkeit‹ bzw. das zu einer Selbstverständlichkeit degradierte ›Sein‹. Heideggers Phänomenologie will das Sein selbst sich zeigen lassen; Buber deutet sein Denken im Sinne eines – zurückhaltenden – Hinweisens auf die zu zeigende Wirklichkeit. Beide Konzeptionen von Philosophie möchten das zu Zeigende konsequenterweise zugänglich machen – beide wollen oder müssen aber möglicherweise auf ein tatsächliches In-den-Griff-Bekommen des Aufgezeigten verzichten. Während bei Heidegger jedoch über Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit des ›Seins‹ in der Einleitung zu Sein und Zeit sowie den Vorlesungen um 1927 nicht eindeutig entschieden wird, ist die grundlegende Nicht-Fassbarkeit der zu thematisierenden Wirklichkeit bei Buber eindringlich artikuliert. Dass es sich beim Verschaffen eines Zugangs zu den aufzuzeigenden Phänomenen um ein Sprachgeschehen handelt – dass Philosophieren sich als Rede vollzieht –, bedenken beide Entwürfe ausdrücklich, wobei in Bubers Konzeption die Sprachlichkeit des Philosophierens unmittelbar auf die herausragende Bedeutung des Anderen für das echte philosophische Denken, also auf dessen Gesprächscharakter, verweist. Allerdings ließen sich bei der Interpretation beider Konzeptionen auch schon die Grenzen der Rede beim Aufweis des zu Zeigenden erahnen. Um die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den beiden Philosophiebegriffen prägnant zu fassen und – wie in der Einleitung angekündigt – ein Leitmotiv für die gesamte weitere Untersuchung zu gewinnen, sollen nun die beiden Entwürfe als zwei gegensätzliche Typen oder Modelle philosophischen Denkens und Redens interpretiert werden. Dazu ist zunächst eine nähere Betrachtung der spezifischen Zeitlichkeit des jeweiligen Philosophierens aufschlussreich. Heidegger charakterisiert die ausdrückliche Ausbildung des Seinsverständnisses als »wieder-erinnernd-augenblicklich« (GA 26, 10). Als Suchen nach einem ›Früher‹ im Sinne des konstitutiven Apriori vollzieht sich Philosophieren hier als das Fragen eines in seinem Existieren geschichtlichen Daseins, das immer – ob ausdrücklich oder nicht – seine Vergan73 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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genheit ist. Daher sei das Fragen nach dem Sein als ›Grund‹ zugleich das »Wiederergreifen des Anfangs unserer wissenschaftlichen Philosophie« (GA 20, 184). Als Offenbarmachen des Seins deckt sich die »Zeitlichkeit des philosophierenden faktischen Daseins« (GA 26, 10) mit der des eigentlichen Verstehens, welche Heidegger als »wiederholend-augenblickliches Vorlaufen« bestimmt. Die Zeitlichkeit des uneigentlichen Verstehens wird in Sein und Zeit als das »vergessend-gegenwärtigende Gewärtigen« bestimmt – das Abdrängen der Seinsfrage zeitigt sich somit als neugieriges Sichverlieren an das Seiende. Auffällig ist, dass die Zukunftsekstase im Konzept der Wiedererinnerung bezeichnenderweise schwach ausgeprägt ist. Im redenden Vollzug der Seinsfrage als metaphysischer Erinnerung dominiert eindeutig die spezifische, nicht ›vulgär‹ begriffene ›Vergangenheit‹ im Sinne des apriorischen Früher. 102 Das heißt: Der gegenwärtige Bezug auf Seiendes ist möglich aufgrund dieser Erinnerung und diese Erinnerung selbst wiederum geht als solche nicht auf etwas letztlich Un-erreichbares, sondern auf etwas latent stets Gegenwärtiges. Auch das Philosophieren als ›bezeugendes Zeigen‹ hat seine eigene Zeitlichkeit, obgleich Buber dies nicht ausdrücklich reflektiert. Vor allem im Bereich der Rechtssprechung, aber auch in der Sphäre der Religion, verweist das Zeugesein auf etwas Vergangenes – ein Ereignis ist geschehen, von dem berichtet werden soll. Biographisch weist Buber auf eine bestimmte Spanne seines Lebens zurück, historisch auf vorherige Epochen, in denen möglicherweise die Urwirklichkeit präsenter war; ›philosophiehistorisch‹ verweist sein Werk auf die Tradition des hebräischen Denkens, in deren Erzeugnissen – nach Bubers Einschätzung – die Dialogizität des menschlichen Lebens einst exemplarisch artikuliert wurde. Dominiert also auch hier nicht eine spezifische Vergangenheitsbezogenheit? 103 102 Es ist grundsätzlich problematisch, in Heideggers Konzeption eine der drei Zeitekstasen als dominant herauszustellen, weil schließlich immer alle drei an der Zeitigung spezifischer Seinsweisen beteiligt sein sollen. 103 So wird die Bewegung eines ›Zurück‹ zu einer ›dialogischen Urwirklichkeit‹ bei Ebner als eine Form von Wiedererinnerung begriffen; vgl. Ferdinand Ebner, »Versuch eines Ausblicks in die Zukunft«, in: ders., Schriften. Erster Band: Fragmente, Aufsätze, Aphorismen, hrsg. von Franz Seyr, München 1963, 719–908, hier: 891 f. sowie Augustinus K. Wucherer-Huldenfeld, Personales Sein und Wort. Einführung in den Grundgedanken Ferdinand Ebners, Wien u. a. 1985, 156.

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Zentral ist nun, dass die Wirklichkeit, auf die Buber hinzeigen möchte, eine immer wieder neu geschehende Wirklichkeit ist, die selbst durch keine Erinnerung ›bewahrt‹ werden kann. Indem Buber die Nicht-Repräsentierbarkeit des zu Zeigenden im philosophischen Reden ausdrücklich hervorhebt, verweist er auf die prinzipielle Unzulänglichkeit eines jeden Versuchs, die immer in einer lebendigen Gegenwärtigkeit erfahrene Wirklichkeit in einer erinnernden Beschreibung ›wiederzuholen‹. Der Zeuge im Sinne Bubers steht in der Gegenwart – im aktuellen Gespräch in seiner augenblicklichen Konkretheit – für etwas in begrifflichem Sinne nicht zu ›bewältigendes‹ Geschehenes ein, das ihm in der Zukunft jederzeit wieder – aber immer anders – widerfahren kann und in der Erinnerung nicht aufgeht. Indem Bubers Philosophie sich ausdrücklich als ein Denken versteht, das auf die Anderheit des Anderen »hin denkt« (DP 179), steht diesem Denken aber nicht nur die geschehende Wirklichkeit beständig wieder bevor, sondern auch ein immer neuer Gesprächspartner. 104 Die Zeitlichkeit des Philosophierens findet bei beiden Denkern in einem Bild Ausdruck, welches die Prozessualität des philosophischen Redens aufzeigt. In beiden Fällen handelt es sich um eine Metaphorik, die mit den Parametern Offenheit/Geschlossenheit spielt – es ist eine Hausmetaphorik. Heidegger selbst greift bei seiner Charakterisierung der Seinsfrage in der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie auf das Bild der Höhle aus Platons Politeia zurück, um den Vollzug der Wiedererinnerung als Weg vom Betrachten des Seienden zur Frage nach dem Sinn von Sein hin zu illustrieren: »Das Auftauchen aus den Niederungen des Seienden durch das begriffliche Denken des Wesens zum Sein hat den Charakter der Erinnerung an vormalig schon Gesehenes. Ohne den Mythos von der Seele gesprochen: Das Sein hat den Charakter des Früheren, dessen der Mensch, der zunächst und zumeist nur das Seiende kennt, vergessen hat. Die Befreiung der gefesselten Höhlenbewohner aus der Höhle und die Umwendung zum Licht ist nichts anderes als das Sichzurückholen aus der Vergessenheit in die Erinnerung an das Frühere, darin die 104 Vgl. zur dialogischen Gegenwart als einer immer zukünftigen Theunissen 1977, 296. Die wirkliche, in die echte Gegenwart eingeschlossene Zukunft ist nach Theunissen gerade nicht die geplante, sondern die überraschende, uneinholbare. Die Vergangenheit ist bei Buber grundsätzlich mit dem Ich-Es identifiziert, weil ein erinnerndes Wahrnehmen eine prinzipielle Vorstrukturiertheit bedeutet; vgl. zur Interpretation von Ich-Es und Ich-Du auf ihre jeweilige Zeitlichkeit hin DP 16 f. sowie Abschnitt II, Kapitel 3.3.1 und Abschnitt VI, Kapitel 2.

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Ermöglichung des Verständnisses des Seins selbst beschlossen liegt.« (GA 24, 465) 105

Wenn hier ein ›Bereich‹ erschlossen wird, der nicht gänzlich unbekannt ist, dann ist das Außerhalb der Höhle aber kein radikales Anderswo, sondern gehört lediglich – um bei Heideggers Bild zu bleiben – in den erweiterten Umkreis des ›Unterirdischen‹ : »Sein erfassend erfassen wir nichts Neues, sondern ein im Grunde Bekanntes« (GA 26, 186). Das Fragen nach dem Sein gräbt von der Oberfläche aus gesehen immer tiefer bzw. arbeitet sich – im Rahmen der Höhlenmetaphorik gesprochen – durch die Verdeckungen und Vorurteile hindurch nach oben zum Sein selbst. Sie erreicht so abgedrängte ›Sphären‹, wird aber nie mit etwas gänzlich Überraschendem konfrontiert. 106 In dieser Zirkularität der Wiedererinnerung drückt sich das Motiv einer Heimkehr aus: Das aktuelle Stellen der Seinsfrage meint keinen Aufbruch zu ganz Neuem, sondern kehrt an einen Ort zurück, der immer erreichbar ist – »immer schon da und doch immer nur im Wiederzurückkommen darauf erfaßt« (GA 26, 186). Die im Rahmen der Heidegger-Interpretation schon hervorgehobenen Differenzpaare Nähe vs. Ferne und Vertrautheit vs. Fremdheit sind somit erneut angesprochen, mit dem deutlichen Akzent auf dem jeweils ersten Pol: Philosophieren nach der Konzeption von Sein und Zeit und den ergänzenden Vorlesungen führt augenscheinlich über das Erlangen des eigensten Seins (Dasein in seiner Eigentlichkeit) zum Sein als dem Eigensten. 107 105 Vgl. auch GA 24, 404, wo ebenfalls die platonische Höhle als Bild für die Vergessenheit der Seinsfrage gebraucht wird. Heideggers Vergleich legt an beiden Stellen nahe, die Sonne des platonischen Gleichnisses mit der Zeitlichkeit zu ›identifizieren‹, die selbst früher als das ›Früher‹ des Seins ist. 106 Die heideggersche Hausmetaphorik verweist auch auf die oft betonte strukturelle Ähnlichkeit der Tiefenhermeneutik von Sein und Zeit mit der Psychoanalyse Freuds, die sich ebenfalls einer topographisch geprägten Metaphorik bedient, vgl. dazu Martin Bartels, Selbstbewußtsein und Unbewußtes. Studie zu Freud und Heidegger, Berlin/ New York 1976 sowie Merker 1988, 275 ff. Merker zeigt die ›strukturelle Affinität‹ der heideggerschen Fundamentalontologie mit der Psychoanalyse auf, indem sie Heideggers Deutungen der Seinsfrage als anamnesis interpretiert. 107 Der Topos der Heimkehr ins Eigene im Sinne eines Durchgangs durch das Fremde wird als Darstellung des Seinsbezugs u. a. in Heideggers Interpretation von Hölderlins »Der Ister« von 1942 zentral. Rainer Marten prägt in seiner Interpretation der heideggerschen Hermeneutik den Begriff der Oikeiolektik für das Philosophieren des späten Heidegger: Philosophie sage hier, »indem sie das Sein ansagt, den Menschen heim« (Rainer Marten, »Martin Heidegger: Den Menschen deuten«, in: Klassiker der Herme-

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Zwei Modelle: Philosophie als Heimkehr und Philosophie als Aufbruch?

Bubers Philosophie hingegen versteht sich als Geste des Hinausweisens, sie favorisiert in ihrer Bildsprache den Blick aus dem Heim in ein nicht in das Haus hineinholbares und nicht mehr zum Haus gehöriges Draußen: »Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus.« (W I, 1114) Bubers Wirklichkeit konfrontiert das Denken mit einer Heftigkeit, »so daß durch alle Gemächer, alle Türen aufsprengend, der Sturm weht« (W I, 1111). Das Haus ist offen, Überraschendes mag hereinbrechen. Vor allem auch in Daniel. Gespräche von der Verwirklichung (1913) ist das Ausziehen in die Fremde, das Sich-nicht-Auskennen, wesentliches Motiv der Entdeckung der echten Wirklichkeit. 108 Buber geht zwar von einer eigenen Erfahrung aus bzw. vom menschlichen Zugang zur Wirklichkeit, es ist aber gerade eine Erfahrung des NichtEigenen (des ›Anderen‹ als Gegenüber), um die es ihm geht. Motive des – mehr oder weniger – radikalen ›Ortswechsels‹ lassen sich bei etlichen Vertretern der Dialogphilosophie ausmachen: Grisebachs Methode der ›Drehung um hundertachtzig Grad‹ etwa oder RosenstockHuessys Charakterisierung seines grammatischen Über-setzens als eines ›Aufbruchs zu neuen Ufern‹ lassen sich hier anführen. Auch Rosenzweigs Kritik an der die gesamte Philosophie beherrschenden Technik der ›Zurückführung‹ einer Wirklichkeit auf eine andere fügt sich einer solchen Programmatik ein. 109 neutik, hrsg. von Ulrich Nassen, Paderborn u. a. 1982, 241–269, hier: 242 f.). Dieter Thomä wendet in Anlehnung an Marten den Begriff des Heimredens schon auf Sein und Zeit an – er beschreibt so die seiner Meinung nach in Sein und Zeit dominierende »Technik der Rückführung auf das Dasein« (Thomä 1990, 258). 108 Vgl. Martin Buber, Daniel. Gespräche von der Verwirklichung, in: Martin Buber Werkausgabe. Band 1: Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891–1924, bearb., eingel. und komm. von Martin Treml, Gütersloh 2001, 183–245, hier: 209 ff. Im Folgenden wird dieser Band zitiert als MBW I. 109 Grisebach will – in deutlicher Abgrenzung von Heidegger – die ›Zirkularität‹ der Erkenntnis durchbrechen, die kein wahres Außen kennt. So wirft er den neuen philosophischen Schulen vor, kein echtes »Neuland« zu suchen; vgl. Grisebach 1928, 15. Bezeichnenderweise identifiziert er die Zirkularität der ›Ich-Philosophie‹ immer wieder mit einer Fixierung auf die Erinnerung, auf ein ›Gestern‹ ; vgl. Grisebach 1928, 11, 40 und 515. Vgl. zur ›Drehung um hundertachtzig Grad‹, mit der Grisebach den echten Blickwechsel seines Denkens beschreibt, auch Karl Heim, Glaube und Denken, 2., unveränd. Aufl., Berlin 1931, 37. Rosenstock-Huessy begreift seine Interpretation der griechisch-lateinischen Grammatik auf ihre durch Anrede und Antwort strukturierte Tiefendimension hin als mutigen »Vorstoß und Vormarsch ins ungeschaute Land« (Eugen Rosenstock-Huessy, Angewandte Seelenkunde, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen. Erster Band, Heidelberg

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So steht der Heimkehrstruktur der heideggerschen Seinsfrage die Aufbruchsmetaphorik des dialogischen Denkens gegenüber. Die Identifizierung des heideggerschen und buberschen Denkens mit diesen beiden Modellen ›Heimkehr‹ und ›Aufbruch‹ soll nun nicht nur einen ersten Vergleich abschließen, 110 sondern vor allem auch eine Leitfrage für die weitere Interpretation vorgeben: Präsentieren die Analysen in Sein und Zeit insgesamt eine ›Odyssee‹ des Daseins? Gelingt es auf der anderen Seite Buber, das menschliche Bezogensein auf eine ›unverfügbare‹ Wirklichkeit tatsächlich aufzuweisen? In Bezug auf das Phänomen Sprache ließe sich die Fragestellung folgendermaßen formulieren: Begreift Heidegger den sprachlichen Vollzug des Daseins möglicherweise als ein spezifisches ›Heimholen‹ (von Seiendem)? Oder lässt sich im menschlichen Sprechen gerade ein Moment des Aus-seins auf ›etwas‹ aufzeigen, das uneinholbar bleibt? Jedoch lässt sich schon jetzt auf zwei mögliche Irritationen einer glücklichen ›Heimkehr‹ des Daseins hinweisen; die erste zeigt sich bei einer eingehenderen Befragung der ›Heimlichkeit‹ des Heims, die zweite manifestiert sich in der Feststellung der Notwendigkeit eines immer neuen Sicheinrichtens: Wenn das Sein nur ›unser‹ ist, weil es 1963, 739–810, hier: 810; im Folgenden zitiert als AS). Rosenzweig bezeichnet z. B. die Rückführung der ›Welt‹ auf ein sie konstituierendes Ich als ein ›Verandern‹ der Welt – sie wird in die Eigensphäre des erkennenden Subjekts hereingeholt und verliert so ihre Fremdheit gegenüber der ichlichen Sphäre; vgl. Rosenzweig 1937, 380. 110 Wie gesehen ist es vor allem eine bei Heidegger und Buber selbst eingesetzte Metaphorik, die zur Beschreibung ihres Denkens durch diese ›Modelle‹ einlädt. Im Hintergrund steht jedoch auch die von Lévinas vorgenommene Gegenüberstellung von Odysseus, der nach seiner Irrfahrt wieder nachhause zurückkehrt, und Abraham, der sich auf den Weg in ein Land macht, das er noch nie gesehen hat. Das Modell ›Odysseus‹ steht bei Lévinas für ein Denken, das »sich schon im voraus eingeholt hat in dem Licht, das es leiten sollte« (Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, aus dem Franz. übers., hrsg. und eingel. von Wolfgang N. Krewani, Freiburg i. Br./München 1983, 212 f.). Der Aufbruch Abrahams dagegen verbildliche ein Philosophieren, das »eine Bewegung des Selben zum Anderen [darstellt], die niemals zum Selben zurückkehrt« (Lévinas 1983, 215). Vgl. zu dieser Gegenüberstellung auch Józef Tischner, Das menschliche Drama. Phänomenologische Studien zur Philosophie des Dramas, aus dem Poln. übers. von Stanisław Dzida, München 1989, 36 (im Folgenden zitiert als MD) und Jacques Derrida, »Gewalt und Metaphysik«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, aus dem Franz. übers. von Rodolphe Gasché, Frankfurt a. M. 1972, 121–235, hier: 143 und 234 f. sowie Paul Ricœur, »Vielfältige Fremdheit«, in: Andersheit – Fremdheit – Toleranz. Interdisziplinäre Schriftenreihe des Humboldt-Studienzentrums, hrsg. von Renate Breuninger, Ulm 1999, 11–29, hier: 24.

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sich gegeben hat, dann gehört die Umgebung der Höhle vielleicht zur Heimwelt hinzu, stellt sich aber gerade nicht als die »Welt der All-Zugänglichkeit« (Hua XV, 627) dar. Deutet man die Zirkularität der Seinsfrage als Rundgang in einem in sich geschlossenen Kosmos – der Heimsphäre des Seienden Dasein –, dann wird dieses kein wahres Außen kennende Gebäude gesprengt, wenn man die Kluft zwischen Seiendem und Sein so radikal fasst, dass im Bekannten das Fremde aufscheint. Außerdem ist fraglich, ob ein Heimkehrer nach langer Irrfahrt den einstigen Ausgangsort nicht immer verwandelt vorfindet. Kommt Odysseus, dessen abenteuerliche Heimfahrt bei Lévinas zum Modell für das »Entsetzen vor dem Anderen« 111 des griechisch geprägten abendländischen Denkens avanciert, wirklich zu demselben Ort zurück, den er vor langer Zeit verließ? Heidegger selbst betont mit einer Anspielung auf Nietzsche, dass die Fundamentalontologie 112 keine ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ meine: »Die Fundamentalontologie ist immer nur eine Wiederholung dieses Alten, Frühen. Dieses aber überliefert sich uns selbst in der Wiederholung nur dann, wenn wir ihm die Möglichkeit geben, sich zu verwandeln.« (GA 26, 197) Dass das Fragen nach dem Sein sich nicht als »gleichförmige[s] Anrollen des immer Gleichen« 113 vollzieht, liegt aber wiederum in der dem Dasein eigenen Zeitlichkeit begründet: Dasein stellt die Seinsfrage immer augenblicklich-erinnernd und eignet sich das Sein immer geschichtlich zu. 114 Wie steht es umgekehrt mit dem Phänomen des Aufbruchs? Abraham zieht aus, aber er findet sich im neuen Land zurecht. 115 Ein 111 Lévinas 1983, 211. Lévinas identifiziert die abendländische Ausprägung der Philosophie als Ontologie bekanntlich unmittelbar mit dieser Angst. 112 Hier als Gesamtprojekt einer Grundlegung der Ontologie überhaupt begriffen; vgl. GA 26, 196 f. und 201. 113 Martin Heidegger, »Aus einem Gespräch von der Sprache zwischen einem Japaner und einem Fragenden«, in: ders., Unterwegs zur Sprache, 13. Aufl., Stuttgart 2003, 83– 155, hier: 131. Im Folgenden wird der Sammelband zitiert als US. 114 Oberthür begreift nun gerade diese Rückbindung der Frage nach dem Sinn von Sein an die Analyse der Strukturen des fragenden Seienden als »ewige Wiederkehr des Gleichen«; vgl. Oberthür 2002, 163. Vgl. zu den in der Geschichtlichkeit des Daseins wurzelnden »unterschiedlichen Erschlossenheiten von Sein« auch Blasches Einleitung zum Sammelband Martin Heidegger: Innen- und Außenansichten, hrsg. von Siegfried Blasche, Frankfurt a. M. 1989, konkret: 20 f. 115 Bei Buber selbst wird Abraham nicht zur Leitfigur, d. h. bei seinem Rückgang auf ein hebräisches Denken spielt dieser keine herausragende Rolle.

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absolut fremder Ort, ein vollkommen anderes Terrain – müsste das nicht eher ein totaler Nicht-Ort sein? Trägt man nicht in jedem Auszug Eigenes mit? Es stellt sich also die Frage, wie radikal sich Philosophie als ›Aufbruch‹ überhaupt denken lässt. Allein die Chance der ›Übersetzung‹ der Erfahrung einer uneinholbaren Wirklichkeit stellt deren ›Unfassbarkeit‹ in Frage: So begründet Buber die Möglichkeit der Logisierung mit dem Hinweis, dass die Vernunft in der Grunderfahrung der Urwirklichkeit nicht vollkommen ausgeblendet sei. 116 Es ergibt sich für den weiteren Vergleich also folgende Aufgabe: Heideggers Entwurf in Sein und Zeit soll auf die Spannung zwischen Verfügen und Entwerfen auf der einen und Verweigerung und Entzug auf der anderen Seite hin untersucht werden. In der Interpretation der Weltlichkeit des Daseins, des Mitseins, vor allem schließlich der Erschlossenheit mit dem Schwerpunkt auf Rede und Sprache soll nach dem Austrag dieser Polarität gefragt werden. Die dabei im Hintergrund stehende Überlegung zur ›Mächtigkeit‹ oder ›Ohnmächtigkeit‹ des Daseins verweist unmittelbar auf die vieldiskutierte Frage, inwieweit Sein und Zeit noch als subjekt- oder transzendentalphilosophisches Werk zu lesen sei. So spricht Rentsch in seinem Artikel im Heidegger-Handbuch als ein zentrales systematisches Grundproblem von Sein und Zeit das »Restproblem der transzendentalen Subjektivität« an. 117 Auch Theunissens in der Einleitung zitierter Kommentar 118 zu Nähe und Distanz zwischen Bubers und Heideggers Grundansatz verwies schließlich 116 Die Vernunft sieht Buber nicht als ein der Glaubenserfahrung völlig fremdes, sie in der Bearbeitung zerstörendes Werkzeug an, sondern sie sei »in dieser Art von Erfahrung mit eingetan«, aber eben »nicht in ihrer abgelösten, selbstherrlichen Gestalt, sondern als einer der Träger« (W I, 1112). In Zwei Glaubensweisen heißt es: »[…] meine rationale Denkfunktion ist ja eben nur ein Teil, eine Teilfunktion meines Seins; wo ich aber ›glaube‹, in der einen oder in der andern Weise, tritt mein ganzes Sein, tritt die Ganzheit meines Seins in den Vorgang ein« (Martin Buber, Zwei Glaubensweisen, in: W I, 651– 782, hier: 653). Folgende Bemerkung Heideggers im SS 1920 deutet auf eine große Nähe zu Bubers Ansatz hin: »Die Rationalität der Philosophie wird nur einschlußweise zu ihrem Recht kommen, aber sich nicht absplittern, sondern nur eine immanente Erhellung der Lebenserfahrung selbst sein, die in dieser selbst bleibt und nicht heraustritt und sie zur Objektivität macht. Die Philosophie ist durchherrscht von einer sich ständig erneuernden Grunderfahrung, so daß die Rationalität in dieser Grunderfahrung selbst gegeben ist und sich in ihr inhaltlich bilden muß.« (GA 59, 171 f.) 117 Vgl. Thomas Rentsch, »›Sein und Zeit‹. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit«, in: Heidegger-Handbuch, hrsg. von Dieter Thomä, Stuttgart 2003, 51–80, hier: 77 (im Folgenden zitiert als Rentsch 2003 b). 118 Siehe Theunissen 1977, 246.

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schon auf die Frage nach einer »transzendental-subjektphilosophischen Rest- bzw. Grundproblematik« 119 in der Konzeption von Sein und Zeit. 120 Bubers Entwurf soll im Folgenden daraufhin befragt werden, inwieweit der Aufbruch als tatsächlicher ›Bruch‹ gedacht wird. Dementsprechend muss die Interpretation der zwiefältigen Welt, des Zwischen und schließlich der Sprache als ausgezeichneter Heimat des Ich-Du vor allem dem Ineinander oder Gegeneinander von Anwesenheit und Abwesenheit, Nähe und Distanz, Macht und Ohnmacht bei der Bestimmung des ›Ich‹ in Bubers Dialogik nachgehen. Auch hier steht dabei die Frage nach einer mehr oder weniger konsequenten Ablösung vom neuzeitlichen Subjektdenken beständig im Hintergrund.

Rentsch 2003 b, 77. So bezeichnet auch Schulz Sein und Zeit als ein »Werk der Philosophie der Subjektivität«; vgl. Walter Schulz, »Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers«, in: Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werks, hrsg. von Otto Pöggeler, Köln/Berlin 1969, 95–139, hier: 106 f. Auch Thomä zieht aus seiner Analyse der Einleitung den Schluss, dass »das ›Sein‹ auch in ›Sein und Zeit‹ zu einer Theorie der Subjektivität gehört«; vgl. Thomä 1990, 255. Cosmus unterstellt Sein und Zeit zwar eine nicht vollkommen gelungene Loslösung vom »subjektzentrierten Denken«, will das Werk aber dennoch nicht als »Variante der Subjektivitätsphilosophie« verstehen; vgl. Cosmus 2001, 62. 119 120

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Abschnitt II: Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

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Einleitender Exkurs: Die Orientierung am ›ich bin‹ in Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen und Ebners Das Wort und die geistigen Realitäten

Dem Sinn des ›ich bin‹ kommt bei Heidegger im Zuge der Fokussierung auf das faktische, historische Selbst in den frühen Freiburger Vorlesungen und Texten eine zentrale Bedeutung zu. Einer der prominentesten Dialogiker neben Buber – Ferdinand Ebner – nutzt in ebenso kritischer Reflexion auf das cartesische cogito wie Heidegger dieselbe Formulierung, um die Du-Bezogenheit des Ich-Sagens und somit den ›Überschritt‹ jeglicher Subjektivität auf einen Gegenpol hin zu bekräftigen. 1 Indem beide Konzeptionen sich mit ihrer Deutung des ›ich bin‹ von »Ich-Metaphysik« und »ichlichem Idealismus« (GA 61, 173) sowie »egoistischer, egologischer Reflexion« (GA 61, 168) im Ausgang von Descartes absetzen wollen, teilen sie die Motivation einer Hervorhebung des ›bin‹ als des Vollzugs von ›Ichhaftigkeit‹ bzw. ›Selbstheit‹. Heidegger formuliert die Akzentsetzung pointiert: »Im eigentümlichen Seinscharakter des ›ich bin‹ ist das ›bin‹ entscheidend und nicht das ›ich‹.« (GA 61, 174) Die konkrete Ausgestaltung der Frage nach dem ›ich bin‹ bei Heidegger und die Interpretation dieses ›Selbstausdrucks‹ des Ich bei Ebner verweisen exemplarisch auf wesentliche Momente des jeweils anderen Weges einer Hermeneutik der Faktizität und eines dialogischen Denkens bei der Abkehr von einem weltkonstituierenden, abstrakten Ich. Die knappe Darstellung beider Konzepte des ›ich bin‹ soll nun – im Sinne eines hinführenden Exkurses – erste Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Vorstellung des Ich im Rahmen einer IchAnders als Heidegger schreibt Ebner jedoch das ›Ich‹ des ›ich bin‹ groß, gebraucht also – in der Regel jedenfalls – die Formulierung ›Ich bin‹.

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Die Orientierung am ›ich bin‹

Du-Philosophie und der des Selbst im Zuge einer Auslegung des faktischen Lebensvollzugs in den Blick bringen. Unter Heideggers Texten aus der frühen Freiburger Zeit präsentieren vor allem die Rezension »Anmerkungen zu Karl Jaspers ›Psychologie der Weltanschauungen‹« (1919/21) und die Vorlesung Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (WS 1921/22) die Frage nach dem Sinn des ›ich bin‹ als die Frage nach dem »Seinssinn des faktischen Lebens« (GA 61, 172), dessen Verstehen – wie schon deutlich wurde – als das wesentliche Anliegen der heideggerschen Philosophie in dieser Phase angesehen werden muss. 2 In formal anzeigender Weise fasst Heidegger – in Auseinandersetzung mit Jaspers’ Konzeption – den Begriff der Existenz als konkrete Weise zu sein, als Seinsweise des Selbst: Existenz sei »ein bestimmter ›ist‹-Sinn, der wesentlich (ich) ›bin‹-Sinn ›ist‹, der nicht im theoretischen Meinen genuin gehabt wird, sondern gehabt im Vollzug des ›bin‹, eine Seinsweise des Seins des ›ich‹« 3 . Eine ungeprüfte Festlegung des ›Ichhaften‹ als »Quelle und Akteur einer bestimmt gefaßten transzendental-relativen oder absolut-idealistischen Konstitutionsproblematik« (GA 61, 173), als »Bewußtseinsstrom« oder »Erlebniszusammenhang« (GA 9, 30) macht nach Heidegger das ›Ich‹ zu einem »feststellbaren und einzuordnenden Objekt« (GA 9, 30). Der Zugang zum Phänomen des ›ich bin‹ werde so aber vollkommen verschlossen, denn die entscheidende Grunderfahrung, »in der ich mir selbst als Selbst begegne« (GA 9, 29), werde schlichtweg ignoriert. Die ›Betrachtung‹ des Ich in seinem Sich-selbst-Haben muss nach Heidegger schließlich abzielen auf »das volle konkrete historisch faktische Selbst« (GA 9, 30).

Zur Charakterisierung der spezifisch heideggerschen Lebens- und Existenzphilosophie um 1920 – in Abgrenzung von Dilthey, Simmel und Jaspers – vgl. Michael Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn/Berlin 1991. Die inzwischen veröffentlichten Vorlesungen zeigen zudem die zentrale Bedeutung der Auseinandersetzung Heideggers mit der frühchristlichen Lebenserfahrung sowie der Philosophie Aristoteles’. Vgl. neben Imdahls Untersuchung (Imdahl 1997) zum Kontext der frühen Freiburger Texte und der sich hier stets weiterentwickelnden Konzeption Heideggers die Ausführungen in In-Suk Kim, Phänomenologie des faktischen Lebens. Heideggers formal anzeigende Hermeneutik (1919–1923), Frankfurt a. M. u. a. 1998. 3 Martin Heidegger, »Anmerkungen zu Karl Jaspers ›Psychologie der Weltanschauungen‹«, in: GA 9, 1–44, hier: 29. 2

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

Doch wie kann dieses nun überhaupt zugänglich werden? Heidegger: »Das Existenzphänomen erschließt sich […] nur einem radikal angestrebten historischen, nicht einstellungsmäßig betrachtend gerichteten und auf regional objektivierendes Ordnen es absehenden, vielmehr wesentlich selbst bekümmerten Erfahrungsvollzug.« (GA 9, 33)

›Bekümmerung‹ oder ›Sorgen‹ versteht Heidegger als den Bezugssinn des Lebens und Leben heißt bereits in den frühen Freiburger Texten Leben in einer Welt: »Leben ist in sich selbst weltbezogen« (GA 61, 86). Die Welt präsentiert Heidegger hier als eine Verflechtung dreier im Charakter der Bedeutsamkeit erfahrener ›Bezirke‹ : Die Umwelt als ›dingliche‹ 4 Umgebung, die Mitwelt als ›sozialer‹ Bereich und die Selbstwelt als die Sphäre des Sich-selbst-Habens durchdringen einander gegenseitig, bilden also kein stückhaft zusammengesetztes Ganzes, sondern die immer geschichtlich gegebene, in ihrer Vielschichtigkeit höchst komplexe Lebenswelt des Selbst. 5 In der Selbstwelt ›begegne‹ ich mir nach Heidegger als in der Welt, »in der ich irgendwie mit dabei bin, mitgenommen werde, in der etwas mir ›passiert‹, worin ›ich‹ wirke« (GA 61, 95 f.). Hier reflektiere ausdrücklich kein ›Ich‹ auf sich selbst – etwa in psychologisch-analytischer Manier –, sondern in der Selbstwelt vollziehe sich das ›bin‹, ohne sich ausdrücklich vom Begegnenden abzuheben: »Ich erfahre mich selbst im faktischen Leben weder als Erlebniszusammenhang, noch als Konglomerat von Akten und Vorgängen, nicht einmal als irgendein Ichobjekt in einem abgegrenzten Sinn, sondern in dem, was ich leiste, leide, was mir begegnet, in meinen Zuständen der Depression und Gehobenheit u. ä. Ich selbst erfahre nicht einmal mein Ich in Abgesetztheit, sondern bin dabei immer der Umwelt verhaftet.« (GA 60, 13)

Das ›ich bin‹ vollzieht sich laut Heidegger also nicht in einer isolierten Sphäre der Eigenheit, sondern in einem Geflecht aus Bezügen, die Umund Mitwelt beständig einschließen: »Als Selbstwelt ist das ›mich‹, für das ich in Sorge bin, in bestimmten Bedeutsamkeiten erfahren, die in

Obgleich ›Dinglichkeit‹ im engen Sinne gerade nicht die ursprüngliche Gegebenheitsweise der Umwelt darstellt – denn das hier Begegnende zeigt sich im alltäglichen Zutunhaben mit … nach Heidegger gerade nicht als Objekt; vgl. etwa GA 63, 88–91. 5 Vgl. zur Lebenswelt in ihrer Ausdifferenzierung in Um-, Mit- und Selbstwelt vor allem GA 58, 33 f., GA 61, 94 ff. und GA 60, 11. 4

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Die Orientierung am ›ich bin‹

der vollen Lebenswelt aufgehen, in der mit der Selbstwelt immer auch die Mit- und Umwelt da ist.« (GA 61, 94) Das Verhältnis von Selbstwelt und Um- bzw. Mitwelt zueinander lässt sich aber noch eingehender betrachten. So legen einige Bemerkungen in den entsprechenden Vorlesungen nahe, dass die drei ›Welten‹ im jeweiligen Erleben doch nicht gleichrangig sind. Heidegger proklamiert 1919/20 eine auffällige »Zugespitztheit des faktischen Lebens auf die Selbstwelt« (GA 58, 59) und betont auch in der Jaspers-Rezension, dass der Sinn der selbst-, mit- und umweltlichen Bezüge »letztlich ein selbstweltlich verhafteter historischer« (GA 9, 34) sei. Das Selbst lebe in immer neuen »Situationen«, in denen sich die drei Bezirke der Lebenswelt durchdringen, doch die »Lebenswelt« insgesamt sei gelebt in einer »Situation des Selbst« (GA 58, 62). Um- und Mitwelt scheinen also von der Selbstwelt aus in ihrer Bedeutsamkeit ›entworfen‹ zu sein – auch wenn dieser Terminus von Heidegger hier noch nicht gebraucht wird; ihr Begegnen ist offenkundig in der Selbstwelt, und somit im Vollzug des ›ich bin‹, fundiert. Andererseits betont Heidegger stets – wie die obigen Zitate zur Unabgehobenheit des Ich zeigen – die prinzipielle Offenheit und Dynamik der Binnenstrukturiertheit der Lebenswelt: Die drei Bereiche überschneiden sich, durchkreuzen einander – es »gibt hier keine Grenze; die ›Verteilung‹ kann sich in jedem Augenblick verschieben aufgrund des Charakters des Lebens, daß es erfährt in Begegnissen« (GA 61, 96). 6 Auch führt die Eingelassenheit des Selbst in mannigfache bedeutungsmäßige Bezüge nach Heidegger gerade dazu, dass es sich nicht nur nicht eigens in einem Reflexionsakt vom es Umgebenden abgrenzt, sondern dass es sich vielmehr tendenziell von diesem her versteht. In Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (WS 1921/22) prägt Heidegger eine Vielfalt unterschiedlicher, auf den späteren Terminus des ›Verfallens‹ hindeutende Begriffe, welche die »Zerstreuung« oder »Selbstgenügsamkeit« des »von seiner Welt mitgezogenen Lebens« (GA 61, 102) charakterisieren sollen. 7 Heidegger destruiert demnach in den frühen Freiburger Vorlesungen und Texten die Vorstellung eines ›reinen Ich‹ durch den Aufweis An anderer Stelle heißt es gar: »Eine erkenntnistheoretisch betreffbare Schichtung und Rangordnung dieser drei Welten wäre schon Vergewaltigung.« (GA 60, 11 f.) 7 Heidegger spricht von »Abriegelung« sowie »Neigung« und bezeichnet die Grundbewegtheit überhaupt mit dem Begriff »Ruinanz«; vgl. GA 61, 100 ff. sowie 131 ff. 6

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

der Faktizität eines historischen, in einer vielschichtigen und ›vieldeutigen‹ Welt existierenden Selbst. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit nicht die Selbstwelt doch wieder eine Mittelpunktstellung innerhalb der Lebenswelt einnimmt und wie dann die ›Dinge‹ sowie vor allem andere ›Selbste‹ konkret begegnen können. Findet ein Sichkreuzen der ›Welten‹ statt, in dem Raum für eine echte Konfrontation des jeweiligen Selbst mit tatsächlich Andersartigem – im weitesten Sinne – möglich ist? Oder sind Mit- und Umwelt letztlich nur als ›Ausdehnungen‹ der Selbstwelt begriffen? 8 Wie sich die Abkehr von der neuzeitlichen Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie innerhalb einer dialogisch angelegten Konzeption vollzieht, welche das Ich in die unmittelbare Beziehung zu einem Du setzt bzw. das Selbstbewusstsein in einer solchen Relation gründen lässt, soll nun im Rückgriff auf Ferdinand Ebners bekannteste Schrift Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente (1919) skizziert werden. 9 Ebners Fragmente schreiben mit der Behauptung eines grundlegenden Ich-Du-Verhältnisses 10 gegen die »Icheinsamkeit« des wissenschaftlich-mathematischen Denkens der Neuzeit an, gegen »Idealismus« und »Metaphysik«, in letzter Konsequenz geVgl. zu der Frage, inwieweit die Zentrierung auf die Selbstwelt bei Heidegger Umund Mitwelt degradiert, Werner Kogge, Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik. Heidegger und Gadamer, Hildesheim u. a. 2001. Kogge spricht von einer »Primordialität des Selbst«, welche zu einer »solipsistischen Tendenz in der Konzeptionierung des Lebens« in den frühen Freiburger Vorlesungen führe, die sich in Sein und Zeit noch wesentlich verstärke; vgl. Kogge 2001, 55. Ebenso sieht Hackenesch in Heideggers Bestimmung des ›ich bin‹ die Tendenz, das sich um sich sorgende Selbst keiner tatsächlichen Konfrontation mit der Welt und den Anderen auszusetzen; vgl. Christa Hackenesch, Selbst und Welt. Zur Metaphysik des Selbst bei Heidegger und Cassirer, Hamburg 2001, 29 ff. 9 Trotz deutlicher Differenzen zwischen Ebners und Bubers Konzeption stellt der hier vorgenommene Rückgriff auf Ebners Denken keinen Umweg dar, weil die tragende Formulierung des ›ich bin‹ in ihrer fundamentalen Behauptung der Dubezogenheit des Ich die grundlegende Idee des dialogischen Denkens überhaupt ausdrückt. In Ich und Du taucht die Formulierung des ›ich bin‹ jedoch nur einmal auf, hat dort aber eine konstitutive Funktion – Buber begreift sie als die ›Selbstaussage‹ der Person, d. h. des Ich der Duwelt; vgl. DP 65 f. Zu den wesentlichen Unterschieden zwischen Ebner und Buber vgl. Casper 1967 sowie Theunissen 1977 und Schrey 1970. Rivka Horwitz zeigt in ihrer Untersuchung der Genese von Ich und Du, dass Ebners Text deutlichen Einfluss auf die Endgestalt des buberschen Werkes genommen hat; siehe Rivka Horwitz, »Ferdinand Ebner als Quelle für Martin Bubers Dialogik in ›Ich und Du‹«, in: Bloch/Gordon 1983, 141–156. 10 Diese Bindestrich-Konstruktion kommt bei Ebner allerdings so nicht vor. 8

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Die Orientierung am ›ich bin‹

gen »Philosophie« und »Wissenschaft« überhaupt, weil diese grundsätzlich einem Denken vom Subjekt aus verhaftet seien. 11 Ebners wenig differenzierte, zumeist polemische Auseinandersetzung12 mit den sogenannten »Ichphilosophen« 13 bezeichnet deren Konzeption eines ›ideellen‹ Ich als eine »in der Luft schwebende Abstraktion« oder »eine Seifenblase des spekulativen Verstandes, die der nächstbeste Windhauch aus der Welt der Wirklichkeiten des menschlichen Lebens zum Zerplatzen bringt« (WGR 17). Nicht ein objektiviertes, theoretisch gefasstes Ich, sondern »die menschliche Existenz in ihrer Personalität« (WGR 117), das »wirkliche Ich« (WGR 17), will Ebner selbst in den Blick nehmen. Dabei geht sein Entwurf von der Grundvoraussetzung aus, dass die menschliche Existenz eine ›geistige‹ sei, was bedeute, dass sie immer schon bezogen sei auf etwas Geistiges außer ihr. 14 Ebners Betrachtung menschlicher Existenz versteht sich daher nicht als Psychologie, Ethik oder Anthropologie, sondern als pneumatologische Hinblicknahme auf das Wesen des Menschen. Das ›Seiende‹, zu dem das Ich als das Geistige ›im‹ Menschen als solches ein konstitutives Verhältnis hat, nennt er das Du. 15 Es gibt also nach Ebner weder ein »absolut duloses Ich« noch ein »ichloses Du« (WGR 19) und allein dieses 11 Vgl. zu dieser pauschalen Verurteilung von Philosophie und Wissenschaft Ferdinand Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente, Innsbruck 1921, 15 f. und 112. Im Folgenden zitiert als WGR. 12 Cullberg beurteilt Ebners Konzeption als einen »bisweilen mehr prophetisch als philosophisch durchgeführten Gedankengang«, möchte ihm aber wegen seines bedenkenswerten Ansatzes trotzdem einen Platz als Portalfigur der ›neuen Ontologie‹« zugestehen; vgl. Cullberg 1933, 39. Auch Löwith hält die Fragmente zwar für wenig stichhaltig, beurteilt sie aber dennoch als einen »beachtenswerte[n] Fortschritt auf dem Wege zu einer konkreteren Fragestellung nach der ›Realität‹ der persönlichen Existenz«; vgl. Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, in: ders., Sämtliche Schriften. Band 1: Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropologie, hrsg. von Klaus Stichweh und Marc B. de Launay, Stuttgart 1981, 9–197, hier: 147 (im Folgenden zitiert als IRM). 13 Gemeint sind vor allem Descartes und die Protagonisten des deutschen Idealismus im Ausgang von Kant; hier hat Ebner vornehmlich Fichte im Blick. 14 Ebners Geistkonzeption meint eine Geistigkeit im biblischen Sinne; vgl. die umfassenden Erläuterungen zur Anlehnung des ebnerschen Geistbegriffs an Kierkegaard sowie an das johanneische und paulinische Geistverständnis in Wucherer-Huldenfeld 1985. 15 Das einzige wahre Du des Menschen ist nach Ebner allerdings Gott; in der MenschGott-Beziehung sei der Mensch die zweite Person, Gott die erste; siehe WGR 37.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

Verhältnis zwischen Ich und Du macht seiner Konzeption nach die ›Geistigkeit‹ des Menschen aus. Die intellektuellen Errungenschaften sowie der Niederschlag einer kreativen Ausdruckskraft des Menschen in Kunst, Philosophie, Poesie und Mythos sind nach Ebner hingegen nicht mehr als ein »Traum vom Geist«, der in der »Icheinsamkeit« geträumt wird. 16 Der objektiv fassbare Ausdruck des Angelegtseins des Ich auf eine solche Beziehung zum Du ist nach Ebner nun die Tatsache, dass der Mensch »das Wort hat«, also ein sprechendes Wesen ist. Ich und Du – als die »geistigen Realitäten« des Lebens – seien uns durch das Wort gegeben, und zwar durch das Wort in der Aktualität seines Gesprochenwerdens, seines lebendigen Hin-und-her-Gehens »zwischen dem Ich und dem Du« (WGR 17). 17 Als im Sprachgeschehen fundiert 18 begreift Ebner das Du somit als »die ›Ansprechbarkeit‹ im anderen« (WGR 18) und auch das ›wirkliche‹ Ich bekundet nach dieser Konzeption seine Existenz im Sprechen, sofern dieses nicht nur ein Ansprechen, sondern immer auch ein Sichaussprechen darstellt. Im Satz ›Ich bin‹ wird das Selbstbewusstsein laut Ebner objektiv; 19 hier ›behaupte‹ sich das Ich, jedoch ohne sich selbst zu ›setzen‹ : »Das Selbstbewußtsein, dessen Kern zwar das Ich ist, ist nicht, wie die Philosophen vor hundert Jahren sagten, die ›Selbstsetzung‹ des Ichs – denn dann müßte dieses seinen Grund in der Icheinsamkeit haben –, sondern die durch das ›Wort‹ ins Bewußtsein gelegte, weder ›psychologisch‹ noch ›metaphysisch‹ zu begreifende Möglichkeit im Menschen, seine persönlich gemeinte Existenz in dem

Vgl. WGR 20. Ebners Sprachdenken ist wesentlich beeinflusst durch Johann Georg Hamann und Jakob Grimm. Der Mensch ›hat‹ das Wort nach Ebner letztlich von Gott; siehe WGR 20. Hier ist Hamanns Einfluss besonders deutlich zu spüren, zentral ist aber auch die Logosmystik des Johannesevangeliums, siehe WGR 26 f. und 53. Ebner unterscheidet das ›ursprüngliche‹ Wort – die von Gott gegebene Geistigkeit des Menschen – von der konkreten, jeweils historischen Sprache. Diese ist ihm ein »Abfall von Gott«; vgl. WGR 23. 18 Indem die Sprache sich zwischen der ersten und zweiten Person vollzieht, setzt sie einerseits das Verhältnis vom Ich zum Du voraus, konstituiert es andererseits erst. Ebner verweist selbst auf dieses Paradox, versucht es aber nicht aufzulösen; vgl. WGR 17. 19 Vgl. dazu WGR 18 sowie Rohrbach 1973, 127. Hier wird prägnant hervorgehoben, dass die Seinsaussagen ›bin‹ und ›bist‹ an die dialogische Situation gebunden sind und sich jeder Form des Redens-über entziehen. Ebner verweist zudem auf einen Seinsunterschied, der in den stammverschiedenen Aussagen der deutschen Sprache in ›bin‹ / ›bist‹ und ›ist‹ Ausdruck findet; vgl. WGR 167 f. 16 17

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Die Orientierung am ›ich bin‹

Satze ›Ich bin‹ aussagend zu behaupten – aussagend, das heißt eben die Beziehung zum Du, zur angesprochenen Person voraussetzend.« (WGR 34)

Zwei Kernthesen Ebners lassen sich festhalten: Erstens ›ist‹ das wirkliche Ich nicht, aber ›Ich bin‹, und zweitens ist diese Aussage des ›Ich bin‹ nicht möglich ohne die Idee des ›Du bist‹. 20 Bei Ebner soll ebenso wie bei Heidegger die Konkretheit des faktischen Ich also vor jeglicher Objektivierung, Isolierung und Verkürzung auf ein welterkennendes Subjekt geschützt werden. Während Heidegger jedoch auf die Grunderfahrung des Sich-selbst-Begegnens im Umgang mit andersartig Seiendem in einer komplexen Lebenswelt verweist, sucht Ebners Konzeption des Ich-Du die ›Einsamkeit‹ des ideellen Ich durch die Einbeziehung des Subjekts in eine grundlegende Zweierbeziehung zu überwinden. Bei Heidegger stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der unterschiedlichen ›Welten‹ zueinander – nach einer möglichen Hierarchie und somit einer Mittelpunktstellung des Selbst in der Welt; bei Ebner verweist die Dubezogenheit des Ich auf die fundamentale Bedeutung des anderen Menschen, doch der Bezug auf eine gemeinsam geteilte Welt scheint ausgeblendet. 21 Wenn Weltlichkeit in den Pneumatologischen Fragmenten thematisiert wird, dann als die Sphäre der ›Selbstaufgabe‹ des Ich, wo dieses eben nicht auf ein Du konzentriert ist: »Im Ich wirkt eine Tendenz zur Zerstreuung und zum Sichselbstverlieren, solange es sein Du nicht gefunden hat. Die Sphäre, in die hinein es sich zerstreut und verliert, ist die ›Welt‹. […] Im Ich aber, das einmal sein wahres Du gefunden hat, und darin sich selbst, in ihm hat, allem Sichzerstreuen und Sichverlieren entgegenwirkend, eine Konzentration stattgefunden, in der ihm die ganze Welt nichts mehr anzuhaben vermag.« (WGR 92 f.)

Dieses – an christliche Gedanken angelehnte – Motiv eines Aufgehens in der Welt kennt auch Heideggers Hermeneutik der Faktizität. Bei Ebner jedoch scheint diese Vorstellung von Welt die einzige zu sein – zumindest in den Pneumatologischen Fragmenten. Siehe zu den beiden Thesen WGR 24, 36, 108 und 110. Das Problem radikalisiert sich noch, wenn man an die religiöse Dimension der Konzeption erinnert: »Der Mensch muß seinen Blick von der Welt wegwenden, dann wird sie ihm nicht mehr seinen Ausblick auf Gott hin verstellen.« (WGR 193). Der Vorwurf des »Akosmismus« wird Ebner u. a. von Buber und Ehrenberg gemacht; vgl. Casper 1967, 263. Cullberg sieht in der herausragenden Stellung des göttlichen Du die Gefahr einer »asozialen Mystik«; vgl. Cullberg 1933, 40. 20 21

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

Der Versuch, eine Vorrangstellung des Ich gegenüber dem Du und somit auch eine Zentriertheit des Begegnens des Begegnenden im Selbstvollzug zu umgehen, führt bei Ebner außerdem zu folgender Unklarheit: Wird das Verhältnis einfach umgekehrt und das Du ist nun eine ›erste‹ Person? Oder ist die Beziehung selbst – das ›Zwischen‹ des Sprachgeschehens – konstitutiv für ›Ichhaftigkeit‹ und ›Duhaftigkeit‹ ? Diese Fragen deuten auf zentrale Problembereiche beider Entwürfe des ›ich bin‹ hin, die in der folgenden Auseinandersetzung mit der Beziehung von ›Ich‹ und ›Welt‹ in Heideggers Existenzialanalyse von Sein und Zeit und Bubers dialogischem Denken in – mehr oder weniger – verwandelter Form erneut aufkommen werden.

2.

Heidegger: Dasein als In-der-Welt-sein mit Anderen

2.1 Dasein: Jeweilig Welt bewohnen – Die Abkehr vom Subjekt-Objekt-Schema Mit der Bestimmung des faktischen, nicht-objektivierbaren Selbst sowie dessen vornehmlich nicht-theoretischen bzw. nicht-reflexiven Welt- und Selbstbezug hat Heidegger zu Beginn der 20er Jahre zentrale Charakteristika des in Sein und Zeit zu analysierenden Daseins vorformuliert. 22 In ein Programm, das zum ersten Mal einen explizit ontologischen Kontext herstellt, münden die Leitmotive der frühen Freiburger Vorlesungen und Texte in der Ontologie-Vorlesung vom SS 1923. Hier wandelt sich die Auslegung des faktischen Lebens zu einer Hermeneutik des faktischen Daseins. 23 In dieser letzten Freiburger Vorlesung liefert Heidegger auch eine Auch in Sein und Zeit taucht wiederholt die kritische Bezugnahme auf das cartesische cogito sum auf. Die Daseinsanalytik, so Heidegger, stelle »die ontologische Frage nach dem Sein des sum« (SZ 46). Siehe auch SZ 24, 45 f. und 211 sowie GA 20, 210. Die »phänomenologische Destruktion des ›cogito sum‹« war dem geplanten 2. Abschnitt des zweiten Teils von Sein und Zeit vorbehalten, vgl. SZ 40 und 89. 23 Allerdings werden beide Begriffe – Leben und Dasein – hier noch eingesetzt und weitgehend synonym gebraucht. Als tatsächliche ›Keimzelle‹ von Sein und Zeit kann der Vortrag »Der Begriff der Zeit« von 1924 gesehen werden, weil hier die konsequente Interpretation des Daseins auf seine Zeitlichkeit hin einsetzt. Während die Daseinsanalyse jedoch auf die leitende Absicht der Frage nach dem Sinn von Sein hin orientiert ist, wird die Seinsfrage 1923/24 noch nicht formuliert. Einen Einblick in die stetige Veränderung der heideggerschen Begrifflichkeit zwischen 1919 und 1927 liefert das »Ge22

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Heidegger: Dasein als In-der-Welt-sein mit Anderen

besonders eindringliche Kritik an der traditionellen Fassung des menschlichen Weltverhältnisses und umreißt mit dieser vehementen Absage an das Subjekt-Objekt-Modell den Grundansatz, welcher mit der Konzeption des In-der-Welt-seins in den Marburger Vorlesungen konsequent weiter ausgearbeitet wird: »Fernzuhalten ist das Schema: Es gibt Subjekte und Objekte, Bewußtsein und Sein; das Sein ist Objekt der Erkenntnis; das eigentliche Sein ist das Sein der Natur; das Bewußtsein ist ›ich denke‹, also ichlich, Ichpol, Aktzentrum, Person; Iche (Personen) haben sich gegenüber: Seiendes, Objekte, Naturdinge, Wertdinge, Güter. Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ist zu bestimmen und ist Frage der Erkenntnistheorie. Auf diesem Frageboden liegen die Möglichkeiten, die alle immer wieder ausprobiert und in endlosen Diskussionen aufeinander losgelassen werden: Das Objekt ist abhängig vom Subjekt, oder das Subjekt vom Objekt, oder beide korrelativ voneinander. Diese konstruktive, durch die Hartnäckigkeit einer verhärteten Tradition fast unausrottbare Vorhabe verbaut grundsätzlich und für immer den Zugang zu dem, was als faktisches Leben (Dasein) angezeigt ist. Keine Modifikation dieses Schemas vermag seine Unangemessenheit zu beseitigen.« (GA 63, 81)

Kein wahrnehmendes und erkennendes vorhandenes Ich steht wahrgenommenen und zu erkennenden Dingen gegenüber, sondern Dasein existiert in einer Welt – so ließe sich diese Kritik zusammenfassen. Welche ›Merkmale‹ aber kommen dem Dasein zu, wenn es nicht als Ich, Subjekt, Person oder Bewusstsein gefasst werden kann, kurz: Wie ›ist‹ Dasein? 24 Erstens sind die durch die Auslegung des Daseins zu gewinnenden Charaktere – die Existenzialien – nach Heideggers Ausführungen keine »vorhandene[n] ›Eigenschaften‹ eines so und so ›aussehenden‹ vorhandenen Seienden, sondern je ihm mögliche Weisen zu sein« (SZ 42). Sie sind also Seinsweisen eines ›Wer‹, nicht Kategorien eines ›Was‹. Wenn nealogical Glossery of Heidegger’s Basic Terms« von Theodore Kisiel; vgl. Kisiel 1993, 490 ff. 24 In Sein und Zeit (§ 10) grenzt Heidegger die Daseinsanalytik explizit von einer philosophischen Anthropologie ab. Dabei wendet er sich u. a. kritisch gegen die Lebensphilosophie Diltheys und Bergsons und gegen den Begriff der Personalität bei Husserl und Scheler. Grundsätzlich verstellt werde die Frage nach dem spezifischen Sein des Daseins von der durchgängigen Orientierung an der antik-christlichen Anthropologie, d. h. der Interpretation des Menschen als z†on lgon ˛con bzw. animal rationale sowie als Ebenbild Gottes; siehe dazu auch die entsprechenden Stellen in der Vorlesung vom SS 1923 (GA 63, §§ 4–5) sowie Heideggers Kritik an der uneingestandenen ›Vergegenständlichung‹ des Daseins im Subjekt- und Personbegriff in § 25 von Sein und Zeit.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

Heidegger in Sein und Zeit zudem als konstitutiven Charakter des Daseins neben der Seinsweise der Existenz die Jemeinigkeit betont, hebt er die ausgezeichnete Möglichkeit dieses Seienden hervor, sich in seinem Sein zu diesem selbst zu verhalten. Diese Eigenart des Daseins wurde schon als grundlegende Voraussetzung für die Artikulation der Seinsfrage präsentiert – nun wird aber die explizite Bezugnahme auf das je eigene Sein als eigenste Möglichkeit des Daseins offenkundig: Dasein »hat eine eigentümliche Selbigkeit mit sich selbst im Sinne der Selbstheit. Es ist so, daß es in irgendeiner Weise sich zu eigen ist, es hat sich selbst, und nur deshalb kann es sich verlieren« (GA 24, 242). Das Ansprechen und Sichaussprechen von Dasein muss nach Heidegger daher strenggenommen immer das Personalpronomen mitsprechen: ›ich bin‹, ›du bist‹. 25 In seinem eigensten Sein hat sich das Dasein aber jeweils 26 schon entschieden, wer es ›ist‹, sein ›will‹, sein ›kann‹ – ich habe mein Sein, du hast dein Sein je schon gewählt und dabei gewonnen oder verloren. Dasein existiert nach Heidegger also immer eigentlich oder uneigentlich. Was es bedeutet, jemeinig und jeweilig in einer Welt zu existieren, wenn dabei nicht der Erkenntnisbezug auf Gegenstände bestimmend sein soll, erläutert Heideggers Interpretation des ›In-Seins‹ als eines Wohnens in der Welt. Das In-Sein bedeute keineswegs ein räumliches Enthaltensein wie das ›Darinnen-sein‹ eines in der Welt vorkommenden Dinges in oder neben einem anderen, sondern eine SeinsverVgl. SZ 42. Die Rede von ›dem Dasein‹ verfehlt demnach das spezifische Sein dieses Seienden immer – auch wenn Heidegger selbst nicht umhinkommt, diese Generalisierung vorzunehmen. Das Problem liegt letztlich darin, dass das Wort ›Dasein‹ keine Pluralbildung zulässt; Tugendhat bemerkt dazu, dass »durch diese Orientierung an einem singulare tantum ein eigentümlicher und sachwidriger Egozentrismus erhalten« bleibe; vgl. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt a. M. 1979, 172. Eine weitere Eigenart des heideggerschen Daseinsbegriffes liegt in folgender Doppeldeutigkeit: Mal meint Heidegger mit ›Dasein‹ das Seiende dieser Seinsart – den Menschen –, dann wieder die Seinsweise selbst; siehe etwa SZ 11 f. Mitunter spricht Heidegger auch vom »Dasein im Menschen«, vgl. exemplarisch GA 29/30, 414. Siehe auch GA 20, 341, wo Heidegger ausdrücklich betont, mit ›Dasein‹ eine Seinsweise sowie das Seiende, das wir je selbst sind, zu meinen. Wenn v. Herrmann ›Dasein‹ vornehmlich als Seinsweise fasst, verdeckt er die Problematik, die der Daseinsbegriff durch die genannte Zweideutigkeit in sich birgt; vgl. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Subjekt und Dasein. Grundbegriffe von »Sein und Zeit«, 3., erw. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, 20 ff. 26 In den Prolegomena spricht Heidegger noch von »Jeweiligkeit«, vgl. GA 20, 205 f. Die Jeweiligkeit ist bereits 1923 zentrales Charakteristikum des Daseins, vgl. GA 63, § 6. 25

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Heidegger: Dasein als In-der-Welt-sein mit Anderen

fassung im Sinne von ›mit Welt immer schon vertraut sein‹, ›sich aufhalten bei‹, ›wohnen‹. Um diese Interpretation des daseinsspezifischen In-der-Welt-seins zu stützen, führt Heidegger den etymologischen Hinweis an, ›in‹ stamme von ›innan‹, das bedeute: ›wohnen‹, ›habitare‹. 27 ›Ich bin‹ jeweils in der Welt besage: Ich wohne, ich halte mich auf bei der Welt als dem so und so Vertrauten. In-Sein heißt also primär vertraut sein mit … und ist ein Existenzial. 28 Zur Abgrenzung bezeichnet Heidegger das räumliche In-etwas-enthalten-Sein von Dingen als »Inwendigkeit« (SZ 56). In all den konkreten Weisen des In-Seins – wie z. B. dem Herstellen von etwas, dem Pflegen, Betrachten oder Verwenden von etwas – ist das Dasein »immer schon ›draußen‹ bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt« (SZ 62). Das Dasein »ist nicht irgendein Subjekt, das irgendein Kunststück machen muß, um in die Welt zu kommen« 29 . Im Besorgen 30 als der Seinsart dieser unterschiedlichen Weisen des In-Seins tritt demnach kein zunächst in sich ›verkapseltes‹ Ich aus sich heraus in die Welt der Objekte, sondern ›ich bin‹ und ›du bist‹ immer schon in der Welt ›zuhause‹. Somit steht die Konzeption 27 Vgl. SZ 54 und GA 20, 213 sowie Martin Heidegger, »Der Begriff der Zeit« (Abhandlung), in: ders., Der Begriff der Zeit, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a. M. 2004 (GA 64), 1–103, hier: 31. 28 Heidegger deutet hier allerdings schon eine wichtige Differenzierung bezüglich des In-Seins an: Er unterscheidet von dem grundlegenden In-Sein ein bei der Welt aufgehendes Sein-bei, welches im fundamentalen In-Sein fundiert sei; vgl. SZ 54. Figal bemerkt in seiner Interpretation des In-Seins, dass Heidegger nur bezüglich des Sein-bei ausdrücklich von einem ›vertraut sein mit …‹ rede (siehe Figal 1988, 78). Jedoch betont Heidegger in den Prolegomena: »Sein als In-Sein und ›Ich bin‹ heißt wohnen bei …, und ›in‹ […] besagt primär: vertraut sein mit.« (GA 20, 213) Siehe auch GA 64, 31 sowie SZ 188. Inwiefern Dasein sich an die Welt ›verlieren‹ kann und wie dabei die grundlegende Vertrautheit in einer gesteigerten ›Geborgenheit‹ aufgeht, soll im Kapitel zum Man thematisiert werden. 29 Martin Heidegger, »Der Begriff der Zeit« (Vortrag), in: GA 64, 105–125, hier: 112. 30 Mit der Bezeichnung des In-Seins als eines Besorgens will Heidegger ausdrücklich nicht behaupten, das Sein des Daseins sei in besonderem Maße »ökonomisch« ausgerichtet. Dasein ist nach Heidegger wesentlich Sorge im Sinne eines ontologischen Strukturbegriffs, der das Sich-vorweg-schon-sein-in (der Welt) als Sein-bei (innerweltlich) begegnendem Seienden meint; vgl. SZ 249. Zur Sorge als heideggerschem Nachfolgebegriff für die husserlsche Intentionalität siehe Aldo Masullo, »›Sorge‹ : Heideggers Verwandlung von Husserls Intentionalitätsstruktur«, in: Jamme/Pöggeler 1989, 234–254. Tatsächlich hebt Heidegger selbst schon in den frühen Freiburger Texten hervor, dass die Sorge als Bezugssinn des Lebens der »volle Sinn« von »Intentionalität im Ursprünglichen« sei; vgl. GA 61, 98.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

des In-der-Welt-seins »weder diesseits noch jenseits von Idealismus und Realismus, noch ist sie gar eine der beiden Positionen, sondern sie steht gänzlich außerhalb einer Orientierung auf sie und ihre Fragestellungen« (GA 20, 225), weil die Problematik einer Vermittlung von ›drinnen‹ und ›draußen‹ in einer Konzeption des vorgängigen Schonbei-der-Welt-Seins gar nicht aufkommt. 31 Dass die Welt, in der Dasein immer schon existiert, nicht als eine bloße Addition von vorhandenen ›Sachen‹ unterschiedlichster Art begriffen werden kann – ebenso wie das Dasein nicht als sich aus den ›Bestandteilen‹ Leib, Geist und Seele zusammensetzend gedacht werden kann –, lässt sich bereits ahnen. Heidegger schließlich prägnant: »Weder die ontische Abschilderung des innerweltlichen Seienden, noch die ontologische Interpretation des Seins dieses Seienden treffen als solche auf das Phänomen ›Welt‹.« (SZ 64) ›Weltlichkeit‹ als ontologischer Begriff muss also scharf abgegrenzt werden von traditionellen philosophischen sowie alltäglichen, nicht-reflektierten Verwendungsweisen des Begriffes ›Welt‹. Heidegger unterscheidet in Sein und Zeit vier unterschiedliche Bedeutungen: 1) Welt als ontischer Begriff meine »das All des Seienden, das in der Welt vorhanden sein kann« (SZ 64). Er setzt diesen Weltbegriff, der völlig im Ontischen verharrt und sich am Nebeneinander von Vorhandenem orientiert, in Sein und Zeit in distanzierende Anführungszeichen. 2) Welt als ontologischer Terminus: das spezifische Sein des jeweils Seienden. Welt kann hier zum Titel einer Seinsregion werden, die eine Vielfältigkeit von Seiendem versammelt. Heideggers Beispiel: die Welt des Mathematikers. 3) Welt als vorontoVgl. als besonders eindringliche Beschreibungen der Aporien, die das Subjekt-Objekt-Schema mit seiner Aufteilung ›drinnen‹ (Bewusstseinsimmanenz) und ›draußen‹ (vorhandene Objektwelt) generiert, SZ 60 ff. sowie GA 20, 223 f. Zentral ist auch die Auseinandersetzung mit Idealismus und Realismus in § 43 in Sein und Zeit. Heidegger räumt dem Idealismus hier einen gewissen Vorrang ein, weil dieser betone, dass Sein niemals durch Seiendes erklärbar sein könne, sondern immer schon das ›Transzendentale‹ sei; vgl. SZ 207 f. Wenn Heidegger von der Möglichkeit spricht, einen dritten Weg neben Idealismus und Realismus zu gehen, indem man eine Korrelation zwischen Subjekt und Objekt annimmt, meint er mit hoher Wahrscheinlichkeit stets die »Prinzipialkoordination« Richard Avenarius’; vgl. SZ 132 sowie GA 20, 225. Heidegger weist darauf hin, dass eine solche Position zwar »diesseits von Idealismus und Realismus stehen will, weil sie nicht erst das Verhältnis entstehen läßt, […] zugleich jenseits von Idealismus und Realismus steht, weil sie versucht, beide Positionen […] in ihren Gerechtsamen, die sie überhaupt nicht haben, doch aufzuheben« (GA 20, 225).

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Heidegger: Dasein als In-der-Welt-sein mit Anderen

logisch-existenzieller Begriff: das, worin ein faktisches Dasein lebt, z. B. die nächste Umwelt oder die Öffentlichkeit des ›Wir‹. Diesen Weltbegriff meint Heidegger, wenn er in Sein und Zeit von Welt ohne Anführungszeichen spricht. 4) Weltlichkeit als ontologisch-existenzialer Begriff, als Existenzial des Daseins. Nach dem spezifischen Sichzeigen dieses Phänomens soll die nähere Analyse des In-der-Welt-seins schließlich fragen. 32

2.2 Welt und Weltlichkeit in Sein und Zeit 2.2.1

Welt als bedeutungshafte Ordnung

Zur phänomenologischen Aufweisung von Weltlichkeit betrachtet Heidegger die alltägliche Umgebung des besorgenden Daseins – der Blick richtet sich also auf dessen nächste Umwelt. Diese Umwelt, wie Heidegger sie vorstellt, ist allerdings die eines spezifischen Besorgens, nämlich die des hantierenden, gebrauchenden. Heidegger entscheidet sich bei der Interpretation von Weltlichkeit für den Weg über die Analyse der konkreten ontischen Welt des Handwerkers, der ›Material‹ ver- und bestimmte ›Geräte‹ gebrauchend ein ebenfalls nützliches ›Endprodukt‹ fertigt. 33 Schon in dieser Beschreibung der »Werkwelt« (GA 20, 259) ohne die spezifischen heideggerschen Termini wird deutlich, dass hier keine neutralen ›Dinge‹ in mehr oder weniger zufälligem und zusammenhanglosem Nebeneinander herumliegen. Vielmehr sind dem Besorgenden hier aufeinander abgestimmte Werkzeuge zur Hand, mit denen je schon etwas Bestimmtes getan wird. Das zuhandene Zeug 34 ist etwas, das gebraucht wird, um diese oder jene konkrete Tätigkeit auszuführen – es ist da, um zu … 32 Für die heideggersche Kritik an herkömmlichen ›Weltbegriffen‹ sind auch die Auseinandersetzungen mit den Interpretationen der Welt als ›kosmos‹ und ›mundus‹ erhellend; vgl. GA 9, 142 ff. und GA 26, 219 ff. 33 Dies ist jedenfalls das dominierende Beispiel für die Aufweisung von Zeugcharakter und Zuhandenheit in Sein und Zeit und den Prolegomena. Weitere Orte und Umgebungen, die Heidegger analysiert: das Zimmer mit unterschiedlichen ›Wohnzeugen‹, der Schreibtisch als Platz für mannigfache ›Schreibzeuge‹ oder der Hörsaal mit seiner Ausstattung; vgl. SZ 68 und GA 24, 232 ff. 34 Es ist oft bemerkt worden, dass sich Heidegger bei seiner Scheidung der drei Seinsformen Existenz, Zuhandenheit und Vorhandenheit an Aristoteles’ Begriffen von pofflhsi@, pr”xi@ und jewrffla orientiert habe; vgl. etwa Franco Volpi, »›Sein und Zeit‹. Ho-

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

Dabei verweist jedes Zeug in seiner Um-zu-Struktur nach Heidegger auf die anderen ›Zeuge‹, mit denen es ›zusammenspielt‹, sowie auf das angezielte Produkt, aber auch auf seine eigene Entstehung und letztlich auf das es herstellende und benutzende Dasein selbst. Keine isolierten, bloß vorhandenen Dinge bilden in schlichter Addition die Welt der Werkstatt, sondern jedes einzelne Zeug begegnet – dies die Pointe – aus einem Komplex von Verweisungen heraus, aus einem Zeugganzen her, das sich aus den verschiedenen Um-zu-Bezügen konstituiert. Das jeweilige ›Begegnen-aus‹ des Zeugs als eines solchen wird nach Heidegger also ermöglicht durch einen eindeutigen »Vorrang der Präsenz der Verweisungsganzheit und der Verweisung vor den in den Verweisungen selbst sich zeigenden Dingen« (GA 20, 254). Nicht Gegenstände, sondern Bedeutungen 35 haben in der Struktur der Welt die wesentliche Funktion, wie Heidegger schon 1919 betont: »[…] das Bedeutsame ist das Primäre, gibt sich mir unmittelbar, ohne jeden gedanklichen Umweg über ein Sacherfassen. In einer Umwelt lebend, bedeutet es mir überall und immer, es ist alles welthaft, ›es weltet‹« (GA 56/57, 73). Dabei begreift Heidegger das Werk als das »primär Besorgte« (SZ 70) – es begegne als das, was die gesamte Verweisungsganzheit trägt. Die Seinsart des Zeugs, die Zuhandenheit, besteht laut Heidegger nun gerade darin, unauffällig anwesend zu sein. Im Hantieren mit Zeug ist dem Dasein dieses so unmittelbar zur Hand, dass es allein in diesem fraglosen Gebrauchtwerden unverhüllt als Zeug begegnen kann: »Das Eigentümliche des zunächst Zuhandenen ist es, in seiner Zuhandenheit sich gleichsam zurückzuziehen, um gerade eigentlich zuhanden zu sein.« (SZ 69) Zeug und Zeugzusammenhang als solche ›halten sich zurück‹, wenn das Zeug seinen Dienst verrichtet. Die Weltmäßigkeit des Innerweltlichen – d. h. der Charakter von Weltlichkeit mologien zur ›Nikomachischen Ethik‹«, in: Philosophisches Jahrbuch 36 (1989), 225– 240. Volpi betrachtet »Ontologisierung, hierarchische Verschiebung und einheitliche Zuordnung« als die »ausschlaggebenden Umformungen, denen bei Heidegger die Assimilierung der Aristotelischen Begriffe« unterliegt; vgl. Volpi 1989, 232. 35 Wenn Heidegger das Verweisen näher als ein Bedeuten fasst, schließt er zwei naheliegende Möglichkeiten, diese Bedeutsamkeit zu verstehen, aus: In Abgrenzung zur neukantianischen Wertphilosophie betont er, es ginge nicht um eine Besetzung von Naturdingen mit Werten. Gemeint sei aber auch nicht das Bedeuten von Wörtern. Einen engen Zusammenhang zwischen Wortbedeutung und weltlicher Bedeutsamkeit deutet er jedoch schon an, vgl. GA 20, 275.

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als Verweisungsganzes – meldet sich nach Heideggers Ausführungen allein im Entdecken von Störungen: Das Zuhandene wird auffällig, wenn es unverwendbar ist. Es wird aufdringlich, wenn etwas fehlt. Wenn etwas schlicht im Weg liegt – als Nichthergehöriges oder Unerledigtes –, ist es im Modus der Aufsässigkeit erschlossen. In allen drei Fällen der Störung scheint am unzuhandenen Zuhandenen die Kategorie der bloßen Vorhandenheit auf – sie meldet sich, klingt an. Heideggers Formulierungen sind hier vorsichtig, 36 weil das herumliegende, funktionsuntüchtige oder fehlende Zeug immer noch innerhalb eines Zeugzusammenhangs verortet wird. Es ist aus den Verweisungsbezügen nicht vollkommen isoliert, kommt aber dennoch als einzelnes, das Hantieren irritierendes Zeug ausdrücklich in den Blick. In diesem Aufleuchten des Vorhandenen – als dem bloßen Da-sein – am Zuhandenen wird das vormals unthematische und in sich geschlossene Gebilde der Um-zu-Bezüge entdeckt. Die Störung der Verweisung macht die Verweisung ausdrücklich und der »Zeugzusammenhang leuchtet auf nicht als ein noch nie gesehenes, sondern in der Umsicht ständig im vorhinein schon gesichtetes Ganzes. Mit diesem Ganzen aber meldet sich die Welt.« (SZ 75) Mit der Welt ›leuchtet‹ so etwas ›auf‹, das selbst nicht zuhanden oder vorhanden ist, sondern »etwas, ›worin‹ das Dasein als Seiendes je schon war« (SZ 76), bevor es mit konkretem Zeug hantieren konnte. Während in den drei Modi der Störung das Zeug noch innerhalb des entsprechenden Zeugzusammenhangs betrachtet wird, degradiert die vollkommene Aussonderung aus dem Geflecht der Bezüge das Zeug endgültig zum bloß vorhandenen ›Objekt‹. Das direkte Ansehen des Zeugs als eines mehr oder weniger dienlichen fällt noch in die spezifische Sichtigkeit des Besorgens – die Umsicht –, das reine Nur-nochHinsehen oder Anstarren aber entweltlicht die Umwelt und verengt die Umsicht auf das analytische Blicken, welches die Eigenschaften eines vorliegenden Dinges prüft. 37 Vorhandenheit ist entsprechend nach 36 Vgl. etwa SZ 74: »In der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit geht das Zuhandene in gewisser Weise seiner Zuhandenheit verlustig. […] Sie verschwindet nicht einfach, sondern in der Auffälligkeit des Unverwendbaren verabschiedet sie sich gleichsam.« 37 Vgl. SZ 69, wo Heidegger ausdrücklich betont, dass das ›theoretische Betrachten‹ ebenso ein Besorgen sei wie das Handeln seine eigene ›Sicht‹ habe. Zur näheren Interpretation des betrachtenden und erkennenden Bestimmens von Vorhandenem als einer »Defizienz des besorgenden Zu-tun-habens mit der Welt« vgl. SZ 61 f.

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Heidegger nicht die Seinsweise des zunächst Gegebenen, sondern immer nur in einem zweiten Schritt entdeckt. Somit entpuppt sich – entgegen der philosophischen Tradition – die Zuhandenheit als »die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ›an sich‹ ist« (SZ 71). 38 Die Analyse der nächsten Umwelt muss nun jedoch nach Heidegger überschritten werden auf eine Freilegung der Welt als Existenzial des Daseins – der Schritt von der ontischen Welt der Werkstatt zur ontologisch begriffenen ›Weltlichkeit‹ steht noch aus, auch wenn Welt im Sinne einer jedem einzelnen innerweltlich Begegnenden vorausgehenden Ganzheit schon in eine erste Sicht kam. 39 In Sein und Zeit versucht der durch seine Fülle neuer, kaum näher erläuterter Begriffe recht undurchsichtige § 18 die »Weltlichkeit der Welt« aufzuweisen. Heidegger schließt hier an die Zeuganalyse an, welche zeigte: »Welt ist vorgängig mit allem Begegnenden schon, obzwar unthematisch, entdeckt.« (SZ 83) Das Begegnenkönnen des Innerweltlichen deutet er nun als ein Freigegebensein. Diese »vorgängige Freigabe« (SZ 83) gelte es zu verstehen. Zur Aufklärung der beständigen ›Vorgegebenheit‹ von Welt interpretiert § 18 die Verwiesenheit des Zuhandenen als Bewandtnis und deckt so die ontologische Bestimmung seines Seins auf: Jedes Zeug verweist auf anderes, es hat mit ihm bei etwas sein Bewenden. 40 Welche Bewandtnis es mit einem konkreten Zuhandenen hat, werde aus der Bewandtnisganzheit vorgegeben. In dem Begriff der ›Bewandtnis‹ drückt sich – anders als in der Rede von der ›Verweisung‹ – ein ›Lassen‹ aus: es mit etwas bei etwas bewenden lassen. Bewendenlassen im ontischen Sinne bedeutet laut Heidegger: innerhalb eines In den Prolegomena bestimmt Heidegger das ›An-sich‹ als »Begegnis betreffende Fundierung der Zuhandenheit eines Verweisungszusammenhanges in der Besorgtheitspräsenz« (GA 20, 268). Zentral ist hier der Hinweis, dass das An-sich gerade in der Ungegenständlichkeit des Begegnenden liegt, nämlich im unauffälligen, unthematischen und nicht-dinglichen Begegnen aus einer gegenwärtigen Bezugsganzheit heraus. 39 Dass Heidegger nicht allein an den Störungen des Umgangs mit Zeug, sondern auch am spezifischen Charakter des Zeichens als ›Zeigezeugs‹ ein Sichmelden der »Weltmäßigkeit des Zuhandenen« (SZ 80) aufweist, ist hier übersprungen worden, weil die Thematisierung des Zeichens im folgenden Abschnitt zur Sprache ihren sinnvollsten Platz erhält. 40 Bemerkenswerterweise wird die Rückführung der Weltlichkeit auf ein letztes »Worum-willen« in den Prolegomena von 1925 noch nicht konsequent durchgeführt. Vgl. zu den Differenzen zwischen dem Weltbegriff in den Prolegomena und demjenigen in Sein und Zeit Blust 1987, 110 ff. 38

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faktischen Besorgens Zuhandenes so oder so sein lassen, wie es ist und damit es so ist. Worin aber hat die ›Welt‹ als ein bedeutungshaftes Ganzes – als Bewandtnisganzheit im ontologischen Sinne – ihren ›Grund‹ ? Die Strukturganzheit der unterschiedlichen Um-zu-Bezüge geht laut Heidegger auf ein letztes ›Wozu‹ zurück, das selbst nicht dienlich ist für … ; dieses primäre Wozu sei ein »Worum-willen« – es verweise als solches allein auf das Dasein als ein Seiendes, mit dem es selbst keine Bewandtnis mehr hat. So erweist sich Weltlichkeit als ein »Moment der Struktur der Seinsart des Daseins« (GA 24, 237), die Welt »ist da, wie das Da-sein, das wir selbst sind, ist, d. h. existiert« (GA 24, 237). Das ontologische »Je-schon-haben-bewenden-lassen« ist somit die »Bedingung der Möglichkeit dafür, daß Zuhandenes begegnet« (SZ 85) bzw. dass Innerweltliches überhaupt begegnen kann. Es ist laut Heidegger ein »apriorisches Perfekt« (SZ 85), welches das Sein des Daseins wesentlich charakterisiert. Weltlichkeit selbst ist demnach insofern ein Apriori, weil sie die »Worinheit als die Seinsmöglichkeit des Begegnenlassens des In-Seins« (GA 20, 228) darstellt. 41 Unmittelbar nach Sein und Zeit gebraucht Heidegger zur Bezeichnung des vorgängigen Weltverstehens bekanntlich den Begriff der Transzendenz – die Welt wird dabei begriffen als deren »ursprüngliches Spiel« (GA 27, 311). Transzendent sind nach Heidegger nicht die Dinge bzw. Seiendes überhaupt als Gegenüber eines Subjekts, sondern transzendent bzw. transzendierend ist das Dasein, sofern es in ständigem Überstieg auf Welt hin ›ist‹ : »Existieren besagt immer schon: Überschreiten, oder besser: Überschrittenhaben.« (GA 24, 426) Die Beschreibung der Welt als einer im Transzendieren immer schon ›vorgeworfenen‹ drückt das Vorweg des Weltentwurfs, welcher jeder spezifischen ontischen Umwelt ›vorausgeht‹, besonders eindringlich aus: »Existieren besagt unter anderem: sich Welt vorher-werfen, so zwar, daß mit der Geworfenheit dieses Vorwurfs, d. h. mit der faktischen Existenz eines Daseins je auch schon Vorhandenes entdeckt ist.« (GA 24, 239) 42 41 Das »apriorische Perfekt« könne laut Heidegger auch als »ontologisches« oder »transzendentales Perfekt« bezeichnet werden; vgl. SZ 441 f., 85b. 42 In § 69 von Sein und Zeit wird das In-der-Welt-sein auch schon als Transzendenz gefasst, aber erst kurz nach Sein und Zeit setzt sich dieser Begriff endgültig durch. Aufschlussreich ist dabei Heideggers Vergleich des Transzendenzbegriffs mit der husserlschen Intentionalität; vgl. GA 24, § 9 und § 15 sowie GA 26, § 9b) und § 11. Sein

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2.2.2

Die ›Ökonomie‹ des In-Seins und die Frage nach deren Irritation durch Natur, Kunst und Leib

Heideggers Umweltanalyse in Sein und Zeit macht deutlich: Die je spezifische Seinsart des Innerweltlichen ergibt sich aus der konkreten Weise seines Begegnens – aus dem jeweiligen Auffälligsein oder Unauffälligsein, seiner Verfügbarkeit oder Abgänglichkeit. So kann derselbe ›Gegenstand‹ je nach Situation Zu- oder Vorhandenes sein. Eine Maschine etwa vermag als im Gebrauch aufgehendes Zeug zu begegnen oder aber als analysiertes, auf sein generelles technisches Funktionieren hin betrachtetes Objekt. 43 Das zunächst Gegebene ist das im besorgenden Umgang Anwesende, das »in Greif- und Reichweite Zuhandene« (GA 20, 264). Zuhandenheit selbst ist nach Heideggers Deutung letztlich nichts anderes als die Anwesenheit eines »nächst verfügbaren Umweltdinges« (GA 20, 265) bzw. »Anwesenheit des nächst Verfügbaren« (GA 20, 258) überhaupt. Das Zeug als Zeug ist prinzipiell zugänglich und gehört als solches in eine vorgängig vertraute Ordnung: Zeugzusammenhang, Verweisungsganzes. Deren Geschlossenheit gründet in der fundamentalen »Vertrautheit, und diese Vertrautheit besagt, daß die Verweisungsbezüge bekannt sind« (GA 20, 253). Die Störungen in ihrer ausgezeichneten Funktion beim Aufscheinen von Welt – die MoFazit: Die Intentionalität gründet in der Transzendenz des Daseins. Vgl. zum Verhältnis von Transzendenz und Intentionalität zudem Alejandro G. Vigo, »Welt als Phänomen: Methodische Aspekte in Heideggers Welt-Analyse in ›Sein und Zeit‹«, in: Heidegger Studies, Volume 15 (1999), 37–65. Hackenesch meint, in der Durchsetzung des Transzendenzbegriffs eine »neue, andere Theorie der Subjektivität« ausmachen zu können, die gegenüber derjenigen von Sein und Zeit durchaus eigenständig sei; vgl. Hackenesch 2001, 57. Tatsächlich geht Heidegger in der Konzeption der Transzendenz – etwa durch die radikalere Bezugnahme auf die Freiheitsproblematik – über die Weltlichkeitsanalyse von Sein und Zeit hinaus, Welt bleibt aber auch hier »subjektiv, d. h. daseinszugehörig« (GA 9, 158). 43 Vgl. SZ 88, wo Heidegger selbst Zu- und Vorhandenheit nach der Art des Begegnens der ›Dinge‹ differenziert. Die Analysen des Aufleuchtens des Vorhandenen am Zuhandenen legen allerdings nahe, dass es Übergangsstadien gibt, in denen eine eindeutige Zuordnung zu einer der beiden Seinsweisen die Komplexität des Begegnens grob vereinfacht. Siehe auch Andreas Graesers Überlegungen zur Flexibilität der Kategorien bei Heidegger in ders., Philosophie in »Sein und Zeit«. Kritische Erwägungen zu Heidegger, Sankt Augustin 1994, 98 ff. sowie Ketterings Rückführung der jeweiligen Kategorisierung des Begegnenden auf die Art des Zugangs des Daseins zu diesem (Kettering 1987, 108; Fn. 9).

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mente des ›Umschlagens‹ von Zu- in Vorhandenheit – sind im Wesentlichen Brüche in der vertrauten Verweisungsganzheit, Abwesenheiten. 44 Heideggers Interpretation des In-Seins präsentiert sich in all ihren Einzelergebnissen als differenzierte und facettenreiche Untersuchung eines Zuhauseseins. Die Analyse des In-der-Welt-seins entdeckt dieses als eine spezifische Form von Ökonomie 45 : Dasein existiert wesentlich haus-haltend, richtet sich in einer existenzial-ontologisch immer schon ›vor-gesorgten‹ Welt ontisch-existenziell ein. Äußerst aufschlussreich für die Interpretation des Da-seins als eines ökonomischen ist die spezifische Räumlichkeit des innerweltlich Begegnenden sowie des Daseins selbst, deren Analyse bei Heidegger ganz im Abweisen des geometrischen Raumes aufgeht bzw. mit welcher er die These aufstellt, dass der metrische Raum nur aus der Weltlichkeit der Welt her verständlich sei. 46 Beim Aufweis des spezifischen Um-Charakters der Umwelt zeigt sich laut Heidegger das Zuhandene im Sinne des ›zunächst‹ Verfügbaren als das, was grundsätzlich in der Nähe ist. Diese Nähe des Zuhandenen ist nicht messbar – der berechenbare Abstand zwischen mir und dem Begegnenden sagt nichts darüber aus, was im jeweiligen Besorgen das ›Nächste‹ ist. Diese Nähe bestimmt sich allein »aus dem umsichtig ›berechnenden‹ Hantieren und Gebrauchen« (SZ 102), welches selbst nach Heidegger wiederum nur möglich ist aufgrund der fundamentalen Vertrautheit mit Welt. 44 Die Analysen des In-der-Welt-seins in den Prolegomena arbeiten sehr viel stärker mit den Begriffen der »Präsenz«, der »An-« und »Abwesenheit« als die in Sein und Zeit; siehe etwa GA 20, 252, 254, 255 ff. und 271. 45 Mit der Verwendung des Begriffs ›Ökonomie‹ soll nicht behauptet werden, Dasein vollziehe sich in den Weisen des Besorgens wesentlich ›berechnend‹. ›Ökonomie‹ meint hier vielmehr ein Haushalten in existenzial-ontologischem Sinne. 46 Siehe SZ §§ 22–24 sowie GA 20, § 25. Als differenzierte Interpretation der Räumlichkeit des Daseins auf ihren Zentralbegriff Nähe hin siehe Kettering 1987, 108 ff. Aufschlussreich sind für die spezifische Räumlichkeit des menschlichen Daseins auch Bollnows Analysen des »erlebten Raums«, also des Raumes, »wie er sich dem konkreten menschlichen Leben erschließt« (Otto F. Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963, 18). Bollnow deutet den Raum bei Heidegger aufgrund der Zentrierung auf das besorgende Dasein als »intentionalen Raum«; vgl. Bollnow 1963, 27 ff. Zwar macht diese Bezeichnung die hervorragende ›Stellung‹ des Daseins im eingeräumten Raum deutlich, doch trifft die sich anschließende Interpretation des intentionalen Raumes als eines »bloßen Relationssystems« Heideggers Konzeption nicht. Übersehen werden hier die konstitutive Funktion der Vertrautheits- und Bedeutungsbezüge sowie Heideggers eigene kritische Bemerkungen zur Verflüchtigung des phänomenalen Gehalts der Umweltanalyse bei jeglicher Formalisierung der Bezüge; siehe SZ 88.

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Jedes Zeug hat also seinen Platz, der nicht eine Stelle im Raum, sondern »das bestimmte ›Dort‹ und ›Da‹ des Hingehörens eines Zeugs« (SZ 102) meint. Diese Zugehörigkeit des Zeugs zu einem bestimmten ›Ort‹ gründet wiederum in der umfassenderen Räumlichkeit der ›Gegend‹ ; diese geht dem konkreten Platz des jeweiligen Zeugs nach Heidegger voraus und hat – konsequenterweise – den Charakter der »unauffälligen Vertrautheit« (SZ 104). Fundiert ist die Räumlichkeit – Nähe und Ferne – des Zeugs laut Heidegger schließlich in der Orientierung des Daseins. Wenn er das Dasein als »ausrichtendes Ent-fernen« (SZ 108) 47 charakterisiert, dann spricht er diesem eine »wesenhafte Tendenz auf Nähe« (SZ 105) zu, und zwar auf Nähe im Sinne des immer schon Vor-geworfen-Habens von Welt. Jedes aktuelle Beschaffen, Bereitstellen und ZurHand-Nehmen ist nach Heidegger nur möglich auf dem Grunde der vorgängigen Welt-Habe des Daseins. In der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik von 1929/30 bestimmt Heidegger die Welt pointiert als »Zugänglichkeit von Seiendem« (GA 29/30, 289). Weltlichkeit nach Heideggers Bestimmungen ist Zugänglichkeit nicht des einen oder anderen Begegnenden, sondern Zugänglichkeit überhaupt – ›Vorwurf‹ einer vertrauten Ganzheit im Sinne des Rahmens für jedes spezifische Orientieren, Kategorisieren, Einräumen usw. Die Frage nach der Zugänglichkeit des Seins führte im vorherigen Abschnitt zur Herausstellung des grundlegenden Leitmotivs für den Vergleich des heideggerschen und buberschen Denkens, das sich durch das Figurenpaar Odysseus vs. Abraham verbildlichen lässt. Durch die Bündelung und Zuspitzung der Leitbegriffe der Weltlichkeitsanalyse – Vertrautheit, Wohnen, Verfügbarkeit, Nähe – im Begriff der Ökonomie wird Heideggers Konzeption erneut als ein Entwurf charakterisiert, der sich wesentlich am Motivfeld des ›Heims‹ und ›Hauses‹ orientiert. Daher stellt sich nun die Frage, ob – und wenn ja, wo – in der Welt als vorgängiger Ganzheit ›Risse‹ oder ›Bruchstellen‹ aufgewiesen werden können. Gibt es vielleicht Seinsbereiche, die sich nicht ohne weiteres in das Verweisungsganze der Um-zu-Bezüge einschließen lassen? Lassen sich Begegnungen mit Seiendem denken, welche die vertraute Ordnung sprengen und die Ökonomie des Daseins – sein Zuhausesein in der Welt – nachhaltig irritieren? Diese Fragen im47 Mit ›Ent-fernen‹ meint Heidegger gerade ein »Verschwindenmachen der Ferne« (GA 20, 313).

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plizieren ein Nachdenken darüber, ob es nicht Seiendes geben könnte, das sich per se der Zugänglichkeit im Sinne des Zuhanden- oder der Analysierbarkeit im Sinne des Vorhandenseins verweigert. Um dieser Fragestellung nachzugehen, sollen einige exemplarische Verweisungen eines ganz alltäglichen Zeugs in den Blick genommen werden, das nicht nur besonders zahlreiche, sondern vor allem ganz unterschiedliche Bezüge eröffnet. Vor diesem Hintergrund bietet sich ein einfacher Bleistift an. Das Holz und die Graphitmine, aus denen er im Wesentlichen besteht, verweisen auf die Natur. Der Stift begegnet zudem aus einem Zeugzusammenhang heraus, der in sich reich gegliedert ist: Er verweist auf anderes Zeug wie Anspitzer, Radiergummi, Papier. Er wird – in der Regel – geführt von einer menschlichen Hand. Er ist außerdem dazu da, um zu schreiben und zu zeichnen in vielerlei Situationen und mit den verschiedensten Ergebnissen: Man kann mit ihm eine Landschaftsskizze entwerfen, einen Einkaufszettel schreiben, eine Telefonnummer notieren oder während einer langweiligen Vorlesung gedankenlos vor sich hin malen. Schon diese wenigen exemplarisch aufgezählten Bezüge verweisen auf Seinsbereiche, nach deren Kategorisierung sich im Rahmen der eben dargelegten Problemstellung zu fragen lohnt: Ist etwa der Baum, auf den der hölzerne Stift verweist, selbst ein Zeug so wie dieser? Oder ist er ein Vorhandenes im Sinne der heideggerschen Bestimmungen? Möglicherweise zeigt er eine Stelle im Verweisungsganzen an, welche nicht als Wo- oder Dazu, aber auch nicht als Worumwillen im Sinne des Daseins gefasst werden kann, sondern sich einer Eingliederung in die bedeutungshafte Ordnung der Umwelt entzieht. Und was ist mit der den Stift führenden Hand – ist sie etwa ein ausgezeichnetes Werkzeug? Steht der Stift im Dienst eines Künstlers, dann ist bedenkenswert, ob sich die Landschaftsskizze selbst wiederum als ein Zuhandenes bezeichnen lässt so wie die Notiz, die dazu da ist, sich etwas zu merken. Die erste Frage geht der Thematisierung des naturhaft Seienden in Heideggers Schriften um 1927 nach, die zweite fragt nach der Berücksichtigung des menschlichen Körpers im Geflecht der Bezüge. Die dritte Überlegung bezieht sich auf mögliche Reflexionen zum Bereich der Kunst und seinem ›Platz‹ in der Welt des Daseins. 48 48 Es geht dabei weniger um die Frage, ob Heideggers Kategorien der Zu- und Vorhandenheit das nicht-daseinsmäßige Seiende vollständig erfassen – dies kann ohnehin bezweifelt werden. Rückblickend zur Umweltanalyse in Sein und Zeit meint Heidegger

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Zwei Verwendungsweisen des Begriffes ›Natur‹ im Rahmen der Umweltanalyse müssen unterschieden werden: Einmal bezieht Heidegger sich kritisch auf den Begriff der Natur und des ›Naturdinges‹ im Sinne Descartes’ 49 – die Natur als die Gesamtheit des Vorhandenen –, dann meint er mit Natur das belebte und unbelebte Seiende, die ›Umweltnatur‹, die uns in der Gestalt von Bäumen, Tieren, Flüssen, Bergen usw. umgibt. So betont Heidegger mehrfach, dass das Werk Verweisungen auf etwas in sich trage, das von sich selbst her da sei. Das Seiende ›Umweltnatur‹ ist also vorhanden im Sinne des Immerschon-da-Seins. 50 Dieses beständig von sich aus Anwesende deutet Heidegger aber sogleich als ein prinzipiell Zugängliches bzw. ein jeweils schon – für das Besorgen des Daseins – als potentiell verfügbar entdecktes Seiendes. Die Natur erscheint so etwa als sprudelnder Quell verschiedenartigster ›Naturprodukte‹ : Das Tier begegnet als Lederlieferant, der Wald ist Forst, der Berg Steinbruch, die Erde fruchtbringender Acker. Ist die Umweltnatur nicht als Materiallager erschlossen, dann als Mittel des Verkehrs: Tiere begegnen als Zug- und Reittiere, Flüsse als Transportwege, der Wind als Antriebskraft. Auch das »Licht und die Wärme« der Sonne stehen »im alltäglichen Gebrauch« (SZ 103). Heidegger verweist zwar ausdrücklich auf das »Eigentümliche«, dass die »Weltdinge – Tiere – eigentlich sich selbst herstellen in Fortpflanzung und Wachstum« (GA 20, 262), sie begegneten jedoch immer in der durch die Verweisungen errichteten Ordnung der Werkwelt: »Im gebrauchten Zeug ist durch den Gebrauch die ›Natur‹ mitentdeckt« (SZ 70). 51 Die Umweltanalyse von Sein und Zeit sowie die früheren Analysen in den Prolegomena betonen somit durchgängig, dass »auch das Vorhandensein der Natur als Umwelt, d. h. wie sie eben unausdrücklich und natürlich erfahren ist, daß gerade diese Anwesenheit ihrem Sinne selbst: »Es ist mir […] nie eingefallen, durch diese Interpretation zu behaupten und beweisen zu wollen, das Wesen des Menschen bestehe darin, daß er mit Löffel und Gabel hantiert und auf der Straßenbahn fährt.« (GA 29/30, 263) Der denkbare Vorwurf, Heidegger habe nicht das Begegnen aller möglichen verschiedenen ›Dinge‹ analysiert, ist also zweitrangig; vielmehr wird gefragt, ob das Verschweigen mancher Seinsbereiche und Begegnungsweisen die heideggersche Konzeption von Weltlichkeit als grundlegend vertrauter Ordnung nicht überhaupt erst möglich macht. 49 Siehe SZ 65, 99 f. sowie GA 24, 234 f. 50 Vgl. GA 20, 262 und 270. 51 Siehe außerdem SZ 70 f. und GA 20, 262.

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nach allererst entdeckt und da ist aus und in der Welt des Besorgens« (GA 20, 271). Zur puren Vorhandenheit im Sinne des Untersuchungsgegenstandes wird der Baum erst durch die Betrachtung des Botanikers, der Berg durch die Analysen des Geologen – also ebenso wie das Zeug nach Heidegger zum Vorhandenen wird, nämlich durch eine Isolierung aus dem ursprünglichen Verweisungsganzen und durch gezielte Betrachtung seiner spezifischen ›Eigenschaften‹. So scheint Naturhaftes dem Dasein als miterschlossenes prinzipiell vertraut zu sein – es ist zwar vom Herstellen des Daseins unabhängig, aber niemals bloß vorfindlich. Der scheinbar starre, brache Boden ist der (noch) unbebaute Acker, das unbebaute Ansiedlungsgebiet. 52 Auch die Natur als möglicherweise bedrohliche Kraft ist nach Heideggers Schilderungen primär durch Zuhandenes miterschlossen, begegnet ebenfalls im Besorgen: Dächer schützen vor Wind und Wetter, Brücken bahnen Wege über den reißenden Fluß, die zerstörte Ernte – dies kein heideggersches Beispiel – verweist auf Hagel und Sturm. Die Wüste und die Arktis begegnen uns, soviel lässt sich aus Heideggers Analysen ableiten, eben als ›unwirtliche Gegenden‹. Und auch die Natur als ›bezaubernde‹ Landschaft, die nicht bebaut werden soll, sondern ›einfach so‹ angeschaut wird, ist »erst aus dem Weltbegriff, d. h. der Analytik des Daseins her ontologisch faßbar« (SZ 65). 53 Es ist allerdings bezeichnend, dass Heideggers Kategorisierung der Umweltnatur durchgehend schwankt, wie vor allem folgende Stelle deutlich macht: »Die ›Natur‹, die uns ›umfängt‹, ist zwar innerweltliches Seiendes, zeigt aber weder die Seinsart des Zuhandenen noch des Vorhandenen in der Weise der ›Naturdinglichkeit‹. Wie immer dieses Sein der ›Natur‹ interpretiert werden mag, alle Seinsmodi des innerweltlichen Seienden sind ontologisch in der Weltlichkeit der Welt und damit im Phänomen des In-der-Welt-seins fundiert.« (SZ 211) 54 52 Siehe zur Geschichtlichkeit der Natur als Siedlungsgebiet, Schlachtfeld und Kultstätte SZ 388. 53 Vgl. zur Rückführung der ästhetisch gefassten Natur auf die nächste Umwelt des Daseins Joachim Ritter, »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft«, in: ders., Metaphysik und Politik, erw. Neuausgabe, Frankfurt a. M. 2003, 407–434, hier: 414; Fn. 27. 54 Vgl. auch Heideggers differenziertere Thematisierung der Natur in Die Grundprobleme der Phänomenologie: Naturhaft Seiendes könne sehr wohl sein, »ohne daß es innerhalb unserer Welt begegnet« (GA 24, 240). Wenn aber Seiendes von der Seinsart des In-der-Welt-seins existiere, dann sei »faktisch in mehr oder minder weitem Ausmaß

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Tier und Pflanze sind kein Zeug, aber »mitzuhanden« (SZ 71) 55 ; sie reproduzieren sich ohne die Beteiligung des besorgenden Daseins, sind aber dennoch kein »nur noch Vorhandenes« (SZ 70). Dass Heidegger für das Seiende ›Natur‹ in Sein und Zeit keine eigene Kategorie entwickelt, zeigt die Schwierigkeit seiner Konzeption des In-der-Weltseins, einer Seinsregion gerecht zu werden, die in gewisser Weise vor jedem spezifischen Besorgen des Daseins da ist. 56 Ein Entwurf, der vehement gegen die Annahme angeht, dass zunächst ›neutrale‹ Dinge da seien, die dann – in einem zweiten Schritt – subjektiv gedeutet würden, muss letztlich die Umweltnatur als von vornherein bedeutungshaft für das Dasein begreifen. Besonders deutlich macht dies die Interpretation des Zum-Zeichen-Nehmens, die Heidegger in § 17 von Sein und Zeit durchführt. Als Beispiel dient ihm der Südwind, der als Zeichen für Regen genommen wird. Heidegger betont, diese Beurteilung sei keine zu einem an sich schon Vorhandenen bloß hinzukommende ›Wertung‹, sondern der Südwind sei in der sorgenden Umsicht der Feldwirtschaft in seinem Sein so gerade erst entdeckt. Naturhaft Seiendes begegnet also immer aus der bedeutungshaften Ordnung der Welt heraus, ebenso wohl die durchaus eigenständige Ordnungsstruktur des Organismus 57. Auf den Teil eines Organsystems Seiendes als innerweltliches entdeckt« (ebd.). In »Vom Wesen des Grundes« geht Heidegger selbst auf das ›scheinbare‹ Fehlen der Naturthematisierung in Sein und Zeit ein und gibt eine Begründung, die sich von der Präsentation der Naturerschlossenheit in Sein und Zeit deutlich absetzt: Natur ließe sich »weder im Umkreis der Umwelt antreffen« noch primär als etwas bestimmen, »wozu wir uns verhalten. Natur ist ursprünglich im Dasein offenbar dadurch, daß dieses als befindlich-gestimmtes inmitten von Seiendem existiert.« (GA 9, 155 f.; Fn. 55) 55 Siehe SZ 70, wo Heidegger das Natur Seiende einmal ausdrücklich als »zuhanden« bezeichnet. 56 Löwith verweist ausdrücklich auf die Probleme Heideggers, das Sein der Natur zu fassen; vgl. Karl Löwith, »Zu Heideggers Seinsfrage: Die Natur des Menschen und die Welt der Natur«, in: ders., Sämtliche Schriften. Band 8: Heidegger – Denker in dürftiger Zeit. Zur Stellung der Philosophie im 20. Jahrhundert, hrsg. von Klaus Stichweh, Stuttgart 1984, 276–289. Bemerkenswerterweise begreift Löwith in Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen die Selbständigkeit der Natur jedoch auch als bloß privativ gegeben: Ihr Verweigern lasse sie als das »nicht-weiter-Kultivierbare, nicht-weiterDressierbare, nicht-weiter-Züchtbare« begegnen; vgl. IRM 48. Auch Oskar Becker konstatiert, dass Heidegger das »Eigenwesen der Natur im Dunkel« lasse; siehe Oskar Becker, »Para-Existenz. Menschliches Dasein und Dawesen«, in: ders., Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophische Aufsätze, Pfullingen 1963, 67–102, hier: 85. 57 Zu diesem äußert sich Heidegger in der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphy-

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verweist auch der Bleistift: Es ist eine menschliche Hand, die ihn führt. Somit meldet sich die Leiblichkeit des Daseins. Diese thematisiert Heidegger in Sein und Zeit jedoch nicht. 58 Ihr Fehlen gesteht er allerdings selbst ein, indem er bemerkt, dass die Leiblichkeit des Daseins »eine eigene hier nicht zu behandelnde Problematik in sich birgt« (SZ 108). Die Gefahr liegt nahe: Der menschliche Körper könnte als ein vorhandenes Ding im Raum verstanden werden, dessen jeweils konkrete Lokalisation Nähe und Ferne der anderen Raumpunkte vorgibt. Diese Auffassung stellte einen Rückschritt hinter Heideggers Aufweis der spezifischen Räumlichkeit des Daseins dar, welcher zeigte: »Die Näherung ist nicht orientiert auf das körperbehaftete Ichding, sondern auf das besorgende In-der-Welt-sein, das heißt das, was in diesem je zunächst begegnet.« (SZ 107) An anderer Stelle betont Heidegger explizit, dass ›Leibhaftigkeit‹ nur aus der »Schon-Anwesenheit von Welt her« (GA 20, 267) begegnen könne. Wenn Sein und Zeit darauf hinweist, dass nur Seiendes von der Seinsart des In-Seins (also Dasein) anderes Seiendes tatsächlich berühren könne, weil dies immer nur von einer Erschlossenheit von Welt aus möglich sei, erscheint die berührende Hand als Teil des sterblichen Körpers und dessen Eigenständigkeit als Organismus ausgeklammert – oder präziser formuliert: Phänomene wie leibliches Einanderberühren, Tasten, ja letztlich die Hand selbst als Zugang zu Innerweltlichem sind nach Heidegger nur möglich aufgrund des vorgängigen In-derWelt-seins. 59 Eine bemerkenswerte Äußerung Heideggers zur Diffesik von 1929/30, wo das spezifische Sein des Tiers und das des Menschen voneinander abgegrenzt werden. Das Organ wird hier vom Zeug scharf geschieden: Der Organismus ist nach Heideggers Analysen kein Zeugzusammenhang, sondern ein »in Organ-schaffende Fähigkeiten sich gliederndes Befähigtsein«; vgl. GA 29/30, 342. 58 Die Abdrängung der Körperlichkeit – inbegriffen der Geschlechtlichkeit – aus dem Daseinsbegriff ist oft angemerkt worden; vgl. exemplarisch Becker 1963 und Thomä 1990, 306 ff. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Fokussierung auf das Herstellen in der Umweltanalyse, denn unmittelbarer als das Werkzeug verweisen die durch Arbeit gewonnenen Verzehrgüter auf den menschlichen Leib; siehe Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, 14. Lévinas’ Bestimmung des ›Lebens von …‹ als Genuss setzt sich explizit von Heideggers Zeuganalyse ab, indem sie den Verweis auf den Leib einschließt; vgl. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, aus dem Franz. übers. von Wolfgang N. Krewani, Freiburg i. Br./München 2002, 184 und 187 f. (im Folgenden zitiert als TU). Lévinas’ treffendster Kommentar: »Bei Heidegger hat das Dasein niemals Hunger.« (TU 191) 59 An der Hand lässt sich die Abdrängung der Leiblichkeit deshalb besonders deutlich

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renzierung zwischen dem raumeinnehmenden Leib und dem raumeinrichtenden Dasein sei noch angeführt: »Das Dasein kann vielmehr, weil es ›geistig‹ ist, und nur deshalb in einer Weise räumlich sein, die einem ausgedehnten Körperding wesenhaft unmöglich bleibt.« (SZ 368) Dass hier der bei Heidegger so seltene Begriff der ›Geistigkeit‹ auftaucht, reiht die Verdrängung der Leiblichkeit schließlich ungewollt in die philosophische Tradition ein. 60 Wie fügt sich nun zuletzt das Kunstwerk in die Welt der Bezüge ein – die Skizze etwa, welche durch die Handhabung des Bleistifts entstehen könnte? So zentral die Überlegungen zur Kunst – vor allem zur Dichtung – im Verlauf des heideggerschen ›Denkwegs‹ schließlich werden, so eine untergeordnete, ja verschwindend geringe Rolle spielen sie in Heideggers Texten und Vorlesungen der 20er Jahre. In den Umweltanalysen taucht das Kunstwerk schlichtweg nicht auf. Sicherlich hängt die Entscheidung darüber, welchen Status die Kunst im alltäglichen Dasein hat, von einer Bestimmung dessen ab, was überhaupt als ›Kunstwerk‹ bezeichnet werden kann. Doch auch ohne eine ausführliche Reflexion kann behauptet werden, dass allein schon in jedem Bild an der Wand und jedem Lied im Radio beständig spezifisch Seiendes begegnet, das weder belebte noch unbelebte Natur darstellt und auch kein Existierendes ist. In der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie von 1919/20 erwähnt Heidegger die Überführung eines Kunsterlebnisses in eine wissenschaftliche Betrachtung als Beispiel einer »Entlebung« der Lebenswelt. Er stellt einander gegenüber: das Begegnen von Rembrandt-Bildern im ästhetischen Genuss und kunstgeschichtliche Untersuchungen darüber sowie das Erleben einer Choralmesse und ein theologisch-dogmatischer Traktat über diese. 61 Wie begegnet Beethovens 9. Symphonie ›ursprünglich‹ – in ihrer Dienlichkeit zu … ? Sicher wäre es möglich, hier gegenüber der Tauglichkeit des Werkzeugs von einer bloß differenzierteren und weiter gefassten Dienlichkeit zu sprechen, doch ebenso könnte man dem Kunstwerk mit seiner Nicht-Eindeutigkeit und Pluralität an Bedeutungsstiftungen die Kraft zusprechen, ein festmachen, weil sie sowohl im Hand-werken der Werkstatt als im Zu- und Vorhandenen unmittelbar angesprochen ist. 60 Siehe zur offenen Vermeidung und schleichenden Wiederkehr des ›Geistigen‹ in Sein und Zeit Jacques Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, aus dem Franz. übers. von Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M. 1988, 32 ff. 61 Vgl. GA 58, 76.

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Verweisungsganzes zu sprengen, weil es eine Verweisungsmannigfaltigkeit eröffnet, die keine festlegbaren und eindeutigen Bezüge vorgibt wie z. B. ein Gebrauchsgegenstand. Andererseits ließe sich der mögliche Verfremdungseffekt von Kunst vor dem Hintergrund der heideggerschen Konzeption auch begreifen als ›etwas‹, das die vorgängige Verweisungsganzheit ›Welt‹ gerade explizit aufleuchten lässt so wie die Störung im Zeugzusammenhang. Die zuweilen aufrüttelnde ›Sinnlosigkeit‹ eines Kunstwerks wiese dann auf nichts weiter hin als das immer schon bedeutungshafte Erschließen spezifischer ›Gegenstände‹ aus der vertrauten Welt heraus. So äußert sich Heidegger zu einer Passage aus Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge folgendermaßen: Diese Stelle zeige, wie das »In-der-Welt-sein […] aus den Dingen uns entgegenspringt« (GA 24, 246). 62 Ein konsequentes Anlaufen gegen konventionelle Hör- und Sehgewohnheiten würde die vertraute Welt im Ganzen als vorgängige Ordnung also nach Heidegger vermutlich gerade aufscheinen lassen und somit die grundlegende Vertrautheit mit Welt bestätigen. 63 Es lässt sich somit insgesamt festhalten: Die deutlichen Schwankungen und Unsicherheiten bei der Kategorisierung des naturhaft Seienden und die Vernachlässigung des spezifischen Bedeutungskomplexes Kunst lassen die totale Verfügbarkeit des Innerweltlichen – als zugängliches Zuhandenes oder ›restlos‹ erkanntes Vorhandenes – zumindest fraglich werden. Dass Störungen, Brüche und Abwesenheiten in der Verweisungsmannigfaltigkeit von Heidegger jedoch durchgängig nicht als Zerschlagen der Ordnung, sondern vielmehr als deren ausgezeichnetes Aufleuchten interpretiert werden, macht seine eigene Thematisierung des ›Unbekannten‹ schließlich überdeutlich. Heidegger selbst stellt wiederholt die Frage, wie eine spezifische Umgebung begegnet, die einem ›fremd‹ ist, und wie ein konkretes Zuhandenes gegeben ist, das man nicht kennt. Jedes der folgenden Beispiele soll nun zeigen, dass auch ganz neue, vielleicht ›seltsam‹ anzuschauende 62 Nach Hannah Arendt lässt das Kunstwerk als zweckloser Gegenstand das »weltlich Dauerhafte« aufscheinen; die »Weltlichkeit der Welt« trete so hervor; vgl. Arendt 1960, 155. 63 Es fallen noch etliche andere Phänomene der Ver- und Entfremdung von Gegenständen und Strukturen ein, etwa der Ekel, dessen verstörende Kraft Sartre im gleichnamigen Roman eindringlich beschreibt, oder das Absurde, der Traum, die Halluzination, der Wahnsinn. Insofern sie jedoch stets Innerweltliches verfremden, stellen sie die Welt selbst als vorgängige Ordnung nach Heidegger vermutlich nicht in Frage.

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Dinge immer als bedeutsam erschlossen werden. So versetzt Heidegger etwa in einer imaginierten Situation einen Nicht-Schuster in eine Schusterwerkstatt. Sein Kommentar: Diese Umgebung ist dem NichtKundigen zwar unvertraut, aber wir »erfahren primär die Welt des Mannes, in der er lebt, obzwar fremd, so doch als Welt, als geschlossene Verweisungsganzheit« (GA 20, 255). Bemerkenswerterweise lässt bereits die erste dokumentierte und besonders berühmt gewordene Schilderung eines Umwelterlebnisses in einer heideggerschen Vorlesung einen ›Fremden‹ in den vertrauten Raum eintreten. Schauplatz ist hier der Hörsaal, im Besonderen geht es um das ›Sehen‹ des Katheders. 64 Die mit dem Hörsaal und dem Pult des Lehrenden Vertrauten, so Heidegger, sehen nichts weiter als das Katheder, von dem zu ihnen gesprochen wird oder von dem aus sie sprechen. Sie sehen keine »braune[n] Flächen, die sich rechtwinklig schneiden« (GA 56/57, 71), keine »Kiste« oder Ähnliches. Nun versetzt Heidegger zuerst einen Schwarzwaldbauern und dann – als Steigerung des an der Universität damals Exotischen – einen »Senegalneger« in die den Studierenden und Lehrenden bekannte Umwelt. Als was sieht der Bauer das Katheder? Heidegger: Zumindest wird er dem Gegenstand eine Bedeutung zuschreiben, ahnt vermutlich gar den Platz des Lehrers. Und der Senegalese als in der westlichen Kultur nicht Heimischer und als eindeutig nicht wissenschaftlich gebildeter Mensch (das von Heidegger dezidiert nicht mit Kulturlosigkeit gleichgesetzt)? Er wird das Katheder vermutlich als ein Etwas sehen, »mit dem er nichts anzufangen weiß« (GA 56/57, 72). Das Fremde ist demnach in Heideggers Umweltanalyse durchgängig das, »womit man zunächst nichts anfangen kann« (GA 64, 32; Hervorhebung M. S.), das aber immer schon als – wenn auch noch so merkwürdiges – Um-zu, Dazu oder Wofür gesehen wird. »Es begegnet […] im Horizont des besorgenden Erschließens, und die Frage, was es sei, ist das auslegende Fragen nach dem Wozu« (GA 64, 32), so Heidegger selbst. Das ›Fremde‹ ist somit nichts weiter als eine vorübergehende Störung der ursprünglichen Vertrautheit; die Fragen, welche es aufwirft – »Was ist das? […] Wozu wird das gebraucht? Was macht man damit? Für wen ist das? Was soll das? Wer hat das gemacht?« (GA 63, 95) – präsentiert Heidegger als grundsätzlich beantwortbar. Fremdsein erscheint in Heideggers Weltlichkeitsanalyse demnach immer als 64

Siehe die Vorlesung Zur Bestimmung der Philosophie (konkret: GA 56/57, § 14).

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›zeugliches Fremdsein‹, es ist nicht mehr und nicht weniger als die »wachgerüttelte unabgehobene Vertrautheit, die begegnet im Charakter der Unvertrautheit« (GA 63, 100), und somit ›harmlos‹, nämlich zu bewältigen durch Eingliederung der ›Dinge‹ in die bestehende Ordnung. Das durchaus zweifelhafte Fazit, welches sich nahtlos an die heideggersche Ausdeutung der Kathederszene anschließt: »Auch irgendein Wilder, der zu uns verpflanzt wird, versteht sich in dieser Welt, ob sie zwar im einzelnen ihm ganz und gar fremd sein kann.« (GA 20, 334) 2.2.3

Die Freigabe – Konstitutionsakt oder Sein-lassen?

Die Weltlichkeitsanalyse zeigte: Alles andersartige Seiende begegnet dem Dasein innerweltlich und Welt ist ein Existenzial. Heideggers Thematisierung des Fremden bestätigte, was die kritischen Fragen nach Natur, Leiblichkeit und Kunst schon ahnen ließen: Das Dasein ist ein Kosmopolit in ontologischem Sinne – d. h. Dasein ist ›überall‹ in der Welt zuhause; in jeder neuen Begegnung scheint Bekanntes auf, in allen spezifischen Erlebnissen kommt das Dasein zurück auf die vorgängige Vertrautheit von Welt. Somit meldet sich erneut das Motiv einer Wiedererinnerung an: Alles gegenwärtige Begegnen von konkretem Seienden vollzieht sich ›in‹ einer stets schon vor-geworfenen, vor-gesorgten Welt. Das Hantieren mit Zuhandenem etwa ist überhaupt nur möglich als permanenter Rückbezug auf eine Strukturganzheit, die das konkret Begegnende als solches freigibt. 65 Diese These einer spezifischen ›Vergangenheitsbezogenheit‹ des besorgenden Umgangs mit Innerweltlichem stützt eine sich mehrfach wiederholende Bemerkung Heideggers zu Kants Interpretation der räumlichen Orientierung in »Was heißt: Sich im Denken orientieren?«. Folgendes kantische Beispiel ist gemeint: Beim Eintreten in ein dunkles Zimmer kann man sich nur zurechtfinden, wenn ein bestimmter Gegenstand gefasst wird, dessen Stelle im Raum man erinnert. Heideggers Kommentar: »Die psychologische Interpretation, daß das Ich etwas ›im Gedächtnis‹ habe, meint im Grunde die existenziale Verfassung des In-der-Welt-seins.« (SZ 109) 66 65 Das Je-schon-vorhergeworfen-worden-Sein der Welt wird in Heideggers eigener Rede vom »apriorischen Perfekt« schließlich prägnant zum Ausdruck gebracht; vgl. SZ 85. 66 Siehe auch die entsprechende Interpretation in den Prolegomena (konkret: GA 20, 321).

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Doch stellt sich Heideggers In-der-Welt-sein nach dieser Interpretation nicht als vollkommene ›Selbstentfaltung‹ des Daseins als letztem Worum-willen dar? Schließlich ist der Verweisungszusammenhang der Bedeutsamkeit »festgemacht im Sein des Daseins zu seinem eigensten Sein« (SZ 123). 67 Begreift Sein und Zeit Welt und alles in ihr Begegnende demnach als vom Dasein konstituiert und somit unter seiner Macht stehend? Allerdings präsentiert Heidegger den Aufweis der Struktur des In-der-Welt-seins gerade als deutliche Abkehr von jeglichem subjektzentrierten Denken; es soll schließlich gezeigt werden, dass das Dasein als faktisches sich immer schon in einer so oder so ausgestalteten Welt vorfindet. Dasein ist nach Heidegger nicht allein weltverstehend, d. h weltentwerfend, sondern »durch und durch geworfene Möglichkeit« (SZ 144). Dies legt nahe, das unhintergehbare In-der-Welt-sein des Daseins gerade als Machtentzug zu deuten. So spricht Heidegger im Zuge der Weltlichkeitsanalyse immer wieder von der fundamentalen Angewiesenheit des Daseins auf Welt: »[…] Dasein hat sich, sofern es ist, je schon auf eine begegnende ›Welt‹ angewiesen, zu seinem Sein gehört wesenhaft diese Angewiesenheit.« (SZ 87) Dass andersartig Seiendes »mit dem eigenen Da der Existenz entdeckt ist, steht nicht im Belieben des Daseins. Nur was es jeweils, in welcher Richtung, wie weit und wie es entdeckt und erschließt, ist Sache seiner Freiheit, wenngleich immer in den Grenzen seiner Geworfenheit.« (SZ 366) Auch deutet Heidegger das Begegnen der ›Dinge‹ im umsichtigen Besorgen als grundlegendes Getroffenwerden und betont zudem, dass ein Sichaussprechen des besorgenden Daseins als ›ich hier‹ nur mit Blick auf ein jeweiliges ›Dort‹ von Zuhandenem möglich sei. 68 Wichtig ist allerdings folgende Differenzierung: Die von Heidegger selbst vorgenommene Feststellung, dass das jeweils faktische Dasein der spezifischen Umwelt in ihrer Bezugsmannigfaltigkeit nicht Das solle dezidiert nicht bedeuten, dass das Dasein die Welt – und damit etwa die Natur – schaffe oder dass diese nur zum Zweck eines planenden, rechnenden Daseins vorhanden sei; vgl. Heideggers eigene Bemerkungen zu solchen Vorwürfen in GA 26, 239 f. und GA 24, 418. Zudem fingiert er selbst den Einwand, mit der Bestimmung der Welt als Existenzial einen ›extremen subjektiven Idealismus‹ zu proklamieren; vgl. GA 24, 237 f. Seine Argumentation gegen diese These hebt hervor, dass das Dasein eben kein Subjekt sei und dass somit die Welt keine nach außen projizierte Innerlichkeit eines in sich abgeschlossenen Ich sein könne. 68 Vgl. SZ 137 sowie SZ 119. 67

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»Herr« werden könne, 69 belegt noch nicht, dass er in der existenzialontologischen Fassung der Welt in ihrer Weltlichkeit das Moment eines Ausgeliefertseins deutlich genug aufzeigt. Eine Stelle aus den Metaphysischen Anfangsgründen macht diese Problematik einsichtig: »[…] das Dasein ist als transzendierendes über die Natur hinaus, obzwar es als faktisches von ihr umschlungen bleibt.« (GA 26, 212) In seiner Faktizität findet sich Dasein in einer jeweils konkreten Welt vor, 70 es hat seine eigene Umwelt nicht ›gemacht‹ – doch zeigt sich dies Betroffensein allein in der Begegnung mit Innerweltlichem, dann handelt es sich um ein existenziell-ontisches Angegangenwerden, das sich immer noch im Horizont der vorgängig verstandenen Welt abspielt. So gründet das konkrete Da- und Dortsein des Zuhandenen – um auf das vorhin genannte Beispiel für eine Verortung des ›Ich‹ durch den Bezug zu Innerweltlichem zurückzukommen – schließlich wiederum in der spezifischen Räumlichkeit des Daseins. Es stellt sich demnach die Frage, inwieweit die Freigabe als Möglichkeit des Begegnens von Innerweltlichem in sich schon das Moment eines Geworfenseins des Daseins trägt. Pointiert formuliert: Ist die Freigabe ein Konstitutionsakt des Daseins oder vielmehr ein Sich-einlassen auf Welt als Bedingung der Möglichkeit jeglichen Begegnenlassens von Innerweltlichem? 71 Um die Konzeption der Freigabe daraufhin zu befragen, bietet sich eine Zerlegung des Terminus an. Was Vgl. SZ 356. ›Welt‹ setzt Heidegger in diesem Kontext selbst in Anführungszeichen, d. h. er spricht von der ontisch begriffenen Welt; vgl. SZ 87. 71 Zur Debatte steht mit dieser Frage, ob Heidegger nicht doch zwischen einem ›reinen‹ weltkonstituierenden Dasein und einem faktischen Dasein, das immer schon in einer konkreten Welt ist, unterscheidet. So zeigt Apel auf, dass die zentrale Differenz ontischontologisch durchaus in Analogie zur empirisch-transzendentalen Differenz im Sinne Kants und Husserls verstanden werden könne; vgl. Karl-Otto Apel, »Sinnkonstitution und Geltungsrechtfertigung. Heidegger und das Problem der Transzendentalphilosophie«, in: Blasche 1989, 131–175, hier: 143 f. Kogge argumentiert in der gleichen Richtung, wenn er behauptet, der Aufweis von übergreifenden Existenzialien bezeuge die »Tendenz, dem Dasein ebenso zeitlose und fundamentale Bestimmungen zuzuschreiben, wie dem Geist in der Lebensphilosophie Diltheys und dem Bewußtsein in der Phänomenologie Husserls« (Kogge 2001, 154). Ebenso betont Hübner, dass Heidegger mit dem Übergang zum »›apriorische[n]‹ Bewendenlassen« (SZ 85) die Argumentation auf eine »transzendentale Ebene« verlege, weil es nun um die Bedingung der Möglichkeit für das Begegnen von Zuhandenem gehe; vgl. Alfred W. E. Hübner, Existenz und Sprache. Überlegungen zur hermeneutischen Sprachauffassung von Martin Heidegger und Hans Lipps, Berlin 2001, 38. 69 70

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meint hier ›frei‹, was ›Gabe‹ ? Heidegger leitet das Substantiv ›Freigabe‹ vom ›Freigegebensein‹ des innerweltlich Begegnenden ab: »[…] das innerweltlich Begegnende ist für die besorgende Umsicht […] in seinem Sein freigegeben.« (SZ 83) Das bedeutet: Die Bedingung der Möglichkeit des Begegnens von Innerweltlichem ist sein Freigegebensein. Im alltäglichen Gebrauch bedeutet das Verb ›freigeben‹ einmal ›befreien‹ oder ›freilassen‹ : Der Gefangene wird freigegeben. Dann bedeutet das Wort soviel wie ›etwas zugänglich machen‹, ›etwas öffentlich machen‹ : Daten werden freigegeben, ein neuer Wanderweg wird freigegeben. Es ist die zweite Bedeutung, die in Heideggers ›Freigabe‹ anklingt: Das Innerweltliche wird zugänglich, es steht in einer ›Offenheit‹. Problematischer ist die Interpretation der ›Gabe‹ bzw. des ›Gebens‹. Die oben genannten Bedeutungen des Wortes ›freigeben‹ weisen auf eine Handlung, einen Akt hin – jemand entscheidet, etwas freizugeben, jemand vollzieht diese Freigabe. Ist die Freigabe im heideggerschen Sinne ein Zugänglich-machen? Ist dieses dann ein Vollzug des Daseins? Die ›Gabe‹ könnte auch anders gedeutet werden: als ›Darreichung‹ von Welt. Das ›Lassen‹ des Bewendenlassens deutete dann bereits auf das von Heidegger u. a. in »Vom Wesen der Wahrheit« (1930) thematisierte »Seinlassen von Seiendem« als des Wesens der Freiheit hin. 72 Das Vorherwerfen von Welt wäre so in sich ›passivisch-aktivisch‹ strukturiert wie das Offenlegen des Seins in der echt verstandenen Phänomenologie. Tatsächlich ist auch die Welt ja selbst kein Seiendes – sie ist weder vor- noch zuhanden –, sondern das, was das Begegnen von ›etwas‹ überhaupt möglich macht. In diesem Sinne ist sie – als das Begegnende freigebende – in ihrer vorgängigen Vertrautheit dem Dasein zugleich entzogen, weil sie sich nicht fassen lässt wie etwas innerweltlich Zu- oder Vorhandenes. Das konsequente Verfolgen dieser Hinweise könnte zu einer differenzierteren Sicht auf die Welt als selbst nicht ›greifbarer‹ Ermöglichungsspielraum für innerweltliche Zugänglichkeit führen. Der enge Zusammenhang zwischen dem Wohnen und Vgl. Martin Heidegger, »Vom Wesen der Wahrheit«, in: GA 9, 177–202, hier: 188. In diesem Sinne interpretiert Figal die Freigabe: Das ontologisch verstandene Bewendenlassen sei nichts anderes als ein »Sicheinlassen auf das Seiende«; vgl. Figal 1988, 87. Eine Figal entgegengesetzte Deutung, welche das Freigeben als eine Befreiung des Seienden von seiner Verdeckung – und damit eher im Sinne einer ›Handlung‹ – liest, gibt Rosales’ Interpretation der Weltlichkeit; vgl. Alberto Rosales, Transzendenz und Differenz. Ein Beitrag zum Problem der ontologischen Differenz beim frühen Heidegger, Den Haag 1970, 47.

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Vertrautsein mit … und so die Ökonomie des Daseins auf existenzialontologischer Ebene würde dabei tatsächlich in Frage gestellt. Im Zuge einer Präsentation der Angstanalyse Heideggers – und der damit verbundenen Interpretation der Welt als Unzuhause – in Abschnitt V soll diese Spur wieder aufgenommen werden.

2.3 In-der-Welt-sein als Mitsein 2.3.1

Das Begegnen der Anderen – Kritik an der ›Einfühlungsdebatte‹

Im Zuge der Ausführungen zum Weltbegriff Heideggers wurde bislang recht ausführlich über Bleistifte, unbebaute Äcker und Landschaftsskizzen gesprochen, nicht aber über das Begegnen anderer Menschen. Muss für den Vergleich des heideggerschen Denkens mit der buberschen Dialogik nicht die Analyse des Miteinanderseins den zentralen Ansatzpunkt bei Heidegger darstellen? In der Tat bietet sich die heideggersche Konzeption des Mitseins als besonders geeignet für eine Kontrastierung mit dem dialogischen Denken an. Sie ist zudem eine der meistkritisierten Analysen von Sein und Zeit und diese Kritik wird – wie in der Einleitung schon angedeutet wurde – oftmals von einer Rezeption der Dialogiker her formuliert. 73 Allerdings ist eine angemessene Interpretation des Mitseins nur vor dem Hintergrund einer Diskussion von Weltlichkeit überhaupt möglich, weil es Heidegger schließlich nicht um eine für sich stehende Untersuchung ontisch-existenzieller – sozialer, zwischenmenschlicher – Beziehungen geht, sondern um die Analyse des Begegnens Anderer im Rahmen einer Untersuchung des fundamentalen In-der-Welt-seins. 74 73 Von den Dialogikern äußert sich am ausführlichsten Buber selbst in Das Problem des Menschen. Als Kritiker, die auf wesentliche Gedanken der Dialogiker zurückgreifen, sind u. a. Löwith, Binswanger, Theunissen, Lévinas und Tischner zu nennen. Sartres Interpretation der heideggerschen Konzeption des Mitseins in Das Sein und das Nichts führt zwar zu ähnlichen Ergebnissen, ist aber von den Dialogikern nicht nachweislich beeinflusst. 74 Wer also eine Thematisierung bestimmter Phänomene wie Freundschaft oder Liebe erwartet, missachtet den Rahmen, in dem die Mitseinsanalyse stattfindet. Die Frage ist viel eher, ob auf dem Boden des heideggerschen Grundansatzes eine angemessene Beschreibung dieser zwischenmenschlichen Beziehungen geleistet werden könnte oder ob die Tatsache, dass dem (einsamen) Hämmern sehr viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, nicht doch etwas Wesentliches über die Konzeption aussagt.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

Die eingehende Interpretation des Existierens Anderer in der Welt mag aber auch aus einem zweiten Grund längst überfällig erscheinen: Könnte nicht eine mögliche Irritation der Ökonomie des In-Seins gerade durch das Auftreten anderer ›Daseiender‹ erreicht werden, weil diese sich als Existierende viel deutlicher als Umweltnatur, Kunst und Leiblichkeit nicht der Struktur einer vorgängig bedeutungshaften Ordnung einschreiben lassen? In der Tat liegt es nahe, dem Begegnen Anderer diese ›Sprengkraft‹ zuzutrauen – dem Begegnen nicht des Fremden im Sinne des unbekannten Gegenstandes, sondern des Fremden als einem anderen Dasein. Das Erscheinen eines Anderen bietet schließlich die Chance, die Mittelpunktstellung des jeweiligen Daseins in der konkreten Umwelt in Frage zu stellen – mit ihm einhergehen könnte eine Dezentrierung der Welt durch ein anderes einräumendes und entfernendes Dasein. So zeigt sich: Alle in diesem Abschnitt zuvor verfolgten Spuren laufen nun in der Betrachtung des Miteinanderseins in einer Welt zusammen. Mit der zentralen Behauptung, welche sich aus den Ergebnissen seiner phänomenologischen Betrachtung des Daseins als eines Mitseins ergibt, wendet sich Heidegger nun erneut gegen die Annahme eines zunächst für sich seienden Ich: So wie es nach der Konzeption des In-der-Welt-seins kein bloßes Subjekt ohne eine Welt gibt, so existiert nach Heidegger auch kein isoliertes Ich ohne »die Anderen«. Dasein ist als In-der-Welt-sein zugleich Mitsein bedeutet: Das Dasein hat immer schon ein »Verständnis Anderer« (SZ 123) und existiert als ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, zugleich wesenhaft »umwillen Anderer« (SZ 123). Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielfach diskutierte Problem der ›Einfühlung‹ 75 entpuppt sich soIn den Prolegomena ist der entsprechende Abschnitt zum Mitsein als »Kritik der Einfühlungsthematik« betitelt; siehe zur – philosophischen und psychologischen – Diskussion um ›Einfühlung‹ und ›Fremderfahrung‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts exemplarisch Theodor Lipps, Leitfaden der Psychologie, Leipzig 1903 sowie Johannes Volkelt, Das ästhetische Bewusstsein. Prinzipienfragen der Ästhetik, München 1920 und Husserls Intersubjektivitätsanalyse in der V. Cartesianischen Meditation. Edith Steins Dissertation (Zum Problem der Einfühlung, Halle 1917) liefert einen detaillierten Überblick über die wichtigsten Positionen auch von heute weitgehend unbekannten Autoren. Besonders prägnant stellt jedoch der Abschnitt »Vom fremden Ich. Versuch einer Eidologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik der Erfahrung und Realsetzung des fremden Ich und der Lebewesen« in Schelers Wesen und Formen der Sympathie die grundlegenden Konzeptionen dar, wobei Scheler sehr klar die verschiedenen Fragestellungen, welche sich hinter dem Schlagwort ›Einfühlung‹ verbergen, unterscheidet.

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mit nach Heidegger als bloßes »Scheinproblem« (GA 20, 335), denn alle Konzeptionen, die nach der Möglichkeit des ›Fremdverstehens‹ fragen, setzen an, »als wäre ein Subjekt für sich eingekapselt gegeben, das nun die Aufgabe bekommt, sich in ein anderes Subjekt einzufühlen« (GA 20, 334). Die Frage nach den »Wesens-, Daseins- und Erkenntnisgründe[n] der Verknüpfung von Menschenichen und Menschenseelen« 76 , wie Scheler sie seinen Ausführungen zum ›fremden Ich‹ in Wesen und Formen der Sympathie voranstellt, ist nach Heidegger also schlichtweg überflüssig – oder weniger scharf: falsch formuliert –, weil das Dasein gar nicht als solus ipse existiere. 77 Vielmehr seien die Anderen dem Dasein vorgängig immer schon vertraut – auch wenn sie ihm faktisch noch nie begegnet sind. Die Fragen, wie es in konkreten Situationen möglich ist, die Äußerungen, Motive oder Gefühle eines Anderen zu verstehen und inwieweit das Mitdasein der Anderen für die jeweiligen Möglichkeiten des Daseins relevant ist, will Heidegger dabei gar nicht als unsinnig abtun. Sie gehörten aber in den Bereich der konkreten Anthropologie und könnten als Fragen überhaupt nur sinnvoll gestellt werden, weil Dasein immer schon Mitsein ist: Die Einfühlung »konstituiert nicht erst das Mitsein, sondern ist auf dessen Grunde erst möglich und durch die vorherrschenden defizienten Modi des Mitseins in ihrer Unumgänglichkeit motiviert« (SZ 125). Binswanger kommentiert Heideggers Herausstellung des ursprünglichen Mitseins folgendermaßen: »Mit dem Aufweis dieses ontologischen Zusammenhangs hat Heidegger ganze Bibliotheken über das Problem der Einfühlung, der Fremdwahrnehmung überhaupt, der ›Konstitution des fremden Ich‹ usw. in das Gebiet der Historie verwiesen; denn was diese erklären und beweisen wollten, war in ihren Erklärungen und Beweisen immer schon vorausgesetzt« 78 .

Um das – in einem grundlegenderen Sinne gemeinte – beständige ›Dasein‹ Anderer phänomenologisch aufzuweisen, geht Heidegger auf die Zeuganalyse zurück. So deckte der Blick auf die Umwelt bereits auf, Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, Bonn 1999, 209. Allerdings haben Schelers Analysen mit denjenigen Heideggers den Ausgangspunkt gemein, jegliche Konzeptionen, welche bei der Selbstwahrnehmung eines nach außen abgeriegelten Subjekts ansetzen, als ›Konstruktionen‹ aufzuweisen. Scheler möchte vielmehr zeigen, dass »dasselbe Psychische auch verschiedenen Individuen gegeben sein« kann, vgl. Scheler 1999, 252. 78 Binswanger 1973, 66. 76 77

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

dass im Besorgen Andere immer schon mitbegegnen. Es wurde gezeigt, wie das Werk auf anderes Dasein verweist: auf mögliche Besitzer, spätere Verwender, auf Hersteller, Lieferanten usw. 79 Die Annäherung an das Auftreten Anderer über das umweltliche Besorgen legt nahe: Die Anderen begegnen ebenso innerweltlich wie das Zeug oder die Natur. Heidegger hebt dies selbst hervor: »Sie begegnen aus der Welt her, in der das besorgend-umsichtige Dasein sich wesenhaft aufhält.« (SZ 119) Da die Anderen aber weder zu- noch vorhanden sind, sondern selbst als In-der-Welt-sein existieren, fügen sie sich nicht in derselben Weise in den Verweisungszusammenhang ein wie das Zeug. Das begegnende andere Dasein ist laut Heidegger »so, wie das freigebende Dasein selbst – es ist auch und mit da« (SZ 118). ›Mit‹ und ›auch‹ begreift Heidegger ausdrücklich in ontologisch-existenzialem Sinne – d. h. es handelt sich hier eben nicht um ein bloßes Nebeneinandersein zweier oder mehrerer Vorhandener und gemeint ist auch nicht, dass in konkreten Situationen immer Andere mit da sind. Anderes Dasein begegnet innerweltlich heißt also: Es begegnet innerweltlich als Mitdasein, das selbst In-Sein ist. Die Anderen begegnen »als sie selbst in ihrem In-der-Weltsein, nicht als Vorkommende« (GA 20, 330), sondern als Hantierende, Pflegende, Betrachtende, Fragende. Im Unterschied zum Zeug etwa bringt der Andere somit seinen eigenen ›Raum‹ mit. Ein eigenes Beispiel zeigt, wie sich das Hinzutreten eines anderen Daseins vom Herschaffen eines Zeugs unterscheidet: Wenn eine zweite Person in eine Wohnung einzieht, dann kommt nicht einfach ein weiterer Körper in die Räume hinein, der einen bestimmten Platz einnimmt. Vielmehr entsteht durch das Hereinkommen eines anderen Daseins ein zweites Zentrum, welches sich seine Plätze und Gegenden selbst einräumt, die sich mit den eigenen durchaus überschneiden oder mit ihnen kollidieren können. Andere begegnen also im Besorgen als Besorgende, was deutlich macht, dass das spezifische Sein zu den Anderen selbst kein Besorgen sein kann. Heidegger bestimmt die Sorge des Mitseins als existenzialontologisch begriffene Fürsorge. Als Existenzial bedingt sie alle konkreten Ausprägungen menschlichen Miteinanderseins, also auch das »Wider-, Ohne-einandersein, das Aneinandervorbeigehen, das Einander-nichts-angehen« (SZ 121). Weil Dasein nach Heidegger in einem fundamentalen Sinne Mitsein ist – auch wenn es in konkreten Situa79

Vgl. SZ 70 f. und 117 f. sowie GA 20, 329 f.

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Heidegger: Dasein als In-der-Welt-sein mit Anderen

tionen faktisch allein ist –, vermag die spezifische Sicht der Fürsorge, Rücksicht und Nachsicht, in ihren verschiedenen Ausprägungen bis hin zur Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit zu reichen. Es eröffnen sich Weisen der Nähe und Ferne zwischen Dasein und Dasein, welche ebenso wenig als ›Abstände‹ gedeutet werden können wie Nähe und Ferne im Bereich des Hantierens mit Zeug. 2.3.2

Die Frage nach dem Verhältnis von Um- und Mitwelt – Heideggers Auseinandersetzung mit dem ›Ich-Du‹ Teil I

Heideggers Konzeption des Mitseins lässt die Anderen aus der bedeutungshaften Welt heraus begegnen – das Miteinander ist immer »miteinander umweltlich und weltlich besorgen« (GA 20, 331). An anderer Stelle heißt es: »[…] auch wenn die Anderen in ihrem Dasein gleichsam thematisch werden, begegnen sie nicht als vorhandene Persondinge, sondern wir treffen sie ›bei der Arbeit‹, das heißt primär in ihrem In-der-Welt-sein.« (SZ 120) Die Anderen als Andere sind also zunächst aus dem her verstanden, was sie bearbeiten und bestellen. Wird die Begegnung mit Anderen so aber nicht zu einem Epiphänomen des Besorgens degradiert? Dass die Anderen nicht als vollkommen isolierte Subjekte begegnen, ist vor dem Hintergrund des In-der-Welt-seins plausibel. Doch müsste nicht – wenn In-der-Welt-sein und Mitsein gleichursprünglich sein sollen 80 – die Durchdringung der Umwelt durch Bezüge zum anderen Dasein als einem anderen Selbst stärker berücksichtigt werden? Wie steht es um das Verhältnis zwischen Umund Mitwelt 81 , zwischen Be- und Fürsorgen? Heidegger selbst betont in Sein und Zeit – hier kann an die Diagnose einer Verflechtung von Selbst-, Mit- und Umwelt in den frühen Freiburger Vorlesungen und Texten erinnert werden –, dass die Fürsorge eine Seinsverfassung des Daseins sei, »die nach ihren verschiedenen Möglichkeiten mit dessen Sein zur besorgten Welt ebenso wie mit dem 80 Dies behauptet Heidegger schließlich ausdrücklich, vgl. etwa GA 20, 328 sowie GA 21, 226. 81 Während Heidegger den Begriff der ›Mitwelt‹ in den frühen Freiburger Texten als zentralen Terminus neben ›Umwelt‹ und ›Selbstwelt‹ gebrauchte, kritisiert er ihn in den Prolegomena rückblickend. Aufgrund des weltlichen Begegnens könne man zwar auch von Mitwelt und Selbstwelt sprechen, um den Unterschied von den Weltdingen deutlich zu machen, jedoch hätten die Anderen selbst nie »die Seinsart der Welt«; vgl. GA 20, 333. In Sein und Zeit gebraucht Heidegger den Ausdruck allerdings erneut, siehe SZ 118.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

eigentlichen Sein zu ihm selbst verklammert ist« (SZ 122). Diese Beschreibung eines ›Verschlungenseins‹ der Fürsorge mit dem Besorgen legt ein wechselseitiges Sichdurchdringen der Bezüge nahe. 82 Dann aber verschiebt Heidegger die interne Strukturierung der jeweiligen Begegnisse des Daseins mit anderem Dasein erneut zugunsten des Begegnens von Zuhandenem: »Das Miteinandersein gründet zunächst und vielfach ausschließlich in dem, was in solchem Sein gemeinsam besorgt wird.« (SZ 122) Besonders zugespitzt: »Im umweltlich Besorgten begegnen die Anderen als das, was sie sind; sie sind das, was sie betreiben.« (SZ 126) 83 Karl Löwith hingegen versucht in seiner von Heidegger begutachteten Habilitationsschrift Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen 84 aufzuzeigen, dass die Begegnisweise der Umwelt aus der Mitwelt her die ursprüngliche ist, »weil der Mensch den Menschen primär überhaupt nicht in der Welt und aus ihr her, sondern die Welt ›in den Menschen‹ und aus diesen her anspricht und begegnet« (IRM 46). Ein Beispiel: Die Einrichtung eines Zimmers präsentiere sich von vornherein als Umfeld eines konkreten Menschen mit einer bestimmten Persönlichkeit. 85

In der Ontologie-Vorlesung vom SS 1923 findet sich die Beschreibung unterschiedlicher ›Begegnisse‹ mit altvertrauten Gegenständen, die eine ganze ›Welt‹ wieder aufleben lassen. Hier ist die wesentliche Prägung dieser Welt durch die Anderen, mit denen man die einstigen Erlebnisse teilte, deutlich akzentuiert; vgl. GA 63, 90 f. 83 Eine entgegengesetzte Deutung zum Verhältnis von Um- und Mitwelt schlägt Brandom vor: Er interpretiert die Bedeutsamkeit des Zuhandenen als Angemessenheit für praktische Aufgaben, wie sie eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe auspräge. Gesellschaftliche Praxis bestimme also die Bedeutsamkeit der konkreten Umwelt; vgl. Richard Brandom, »Heideggers Kategorien in ›Sein und Zeit‹«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1997), 531–549, hier: 536 f. 84 Dies der Titel der späteren Veröffentlichung; eingereicht wurde die Arbeit am 15. 12. 1927 an der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg unter dem Titel Phänomenologische Grundlegung der ethischen Probleme. Heideggers aufschlussreiches Gutachten findet sich abgedruckt im Anhang des ersten Bandes der Sämtlichen Schriften Löwiths (vgl. Löwith 1981, 470–473). Nach Heidegger stellt sich Löwith hier »die Aufgabe, das Ich-Du-Verhältnis als das Grundphänomen vor Augen zu legen, aus dem heraus und in das zurück alle Probleme der Ethik grundsätzlich zu stellen sind« (Löwith 1981, 470). Siehe zur Aufnahme der Schrift Löwiths durch Heidegger auch Wojcieszuk 2010, 228 f. 85 Vgl. IRM 47. Löwith stützt sich auf Feuerbach und Dilthey und ihre Behauptung der Vermitteltheit »der außermenschlichen Realität durch menschliche Realität« (IRM 60). Er schafft es jedoch letztlich nicht, seinen Ansatz konsequent durchzuhalten. So behaup82

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Bei seiner differenzierten Betrachtung des menschlichen Miteinanders – welche er in Abgrenzung von Heideggers Fundamentalontologie ausdrücklich als anthropologische versteht – geht Löwith explizit auf die Konzeption einer Ich-Du-Beziehung im Sinne des dialogischen Denkens ein. Neben einem der Vordenker der Dialogiker – Feuerbach – werden Ebner und Gogarten interpretiert. 86 Buber hingegen wird im ganzen Text nicht erwähnt – Löwith nennt die Schriften über das dialogische Prinzip erst im Vorwort zur Neuauflage von Das Individuum im Jahr 1962 als für die Ich-Du-Thematik zentrale Texte. Seine eigene Ausarbeitung des Ich-Du-Verhältnisses als eines eigentlichen Miteinanderseins ist als ausdrückliche Kritik an der heideggerschen Mitseinsanalyse gemeint, obgleich Löwith wesentliche Gedanken und Termini seines Lehrers fraglos übernimmt. 87 Der Begriff eines Ich-Du-Verhältnisses zielt dabei auf eine ausgezeichnete zwischenmenschliche Beziehung ab: »Indem ›Ich‹ der eine bin und ›Du‹ der andere bist, gehören wir beide unmittelbar ›Einander‹. Nur ›Du‹ kannst der ›Meine‹ sein, wie auch nur ›Ich‹ der ›Deine‹ sein kann. Das Verhältnis von Ich und Du ist ein einzigartiges – das besagt aber nicht, daß es für jedes Ich nur ein einziges Du gibt. Eigentlich mit-einander sind nicht ›wir‹, und noch weniger ist ›man‹ miteinander, sondern ausschließlich ›wir beide‹« (IRM 71).

Das Du ist hier also der Andere im Sinne des lat. alter oder secundus, nicht irgendein Anderer (alius). Wenn Heidegger in etlichen seiner Vorlesungen um 1928 kritisch auf die Konzeption eines sog. ›Ich-Du-Verhältnisses‹ eingeht, 88 ist dietet er an anderer Stelle, das Miteinandersein sei »zumeist werkhaft (sachlich) vermittelt« (IRM 44). 86 Nach Löwith übergehen Ebner und Gogarten allerdings das Problem, dass das Du selbst eine erste Person ist. Feuerbach dagegen wird der Vorwurf gemacht, er vernachlässige den Bezug zur gemeinsamen Welt; vgl. IRM 30 und 143 ff. 87 Dabei ergeben sich aus der rein anthropologischen Verwendung der von Heidegger übernommenen Begriffe etliche Probleme; vgl. dazu Theunissens Interpretation der Habilitationsschrift Löwiths vor dem Hintergrund des dialogischen Denkens (Theunissen 1977, 413 ff.). 88 Entsprechende Diskussionen finden sich in Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927), Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (1927/ 28), Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (1928), Einleitung in die Philosophie (1928/29) und in »Vom Wesen des Grundes« (1929). Folgende Bemerkung Heideggers zeigt an, dass er durchaus einen breiten Überblick über die Diskussion der Thematik hatte, auch wenn er keine Autoren nennt: »Es sind soziologische,

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se Auseinandersetzung mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Löwiths Arbeit motiviert, fordert diese doch eine Reaktion auf die Kritik geradezu heraus. 89 Für die These, dass Heidegger den Anstoß zur Diskussion des ›Ich-Du‹ von Löwith erhalten hat, spricht außerdem der Zusammenhang, in welchem Heidegger seine Kritik zumeist anbringt. Er wehrt sich stets vehement gegen die Annahme, das zwischenmenschliche Verhältnis sei das primäre, die Beziehung zur Welt nur durch dieses vermittelt. Folgende Bemerkung macht Heideggers grundlegende Bedenken gegenüber dem Ich-Du als ›reiner‹ zwischenmenschlicher Begegnung besonders deutlich: »Weil zur Grundverfassung des Daseins das In-der-Welt-sein gehört, ist das existierende Dasein wesenhaft Mitsein mit Anderen als Sein bei innerweltlichem Seienden. Als In-der-Welt-sein ist es nie zunächst nur Sein bei innerweltlich vorhandenen Dingen, um nachträglich unter diesen auch andere Menschen zu entdecken […]. Andererseits aber ist das Dasein auch nicht zunächst nur Mitsein mit Anderen, um erst im Miteinander nachträglich auf innerweltliche Dinge zu stoßen, sondern Mitsein mit Anderen besagt Mitsein mit anderem In-der-Welt-sein, d. h. Mit-in-der-Welt-sein. So verkehrt es ist, den Objektheologische, politische, biologische, ethische Probleme, die der Ich-Du-Beziehung eine besondere Bedeutung geben; doch das philosophische Problem wird dadurch verdeckt.« (GA 26, 241) 89 Eine direkte Einflussnahme durch die Dialogiker oder Buber selbst ist nicht nachzuweisen; vgl. auch Vetter 2001. Wenn Gordon auf der Basis von Heideggers Bemerkungen zum Ich-Du eine »Heidegger-Buber Controversy« konstruiert, begründet er dies mit dem wenig überzeugenden Hinweis, Buber habe schließlich diesen Begriff geprägt; vgl. Gordon 2001, xii. Der Versuch, dies als »historical evidence« einzustufen, verkennt die oftmals verschlungenen Wege der Rezeption bestimmter Begriffe. Als Gruppen oder Diskurse, in denen die Rede von der Beziehung zwischen ›Ich‹ und ›Du‹ eine tragende Rolle spielt, können neben den Dialogikern und deren Vordenkern ›Einfühlungstheoretiker‹ wie Troeltsch und Volkelt genannt werden. In Wesen und Formen der Sympathie führt Scheler die Ich-Du-Begrifflichkeit in seine Analysen zum Fremdpsychischen ein. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Thematisierung eines Ich-Du durch Husserl in den 20er Jahren; vgl. Christine Spahn, Phänomenologische Handlungstheorie. Edmund Husserls Untersuchungen zur Ethik, Würzburg 1996, 154 ff. Zur Abgrenzung von der Terminologie der Dialogiker ist aber zentral, dass mit dem ›Du‹ bei den Einfühlungstheoretikern zumeist schlicht der Andere als das Fremdich gemeint ist und nicht der Andere als nicht-objektivierbares Gegenüber. Weiterhin hat die protestantische Theologie das Ich-Du-Denken der Dialogiker aufgenommen – u. a. Brunner, Heim und Tillich. Auch Bultmann ist vom dialogischen Denken beeinflusst. Auffällig ist außerdem die Verwendung einer Ich-Du-Begrifflichkeit bei Spengler; vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. 2. Band: Welthistorische Perspektiven, München 1923, 135.

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ten ein isoliertes Ich-Subjekt entgegenzusetzen, ohne die Grundverfassung des In-der-Welt-seins am Dasein zu sehen, so verkehrt ist auch die Meinung, das Problem sei prinzipiell gesehen und von der Stelle geschafft, wenn man den Solipsismus des isolierten Ich durch einen Solipsismus zu Zweien im Ich-DuVerhältnis ersetzt. Dieses hat als Verhältnis von Dasein und Dasein seine Möglichkeit nur auf dem Grunde des In-der-Welt-seins.« (GA 24, 394)

Indem Heidegger das Ich-Du also als einen ›Solipsismus zu zweit‹ charakterisiert, attestiert er jeder Konzeption, die vom Zwischenmenschlichen als primärer Beziehung des Ich zu ›Anderem‹ ausgeht, eine grundlegende ›Weltvergessenheit‹ : »Mit dem Ansatz eines Ich-DuVerhältnisses als Verhältnis zweier Subjekte wäre gesagt, daß zunächst zwei Subjekte zu zweien da sind, die sich dann einen Bezug zu anderem verschaffen.« (GA 24, 421) 90 Aber nicht nur wirft Heidegger der Konzeption eines Ich-Du vor, eine von der Welt isolierte ›Paarmonade‹ vorzustellen, sondern auch das Ich und das Du selbst seien hier als »isolierte Seelen« konzipiert, deren Zueinanderkommen nicht erklärt werde. 91 Ein rein ontisches – bei Löwith schließlich dezidiert anthropologisch begriffenes – Verhältnis untersuchend übersieht das Ich-Du-Denken nach Heidegger also nicht nur das grundlegende In-der-Welt-sein, sondern ebenso das Existenzial des Mitseins. Damit bewege sich die Diskussion um das Ich-Du aber im Rahmen der üblichen Probleme einer jeden Theorie des ›Fremdverstehens‹. 92 Inwieweit stets das »Sein bei Gemeinsamen« (GA 27, 147) wesentlich für das Miteinander sein soll, machen die Bezugnahmen Heideggers auf das Ich-Du insgesamt sehr deutlich. Dabei belegen einige – mitunter recht schroffe – Äußerungen eindringlich, wie sehr Heidegger davor zurückscheut, das Verhältnis von Selbst und Selbst als Ausgangspunkt des jeweils konkreten In-der-Welt-seins zu sehen. So beschreibt er das Ich-Du einmal als »klebriges Anbiedern des Ich an das Du, entsprungen aus der gemeinsamen versteckten Hilflosigkeit« (GA 24, 408) und betont an anderer Stelle, dass

90 Vgl. auch die Charakterisierung des Ich-Du als Verdrängung des grundlegenden Inder-Welt-seins in GA 27, 145 f. sowie GA 24, 422 f. 91 Vgl. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Ingtraud Görland, Frankfurt a. M. 1977 (GA 25), 19. 92 Vgl. etwa GA 27, 141.

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»echte und große Freundschaft weder dadurch entsteht noch darin besteht, daß ein Ich und ein Du in ihrer Ich-Du-Beziehung einander rührselig anschauen und sich mit ihren belanglosen Seelennöten unterhalten, sondern daß sie wächst und standhält in einer echten Leidenschaft für eine gemeinsame Sache, was nicht ausschließt, sondern vielleicht fordert, daß jeder je sein verschiedenes Werk hat und verschieden zu Werke geht« (GA 27, 147).

Auffällig ist im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Um- und Mitwelt auch, dass Heidegger im Zuge einer Thematisierung des Fremden meist die fremde Umgebung in den Blick nimmt, selten den fremden Anderen. Nicht die Begegnung mit dem »Wilden« selbst – es sei erinnert an die Kathederepisode – interessiert Heidegger, sondern das Begegnen unbekannter Zeuge und Zeugzusammenhänge. Dies legt erneut nahe: Das existenzielle Verstehen Anderer funktioniert nach Heidegger wesentlich über das Verstehen ihrer ›Welt‹, etwa nach dem Motto: »Sag mir, was du tust, und ich sage dir, wer du bist.« 93 Auch wird die Vermutung gestützt, die spezifische ›Räumlichkeit‹ der Begegnung zwischen Dasein und Dasein – Nähe und Ferne, Vertrautheit und Distanz – konstituiere sich primär über das gemeinsame Einrichten der Welt im Besorgen. 94 2.3.3

Das Man als gesteigerte ›Heimeligkeit‹ des In-Seins

Heidegger führt seine Mitseinsanalyse unter der Fragestellung nach dem ›Wer‹ des In-der-Welt-seins durch. Mit seiner Thematisierung des alltäglichen Selbstseins liefert er in § 27 schließlich die Interpretation eines gesteigerten Zuhause-seins in der Welt, indem er die konkreten Weisen des besorgenden Aufgehens in der Welt charakterisiert. 95 Das Mitdasein der Anderen spielt in dieser Realisierung des Siehe dazu GA 20, 334 f. So ist auffällig, dass Heidegger bei der Bestimmung des ›Ich-hier‹ durch ein ›Dort‹ allein auf die Verortung von Zuhandenem eingeht (siehe SZ 119), nicht auf ein ›Dudort‹. 95 § 27 greift somit auf den komplexen und z. T. undurchsichtigen Zusammenhang zwischen Alltäglichkeit, Uneigentlichkeit und Verfallen zurück. Da dieser in Abschnitt V erneut eine Rolle spielen wird, hier nur einige Hinweise zu dieser Thematik: Heidegger präsentiert die Alltäglichkeit zunächst als Indifferenz; vgl. SZ 43 und 53 sowie GA 21, 230. Dies legt nahe, dass es sich weder um ein rein eigentliches Sein des Daseins noch um ein vollkommen uneigentliches handelt. Vielmehr geht es darum, mit der Hinblicknahme auf das alltägliche Dasein die Konstruktion eines vornehmlich theoretisch auf die Welt zugreifenden Subjekts zu vermeiden. Später wird jedoch behauptet, das Dasein sei 93 94

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In-Seins nach Heidegger nun plötzlich eine zentrale Rolle für die Orientierung des Daseins, weil dieses im alltäglichen Tun durch eine beständige »Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen« (SZ 126) bestimmt sei. Das Miteinandersein habe den »Charakter der Abständigkeit« (SZ 126), was bedeute, dass das Dasein seinen eigenen ›Platz‹ in der Welt durch einen Vergleich mit dem spezifischen Dasein der Anderen definiert. Die Konsequenz: »Das Belieben der Anderen verfügt über die alltäglichen Seinsmöglichkeiten des Daseins.« (SZ 126) Die Anderen haben somit Macht über das je eigene Dasein, sie üben – so Heideggers stärkste Formulierung – eine »Diktatur« (SZ 126) aus, weil letztlich sie es sind, »die das eigene Dasein leben« (GA 20, 337). Indem Heidegger anschließend das ›Wer‹ des alltäglichen In-der-Weltseins als Man bezeichnet, betont er die Unbestimmtheit der herrschenden Anderen: Jeder ist »völlig der Andere« (GA 20, 338), ja man selbst »gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht« (SZ 126). Es ist die anonyme Öffentlichkeit, welche hier zum Vorschein kommt. Die Herrschaft des Man liegt nach Heidegger konkret in einer Vorgabe dessen, was ›man‹ tut und wie ›man‹ es tut. In dieser Beschneidung von Spielräumen zeige sich eine »Einebnung aller Seinsmöglichkeiten« (SZ 127), damit aber auch eine Entlastung des Daseins: »Alles Ursprüngliche wird über Nacht geglättet auf das jedem Zugängliche und keinem mehr Versperrte.« (GA 20, 339) »Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft.« (SZ 127) Die Welt erscheint im Man also als sichere Heimstatt – man kennt sich in ihr aus. Diese Sicherheit geht zwangsläufig – dies macht Heidegger selbst deutlich – mit einem Abtreten von Verantwortlichkeit einher. 96 Zudem in der durchschnittlichen Alltäglichkeit »von seiner Welt benommen«; das Man wird als »alltägliches Selbstsein« präsentiert bzw. das Selbst des alltäglichen Daseins als Manselbst bezeichnet; siehe SZ 113 f. und 129. Dieses stellt Heidegger dann wiederum dem »eigentlichen Selbst« gegenüber (vgl. SZ 129), was nahelegt, das Man mit dem Modus des uneigentlichen Daseins zu identifizieren; schließlich wird dieses von Heidegger auch als ›Selbstverlorenheit‹ eingeführt; vgl. SZ 42 f. und 128 sowie GA 63, 85. Wenn Heidegger dann den Begriff des Verfallens prägt, so scheint er mit ihm zunächst die Uneigentlichkeit näher explizieren zu wollen (siehe SZ 175 f.), doch legen andere, differenzierende Bemerkungen sowie die Aufnahme des Verfallens in die Sorgestruktur den Schluss nahe, dass zwischen beiden Phänomenen doch unterschieden werden muss. Noch komplizierter wird es schließlich, wenn Heidegger behauptet, es gebe sowohl eine unechte als auch eine echte Eigentlichkeit bzw. Uneigentlichkeit; siehe dazu SZ 146 und GA 21, 226 f. 96 Vgl. SZ 127.

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wird in der Vermittlung eines jeden spezifischen Weltbildes, nach dem ›man‹ sein Leben einrichten soll, ein ursprüngliches Fragen niedergehalten: »Die Öffentlichkeit verdunkelt alles« (SZ 127), weil sie »alle Welt- und Daseinsauslegung« (GA 20, 340) von vornherein regle. Das Leben im Man präsentiert sich demnach als ein Haus-halten, welches vor allem auf Versicherung und Bewahrung aus ist und dabei so manche ›Unebenheit‹ glättet. Diese Ausprägung der grundlegenden Ökonomie des Daseins stellt sich tatsächlich als ein geschäftiges Treiben dar – in der »Maske der öffentlichen Ausgelegtheit präsentiert sich das Dasein als höchste Lebendigkeit (des Betriebes nämlich)« (GA 63, 32). Geduldete Fremdheit begegnet höchstens als das aufregend ›Exotische‹ ; der leichte Schauder, den es einjagt, vermag in wohldosierten Einheiten die beruhigende Sicherheit des eigenen Anwesens angenehm zu begleiten. Heidegger betont jedoch explizit: »Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins.« (SZ 129) Schon 1923 hieß es, das Man habe »etwas bestimmtes Positives, es ist nicht nur Verfallsphänomen, sondern als solches ein Wie des faktischen Daseins« (GA 63, 17). Dennoch zeigen Heideggers Analysen deutlich, dass die Möglichkeit eines Rückzugs aus dem Man besteht: Um als »eigens ergriffenes Selbst« (SZ 129) zu existieren, muss sich das Dasein aus der Zerstreuung in das Man zurückholen. Zwar ist auffällig, dass ausgerechnet im Zuge der Analyse des ›unselbständigen‹ Existierens die Anderen eine herausragende Rolle spielen, doch wirft die Charakterisierung des Man auch die Frage auf, ob es nicht im Rahmen der heideggerschen Konzeption ein Begegnen des Anderen geben könnte, das diesem in seiner eigenen Selbständigkeit – die nicht in dem aufgeht, was er besorgt – gerecht wird. So unterscheidet Heidegger schließlich zwei – ›idealtypische‹ – Ausprägungen der Fürsorge: die einspringend-beherrschende Fürsorge, welche dem Anderen das Besorgen abnimmt, ihn so aber zu einem Abhängigen macht, und die vorspringend-befreiende Fürsorge, welche die Existenz des Anderen betrifft und diesem hilft, »in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden« (SZ 122). 2.3.4

Die »metaphysische Egoität« – Heideggers Auseinandersetzung mit dem ›Ich-Du‹ Teil II

Die Umweltanalyse entdeckt sämtliche Störungen und Ausfälle im besorgenden Umgang mit Zuhandenem als ein Sichmelden der Welt126 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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Heidegger: Dasein als In-der-Welt-sein mit Anderen

mäßigkeit von Welt, als Aufscheinen der vorgängigen Vertrautheit mit Welt. Ebenso verweisen Fremdheit 97 und Unbekanntheit des anderen Daseins zurück auf das grundlegende Mitsein als das ›apriorische‹ Immer-schon-mit-Anderen-Sein des jeweiligen Daseins, welches den ›Fremden‹ als prinzipiell Zugänglichen begegnen lässt. 98 Der Andere bei Heidegger ist zwar kein bloßes ›Alter Ego‹, keine »Dublette des Selbst« (SZ 124), kein »Analogon« des Ich wie bei Husserl, 99 aber dies alles ist er nicht deshalb, weil er sich meiner Näherung radikal entzieht, sondern weil er jeweils schon mit mir und für mich da ist – und daher prinzipiell ›bekannt‹. Die ›Peinlichkeit‹ 100 manch zwischenmenschlicher Situation, die sich nicht selten gerade im interkulturellen Begegnen einstellen kann, entpuppt sich somit als modifiziertes Wohlbehagen – sie ist nur möglich aufgrund der Heimeligkeit des Zuhauseseins. Insofern scheint auch die Mitseinsanalyse die These von der Ökonomie des Daseins im ontologischen Sinne zu bekräftigen. Damit erfüllt sich die zu Beginn des Kapitels 2.3 geäußerte Erwartung, in der Begegnung mit Anderen das Potential für eine grundlegende ›Verunsicherung‹ des die Welt als eigensten Wohnraum einrichtenden Daseins zu finden, nicht. Eine, letztlich die wesentliche Eigenart des heideggerschen Mitdaseins wurde allerdings bislang nicht eingehend genug interpretiert: die Tatsache, dass das innerweltlich begegnende andere Dasein selbst weltentwerfend ist. Dies unterscheidet schließlich anderes daseinsmäßig Seiendes vom mir verfügbaren Zu- und Vorhandenen. Die Problematik dieses Ansatzes ist aber offenkundig: Wenn anderes Dasein innerweltlich begegnet, ist es von der Welt her freigegeben wie andersartig Seiendes auch. Inwieweit kann es dann noch als Existierendes begegnen, das selbst geworfener Entwurf ist? 101 Auffällig ist, wie deut97 In Bezug auf das Mitsein spricht Heidegger in Sein und Zeit ein Mal von Fremdheit; vgl. SZ 121. 98 Zugänglichkeit soll hier im Bereich des Mitseins nicht eine totale Verfügbarkeit des Anderen meinen, sondern vielmehr eine grundlegende Erschließbarkeit. 99 Siehe Husserls vorsichtige Formulierung: Das andere Ich ist »Spiegelung meiner selbst, und doch nicht eigentlich Spiegelung; Analogon meiner selbst, und doch wieder nicht Analogon im gewöhnlichen Sinne« (CM 96). 100 An einer Stelle nennt Heidegger das ›Peinliche‹ als Störung; vgl. GA 63, 100. Dieses Beispiel fällt aus dem üblichen Rahmen, weil ein solches Phänomen nicht allein umweltlich, sondern primär mitweltlich erklärbar ist. 101 Rentsch kritisiert, dass Heidegger in der Sorgestruktur in Bezug auf das Sein bei Innerweltlichem nicht zwischen daseinsmäßig und nicht-daseinsmäßig Begegnendem

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lich Heideggers Ansatz, den Anderen als In-der-Welt-sein innerweltlich begegnen zu lassen, an Husserls Schilderung des Gegebenseins fremder ›Iche‹ in den Cartesianischen Meditationen erinnert: »[…] die Anderen erfahre ich, und als wirklich seiende, in wandelbaren, einstimmigen Erfahrungsmannigfaltigkeiten, und zwar einerseits als Weltobjekte; nicht als bloße Naturdinge (obschon nach einer Seite auch als das). […] So mit Leibern eigenartig verflochten, als ›psychophysische‹ Objekte, sind sie ›in‹ der Welt. Andrerseits erfahre ich sie zugleich als Subjekte für diese Welt, als diese Welt erfahrend, und diese selbe Welt, die ich selbst erfahre, und als dabei auch mich erfahrend« (CM 93).

Die Intersubjektivitätsanalyse Husserls – der Aufweis der »transzendentalen Seinssphäre als monadologische Intersubjektivität« (CM 91) – möchte den Einwand widerlegen, der transzendentale Idealismus mit seinem Rückgang auf das absolute transzendentale Ego sei ein Solipsismus und somit zu verwerfen. 102 Bei einem ersten Hinsehen lässt Heideggers Konzeption des Mitseins eine solche Befürchtung zwar überhaupt nicht aufkommen – doch die Problematik des innerweltlichen Begegnens der Anderen wirft sehr wohl die Frage auf, inwieweit der Andere hier nicht zum ›Entwurf‹ des jemeinigen Daseins wird, was schließlich den Verdacht eines spezifischen ›Egoismus‹ in existenzialontologischer Hinsicht schürt.103

unterscheidet; siehe Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 1990, 146. Indem er selbst Welt, Leben und Sprache als Interexistenziale aufweist, versucht er, Heideggers Vernachlässigung der konstitutiven Momente des Mitseins in ontologisch-existenzialem Sinne zu korrigieren; vgl. Rentsch 1990, 10, 145 und 156. 102 Nach Meinung zahlreicher Interpreten gelingt ihm dies nicht; vgl. vor allem Theunissens Interpretation in Der Andere und Waldenfels’ Deutung in ders., Das Zwischenreich des Dialogs, Den Haag 1971. Theunissen bemängelt vor allem, dass bei Husserl der Andere letztlich von mir konstituiert werde; vgl. Theunissen 1977, 153. Während Theunissen vornehmlich die V. Cartesianische Meditation interpretiert, greifen neuere Untersuchungen – was durch die veränderte Publikationslage ermöglicht wird – auf ein sehr viel größeres Textcorpus zurück; siehe Richard Kozlowski, Die Aporien der Intersubjektivität, Würzburg 1991 sowie Julia V. Iribarne, Husserls Theorie der Intersubjektivität, aus dem Span. übers. von Menno-Arend Herlyn unter Mitw. von Hans Rainer Sepp, Freiburg i. Br./München 1994 sowie Spahn 1996. Spahn und Kozlowski setzen sich eingehend mit Theunissens und Waldenfels’ vor dem Hintergrund dialogischer Konzeptionen formulierten Kritik an Husserls Intersubjektivitätstheorie auseinander. 103 Aus der Innerweltlichkeit des Anderen zieht Theunissen folgenden Schluss: Der Andere ist »das Entworfene meines Entwurfs und unterscheidet sich in diesem Punkte

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Heidegger: Dasein als In-der-Welt-sein mit Anderen

Um der eigenen Welt-Habe des Anderen im existenzialen Sinne gerecht zu werden, müsste Heidegger zeigen, dass für das Seinkönnen des Daseins, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, das Mitdasein Anderer konstitutiv ist. Er müsste aufweisen, dass das Dasein sich überhaupt nur um sein ›eigenstes‹ Sein sorgen kann, weil es umwillen Anderer ist. Die Interpretation der Freigabe ließ die Möglichkeit anklingen, ein Moment des Ausgeliefertseins an Welt im ontologischexistenzialen Sinne auszumachen. Wie steht es um ein entsprechendes Angewiesensein auf Andere? In der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik vom SS 1928 geht Heidegger selbst auf den Vorwurf ein, er proklamiere mit der Formulierung des ›Umwillen‹ einen »extremen Egoismus«. 104 In diesem Zusammenhang thematisiert er erneut die Konzeption eines Ich-DuVerhältnisses im Sinne einer zwischenmenschlichen Beziehung und setzt diesem die »metaphysische Egoität« des Daseins entgegen. Zudem formuliert er zwölf »Leitsätze« zur Absicht einer Analytik des Daseins, welche u. a. die Differenzierung zwischen metaphysischer und ontischer »Isolierung« ausarbeiten. Die Grundthese: Der Satz, dem Dasein gehe es in seinem Sein um dieses selbst, zielt auf die »ontologisch-metaphysische Kennzeichnung der Egoität des Daseins überhaupt« (GA 26, 240 f.) und formuliert keinesfalls einen »existenziellen, ethischen Egoismus« (GA 26, 240) oder eine »egoistisch-solipsistische Aufsteigerung der eigenen Individualität« (GA 26, 243). Vielmehr sei allein vor dem Hintergrund dieser »metaphysischen Isolierung« ein ontischer Egoismus, aber eben auch Altruismus, möglich: »Nur weil das Dasein primär durch Egoität bestimmt ist, kann es faktisch für ein anderes Dasein und mit ihm als ein Du existieren. Das Du ist nicht eine ontische Dublette eines faktischen Ich; aber ebensowenig kann ein Du als solches existieren und für ein anderes Ich als Du es selbst sein, wenn es nicht überhaupt Dasein ist, d. h. in der Egoität gründet. Die zur Transzendenz des Daseins gehörige Egoität ist die metaphysische Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Du existieren und eine Ich-Du-Beziehung existent sein kann.« (GA 26, 241)

In der Egoität, die sowohl dem Ich als auch dem Du im Miteinandersein zugrunde liegt, sieht Heidegger also gerade die Versicherung des eigenen Seins des Anderen: »Auch das Du ist am unmittelbarsten Du, nicht vom Zuhandenen« (Theunissen 1977, 168). Insofern sei Heideggers Mitseinsanalyse kaum einen Schritt weitergekommen als Husserls Ansatz. 104 Vgl. GA 26, 239.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

wenn es nicht einfach ein anderes Ich ist, wohl aber ein: Du selbst – bist.« (GA 26, 241) Das Ich ist also nicht durch ›Ichheit‹, das Du durch ›Duheit‹ bestimmt, sondern beide durch ›Selbstheit‹ : »Warum ist aber ein Du nicht einfach ein zweites Ich? Weil das Ichsein im Unterschied vom Dusein gar nicht das Wesen des Daseins trifft, d. h. weil ein Du ein solches nur ist qua es selbst, und ebenso auch das ›Ich‹. […] Denn das ›selbst‹ kann vom Ich und Du in gleicher Weise ausgesagt werden: ›Ich-selbst‹, ›Du-selbst‹, aber nicht ›Du-ich‹.« (GA 26, 242 f.)

Die »reine Selbstheit« bezeichnet Heidegger nun auch als »metaphysische Neutralität des Daseins« (GA 26, 243) – faktisches Ich- und Dusein in konkreten Begegnungen seien in ihr fundiert. Wird so aber der Andere nicht doch zum ›anderen Selbst‹ und somit zu einer Art ›Alter Ego‹ ? Was meint die ›Reinheit‹ und ›Neutralität‹ des Daseins? Der erste der in den Metaphysischen Anfangsgründen ausgearbeiteten Leitsätze thematisiert, warum für das nach dem Sein zu befragende Seiende der neutrale Titel ›das Dasein‹ gewählt wurde: »Die eigentümliche Neutralität des Titels […] ist wesentlich, weil die Interpretation dieses Seienden vor aller faktischen Konkretion durchzuführen ist.« (GA 26, 171 f.) Das bedeute auch: Das Dasein ist keines von beiden Geschlechtern. Allein als faktisches ist das Dasein nach Heideggers Bestimmung »je unter anderem in einen Leib zersplittert und ineins damit unter anderem je in eine bestimmte Geschlechtlichkeit zwiespältig« (GA 26, 173). 105 Heidegger möchte mit der Neutralität aber keine »Indifferenz des leeren Nichtigen« behaupten, sondern vielmehr eine »ursprüngliche Positivität und Mächtigkeit des Wesens« (GA 26, 172) aufzeigen. In sich trage die Neutralität bereits die »innere Möglichkeit eines jeden konkreten faktischen Menschentums« (GA 26, 172). Heidegger gebraucht hier Begriffe wie »Ursprung« und »Urquell«, um den in der Neutralität bereits keimenden Möglichkeitsreichtum der Faktizität und des jeweiligen Existierens anzudeuten. Zentral ist dabei die Abweisung des Gedankens, das neutrale Dasein stelle eine Art »großes Urwesen« (GA 26, 173) dar, welches sich in viele einzelne Wesen zerspalte. Vielmehr behauptet Heidegger, dass zum Dasein »seinem metaphysischen neutralen Begriff nach schon eine ursprüngliche Streuung« 105 Diese Erwähnung der ›Leiblichkeit‹ und ›Geschlechtlichkeit‹ nimmt sich wie eine Antwort auf den Vorwurf der Verdrängung dieser Bereiche aus dem Daseinsbegriff aus und stellt vermutlich auch eine Reaktion auf Kritik dar.

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Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

(GA 26, 173) gehöre. Diese Streuung bezeichnet er anschließend als »transzendentale Zerstreuung« des Daseins, als »bindende Possibilität seiner je faktischen existenziellen Zersplitterung und Zerspaltung« (GA 26, 174). Dieser Versuch, bereits in der Neutralität des Daseins als metaphysischer Egoität das Moment der Geworfenheit als Differenzierung hervorzuheben, weist zumindest in die Richtung eines unhintergehbaren Verwiesenseins auf Andere als Andere in existenzial-ontologischer Hinsicht. 106

3.

Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

3.1 Die grundlegende Bipolarität von Ich und Welt Der Exkurs zu Heideggers und Ebners Auslegung des ›ich bin‹ stellte bereits den – Heideggers Konzeption des In-der-Welt-seins im Kern verwandten – Grundgedanken der Dialogphilosophie vor, um welchen auch Bubers Werk ab Ich und Du kreist: Die Vorstellung eines zunächst isolierten, für sich seienden Ich ist eine Abstraktion bzw. Konstruktion. Den »idealistischen Begriff des selbstherrlichen, […] welterschaffenden Ich« (DP 263) gilt es abzulösen durch die Hinblicknahme auf das ›wirkliche‹ Ich in seinem stets schon gestifteten Bezug zum Du bzw. zur ›Welt‹. Wie deutlich wurde, sieht Ebner die vom dialogischen Standpunkt aus abzulehnenden philosophischen Konzeptionen vor allem durch Descartes und Fichte bzw. die deutschen Idealisten beispielhaft vertreten. Um die Gegenmodelle des buberschen Ansatzes möglichst prägnant zu bestimmen, sind neben den Hauptschriften zum dialogischen Prinzip zwei kurze Texte aus den 20er Jahren hilfreich: »Von der Verseelung der Welt« (1923) sowie »Philosophische und religiöse Weltanschauung« (1928). Der erste Text ist der Entwurf zu einem frei gehaltenen Vortrag im Psychologischen Klub Zürich, der zweite wurde als Rede auf einer Tagung des Hohenrodter Bundes gehalten. In dieser Rede charakterisiert Buber die Philosophie als Übertragung »des Subjekt-Objekt-Verhaltens auf den Totalitätszusammenhang des Seins« (NL 129). Subjekt und Objekt bezeichnet er zudem als »notwendige 106 So sieht Vetter hier die Möglichkeit, eine ursprüngliche Differenz zwischen Eigenem und Anderem auf transzendentaler Ebene zu konstatieren; vgl. Vetter 2001, 170.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

Kunstprodukte des Denkaktes« (NL 128). ›Kunstprodukte‹ deshalb, weil »das lebendige Zueinander« diese »Scheidung« nicht kenne: »Der Mensch, der im Subjekt-Objekt-Verhältnis erkennt, also vor allem der philosophische Mensch, beginnt damit von seiner konkreten Situation abzusehen.« (NL 129) Die »Ganzheit der konkreten Person« (NL 129) werde zerrissen. Der Ansatz, das Weltverhältnis des Menschen als Hinwendung eines erkennenden Subjekts zum zu erkennenden Objekt oder der Gesamtheit zu erkennender Objekte zu fassen, verfehlt laut Buber also die ›Wirklichkeit‹ menschlichen Seins zur Welt. Wie diese ›Wirklichkeit‹ sich gestaltet, beschreibt Buber in seinem Vortragsentwurf von 1923 prägnant: »Die Wirklichkeit, in der sich der unverbildete Mensch vorfindet, ist die Wirklichkeit eines unmittelbaren Zusammenhangs von Ich und Welt, ein Zusammenhang, der aber kein Verschmolzensein, kein Vermischtsein bedeutet, sondern einen Zusammenhang der Relation. Er beruht darauf, daß Ich und Welt deutlich voneinander getrennte Wesenheiten sind.« (NL 147)

In der konkreten Situation ist das Ich nach Buber also nicht auf die Welt zugreifendes ›Subjekt‹, die Welt nicht bloß vorhandener ›Objektzusammenhang‹, beide stehen einander dennoch gegenüber, und zwar so, dass der eine Pol nicht auf den anderen reduzierbar ist. Dementsprechend kritisiert Buber in seinem Vortrag zwei wesentliche Grundkonzeptionen, welche eine Binnenhierarchie im Ich-Welt-Verhältnis ausmachen und so die ›Wirklichkeit‹ verfehlen – obwohl sie mitunter den Akzent auf die Konkretheit der jeweiligen Situation legen: die »Verseelung der Welt« – von Buber auch als »Psychologismus« 107 bezeichnet – und die Bestimmung des Ich als ›Produkt‹ der Welt, von Buber »Kosmologismus« genannt. 108 Das ›Hineinschlingen‹ der Welt ins Ich in seinen unterschiedlichen Ausprägungen wird von Buber detailliert beschrieben, indem er 107 Der Terminus bezieht sich also nicht allein auf die von Husserl kritisierte Fundierung der Logik in der Psychologie. ›Psychologismus‹ ist nach Buber schlicht jede Theorie, welche die Welt als ›Vorstellung‹ eines Ich betrachtet; vgl. NL 148. Siehe auch die Beschreibung Rosenzweigs für den Prozess der ›Veranderung‹ als Reduktion der einen Seite des Gegenübers von Mensch und Welt auf die jeweils andere; vgl. Rosenzweig 1937, 377 ff. Besonders hebt er den »Lieblingsgedanken der Neuzeit« hervor: die Zurückführung der Welt auf das Ich. 108 Vgl. auch Bubers metaphorische Darstellung der Alternativen ›Idealismus‹ und ›Realismus‹ in Ich und Du (konkret: DP 73 ff.) als unzureichender, weil ›einseitiger‹ Charakterisierungen des menschlichen Weltverhältnisses.

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Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

verschiedene Spielarten des »Psychologismus« skizziert. Er unterscheidet einen »philosophischen« und einen »naiven« Psychologismus, nennt dessen Anwendung auf das Ich selbst und dessen Ausgestaltung als wissenschaftliche Methode. Bemerkenswert ist, dass in dieser näheren Charakterisierung der ›Verseelung der Welt‹ vornehmlich zeitgenössische Strömungen und Tendenzen innerhalb der Einzelwissenschaften, der Philosophie oder der Künste erwähnt werden, u. a. die Psychoanalyse sowie der Expressionismus und die Fokussierung auf das ästhetische und religiöse Erleben des Ich. 109 Betrachtet man Bubers bereits recht umfassendes Werk vor der Entdeckung des ›Dialogischen‹, 110 dann wird in der Beschreibung der ›Wirklichkeit‹ sowie vor allem in der Charakterisierung des ›Psychologismus‹ eine deutliche Distanzierung Bubers gegenüber seinem eigenen früheren Denken ersichtlich. Dieses war vor allem durch die Lebensphilosophie – Nietzsche, Dilthey, Simmel – einerseits und durch die Beschäftigung mit der Mystik andererseits geprägt. So weist Buber selbst rückblickend darauf hin, dass sein Denken vor Ich und Du – etwa in Daniel (1913) – noch von einer Fokussierung auf das erlebende Subjekt getragen gewesen sei. 111

109 Siehe zur Reduzierung der religiösen Sphäre auf ein ›Erlebnis‹ des Subjekts die detaillierten Ausführungen in Martin Buber, Religion als Gegenwart, in: Horwitz 1978, 41–152, hier: 76 f. Diese Vortragsreihe wird im Folgenden zitiert als RG. 110 Vgl. zur zeitlichen Datierung dieser ›Entdeckung‹ DP 299 ff. Zur systematischen Einordnung des vordialogischen Werks Bubers siehe die Ausführungen von Bernhard Casper (Casper 1967) sowie Martin Tremls Einleitung zu Band 1 der Martin Buber Werkausgabe (MBW I, 13–91). 111 Vgl. DP 309 und zur späteren Abgrenzung Bubers vom Erlebnisbegriff RG 76 f. und 85. In Daniel ging Buber noch von einem ›verwirklichenden‹ Erleben als einem ›Schaffen‹ von Wirklichkeit aus, vgl. MBW I, 192 ff. und 198. Eine zweite wesentliche Distanzierung gegenüber seinem früheren Denken drückt sich in der Betonung des deutlichen Getrenntseins von Ich und Welt aus. Neben ›Erlebnis‹ war ›Einheit‹ ein Schlagwort des vordialogischen Werks; siehe zu Bubers früherer ›Erlebnismystik‹ Paul R. MendesFlohr, Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zu ›Ich und Du‹, Königstein/Ts. 1979 sowie die Ausführungen zur Mystik als »Höhepunkt des Subjektivismus […] in der Religion« bei Hans Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Mitteleuropas 1880–1930, 2., um ein Vorund Nachwort erw. Aufl., Köln 1961, 214 f. Auch zur Bedeutung Diltheys und Simmels – bei denen Buber um 1900 studierte und die er beide als seine wichtigsten Lehrer bezeichnet – liefert der Beitrag von Mendes-Flohr detaillierte Analysen. Zu Bubers eigenen Äußerungen zur Bedeutung Simmels und Diltheys für sein Denken siehe W I, 317 und MBW I, 32 f. sowie Kohn 1961, 21 und 23.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

Die nun folgende eingehendere Interpretation der ›bipolaren Weltstruktur‹ in Bubers dialogischer Konzeption beginnt nicht unmittelbar mit dem ersten Absatz von Ich und Du, sondern mit der Analyse eines Abschnitts aus dem vierten Vortrag der Vortragsreihe Religion als Gegenwart vom 12. Februar 1922. 112 Der Vorteil des Textstücks aus dem Vortrag gegenüber der Eingangspassage von Ich und Du besteht darin, dass Buber nicht unmittelbar mit der Behauptung einer zwiefältigen Welt einsetzt, sondern seine Zuhörer schrittweise an ein Gegenmodell zur ›Erfahrungswelt‹ heranführt bzw. sie in einem Gespräch – in geradezu ›phänomenologischer‹ 113 Herangehensweise – auf den Gedanken einer solchen Alternative zu bringen sucht. Um einen möglichst umfassenden Eindruck von der Fragestellung und den Grundbegriffen Bubers zu gewinnen, sei der entsprechende Absatz, welcher die Eswelt charakterisiert und somit die Kontrastfolie für die Beschreibung des Du darstellt, in voller Länge zitiert: »Es ist mir einmal in einem Buch ein Satz aufgestoßen, der lautet etwa: ›Und da unser bewußtes Leben aus Erfahrungen besteht …‹, und so ging es weiter. Und dieser Satz kam mir etwas sonderbar vor. Was bedeutet das eigentlich, daß unser bewußtes Leben aus Erfahrungen besteht? Entweder ist das Tautologie und bedeutet nichts anderes, als daß unser bewußtes Leben aus bewußten Vorgängen besteht, dann sagt der Satz gar nichts, oder aber er sagt mehr als das, denn dann bedeutet er, unser bewußtes Leben bestehe aus Vorgängen, in denen wir etwas erfahren. Erfahrungen wären also Vorgänge, in denen etwas, ein Etwas, ein Gegenstand erfahren wird. ›Erfahrungen‹ ist ja ein sehr später Plural, ursprünglich gibt es das Wort nur im Singular: ›Erfahrung‹, und das ist nämlich das, was man sich erwirbt, wenn man fährt, wenn man die Welt oder ich möchte fast sagen die Dinge befährt. Man erfährt die Dinge und holt sich aus ihnen, indem man sie erfährt, Erfahrung heraus, man bekommt ein Wissen von den Dingen sozusagen aus den Dingen heraus und dieses Wissen hat eben die Dinge zum Gegenstand. Man erfährt, was die Dinge sind, was an den Dingen ist. Immer also handelt es sich um ein Etwas, das erfahren wird. Man bekommt die Beschaffenheit der Dinge zu wissen, also ein Wißbares und Aussagbares zu fassen. 112 Diese Bildungsveranstaltung für Erwachsene, die Buber im Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt a. M. Anfang 1922 mit acht Beiträgen gestaltete, begleitete die Niederschrift von Ich und Du unmittelbar. So lassen sich einige Passagen des Vortrags nahezu wörtlich im Text wiederfinden. Andererseits fallen auch etliche bemerkenswerte Abweichungen zwischen Vortrag und Niederschrift auf. Zur historischen Analyse der Vorgeschichte von Ich und Du und zum Vergleich dieser Schrift mit den Vortragstexten siehe Horwitz 1978. 113 Buber formuliert die Prämisse, nicht mit ›fertigen‹ Formulierungen und Begriffen an die aufzuzeigenden ›Sachverhalte‹ heranzugehen; vgl. etwa RG 82 f.

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Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

Wenn jener Satz also etwas besagen soll, jener Satz, daß unser bewußtes Leben aus Erfahrungen besteht, so dürfte er wohl dies besagen: Unser bewußtes Leben bestehe aus solchen Vorgängen, worin wir etwas Wißbares, Aussagbares von der Beschaffenheit der Dinge, das heißt, der äußeren und inneren Dinge erfahren.« (RG 83 f.) 114

Buber präsentiert hier einen Begriff von Erfahrung, dessen formales Gerüst das Etwas-Haben ausmacht. Jede Erfahrung hat ihren Gegenstand, den sie im Erfahren zu fassen bekommt. Buber macht aber sogleich deutlich, dass es sich bei dem ›Etwas‹ nicht zwangsläufig um ein ›Ding der Außenwelt‹ handeln muss. Auch Gedanken oder Gefühle – die ganzen inneren Erfahrungen – sind ›etwas‹, sofern sie gehabt, reflektiert, artikuliert werden. In Ich und Du wird die Weite des Gegenstandsbereiches dieser »Es-Erfahrungen« (RG 85) umfassend illustriert: »Ich nehme etwas wahr. Ich empfinde etwas. Ich stelle etwas vor. Ich will etwas. Ich fühle etwas. Ich denke etwas.« (DP 8) Bubers Hinführung zu einer anderen Art des Weltbezugs stößt sich nun an diesem Erfahrungsbegriff ab und fragt nach einem Vorgang des Gegenübertretens von ›Dingen‹ bzw. ›Welt‹, bei dem der Mensch kein ›Etwas‹ zu greifen bekommt. Als ein solches Begebnis bestimmt Buber das Gegenübertreten eines Du: Die Beziehung zwischen Ich und Du »ist etwas, was von den Es-Erfahrungen völlig abgehoben ist. Oder mit einem anderen, einem richtigeren Wort bezeichnet, es sind überhaupt keine Erfahrungen, es ist überhaupt nicht etwas, was wir subjektiv bezeichnen können – Erfahrung klingt immer noch subjektiv – sondern etwas, was wir nur objektiv bezeichnen können als einen Vorgang, an dem wir teilnehmen, mit einem Wort, es sind Beziehungen. Unser bewußtes Leben, um den Satz wieder aufzunehmen, besteht nicht bloß aus Erfahrungen, sondern auch aus Beziehungen.« (RG 88)

Indem Buber der Erfahrung die Beziehung gegenüberstellt, verweist er also auf Ereignisse des menschlichen Lebens, wo kein Objektbezug aufgezeigt werden kann, sondern das Eingebundensein in ein vom Ich nicht kontrolliertes Geschehen. Das ›bewusste Leben‹ zerfällt für Buber also in zwei ›Sphären‹, in das Haben eines Es und die Begegnung mit einem Du. Also ist die Welt, so lautet der erste Satz von Ich und Du schließlich, dem Menschen »zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung« (DP 7). 114

Vgl. auch die stark verkürzte Parallelstelle in Ich und Du (DP 9).

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

In beiden Weisen des Zugangs zur Welt steht dem Es oder dem Du somit ein ›Ich‹ gegenüber, das selbst ›zwiefältig‹ sein muss, weil es zwei entgegengesetzte ›Haltungen‹ einnehmen kann. Wie Ebner hält Buber an dem Begriff eines ›Ich‹ fest, destruiert durch dessen Einbindung in das Verhältnis zu einem Gegenüber jedoch die Vorstellung eines »Ich an sich« (DP 8). Die beiden Relationen Ich-Du und Ich-Es, welche in Ich und Du bekanntlich als die zwei »Grundworte« präsentiert werden, sind eben Wortpaare, was bedeutet, dass es kein isoliertes, ›weltloses‹ Ich gibt, sondern nur das Ich, welches zu einem Du in Beziehung steht, bzw. das Ich, welches ein Es erfährt: »Wenn der Mensch Ich spricht, meint er eins von beiden. […] Auch wenn er Du oder Es spricht, ist das Ich des einen oder das des andern Grundworts da.« (DP 8) Während Heidegger Dasein – als In-der-Welt-sein – als komplexen, in sich strukturierten Existenzvollzug denkt, der die Momente eigentlichen und uneigentlichen Seins einschließt, bemüht sich Buber um eine relationale Aneinanderbindung von Ich und Welt. Er geht offenkundig nicht von einer vielschichtigen Fundierungsstruktur zwischen unterschiedlichen Weisen des Weltzugangs – zwischen praktischem und theoretischem etwa – aus, 115 sondern von dessen fundamentaler Bipolarität. Wie aber gestalten sich Erfahrungs- und Beziehungswelt konkret, wie ist das ›erfahrende‹ bzw. ›begegnende‹ Ich bei Buber näher charakterisiert und inwiefern lassen sich die beiden ›Sphären‹ mit bestimmten Ausprägungen von Heideggers In-der-Welt-sein in Beziehung setzen?

Allerdings präsentiert Buber in Religion als Gegenwart und in Ich und Du eine Genese der beiden Grundworte, indem er am Leben der sog. ›Primitiven‹ sowie demjenigen des Kleinkindes aufzeigt, wie einem beziehungsgeprägten Leben schließlich eine Distanzierung zur Welt folgt, welche ein tatsächliches Gegenübertreten von Gegenstand und Ich überhaupt erst möglich macht; vgl. RG 92 ff. und 105 ff. sowie DP 22 ff. Indem Buber hier in Anspielung auf den Prolog des Johannesevangeliums behauptet: »Im Anfang ist die Beziehung« (DP 22), legt er durchaus den Gedanken nahe, es existiere ein Fundierungsverhältnis zwischen Ich-Es und Ich-Du. Allerdings betont Buber, dass auch die echte Beziehung zwischen einem Ich und einem Du erst nach dem Gegenübertreten von Ich und Welt möglich sei, also nach einer spezifischen Distanznahme des Ich zur Welt. Siehe auch den späteren Text »Urdistanz und Beziehung« (in: W I, 411–423), wo Buber das an die beiden Grundworte angelehnte, sie aber durchaus modifizierende »doppelte Prinzip« des Menschseins – eben Urdistanz und Beziehung – erläutert. Auch hier hebt Buber hervor, dass das In-Beziehung-Treten nur aufgrund der ursprünglichen Abstandnahme zur ›Welt‹ möglich sei.

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Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

3.2 Die Ich-Es-Relation 3.2.1

Die Erfahrungswelt als Ordnung der Dinge

Die eingehendere Interpretation der ›Erfahrungswelt‹ lässt die Frage aufkommen, wie ›Welt‹ bzw. ›Weltlichkeit‹ bei Buber überhaupt begriffen wird. Was Welt ist – was die ›Welthaftigkeit‹ von Welt ausmacht –, thematisiert Buber in Ich und Du sowie den begleitenden dialogischen Schriften jedoch nicht explizit. Jeder Versuch, dem ›Weltbegriff‹ Bubers nachzugehen, sieht sich zudem vor folgendes Problem gestellt: Ist etwas wie Welt jeweils nur als Erfahrungswelt bzw. Beziehungswelt – sind es also letztlich zwei Welten – oder gibt es nur die eine Welt, welche beiden Grundworten, gleichsam als ein neutrales Substrat, zugrunde liegt? Während die erste Interpretation den Vorzug hat, die Frage nach der Fassbarkeit einer den Grundworten vorausliegenden, konsequenterweise selbst weder es- noch duhaften Welt zu umgehen, weist die zweite zu Recht darauf hin, dass die Zwiefältigkeit 116 – wenn man sie als radikale Scheidung denkt – ein beständiges Hin und Her zwischen einander ausschließenden ›Sphären‹ bedeuten müsste, die dann schwerlich als verschiedene Realisationen von Welt bezeichnet werden können. Ebenso wirft die Behauptung einer Zwiefältigkeit des Ich die Frage auf, inwieweit hier noch von einer ›Ich-Identität‹ gesprochen werden kann. Liegt beiden Haltungen ein durchgängiges Selbstbewusstsein zugrunde oder ›sind‹ wir jeweils nur als konkrete Realisation eines Ich des Ich-Es oder Ich des Ich-Du? 117 Ohne bereits an dieser Stelle eine Entscheidung für die eine oder die andere der genannten Alternativen zur Interpretation der Zwiefältigkeit von Welt und Ich treffen zu können, soll zunächst analysiert werden, wie Buber die ›Erfahrungswelt‹ charakterisiert und welche Vorstellungen von Welt und Ich dieser spezifischen Beschreibung zugrunde liegen.

116 Buber spricht auch von zwei »Aspekten« von Welt oder zwei »Weltschichtungen«; vgl. RG 95. 117 Dass Buber die Frage nach der ›Ichhaftigkeit‹ des Ich und der ›Welthaftigkeit‹ der Welt nicht explizit stellt, könnte auch als programmatischer Verzicht verstanden werden: »[…] ich rede von nichts anderem als von dem wirklichen Menschen, dir und mir, von unserem Leben und unserer Welt, nicht von einem Ich an sich und nicht von einem Sein an sich.« (DP 17) Dennoch muss er schließlich immer wieder von dem Ich-Es und dem Ich-Du reden und beiden Sphären allgemeine Merkmale zuschreiben.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

Die Welt der Erfahrung präsentiert Buber in Ich und Du durchgängig als – vom Standpunkt des erfahrenden Subjekts aus – geordnetes Zusammensein von Gegenständen: Dem Ich der Erfahrung begegnen »Dinge schlechthin und Wesen als Dinge, […] Vorgänge schlechthin und Handlungen als Vorgänge, Dinge aus Eigenschaften, Vorgänge aus Momenten bestehend, […] Dinge und Vorgänge von andern Dingen und Vorgängen eingegrenzt, an ihnen meßbar, mit ihnen vergleichbar, geordnete Welt« (DP 35).

Dinge erfahren oder erkennen, das heißt nach Buber demnach, sie als einen »Komplex von Qualitäten« (RG 88), als »figurhaftes Quantum« (DP 21), als eine »Summe« oder »lockeres Bündel« (DP 12) bestimmter Eigenschaften zu erfassen, die wiederum mit anderen ›Bündeln‹ von Eigenschaften in einer Beziehung stehen oder in eine Beziehung gebracht werden können. Die ›Ganzheit‹ eines Gegenstandes erscheint so im trivialsten Fall als bloße Addition bestimmter Merkmale, in komplexeren Fällen als spezifische Organisation bestimmter Einzelteile, die auch jeweils für sich betrachtet werden könnten. Indem die aus Es und Es sich zusammensetzende Gegenstandswelt wohlgeordnet ist, bietet sie Sicherheit und Beständigkeit: »[…] ihre Gliederung läßt sich überschauen, man kann sie immer wieder hervorholen, man repetiert sie mit geschlossenen Augen und prüft mit geöffneten nach« (DP 35). Als Ordnungsparameter präsentiert Buber Raum, Zeit und Kausalität. 118 Durch diese konstanten Strukturen habe die Eswelt »Dichte und Dauer« (DP 35). Durch sie wird die Eswelt laut Buber zur »festen und zuträglichen Chronik« (DP 37), denn ›Es‹ bzw. ›Er‹ oder ›Sie‹ könnten jederzeit als im »Weltnetz aus Raum und Zeit eingetragener Punkt« (DP 12) lokalisiert sowie als Folge oder Ursprung, Wirkendes oder Bewirktes, Affizierendes oder Affiziertes bestimmt werden. Alles in der Erfahrungswelt »hat seinen Platz, seinen Ablauf, seine Meßbarkeit, seine Bedingtheit« (DP 34). Und nur aufgrund dieser beständigen Ordnung kann das Es nach Buber überhaupt ›Objekt allgemeiner Erfahrung‹ werden, also ›für alle‹ als Teil-, vor allem Mitteilbares da sein. Buber weist dem Ich-Es auch eine spezifische Zeitlichkeit zu, welche die Beständigkeit der dem Ich gegebenen Gegenstandswelt noch

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Siehe DP 37 und 53.

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Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

einmal akzentuiert: 119 »[…] insofern der Mensch sich an den Dingen genügen läßt, die er erfährt und gebraucht, lebt er in der Vergangenheit, und sein Augenblick ist ohne Präsenz.« (DP 16) Der Mensch hat es in der Eswelt nicht mit einem ihm gegenüber ›Leibenden‹ oder ›Wesenden‹ zu tun, sondern mit Gegenständen, und »Gegenstände […] bestehen im Gewesensein« (DP 16). Den Gegenstand als eben diesen wahrzunehmen bedeutet schließlich, ihn bereits kategorisiert zu haben; deshalb kommt dem Es bei Buber keine lebendige Dauer zu, sondern Starrheit, Bewegungslosigkeit – ständige Vergangenheit. Die ›Welt‹ ist als Eswelt demnach begriffen als das Gesamt der in das »Koordinatensystem« (DP 34) aus Raum und Zeit eingetragenen ›Dinge‹. Um mich in dieser Welt zurechtzufinden – dies macht Bubers Beschreibung deutlich –, muss ich jedoch nicht alle Dinge und Dingzusammenhänge selbst erfahren haben. Das ›Gesamt‹ lässt sich also schwerlich im Sinne einer bloßen Addition oder nachträglichen Zusammenfügung begreifen. In »Urdistanz und Beziehung« liefert Buber eine Umschreibung von ›Welt‹, welche die Charakterisierung der Eswelt in dieser Hinsicht präzisieren kann. Er vergleicht die Welt mit einem Haus, mit dessen Bau man in seiner Ganzheit vertraut ist, obwohl man nicht alle Zimmer tatsächlich betreten hat: »[…] der Mensch ist in der Welt […] wie ein Wohngast in einem ungeheuren Bau, der unablässig durch Zubauten erweitert wird, und zu dessen Grenze er nie vorzudringen vermag, den er aber doch weiß, wie man eben ein Haus weiß, in dem man wohnt: weil er die Ganzheit des Baus als solche innezuhaben befähigt ist.« (W I, 413)

Das ›Welthafte‹ der Eswelt lässt sich somit verstehen als die vorgegebene Ordnung der Dinge, als das vorweggenommene Koordinatensystem, welches die Gegenstände als hier oder dort platzierte begegnen lässt und deshalb eine dauerhafte Orientierung ermöglicht. 3.2.2

Das erfahrende Ich als ›klassisches‹ neuzeitliches Subjekt?

Das erfahrende Ich bildet nach Buber den Mittelpunkt der geordneten Dingwelt – es versammelt eine »Vielheit von ›Inhalten‹« (DP 16) um sich herum. Im Reich des Es positioniert sich der Mensch als das be119 Die Zeitthematik spielt bei Buber zwar keine annähernd so zentrale Rolle wie in Sein und Zeit, ist aber dennoch untrennbar mit Bubers Konzeption des Grundwortsprechens verbunden, weil sie eine wesentliche Charakterisierung des Es sowie des Du leistet.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

trachtende Subjekt gegenüber den Dingen mit der »objektivierenden Lupe seines Nahblicks über die einzelnen gebeugt oder mit dem objektivierenden Feldstecher seines Fernblicks sie zur Szenerie zusammenordnend« (DP 33). Somit ist es das Hinstarren der ›Lupe‹ oder des ›Feldstechers‹, welches das jeweils konkrete Erscheinen des Dinges bestimmt. In der Erfahrungswelt legen der Standpunkt des Ich und seine spezifische Zugangsweise den jeweiligen Gegenstand auf sein Sosein fest. Das Ich gibt ›Welt‹ im Sinne eines Ordnungssystems vor und kann daher die je spezifische Umwelt mit weitem Blick überschauen oder sie bis ins Kleinste sezieren. Das die Welt als Komplex von ›Dingen‹ begreifende Ich charakterisiert Buber im zweiten Teil von Ich und Du näher als »Eigenwesen«, welches sich selbst »als Subjekt (des Erfahrens und Gebrauchens)« (DP 65) erfasse. Die Abgrenzung von der Sphäre der erfahrenen und benutzten Gegenstände, unter die letztlich auch die anderen ›Iche‹ als ›Er‹ oder ›Sie‹ fallen, führt nach Bubers Beschreibung zu einer ausgeprägten Selbstwahrnehmung des Ich, die ein verlässliches Wissen um das ›Eigene‹ bietet soll: In der Selbstbetrachtung werde das Ich der Eswelt sich »als eines So-und-nicht-anders-seienden« (DP 66) bewusst und ergötze sich regelrecht an seiner Individualität. 120 Es »befaßt sich mit seinem Mein: meine Art, meine Rasse, mein Schaffen, mein Genius« (DP 67). So scheint sich die Charakterisierung des ›Eigenwesens‹ einmal auf die weltstrukturierende Subjektivität überhaupt zu beziehen, dann aber überträgt Buber das Merkmal der ›Selbstherrlichkeit‹ auch auf das empirische Ich, das seine Eigenarten feiert. 121 120 Vgl. zu Bubers Beurteilung eines radikalen Individualismus die aufschlussreiche Auseinandersetzung mit Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum (konkret: DP 200 ff.). 121 Buber selbst trennt diese beiden Ebenen jedoch nicht sauber voneinander. In »Von der Verseelung der Welt« findet diese Unterscheidung in der Differenz zwischen philosophischem und naivem Psychologismus Niederschlag. Während der philosophische Psychologismus die Welt als vorgestellte deute und sie bzw. ihren Grund somit in ›das Ich‹ verlege, feiere der naive Psychologismus die Individualität des Einzelnen oder die eines Volkes; vgl. NL 153. Bubers Charakterisierung der »aktiven Form« des Psychologismus ermöglicht zudem, auch die Welt der inneren Erfahrung in die Kritik einzubeziehen, weil sie die Tätigkeit penibelster Selbstbeobachtung meint. Dies ist eine direkte Anspielung auf die ›Seelensezierungen‹ der Psychoanalyse, welche Buber an zahlreichen Stellen seines Werks kritisiert; vgl. etwa DP 131 f. sowie Martin Buber, »Elemente des Zwischenmenschlichen«, in: DP, 269–298, hier: 285 und W I, 316, H 318 sowie Martin Buber, »Heilung aus der Begegnung«, in: NL, 139–145, hier: 142 ff.

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Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

Doch als bloßer Fixpunkt im Geflecht der Bezüge bleibt das Eigenwesen – als das von der Objektwelt abgehobene Subjekt – nach Buber rein »funktionell, das Erfahrende, das Gebrauchende, nichts weiter« (DP 67). Das Ich begreift sich selbst als die Zentralperspektive und schnürt sich von einem lebendigen Gegenüber von Mensch und Mensch sowie Mensch und Umwelt ab. Als selbstherrliches Individuum hingegen neigt das Eigenwesen dazu, nicht nur die Anderen und die gegebenen Gegenstände zu ›analysieren‹, sondern ebenso sich selbst. Es reduziert auch sich auf eine ›Summe von Eigenschaften‹. Bubers Diagnose: »All sein ausgedehntes und vielfältiges Sosein, all seine eifrige ›Individualität‹ kann ihm zu keiner Substanz verhelfen.« (DP 67) So bleibt das sich zu eigen habende Ich nach Bubers Deutung ›unwirklich‹ oder ›leer‹, weil es in der vermeintlichen Vorrangstellung gegenüber der Welt doch nur auf sich selbst bezogen ist. Die Hierarchieverhältnisse im Ich-Es erzeugen demnach – von der Perspektive der Möglichkeit der Du-Begegnung aus – ein komplexes Zusammenspiel von Ferne und Nähe: Weil es zu keiner Begegnung zwischen Ich und Welt kommt, ist die erfahrene Welt dem Ich »urfremd« (DP 35). Andererseits aber liegen die geordneten Dinge dem Eigenwesen als immer schon bereitstehendes ›Material‹ zum Erforschen und Gebrauchen gleichsam zu Füßen – die Welt präsentiert einen immer verfügbaren Bestand, auf den das Ich sein »analytisches, reduktives und ableitendes Blicken« (DP 285) richten kann. Der ›Gegenstand‹ ist für das Ich der Eswelt etwas, das »funktionsbereit fortbesteht […], daß er je und je sich wieder seiner bemächtige« (W I, 417). Trotz der ›Abhängigkeit‹ des Gegenstandes vom Welt als Welt strukturierenden Subjekt – oder vielmehr aufgrund dieser Asymmetrie – klafft nach Bubers Beschreibung im Reich des Es jedoch eine unüberbrückbare Kluft zwischen Ich und Welt. Das Grundwort Ich-Es ist das »Wort der Trennung« (DP 27). Insgesamt weist Bubers Konzeption der Ich-Es-Relation deutliche Anleihen bei der philosophischen Tradition auf: Beschrieben wird das klassische Subjekt-Objekt-Schema insofern, als sich im Ich-Es ein erkennendes Ich auf den zu erkennenden Gegenstand richtet. 122 Dabei wird die eigentliche ›Tätigkeit‹ der Subjektseite zugerechnet, die Erfahrung ist ›im‹ Ich – so begreift es jedenfalls das Eigenwesen bzw. so ist Erkenntnis konzipiert in einem Entwurf, der den ›Grund‹ des Erken122

Buber selbst identifiziert das Ich-Es mit der Subjekt-Objekt-Spaltung; vgl. DP 27.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

nenkönnens im sich selbst wissenden Ich aufweist. Dementsprechend urteilt Theunissen: Das Modell des Grundworts Ich-Es drückt »das in der Tradition bereits explizierte Verhältnis des Menschen zur Welt aus« 123 . So deutlich die Anlehnung Bubers an traditionelle philosophische Fassungen des menschlichen Weltverhältnisses zweifelsohne ist – sie erzeugt eine Komplexität des Ich-Es, welche eine vollständige Identifikation der Erfahrungswelt mit einer bestimmten Konzeption der Philosophiegeschichte, etwa der kantischen, fraglich werden lässt. 124 Zentral bei der Herausstellung der ›Wesensmerkmale‹ des Ich-Es zur Rückbeziehung auf bestimmte philosophische Konzeptionen ist jedoch Folgendes: Auch wenn Buber die Charakterisierung der Eswelt vornehmlich an der Beschreibung einer ›Dingwelt‹ ausrichtet, welche Objekte räumlich und zeitlich begegnen lässt – den Begriff des Gegenstandes entwickelt er, wie zu Beginn dieses Abschnitts deutlich wurde, aus der Bestimmung des Erfahrens als eines Habens von etwas überhaupt. Die frappierende Ähnlichkeit der in Kapitel 3.1 dieses Abschnitts zitierten Stelle zur Weite des Gegenstandsbereichs der Erfahrung mit der Beschreibung der cogitationes von Descartes sowie der Charakterisierung der Intentionalität durch Husserl ist offenkundig. 125 Gegenständlichkeit sowie Dinghaftigkeit bei Buber in ihrem weitesten Sinne sind also nicht gleichzusetzen mit dem Sein des ›materiellen‹ Dinges, das bestimmte sinnlich wahrnehmbare Qualitäten aufweist. Theunissen 1977, 259. Nicht zuletzt die zeitlich-räumliche sowie kausale Strukturiertheit der Eswelt lädt zu einer Rückbeziehung auf Kants Transzendentalphilosophie ein. Einen engen Verwandtschaftsgrad zwischen der kantischen Konzeption und dem Es Bubers diskutieren vor allem Zoltán Balogh, Martin Buber und die Welt des Es, Meisenheim a. G. 1969 sowie Steven Katz, »Eine kritische Würdigung der Erkenntnistheorie des ›Ich-Du‹ bei Martin Buber«, in: Bloch/Gordon 1983, 107–137. Siehe außerdem Kohn 1961, 244 f. sowie Arno Anzenbacher, Die Philosophie Martin Bubers, Wien 1965, 43 f. Meist beschränkt sich die Analyse allerdings nicht auf eine Interpretation der Eswelt durch Kants Konzeption, sondern identifiziert schließlich das Ich-Du mit der Sphäre der ›Dinge an sich‹. So behauptet Katz, Kants Auffassung der noumenalen Wirklichkeit sei die Basis der buberschen Ich-Du-Wirklichkeit. Während die Inspiration durch Kant für die geordnete Welt des Es überzeugend dargelegt werden kann, ist eine Diskussion des Ich-Du als Begegnung mit dem ›Wesen‹ der Dinge im Sinne ihres ›wahren Seins‹ grundsätzlich problematisch, weil es Buber in der Begegnung ausdrücklich nicht um das ›Schauen‹ einer der Erfahrungswelt zugrunde liegenden ›wahren‹ Welt geht; vgl. DP 17 und 78. 125 Dies hebt u. a. Lévinas in seiner Auseinandersetzung mit Buber hervor; vgl. Emmanuel Lévinas, »Martin Buber und die Erkenntnistheorie«, in: Schilpp/Friedman 1963, 119–134, hier: 122. 123 124

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So ist das bei Buber charakterisierte Erfahren zwangsläufig nicht auf eine spezifische Weise des Weltzugangs, etwa die wissenschaftliche, zu reduzieren. 126 Der Gegenstand in dieser umfassendsten Bedeutung meint bei Buber vielmehr das Korrelat einer Tätigkeit oder eines Verhaltens des Ich, sei es des Wahrnehmens, des Vorstellens, des Verstehens oder des Begehrens. 127 Problematisch an Bubers Ich-Es ist insgesamt, dass dieses schließlich ein tatsächlich aufweisbares menschliches Sein zur Welt beschreiben soll und nicht als kritische Destruktion klassischer ›subjektivistischer‹ Positionen seit Descartes eingeführt wird. Buber wird nicht müde zu betonen, dass der Mensch ohne Eswelt überhaupt nicht existieren kann, dass er immer wieder im Es, also erfahrend und gebrauchend, leben muss. 128 Somit erscheint das Ich-Es als ein schwer greifbarer ›Zwitter‹, der bereits Merkmale einer Überwindung eines klassischen Subjektdenkens in sich trägt – etwa in der Relationalität, die dem Ich strenggenommen auch hier zukommt –, dann aber wieder als Beschreibung ›weltschaffender‹ Subjektivität gelesen werden kann. Allein der Ausgangspunkt für die Charakterisierung des Ich-Es in Religion als Gegenwart – das Zitieren einer bestimmten Auffassung unseres ›bewussten Lebens‹ – sowie die Tatsache, dass die zahlreichen Spielarten des stark kritisierten ›Psychologismus‹ in der Ich-Es-Charakterisierung unmittelbar wiederzuerkennen sind, spricht für die Verquickung einer kritischen Auseinandersetzung mit der Tradition mit

126 Joachim Israel identifiziert das Ich-Es mit dem wissenschaftlichen Denken; siehe Joachim Israel, Martin Buber. Dialogphilosophie in Theorie und Praxis, Berlin 1995, 84. 127 Vgl. zur Einbeziehung der Gefühle ins Ich-Es auch RG 86. Hier wird sehr deutlich, dass alles das nach Buber Es ist, was ›Inhalt von …‹ ist. Dementsprechend redet er in Ich und Du auch von »Innendingen«; vgl. DP 9. Die Nennung der Strukturen der Erfahrungswelt in Ich und Du – Raum, Zeit, Kausalität – liefert also letztlich nur einen Ausschnitt aus den möglichen Ordnungssystemen für die entsprechenden Gegenstände im weitesten Sinne. Ein ganz zentrales ›Mittel‹ der Ordnung im Bereich der inneren Vorgänge sieht Buber etwa in der Logik, welche ›Denkgesetze‹ vorgibt; vgl. W I, 1112 sowie NL 131. Dass das Es als etwas überhaupt begriffen werden muss, heben vor allem Theunissen und Bloch hervor; vgl. Theunissen 1977, 260 f. sowie Bloch 1977, 212. Somit steht die in diesem Abschnitt vorgenommene Interpretation Theunissens Ausgangspunkt am nächsten, der in Der Andere den buberschen Entwurf der beiden Grundworte auf den Gedanken der Intentionalität rückbezieht: »Das Reich des Es oder die Sphäre der Subjektivität umfaßt […] das agierende Subjekt samt der von ihm intentional verwalteten Welt.« (Theunissen 1977, 261) 128 Vgl. etwa DP 38.

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dem Versuch, einen neuen bzw. modifizierten Ansatz zu wagen. 129 Dem Ich-Es liegt also eindeutig eine Doppelperspektive zugrunde: Einmal fließen wesentliche Merkmale traditioneller – ›idealistischer‹ – Positionen der neuzeitlichen Philosophie in die Charakterisierung ein, dann konfrontiert Buber die dort behauptete Vorrangstellung des Subjekts bereits mit einer ihm ebenbürtig gegenüberstehenden Welt, die auf die Vergegenständlichung durch das erkennende Ich nicht reduzierbar sein soll. Bezeichnenderweise hat Buber das Modell des Ich-Es in den zahlreichen Schriften nach Ich und Du fallen gelassen, 130 obgleich die Verobjektivierung beständiges Gegenmodell der buberschen Dialogik bleibt.

3.3 Die Ich-Du-Begegnung 3.3.1

Das Du als Unverortetes

Dem »welttragenden, welterschaffenden Ich« (DP 263) hält Buber mit seiner Konzeption des Ich-Du – als einer »Urchance« des menschlichen Seins – nun »die gegenseitige Wesensbeziehung« (DP 301) zwischen zwei einander Begegnenden entgegen. 131 Das Ich-Du versteht er als die (Wieder-)Entdeckung der ›Wirklichkeit‹ zwischen Mensch und Welt, 129 Siehe auch NL 128 f., wo Buber das von der Philosophie herausgestellte »SubjektObjekt-Erkennen« einerseits als der ›Wirklichkeit‹ unangemessen kritisiert, dann aber wieder betont, dass die philosophischen Denksysteme nicht fiktiv seien, sondern »durchaus wirkliche Denkbeziehungen zum Seienden« meinten. 130 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Kritik Rosenzweigs an Bubers Es, welche sicher einen wesentlichen Anstoß für das Aufgeben der Ich-Es-Terminologie geliefert hat: Nach Rosenzweig ist das Ich-Es ein »Krüppel«, weil es lediglich »das Produkt der großen Täuschung, in Europa keine 300 Jahre alt« beschreibe; vgl. Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. 3 Bände, hrsg. und eingel. von Grete Schaeder, hier: Band II: 1918–1938, Heidelberg 1973, 125. Siehe zu dieser Kritik auch Bernhard Casper, »Franz Rosenzweigs Kritik an Bubers ›Ich und Du‹«, in: Bloch/Gordon 1983, 159–175. 131 In Ich und Du verwendet Buber sowohl das Wort ›Begegnung‹ als auch den Ausdruck ›Beziehung‹ für das Ich-Du. Der Begriff der Begegnung scheint geeigneter, denn auch das Ich-Es ist eine Beziehung zwischen Ich und Welt. ›Beziehung‹ müsste dann ergänzt werden zur ›gegenseitigen Beziehung‹ ; vgl. DP 47. Siehe dazu Löwiths Analysen der unterschiedlichen Weisen des ›Zusammenseins‹ als »Verhältnis«, »Zusammenhang«, »Beziehung«, »Korrelation«, »Begegnung« und »Entsprechung«; vgl. IRM 75 ff. In einem ›Verhältnis‹ können nach Löwith nur Personen stehen, weil nur Menschen sich überhaupt (zueinander) verhalten können. Die Begegnung als eine Weise des Verhältnisses kann nach Löwith also nur zwischen Personen stattfinden.

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und obgleich Buber das Ich-Es als ›lebensnotwendiges‹ Verhältnis zwischen Ich und Welt vorstellt, ist die Fokussierung auf das Ich-Du offenkundig: »[…] ohne Es kann der Mensch nicht leben. Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch.« (DP 38) An anderer Stelle behauptet Buber gar: »Alles wirkliche Leben ist Begegnung.« (DP 15) Zwar verwendet er den Begriff ›Wirklichkeit‹ nicht primär im Sinne von ›Realität‹, sondern meint mit ›Wirklichkeit‹ vielmehr ein »Wirken, an dem ich teilhabe, ohne es mir eignen zu können« (DP 65), 132 doch schwingt die Bedeutung des ›wahren‹ Verhältnisses zwischen Mensch und Welt beständig mit. 133 In Religion als Gegenwart heißt es etwa, dass die Beziehungen »die ursprünglichen, die wesentlichen Vorgänge des Lebens« (RG 88) seien. In der Begegnung findet ein radikaler Verzicht auf ein Begreifen des Gegenübers statt, weil das Ich das begegnende Du nicht auf bereits bekannte Strukturen zurückführt, sondern sein lässt. Deutlich vollzieht so das Ich-Du einen Bruch mit dem Subjekt-Objekt-Verhältnis zugunsten einer Relation, in der beide Partner gleichrangig sein sollen: »Beziehung ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke« (DP 19). 134 Das Du ist nicht fest-gelegt, es hat keinen kontinuierlichen Zusammenhang in Raum und Zeit – ich finde es »nicht in einem Irgendwann und Irgendwo vor« (DP 13) –, es kann nicht abgeleitet werden, ich kann es nicht vorhersagen. Das Du bricht aus der geordneten Gegenstandswelt aus, fügt sich dem Koordinatensystem der Erfahrungswelt nicht ein. Es ist demnach ein – vom Blickpunkt des Eigenwesens aus – Unverortetes. Weil es nicht im Netz spezifischer Dabei begreift er die ›Wirklichkeit‹ als eine steigerbare Größe; vgl. DP 66. Vgl. DP 13 ff. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Buber das Ich-Es mitunter mit einem »Abfall«, einem »Verrat« gleichsetzt; siehe RG 108, DP 63 sowie NL 152. 134 Einige der Dialogiker kehren das klassische Subjekt-Objekt-Modell schlicht um und begreifen das Du als den das Ich bestimmenden Pol der Beziehung; diese Tendenz lässt sich bei Rosenstock-Huessy und Ebner aufzeigen, vor allem wird sie bei Gogarten und Grisebach realisiert; vgl. exemplarisch Friedrich Gogarten, Ich glaube an den dreieinigen Gott, Jena 1926, 108: »Subjekt, setzend, frei, fordernd, urteilend ist in dieser Begegnung auf alle Fälle das Du«. Vgl. auch Lévinas’ gegen Buber gerichtete Argumentation, das Verhältnis zur Anderheit des Anderen könne nur angemessen beschrieben werden, wenn man einen »paradoxalen Niveauunterschied zwischen dem Ich und dem Du« einführt; siehe Lévinas 1963, 131. Inwieweit diese Umkehrung dem Du als Unverortetem gerechter zu werden vermag, wird in der Diskussion zur ›Subjektivität‹ des Ich in der Begegnung thematisiert. 132 133

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›Vorurteile‹ eingefangen wird wie das Es, ist die Begegnung mit dem Du durch Unmittelbarkeit 135 gekennzeichnet: »Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie« (DP 15) – es ereignet sich allein dort, »wo alles Mittel zerfallen ist« (DP 16). Aus der Perspektive der Eswelt hat das Ich hier nichts, denn es richtet sich nicht auf einen Gegenstand, um diesen zu vereinnahmen, und es hat nichts, weil das Gegenüber nicht ›dingfest‹ gemacht wird, eben kein Gegenstand ist: »Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.« (DP 8) Weil jedes Einordnen in einen kontinuierlichen Zusammenhang das Du zum Es macht – ein Vorgang, der laut Buber konsequenterweise immer wieder geschehen muss –, können die Ich-Du-Begegnungen nur eine momenthafte ›Realität‹ haben. 136 Entsprechend beschreibt Buber die Du-Momente als »wunderliche lyrisch-dramatische Episoden«, welche die Sicherheit »erschüttern« (DP 37). Als Unverortetes ist das Du zugleich »unheimlich« (DP 37), von der Vertrautheit der Eswelt aus gesehen ist es ›fremd‹. 137 Auch wenn das Ich-Du nicht als eines unter vielen aufeinanderfolgenden ›Geschehnissen‹ auf dem linearen Zeitstrahl zu verorten ist, so hat es doch nach Buber eine eigene Zeitlichkeit, die sich zwangsläufig von den ›Koordinaten‹ der Eswelt unterscheidet. Diese Zeitlichkeit bezeugt vor allem den Ereignischarakter der Beziehung und ist als radikale Verneinung aller apriorischen – ›rückbezogenen‹ – Strukturen zu verstehen: Die Begegnung vollziehe sich in der Gegenwart bzw. sie ist nach Buber erfüllte Gegenwärtigkeit. 138 Die »vollkommne Akzeptation der Gegenwart« (DP 79) nennt er vorerst auch als einzige konkrete Voraussetzung für die realisierte Beziehung – das Moment der ›Präsenzhaftigkeit‹ ist das zentrale Bestimmungsmerkmal des Du, das ansonsten, der Prämisse des ›Nicht-Gegenständlichseins‹ folgend, letztlich unbeschreibbar bleibt: Das Du zeichnet sich dadurch aus, dass es

Zum Stellenwert von Unmittelbarkeit in Bubers Konzeption vgl. auch Martin Buber, »Die Vorurteile der Jugend«, in: H, 104–117, hier: 112 f. und ders., »Was ist zu tun?«, in: H, 290–293, hier: 291 sowie NL 144 und RG 115, 122 f. sowie 142. 136 Vgl. DP 20 f. 137 Hans Kohn bezeichnet das Du als »unheimlichen Erschütterer«; vgl. Kohn 1961, 249. 138 Zu Gegenwart und Gegenwärtigkeit siehe DP 16. »Gegenwart« meint den abstrakten Jetzt-Punkt. Somit gibt es nach Buber eine echte Gegenwart und eine eshafte Vorstellung von der Gegenwart. 135

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»kein Ding unter Dingen, kein Vorgang unter Vorgängen, sondern ausschließlich gegenwärtig« (DP 43) ist. Die Hinführung zur Charakterisierung der Ich-Du-Beziehung in Religion als Gegenwart zeigte: Die Beschreibung des Ich-Du wird bei Buber nicht entwickelt im Rahmen der Frage nach der Gewissheit des Daseins anderer ›Iche‹ bzw. in Bezug auf die Frage nach der Möglichkeit von Einfühlung in das fremde Ich. Vielmehr lässt sich bei Bubers ersten Hinweisen auf das Wesen der gegenseitigen Beziehung schon ahnen, dass nicht allein der andere Mensch als Du begegnen kann. Tatsächlich nennt Buber in Ich und Du neben dem Miteinander von Menschen die Begegnung mit naturhaft Seiendem sowie das Kunstschaffen als Realisationen des Ich-Du. Bemerkenswert ist, dass Buber in Religion als Gegenwart die Beziehung zur Natur, die künstlerische Tätigkeit sowie die Begegnung mit dem anderen Menschen als Beispiele für ein echtes Gegenübersein präsentiert. 139 Er behauptet hier nicht, dass sich in diesen Dimensionen die Chance der Begegnung erschöpfe. In »Zwiesprache« dehnt Buber die Möglichkeit des Ich-Du schließlich auf alles Seiende aus, d. h. ›alles‹ kann dem dialogischen Ansatz nach dem Menschen als Gegenüber begegnen. 140 So besteht nach Buber die Möglichkeit, dass auch der Gegenstand des Gebrauchs sich aus den Bezügen seines Verwendetwerdens herauslöst und als Du begegnet, ebenso das gerade noch als Forschungsobjekt Analysierte. Besonders eingehend widmet sich Buber aber dennoch der Begegnung mit anderen Menschen. An dieser lassen sich zudem die Errungenschaften sowie die Probleme der Ich-Du-Konzeption besonders prägnant aufzeigen.

139 Zudem nennt er hier noch ein viertes Beispiel, nämlich die »Entscheidung des handelnden Menschen«; vgl. RG 91 f. 140 Diese Ausweitung des Ich-Du auch auf leblose Dinge stellt eine Eigenart des buberschen Dialogismus dar und ist häufig kritisiert worden; vgl. etwa Lévinas 1963, 132 sowie TU 92. Auch vor dem Hintergrund der Bemerkungen Löwiths zu den unterschiedlichen Weisen des ›Zusammenseins‹ ist diese Ausweitung fraglich. Dass Buber überhaupt Natur und Kunst in die Begegnung einbeziehen kann und später die Möglichkeit des Duseins auf alles Seiende ausweitet, lässt raten, dass er von einem Angesprochensein des Menschen von allen Dingen her ausgeht. Dieser Grundgedanke soll im Abschnitt V zum Verantwortungsbegriff dargestellt werden, wo die zentrale Konzeption des ewigen Du zur Sprache kommt.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

3.3.2

Die zwischenmenschliche Begegnung als ausgezeichnetes Ich-Du

Der andere Mensch kann, das macht Buber deutlich, uns ebenso zum Objekt werden wie jedes andere Seiende auch: Jeder Mensch »kann mir selbstverständlich […] zu einem Gegenstand der Erfahrung werden. Ich kann ihn in die Welt der Dinge einstellen und nun von ihm, von seinen Eigenschaften etwa zu wissen, zu erfahren, auszusagen bekommen. Er kann mir zu einem Komplex von Qualitäten, zu einem Ding unter Dingen werden, zu einer Erfahrung.« (RG 88)

Auf einen bestimmten Aspekt seines Seins eingeschränkt ist der Mitmensch etwa, wenn ich ihn auf eine seiner zahlreichen Rollen festlege, mich auf ihn als Mutter, Arzt oder Lehrerin beziehe. Jedes Vorstellungsgespräch testet den Bewerber auf seine Fähigkeiten und Schwächen hin, jeder Fragebogen reduziert den, der ihn ausfüllt, auf einige wesentliche Daten – ein neuer Kollege wird erst einmal ›in Augenschein‹ genommen, also nicht zuletzt auch auf seine äußere Erscheinung hin ›gemustert‹. Im alltäglichen Herstellen, Verhandeln, Miteinander-etwas-Unternehmen habe ich es in der Regel mit ihr und ihm zu tun. Der Andere tritt hier immer als dieser oder jener Andere auf, auch wenn wir zusammen etwas besorgen. 141 Nicht im sozialen Raum findet die Begegnung von Ich und Du demnach statt, sondern sie ereignet sich in der – oder besser: als die – »Sphäre des Zwischenmenschlichen« 142 , welche Buber auch »das Dialogische« 143 nennt. Wenn uns der Andere tatsäch-

141 Bubers Ich-Du lässt sich nicht auf ein umfassendes Wir reduzieren; das unmittelbare Gegenüber der beiden Partner würde durch eine übergeordnete Einheit relativiert. Dagegen fassen Binswanger und Frank, die beide durch Bubers Dialogik inspiriert wurden, das Ich-Du durchaus als ein Wir; vgl. Binswanger 1973, 71 sowie Semen Frank, Das Unergründliche. Ontologische Einführung in die Philosophie der Religion, hrsg. und eingel. von Alexander Haardt, aus dem Russ. übers. von Alexander Haardt in Zusammenarbeit mit Vera Ammer u. a., Freiburg/München 1995, 257. 142 Die Unterscheidung ›sozial‹ vs. ›zwischenmenschlich‹ führt Buber in der späteren Schrift »Elemente des Zwischenmenschlichen« von 1953 explizit durch. Soziale Phänomene lägen da vor, »wo das Miteinanderdasein einer Vielheit von Menschen, ihre Verbundenheit miteinander gemeinsame Erfahrungen und Reaktionen zur Folge hat« (DP 271). Die Begegnung mit dem Du besteht also nicht im »Gemeinschaftsleben« oder der »Welt der Gemeinschaft«, wie Cullberg es behauptet; vgl. Cullberg 1933, 17 und 44. 143 Der Terminus ›das Dialogische‹ wird erst in »Zwiesprache« (1929) zentral.

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lich begegnet 144 , dann ist er eben nicht mehr dieser oder jener sich in der geordneten Sphäre der gesellschaftlich-sozialen Beziehungen bewegende Andere, sondern aus dieser Ordnung herausfallendes Du. Der Andere ist hier somit weder in einer schon vorstrukturierten Welt im Sinne vorgängiger Weltlichkeit eingefangen, noch begegnet er aus einer gemeinsam erfahrenen – bearbeiteten und besprochenen – Umwelt heraus. In Religion als Gegenwart wählt Buber als Beispiel für die IchDu-Beziehung mit einem anderen Menschen das Gegenübersein der oder des geliebten Anderen. 145 Dass es die liebende Hinneigung ist, welche den Anderen nicht als Objekt nimmt, ihn nicht ›analysiert‹ oder als für diesen oder jenen Zweck dienlich ansieht und somit die SubjektObjekt-Beziehung übersteigt, ist nicht zuletzt im Anschluss an Buber vielfach aufgewiesen worden – so etwa in Ludwig Binswangers Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, wo eine »Phänomenologie des liebenden und freundschaftlichen Miteinanderseins« erarbeitet werden soll. 146 Zentral für Bubers Auffassung der Liebe ist, dass er sie nicht als Gefühl im Ich verortet, sondern als Geschehen zwischen den Partnern der Beziehung begreift. 147 Deutlich macht Buber aber trotz dieses Beispiels: Das Ich-Du im 144 Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass bei Heidegger der Ausdruck ›Begegnen‹ äußerst selten für das Phänomen des zwischenmenschlichen Einanderbegegnens gebraucht wird; siehe Theunissen 1977, 170. 145 Siehe RG 88. 146 Vgl. Binswanger 1973, 12. In Abgrenzung von Heidegger begreift Binswanger »das reine, d. h. unbedingte, in kein Etwas, keine Situation, keine Bewandtnis, die es ›mit etwas‹ hat, ›zerstreute‹ Sein-miteinander« als für das liebende Miteinander konstitutiv; vgl. Binswanger 1973, 71. Siehe auch Franks Ausführungen zum Ich-Du als Liebe. Obgleich die Ich-Du-Beziehung nicht zwangsläufig mit der Liebe identifiziert werden dürfe, zeige sie sich hier doch »in ihrer letzten Tiefe«; vgl. Frank 1995, 250. Ebenso ist bei Gabriel Marcel die Liebe vollendete Begegnung mit dem Du; vgl. Gabriel Marcel, Werkauswahl Band II: Metaphysisches Tagebuch 1915–1943, ausgew. und hrsg. mit einer Einl. von Siegfried Foelz, Paderborn u. a. 1992, 37. 147 Siehe DP 18 f., 47 f. und 168. Vor allem warnt Buber davor, die erotische Beziehung mit dem Ich-Du zu identifizieren; vgl. DP 180 ff. Auch Binswanger und Frank sehen in der Liebe im Sinne der Du-Begegnung kein bloßes Gefühl. Binswanger meint mit ›Liebe‹ vielmehr eine eigene Weise zu sein, die er vom Man und vom Selbst-sein nach Heidegger abgrenzen will; vgl. Binswanger 1973, 69. Frank deutet die Liebe als »das aktualisierte, vollendete Transzendieren zum Du als […] an-und-für-sich-seiender Realität, das Entdecken und Erfassen des Du als einer solchen Realität, wobei ich im Du für mich einen ontologischen Stützpunkt gewinne« (Frank 1995, 252).

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

Sinne der Begegnung zwischen zwei Menschen meint nicht notwendig eine Beziehung, bei der Zuneigung oder Sympathie eine Rolle spielen – das Ich-Du darf nicht vorschnell mit einer engen Bindung gleichgesetzt werden. Der andere Mensch als Du ist durchaus im Moment der Begegnung ein ausgezeichneter Anderer, aber nicht zwangsläufig im Sinne der besonderen Bedeutung für mein gesamtes Leben. 148 Vielmehr sind die Du-Momente auch hier – im Bereich des zwischenmenschlichen Miteinanderseins – strenggenommen immer nur flüchtig, was sie von der Sphäre der Gruppen- und Institutionenbildung im öffentlichen wie privaten Bereich grundsätzlich unterscheidet. 149 Deutlich ist demnach Folgendes: Während es als Kritik an Heideggers Mitseinsanalyse nicht ausreicht, ihr das Fehlen einer Thematisierung von Freundschaft und Liebe vorzuwerfen, so greift man in Bezug auf Bubers Dialogik zu kurz oder läuft Gefahr, sie im Kern nicht richtig zu erfassen, wenn man das Ich-Du mit diesen Formen der Beziehung gleichsetzt. Vor allem ist das Ich-Du nach Buber gerade keine Begegnung, in der sich zwei Wesen in verständnisvollem Miteinander ihr ›Innerstes‹ offenbaren; 150 vielmehr meint der Verzicht auf ein ›Erfassen‹ des Anderen ja gerade das Unterlassen von ›Einfühlung‹ oder ›Verstehen‹ im Sinne einer Einsichtnahme in das ›Innere‹ des Gegenübers, so dass man sagen könnte: »So bist du also, ich habe dich erkannt.« 151 Nicht Spiegel des Ich oder Alter Ego, aber auch nicht zu entschlüsselndes ›Rätsel‹ ist das Du, sondern es ist und bleibt »wesenhaft anders« als 148 Vgl. die verschiedenen Beispiele eines Ich-Du-Moments zwischen einander keineswegs vertrauten Menschen in DP 144 ff. sowie W I, 406. Konsequenterweise gesteht Buber auch ein: »[…] die Liebe selber kann nicht in der unmittelbaren Beziehung verharren« (DP 21). Das Ich-Du meint auch kein altruistisches Miteinander, auch keine soziale Tätigkeit, wie Buber in »Zwiesprache« deutlich macht: Es gebe »Leute, die in der ›sozialen Tätigkeit‹ aufgehen und nie mit einem Mitmenschen von Wesen zu Wesen geredet haben« (DP 168). Demnach trifft Lévinas den Kern des buberschen Ich-Du nicht, wenn er behauptet, das Du sei der »Partner« oder »Freund« (vgl. TU 92) – vorausgesetzt, er meint damit eine intime und stabile Beziehung. 149 Die ›saubere‹ Trennung zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit lokalisiert Buber im Ich-Es; siehe DP 45. 150 Heideggers abschätzige Bemerkungen treffen Buber somit nicht, denn als »klebriges Anbiedern« (GA 24, 408) oder »rührseliges« (GA 27, 147) Miteinander ist das Ich-Du eindeutig nicht zu verstehen. 151 Dass das Ich-Du gerade das Aussetzen von Einfühlung ist, hebt Theunissen explizit hervor; vgl. Theunissen 1977, 268. Letztlich birgt die ›Einfühlung‹ zwei Gefahren für das echte Gegenübersein von Ich und Du: die Gefahr, Eigenes in den Anderen hineinzulegen, und die Gefahr, selbst ganz im Anderen aufzugehen.

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Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

ich, lässt sich dem »Selbstkreis« des Ich niemals »einschreiben«. 152 Um die Nicht-Fassbarkeit des Du von meinem Blickpunkt aus zu charakterisieren, spricht Buber auch vom »elementare[n] Anderssein des Andern« oder – noch stärker – von der »ontischen Uranderheit des Andern« (DP 207). Doch lässt die Vergegenwärtigung konkreter Ich-Du-Situationen – wie hier im Bereich des Zwischenmenschlichen – die Frage aufkommen, wie das Du überhaupt noch als dieses bestimmte Du begegnen kann, wenn es im Sinne des ›Ungegenständlichseins‹ letztlich ›nichts‹ ist. Meint das radikale Anderssein153 des Du nicht zwangsläufig eine vollkommene Negation jeglichen Bestimmtseins – somit auch jeglicher Individualität – des Anderen und seines Eingebundenseins in konkrete Bezüge zur Welt, so dass dieser schließlich zu einem abstrakten, nebulösen Phantom wird? Mit dieser Frage geht der Verdacht einher, dem das Ich-Du auch bei Heidegger ausgesetzt ist: Ist das Du nicht als Unverortetes prinzipiell ›weltlos‹, das Ich-Du – auch wenn es nicht den Rückzugsraum des Privaten meinen soll – ein »Solipsismus zu Zweien« (GA 24, 394)? 154 152 Vgl. DP 283 sowie DP 173. Siehe zur Prämisse, das Du nicht als zweites Ich zu begreifen, die kritischen Bemerkungen Derridas in seinem Aufsatz »Gewalt und Metaphysik«. Derrida interpretiert den Gedanken des Alter Ego gerade nicht als Reduktion des Fremden auf meine Eigensphäre: Würde der Andere nicht als Ego erkannt, so seine Argumentation, wäre er gar nicht unterscheidbar von der Welt und seine Andersheit bräche zusammen. Gerade als anderes Ego sei der Andere von mir unbeherrschbar; vgl. Derrida 1972, 190 ff. 153 Lévinas hebt ausdrücklich hervor, dass Buber das Du als den absolut Anderen sieht: »Ich bin dem Anderen verschrieben nicht aufgrund unserer voraufgegangenen Nähe oder unserer substantiellen Einheit, sondern weil das Du absolut anders ist« (Emmanuel Lévinas, »Martin Buber, Gabriel Marcel und die Philosophie«, in: ders., Außer sich, hrsg. und aus dem Franz. übers. von Frank Miething, München/Wien 1991, 11–37, hier: 22). Wichtig ist allerdings, dass Buber sich vom Begriff des ›ganz Anderen‹ in Bezug auf das Du auch immer wieder kritisch absetzt: Die »Uranderheit« dürfe nicht auf eine »Ganzanderheit« eingeschränkt werden; vgl. DP 207. 154 Waldenfels sieht in der Dialogphilosophie generell die Tendenz zur »Illusion einer Ich-Du-Dyade, die in der Herauslösung aus Welt und Mitwelt nicht minder abstrakt wäre als Husserls Ur-Ich« (Waldenfels 1971, 295). Das »einzigartige Du« dürfe niemals als »welt- und gesellschaftsenthobenes Subjekt« (Waldenfels 1971, 221) gefasst werden, sonst drohe die Gefahr einer »Art von sozialem Manichäismus« (Bernhard Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994, 419). Als ›weltlos‹ bezeichnet auch Held das Du; vgl. Klaus Held, »Das Problem der Intersubjektivität und die Idee einer phänomenologischen Transzendentalphilosophie«, in: Perspektiven transzendentalphänomenologischer Forschung, hrsg. von Ulrich Claesges und Klaus Held, Den Haag 1972, 3–60, hier:

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

Buber selbst bemerkt, dass alles Einzelne, was man am betrachteten Gegenüber als Gegenstand potentiell feststellen kann, in der Begegnung nicht verschwunden, sondern »mit darin, ununterscheidbar vereinigt« (DP 11) sei. Das Es gibt seine Eigenarten in der ›Duwerdung‹ nicht auf, sondern es begegnet nun »in seiner Ganzheit« (DP 12): »Wie die Melodie nicht aus Tönen sich zusammensetzt, der Vers nicht aus Wörtern und die Bildsäule nicht aus Linien, man muß dran zerren und reißen, bis man die Einheit zur Vielheit zubereitet hat, so der Mensch, zu dem ich Du sage. Ich kann die Farbe seiner Haare oder die Farbe seiner Rede oder die Farbe seiner Güte aus ihm holen, ich muß es immer wieder; aber schon ist er nicht mehr Du.« (DP 12 f.) 155

Wenn danach gefragt wird, was man vom Du weiß, dann muss die Antwort nach Buber lauten: »Nur alles. Denn man weiß von ihm nichts Einzelnes mehr.« (DP 15) 156 Strenggenommen weiß man von und über das Du in der Begegnung ›nichts‹, aber man weiß es selbst: »Wir wissen den geliebten Menschen […], aber nicht als ein Es, das wir erfahren.« (RG 90) 157 Diese ungewöhnliche Verwendung des Verbs ›wissen‹ – man kann letztlich nur ›etwas‹ wissen, aber nicht ›jemanden‹ – macht das komplexe Ineinander von Nähe und Ferne im Ich-Du sehr deutlich: Der Andere als Du ist mir fern oder fremd, weil ich ihn nicht fasse; ich reflektiere im Moment der Begegnung nicht auf das, was ich von ihm 53 und 60. Theunissen, der das Es als das ›Vorkommende schlechthin‹ interpretiert, muss das Du zwangsläufig als Transzendieren ›der Welt‹ verstehen – er bescheinigt ihm eine Negativität, die lediglich auf eine Destruktion des im Ich-Es dargestellten Zugangs zur Welt liege; vgl. Theunissen 1977, 306 f. Sehr vielsagend ist, dass Buber selbst in »Zwiesprache« eine kritische Beschreibung ›religiöser‹, weltabgewandter Momente liefert, deren Charakterisierung der des Ich-Du jedoch sehr ähnelt, vgl. DP 157 f. 155 Entsprechend bemerkt Lévinas: »Die beste Art, dem Anderen zu begegnen, liegt darin, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken.« (Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, aus dem Franz. übers. von Dorothea Schmidt, Graz/Wien 1986, 64) 156 Bloch spricht aufgrund dieser Bemerkungen von einer ›Kongruenz‹ von Es und Du und stellt die von Theunissen behauptete ›Negativität‹ des Du in Frage; vgl. Bloch 1977, 246 f. und 254 f. 157 Zwar sagt Buber selbst ausdrücklich, man wisse in der Begegnung ›alles‹ vom Du, doch dies kann nicht bedeuten, man wisse alles, was von ihm überhaupt aussagbar ist. In diesem Fall wäre die Ganzheit des Du schließlich nur die Summe seiner sämtlichen Merkmale, Erfahrungen usw. Auch spricht Buber ab und zu von einem Erkennen des Du, meint damit allerdings ein anderes Erkennen als das der Subjekt-Objekt-Beziehung; vgl. NL 128. Gemeint ist vielmehr eine »Beziehung von Wesen zu Wesen«, kein ›Begreifen‹ des Anderen.

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Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

alles wissen kann. Das Du ist zugleich aber näher als das Es, weil ich mein Gegenüber hier nicht wie ein distanziertes Objekt behandele – ich weiß lediglich, dass du bist. 158 Es ist deutlich geworden, dass Buber in Ich und Du durchaus versucht, der Gefahr eines ›Identitätsverlustes‹ des Du zu entgehen – die Begegnung mit dem Anderen ist durchweg als Begegnung mit einer konkreten Person vorgestellt, wobei deren in der Erfahrung feststellbaren Merkmale in der Beziehung in einer unzergliederbaren Totalität aufgehoben sein sollen. Indem Buber auch dem Ich-Du eine spezifische Räumlichkeit zuweist, ermöglicht er zudem, das Du doch mit einer ›Umgebung‹ zu versehen, die aber zwangsläufig nicht mit dem im Es eröffneten Raum gleichzusetzen ist: Die ›Räumlichkeit‹ des Du konstituiert sich nach Buber nicht durch aneinandergrenzende ›Dinge‹, sondern besteht in einer Organisation des Raumes um das Du als einer lebendigen Mitte herum: »[…] alles andre lebt in seinem Licht« (DP 12). So erscheint das Du zwar ›weltlos‹, weil es selbst nicht in eine geordnete Welt eingereiht wird, andererseits legt Buber nahe, das Du selbst als ›eine Welt‹ zu verstehen: Der geliebte Mensch, so heißt es, ist »in der Ausschließlichkeit der Beziehung […] die Welt, das Du schlechthin« (RG 90). 159 Dennoch bleibt eine grundsätzliche Spannung bezüglich des IchDu bestehen: Betont man die Unfassbarkeit des Du und die Moment158 Hier sei an Husserls treffende Charakterisierung des Fremden als »Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« (CM 117) erinnert. Die Spannung zwischen Nähe und Ferne im Ich-Du artikuliert Frank sehr deutlich, indem er betont, dass in jeder Ich-DuBeziehung zwei gegensätzliche Momente enthalten seien: In jedem Ich-Du müsse eine gewisse Zusammengehörigkeit gegeben sein, denn »etwas schlechthin Fremdes […] würde mich überhaupt nicht berühren« (Frank 1995, 243 f.). Doch habe sogar die IchDu-Begegnung zwischen einander Zugeneigten, »wie sehr sie auch von Liebe, gegenseitigem Vertrauen, Sympathie und innerlichem Verständnis erfüllt sein mag, etwas ›Fremdes‹ und ›Unverwandtes‹ in sich, das sich nicht restlos überwinden läßt« (Frank 1995, 244). Er resümiert daher: »In diesem zwei-einigen Widerstreit des ›Unheimlichen‹ und ›Heimischen‹ besteht eben das rätselhafte Wesen des Du.« (Frank 1995, 247) 159 Vgl. auch H 113, wo der Andere als »persönliche Welt« bezeichnet wird. Siehe dazu Waldenfels’ Versuch, das Du nicht in der besorgten Welt aufgehen zu lassen, es aber dennoch nicht jenseits der Welt zu verorten: »Die Ausschließlichkeit des Du in der jeweiligen Zuwendung hebt dieses derart aus allem heraus, daß es nicht in der Weise eines esse in einzuordnen ist. Was aber bleibt, ist ein esse pro; der Andere steht für Welt und Mitwelt, indem er sie in sich sammelt« (Waldenfels 1971, 311 f.). Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch Binswangers Thematisierung einer spezifischen Räumlichkeit der Liebe; vgl. Binswanger 1973, 25 ff.

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haftigkeit der Begegnung, droht die Gefahr der bloßen Negation aller sozialen, weltlichen, individuellen Züge und Bindungen des Mitmenschen. Hebt man den Aspekt der Nähe zwischen Ich und Du hervor, scheint wiederum dessen prinzipielle Unzugänglichkeit in Frage zu stehen. Tatsächlich neigt Buber in den Schriften nach Ich und Du, welche sich vornehmlich der Begegnung als zwischenmenschlichem Ereignis widmen, mitunter dazu, die Andersheit des Anderen als ein anderes ›Sosein‹ zu deuten. Somit wird aber die Wahrnehmung der konkreten Eigenheiten des Anderen sowie ein Vergleich mit meinen eigenen spezifischen Merkmalen, Fähigkeiten usw. vorausgesetzt. 160 Zweitens bedenkt Buber nun auch konsequenter die Möglichkeit des Ich-Du im Rahmen institutionalisierten Zueinandergehörens – z. B. in der Ehe – oder einer bestehenden Gemeinschaft zwischen mehreren Menschen. Im Zusammenhang einer Diskussion der Hinwendung zur konkreten Andersheit des Anderen ist die Unterscheidung verschiedener Weisen der ›Wahrnehmung‹ des Anderen zentral, die Buber in »Zwiesprache« sowie in »Elemente des Zwischenmenschlichen« präsentiert. Einerseits erinnern die wesentlichen Merkmale dieser Wahrnehmungsarten an die zentralen Charakteristika von Ich-Es und Ich-Du, andererseits lassen sie sich – als ›Wahrnehmungen‹ – mit diesem Schema nicht mehr in vollkommene Übereinstimmung bringen. In »Zwiesprache« unterscheidet Buber drei Arten, »auf die wir einen Menschen, der vor unsern Augen lebt […], wahrzunehmen vermögen« (DP 150): ein Beobachten, Betrachten und Innewerden. Während der Beobachter den Anderen taxiere, um ›Züge‹ und ›Ausdrücke‹ zu sammeln, nimmt der Betrachter laut Buber dem Anderen gegenüber eine gelassene Haltung ein, er lässt ihn in seiner Eigenart auf sich zukommen. Die dritte Wahrnehmungsweise – das Innewerden – bestehe nun ausdrücklich nicht in einem ›Begreifen‹ des Anderen: »Dieser Mensch ist nicht mein Gegenstand; ich habe mit ihm zu tun bekommen.« (DP 152) In »Elemente des Zwischenmenschlichen« wird das Innewerden folgendermaßen beschrieben: Der Andere wird »als Ganzheit und doch zugleich ohne verkürzende Abstraktionen, in aller Konkretheit erfah160 Vgl. als Kritik an der Rede vom ›absolut‹ Anderen die Bemerkungen Derridas in »Gewalt und Metaphysik«: Wenn der Andere anders ist als …, ist er immer schon bezogen auf Andere und auf sich selbst. Er ist also nicht unendlich, nicht absolut anders, sondern anders in Relation zu … Das heißt nach Derrida: Die Ausdrücke ›schlechthin anders‹, ›absolut anders‹ können nicht zugleich gedacht und gesagt werden, ohne dass der Andere aufhört, Anderer in diesem absoluten Sinne zu sein; vgl. Derrida 1972, 192.

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Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

ren« (DP 284). Dies sei allerdings unmöglich, »solang der andere mir das abgelöste Objekt meiner Betrachtung oder gar Beobachtung ist, denn ihr gibt sich diese Ganzheit […] nicht zu erkennen« (DP 284). Innewerden geschieht nach Buber erst dann, »wenn ich zu dem andern elementar in Beziehung trete, wenn er mir also Gegenwart wird« (DP 284). Während diese Beschreibungen des Innewerdens durchaus an die Grundvoraussetzung der Ich-Du-Begegnung gemahnen – das ›NichtObjekt-Sein‹ des Anderen –, so entfernt sich die Benennung des Innewerdens als »personale Vergegenwärtigung« bzw. »Realphantasie« jedoch von dem ursprünglichen Gedanken des Einfühlungsverzichts: Buber nennt die Realphantasie ein »Einschwingen ins Andere« (DP 286). Wenn ich dessen innewerde, dass mein Gegenüber »anders, wesenhaft anders ist als ich, in dieser bestimmten ihm eigentümlichen einmaligen Weise wesenhaft anders als ich« (DP 283), dann muss ich das ›ihm Eigentümliche‹ registrieren. Noch klarer ist Buber in seiner Kommentierung der Ehe: »Dieser Mensch ist […] wesenhaft anders als Ich, und diese seine Anderheit meine ich, weil ich ihn meine, ich bestätige sie, ich will sein Anderssein, weil ich sein Sosein will« (DP 233). Die Trennung zwischen Sozialem und Zwischenmenschlichem – als die Abgrenzung eines Zusammenschlusses von Menschen aufgrund gemeinsamer Erfahrungen oder zum Zweck der Durchsetzung gemeinsamer Ziele vom unmittelbaren direkten Zueinander von Ich und Du – wird jedoch in Bubers dialogischem Denken insgesamt beibehalten; sie wird in voller Schärfe schließlich erst in »Elemente des Zwischenmenschlichen« in den 50er Jahren formuliert. Dennoch versucht Buber nach Ich und Du 161 die Möglichkeit eines auf mehrere Personen ›erweiterten‹ Ich-Du-Verhältnisses – und damit die Chance echter Gemeinschaft – zu denken, die mit den traditionellen soziologischen Kategorien allerdings nicht zu fassen sei. 162 In »Zwiesprache« grenzt er eine 161 Auch in Ich und Du äußert sich Buber zu einem echten Miteinander als einer tatsächlichen »Gemeinde«; siehe DP 48 ff. Eine zentrale Rolle bei dem hier präsentierten Gedanken von Gemeinschaft spielt das später zu thematisierende ewige Du. 162 In »Zwiesprache« geht Buber selbst auf den Einwand ein, seine ›dialogischen‹ Momente geschähen in einem »Nirgendwo«; vgl. DP 189. Sein Beispiel für die Möglichkeit, Dialogik in einer großen Firma etwa geschehen zu lassen, überzeugt aber wenig, weil es sich von der Beschreibung des Ich-Du als Zerbrechen der geordneten Welt deutlich entfernt: Es gehe um das Wahrnehmen der Mitarbeiter als »biographiehabender Personen«; es gehe darum, den Anderen nicht »als eine Nummer mit menschlicher Maske«

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solche erfüllte Gemeinschaft von der bloßen Kollektivität ab: Wahre Gemeinschaft »ist das Nichtmehr-nebeneinander-, sondern Beieinandersein einer Vielheit von Personen, die, ob sie auch mitsammen sich auf ein Ziel zu bewege, überall ein Aufeinanderzu, ein dynamisches Gegenüber, ein Fluten von Ich zu Du erfährt« (DP 185). 163 Dabei ist auffällig, dass Buber sich bei seinen Bemühungen, ein echtes Wir zu beschreiben, immer wieder kritisch von Heideggers Konzeption des Man absetzt: 164 Zwar sei Heideggers Beschreibung dieser anonymen, durchschnittlichen Masse »im wesentlichen richtig« (W I, 372), doch trete »nichts Positives […] an seine Stelle, die anonyme Allgemeinheit wird als solche verworfen, aber es gibt auch nichts, was sie ablöste« (W I, 372). Einen entsprechenden positiven Begriff von Gemeinschaft will Buber selbst nun mit dem »wesenhaften Wir« (W I, 373) aufweisen: Zentrale Voraussetzung sei, »daß in dem Wir die ontische Unmittelbarkeit waltet, die die entscheidende Voraussetzung des Ich-Du-Verhältnisses ist. […] Nur Menschen, die fähig sind, zueinander wahrhaft Du zu sagen, können miteinander wahrhaft Wir sagen« (W I, 373 f.). Wenn Buber allerdings daran festhält, dass das Zwischenmenschliche »lediglich aktuale Ereignisse zwischen Menschen« (DP 271) meine, kann das echte Wir ebenfalls nur ein momenthaftes Geschehnis sein und keine Kontinuität ausbilden. Daher fällt es Buber auch nicht leicht, Beispiele für solche echten Gemeinschaften zu nennen; vielmehr geht er ausführlicher auf verfehlte Gemeinschaften ein, z. B. religiöse oder revolutionäre Gruppen, in denen nicht selten Machtstreben und Geltungssucht dominierten. 165 wahrzunehmen; vgl. DP 194 f. Problematisch ist auch die Anwendung der Ich-Du-Beziehung auf den Bereich der Erziehung; vgl. Martin Buber, Reden über Erziehung, in: W I, 783–832. Schließlich geht es hier um ein nicht vollkommen gleichrangiges Verhältnis, auch wenn Buber die ›Einflussnahme‹ des Erziehers konsequenterweise nicht als ein ›Zurechtbiegen‹ des Kindes versteht; siehe dazu DP 287 ff. 163 Bubers kritische Auseinandersetzung mit kollektiven Bewegungen ist besonders eindringlich in Die Frage an den Einzelnen (1936) realisiert. Die unmittelbare Konfrontation mit einer den Einzelnen mitreißenden oder ihn radikal ausschließenden, ja vernichten wollenden Massenbewegung wie dem Nationalsozialismus ist hier deutlich zu spüren. 164 Siehe vor allem W I, 371 ff. Kritik daran, dass Heidegger anscheinend nur ein negativ besetztes ›Wir‹ kennt, findet sich auch bei Löwith und Binswanger; vgl. IRM 80 und Binswanger 1973, 256. 165 Auch hier könne es allerdings zu echter Gemeinschaft kommen, wenn z. B. beim Tod eines Anführers seine Schüler sich in einem echten Miteinander zusammenfänden –

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Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

3.3.3

Das Ich als »Subjektivität«

Auch wenn Buber bezüglich der Sphäre der Begegnung nicht aufgibt, von einem ›Ich‹ zu sprechen 166 – er muss es in seiner ›Ichhaftigkeit‹ so bestimmen, dass es sich vom Eigenwesen radikal unterscheidet. In der Tat charakterisiert Buber das Ich des Ich-Du nicht als Subjekt eines zielenden Verhaltens auf Gegenstände, sondern als »Subjektivität (ohne abhängigen Genitiv)« (DP 65). Das Ich der Begegnung sei nicht als ›Träger von …‹ definierbar, sondern werde sich bewusst »als eines am Sein Teilnehmenden, als eines Mitseienden« (DP 66) – also als Ich, dem ein Du »gegenüber leibt« (DP 16). Buber bezeichnet das Ich der Beziehungssphäre auch als Person. Im Gegensatz zum Eigenwesen erlangt das Ich des Ich-Du gerade durch sein Eingebundensein in eine Beziehung zu einem Gegenüber ›Wirklichkeit‹ im buberschen Sinne: Die Person ›hat‹ oder ›ist‹ laut Buber gerade deshalb ›Substanz‹, weil sie nicht von einem Wissen um ihr Sosein – von einer Beobachtung ihrer konkreten Eigenschaften – sowie von den Dingen, welcher sich das Eigenwesen bemächtigt, abhängig ist. Die Person sage »Ich bin« (DP 66), nicht: Ich kann dies, will jenes, weiß dies usw. Sie ist also gerade dadurch selbst-ständig, dass sie nicht darauf beharrt, als Für-sich-Seiendes zu existieren, sondern als in der Beziehung stehendes Ich: 167 »Person erscheint, indem sie zu andern Personen in Beziehung tritt.« (DP 65) ›Substanz‹ meint hier demnach nicht die Starrheit eines beständig Zugrundeliegenden, sondern die konkrete Fülle des Ich in der Hinwendung zum Anderen, in der Dynamik der Beziehung. 168 Während Löwith etwa bei seinem Aufweis des Eingebundenseins des Ich in Beziehungen den Aspekt der ›Rolle‹ bewusst hervorhebt und somit den Personbegriff an seinen Ursprung als Bezeichnung für die Maske bzw. den maskierten Schauspieler zurückbindet, sieht Buber also das Ich des Ich-Du gerade nicht als Funktionsträger. Indem er jedoch die radikale Relationalität der Person hervordies eines der wenigen Beispiele für das erweiterte Ich-Du, wobei die Abgrenzung zum Sozialen hier denkbar schwerfällt; vgl. W I, 374 und DP 271 f. 166 Auch gebraucht Buber entgegen Heidegger – wie in diesem Kapitel ersichtlich wird – weiterhin die Begriffe ›Bewusstsein‹ und ›Selbstbewusstsein‹, er redet von ›Seele‹ und ›Geist‹ sowie ›Subjektivität‹, nicht selten ohne zu prüfen, inwieweit diese Begriffe für seinen neuen Ansatz überhaupt tauglich sind. 167 Insofern ist im Ausspruch ›ich bin‹ das ›du bist‹ wie bei Ebner immer schon mitgesprochen. 168 Vgl. DP 65 f.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

hebt, schließt er wiederum – und mit ihm die anderen Dialogiker wie Rosenzweig und Ebner – an den Gedanken des Bestimmtseins durch Verhältnisse an. 169 Strenggenommen muss das Zerbrechen der geordneten ›Welt‹ vor dem Hintergrund des buberschen Gegenstandsbegriffes allerdings meinen: das Aussetzen des ›ordnenden‹, ›zielenden‹ Verhaltens des Subjekts, das Aufhören des ›Vorstellens‹ und ›Wahrnehmens‹ des Ich überhaupt. Vermag dies Bubers Konzeption des Ich als Subjektivität tatsächlich zu leisten? Der erste Absatz von Ich und Du behauptet: »Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung« (DP 7). Das legt den Gedanken nahe, dass der Mensch sich dem Seienden einmal als einem Es, dann als einem Du nähern kann, dass das Es-sein sowie das Du-sein des Gegenübers also von der jeweiligen Haltung des Ich abhängt. 170 Auch nimmt Buber ja gerade keinen Niveauunterschied der Partner im Ich-Du an – das Ich soll hier keineswegs 169 Aufschlussreich ist bei der näheren Bestimmung der buberschen ›Personalität‹, von welchen anderen Begriffen und Konzeptionen die ›Person‹ hier abgegrenzt wird und von welchen nicht: Vor allem ist bemerkenswert, dass Ich und Person nicht in Konkurrenz stehen, auch wendet Buber den Begriff der ›Substantialität‹ auf die Person an. Vom ›Individuum‹ grenzt er die ›Person‹ allerdings ab – dieses bezeichnet die Konzeption von ›Ichhaftigkeit‹ im Sinne des Ich-Es; vgl. DP 31 f., 66 f., 169 und 274. Das ›Selbst‹ ist in Ich und Du vornehmlich als das sich in mystischer Versenkung selbst schauende Ich begriffen; vgl. DP 84 f., 88 ff. und 90 f. In »Zwiesprache« ist jedoch auch ein von echter Dialogik nicht abgegrenzter Begriff des Selbst zu finden; vgl. DP 183–187 sowie DP 291. Siehe zum Vergleich des buberschen Personbegriffs mit anderen Positionen innerhalb der Dialogik sowie der Phänomenologie Michael Theunissen, »Skeptische Betrachtungen über den anthropologischen Personbegriff«, in: Die Frage nach dem Menschen. Aufriß einer philosophischen Anthropologie. Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag, hrsg. von Heinrich Rombach, Freiburg/München 1966, 461–490. 170 Theunissen diskutiert auch das Ich-Du als intentionales Verhältnis (vgl. Theunissen 1977, 278 ff.), wobei diese Beurteilung wesentliche Prämissen der echten Beziehung als unerfüllt entlarven soll: Dem Ich kommt so auch in der Begegnung ein Vorrang zu und die Unmittelbarkeit der Beziehung ist ebenfalls unmöglich. Letztere wird aber auch durch einen Aspekt der buberschen Theorie selbst in Frage gestellt: In seinem Exkurs über das Leben ›primitiver‹ Völker sowie die ersten Lebensjahre des Kindes operiert Buber mit dem Begriff des »eingeborenen Du«, das allen konkreten Beziehungen vorausgehe, sowie mit der Annahme bestimmter ›Beziehungstriebe‹ ; vgl. RG 95 und DP 31. Reflektiert wird hier also auf eine grundlegende ›Fähigkeit‹ des Menschen, überhaupt in das Ich-Du einzutreten. Doch hinterfragt die Konzeption einer ›apriorischen Vorform‹ jeder einzelnen Beziehung nicht grundsätzlich die Gleichrangigkeit und Unmittelbarkeit des Ich-Du? Vgl. zu dieser Problematik exemplarisch Theunissen 1977, 280 sowie Gerda Sutter, Wirklichkeit als Verhältnis. Der dialogische Aufstieg bei Martin Buber, München 1972, 88 ff.

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Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

gegenüber einem ›übermächtigen‹ Du in reiner Passivität versinken. Ich und Du – als Begegnung zwischen Personen – versteht Buber aber auch nicht als ›Kampf‹ zwischen zwei gleichrangigen weltkonstituierenden Subjekten, die in gegenseitigem intentionalen Bezug aufeinander bezogen wären. Wie lässt sich die augenscheinliche Aktivität des Ich, das Zugehen des Ich auf das Du auch in der Begegnung, 171 mit dem Aussetzen von Wahrnehmung und Erkennen – kurz: dem intentionalen Verhalten überhaupt – vereinbaren? Folgende Stelle lässt die Schwierigkeit sehen, welche darin liegt, das Ich als tätig zu denken, ihm aber dennoch eine ›Herrschaft‹ über oder einen direkten Einfluss auf das Du abzusprechen: »Ich habe das Du, das mir gegenübersteht, nicht zu erfahren, sondern zu verwirklichen. Ich mache es nicht zu einer Erfahrung, indem ich in die Beziehung zu ihm trete, sondern ich mache es zu einer Wirklichkeit, zu einer Gegenwart, oder richtiger gesagt, es wird mir, es wird durch mich, es wird mir gegenüber zu einer Wirklichkeit, zu einer Gegenwart. Das ist allen Beziehungen gemeinsam.« (RG 92)

Indem Buber der ›Erfahrung‹ die ›Verwirklichung‹ gegenüberstellt, versucht er eine Tätigkeit des Ich aufzuzeigen, welche Wirklichkeit als ein Aneinanderwirken eröffnet – dennoch kann die Assoziation eines ›Machens‹ oder ›Schaffens‹ des Ich nicht gänzlich abgewiesen werden. 172 Um die Gerichtetheit des Ich auf das Du zu untergraben, müsste 171 Dass Buber die echte Begegnung nicht selten als vom Ich ausgehend beschreibt, muss allerdings noch nicht bedeuten, dass dem Ich auch hier ein Vorrang vor dem Gegenüber zukommt; schließlich heißt es an zentraler Stelle wiederum: »Ich werde am Du; ich werdend spreche ich Du.« (DP 15) Problematisch für den Gedanken der Gleichrangigkeit ist jedoch die Behauptung Bubers, für die Beziehung sei nicht zentral, ob der Andere das Du vernimmt – das heißt, es ist augenscheinlich nicht wichtig, ob ich ihm Du oder Es bin. 172 Vgl. zum Gedanken der ›Verwirklichung‹ DP 14, 20, 51, 54, 61 f., 72, 76 und 116. Bloch lehnt Theunissens Interpretation des Ich-Du als eines intentionalen Verhältnisses ab und greift dabei auf den Begriff der ›Verwirklichung‹ zurück; vgl. Bloch 1977, 246 f. und 254 f. Allerdings ist fraglich, ob das Verwirklichen nicht doch noch zu sehr als vom Subjekt ausgehende Aktivität gedacht ist; so ist die Nähe zum ästhetischen Schaffen überdeutlich, denn bezeichnenderweise taucht der Begriff in Ich und Du sehr oft in Bezug auf die künstlerische Tätigkeit auf; vgl. DP 14. Zwar begreift Buber das Kunstschaffen als dialogisches Geschehen, doch sei auch daran erinnert, dass das Verwirklichen in Daniel eine der beiden Weisen des Erlebens war und somit wesentlicher Bestandteil einer Konzeption, die Buber selbst später als zu ›subjektivistisch‹ beurteilt. Außerdem wäre es möglich, die Verwirklichung auf das eingeborene Du zu beziehen, welches sich in konkreten Begegnungen aktualisiert. Aufgrund der ›Apriorität‹ dieses

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

die ›echte‹ Subjektivität als ein dynamisches Ineinanderfallen von Aktion und Passion beschrieben werden können. Tatsächlich charakterisiert Buber die Beziehung auch als ein »Erwähltwerden und Erwählen« (DP 15) zugleich. Das Du »begegnet mir von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden. Aber daß ich zu ihm das Grundwort spreche, ist Tat meines Wesens« (DP 15). Begegnung ereignet sich laut Buber demnach im Zusammenwirken von Tun (Freiheit) und Erleiden (Schicksal). 173 Indem er dabei betont, dass nur das Grundwort Ich-Du mit dem »ganzen Wesen« gesprochen werden könne, eröffnet er zugleich eine Möglichkeit, dieses Sprechen selbst nicht als zielendes Verhalten zu deuten, sondern als Aufhebung jeglicher ›Teilaspekte‹ des Ich: Entsprechend der Ganzheit des Du ist auch das Ich in der Begegnung als ›Totalität‹ präsent. Die Person gibt ihre Individualität nach Buber nicht auf, sondern bewahrt diese als »notwendige und sinnvolle Fassung des Seins« (DP 67); sie spricht aber das Grundwort Ich-Du nicht als dieses oder jenes erkennende, dieses oder jenes wollende Ich aus, sondern eben als ›ganze‹ Person. 174 Dabei setzt jegliches Zielen aus und das Tun wird beinahe selbst zu einem Erleiden: »Wie denn eine Aktion Du steht aber wie schon erwähnt zur Debatte, ob so das je aktuelle Du wirklich ›unmittelbar‹ begegnen kann. 173 Die Vorstellung eines sich unbeirrt abspulenden Ablaufs jeglicher Ereignisse ist nach Buber ein Konzept der Eswelt – demnach könne nur im Ich-Du echte Freiheit realisiert werden: »Hier stehen Ich und Du einander frei gegenüber, in einer Wechselwirkung, die in keine Ursächlichkeit einbezogen und von keiner tingiert ist« (DP 54). Neben der Freiheit weist Buber auch das Schicksal der Duwelt zu – als ›Ergänzung‹ jener; vgl. DP 56. 174 Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Gedanke des »Einswerdens der Seele«; vgl. DP 90 f. sowie NL 132. In »Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre« liefert Buber die Beschreibung einiger wesentlicher Vorgaben zur Erlangung von ›Wirklichkeit‹, welche sich durchaus als Vorlagen für die Charakterisierung des Du-Ich lesen lassen: In der Entschlossenheit gehe es um die »geeinte Seele«, wobei die Seele die Einheit von Leib und Geist sei; vgl. Martin Buber, »Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre«, in: ders., Werke. Dritter Band: Schriften zum Chassidismus, München/Heidelberg 1963, 713–738, hier: 725 f. (im Folgenden wird der Band zitiert als W III) sowie NL 149 f. – Auf diesen Seelenbegriff zu achten ist nicht unwichtig, da Bubers Dialogik ansonsten kaum auf die Leiblichkeit des Ich eingeht. Zudem, so heißt es in »Der Weg des Menschen«, müsse jeder bei sich selbst beginnen, ohne sich nur mit sich selbst zu befassen: Der Mensch muss »erst von all dem Drum und Dran seines Lebens zu seinem Selbst gelangen, er muß sich selber finden, nicht das selbstverständliche Ich des egozentrischen Individuums, sondern das tiefe Selbst der mit der Welt lebenden Person« (W III, 729 f.).

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des ganzen Wesens, als die Aufhebung aller Teilhandlungen und somit aller – nur in deren Grenzhaftigkeit gegründeter – Handlungsempfindungen, der Passion ähnlich werden muß.« (DP 15) Es eröffnet sich allerdings noch eine andere Möglichkeit, eine DuBezogenheit des Ich aufzuzeigen, ohne diese als Intentionalität zu denken – allerdings führt dieser Weg über Buber und seine Scheidung des menschlichen Weltverhältnisses in Ich-Es und Ich-Du hinaus: Die zu Beginn dieses Kapitels 3 zitierte Passage aus Religion als Gegenwart setzt mit der Behauptung ein, dass ›Bewusstsein‹ nicht zwangsläufig als Kontinuum von Vorgängen begriffen werden müsse, durch die »wir etwas Wißbares, Aussagbares von der Beschaffenheit der Dinge […] erfahren« (RG 84). Daraus ließe sich folgern, dass Bewusstsein möglicherweise anders bestimmt werden könnte denn als Bewusstsein von etwas – ohne zu behaupten, es sei ›leer‹. 175 Vielmehr ließe sich menschliches Bewusstsein überhaupt im Anschluss an Buber als Teilnahme an etwas 176 verstehen, wobei dieses ›Etwas‹ einen ganzheitlichen Vorgang oder ein Geschehen meint, keinen ›Gegenstand‹. Somit umgeht dieser Interpretationsansatz die Reduzierung des Ich-Du auf ein intentionales Verhalten und die damit einhergehende ›Negativität‹ des Du, weil er die Bewegung des Sich-auf-etwas-Richtens nicht mehr als einzige Möglichkeit der Bewusstseinsbestimmung annimmt. 3.3.4

Der ›dritte Ort‹ : Das Zwischen

Der radikalste und eindringlichste Versuch, eine Vorrangstellung des Ich in der echten Beziehung grundsätzlich zu vermeiden, realisiert sich jedoch in Bubers Gedanken des Zwischen als einer ontologischen Sphäre. So spricht Theunissen vom »der Subjektivität übermächtige[n] Zwischen« 177 . Die eingehendste Charakterisierung dieses ganz eigenen Buber wehrt sich dagegen, das Ich-Du als ›unbewusst‹ zu begreifen; vgl. RG 89. Vgl. RG 88. Der Begriff der ›Teilnahme‹ taucht in Ich und Du nur gelegentlich auf, dann allerdings an zentralen Stellen. Siehe etwa folgende Bemerkung: »Wo keine Teilnahme ist, ist keine Wirklichkeit.« (DP 65 f.) Andere Bezugnahmen finden sich in Die Frage an den Einzelnen; vgl. DP 202, 209 und 222. Theunissen sieht im Begriff der Teilnahme bei Buber sowohl aktive als auch passive Momente angedacht; vgl. Theunissen 1977, 325. In Abgrenzung vom Teilen-mit und Mit-teilen ist für Binswanger die Teilnahme-an die wesentliche Vollzugsform der Liebe, also die der echten Begegnung; vgl. Binswanger 1973, 233 ff. 177 Theunissen 1977, 375. 175 176

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›Bereichs‹ der Beziehung findet sich allerdings erst in Das Problem des Menschen aus den 40er Jahren 178 – in Ich und Du wird das Zwischen noch nicht explizit aufgezeigt, Buber deutet seine Existenz aber auch hier schon an. 179 Mit der Etablierung dieses spezifischen ›Ortes‹ der Beziehung schafft Buber eine neue Kategorie, welche die Vorstellung des menschlichen Weltbezugs als eines Aufeinanderbezogenseins von Subjekt und Objekt durch den Aufweis eines echten »Dritten« 180 aufheben soll: »Jenseits des Subjektiven, diesseits des Objektiven, auf dem schmalen Grat, darauf Ich und Du sich begegnen, ist das Reich des Zwischen.« (W I, 406) In der Begegnung stehen Welt und Ich einander so gegenüber, dass »zwischen uns das Wirkliche geschieht« (NL 146), und nicht in dem einen oder dem anderen Partner. Es sei erinnert an Bubers Bestimmung der Liebe als eines Geschehens zwischen Ich und Du. Dass Buber das Zwischen als einen eigenen Seinsbereich deutet, soll eben das verhindern, was die Bestimmung der Liebe als ›Gefühl‹ nahelegt: die Reduzierung des Ich-Du auf Teilbereiche menschlicher Existenz wie etwa ›das Psychische‹. Die ›Sphäre des Zwischen‹ bezeichnet Buber selbst als eine »Urkategorie der menschlichen Wirklichkeit« (W I, 405). Dieser eigene Bereich des Miteinanders ist für ihn keine Verlegenheitslösung, sondern »wirklicher Ort und Träger zwischenmenschlichen Geschehens« (W I, 405), auch wenn er nicht ›greifbar‹ ist, da es sich schließlich nicht um ein räumlich gedachtes Areal handelt. In der philosophischen Tradition ist das Zwischen nach Buber auch gerade deshalb so wenig beachtet worden und im alltäglichen Bewusstsein der Menschen ist es so wenig präsent, weil es nicht die Beständigkeit einer überschaubaren Ordnung bietet und selbst in keine Ordnung eingefügt werden kann, sondern sich immer wieder neu konstituiert. Indem Buber diesem beständig neu sich bildenden ›Bereich‹ den Vgl. zum Zwischen als »ontologischer« bzw. »ontischer« Sphäre W I, 404 ff. Vgl. DP 9, 18 f., 41, 82 f., 100 f. und 121. Siehe auch DP 192 und 207. Auch schon im Text zur »Verseelung der Welt« sucht Buber nach einem dritten Weg neben Psychologismus und Kosmologismus. Seine vorsichtigen Vorschläge: »pneumatische Wirklichkeit« sowie »Ontologismus«; siehe NL 149. Dabei deutet sich die Bestimmung der ›Subjektivität‹ aus dem Zwischen schon an, wenn Buber behauptet, Seele und Geist seien »nicht ichhaft zu verstehen«, sondern allein »aus der Beziehung zwischen Ich und welthaftem oder nicht welthaftem Sein« (NL 151). 180 Vgl. zur Begrifflichkeit des »Dritten« W I, 404 und 406. 178 179

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Primat innerhalb der Beziehung zwischen dem Ich und dem Du einräumt, lässt er – das ist die eigentliche Pointe – nun beide Partner der Begegnung als solche aus dem Zwischen ›entspringen‹. Das Zwischen stellt sich nach Buber nicht nachträglich ein, wenn ein ›fertiges‹ Ich und ein ›fertiges‹ Du einander begegnen, sondern das Ereignis des Zwischen bestimmt beide erst als Ich eines Du, das zugleich Du eines Ich ist. Beiden Seiten wird so die Macht über den Partner entzogen, weil sie beide in gewissem Sinne konstituiert sind durch das Zwischen, wobei dieses andererseits auch nicht möglich wäre ohne die beiden Pole der Beziehung. Das Zwischen ist demnach weder eine Barriere, die Ich und Du vollkommen voneinander trennt, es hat aber auch keine harmonisierende, die grundsätzliche Spannung zwischen Ich und Du neutralisierende Funktion. Nach Waldenfels stellt die richtig begriffene Zwischenwelt eine Sphäre dar, »in der Eigenes und Fremdes sich verflechten, verknäulen, ineinandergreifen, ohne sich […] zu decken, aber auch ohne sich völlig voneinander zu lösen« 181 .

3.4 Das Eigen-wesen als ›Annexion‹ und das Zwischen als machtfreie Zone Nach der Herausstellung der Grundgedanken des buberschen Dialogismus sollen diese nun daraufhin befragt werden, inwieweit sie einen tatsächlichen Neuansatz bei der Fassung des menschlichen Weltverhältnisses darstellen. Dabei wird erstens eine tiefere Interpretation der Ich-Es- und Ich-Du-Relation im Hinblick auf das diese Untersuchung tragende Leitmotiv Heimkehr vs. Aufbruch erfolgen; zweitens wird Bezug genommen auf die Ergebnisse der Heidegger-Analyse im vorigen Kapitel, um den Stellenwert des buberschen Ansatzes für den Versuch einer Überwindung des Denkens vom Subjekt her zu beurteilen. Wenn das Ich-Es als kritische Auseinandersetzung mit dem klassischen Subjekt-Objekt-Schema gelesen werden kann, dann beschreibt es ein Verhältnis, welches durch Heideggers Konzeption des In-derWelt-seins überwunden werden soll. In der Tat treten zentrale Übereinstimmungen zwischen Heideggers Daseinsbegriff und Bubers Verständnis der Person als dem Ich der Begegnung sogleich hervor: Dasein existiert, d. h. es ist kein mit ›Eigenschaften‹ versehenes Vorhandenes, 181

Waldenfels 1994, 477.

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

sondern eine Weise zu sein – ein Wer. Die Person ist in ihrem Selbstverhältnis im Gegensatz zum Eigenwesen ebenfalls nicht bezogen auf feststehende Eigenschaften seiner selbst, noch ist sie überhaupt bestimmbar als ein ›Was‹, sondern sie ›ist‹ nur als oder im Vollzug der Begegnung. Es zeigt sich somit deutlich, was Bubers und Heideggers Konzeptionen grundsätzlich eint: Person und Dasein sind beides Gegenkonzepte zur Fassung des Menschen als »Ichsubstanz« (SZ 322). Andererseits wurde gezeigt, dass Dasein als Welt vor-sorgendes Seiendes durchaus noch gewisse Merkmale des neuzeitlichen Subjekts – als das die ›vorgestellte‹ Welt ›Tragende‹ – aufweist: Das vorangegangene Kapitel 2 hat die Dynamik des In-der-Welt-seins als ein Haushalten in umfassendem Sinne interpretiert, als ontisch-existenzielles Einrichten einer existenzial-ontologisch vor-geordneten Welt (wobei der Akzent sowohl auf dem ›vor‹ als auch auf dem ›geordnet‹ liegt). Die Diskussion um die ›Freigabe‹ und die Stellung des Anderen als Mitdasein wiesen eine deutliche ›Zentrierung‹ auf das besorgende jemeinige Dasein auf, dem alles andere Seiende in einer fundamentalen Weise nahe oder potentiell näherbar ist. Deshalb wurde Dasein schließlich als kosmopolitisch in ontologischem Sinne bezeichnet, weil es sich ›überall‹ auskennt bzw. prinzipiell beruhigende Kenntnis – als Überwindung des nur auf den ersten Blick Fremden – erlangen kann. 182 Sicherheit und Strukturiertheit der Welt im Sinne eines vertrauten Wohnbaus sind wesentliche Merkmale der Eswelt. Bereits in Daniel von 1913 unterschied Buber zwei Grundhaltungen des Menschen, nämlich das »Orientieren« oder »Einstellen« und das »Realisieren« oder »Verwirklichen«. Buber betont später, dass diese beiden Haltungen sich im Wesentlichen mit den Grundworten aus Ich und Du deckten. 183 Tatsächlich erweist sich die Beschreibung der Welt der Orientierung in Daniel als nahezu deckungsgleich mit der Charakterisierung 182 Theunissen deutet Bubers Dialogik – vor allem die Aufweisung des Zwischen – als »Absprung von dem transzendentalphilosophischen Boden«, den »trotz aller Korrekturen und Modifikationen« auch Heidegger nicht verlassen habe; vgl. Theunissen 1977, 261. Siehe in diesem Zusammenhang auch die Hypothese Heideggers, das Sein des Daseins könne möglicherweise als das »›Zwischen‹ Subjekt und Welt« (GA 20, 347) bezeichnet werden; Heidegger bringt diese Beschreibung vor dem Hintergrund eines möglichen Festhaltens an den Begriffen ›Subjekt‹ und ›Welt‹ (als Objektzusammenhang) vor. Weil er Da-sein-in-einer-Welt aber gerade nicht als Zusammentreffen von Seiendem denken will, verwirft er die Konzeption eines solchen ›Zwischen‹ sogleich wieder; vgl. GA 20, 347. 183 Siehe DP 309.

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der Eswelt in Ich und Du: Die Dinge werden in einen räumlich-zeitlich strukturierten »Zusammenhang der Erfahrung« eingeordnet, sie müssen sich »Formen und Gesetzen« fügen, werden ins »Gefüge und Getriebe« eingestellt. 184 Bemerkenswert und für die tiefere Interpretation des Ich-Es sowie den Vergleich mit Heidegger äußerst aufschlussreich ist das Bild, welches Buber in Daniel zur metaphorischen Beschreibung des Orientierens wählt: Es sei ein ›Messen‹, ›Benennen‹ und ›Registrieren‹ der bzw. einer jeden »terra incognita« (MBW I, 201): »Sich auskennen – das ist der Schlüssel zu Rettung und Heil, ist Sicherheit selbst.« (MBW I, 209) So skizziert Buber mit der Beschreibung des Ich-Es die konkrete Umwelt als ein dem Ich zu Füßen liegendes Land, dessen einzelne Orte mit der entsprechenden Karte – dem vorgegebenen Ordnungssystem im Sinne der ›Weltlichkeit‹ der Eswelt – einem sicherheitsbedürftigen Einwohner stets zugänglich sind. Dabei wird diese Zugänglichkeit von Buber ganz deutlich als eine ›Herrschaft‹ des Ich über die Gegenstände präsentiert. Indem er das Ich der Eswelt als auf die dargebotenen Gegenstände zugreifendes, über sie verfügendes charakterisiert, präsentiert er das Sein des Eigenwesens als ein – verbal verstandenes – Eigenwesen und dieses als einen Akt der – gewaltsamen – Aneignung: Im Ich-Es ist die Welt »dein Gegenstand, sie bleibt es nach deinem Gefallen« (DP 35). In der Erfahrung rufe das Eigenwesen die Dinge »zur Ordnung« (DP 37 f.). Das »abgelöste Ich« trete »an all das ›Es für sich‹ hin« und »bemächtigt sich seiner« (DP 33). Das Eigenwesen »setzt sich gegen das Andere ab und sucht so viel davon als es kann in Besitz zu nehmen, durch Erfahren und Gebrauchen« (DP 67). Erkenntnis im IchEs beschreibt Buber zudem als ›Welteroberung‹. 185 So stellt Buber vor Heidegger und Lévinas die praktische Dimension der epistemologischen Deutung des sich selbst wissenden, d. h. zu eigen habenden ›Subjekts‹ als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis klar heraus: 186 ›Gegenstände‹ als solche sind Gehabtes, ›EigenVgl. MBW I, 193. Vgl. DP 43. 186 Vgl. zu dieser These Theunissen 1977, 262. Neben Buber hat vor allem Grisebach die Dimension der ›Herrschaft‹ an der traditionellen Bestimmung des Ich ent-deckt; vgl. Grisebach 1928, 51, 121, 233, 320 f., 474 und 550. Zu Lévinas’ Deutung siehe vor allem folgende aufschlussreiche Auseinandersetzungen mit der Struktur der Intentionalität: Emmanuel Lévinas, »Das nicht-intentionale Bewußtsein«, in: ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, aus dem Franz. übers. von Frank Miething, 184 185

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tum‹ des sich ihrer bemächtigenden Ich. Die mitunter von Buber nicht ausdrücklich reflektierte Gleichsetzung von erfahrendem Subjekt – im transzendentalphilosophischen Sinne – und selbstverliebtem Individuum, das seine Eigenarten und seinen Besitz auflistet, lässt sich als Ausdruck eben dieser praktischen Dimension lesen. 187 Die Rückbindung der Gegenstandswelt an die ›Eigensphäre‹ des Ich macht aber deutlich, dass die ›Landeinnahme‹ des Eigenwesens gerade nicht als Entdeckung vollkommen neuer Bezirke gedacht wird. Die Annexion der Objektwelt ist nicht Auszug in fremde Länder, weil es radikal fremde Länder nach der Konzeption des Ich-Es gar nicht gibt. Das Eigen-wesen ist seinem Wesen nach Heimkehr. Die Dynamik des Eigen-wesens als eines Tätigseins besteht in einer Ausdehnung der Heimsphäre, so dass der objektivierende Feldstecher auch den letzten Außenbezirk noch erreicht, um ihn sich ausdrücklich ›zu eigen zu machen‹. Buber selbst beschreibt die Es-Erfahrung schließlich als ein ›Befahren der Dinge‹. Vor dem Hintergrund eines weltentwerfenden Subjekts erinnert das Ich in diesem neugierigen In-die-Dinge-Hineinstürmen an einen Forschungsreisenden, der auf einem abgekoppelten Gleisbereich seine Kreise zieht und immer nur das sieht, was er schon kennt. »Ich kann in keine andere Welt hineinleben, hineinerfahren, hineindenken, hineinwerten und -handeln als die in mir und aus mir selbst Sinn und Geltung hat.« (CM 22) – So charakterisiert Husserl die transzendentale Subjektivität in den Cartesianischen Meditationen. Das hier im Bild des In-sich-selbst-Kreisens aufgezeigte Moment der ›Rückbezogenheit‹ jedes gegenwärtigen Entdeckens wird zudem unterstützt durch die spezifische Zeitlichkeit des Ich-Es, durch ihre Vergangenheitsbezogenheit. Jedes Hinaus in die Welt verweist zurück auf das Ich, jeder Blick in die ›verseelte‹ Welt ist letztlich ein Blick in den München/Wien 1995, 154–166 (der Sammelband wird im Folgenden zitiert als ZU) sowie Emmanuel Lévinas, »Vom Einen zum Anderen«, in: ZU, 167–193. Hier heißt es, die Intentionalität sei »konkret Erfassen, Wahr-Nehmung und Be-Griff, in jeder Erkenntnis angelegte Praxis, frühreife Andeutung ihrer Anwendung in Technik und Konsum« (ZU 174). Zu Heideggers Kritik am neuzeitlichen Subjekt als des ›Herrschers‹ über die Welt und der damit verbundenen Metaphysik- und Technikkritik, die sich erst in den 30er Jahren herausbildet, siehe die Ausführungen in Teil II dieses Vergleichs. 187 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die These Bubers, dass die Eswelt beständig zunähme. Zwar konzipiert er nicht ausdrücklich eine entsprechende Geschichtsdeutung, welche das Ich-Es als spezifisch neuzeitliche Weltbeherrschung mit fortschreitender Technisierung begreift, doch lassen sich seine Äußerungen durchaus in dieser Hinsicht lesen; vgl. etwa DP 40.

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Spiegel. 188 Und der begegnende Andere – ist er eingefangen in meinen vorhergehenden Entwurf von Welt, ist er mir durch ein fundamentales ›Verständnis‹ meinerseits immer schon ursprünglich vertraut – entpuppt sich als mein Doppelgänger. 189 Dieser Vereinnahmung stellt Buber mit dem Du-Ich ein Konzept von Subjektivität entgegen, das in einem radikalen Verzicht auf Macht, auf Herrschaft über die Welt und die anderen begegnenden ›Iche‹ besteht. Buber möchte, das wurde deutlich, diesen Verzicht aber nicht in einer Unterlegenheit des Ich sehen – dem Forschungsdrang des Eigenwesens wird nicht die totale Passivität des Abwartens entgegengestellt, denn die bubersche Person – so jedenfalls die Konzeption von Ich und Du – verlässt das Zuhause im Sinne der sicheren Heimstatt. Es geht aus zum Du und seiner ›Welt‹ als einer ›terra incognita‹, die unvermessen und unverplant bleibt – d. h. es zieht nicht aus, um einer festumrissenen Berufung, einer Aufgabe, einem Projekt zu folgen. Der ›Ausziehende‹ oder ›Aufbrechende‹ soll im vor ihm Liegenden ja nichts sehen, was er auf Vergangenes rückbeziehen könnte, um es ›einzuordnen‹. Das Unerkanntbleiben des Du – seine ›wesentliche‹ Andersheit – denkt Buber jedoch auch nicht als radikale Abgetrenntheit vom Ich, als vollkommene Nicht-Zugänglichkeit. Vielmehr weist das Ich-Du eine Spannung zwischen Fremdheit und Vertrautheit auf, so dass dem Eigen-wesen als Heimkehr zwar der Auszug in ein tatsächlich fremdes Land entgegengesetzt wird – in diesem Ausziehen liegt aber durchaus auch das Aussein auf eine spezifische Annäherung, die im Ich-Es aufgrund der Machtverhältnisse gar nicht aufkommen kann. 190 Ist Subjektivität im Ich-Du das nicht-vereinnahmende Ausgehen auf das Andere und kommt dieses der Person ebenso entgegen – Beziehung ist Gegenseitigkeit –, dann stellt sich als die eigentlich machtfreie Zone der Be188 Das Bild des ›Spiegels‹ oder der ›Spiegelung‹ ist ein in Bubers Werk vielfach wiederkehrendes Motiv, siehe etwa die Ausführungen zu den »Spiegel-Monologisten« (DP 181 f.). 189 Zum Doppelgängermotiv, welches Buber selbst im Zusammenhang mit seiner Kritik am ›Psychologismus‹ gebraucht, siehe NL 156 sowie DP 72 f. 190 Siehe Bubers Beschreibungen des Verzichts auf Orientierung im Daniel-Dialog »Von dem Sinn«. Geschildert wird die Situation eines Wanderers, der in eine ihm fremde Stadt kommt: »Er begehrt nicht, sich auszukennen« (MBW I, 210), »er liebt die Gefahr«, er »will nicht wissen, woran er sei; wie könnte er auch, da er ja nicht stetig am Gleichen ist, sondern ewig am Neuen« (MBW I, 211). Dabei hebt Buber hervor, dass der Wanderer in einer Spannung zwischen Heimlich- und Unheimlichkeit steht; vgl. MBW I, 211.

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reich dar, an dem beide teilhaben, der aber von keinem der beiden Partner besetzt wird: das Zwischen. Dieser ›dritte Ort‹ lässt sich per se nicht einnehmen – in ihm kann es sich keiner, der in die Begegnung involviert ist, häuslich einrichten, weil es niemandem ›gehört‹, obgleich beide an ihm mitschaffen. Liest man Heideggers Konzeption des In-Seins als Beschreibung eines Zuhauseseins in einer Welt, welche mir das Begegnende als zur Bearbeitung und Nutzung, Beobachtung und Beschreibung zugängliches präsentiert und den Anderen als – existenzialen – ›Mitspieler‹ bei diesen Unternehmungen begreift, so lassen sich Bubers Charakterisierung des Eigen-wesens und Heideggers Bestimmung des Daseins durchaus miteinander in Beziehung setzen. Denn auch wenn Heidegger sich mit seiner Konzeption der Sorge deutlich von Husserls Intentionalitätskonzeption absetzen will und vor allem in den frühen Freiburger Vorlesungen immer wieder betont, dass faktisches Dasein sich nicht distanzierten Objekten gegenüberstelle, so liegt die Abgrenzung gegenüber Husserl doch vor allem in einer Überwindung eines am theoretischen Bezug auf Gegenstände orientierten Seins zur Welt. 191 Eine tatsächliche Irritation oder Aufsprengung des Sichbeziehens auf die Welt im Sinne eines Zutunhabens mit etwas, dies wird vor allem im nächsten Abschnitt noch deutlicher werden, findet bei Heidegger nicht statt. Es fällt jedoch auf, dass Heideggers eigene Beschreibung des Man als uneigentlichem Selbst-sein deutliche Parallelen zur Charakterisierung des Ich der Es-Sphäre aufweist. Nach Heidegger sagt das Manselbst »am lautesten und häufigsten Ich-Ich, weil es im Grunde nicht eigentlich es selbst ist« (SZ 322). In der Welt des Man präsentiert es seine vermeintliche ›Persönlichkeit‹ so geschäftig redend, dass die überlaute Selbstbehauptung eher auf eine Selbstverlorenheit raten lässt; das Man-selbst strebt so offenkundig nach Bestätigung – sei es durch besonders interessante Aktionen oder durch eine Anpassung an den Status der ›Normalität‹ –, wie das Eigenwesen sich auf sein ›Mein‹ fixiert. Bedenkt man nun noch, dass diese alltägliche Selbstvergessenheit des Daseins nach Heidegger gerade den Boden für philosophische Be191 Das Zuhandene ist zwar nicht distanziert wie ein Objekt, aber dennoch das mir im Gebrauch stets Zugängliche, weshalb Buber es wiederum dem Ich-Es zuordnen würde. So wirft er Heidegger schließlich selbst vor, dass dieser nur ein »technisches, zweckhaftes« Verhältnis zu den Dingen kenne; vgl. W I, 375.

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Buber: Der zwiefältige Weltbezug des Menschen

stimmungen des Ich als weltloser Substanz darstellt, 192 wird die Ahnung geweckt, dass es im Besonderen die gesteigerte Vertrautheit der Heimeligkeit des Man sein könnte, welche durch Bubers Analyse des Eigen-wesens getroffen wird. Möglicherweise lässt Heideggers Interpretation des eigentlichen Selbstseins – der Selbstdurchsichtigkeit des Daseins in seiner eigensten Existenz – eine Nähe zum Ich-Du aufscheinen, welche einen differenzierteren Vergleich zwischen beiden Konzeptionen ermöglicht. 193 Dennoch scheint Bubers Ansatz – soweit dies bis jetzt beurteilt werden kann – mit der Konzeption der machtfreien Zone des Zwischen eine ›radikalere‹ Ablösung von der Fixierung auf das welt-entwerfende Subjekt zu realisieren als Heideggers Denken in der Phase um Sein und Zeit. Doch birgt Bubers Konzeption Probleme und Unstimmigkeiten in sich, welche zeigen, dass auch er Schwierigkeiten bei der Überwindung des neuzeitlichen Subjektivitätsprinzips hat bzw. dass sein Versuch neue Fragen aufwirft. Problematisch ist – wie bereits gezeigt wurde –, dass er überhaupt das Ich-Es als einen tatsächlichen Weltzugang präsentiert, der eines der beiden möglichen Weltverhältnisse des Menschen ausmachen soll. Die Behauptung, die ›Dinge‹ seien uns im alltäglichen Nehmen als ›Summen von Eigenschaften‹ gegeben, reiht sich unter eben die künstlichen, konstruierenden Beschreibungen von ›Gegenstandswahrnehmungen‹ ein, die Heideggers Analyse des Zuhandenen überzeugend als solche entlarvt. Durch die Einbindung der Ich-EsSphäre wird die Gesamtkonzeption des zwiefältigen Weltbezugs somit von vornherein ›schief‹, weil Buber nicht behauptet, Bewusstsein sei in der traditionellen Fassung generell missverstanden, sondern Bewusstsein sei sowohl als auch ›Sichrichten auf …‹ und ›Teilnahme an …‹. Zudem ist die im ersten Absatz von Ich und Du behauptete radikale Scheidung zwischen Ich-Du und Ich-Es insofern problematisch, als sie die Frage aufwirft, wie das Hin und Her zwischen diesen einander entgegengesetzten Bereichen zu denken sei: Von welchem übergeordneten Verständnis von Ich und Welt aus lässt sich das Einanderabwechseln der Zustände aufweisen? Buber behilft sich hier, indem er auf tra192 § 64 in Sein und Zeit führt die Genese der philosophischen Verkennung des faktischen Daseins vor. 193 Der möglichen Nähe zwischen Person und eigentlichem Selbst wird in der Interpretation des Gewissensrufes als dem Aufruf zum eigentlichen Selbst-sein nachgegangen (Abschnitt V).

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Das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹

ditionelle Konzeptionen zurückgreift, ohne sie näher zu erläutern oder gar kritisch zu prüfen. So heißt es zur Zwiefältigkeit des Ich: »Ob in der Beziehung lebend, ob außer ihr, das Ich bleibt sich verbürgt in seinem Selbst-Bewußtsein, dem starken Goldfaden, an dem sich die wechselnden Zustände aufreihen.« (DP 64) Der Rückgriff auf das Selbstbewusstsein soll demnach die Vorstellung eines vollkommen zerrissenen Ich abweisen, scheint aber – dies legt seine knappe und lapidare Erwähnung nahe – eher eine Verlegenheitslösung zu sein. Zudem scheint so die Du-Es-Unterscheidung selbst noch einmal überwölbt zu werden von einer Konzeption von Ichhaftigkeit und Weltlichkeit, die sich an der traditionellen Auffassung orientiert, welche im Ich-Es gerade kritisiert wird. An anderen Stellen weicht Buber jedoch selbst die starre Trennung zwischen Ich-Du und Ich-Es auf und behauptet einen Wechsel von Aktualität und Latenz der Begegnung – eine These, welche in die Richtung der sich ohnehin andeutenden Favorisierung der echten Beziehung gegenüber der Erfahrung weist. So heißt es an zentraler Stelle, das Es sei die »Puppe«, das Du der »Falter«, wobei es »nicht immer Zustände sind, die einander reinlich ablösen, sondern oft ein in tiefer Zwiefalt wirr verschlungenes Geschehen« (DP 21). Auch behauptet Buber, die Liebe halte sich im »Wechsel von Aktualität und Latenz« (DP 100). 194 Betrachtet man allein die Charakterisierung des Ich-Du, dann lassen sich jedoch auch hier deutliche Schwierigkeiten in der Konzeption aufweisen: Aufgrund der Negation des Zugriffs eines Ich auf geordnete Welt droht in der Herauslösung des Du aus jeglichen Strukturen ein beständiger ›Weltverlust‹ in der Begegnung. Die nähere Untersuchung der spezifischen Ausprägung von Subjektivität in der Begegnung verwies zudem auf die nicht vollkommen gelungene Ablösung von der Konzeption der Intentionalität. Zwar bietet das Zwischen die Möglichkeit, dem Ich eine Konstitution des Du endgültig abzusprechen, doch drängt sich hier immer noch die Frage auf, wie das Zwischen zustande kommen soll, wenn nicht ein Ich auf ein Du zugeht – oder ein Anderer auf mich – und die Beziehung eröffnet. 195 194 Ebenso legt die Annahme einer mehr oder weniger vollkommenen ›Wirklichkeit‹ den Gedanken nahe, dass es sich bei den meisten Beziehungen zwischen Ich und Welt um ›Mischformen‹ von Erfahrung und Begegnung handelt: »Die Teilnahme ist um so vollkommener, je unmittelbarer die Berührung des Du ist.« (DP 66) 195 So fragt Fassbind, ob das Grundwortsprechen nicht zwangsläufig »in einem nirgendwo zuzuweisenden Bereich« stehen bleibe, wenn das ›Ich‹ in seiner konkreten Realisie-

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Die Darstellung des In-der-Welt-seins bei Heidegger hat sich bislang am grundlegenden Konzept des In-Seins als eines Vertrautseins mit Welt orientiert. Welt wurde dabei mit Heidegger als eine Verweisungsganzheit, eine Bezugsmannigfaltigkeit begriffen. Wie genau – in welchen konkreten ›Weisen‹ – sich dieses In-Sein ausgestaltet, thematisiert Heidegger in seinen differenzierten Analysen der Erschlossenheit des Daseins: in den Interpretationen von Befindlichkeit, Verstehen und Rede/Sprache. Vor allem das Existenzial des Verstehens stand bislang – sowohl in den Ausführungen zum heideggerschen Philosophiebegriff als auch zum Verhältnis von Dasein und Welt – beständig im Hintergrund: Dasein ist dadurch ausgezeichnet, ein Seinsverständnis zu haben. Zudem zeigte die Weltlichkeitsanalyse, dass nach Heidegger Bedeutungen »die Seinsstruktur der Welt« (GA 20, 286) bilden – die ›Dinge‹ sowie anderes Dasein begegnen stets aus einer sinnhaften Welt her. Damit verweist das Verstehen jedoch unmittelbar auf das Phänomen Sprache: Ist das Bedeutende, welches im Besorgen als solches verstanden ist, nicht immer schon ›benannt‹ oder stets potentiell benennbar? Wenn Dasein ursprünglich Mitsein ist, muss dann Welt als Bedeutungsganzes nicht wesentlich durch sprachliche Artikulation mit Anderen stets schon geteilt sein? Eine eingehende Interpretation des befindlich-verstehend-redenden Da-seins im Sinne Heideggers und der Auffassung von Sprache im Rahmen der dialogischen Konzeption Bubers sollen im Folgenden den Vergleich der beiden Entwürfe weiterführen und vertiefen.

rung als Person erst durch die eröffnete Beziehung zu existieren beginnt, vgl. Fassbind 1995, 35.

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Abschnitt III: Die Bestimmung und Rolle von Sprache

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Heidegger: Sprache als eine Weise des In-Seins

1.1 Da-sein als Erschlossenheit Die drei konstitutiven Weisen des In-Seins – Befindlichkeit, Verstehen und Rede – präsentiert Heidegger in Sein und Zeit als konkrete ›Ausgestaltungen‹ der Erschlossenheit des Daseins. Somit präzisiert er die Bedingung der Möglichkeit des Begegnens von innerweltlich Seiendem: Dieses kann als Seiendes nur insofern zugänglich sein, als sein Hier- und Dort-sein durch ein welterschließendes Da-sein ermöglicht wird. In der Einleitung in die Philosophie heißt es: »Im Sein bei … und als solches bringt das Dasein gerade allererst so etwas wie einen Umkreis von Offenbarkeit mit sich« (GA 27, 136). Sein ›Da‹ wird dem Dasein nach Heidegger also ausdrücklich nicht von einem anderen Seienden her vorgegeben, 1 sondern: »Das Dasein bringt sein Da von Hause aus mit, seiner entbehrend ist es nicht nur faktisch nicht, sondern überhaupt nicht das Seiende dieses Wesens. Das Dasein ist seine Erschlossenheit.« (SZ 133) 2 Zur Verbildlichung3 dieser existenzial-ontologischen Struktur des Daseins greift Heidegger auf die traditionelle Rede vom »lumen natuHeidegger präsentiert Da-sein hier allerdings auch (noch) nicht als ein Stehen in der Offenheit des Seins. 2 Vgl. den entsprechenden § 28 in den Prolegomena, wo der Terminus ›Erschlossenheit‹ noch nicht die Bedeutung hat wie in Sein und Zeit, nämlich die eines Existenzials. In den Prolegomena gebraucht Heidegger hier den Begriff der ›Entdecktheit‹, während die Erschlossenheit eher eine Bestimmung der Welt zu sein scheint; vgl. GA 20, 348 ff. 3 Er spricht von der »ontisch-bildlichen Rede vom lumen naturale« (SZ 133); vgl. auch GA 20, 411 f. In seinem Beitrag zu Heideggers Bezugnahme auf das ›lumen naturale‹ meint Strube, die Rede sei nicht metaphorisch, sondern zeige einen grundlegenden Phänomenzusammenhang auf. Zur Erläuterung geht er auf die wesentlichen Stationen der europäischen Lichtmetaphysik zurück; vgl. Claudius Strube, »Die existenzial-onto1

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rale« im Menschen zurück: Da-sein meine, selbst ein Licht bzw. eine »Lichtung« (SZ 133) zu sein. Da-sein spendet nach dieser Charakterisierung von sich selbst her die Helle für die Sichtbarkeit des andersartig Seienden. Heideggers nähere Thematisierung des In-Seins geht also einher mit einer intensiven Bezugnahme auf das Begriffs- und Metaphernfeld des Lichtes bzw. des visuellen Bereichs überhaupt. Übernimmt man diese bildliche Rede, ließe sich sagen: Da-sein heißt Sehenkönnen, Sichthaben – und zwar in existenzial-ontologischem Sinne. Heidegger selbst erklärt die begriffliche Ausrichtung seiner Konzeption am Visuellen folgendermaßen: Für die existenziale Bedeutung der ›Gelichtetheit‹ des Daseins sei »nur die Eigentümlichkeit des Sehens in Anspruch genommen, daß es das ihm zugänglich Seiende an ihm selbst unverdeckt begegnen läßt« (SZ 147). Die Tradition der Philosophie habe von Anfang an primär das Sehen als Zugangsart zu Seiendem und zu Sein betrachtet und diesen Zusammenhang möchte Heidegger wahren, indem er Sicht und Sehen ›formalisiert‹, um einen allgemeinen Begriff für jeden Zugang zu Seiendem und Sein zu gewinnen. 4 Diese Charakterisierung der Erschlossenheit als eines Sichthabens erinnert jedoch unmittelbar an Heideggers Bestimmung des lgo@ in § 7. Dort wurde die apophantische – aufzeigende – Rede schließlich als ein Sehenlassen vorgestellt und Rede im Rückgang auf Aristoteles generell als ein Offenbarmachen (dhlo‰n) gedeutet. Der lgo@ wird nun erneut – jetzt als eine der drei Erschlossenheitsweisen – thematisiert, wobei Heidegger die Ausführungen zur Rede allerdings zum Schluss präsentiert. Die ersten Paragraphen zum In-Sein (§§ 29–31) widmen sich den zwei anderen, mit der Rede gleichursprünglichen 5 Weisen der Erschlossenheit: Dasein existiert zugleich immer als gestimmtes, verstehendes, redendes. Die augenscheinliche Nähe zwischen der Erschlossenheit überhaupt und dem lgo@ auf der einen Seite und die späte Sichtung des Phänomens Sprache auf der anderen Seite kann durchaus als Ausdruck einer grundlegenden Zwiegespaltenheit der heideggerschen Sprachlogische Bestimmung des lumen naturale«, in: Heidegger Studies, Volume 12 (1996), 109–119. 4 Vgl. SZ 147. Siehe zur Lichtmetaphorik und zur abendländischen Tradition einer Präferenz des Sehens auch SZ 170 f. sowie GA 20, 379. 5 So heißt es: »Die Rede ist mit Befindlichkeit und Verstehen existenzial gleichursprünglich.« (SZ 161) Andererseits behauptete Heidegger zuvor: »Befindlichkeit und Verstehen sind gleichursprünglich bestimmt durch die Rede.« (SZ 133)

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betrachtung in Sein und Zeit gedeutet werden. Einerseits spielt der lgo@ eine zentrale Rolle beim Erschließen von Welt als einer Bedeutungsganzheit, 6 andererseits neigt Heidegger – wie sich noch zeigen wird – dazu, der Sprache im Sinne der tatsächlich ausgelauteten Wortganzheit eine hervorragende Bedeutung für das In-der-Welt-sein abzusprechen. Die besonders eingehende Thematisierung des Geredes als der uneigentlichen Rede legt sogar nahe, dass Kommunikation vornehmlich als ein ›Verfallsphänomen‹ zu betrachten sei. So behauptet Stassen treffend: »Wenn man ›Sein und Zeit‹ direkt nach dem ontologischen Ort der Sprache befragte, würde die Antwort notwendig in ein Paradoxon gekleidet werden müssen: überall und nirgends.« 7 Die Frage, welcher Status der Sprache in Sein und Zeit zukommt, ist dementsprechend eine der meistdiskutierten bezüglich dieses Werks. 8 Die hier vorgenommene Interpretation der heideggerschen Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Stelle aus Die Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (1924), wo Heidegger von der Erschlossenheit von Welt spricht und letztere im Anschluss an seine Aristoteles-Interpretation mit dem Haben des lgo@ identifiziert; vgl. GA 18, 52. Siehe zur Bedeutung des lgo@ für das ›Haben‹ einer Welt auch die Ausführungen in Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/30). Heidegger hebt hier hervor, dass allein der Mensch Zugang zu Seiendem als Seiendem habe. Somit sei allein der Mensch »weltbildend«, das Tier hingegen »weltarm« – denn Welt sei die »Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen« (GA 29/30, 412). Dem Tier sei eben diese Zugänglichkeit von Seiendem als Seiendem verwehrt, weil es keinen lgo@ habe. 7 Manfred Stassen, Heideggers Philosophie der Sprache in »Sein und Zeit« und ihre philosophisch-theologischen Wurzeln, Bonn 1973, 48. 8 So behauptet Gadamer, Heidegger habe mit seiner hermeneutischen Ausrichtung innerhalb der Phänomenologie »das zum Durchbruch« gebracht, »was als der ›linguistic turn‹ in der angelsächsischen Logik fast gleichzeitig zum Zuge gelangte«; vgl. Hans-Georg Gadamer, »Destruktion und Dekonstruktion«, in: ders., Gesammelte Werke. Band 2: Hermeneutik II: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, 2., durchges. Aufl., Tübingen 1993, 361–372, hier: 361. In »Aus einem Gespräch von der Sprache« deutet Heidegger an, dass der Bezug zwischen Sprache und Sein schon das – von ihm selbst noch nicht erkannte – Grundthema von Sein und Zeit gewesen sei; vgl. US 93 ff. In seinem Vorwort zur ersten Ausgabe der Frühen Schriften bemerkt er zudem, dass sich letztlich schon in der Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus die zentralen Fragen nach dem Sein und der Sprache gemeldet hätten; vgl. GA 1, 55. Als für die Diskussion um die Sprachauffassung in Sein und Zeit relevante Forschungsbeiträge seien folgende ausgewählte Untersuchungen genannt: Karl-Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition von Dante bis Vico, Bonn 1963; Borchers 1997; v. Herrmann 2004; Hübner 2001; Cristina Lafont, Sprache und Welterschließung. Zur linguistischen Wende der Hermeneutik Heideggers, Frankfurt a. M. 1994; Jürgen Mittelstraß/Kuno Lorenz, »Die Hintergehbarkeit der Sprache«, in: Kant-Studien 58 6

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Sprachauffassung in Sein und Zeit sowie den diesen Text begleitenden Vorlesungen ist von zwei Kernfragen geleitet, die in einem so engen Bezug zueinander stehen, dass sie letztlich nicht voneinander getrennt behandelt werden können: 1) Welche Rolle spielt Sprache nach Heidegger überhaupt für das In-der-Welt-sein – eine eher marginale oder doch eine herausragende? 2) Wie bzw. als ›was‹ begreift Sein und Zeit Sprache? Das heißt: Wie radikal ist Heideggers Ablösung von der neuzeitlichen Bewusstseins- und Subjektphilosophie in Bezug auf die Thematisierung des Phänomens Sprache? Bevor Heideggers Ausführungen zur Sprache in Sein und Zeit ausführlich thematisiert werden, sollen jedoch möglichst knapp die beiden anderen Erschlossenheitsweisen – Befindlichkeit und Verstehen – vorgestellt werden. Schließlich lässt sich eine eingehende Betrachtung von Rede und Sprache bei Heidegger nicht angemessen durchführen, ohne diese Dreiheit konstitutiver Momente des In-der-Weltseins zu berücksichtigen.

1.2 Befindlichkeit und Verstehen Im existenzialen Sichbefinden gründet das im vorherigen Abschnitt dieser Arbeit schon näher thematisierte Von-der-Welt-her-angegangen-werden-Können des Daseins. Erst aufgrund einer existenzialen Gestimmtheit kann Dasein nach Heidegger überhaupt berührt und betroffen werden vom Begegnenden. In der Befindlichkeit als dem ontologischen Fundament jedes konkreten – ontischen – Sichbefindens im Sinne emotionaler ›Zustände‹ wie Furcht, Niedergeschlagenheit oder Freude ist Dasein »als das Seiende erschlossen, dem das Dasein in seinem Sein überantwortet wurde als dem Sein, das es existierend zu sein hat« (SZ 134). Der Gestimmtheit als solcher kann das Dasein nach Heidegger somit grundsätzlich nicht entfliehen: Es ist immer in dieser oder jener konkreten Weise gestimmt, auch wenn es sich in einer scheinbar emotionslosen, kühlen ›Rationalität‹ hält, auch wenn die Stimmung das (1967), 187–208; Rentsch 2003; Christian Stahlhut, Sprache und Ethos. Heideggers Wege zu einer wahrhaften Sprache, Münster 1986; Stassen 1973; Tietz 1995 sowie Albrecht Wellmer, Sprachphilosophie. Eine Vorlesung, hrsg. von Thomas Hoffmann u. a., Frankfurt a. M. 2004.

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indifferente Gefühl der Lustlosigkeit ist. Gerade in einer solch unbestimmten Unwilligkeit zeigt sich laut Heidegger das Sein des ›Da‹ in seiner ganzen Last, als eine schwere Bürde. Dasein werde hier vor das nackte ›Dass‹ seiner Existenz gebracht, vor das unumgängliche ›Dass es ist und zu sein hat‹. Ein ›Woher‹ oder ein ›Wohin‹ dieses Hineingeworfenseins in sein ›Da‹ blieben dem Dasein in der Gestimmtheit allerdings vollkommen rätselhaft. Diese »Faktizität der Überantwortung« (SZ 135) ist nach Heidegger in der Befindlichkeit demnach grundsätzlich erschlossen, auch wenn sie nicht ausdrücklich erkannt wird. Zumeist kehre sich das Dasein vom offenbarten Lastcharakter nämlich gerade ab, weiche auf existenziell-ontischer Ebene aus – etwa in der Heiterkeit als gehobener Stimmung. 9 Mit der Einbeziehung des Gestimmtseins in die existenziale Grundverfassung des Daseins setzt sich Heidegger demnach ausdrücklich ab von der Vorstellung eines die Welt in mehr oder weniger ›teilnahmsloser‹ Beobachtung erschließenden Subjekts. Außerdem verabschiedet seine Konzeption der Erschlossenheit letztlich die traditionelle Gegenüberstellung von Verstand oder Vernunft auf der einen und dem Gefühl auf der anderen Seite. 10 Die Pointe liegt bei Heideggers Erschlossenheitskonzeption schließlich darin, dass auch die theoria ihre eigene Befindlichkeit hat sowie jede Befindlichkeit Seiendes so oder so begegnen lässt und dabei auch jeweils ein spezifisches Verständnis in sich trägt. Gleichursprünglich mit der Befindlichkeit wird das ›Da‹ laut Heidegger somit durch das in der bisherigen Analyse immer schon vorausgesetzte Verstehen konstituiert. Verstehen als Existenzial meint hier allerdings nicht eine spezielle Art der Zueignung des Seienden, sonWährend in Sein und Zeit die Angst als die eigentliche Befindlichkeit thematisiert wird, kommt in Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/30) der Langeweile eine besondere Bedeutung zu. Obgleich Heidegger kein ›düsteres‹ Bild des Existierens entwerfen will, ist nicht zu übersehen, dass mit der Offenlegung des ›Lastcharakters‹ des Daseins eine Fokussierung auf die ›gedrückten‹ Stimmungen einhergeht. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine längere Passage aus der Einleitung in die Philosophie, wo Heidegger zwar betont, er wolle keine pessimistische Weltanschauung verbreiten, sich jedoch auch vehement gegen »die allgemeine Biederkeit und Nettigkeit des Daseins« ausspricht; vgl. GA 27, 327 und 336. 10 Somit bedeutet die Hervorhebung der Befindlichkeit keineswegs die Behauptung einer Irrationalität des In-der-Welt-seins. Vielmehr distanziert sich Heidegger von der traditionellen Begrifflichkeit und ihren Differenzpaaren generell; vgl. etwa SZ 136 und 138. 9

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dern vielmehr ein Existieren-können, ein Entwerfen-können des Daseins auf Möglichkeiten überhaupt. Heidegger orientiert sich also wesentlich an der Bedeutung von Verstehen im Sinne eines ›Sichverstehens-auf‹ und betont, dass allem Verstehen im engeren Sinne ein spezifisches ›Können‹ vorausgehe. In diesem existenzialen Verstehen findet nun die Welt als ein Bedeutungszusammenhang ihr Fundament: Das zugängliche Zuhandene ist als solches auf seine Funktion, sein Wofür hin entworfen, und es begegnet aus der immer schon vorentworfenen – d. h. vorverstandenen – Verweisungsganzheit heraus. Dieses grundlegende Verstehen, welches Dasein als Sinn erschließendes Seiendes auszeichnet, begreift Heidegger somit als existenziales Fundament aller konkreten Formen eines verstehenden Zugangs zur Welt wie etwa des Erkennens eines Sachzusammenhangs, des Entdeckens einer mathematischen Lösung oder des Interpretierens eines literarischen Textes. Das ursprüngliche Verstehen kann demnach – etwa als Ausgangspunkt eines möglichen theoretischen Erfassens der ›Dinge‹ – ausdrücklich werden. Als eine solche Aneignung des Verstandenen begreift Heidegger die Auslegung, welche die im Verstehen entworfenen Möglichkeiten eigens in die Sicht hebt – allerdings nicht im Sinne einer »Kenntnisnahme des Verstandenen, sondern [als] die Ausarbeitung der im Verstehen entworfenen Möglichkeiten« (SZ 148). Erst in einem dritten Schritt wird das in seinen Möglichkeiten Ergriffene schließlich nach Heidegger in einem Urteil, einer Aussage über das gesichtete Seiende, explizit bestimmt.

1.3 Auslegung und Aussage Mit den §§ 32 und 33 zu Auslegung und Aussage beginnt die ausdrückliche Annäherung an das Phänomen Sprache in Sein und Zeit. 11 Dass die »Weise des fundamentalen Seins des Menschen in seiner Welt ist, mit ihr, über sie, von ihr zu sprechen« (GA 18, 18) – wie es 1924 in den Grundbegriffen der aristotelischen Philosophie heißt –, scheint die Präsentation der Auslegung in Sein und Zeit auf den ersten Blick jedoch nicht zu behaupten. Bei der Analyse der Auslegung orientiert sich 11 Neben den Ausführungen in den Prolegomena sind die entsprechenden Paragraphen in Logik. Die Frage nach der Wahrheit für die Interpretation von Auslegung und Aussage zentral; siehe GA 20, 355 ff. sowie GA 21, 143 ff.

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Heidegger schließlich erneut an der Werkwelt, d. h. am umsichtigen Hantieren mit Zeug. Die Pointe seiner Thematisierung des auslegenden Verstehens liegt in einer Einsicht, welche schon die Umweltanalyse leitete: Weltverstehen vollzieht sich zunächst nicht in einem (theoretischen) Betrachten und Besprechen von Dingen, sondern vielmehr im direkten Umgang mit Zuhandenem. 12 Indem Heidegger nun aber ausdrücklich die spezifische Artikulation der Verweisungsganzheit ›Welt‹ thematisiert – ihre Gegliedertheit in der Struktur des ›etwas als etwas‹ – wiederholt er nicht einfach die schon früher formulierte Behauptung vom Primat eines pragmatischen Weltzugangs, sondern thematisiert eingehender die spezifischen Weisen, in denen bzw. durch die Welt als ein vertrautes Bedeutungsganzes erschlossen ist. Wie die Umweltanalyse bereits zeigte, wird im alltäglichen Ergreifen von Zuhandenem dieses ausdrücklich in seinem Um-zu verstanden. 13 Somit ist es nach Heidegger stets ausgelegt als ein bestimmtes Etwas: »Die primäre Form aller Auslegung als der Ausbildung des Verstehens ist das Ansprechen von etwas aus seinem ›Als-was‹ her« (GA 20, 360). Wenn ein Zeug etwa repariert wird, wird es als dieses oder jenes, zu diesem oder jenem Tun ›taugliches‹ Zuhandenes verstanden und bereits dieses einfache Umgehen mit dem Zeug ist nach Heidegger artikulierende Auslegung, ausdrückliches Verstehen von etwas als etwas. 14 Das sich hier zeigende fundamentale ›Als‹ nennt Heidegger Der grundlegende Ansatz, Erkenntnis bzw. propositionales Wissen in einem fundamentaleren praktischen Wissen gründen zu lassen, wurde in der Analytischen Philosophie – etwa von Taylor, Rorty, Dreyfus und Brandom – positiv rezipiert; siehe dazu exemplarisch die Beiträge in Essays in honor of Hubert L. Dreyfus (Volume 1: Heidegger, authenticity, and modernity; Volume 2: Heidegger, coping, and cognitive science), ed. by Mark A. Wrathall and Jeff Malpas, Cambridge Mass. 2000 sowie die Aufsätze in dem von Barbara Merker herausgegebenen Band Verstehen nach Heidegger und Brandom, Hamburg 2009. 13 Mit der erneuten Orientierung an der im Hantieren mit Zuhandenem erschlossenen Umwelt scheint wiederum Seiendes ausgeschlossen, das sich nicht auf ein eindeutiges und einfaches Um-zu reduzieren lässt wie das Werkzeug. Das ›Begegnen‹ eines Gemäldes oder Musikstücks lässt sich sicher nicht in der schlichten Struktur des etwas als etwas angemessen begreifen, weil diese Kunstwerke selbst einen – letztlich unendlichen – Deutungsprozess in Gang setzen und nicht in einem festgelegten ›Gebrauch‹ aufgehen. 14 Hingegen behauptet Hübner, dass die Auslegung nicht mit dem einfachen alltäglichen Umgang gleichzusetzen sei; vgl. Hübner 2001, 48 und 50. Er interpretiert die Auslegung vielmehr als eine erste Distanznahme, die sich etwa dann einstellt, wenn das Zeug nicht mehr reibungslos funktioniert. Allerdings gesteht er schließlich doch ein, 12

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das hermeneutische Als – es konstituiere im alltäglichen Umgang mit … eine jede ›Wahrnehmung‹ des Zeugs als Zeug. Heidegger proklamiert also ein ursprüngliches ›Ansprechen‹, das in jedem Umgang mit Zuhandenem liegt. Dabei betont er jedoch mehrfach – und seine Orientierung am Produzieren und Gebrauchen von Zeug legt dies bereits nahe –, dass sich die Auslegung schon im Modus des »vorprädikative[n] schlichte[n] Sehen[s]« (SZ 149) vollziehe, welches nicht eigens in einer Aussage formuliert werden müsse: »Die Artikulation des Verstandenen in der auslegenden Näherung des Seienden am Leitfaden des ›Etwas als etwas‹ liegt vor der thematischen Aussage darüber.« (SZ 149) Dieses ›schlichte Sehen‹ ist aber gerade kein neutrales Hinblicken auf Gegenstände, die in einem zweiten Schritt als dieses oder jenes bestimmt werden. Das konkrete Etwas begegnet – dies zeigte bereits die Umweltanalyse – schließlich immer aus einer schon vertrauten Bezugsganzheit heraus. Dementsprechend betont Heidegger, dass die Auslegung »nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen« (SZ 150) sei. Die basale Auslegungsstruktur sei vielmehr stets geprägt durch drei konstitutive Momente, welche eine grundlegende Vor-Struktur des Verstehens kennzeichnen: Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff. Die Vorhabe meint das Immer-schon-Gegebensein einer Bewandtnisganzheit, aus der her das konkrete Seiende begegnet. Die Vorsicht soll den Umstand bezeichnen, dass in der Auslegung das bestimmte Seiende immer in einer spezifischen Hinsicht ›anvisiert‹ wird. Zudem hat sich laut Heidegger jede Auslegung schon für eine

dass die Auslegung »in irgendeiner Weise bei jedem Umgang im Spiel« sei; vgl. Hübner 2001, 50; Fn. 107. Dass die Auslegung nach Heidegger nicht erst dann einsetzt, wenn eine Störung des Umgangs mit Zuhandenem eintritt, macht jedoch folgende Bemerkung deutlich: »Das schlichte Sehen der nächsten Dinge im Zutunhaben mit … trägt die Auslegungsstruktur so ursprünglich in sich, daß gerade ein gleichsam als-freies Erfassen von etwas einer gewissen Umstellung bedarf.« (SZ 149) Jedes ausdrückliche In-die-Hand-Nehmen eines Buches, um zu lesen, eines Pinsels, um zu malen, deutet Heidegger also als explizites Ergreifen einer bestimmten Möglichkeit, die sich aus dem Verstandensein der vorausgehenden Bewandtnisganzheit her eröffnet. Letztlich übersieht man die radikal hermeneutische Perspektive Heideggers, wenn man das fundamentale ›Als‹ der Auslegung nicht schon im ›unreflektierten‹ Umgang mit Seiendem verortet, sondern erst in einem direkteren Hinsehen. Eine ausführliche Diskussion des Verhältnisses zwischen Verstehen und Auslegung liefert Mark Okrent, Heidegger’s Pragmatism. Understanding, Being, and the Critique of Metaphysics, Ithaca 1988, 54 f.

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bestimmte Begrifflichkeit entschieden (Vorgriff). 15 Wenn innerweltlich Seiendes verstanden ist, dann ist es als sinnhaftes erschlossen. Sinn bzw. seine Bildung – oder vielleicht besser: sein Geschehen – kann nach Heidegger vor dem Hintergrund der Vor-Struktur nun auch nicht als Ergebnis eines das ›nackte‹ Objekt bestimmenden Denkprozesses gefasst werden, sondern: »Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird.« (SZ 151) Jede Auslegung ist nach Heidegger also stets die Artikulation einer Verständlichkeit und garantiert somit die Möglichkeit prinzipieller Besprechbarkeit des jeweiligen Seienden. Die Auslegung selbst löst aber das verstehend Zugeeignete nicht aus dem vorgängigen Verweisungsganzen heraus. Die Aussage – genauer: die theoretische Aussage 16 – hingegen nimmt laut Heidegger diese Isolierung vor, denn sie »zielt auf ein Vorhandenes am Zuhandenen« (SZ 158) und ›vereinzelt‹ somit das besprochene Seiende: Es selbst ist nun als Gegenstand einer näheren Betrachtung oder eingehenderen Untersuchung interessant. Indem die Aussage sich vom ursprünglichen Sein beim Zuhandenen distanziert, nimmt sie nach Heidegger eine Modifikation des grundlegenden hermeneutischen Als vor: Dieses werde im Besprechen des ›Gegenstandes‹ zum apophantischen – aufzeigenden – Als. 17 Die grammatische Form des Urteils ist für Heidegger demnach lediglich eine abgewandelte bzw. konkretisierte Ausdrucksform jenes primären Satzes des ›etwas als etwas‹. 18 Heidegger unterscheidet nun genauer drei wesentliche Momente des Phänomens Aussage: Primär sei die Aussage Aufzeigung – sie lasse ein Seiendes ›von ihm selbst her‹ sehen. Heidegger rekurriert hier in Vgl. auch die ausführlichere Darstellung von Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff in GA 18, 274 f. 16 Es wird sich zeigen, dass eine feststellende Rede nicht per se die Auflösung des ursprünglichen Handlungszusammenhangs bedeuten muss; vgl. dazu auch Wellmer 2004, 374 ff. 17 Siehe zu dieser Wandlung des ›Als‹ vom hermeneutischen zum apophantischen Heideggers ausführlichere Thematisierung in der Logik-Vorlesung vom WS 1925/26 (GA 21, 155 ff.). 18 Vgl. GA 20, 360. Aus dieser ›Rückführbarkeit‹ grammatischer Strukturen auf ursprünglichere, existenziale Phänomene ergibt sich Heideggers Ruf nach einer »Befreiung der Grammatik von der Logik« (SZ 165). Siehe zur kritischen Feststellung der Dominanz der traditionellen Logik im Bereich der Sprachforschung und Sprachphilosophie auch GA 19, 253. 15

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Anlehnung an Aristoteles’ Peri hermêneias erneut auf den ursprünglichen Sinn von lgo@ als ⁄pyansi@. 19 Aussage als Bestimmung besage zweitens, dass dem Subjekt ein Prädikat zugesprochen wird, wobei die einzelnen Glieder des Satzes – die Grundbestandteile Subjekt und Prädikat – nach Heidegger innerhalb der Aufzeigung »erwachsen« (SZ 155), ihre Basis also in der Aufzeigung haben. Die Prädikation weist laut Heidegger somit ausdrücklich auf das sich (ohnehin) Zeigende, bündelt im extremsten Fall den Blick auf das Zeug als Vorhandenes. Drittens ist die Aussage als Mitteilung nach Heidegger »Mitsehenlassen des in der Weise des Bestimmens Aufgezeigten« (SZ 155). Hier wird im Verlauf der Annäherung an das Sprachphänomen zum ersten Mal direkt die kommunikative Dimension des Verstehens in den Blick gebracht: Zur Aussage gehört nach Heidegger das zumindest potentielle Ausgesprochensein, das Gesprochensein zu Anderen, wesentlich hinzu. Zusammenfassend lässt sich die Aussage mit Heidegger demnach als »mitteilend bestimmende Aufzeigung« (SZ 156) charakterisieren. 20

1.4 Die Frage nach der ›Vorsprachlichkeit‹ der Auslegung Heideggers Präsentation der Aussage zeigt deutlich: Das Urteil wird in Sein und Zeit als ein ›abgeleitetes‹ Phänomen ent-deckt, es ist nach Heidegger ein »abkünftiger Modus« (SZ 157) der Auslegung, weil es das ursprüngliche hermeneutische Als ›modifiziert‹. Das bedeutet: Auch die Aussage hat Sinn – nicht aber wird dieser hier, im Besprechen von Seiendem mit anderem Dasein, erst gestiftet. 19 Trotz seiner zahlreichen Rückgriffe vor allem auf Aristoteles möchte Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit der Bestimmung des lgo@ bei Aristoteles und Platon deutlich machen, dass die ›Logik‹ dieses lgo@ in der existenzialen Verfassung des Daseins fundiert ist. Die antike Ontologie – dies Heideggers kritische Deutung – fasste den lgo@, indem sie ihn weitgehend mit der Aussage identifizierte, als etwas Vorhandenes; vgl. SZ 160 und 165. Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Aristoteles, die hier nicht eingehender thematisiert werden kann, siehe Stassen 1973, 53 ff. sowie als ausführlichen Vergleich Brian Elliott, Anfang und Ende in der Philosophie. Eine Untersuchung zu Heideggers Aneignung der aristotelischen Philosophie und der Dynamik des hermeneutischen Denkens, Berlin 2002. 20 Indem Heidegger der Aussage das Mitteilungsmoment als wesentlich zuspricht, wird nochmals deutlich, dass es ihm nicht um eine Betrachtung dieser sprachlichen Form vor dem Hintergrund einer Aussagenlogik geht.

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Obgleich die explizite Charakterisierung von Sprache – wie sie erst in § 34 vorgenommen wird – noch aussteht, drängt sich die Frage auf, welche Bedeutung diese Präsentation der Aussage als eines abkünftigen Phänomens für die Bestimmung der Rolle von Sprache in der Daseinsanalytik insgesamt haben könnte. Folgende Vermutung liegt nahe: Eine sprachliche Komponente ist dem Verstehen nicht wesentlich – Bedeutungsstiftung und Sinngeschehen sind nach Heidegger ›sprachlos‹ möglich bzw. vollziehen sich in einem ursprünglichen Sinn als vor-sprachlich. 21 Doch auch eine andere Interpretation ist denkbar: Heidegger möchte lediglich die traditionelle Fixierung auf die theoretische Aussage aufbrechen – allein diese, nicht sprachlicher Ausdruck schlechthin, ist ihm ein ›sekundäres‹ Phänomen. Auf den ersten Blick erscheint die zuerst formulierte These überzeugend – schließlich betont Heidegger mehrfach, dass sich der alltägliche Umgang mit Zuhandenem zunächst ›wortlos‹ vollziehe. Doch lassen sich auch zahlreiche Hinweise finden, welche die zweite Interpretation stützen: Erstens fällt auf, dass Heidegger in mehreren seiner Marburger Vorlesungen vor Sein und Zeit der Sprache eine ganz wesentliche Rolle für das Seiendes besorgende In-der-Welt-sein zuschreibt. Vor allem die Vorlesungen Einführung in die phänomenologische Forschung (WS 1923/24) und Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (SS 1924) liefern eine Fülle solcher Bemerkungen wie dieser: »Die Sprache wird gehabt, es wird gesprochen so, daß das Sprechen zum eigentlichen Seinsantrieb des Menschen gehört. Leben des MenDie Frage, ob die Auslegung als vorprädikative zugleich in einem vorsprachlichen Bereich angesiedelt ist, wird in der Forschung intensiv diskutiert. So vertritt Stassen die These, dass die Auslegung »noch völlig vorsprachlich« sei; vgl. Stassen 1973, 154. Den Ausdruck ›vorprädikativ‹ als ›vor der Sprache liegend‹ deuten u. a. auch Mittelstraß und Lorenz; siehe Mittelstraß/Lorenz 1967, 187–208. Hackenesch betont, dass Verstehen und Sprachlichkeit für Heidegger »nicht identisch« seien; vgl. Hackenesch 2001, 39. Borchers spricht in diesem Zusammenhang vom alltäglichen Besorgen als einer »Lebensform ohne sprachliches Kleid« (Borchers 1997, 99). Hingegen suchen Apel und Lafont aufzuzeigen, dass die Aussage (sowie jegliches Heraussagen) bei Heidegger in etwas vor ihr liegendem Sprachlichen gründe und nicht in einem nicht-sprachlichen Besorgen; vgl. Apel 1963, 54 ff. sowie Lafont 1994, 80 ff. Gethmann neigt in seinem Beitrag »Die Konzeption des Handelns in ›Sein und Zeit‹« dazu, die Auslegung per se mit einem sprachlichen Ausdruck zu identifizieren, der im Gegensatz zur Aussage keinen Eigenschafts-, sondern einen Handlungsprädikator enthält; vgl. Carl Friedrich Gethmann, »Die Konzeption des Handelns in ›Sein und Zeit‹«, in: ders., Dasein: Erkennen und Handeln. Heidegger im phänomenologischen Kontext, Berlin/New York 1993, 281–321, hier: 293 f.

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schen heißt Sprechen.« (GA 18, 21) Oder noch prägnanter: »Das Inder-Welt-sein des Menschen ist im Grunde bestimmt durch das Sprechen.« (GA 18, 18) Bemerkenswert ist dabei, dass Heidegger in diesen Vorlesungen zwar durchgängig ›lgo@‹ als ›Sprache‹ übersetzt, gleichzeitig aber eingesteht: »Wir haben […] keine sicheren Aufschlüsse darüber, was für die Griechen in ihrem natürlichen Dasein Sprache bedeutete« (GA 17, 17). 22 Aber eines sei offenkundig: »Der Grieche lebte in einer ausgezeichneten Weise in der Sprache und wurde von ihr gelebt; und das war ihm bewußt. Das Ansprechen- und Besprechen-können des Begegnenden (Welt und Selbst) […] charakterisiert er als Menschsein: lgon cein« (GA 17, 18). Wie auch in Sein und Zeit weist Heidegger hier – allerdings besonders eindringlich – darauf hin, dass die aufzeigende Rede (die Aussage) nach Aristoteles’ Bestimmungen in Peri hermêneias nur eine Weise des Sprechens sei. Und so widmet sich Heideggers Vorlesung über die Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie im SS 1924 eingehend der Rhetorik, welche Sprache in ihrem ganzen Reichtum möglicher Realisationsformen zum Gegenstand macht. 23 Weil die traditionelle Einschränkung des philosophischen Blicks auf die feststellende Rede hier aufgehoben werde, sei die Rhetorik ungemein wertvoll für eine Betrachtung des Daseins in seinem alltäglichen In-der-Welt-sein: »Die Rhetorik ist nichts anderes als die Auslegung des konkreten Daseins, die Hermeneutik des Daseins selbst.« (GA 18, 110) Weiter heißt es: »Daß wir die aristotelische ›Rhetorik‹ haben, ist besser, als wenn wir eine Sprachphilosophie hätten. In der ›Rhetorik‹ haben wir etwas vor uns, was vom Sprechen handelt als von einer Grundweise des Seins als Miteinandersein der Menschen selbst« (GA 18, 117). Auch in den Prolegomena wiederholt Heidegger – in pointierter 22 In Sein und Zeit wird es dann vor dem Hintergrund der Differenzierung zwischen Sprache und Rede heißen: »Die Griechen haben kein Wort für Sprache, sie verstanden dieses Phänomen ›zunächst‹ als Rede.« (SZ 165) 23 Siehe zu diesem Rückgang auf die Rhetorik und die sich hier ausdrückende Auffassung des lgo@ Robert Metcalf, »Aristoteles und Sein und Zeit«, in: Denker/Figal 2007, 156–169. In Sein und Zeit findet Aristoteles’ Rhetorik im Kontext der Befindlichkeitsanalyse Erwähnung – es wiederholt sich dabei auch hier die Betonung ihrer Bedeutung für eine Hermeneutik des Daseins: »Aristoteles untersucht die p€qh im zweiten Buch seiner ›Rhetorik‹. Diese muß […] als die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins aufgefaßt werden.« (SZ 138)

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Weise – diese These von der herausragenden Bedeutung der Rhetorik für die Hermeneutik des Daseins, welche sich nicht am theoretischen Zugang zur Welt orientiert: »Rhetorik ist ein erstes Stück rechtverstandener Logik.« (GA 20, 364) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch eine viel frühere Äußerung Heideggers: In der Kriegsnotsemestervorlesung Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem von 1919 betont er, sprachlicher Ausdruck brauche »nicht ohne weiteres theoretisch oder gar objektartig meinend zu sein, sondern ist ursprünglich erlebend, vorwelthaft bzw. welthaft« (GA 56/57, 117). 24 Dass nicht erst mit der distanzierenden Aussage Sprache eine Rolle beim Umgang mit Seiendem spielt – was schließlich bedeuten würde, dass sie erst da einsetzt, wo ein ursprünglicher Umgang endet –, legen jedoch auch einige Bemerkungen Heideggers in Sein und Zeit selbst nahe. Das in der Analyse von Umwelt und Auslegung dominierende Beispiel des Hammers als im hantierenden Gebrauch zugängliches Zeug vermag ein differenzierteres Bild vom Übergang von der Auslegung zur Aussage zu zeichnen. Zwar hebt Heidegger hervor, dass der ursprüngliche Vollzug der Auslegung eher im wortlosen Weglegen oder Wechseln eines unpassenden Werkzeugs (hier: des zu schweren Hammers) liege und nicht in einem Aussagesatz im Sinne der Feststellung »Der Hammer ist zu schwer«. Doch erwähnt er zumindest die Möglichkeit einer »umsichtig ausgesprochene[n] Auslegung«, welche »nicht notwendig schon eine Aussage im definierten Sinne« (SZ 157) sein müsse. Eine solche besorgend ausgesprochene Auslegung könnte nach Heidegger folgendermaßen lauten: »Zu schwer!« oder »Den anderen Hammer!« 25 Diese Ausführungen legen nahe, dass Heidegger die Grenze zwiDen Kontext dieser Bemerkung bildet die Frage nach der Möglichkeit einer vortheoretischen Urwissenschaft, also einer Betrachtung des Lebens, welche dieses nicht vergegenständlicht. 25 Vgl. SZ 157. Es ist offenkundig, dass in diesen beiden Beispieläußerungen die Prädikation nicht ›echt‹ ausgebildet ist – die besorgend ausgesprochene Auslegung wäre unverständlich, wenn nicht die Situation des Hämmerns unmittelbar präsent wäre. Später kommt Heidegger im Hinblick auf die Zeitlichkeit des Besorgens auf das Verhältnis von Auslegung und Aussage zurück und geht dabei auf Sätze ein, die einer besorgenden Überlegung Ausdruck geben. Das Kriterium für ein Urteil: Ich sage etwas (›die Schwere‹) vom Körperding Hammer als Eigenschaft aus. Die umsichtig ausgesprochene Auslegung hingegen spricht vom Hammer als Zuhandenem, das zu schwer ist, um zu … ; vgl. SZ 360 f. Im WS 1925/26 hebt Heidegger zudem ausdrücklich hervor, dass die um24

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schen einem vorprädikativen ›Sichten‹ von Zuhandenem als etwas (Gebrauchen oder Ersetzen als wortlose Tätigkeit) und einem ausgesprochenen Urteil weniger starr konzipiert hat, als es die Charakterisierung von Auslegung und Aussage auf den ersten Blick suggeriert. Es scheinen zumindest mannigfache Abstufungen zwischen der »im besorgenden Verstehen noch ganz eingehüllten Auslegung und dem extremen Gegenfall einer theoretischen Aussage über Vorhandenes« (SZ 158) zu existieren. Heidegger räumt dies schließlich selbst ein und nennt als Beispiele sprachliche Äußerungen wie etwa »Schilderungen des Zuhandenen«, die »Erzählung des Vorgefallenen« oder die »Beschreibung einer Sachlage«. 26 Wichtige Hinweise für die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung von Sprache für das In-der-Welt-sein vermag auch Heideggers Kritik an Husserls Evidenzbegriff sowie der kategorialen Anschauung in den Prolegomena zu liefern. Denn dass es kein ›als-freies‹ Wahrnehmen und Erfassen von Seiendem gibt – was letztlich den Kern der heideggerschen, d. h. hermeneutischen Phänomenologie darstellt –, macht Heidegger hier gerade an der ›Sprachlichkeit‹ all unseres Sehens deutlich: »Faktisch ist es […] so, dass unsere schlichtesten Wahrnehmungen und Verfassungen schon ausgedrückte, mehr noch, in bestimmter Weise interpretierte sind. Wir sehen nicht so sehr primär und ursprünglich die Gegenstände und Dinge, sondern zunächst sprechen wir darüber, genauer sprechen wir nicht das aus, was wir sehen, sondern umgekehrt, wir sehen, was man über die Sache spricht. Diese eigentümliche Bestimmtheit der Welt und ihre mögliche Auffassung und Erfassung durch die Ausdrücklichkeit, durch das Schon-gesprochenund-durchgesprochen-sein ist es, die nun bei der Frage nach der Struktur der kategorialen Anschauung grundsätzlich in den Blick gebracht werden muß.« (GA 20, 75)

sichtig-ausgesprochene Auslegung durchaus die Form einer Aussage haben könne; siehe GA 21, 157 f. 26 Vgl. SZ 158. Ein besonders prägnantes Beispiel für ein Sprechen, welches keineswegs auf ein Aussagen reduzierbar ist, nennt Heidegger im WS 1923/24: Der Ausruf »Feuer!« solle weniger feststellen, dass es brennt, sondern »die Leute sollen aus den Betten springen«; vgl. GA 17, 21. Es zeigt sich somit, dass Heideggers Absage an die Fixierung auf die Aussage durchaus zu einer rudimentären ›Sprechakttheorie‹ im Sinne Austins führt. Vgl. dazu auch Andreas Luckner, Martin Heidegger: »Sein und Zeit«, 2. Aufl., Paderborn u. a. 2001, 73.

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Dennoch: Es scheint ein wesentliches Anliegen von Heidegger in Sein und Zeit sowie den zeitnahen Vorlesungen zu sein, die Möglichkeit eines Bedeutungsganzen aufzuzeigen, welches nicht als ein Ganzes aufeinander verweisender sprachlicher Bedeutungen begriffen werden darf. Auch die ›Sätze‹ oder ›Äußerungen‹, welche sich »nicht, ohne wesentliche Verkehrung ihres Sinnes, auf theoretische Aussagesätze zurückführen« lassen, haben nach Heidegger schließlich ihren »›Ursprung‹ in der umsichtigen Auslegung« (SZ 158). Eines steht jedoch nach Heideggers Ausführungen fest: Schon die Auslegung ist artikuliert. Heidegger nennt sie zudem, wie gesehen, ein ursprüngliches Ansprechen. Außerdem begegnet dem Dasein nach Heideggers Konzeption jedes Seiende aus einem spezifischen Vorgriff heraus – jede Auslegung vollzieht sich also in einer bestimmten Begrifflichkeit. Die Auslegung als vorsprachlich oder nicht-sprachlich zu begreifen heißt also, ein nicht-sprachliches Ansprechen und eine nichtsprachliche Begrifflichkeit zu proklamieren. 27 Das konkrete, tatsächlich ausgelautete und somit zu Anderen gesprochene Wort wäre dann fundiert in diesem ursprünglicheren Ansprechen, welches bereits Bedeutungen erschließt.

1.5 Rede und Sprache Heidegger selbst weist darauf hin, dass das Phänomen Sprache in Sein und Zeit erst auffallend spät thematisiert wird. Seine Erklärung dieses späten, vielleicht gar verspäteten Hinblicks auf die sprachliche KomDass es äußerst problematisch ist, die Vorstruktur als ›unsprachlich‹ bzw. ohne eine zentrale Beteiligung von Sprache zu denken, macht Heideggers eigene Darstellung von Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff in Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie deutlich. Hier wird die Vorhabe folgendermaßen charakterisiert: »Auf die Welt kommend wächst man in eine bestimmte Tradition des Sprechens, Sehens, Auslegens hinein. Das In-der-Welt-sein ist ein Die-Welt-schon-so-und-so-Haben.« (GA 18, 274) Dreyfus hingegen versucht, die Vorhabe als »the totality of cultural practices« von den beiden anderen Momenten der Vorstruktur zu isolieren. Durch diese ›Abtrennung‹ sucht er die These zu stützen, dass Heidegger in Sein und Zeit den Akzent auf die Vorhabe lege und somit von einem praktischen Holismus ausgehe; vgl. Hubert L. Dreyfus, »Holism and Hermeneutics«, in: Review of Metaphysics, Volume XXXIV/No. 2 (1980), 3–23, hier: 10 f. Dagegen zeigt Lafont überzeugend auf, dass Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff keinesfalls voneinander geschieden werden können, sondern dass die Pointe bei Heidegger gerade im Zusammenschluss dieser drei Momente liegt; siehe Lafont 1994, 90 ff.

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ponente des In-der-Welt-seins lautet: »Daß jetzt erst Sprache Thema wird, soll anzeigen, daß dieses Phänomen in der existenzialen Verfassung der Erschlossenheit des Daseins seine Wurzeln hat.« (SZ 160) Alle Konzeptionen, welche die Frage nach der ›Funktion‹ oder ›Leistung‹ von Sprache vor dem Hintergrund des traditionellen SubjektObjekt-Schemas stellen, müssen nach Heidegger das Phänomen Sprache konsequenterweise eher verdecken, als es tatsächlich in die Sicht zu bringen. 28 Deutungen, welche Sprache als bloße Repräsentation von Welt – von Sachen bzw. Sachverhalten – begreifen, müssten also durch die Fassung von Sprache als einer Weise des In-Seins ebenso überwunden werden wie Ansätze, welche Sprache als weltkonstituierende Größe verstehen. Mit der Absage an die Vorrangstellung des theoretischen Besprechens von Gegenständen hat Heidegger bereits ein zentrales ›Vorurteil‹ der traditionellen Sprachbetrachtung herausgestellt. Andererseits steht nach den Ausführungen im vorigen Unterkapitel zur Debatte, inwieweit das konkrete Sprechen über etwas zu Anderen für Heidegger nicht doch etwas Spätes ist – etwas, das ein fundamentaleres Sein bei der Welt modifiziert und sich dabei zwangsläufig von diesem entfernt. Indem Heidegger im oben angeführten Zitat betont, dass Sprache ihre »Wurzeln« in der existenzialen Erschlossenheit des Daseins habe, deutet er schließlich bereits an, dass die späte Thematisierung von Sprache im Rahmen der Daseinsanalyse mit einer gewissen ›Abkünftigkeit‹ der Sprache selbst zu tun haben könnte. Tatsächlich legt Heideggers grundlegende Differenzierung zwischen Rede und Sprache in § 34 nahe, dass das Wort selbst etwas NichtUrsprüngliches ist, denn Heideggers Unterscheidung nimmt keine rein methodologische Betrachtung unterschiedlicher Aspekte von Sprache

28 Heidegger setzt sich in seinen Vorlesungen und Texten in den 20er Jahren nicht besonders intensiv mit anderen Sprachauffassungen auseinander. Neben Aristoteles wäre als direkt genannter Gesprächspartner noch Wilhelm v. Humboldt anzuführen; siehe etwa SZ 119 und 166. Weiterhin lassen sich kurze Bemerkungen sowie indirekte Anspielungen in Bezug auf Cassirer, Dilthey und Husserl finden; siehe GA 64, 28 sowie SZ 163 und GA 20, 276 f. sowie 364. Heidegger erwähnt hier u. a. die Bestimmungen von Sprache als Symbol, als Ausdruck von Erkenntnis, als Kundgabe von Erlebnissen oder Gestaltung des eigenen Lebens. Zudem finden sich verstreute Bemerkungen über verschiedene Theorien des Sprachursprungs, etwa zu der Auffassung, die Sprache sei aus reinen Affektlauten entstanden; vgl. GA 20, 287 f. Ein möglicher Bezugspunkt wäre hier Rousseau.

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vor, sondern behauptet eine Fundierungsstruktur: 29 Das »existenzialontologische Fundament« (SZ 160) von Sprache ist nach Heidegger die Rede (lgo@). In den Prolegomena heißt es: »Es gibt Sprache nur, weil es Rede gibt« (GA 20, 365). Rede stellt nach Heidegger die »Artikulation der Verständlichkeit« (SZ 161) 30 dar und dabei betont er – der These von der Gleichursprünglichkeit von Rede und Verstehen folgend –, dass »Verständlichkeit […] auch schon vor der zueignenden Auslegung immer schon gegliedert« (SZ 161) sei. Wenn also die »bedeutungsmäßige Gliederung der befindlichen Verständlichkeit des Inder-Welt-seins« (SZ 162) insgesamt der Rede zukommt, die (noch) nicht Sprache ist, dann wird deutlich, inwieweit Heidegger in den bisherigen Analysen von einem ursprünglichen Ansprechen von Seiendem ausgehen konnte, welches sich nicht unbedingt in Worten vollziehen oder ausdrücken muss. 31 In den Prolegomena stellt Heidegger die ganze Kette der Fundierungen ausführlich dar: Rede meint – wenn sie das Fundament jeder ontischen Sprache sein soll – also keine nachträgliche Abstraktion von allen konkreten Sprachen, welche die Merkmale angibt, die alle Sprachen als solche gemeinsam haben. Mögliche Bezugspunkte für Heideggers Unterscheidung zwischen Rede und Sprache in der sprachphilosophischen Tradition sind Humboldts Differenzierung zwischen Sprache als ergon und energeia sowie Saussures Unterscheidung von langue und parole; siehe dazu Figal 1988, 170 f. sowie Lafont 1994, 95. Beide Beiträge weisen auf deutliche Ähnlichkeiten hin, betonen aber auch, dass aufgrund der Fundierungsstruktur sowie des Grundansatzes der Erschlossenheit keine tatsächliche Identifizierung von Heideggers Position mit einer dieser beiden Konzeptionen vorgenommen werden darf. 30 Borchers weist zu Recht darauf hin, dass Heidegger hier die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ›Artikulation‹ ausnutzt: Im Bereich der Rede scheint allein das Gliedern gemeint, in der Mitteilung kommt die Lautbildung hinzu; vgl. Borchers 1997, 122. 31 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Heideggers Thematisierung des lgo@ in der Einführung in die phänomenologische Forschung (1923/24). Hier geht er ausführlich auf Aristoteles’ Bestimmung der a—sjhsi@ in Peri Psychês ein. Heidegger deutet diese als ein ursprüngliches Vernehmen, das schon ein Unterscheiden (krfflnein) in sich trage. Das bedeute, es liege bereits »im ursprünglichen Vollzug des Vernehmens, in der Weise seines Abhebens des einen gegen das andere, ein Sprechen« (GA 17, 28). Heidegger gesteht, dass es befremdlich scheint, dass schon im schlichten Vernehmen ein lgo@ liegen soll – man habe Aristoteles daher unterstellt, bereits die Wahrnehmung als ein Urteil zu begreifen. Tatsächlich werde die a—sjhsi@ »auch nicht direkt als lgo@ charakterisiert, sondern als so etwas wie ein lgo@« (GA 17, 29). Direkt im Anschluss an diese Ausführungen behauptet Heidegger jedoch – es sei erinnert an seine Kritik an Husserl – eine fundamentale Sprachlichkeit all unseres ›Sehens‹ : »Die a—sqhsi@ ist in einem solchen Wesen, das die Sprache hat. Mit oder ohne Verlautbarung ist es immer in irgendeiner Weise Sprechen. Die Sprache spricht nicht nur mit beim Vernehmen, sondern sie führt es sogar, wir sehen durch die Sprache.« (GA 17, 30). 29

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»Wortausdruck – Sprache – ist nur, sofern es dieses Ansprechen gibt, und solches Ansprechen von etwas als etwas ist nur möglich, sofern es Auslegen gibt, Auslegung ist wiederum nur, sofern es Verstehen gibt, und Verstehen ist nur, sofern das Dasein die Seinsstruktur der Entdecktheit hat« (GA 20, 360). 32

Das Offenbarmachen durch Sprache – die Möglichkeit der konkreten Äußerung über innerweltlich Seiendes – scheint also fundiert zu sein im grundlegenderen Offenbarmachen durch Rede. Weil Dasein aber grundsätzlich In-der-Welt-sein ist, so Heidegger nun, muss die Rede auch eine »weltliche Seinsart« haben: »Die befindliche Verständlichkeit des In-der-Welt-seins spricht sich als Rede aus. Das Bedeutungsganze der Verständlichkeit kommt zu Wort. Den Bedeutungen wachsen Worte zu.« (SZ 161) 33 Die schon geredete Struktureinheit drückt sich nach Heidegger also nun in der Welt aus als ein Wortgebilde. Diese Formulierungen legen nahe, dass im Sichaussprechen der Rede etwas vormals Nicht-Sprachliches in die Welt hinaustritt und hier erst ein Sein in Worten, Sätzen usw. erhält. Tatsächlich bezeichnet Heidegger die Sprache auch als die »Hinausgesprochenheit der Rede« (SZ 161). 34 Indem diese ›versprachlichte‹ Bedeutungsganzheit, in welcher die Rede »ein eigenes ›weltliches‹ Sein hat« (SZ 161), nun in der Welt verfügbar ist – und zwar für eine ganze Sprachgemeinschaft –, ist sie laut Heidegger »als innerweltlich Seiendes wie ein Zuhandenes vorfindlich« (SZ 161). Sprache könne nun etwa in vorhandene »Wörterdinge« (SZ 161) zerlegt werden, die in einem Wörterbuch aufgelistet sind. Wie aber lässt sich diese Charakterisierung von Sprache, die vehement an die klassische Interpretation von Sprache als eines Werkzeugs erinnert, 35 mit Heideggers Grundanliegen vereinbaren, durch die Auf32 Diese Beschreibung legt allerdings nahe, dass das Verstehen ursprünglicher ist als die Rede, was in Sein und Zeit schließlich gerade nicht behauptet wird. 33 Siehe dazu auch folgende Bemerkung: »Eine Sprache hat nur solange ihr eigentliches Sein, als ihr aus Verstehen, d. h. aus der Sorge um Entdecktheit des Daseins, neue Bedeutungszusammenhänge und damit – obzwar nicht notwendig – Worte und Wendungen zuwachsen.« (GA 20, 374) 34 In Subjekt und Dasein verweist v. Herrmann darauf, dass »Hinausgesprochenheit« hier nicht meinen könne ›heraus aus einer Bewusstseinsimmanenz in eine Bewusstseinstranszendenz‹, sondern: »›Hinausgesprochen‹ aus der selbsthaft-ekstatisch-horizontalen Erschlossenheit in die seiende Wortganzheit«; vgl. v. Herrmann 2004, 131. Die Grundproblematik der Differenzierung zwischen Rede und Sprache wird durch diese Erläuterung allerdings nicht aus dem Weg geräumt. 35 Vgl. zu dieser Konsequenz der heideggerschen Terminologie Lafont 1994, 94 f., Bor-

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weisung der Existenzialien des Daseins Seinsweisen aufzuzeigen? Stellt Heidegger nicht zudem mit seiner Beschreibung des ›weltlichen‹ Seins von Rede die fundamentale Prämisse in Frage, dass Dasein immer schon in einer Welt existiert, sich strenggenommen also immer schon ausgesprochen haben muss? Es ist nicht wenig irritierend, wie Heideggers Begrifflichkeit zu Beginn von § 34 eine ›weltlose‹, ja geradezu ›innerliche‹ Dimension von Rede suggeriert, welche aufgesprengt wird, wenn diese in die Welt hinaustritt und sich jetzt erst als konkrete, geschichtliche Sprache 36 und dann als faktisches, lautliches Sprechen zu und mit Anderen realisiert. Welchen Status man der Sprache in Sein und Zeit einräumt und als wie eigenständig man Heideggers Sprachauffassung vor dem Hintergrund traditioneller Bestimmungen beurteilt, das hängt nicht zuletzt an der konkreten Deutung folgender Behauptung: »Sprechen ist ein Sein mit der Welt, ist etwas Ursprüngliches und liegt vor den Urteilen.« (GA 17, 21) Meint Sprechen hier das noch nicht Wort gewordene ursprüngliche Ansprechen oder doch das tatsächliche faktische Gesprochensein von Rede, welches nach Heidegger eben zunächst pragmatisch orientiert ist? In den noch folgenden Passagen von § 34 scheint Heidegger aber schließlich doch einzulösen, was die Konzeption des In-der-Welt-seins letztlich fordert: Rede ist »existenzial Sprache« (SZ 161), heißt es jetzt. 37 Die nun einsetzende ausführlichere Analyse der Redestruktur solle zudem zeigen, dass Rede immer schon ›Heraussage‹ in einem existenzialen Sinne ist. Rede sei erstens wesentlich Rede über …, wochers 1997, 123 sowie Jan Aler, »Heidegger’s Conception of Language in ›Being and Time‹«, in: On Heidegger and Language, ed. and transl. by Joseph J. Kockelmans, Evanston 1972, 33–63, hier: 50. Lafont bemerkt, dass Heidegger Sprache hier als bloßes »Sprachrohr« präsentiere und sie somit gegenüber der Möglichkeit nicht-sprachlichen Erschließens stark abwerte. Der nicht selten ›verdinglichenden‹ Beschreibung von Sprache in § 34 steht auf der anderen Seite eine Begrifflichkeit gegenüber, die sich an der Beschreibung organischer Prozesse orientiert. So spricht Heidegger schließlich vom ›Zuwachsen‹ der Worte. Möglicherweise sucht er mit dieser Terminologie die Identifizierung der Sprache mit einem bloßen Instrument doch wieder zu verhindern; vgl. dazu Aler 1972, 51 f. 36 Zur Geschichtlichkeit der Sprache vgl. GA 20, 373 sowie GA 21, 151 f. Ausführlicher als hier möglich beschäftigt sich Stahlhut in seinem Beitrag zu Heideggers Sprachdenken mit der Geschichtlichkeit der Sprache; vgl. Stahlhut 1986, 177 ff. 37 Vgl. auch SZ 167: »Die Rede spricht sich zumeist aus und hat sich schon immer ausgesprochen. Sie ist Sprache.« Und in »Der Begriff der Zeit« (Abhandlung) heißt es explizit, die Deutung der Sprache »als eines bloßen Verständigungs- und Austauschmittels in praktischer technischer Absicht« müsse vermieden werden; vgl. GA 64, 28.

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bei Heidegger betont, dass zu jeder konkreten Rede das Worüber hinzugehöre – auch der Wunsch, der Befehl, das Fragen tragen nach Heidegger das Moment des Be- bzw. Angesprochenseins von Seiendem in sich. Zweitens ist Rede für Heidegger immer Mit-teilung in einem existenzialen Sinne – ganz gleich, ob sie aktuelle, direkte Anrede ist oder nicht. Weil Dasein nie von der Welt ›abgeschottet‹ sei, müsse Rede außerdem wesentlich als ein Sichaussprechen begriffen werden. Indem Heidegger darauf verweist, dass in der konkreten Ausbildung einer bestimmten Rede einzelne dieser Momente fehlen oder nur schwach ausgeprägt sein können, 38 unterscheidet er zwei Weisen der ›Herausgesprochenheit‹ von Rede, zwischen denen in der Kritik an der Scheidung Rede/Sprache vorhin schon differenziert wurde: die Herausgesprochenheit der Rede im Sinne einer sich herausbildenden historischen Sprache sowie im Sinne der jeweils konkreten Anwendung – Auslautung – dieser Sprache in spezifischen Situationen. Die starke Differenzierung zwischen Rede und Sprache scheint im Verlauf der Ausführungen im entsprechenden § 34 also wieder zurückgenommen zu werden. Eine Randbemerkung in Heideggers Handexemplar belegt zudem, dass er das Fundierungsverhältnis schließlich selbst kritisch sieht: »Sprache ist nicht aufgestockt, sondern ist das ursprüngliche Wesen der Wahrheit als Da« (SZ 442; 87c). Doch sind durch diese augenscheinliche Abschwächung der Unterscheidung zwischen einer bloß gliedernden Rede und einer lautlich artikulierten Sprache die Spannungen nicht beseitigt. Denn Heideggers eingehende Analyse des Geredes als der uneigentlichen Rede in § 35 stellt erneut die Ursprünglichkeit der Gesprochenheit von Rede als Gesprochenheit zu Anderen in Frage.

1.6 Das Gerede: Die Verselbständigung der Worte Als ein wesentliches Charakteristikum der Herrschaft des Man bestimmte Heidegger die Regelung und Kontrolle der Auslegung von Dasein und Welt durch die anonyme Öffentlichkeit. Heideggers Präsentation des Geredes sucht nun aufzuzeigen, dass das Sichrichten nach den Anderen im Wesentlichen ein bloßes Nachreden bestimmter Meinungen ist, ein Weitergeben des vom ›Hörensagen‹ her Bekann38

Vgl. SZ 163.

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ten. 39 Die Sprache als Möglichkeit der Verbreitung und ›Verhärtung‹ des Entdeckten erhält also bei der Charakterisierung der spezifischen Erschlossenheit des Man eine herausragende Bedeutung: »Das Man ist das eigentliche Wie des Seins des Menschen in der Alltäglichkeit und der eigentliche Träger dieses Man ist die Sprache. Das Man hält sich auf, hat seine eigentliche Herrschaft in der Sprache.« (GA 18, 64) Das Leben im Man wurde bereits im vorigen Abschnitt dieser Untersuchung als eine Einebnung der Seinsmöglichkeiten sowie eine Entlastung des Daseins präsentiert. Das In-der-Welt-sein wird hier in gewissem Sinne ›leicht‹ 40 – man fragt nicht selbst, man lässt sich den Weg weisen, man schaut nicht selbst nach, man vertraut den Äußerungen der Anderen. Heideggers Analyse des Geredes konkretisiert und vertieft nun diese eigentümliche Leichtigkeit des Man, indem sie sie konsequent als ein Entfernen – oder besser: ein Abdriften – vom in einer ursprünglichen Rede Erschlossenen und somit als ein »Entgleiten der Sache« (GA 20, 370) deutet. Heidegger: »Sofern die Mitteilung ein Gesagtsein im Wort ist, wird das Gesagte für den Anderen ›wörtlich‹, das heißt weltlich verfügbar.« (GA 20, 370) Das bedeutet: Jeder kann sich dieses Gesprochene aneignen – es wiederholen – und mit der Weitergabe des Geredeten verbreitet er auch die sich darin haltende Auslegung. Schließlich kann eine »ausgesprochene Rede […] ohne ein ursprüngliches Mitsein bei dem, wovon die Rede ist, verstanden werden« (GA 20, 370). Jeder, so Heidegger, »kann mitreden und wird im Gerede ernst genommen« (GA 20, 372), ganz gleich, ob er sich mit der ›Sache‹ befasst hat oder nicht, denn im Gerede gilt die »Sorge des Entdeckens […] nicht der Sache, sondern der Rede« (GA 20, 372). Ist etwas erst einmal ausgesprochen oder aufgeschrieben und so veröffentlicht, steht es nach Heidegger also stets in der Möglichkeit, Einfluss zu erlangen, Macht auszuüben: »Das Gesagtsein von etwas erhält hier gewissermaßen in sich selbst autoritativen Charakter« (GA 20, 371). 41 Das von Anderen übernommene Verständnis kann auch angelesen sein – Heidegger spricht hier entsprechend vom Geschreibe; vgl. SZ 168 f. Siehe außerdem Heideggers ›moderne‹ Auslegung des Seins des Menschen als eines z†on lgon ˛con: »Der Mensch ist ein Lebendes, das Zeitung liest.« (GA 18, 108) 40 ›Leicht‹ im Sinne einer Entledigung der Last, sein Leben selbst in die Hand nehmen zu müssen; vgl. zur Thematisierung des ›Leichten‹ auch GA 61, 108 f. 41 Heideggers Präsentation von Gerede und Geschreibe wirft die Frage auf, ob der mündlichen und schriftlichen Form der Rede eine gleich starke Verdeckungstendenz zugeschrieben werden muss. Heidegger selbst greift das Thema ›Mündlichkeit vs. 39

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Ein besonders vielsagendes Beispiel Heideggers für die – zeitgenössische – Ausprägung des Geredes findet sich in § 29a) der Prolegomena: »Man entscheidet heute über Metaphysik oder über noch höhere Dinge auf Kongressen. Für alles, was gemacht werden soll, gibt es heute zunächst eine Tagung, d. h. man kommt zusammen und kommt ständig zusammen, und alle warten aufeinander, daß der Andere es einem sagt, und wenn es nicht gesagt wird, ist das auch nicht von Belang, denn man hat sich ja nun ausgesprochen. Mögen alle Redenden, die sich dabei aussprechen, von der Sache wenig verstanden haben, man ist der Meinung, daß durch die Kumulation des Unverstehens schließlich doch ein Verstehen herausspringt. So gibt es heute Menschen, die von einer Tagung zur anderen reisen und das Bewußtsein dabei haben, es geschehe wirklich etwas, und sie hätten etwas gemacht; während man sich im Grunde vor der Arbeit gedrückt hat, im Gerede ein Unterkommen für die eigene, allerdings unverstandene Hilflosigkeit sucht.« (GA 20, 376) 42

Alle zentralen Merkmale der uneigentlichen Rede nach Heidegger sind hier aufgeführt oder indirekt ablesbar: das Hören auf die Anderen, die Sachferne des Geredes, die Bevorzugung der Leichtigkeit 43 des ›Ge-

Schriftlichkeit‹ nicht explizit auf. Der Ausdruck ›Gerede‹ scheint sich jedoch vornehmlich am alltäglichen Miteinanderreden zu orientieren, das auf der Straße, aber auch an der Universität stattfindet. Andererseits bietet die schriftliche Niederlegung die Möglichkeit einer deutlich weiteren und anhaltenderen Verbreitung des Geredeten. Die Entfernung von der Sache scheint im Niederschreiben des vormals Gesprochenen bereits eine zweite Ebene zu erreichen. Vor dem Hintergrund der Charakterisierung des Logozentrismus als eines Phonozentrismus durch Derrida entpuppte sich das Geschreibe also als gesteigerte Abkehr von der ursprünglich erschlossenen Sache. Andererseits vermag gerade das mündliche Reden unmittelbarer auf den Hörenden zu wirken als der geschriebene Text auf den Leser. Der machtvolle Einfluss, welchen die Rede eines Anderen auszuüben vermag, ist im mündlichen Sich-etwas-sagen-Lassen also möglicherweise doch wieder größer. Derrida selbst sieht bei Heidegger durchaus eine unterschwellige Bevorzugung des gesprochenen Wortes, wobei er auf Bemerkungen in späteren Heidegger-Texten zurückgreift; vgl. Jacques Derrida, »Fines hominis«, in: ders., Randgänge der Philosophie, aus dem Franz. übers. von Günther R. Sigl, Wien 1988, 119–141, hier: 137. Im Folgenden wird der Band zitiert als Derrida 1988 b. 42 Obgleich Heidegger stets betont, den Ausdruck ›Gerede‹ nicht in einer »herabziehenden Bedeutung« zu gebrauchen und auch keine »Moralpredigt« halten zu wollen (vgl. SZ 167 sowie GA 20, 376) – wenn es nicht ein gewisser abwertender Unterton ist, der hier mitschwingt, dann zumindest doch das Ideal der ernsthaften, einsamen ›Geistesarbeit‹, die eher mit den Mühen des Schwarzwaldbauern als mit dem eloquenten Diskutieren der ›Fachwelt‹ verwandt ist. 43 Das Kongress-Beispiel zeigt, dass mit der Leichtigkeit eine »Bodenlosigkeit« der

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schwätzes‹, welches sich selbst nicht als solches durchschaut, gegenüber der Schwere der ernsthaften Arbeit und die Suche nach Halt. Mit dem Gerede einher geht nach Heidegger die uneigentliche Ausprägung des Verstehens als Neugier 44 – das Gerede sei im Grunde immer ›neugierig‹, denn »eine Entwurzelungstendenz reißt die andere mit sich« (GA 20, 383). Die Neugierde beschreibt Heidegger nun gewissermaßen als eine ›Perversion‹ des Sehens 45 : Wenn der besorgende Umgang mit dem Zeug zur Ruhe kommt, begegne die Welt nicht mehr in der Umsicht, sondern im bloßen Verweilen. Somit wird nach Heidegger aber das Sehen frei – und es schweift aus in die Ferne: »Das ausruhende Verweilen wird als freischwebendes Sehen – Vernehmen der Ferne – eo ipso zum Nicht-mehr-verweilen beim Nächsten, und dieses Nichtmehr-verweilen beim Nächsten ist die Sorge der Entdeckung und Näherung des noch nicht Erfahrenen« (GA 20, 381).

Dabei sei die Neugier aber nicht darauf aus, das Gesehene tatsächlich zu verstehen, sondern sie gehe vollkommen auf im bloßen Hinsehen. Daher ist sie nach Heidegger auch von einer ständigen Unruhe begleitet, denn der Attraktionscharakter des Neuen lässt schnell nach: »Das Worumwillen der Neugier ist nicht eine bestimmte Präsenz, sondern die Möglichkeit des ständigen Wechsels der Präsenz« (GA 20, 382). In ihrer grundlegenden »Aufenthaltslosigkeit« (GA 20, 383) strebt die Neugier also weg aus dem »alltäglich Vertrauten in das Unvertraute« (GA 20, 383). Das Streben nach einer gesteigerten ›Heimeligkeit‹ des In-Seins wird somit aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt, denn in diesem Wegstreben vom Nächsten sucht das Dasein stets wieder nur die Nähe des Fremden und macht sich dieses zugänglich: »Das Dasein sucht das Ferne, lediglich um es sich in seinem Aussehen nahe zu bringen.« (SZ 172) Heideggers Ausführungen zeigen, dass sich in der Neugier ebenso wie im Gerede die Tendenz einer Abkehr vom ursprünglich Erschlossenen, d. h. vom ursprünglich Geredeten, manifestiert. Auffallend – und äußerst problematisch für Heideggers Sprachauffassung in Sein und Zeit – ist aber Folgendes: Heideggers Analyse des Geredes tendiert »freischwebenden Auslegung« gemeint ist und nicht die Wahl belangloser Themen; vgl. GA 20, 371 f. 44 Vgl. zur folgenden knappen Darstellung der Neugier SZ § 36 sowie GA 20, § 29b). 45 ›Sehen‹ ist nach Heidegger hier gemeint »in dem weiteren Sinn der besorgenden und sorgenden Appräsentation« überhaupt; vgl. GA 20, 379.

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dazu, die Ausgesprochenheit bzw. das Wortwerden der Erschlossenheit per se als eine ›Entwurzelung‹ zu präsentieren. Bemerkungen wie die folgende machen diese Tendenz deutlich: »Einmal ausgesprochen, gehört das Wort jedem und das ohne Gewähr, daß mit dem Nachreden auch das ursprüngliche Verstehen nachvollzogen ist.« (GA 20, 375; Hervorhebung M. S.) Oder: »Ist ein Wort ausgesprochen, so gehört es nicht mehr mir, und so ist die Sprache etwas, was jedem gehört« (GA 18, 20; Hervorhebung M. S.). Es scheint, als beklage Heidegger hier vor allem den Verlust eines Eigentums – das Wort gehört jetzt, als ausgesprochenes, nicht mehr mir, sondern allen. Die Betonung der Veröffentlichung der Rede im Auslauten drängt die ursprüngliche Erschließung der ›Sachen‹ somit in eine Sphäre des ›Privaten‹, ja der Innerlichkeit. Wenn Dasein aber tatsächlich konsequent als Mitsein gedacht ist, kann – wie schon bei der Differenzierung Rede/Sprache angemerkt – Rede nichts ›Innerliches‹ sein, das dann erst, im Hinaustreten, von der Konfrontation mit Anderen geprägt ist, das dann erst, als konkretes Wort, geschichtlich, als ausgelautetes Wort situationsgebunden – kurz: faktisch – ist. Auffällig ist auch, dass Heidegger geradezu nahtlos von der aufgezeigten ›Enteignung‹ der Rede auf eine ›Bodenlosigkeit‹ des Geredeten schließt. Die Differenzierung zwischen einem Gesprochenen, das sich nicht wesentlich von der beredeten Sache entfernt, und einer reinen Wiedergabe ungeprüfter Meinungen droht beständig verwischt zu werden bzw. scheint für Heidegger gar nicht wirklich zu existieren. Einerseits sieht er das Gerede besonders in »Schlagworte[n] und Phrasen« (GA 20, 375) am Werke, dann hebt er aber ausdrücklich hervor, dass »auch die relativ ursprünglich geschöpften Bedeutungen und die hieraus sich prägenden Worte […] als ausgesprochene dem Gerede überantwortet« (GA 20, 375) seien. 46 46 So bemerkt Tietz, dass man Heideggers Analyse des Geredes in zweierlei Hinsicht interpretieren kann: Eine ›schwache‹ Auslegung der Uneigentlichkeit des Geredes behaupte lediglich die Trivialität, dass man eine gewisse Sachkenntnis braucht, um angemessen über den entsprechenden Gegenstand zu reden. Ein starker Begriff von Uneigentlichkeit hingegen bedeute, dass das Reden zu Anderen per se Gerede sei; vgl. Tietz 1995, 31 f. Auch Wellmer verweist auf die an sich wichtige, bei Heidegger aber nicht scharf markierte Unterscheidung zwischen bloßem Gerede und einer immer schon vorgegebenen, gemeinschaftlichen Sprache; vgl. Wellmer 2004, 318 f. Stahlhut hingegen versucht, durch eine Differenzierung zwischen echter und unechter Eigentlichkeit sowie echter und unechter Uneigentlichkeit zu zeigen, dass der worthaften Rede in Sein und

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Es wiederholt sich also in der Analyse des Geredes die schon bei der Thematisierung der Aussage sowie der Differenzierung von Rede und Sprache festgestellte Tendenz Heideggers, die Wortwerdung der Bedeutung und ihr Ausgesprochensein als ein sekundäres Phänomen – letztlich gar als eine Art ›Abfall‹ 47 – zu begreifen. Denn wenn Sprache, wie Heidegger selbst sagt, nichts anderes ist als die »Gesprochenheit der Ausgelegtheit« (GA 20, 373), ist sie nach den eben angeführten Äußerungen Heideggers immer Gerede und nichts außerdem. 48 Insofern trifft folgende Bemerkung, die auf den ersten Blick stark verkürzend wirkt, Heideggers Thematisierung von Sprache in Sein und Zeit durchaus: »Es gibt Sprache in Sein und Zeit zuletzt nur in der abschätzigen Bestimmung als ›Gerede‹« 49 . Favorisiert wird dementsprechend ein Entdecken, bei dem das konkrete Sprechen gerade aussetzt – das Schweigen. Dieses Zurückhalten der Auslautung bedeutet nach Heidegger allerdings nicht, dass der Schweigende nichts zu sagen habe: »Um schweigen zu können, muß das Dasein […] über eine eigentliche und reiche Erschlossenheit seiner selbst verfügen. Dann macht Verschwiegenheit offenbar und schlägt das ›Gerede‹ nieder.« (SZ 165) Insgesamt wecken die Behauptung der Fundierungsstruktur zwischen Rede und Sprache sowie die Deutung der Ausgesprochenheit des Geredeten als einer Entfernung von der Sache einen bestimmten Verdacht: Heideggers Bestreben geht auf eine Ablösung der Bedeutung, des Sinnhaften, vom Zeichen. Die Grundvoraussetzung des Geredes, Zeit nicht per se eine Verdeckungstendenz zugesprochen werden kann; vgl. Stahlhut 1986, 125 ff. 47 Dafür spricht etwa folgende Behauptung: »Die Verlautbarung der Auslegung ist eine Verweltlichung der Entdecktheit« (GA 20, 370). 48 Bemerkenswert ist, dass Heideggers Hervorhebung der herausragenden Bedeutung der Sprache für das Mitsein, welche die antike Rhetorik gesehen habe, in den früheren Marburger Vorlesungen bereits zweideutig ist. So betont er auch hier die Unausweichlichkeit des Geredes: »Wenn die Rede die eigentliche Möglichkeit des Daseins ist, in der es sich abspielt, und zwar konkret und zumeist, dann ist gerade dieses Sprechen auch die Möglichkeit, in die sich das Dasein verfängt […]. Dieser Prozeß des Lebens, in der Welt, in dem, was üblich ist, aufzugehen, zu verfallen an seine Welt, in der er lebt, ist für die Griechen selbst durch die Sprache zur Grundgefahr ihres Daseins geworden. Der Erweis dieses Tatbestandes ist die Existenz der Sophistik.« (GA 18, 108) 49 Hackenesch 2001, 38. Entsprechend kritisiert Jaspers Heideggers Präsentation von Kommunikation als Gerede in Sein und Zeit als Ausdruck einer für dieses Werk typischen »monistische[n] Eintönigkeit« (Karl Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger, hrsg. von Hans Saner, München/Zürich 1978, 33).

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die mit jedem Ausgesprochenwerden des Geredeten gegeben ist, ist schließlich folgende: »Das Ausgesagte als Mitgeteiltes kann von den Anderen mit dem Aussagenden ›geteilt‹ werden, ohne daß sie selbst das aufgezeigte und bestimmte Seiende in greif- und sichtbarer Nähe haben.« (SZ 155) Das Worüber der Rede ist im Miteinander-darüberSprechen also gleichzeitig präsent und nicht präsent. Etwas da haben und es zugleich doch nicht da haben – beschreibt dieses spezifische Zugleich einer An- und Abwesenheit nicht das, was den Zeichencharakter des Zeichens ausmacht? In diesem Zusammenhang ist nicht unwichtig, dass Heidegger stets hervorhebt, dass im Reden-über das »Ding an ihm selbst« das Worüber der Rede sei. Keine »Vorstellung«, kein »psychischer Zustand« sei hier benannt, sondern die Sache selbst. 50 Dennoch liegt in jedem Reden-über eine deutliche Abstandnahme vom beredeten ›Ding‹ beschlossen. Den Gegenstand selbst kann ich nicht zu Anderen reden, allerdings vermag ich im wortlosen Gebrauch des Zeugs ganz bei ihm zu sein – hier, so ein Ergebnis der Umweltanalyse, zeigt es sich schließlich in seinem An-sich. 51 Der Spur eines Ausschlusses des Zeichenhaften aus der Rede soll nun im Folgenden nachgegangen werden.

1.7 Die Rede und das Zeichen 1.7.1

Exkurs: Husserls 1. Logische Untersuchung über »Ausdruck und Bedeutung«

Heidegger selbst unterscheidet in § 17 von Sein und Zeit dezidiert die Verweisungsstruktur des Zeugs vom Zeichen. Die geredete Bedeutungsganzheit sei primär nicht zeichenhaft organisiert, die Verweisungsmannigfaltigkeit soll gerade keine symbolhaft strukturierte Welt vorstellen. Entsprechend grenzt sich Heidegger in den Prolegomena deutlich von Versuchen ab, welche die Phänomene Zeichen und Symbol zur Grundlage für eine Interpretation der Welt im Ganzen verwenden. Er beurteilt eine solche Ausweitung des Zeichenbegriffs als eine »große Gefahr innerhalb der Entwicklung der Geisteswissenschaften« Vgl. SZ 154. Vgl. SZ 69 ff. Siehe dazu auch folgende Bemerkung: Erst im Wortwerden der Bedeutung sei es möglich, die »gehobene Bedeutung […] von der bedeuteten Sache zu unterscheiden« (GA 20, 360). 50 51

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(GA 20, 278). 52 Die Bestimmung des Menschen als eines animal rationale zu ersetzen durch seine Charakterisierung als eines »animal symbolicum« 53 weist Heidegger hier also konsequent ab. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Heidegger sowohl in Sein und Zeit als auch in den Prolegomena an zentralen Stellen zum Phänomen der Bedeutung auf Husserls 1. Logische Untersuchung – über »Ausdruck und Bedeutung« – verweist. 54 So bemerkt er in den Prolegomena im Kontext einer Unterscheidung unterschiedlicher ›Verweisungsphänomene‹ wie Spur, Symptom, Zeugnis: »Innerhalb der Phänomenologie ist besonders immer wieder die Dringlichkeit gespürt worden, diesen Komplex von Phänomenen, den man meist unter dem Titel ›Zeichen‹ zusammenfaßt, einmal endgültig ins reine zu bringen, aber es blieb bei Ansätzen. Einiges gibt Husserl in den ›Logischen Untersuchungen‹ im zweiten Band, wo die erste Untersuchung über Zeichen im Zusammenhang mit einer Abgrenzung des Phänomens der Wortbedeutung gegenüber dem allgemeinen Phänomen (wie er sagt) Zeichen geht.« (GA 20, 276)

Vgl. auch GA 20, 276 f. sowie SZ 77 f. Wenn Stassen Heideggers Konzeption von Weltlichkeit als ein ›Erbe‹ des philosophisch-theologischen Modells der Welt als Buch Gottes interpretiert, übersieht er also Heideggers zentrales Anliegen, die Verweisung vom Zeichen zu unterscheiden; vgl. Stassen 1973, 27. Auch Lafont liest Heideggers Bemerkungen zur Möglichkeit, das »Zeichensein für …« zu einer »universalen Beziehungsart« zu formalisieren, nicht als Kritik, sondern als indirektes Eingeständnis der Symbolhaftigkeit alles Weltverstehens; vgl. Lafont 1994, 57; Fn. 24. 53 Vgl. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt a. M. 1990, 51. Siehe zu Heideggers Abgrenzung von Cassirers Ansatz bei den ›symbolischen Formen‹ Markus Höfner: Sinn, Symbol, Religion. Theorie des Zeichens und Phänomenologie der Religion bei Ernst Cassirer und Martin Heidegger, Tübingen 2008, 245 f. 54 In Sein und Zeit erwähnt er die 1. Logische Untersuchung in Fußnoten in § 17 und § 34; vgl. SZ 77 und 166. Außerdem nennt er Husserls Wiederaufnahme der Problematik um Ausdruck und Bedeutung in den Ideen I (§§ 123–127). In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Husserls 1. Logische Untersuchung in Heideggers Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus eine nicht unwichtige Rolle spielte. Eine zentrale Frage dieser frühen Schrift war schließlich, inwieweit »die Sprache imstande sei, gemeinte Gegenstände und Sachverhalte auszudrücken und zur Darstellung zu bringen« (Martin Heidegger, Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, in: GA 1, 189–411, hier: 248). Dabei ging Heidegger von einer strikten Trennung zwischen Bedeutungen und Wörtern aus: Jene seien »zeitlos identisch dieselben«, während das Wort als reiner Lautkomplex nicht für jeden Hörer bedeutungstragend sei; vgl. GA 1, 235. Siehe zur Sprachauffassung in der Habilitationsschrift in Bezug auf Husserl die Ausführungen bei Stahlhut (Stahlhut 1986, 6 ff.). 52

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Husserl – das legt Heideggers Charakterisierung des Ziels der 1. Logischen Untersuchung nahe – sucht also das Phänomen der Bedeutung vom Zeichen zu unterscheiden. Eben diese Abgrenzung, so die vorläufige These, will auch Heidegger vornehmen. Wenn er dabei mehrfach ausdrücklich auf Husserls Text verweist, dann sollte dieser einen wichtigen und aufschlussreichen Bezugspunkt für Heideggers eigene Überlegungen darstellen. Allerdings ist diese Berufung auf Husserls Untersuchung vor dem Hintergrund des Ansatzes von Sein und Zeit, Da-sein als je faktisches In-der-Welt-sein aufzuzeigen, nicht wenig verwunderlich. 55 Möglicherweise ist die gesamte Problematik, welche sich aus der Differenzierung zwischen Rede und Sprache ergibt, Ausdruck für einen Streit zwischen bewusstseinsphilosophischen ›Restbeständen‹ und dem eigenen Ansatz Heideggers, eine programmatische Hinwendung zum faktischen, pragmatischen Sprechen zu vollziehen. Um möglichen husserlschen Spuren bei Heidegger nachzugehen, seien in prägnanter Form die wichtigsten Ausführungen der 1. Logischen Untersuchung wiedergegeben: 56 Husserls Thematisierung von Ausdruck und Bedeutung beginnt mit der – radikalen – Scheidung von zwei ›Zeichenarten‹ : Anzeichen und Ausdruck. Jedes Zeichen steht nach Husserl für etwas, aber nicht jedes Zeichen hat eine Bedeutung. 57 55 Zudem grenzt sich Heidegger – wie gesehen – ja gerade mit einem Verweis auf die Vorstrukturiertheit all unseres ›Sehens‹ deutlich von Husserls Anschauungsbegriff ab. 56 Als eine eingehende Analyse der 1. Logischen Untersuchung siehe Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, aus dem Franz. übers. von Hans-Dieter Gondek, Frankfurt a. M. 2003. Derrida unternimmt hier den Versuch, »nachzuweisen, daß die Quelle der phänomenologischen Kritik das metaphysische Vorhaben selbst ist, in seiner geschichtlichen Vollendung und in der bloß wiederhergestellten Reinheit seines Ursprungs« (Derrida 2003, 12). Husserls Untersuchung zu »Ausdruck und Bedeutung« entpuppt sich im Zuge der Analysen Derridas als beispielhaftes Dokument für die ›Metaphysik der Präsenz‹. Als eingehende Darstellung der Interpretation Derridas siehe Rudolf Bernet, »Differenz und Anwesenheit. Derridas und Husserls Phänomenologie der Sprache, der Zeit, der Geschichte, der wissenschaftlichen Rationalität«, in: Phänomenologische Forschungen, Band 18 (1986), 51–112. Als Derrida gegenüber kritische Analyse von Husserls »Ausdruck und Bedeutung« siehe außerdem George Heffernan, Bedeutung und Evidenz bei Edmund Husserl. Das Verhältnis zwischen der Bedeutungs- und der Evidenztheorie in den ›Logischen Untersuchungen‹ und der ›Formalen und transzendentalen Logik‹, Bonn 1983. 57 Husserls Beispiele für die nicht-bedeutenden Anzeichen: das Stigma als Zeichen für den Sklaven, die Flagge als Zeichen der Nation, fossile Knochen als Anzeichen für die Existenz vorsintflutlicher Tiere. Auch die Erinnerungszeichen wie der Knopf im Ta-

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Während der Ausdruck als sinnbelebter Wortlaut sich durch einen bedeutungsverleihenden Akt auf Gegenständliches beziehe – welches dabei anschaulich gegeben sein kann oder auch nicht –, 58 weist das Anzeichen nach Husserl auf einen anderen Gegenstand oder Sachverhalt hin, wobei das Verhältnis zwischen dem Anzeichen und dem Angezeigten hier gerade kein objektiv notwendiger Zusammenhang sei. Der gesamte Text ist nun getragen von dem Versuch, den Ausdruck vom Anzeichen rein zu halten. 59 Diese Reinheit existiert nach Husserl aber nur im »einsamen Seelenleben« (Hua XIX/1, 41) – im ›inneren Monolog‹ –, denn in der mitteilenden Rede sind Ausdruck und Anzeichen stets miteinander verflochten. Alle Ausdrücke fungieren in der Kommunikation nach Husserl nämlich als Anzeichen – sie dienen dem Hörenden als Zeichen für die Gedanken des Sprechenden. 60 Im »sich im Verkehr nicht mitteilenden Seelenleben« (Hua XIX/1, 41) dagegen haben die Ausdrücke laut Husserl zwar dieselbe Bedeutung wie in der Mitteilung, sie dienten hier jedoch nicht als Zeichen für die eigenen psychischen Erlebnisse: »In gewissem Sinne s p r i c h t man allerdings auch in der einsamen Rede, und sicherlich ist es dabei möglich, sich selbst als Sprechenden und eventuell sogar als zu sich selbst Sprechenden aufzufassen. Wie wenn z. B. jemand zu sich selbst sagt: Das hast du schlecht gemacht, so kannst du es nicht weiter treiben. Aber im eigentlichen, kommunikativen Sinne spricht man in solchen Fällen nicht, man teilt sich nichts mit, man stellt sich nur als Sprechenden und Mitteilenden vor. In der monologischen Rede können uns die Worte doch nicht in der Funktion von Anzeichen für das Dasein psychischer Akte dienen, da solche Anzeige hier ganz zwecklos wäre. Die fraglichen Akte sind ja im selben Augenblick von uns selbst erlebt.« (Hua XIX/1, 43)

Die Selbstpräsenz der Akte macht ihr Angezeigtwerden in der ›inneren Rede‹ also nach Husserl überflüssig – die Kundgabefunktion fällt weg. Letztlich, dies legen die Ausführungen nahe, benötigt die Innerlichkeit schentuch gehören hierher; vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Text der 1. und 2. Aufl. ergänzt durch Annotationen u. Beiblätter aus dem Handexemplar, hrsg. von Ursula Panzer, Den Haag 1984 (Hua XIX/1), 31. 58 Dies verweist auf die zusätzliche ›Beteiligung‹ eines bedeutungserfüllenden Aktes. 59 Als ›Reinigung‹ interpretiert Heidegger – wie schon angemerkt – Husserls Bewusstseinsphänomenologie generell; siehe GA 17, 72. 60 Mimische und gestische ›Äußerungen‹, welche die Rede begleiten, sind nach Husserl ohnehin dem Anzeichen zuzuschlagen.

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des Bewusstseins sogar gar keine Zeichen, weil die Gewissheit hier unmittelbar gegenwärtig ist. Husserl neigt also dazu, das Anzeichen im Verlauf der Untersuchung mit dem Zeichen generell zu identifizieren. Dass auch der Ausdruck ein Zeichen ist, dass er also für etwas steht, das selbst nicht unmittelbar da ist, gerät im Verlauf der Ausführungen immer mehr in den Hintergrund. Vielmehr wird die im ›monologischen Reden‹ gegebene unmittelbare Anwesenheit des Erlebnisses betont, das hier eben nicht in einem zweiten Schritt erst angezeigt – gegenwärtig gemacht bzw. repräsentiert – werden muss. 61 Es ist deutlich, dass dem Anzeichen von Husserl alle ›weltlichen‹ Merkmale zugeordnet werden: Seinen Ursprung in der Assoziation habend ist ihm eine spezifische Vagheit, Situationsgebundenheit und Endlichkeit eigen. Auch spielt die Dimension der Leiblichkeit allein bei der Charakterisierung des Anzeichens eine Rolle. Während der Anzeige die Charakteristika der Faktizität zugesprochen werden, soll im reinen Ausdruck die Bedeutung hingegen in ihrer Idealität bewahrt werden. Um diese Idealität der Bedeutung geht es im Eigentlichen. Husserl sucht sie bezeichnenderweise mit Beispielen aus der Mathematik zu demonstrieren. So nennt er etwa den Satz »Die drei Höhen eines Dreieckes schneiden sich in einem Punkte«. 62 Es ist offensichtlich ganz gleich, wer diese Aussage trifft, es ist einerlei, wann sie geäußert wird – was sie aussagt, ist nach Husserl immer identisch. 63 Ihr ist eine beständige Wiederholbarkeit eigen, die den ausgesagten Sachverhalt 61 Diesen Punkt arbeitet Derrida konsequent heraus. Er weist überzeugend auf, dass trotz der Unterscheidung zweier Zeichenarten nur das Anzeichen für Husserl wirklich ein Zeichen zu sein scheint; vgl. Derrida 2003, 59 ff. Zentral für die Behauptung, Husserls Text sei ein Musterbeispiel für eine ›Metaphysik der Präsenz‹, welche das Zeichen als Ausdruck einer Nicht-Anwesenheit aus dem Bereich tatsächlichen Erkennens verbanne, ist allerdings ein konsequenter Rückgriff auf Husserls Auffassung von Evidenz als vollkommenster Deckung zwischen der Bedeutungsintention und der Bedeutungserfüllung. 62 Vgl. Hua XIX/1, 49. 63 Eine nicht zu unterschätzende Voraussetzung muss Husserl hier allerdings machen: Er geht stets von der »wahrhaftigen Rede« als dem ›Normalfall‹ aus; vgl. Hua XIX/1, 49. Im Anschluss an Derridas Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie Austins (Jacques Derrida, »Signatur Ereignis Kontext«, in: Derrida 1988 b, 291–314) ließe sich sagen, dass Husserls Vorhaben die nicht-ernsthafte Rede per se ausschließen muss, um die Idealität der Bedeutung überhaupt retten zu können. Die Notwendigkeit einer Abdrängung der Möglichkeit nicht-wahrhaftigen Redens zeigt also exemplarisch die Fraglichkeit der behaupteten Nicht-Relevanz des Kontextes für die Bedeutung einer Äußerung wie der obigen aus dem Feld der Mathematik auf.

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immer wieder präsent machen kann, auch wenn Sprecher und Situation variieren. Gegenüber der Exaktheit aller »Ausdrücke, die in reinen Theorien und Gesetzen auftreten«, beklagt Husserl konsequenterweise die Vagheit der meisten Ausdrücke des »gemeinen Lebens«. Ausrufe wie »Fort!«, »Mann!« oder »Aber – aber!« z. B. könnten ohne eine Kenntnis der jeweiligen Situation überhaupt nicht angemessen verstanden werden. Einsichtig ist außerdem, dass ein bestimmter Ausdruck in einem Wunsch durchaus eine andere Bedeutungsnuance haben kann als in einem Befehl. Auch die Intonation spielt nicht selten eine wichtige Rolle, ebenso Gestik und Mimik. Insgesamt unterscheidet Husserl zwischen »wesentlich subjektiven und okkasionellen Ausdrücken« und »objektiven Ausdrücken«. 64 Während die jeweilige Bedeutung der ersteren sich aus der konkreten Lage ergibt oder durch diese maßgeblich beeinflusst wird, ist der Hinblick auf das jeweilige Gesprochenwerden zu Anderen bei letzteren nach Husserl nicht nötig. Eine möglichst objektive Sprache in der alltäglichen Kommunikation zu verwirklichen, dies scheint für Husserl aber letztlich unmöglich zu sein: »Man streiche die wesentlich okkasionellen Worte aus unserer Sprache heraus und versuche irgendein subjektives Erlebnis in eindeutiger und objektiv fester Weise zu beschreiben. Jeder Versuch ist offensichtlich vergeblich.« (Hua XIX/1, 96) Um Bedeutungen dennoch als »ideale Einheiten« retten zu können, weist Husserl schließlich den Gedanken, dass die Bedeutungen selbst ›schwanken‹ – also: sich verändern, unbeständig sind –, als »widersinnig« zurück und konstatiert lediglich ein »Schwanken des Bedeutens«, also der bedeutungsverleihenden Akte. 65 Bedenkt man nun Heideggers Grundanliegen, das traditionelle Gegensatzpaar von ›innen‹ (Innerlichkeit des Bewusstseins) und ›außen‹ (Welt) zu überwinden, stellt sich die Frage, inwieweit der husserlsche Text nicht vor allem ein besonders eindringliches Zeugnis für den von Heideggers Perspektive aus abzulehnenden Ansatz darstellen müsste. Wer die Rhetorik als »rechtverstandene Logik« begreift, der richtet sich schließlich direkt gegen die Vorstellung einer »reinen Logik«, wie Husserl sie zum Schluss der 1. Logischen Untersuchung präSiehe Hua XIX/1, 86. Beispiele für okkasionelle Ausdrücke sind u. a. die Personalund Demonstrativpronomen. 65 Vgl. Hua XIX/1, 96 f. 64

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sentiert. 66 Wenn Husserl, wie Derrida hervorhebt, »den Logos von der Logik her« 67 bestimmt, müsste sein Ansatz für Heidegger letztlich ein Paradebeispiel für die traditionelle Verkennung von Sprache darstellen. Andererseits zeigte sich schließlich, dass Heidegger immer wieder davor zurückscheut, Rede konsequent als faktische Sprache bzw. jeweils konkretes Sprechen zu begreifen. Ist hier vielleicht noch ein Einfluss von Husserls Ausgrenzung alles Faktischen aus der Sphäre der Bedeutung spürbar? 1.7.2

Heideggers Differenzierung zwischen Verweisung und Zeichen

In den Prolegomena kündigt Heidegger an, dass es nun gelte, das »Phänomen Bedeutsamkeit weniger im Verfolgen seiner eigenen Strukturen zu fassen als durch Abgrenzung gegen verwandte« (GA 20, 278). Die Annäherung erfolgt also – wie bei Husserl – über einen Ausschluss anderer Phänomene, die zu dem, was ›Bedeutung‹ genannt werden kann, in einer gewissen Nähe stehen, gleichzeitig aber deutlich davon abgegrenzt werden müssen. Als solche verwandten Phänomene nennt Heidegger hier: Verweisung, Zeichen und Beziehung. Seine entscheidenden Differenzierungen: Zeichen, Bedeutung und Verweisung sind alles Beziehungen, jedoch in einem rein formalen Sinn. Jedes Zeichen ist laut Heidegger eine ontische Verweisung, aber die Verweisung selbst dürfe nicht als Zeichen begriffen werden. Jedes Zeichen bedeute, aber Bedeutung selbst sei nie Zeichen. 68 Das heißt: Die Verweisung soll nach Heidegger »ontologisch das Fundament für Zeichen« (SZ 83) sein. Letzteres präsentiert Heidegger schließlich als ein Zuhandenes – als ein Zeug, das dazu da ist, um zu zeigen. Als konkrete Beispiele nennt er in Sein und Zeit u. a. Wegmarken, Flursteine, Signale, Fahnen und Trauerzeichen. Außerdem zählt er verschiedene ›Zeichenarten‹ wie Anzeichen, Vor- und Rückzeichen, Merkzeichen und Kennzeichen auf, wobei eine eingehendere Systematisierung der unterschiedlichen 66 So setzt sich Heidegger in seiner Logik-Vorlesung vom WS 1925/26 ausführlich mit Husserls Grundvoraussetzung auseinander, welche die Differenzierung zwischen Ausdruck und Anzeichen überhaupt möglich macht: der »Grundscheidung des Seins als Realem und Idealem« (GA 21, 54). Die Unterscheidung zwischen dem gültigen Sinn eines Urteils und dem konkreten Urteilsvollzug betrachtet er dabei kritisch als fraglose Übernahme eines »banalen Platonismus«; vgl. dazu auch GA 17, 54 und 94. 67 Derrida 2003, 15. 68 Vgl. GA 20, 279 sowie SZ 77.

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Zeichenarten allerdings ausbleibt. Es ist aber leicht ersichtlich, dass die meisten der genannten Zeichen Husserls Kategorie des Anzeichens zuzuordnen sind, z. T. nennt Heidegger dieselben Beispiele. Von diesen Zeichen seien nun zu scheiden: Spur, Überrest, Denkmal, Dokument, Zeugnis, Symbol, Ausdruck, Erscheinung und Bedeutung. In der Tat lässt sich eine Spur etwa schwerlich als ›Zeug‹ begreifen; gerade eine nähere – von Heidegger eben nicht durchgeführte – Thematisierung der Phänomene Symbol und Ausdruck wäre für das Programm von Sein und Zeit jedoch sehr aufschlussreich. 69 Als konkretes Beispiel für ein Zeigezeug nennt Heidegger nun ein Zeichen, das dezidiert auf etwas hinzeigt – ausdrücklich etwas anzeigt –, aber nicht, nach der klassischen Definition (aliquid stat pro aliquo), für etwas anderes steht. 70 Er wählt ein Zeichen mit Signalwirkung: den Richtungspfeil am Auto (die zeitgenössische Variante des heutigen Blinkers). Heideggers Erläuterung: Der vom Wagenführer betätigte Pfeil zeigt die Richtung an, in welche das Auto fahren wird. Er dient so den anderen Verkehrsteilnehmern als wichtige Anzeige, nach der sie ihr eigenes Verhalten im Straßenverkehr richten sollten. Das innerweltliche Zeug Pfeil ist als Zeichen also dazu da, um eine verkehrsregelnde Richtungsanzeige vorzunehmen. Die Verweisung hingegen, welche jedem Zeug eigen ist, zeigt nicht auf etwas hin, sie ist auch nicht fassbar als ein Stehen-für-etwas-anderes. 71 Der Hammer Insgesamt ist Heideggers Aufzählung unterschiedlicher Zeichen nicht wenig problematisch, vor allem, weil er keine konkreten Kriterien für die Unterscheidungen angibt. Nicht überzeugend ist etwa, dass er die Anzeichen generell zu den Zeichen zählt, denn das bedeutet schließlich, z. B. auch das Krankheitssymptom als etwas ›Zuhandenes‹ zu begreifen. Andererseits zeigte sich bereits im vorigen Abschnitt, dass Zuhandenheit nicht an einer Materialität des Zuhandenen festgemacht werden kann, sondern vielmehr am Entdecktsein eines bestimmten Phänomens in einem Verweisungszusammenhang. Wenn die Röte der Haut z. B. entdeckt ist als ein Hinweis auf Fieber, dann ist sie in gewissem Sinne tatsächlich ›zuhanden‹, nämlich als bedeutungshaft erschlossen. Dennoch muss festgehalten werden, dass Heidegger in seiner recht einseitigen Orientierung an der Werkwelt eine differenziertere Sicht auf unterschiedliche Phänomene des Zeigens versäumt. 70 Dies liegt in der Intention des entsprechenden Paragraphen begründet, denn Heidegger möchte hier schließlich ein Zeug präsentieren, das ein Zeugganzes ausdrücklich in die Sicht bringt, so dass sich die Weltmäßigkeit der Umwelt zeigt. Das genannte Signal vermag dies in besonderer Weise zu leisten, weil es in ein ganzes System von verkehrsregelnden Zeichen eingebettet ist und auch die spezifische Räumlichkeit des Da-seins ausdrücklich macht. 71 In dieser abgrenzenden Bestimmung bleibt die Verweisung selbst allerdings recht 69

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z. B. verweist auf den Nagel und den Schuh, aber er steht nicht für diesen oder jenen und er weist auch nicht ausdrücklich auf Nagel und Schuh hin. Die zentralen Parallelen und entscheidenden Differenzen zwischen Husserls und Heideggers Ausführungen sind deutlich: Die große Gemeinsamkeit, welche überhaupt den Anlass für den Husserl-Exkurs gab, liegt in einer Abgrenzung des Phänomens der Bedeutung vom Zeichen. 72 Während bei Husserl der bedeutende Ausdruck jedoch als Sprachausdruck gefasst ist, situiert Heidegger die Bedeutsamkeit des Verweisungsganzen offenkundig im praktischen Umgang mit Zeug und klammert das Phänomen Sprache aus. Doch ein genaueres Hinsehen zeigt, dass erstens bei Husserl die starke Tendenz besteht, diesen sprachlichen Ausdruck auf ein ›innerliches‹ Präsenthaben des Bedeuteten zu reduzieren, welches die Stellvertreterfunktion des Zeichens letztlich überflüssig macht. Zweitens lässt spätestens § 34 von Sein und Zeit die Analyse von Verweisung und Zeichen rückwirkend in einem neuen Licht erscheinen, denn hier wird deutlich, dass die Verweisungsganzheit immer schon durch Rede strukturiert ist. Bezeichnenderweise räumt Heidegger in den Prolegomena ein, er sei mit dem Ausdruck ›Bedeutsamkeit‹ zur Beschreibung der Struktur der Weltlichkeit nicht recht zufrieden, habe aber »keinen anderen gefunden, vor allem keinen solchen, der einen wesentlichen Zusammenhang des Phänomens mit dem, was wir als Bedeutung im Sinne der Wortbedeutung bezeichnen, Ausdruck gibt, sofern gerade das Phänomen in innerem Zusammenhang mit Wortbedeutung, Rede steht. Dieser Zusammenhang zwischen Rede und Welt wird vielleicht jetzt noch ganz dunkel sein.« (GA 20, 275)

Ist Zeichenhaftigkeit – oder eine ›symbolische‹ Vermitteltheit – der ursprünglichen Bedeutungsganzheit abgesprochen, so heißt dies: Erst wenn die Bedeutung ›zu Wort kommt‹, wie Heidegger sich selbst wiederholt ausdrückt, sucht sie sich Zeichen, wird sie selbst so etwas wie ein innerweltlich Zuhandenes bzw. bindet sich an ein innerweltlich Seiendes. Somit stößt die Interpretation bei Heidegger zum wiederholvage. Wie die Beziehung zwischen dem Verweisenden und dem, auf das verwiesen wird, konkreter zu fassen wäre, bleibt letztlich offen. 72 Wobei Husserl allerdings die Anzeichen eben als nicht-bedeutende Zeichen begreift, während Heidegger hingegen betont, Zeichen hätten grundsätzlich Bedeutung, Bedeutung selbst allerdings dürfte nicht als Zeichen bzw. zeichenhaft gefasst werden.

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ten Male auf eine Bewegung des Abdriftens von einem ursprünglicheren Verstehen. Dass das Zeichen nach Sein und Zeit tatsächlich etwas ist, das eine anfängliche Nähe vermissen lässt, d. h. ein innerweltlich Seiendes, das einen Verlust kompensieren soll, machen einige Bemerkungen Heideggers selbst deutlich. Folgende Schilderung der ›Wortwerdung‹ der Bedeutsamkeit suggeriert ein recht spätes Auseinanderfallen von Sache und Bedeutung: »[…] die Bedeutung der Bedeutsamkeit wird […] ausdrücklich gemacht, sie kommt zu Wort. Als so gehobene Bedeutung kann sie nun selbst ihr Wort erhalten, und es besteht jetzt erst die Möglichkeit, die gehobene Bedeutung als Wortbedeutung von der bedeuteten Sache zu unterscheiden – ein seiner Struktur nach komplizierter und in verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten wiederum variierender Prozeß, dessen Darstellung in die Logik gehört.« (GA 20, 360) 73

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch Heideggers Erwähnung des Zeichengebrauchs bei den sog. ›Primitiven‹. Als das Charakteristische des Fetischs und gewisser Zauberpraktiken nennt er das Zusammenfallen des Zeichens mit dem Bezeichneten. In dieser Deckung zeige sich nun aber gerade, dass von ›Zeichen‹ hier letztlich gar nicht geredet werden darf: Das Zusammenfallen liege nämlich daran, dass »das Besorgen noch ganz im Zeigzeug lebt und das Gezeigte ins Zeichen hineinreißt, weil es das Nächste, Gegenwart, ist. Das besagt aber phänomenal, daß überhaupt Zeichenzeug nicht entdeckt ist« (GA 20, 284). Zuletzt liefert die Beschreibung der ›Zeichenproduktion‹ Hinweise auf die Funktion des Zeichens als eines Kompensators: Ein besonders geeignetes Zeichen – z. B. ein Merkzeichen – stelle ich laut Heidegger her, indem ich etwas schon Vorhandenes möglichst auffällig herrichte. Die Materie habe hier aber gerade keine »materielle Funktion«, sondern eine »spezifisch ›geistige‹, nämlich die allgemein ständige Zugänglichkeit zu gewährleisten« (GA 20, 285). Somit »ist alles Zeichennehmen, Zeichengebrauch, Zeichenstiftung nur eine bestimmte Ausformung des spezifischen Besorgens der Umwelt, sofern sie verfügbar sein soll« (GA 20, 285). Auffallend ist hier, dass Heidegger zwei verschiedene ›Wortwerdungen‹ unterscheidet: Die Bedeutung in ihrer Ausdrücklichkeit selbst wird bereits als ein ›Wort‹ bezeichnet, welches dann wiederum ›Wort‹ werden kann. Doch was genau meint diese erste ›Wortwerdung‹ ?

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Heidegger sieht also die Funktion des Zeichens darin, etwas nahe, zugänglich, verfügbar zu machen bzw. zu halten. Ist eine ursprüngliche Nähe allerdings da, sind Zeichen offenkundig schlichtweg überflüssig. Zeichengebrauch drückt also – wie auch in Husserls Thematisierung des Anzeichens überdeutlich wurde – immer einen gewissen Mangel aus: Das Gezeigte ist gerade nicht unmittelbar anwesend im Sinne einer Selbstpräsenz. Es gibt aber sowohl bei Husserl als augenscheinlich auch nach Heidegger die Möglichkeit dieser primären, nicht auf Zeichen zurückgreifenden Zugänglichkeit. Zwar ist es bei Heidegger keine unmittelbare Intuition, auch kein reines Denken, welches von einer Durchdringung mit empirischen, weltlichen Momenten rein gehalten werden soll, aber dennoch geht es um ein Bei-sich-und-der-Sache-Bleiben des redend-verstehenden Daseins, welches im Sichaussprechen sogleich des Zeichens bedarf und somit die ›Bodenhaftung‹ der ursprünglichen Artikulation von Bedeutungen verspielt. 74

1.8 Rede als Miteinandersprechen 1.8.1

Die Mitteilung als ein ›Teilen‹ von Welt

Jedoch hebt Heidegger ausdrücklich hervor, dass Rede wesentlich Mitteilung sei. Dass Sprache zu haben per se bedeutet, mit oder zu Anderen zu sprechen, macht er schon in den Marburger Vorlesungen – vor allem im Anschluss an seine Rhetorik-Rezeption – sehr deutlich. Siehe etwa folgende Stelle aus Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie: »So sehen Sie, daß in dieser Bestimmung, lgon ˛con, ein fundamentaler Charakter des Daseins des Menschen sichtbar wird: Miteinandersein. Und zwar nicht etwa Miteinandersein im Sinne des Nebeneinandergestelltseins, sondern im Sinne des Miteinandersprechendseins in der Weise der Mitteilung, Widerlegung, Auseinandersetzung.« (GA 18, 47)

74 Lafont spricht von einem »Platonismus in der Trennung zwischen dem Zeichen als innerweltlichem Seienden und der Verweisung selbst als ›Bedeutsamkeit‹« und sieht hier ein »Erbe aus der Psychologismuskritik (Husserl, Frege) um die Jahrhundertwende«; vgl. Lafont 1994, 94 f. Auch Tietz und Stassen bemerken die Übereinstimmungen zwischen Husserls und Heideggers Behandlung des Zeichens; vgl. Tietz 1995, 14 sowie Stassen 1973, 25.

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Es ließe sich also behaupten, dass Heidegger der Rede durchaus einen fundamental ›dialogischen‹ Charakter zuschreibt. 75 Wie genau Heidegger jedoch die Artikulation des Mitseins durch die Rede präsentiert, d. h. welchen Status der Andere dabei tatsächlich hat und welche Momente der Mitteilung besonders akzentuiert werden, diesen Fragen soll nun näher nachgegangen werden. Dabei muss zunächst thematisiert werden, was es nach Heidegger bedeuten könnte, den Anderen zu verstehen, und was es heißt, dieses Verständnis ausdrücklich auszuarbeiten. 76 Es zeigt sich sogleich, dass eine Übertragung der zentralen Momente von Verstehen und Auslegung auf das Begegnen Anderer problematisch ist. Denn was meint hier Verstehen, wenn anderes Dasein kein ›Etwas‹ ist bzw. nichts, das auf ein Um-zu entworfen ist? Zudem klingt die Formulierung, der Andere werde im alltäglichen Miteinander ›ausgelegt‹, höchst merkwürdig. 77 Eine gewisse Modifizierung der Begriffe ist also notwendig, um eine sinnvolle Übertragung der Ausführungen zu Verstehen und Auslegung auf den Bereich des Miteinanderseins zu leisten. Die Frage nach einem bestimmten Anderen lautet schließlich nicht »Was ist das?«, sondern vielmehr »Wer ist der da?« oder »Wer war das?«. Die Antwort wird dementsprechend nicht heißen »Er/Sie ist da, um zu …«, sondern könnte z. B. eine Zugehörigkeit oder eine Beziehung angeben: »Er ist der Lehrer von …«, »Sie ist die Schwester von …«. Das ursprüngliche Verstehen, das den Anderen als anderes Dasein immer schon erschlossen hat, wird näher ausgearbeitet in der Kenntnisnahme eines ›jemand als jemand‹. Die Ausbildung des Verstehens erschließt, wer jemand ist. Die ›Beziehung‹ zwischen Dasein und Dasein ist also nicht als Verweisung von Um-zu-Bezügen fassbar – auch wenn die Rolle des Lehrers etwa auf eine bestimmte ›Funktion‹ verweist. Sie besteht vielmehr in einer bestimmten Zugehörigkeit, die ausdrückt,

So hebt v. Herrmann hervor, dass Sprache bei Heidegger »keinen monologischen, sondern einen wesenhaft dialogischen Charakter« habe – Sprache sei hier also »wesenhaft Gespräch«; siehe v. Herrmann 2004, 158. 76 Die folgenden Ausführungen sollen lediglich einige zentrale Momente des redenden Miteinanderseins herausheben – sie können angesichts der Fülle möglicher zwischenmenschlicher Beziehungen und Begegnungen keine Vollständigkeit beanspruchen. 77 Heidegger scheint, dies legt folgende Bemerkung nahe, diese Problematik allerdings nicht zu sehen: »Das Nächste ist […] gerade, daß wir Dinge einfach sehen und nehmen wie sie sind: Tisch – Bank – Haus – Polizist« (GA 21, 145). 75

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dass der eine umwillen des Anderen – oder vielleicht besser: für den Anderen – ›da‹ ist. Die potentielle Zugänglichkeit des Anderen – die nach Heidegger in der fundamentalen »Miterschlossenheit des Daseins Anderer« (GA 20, 328) gründet – kann also in mannigfachen Weisen ausgebildet werden. Diese Möglichkeiten reichen von der bloßen Kenntnisnahme der Rolle und Stellung des Anderen bis hin zur Einsicht in seine Pläne, Wünsche usw. 78 Das ›Wer‹ in der Frage wer jemand sei kann demnach ganz unterschiedlich begriffen werden – es mag auf eine einfache Berufsbezeichnung abzielen oder auf das ›Wesen‹ der Person, d. h. bei Heidegger: auf das Wie des jeweiligen Existierens. Entsprechend kann jemanden kennen bedeuten, lediglich den Namen, Arbeitsplatz oder Wohnort des Betreffenden zu wissen, es kann aber auch meinen, mit dieser Person in einem engen Verhältnis zu stehen, sie also wirklich zu kennen. Grundsätzlich kann sich der Andere in konkreten Situationen als ›offen‹ oder ›verschlossen‹ zeigen – als ›zugänglich‹ oder ›unzugänglich‹. Diese ontische Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit, die ein existenzielles Einanderverstehen ermöglicht oder verhindert, ist jedoch nach Heideggers Ansatz grundsätzlich fundiert in der existenzialen Zugänglichkeit, die es gestattet, jemanden als jemanden überhaupt begegnen zu lassen. Dem schlichten Hantieren mit Zeug entsprechend geht ›man‹ im alltäglichen Besorgen ganz selbstverständlich mit Anderen um, ohne diese Begegnungen selbst in konkreten Aussagen zu formulieren oder durch solche zu kommentieren: Ich reiche dem Verkäufer die Ware, ich nehme dem Lieferanten das Paket ab, ich lege dem Kellner das Geld hin. Diese Vorgänge können durchaus ohne Worte geschehen, es besteht aber stets die Möglichkeit, den Anderen anzusprechen. Während man über einen unvertrauten Gegenstand in der Regel am besten etwas erfährt, indem man Andere über ihn befragt, besteht im Umgang miteinander immer die Möglichkeit, den Anderen selbst zu fragen, wer er sei, was er wolle. Ich kann den Anderen – im Gegensatz zum Zeug – im Besorgen jederzeit um eine Information bitten. So kann er – wenn 78 Ein Beispiel Heideggers zeigt, inwieweit das ausgebildete Verstehen des Anderen stets sein gesamtes In-der-Welt-sein als Sein mit Anderen betrifft: »Wenn ich zu einem Andern sage: ›Sie haben mich verstanden‹, meine ich dabei: ›Sie wissen, woran Sie sind, mit mir sowohl wie mit sich selbst‹.« (GA 20, 357) Das bedeutet: Dem Anderen ist jetzt meine ›Einstellung‹ zu den Dingen bekannt – er weiß, was von ihm erwartet wird, wie ich reagiere, wenn dies oder jenes passiert usw.

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er auskunftsfreudig und kundig ist und wir dieselbe Sprache sprechen – eine mir möglicherweise ›unverständliche‹ Situation, in der wir beide uns befinden, ausdrücklich erläutern. Doch machen solche bloßen Auskünfte nur einen bestimmten Teil alltäglicher Kommunikation aus – vielmehr liegt in jedem Miteinandersprechen die grundlegende Chance, die konkrete ›Lage‹ zu klären, Absprachen zu treffen, Bedingungen auszuhandeln und neue Möglichkeiten des Umgangs miteinander zu diskutieren. 79 Eine jede solche Mitteilung in konkretem Sinne ist nach Heidegger aber – weil Dasein die Welt immer schon mit Anderen teilt – stets nur »ein Sonderfall der existenzial grundsätzlich gefaßten Mitteilung« (SZ 162). Jede spezifische Rede zu Anderen macht also etwas ausdrücklich, was schon ist: »Das Mitsein wird in der Rede ›ausdrücklich‹ geteilt, das heißt es ist schon, nur ungeteilt als nicht ergriffenes und zugeeignetes.« (SZ 162) Die Mitteilung ist nach Heidegger konsequenterweise nie »ein Transport von Erlebnissen, zum Beispiel Meinungen und Wünschen aus dem Inneren des einen Subjekts in das Innere des anderen« (SZ 162), sondern ein explizites Offenbarwerden der Welt als einer im Mitsein erschlossenen. 80 Jedoch ist einer jeden Rede mit und zu Anderen eigen, dass sie sich nicht nur auf die gemeinsam geteilte Welt bezieht, sondern auch eine – in grundlegendem Sinne gemeinte – Anteilnahme am Anderen bedeutet, ein Ansprechen nicht nur von Seiendem in der Welt, sondern ein Ansprechen des Anderen. 81 Allerdings thematisiert Heidegger weder die Möglichkeit des direkten Befragens des Anderen über ihn selbst – also die Artikulation eines durchaus echten Interesses am Anderen –, noch geht er darauf ein, dass sich im Miteinandersprechen eine Hinwendung zum Anderen als anderem Dasein vollzieht, die eine wichtige Dimension der Rede als Mitteilung ausmacht. Eine tatsächliche Hinblicknahme auf die Dimension der Rede als Mitteilung erforderte also eine sehr viel eingehendere Thematisierung der Dimension der ›ZwiDabei sei von den konkreten Bedingungen einer solchen offenen Diskussion abgesehen. 80 Jedes in den Kommunikationswissenschaften übliche Schema, das vom Grundansatz her ein Sender-Empfänger-Modell darstellt, missachtet somit nach Heidegger das ursprüngliche Miteinander in der Welt, das Kommunikation überhaupt erst möglich macht. 81 Weil Buber dieses Moment sehr stark macht, sei hier schon einmal auf ein Fehlen solcher Überlegungen bei Heidegger hingewiesen. 79

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schenexistenzialität‹, die in jedem Gespräch sich herausbildet bzw. ausdrücklich wird. Dagegen legt Heidegger stets den Akzent auf das Sein bei den besprochenen ›Sachen‹ und wiederholt bzw. bekräftigt so die Tendenz, mitweltliche Bezüge auf ein gemeinsames Sein in einer bestimmten Umwelt zu reduzieren. So wird die Mitteilung von ihm selbst im Zuge der Thematisierung der Aussage bestimmt als das »Mitsehenlassen des in der Weise des Bestimmens Aufgezeigten« (SZ 155). Geteilt werde »das gemeinsame sehende Sein zum Aufgezeigten« (SZ 155). Jede Mitteilung »zielt darauf, den Hörenden in die Teilnahme am erschlossenen Sein zum Beredeten der Rede zu bringen« (SZ 168), und das »die Mitteilung vernehmende Dasein bringt sich selbst im Vernehmen in das entdeckende Sein zum besprochenen Seienden« (SZ 224). Das Miteinandersprechen kreist nach diesen Beschreibungen also vornehmlich um das von allen geteilte Worüber der Rede, es ist gemeinsame »Teilnahme am Offenbaren« (GA 20, 362). Im Miteinanderreden vollzieht sich somit nach Heidegger eine ausdrückliche »Aneignung der Welt« (GA 20, 362), die man zusammen letztlich immer schon eingenommen hat. 82 Wenn Heidegger jedoch das ›Hören auf …‹ als »das existenziale Offensein des Daseins« (SZ 163) für die begegnenden Anderen bezeichnet, scheint er durchaus im Blick zu haben, dass im Aufeinanderhören als einer Weise des Miteinanderseins ›interexistenzielle‹ Beziehungen sich ausbilden und gefestigt werden. Folgende Passage aus den Prolegomena macht diese zentrale Bedeutung des Hörens als eines Strukturierens der Mitwelt deutlich: »Das Mitsein ist kein auch unter anderen Menschen Vorhandensein, sondern als In-der-Welt-sein besagt es zugleich, den Anderen ›hörig‹ sein, auf sie hören, bzw. nicht hören. Das Mitsein hat die Struktur der Zu(ge)hörigkeit zum Anderen, und erst aufgrund dieser primären Zugehörigkeit gibt es so etwas wie Absonderung, Gruppenbildung, Ausbildung von Gesellschaft und dergleichen.« 83 82 Entsprechend der Umgewichtung des Verhältnisses zwischen Um- und Mitwelt zugunsten letzterer hebt Löwith in Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen die Bedeutung des Miteinandersprechens als eines Ansprache-Antwort-Geschehens ausdrücklich hervor. Es verwundert nicht, dass Heidegger in seinem Gutachten bemerkt, dass in Löwiths Analyse des Miteinandersprechens »neben der Betonung des Verhältnisses der Redenden zu einander über Gebühr das Verhältnis beider zu dem, worüber gesprochen wird, zurückgedrängt ist«; vgl. Löwith 1981, 473. 83 GA 20, 367. Zur zentralen Stellung des Hörens in Bezug auf das Mitsein vgl. auch die

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Doch lässt die Fokussierung auf das Sein bei der geteilten Welt ahnen, dass Heidegger dieses Hören wesentlich als ein Hören auf das begreift, was der Andere als ein bestimmter Jemand über Seiendes sagt. 84 So entpuppt sich das fundamentale Hören auf die Anderen als zweideutig: Die ›Hörigkeit‹ den Anderen gegenüber vermag einmal die grundlegende Struktur des Mitseins im Bereich der Rede deutlich zu akzentuieren. Andererseits legt die Betonung der grundlegenden Bezogenheit auf die besprochenen Sachen und Sachverhalte nahe, dass das Den-Anderen-hörig-Sein durchaus auch mit einem nicht mehr selbstbestimmten Reden identifiziert werden könnte, kurz: mit dem Gerede. Es hat sich gezeigt: Kommunikation ist in Sein und Zeit als konkrete Realisierung des grundlegenden Miteinanders in einer immer schon sinnhaft strukturierten Welt konzipiert. Die ursprüngliche Zugehörigkeit zu den Anderen bildet sich in den jeweiligen Situationen als Zugehörigkeit eines bestimmten Jemand zu einem anderen Jemand aus, wobei Heidegger diesen Jemand, mit dem man spricht und auf den man hört, vornehmlich als einen aus der gemeinsamen Umwelt heraus begegnenden begreift. Das bedeutet: Auch die Ansprache ist in gewissem Sinne von vornherein ›geregelt‹, weil das alltägliche Besorgen vorgibt, wer wie angesprochen wird. Indem Heidegger jedoch stets den Fokus auf die gemeinsam zu besprechenden ›Dinge‹ legt, um derentwillen der Andere überhaupt angesprochen wird, entwirft er das Bild von Kommunikation als eines Herumgruppierens um die beredeten Sachen. 85 Nicht allein das Moment der Hinwendung zum Anderen, der geentsprechenden Bemerkungen im Zuge der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Rhetorik (GA 18, 103 ff.) sowie die Äußerungen in der Abhandlung »Der Begriff der Zeit« (konkret: GA 64, 28). 84 Bei seiner Betrachtung des Hörens macht Heidegger deutlich, dass Dasein nie voraussetzungslos einfach nur hinhört – vielmehr sei auch das Hören immer schon auslegend-verstehend. Wir hören, so Heidegger, nie eine chaotische Abfolge von Tönen, sondern das Auto oder den Vogel, weil Dasein immer schon beim innerweltlich Zuhandenen sich aufhält. Es zeigt sich erneut: Die in einem grundlegenden Verstehen bereits vertraute ›Welt‹ wird als spezifische Umwelt immer schon sinnhaft ›erfahren‹. Allein vor dem Hintergrund prinzipieller Nähe kann etwas Gehörtes dann ausdrücklich nicht verstanden werden. 85 Dass Heidegger die eigene Dynamik der Rede in ihrem Hin-und-her-Gehen zwischen erster und zweiter Person und ihre Bedeutung für die Sinnstiftung des In-der-Weltseins nicht sieht, behauptet auch Wellmer. Er beurteilt Heideggers Konzeption von Sinn als monologisch; vgl. Wellmer 2004, 367 f.

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genseitigen Anteilnahme im Miteinandersprechen, auch die Möglichkeit der Herausforderung, ja Konfrontation mit Anderen im Zueinandersprechen ist nach Heideggers Konzeption ein ›sekundäres‹ Phänomen gegenüber dem grundlegenden Verständnis des Anderen. Das Verweigern im Gespräch, uneinsichtige Abkehr etwa oder auch Unverständnis der Position des Gegenübers, sind schließlich nur möglich vor dem Hintergrund des fundamentalen Den-Andern-immer-schon-verstanden-Habens im Sinne eines Teilens der Welt. Es wiederholt sich so konsequenterweise die Vorstellung des Fremden oder Befremdlichen als eines in seinem Sinn noch nicht Erschlossenen: Das, was der Andere sagt, ist vor dem Hintergrund der vorgängigen Vertrautheit letztlich immer potentiell verstehbar – ontisches Nicht-Verstehen ist stets nur eine Privation, ein vorläufiges Nicht-Verstehen. 1.8.2

Die Stimme: Anklang einer ›Betroffenheit‹ in jeder Rede

Jedoch betont Heidegger auch, dass das jeweilige Dasein im Besprechen der Sache stets sich mitausspreche. Also hört es im Hören dessen, was der Andere sagt, zugleich auf diesen als sichaussprechendes anderes Dasein. Dabei wird nach Heidegger konsequenterweise nicht etwas, das ursprünglich im ›Innern‹ des Daseins verborgen liegt, nach außen getragen, sondern das »Ausgesprochene ist gerade das Draußensein, das heißt die jeweilige Weise der Befindlichkeit (der Stimmung)« (SZ 162). 86 In jedem Sprechen ›spricht‹ die spezifische Befindlichkeit des Redenden – sein jeweiliges In-der-Welt-sein unter Anderen – mit, und zwar, wie Heidegger bemerkt, vornehmlich »im Tonfall, der Modulation, im Tempo der Rede, ›in der Art des Sprechens‹« (SZ 162). 87 Indem Heidegger somit hervorhebt, dass jedes konkrete Miteinandersprechen stimmhaft ist, weil es gestimmt ist, eröffnet er die Möglichkeit, die Faktizität des Sprechens ausdrücklich in den Blick zu nehmen 86 Heidegger verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Dichtung: »Die Mitteilung der existenzialen Möglichkeiten der Befindlichkeit, das heißt das Erschließen von Existenz, kann eigenes Ziel der ›dichtenden‹ Rede werden.« (SZ 162) Siehe als eine der wenigen Stellen zur Dichtung in den 20er Jahren auch GA 24, 244 sowie zur Möglichkeit einer Erschließung neuer Seinsmöglichkeiten durch ein echtes Miteinanderreden GA 21, 375. 87 Ebenso könnte man mit Löwith auch Mimik und Gestik – die ›sprechende‹ Gebärde und den ›vielsagenden‹ Blick – als Ausdruck der Befindlichkeit begreifen; vgl. IRM 139. Doch hebt auch Löwith die Stimme besonders hervor; siehe IRM 141.

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und die Suche nach einer ›Reinheit‹ des Ausdrucks endgültig als »Angst vor dem Dasein« (GA 17, 97) zu entlarven. 88 Die Stimme als ›Ausdruck‹ 89 des Sichbefindens von Dasein ist also keineswegs identifizierbar mit der phänomenologischen Stimme im Sinne Derridas, die ein Sich-Sprechen-Hören als reine Selbstaffektion meint. 90 Die Sichtung der Stimme als Phänomen zeigt vielmehr gerade auf, dass Dasein Welt als in sie hineingeworfen redend gliedert. Die ausdrückliche Berücksichtigung der Stimmhaftigkeit der Rede folgt so einer Bemerkung in Heideggers Handexemplar von Sein und Zeit: »Für Sprache ist Geworfenheit wesentlich.« (SZ 443; 161a) Das bedeutet, dass eine grundlegende Souveränität des jeweiligen Sprechers radikal in Frage gestellt wird: »Die Stimmung überfällt« (SZ 136) und entsprechend lässt sich die Stimme nicht immer kontrollieren. Die Stimmhaftigkeit der Rede macht also deutlich, dass jedem konkreten Reden ›etwas‹ vorausgeht, was nicht in der Macht des Sprechers liegt – die bestimmten Umstände einer Sprechsituation, die Ansprache Anderer, auf die geantwortet wird. Als befindliche hebt eine Rede nie voraussetzungslos an – auch wenn dem Redenden in einer Diskussion etwa das ›erste Wort‹ eingeräumt wird. 91 Beachtet man, Folgende Stelle zeigt jedoch erneut Heideggers Zurückscheuen vor einer tatsächlichen Anerkennung der fundamentalen Bedeutung der Befindlichkeit für das redende Verstehen: »Im ›natürlichen‹ Hören des Worüber der Rede können wir […] zugleich auf die Weise des Gesagtseins, die ›Diktion‹ hören, aber auch das nur in einem vorgängigen Mitverstehen des Geredeten; denn nur so besteht die Möglichkeit, das Wie des Gesagtseins abzuschätzen in seiner Angemessenheit an das thematische Worüber der Rede.« (SZ 164) 89 Hier von ›Ausdruck‹ zu reden, ist allerdings nicht unproblematisch. Einmal klingt die nach Heidegger zu überwindende Trennung von ›innen‹ und ›außen‹ an; zweitens wird nahegelegt, die Färbungen der Stimme ließen sich nach dem Vorbild einer zweiten Sprache ›lesen‹ und eindeutig bestimmten Stimmungen zuordnen. 90 Die ›phänomenologische Stimme‹ bedeutet ja gerade den Ausschluss von Faktizität, das reine Bei-sich-selbst-Bleiben; vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, aus dem Franz. übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a. M. 1983, 25, 54 und 162 sowie Derrida 2003, 95 ff. 91 Siehe dazu Waldenfels’ Bemerkungen zur Stimme als Phänomen in Abgrenzung von Derridas Logozentrismus-Deutung in Bernhard Waldenfels, Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt a. M. 1999, 12 sowie ders., Deutsch-Französische Gedankengänge, Darmstadt 1996, 102 ff. Waldenfels sieht in der Stimme als Phänomen gerade eine Untergrabung jeglicher Präsenzmetaphysik. Ebenso lässt sich mit Roland Barthes und Giorgio Agamben eine Derrida gegenüber kritische Auslegung der Stimme vornehmen; siehe dazu Meike Siegfried, »Husserls ›Angst vor dem Dasein‹ und Heideggers ›Angst vor der Stimme‹. Zur Sprachkonzeption in Husserls 88

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welche Stimmung Heidegger wählt, um die Möglichkeit des Angegangenwerdens von etwas Innerweltlichem her zu beschreiben, dann ließe sich sagen, dass es besonders die vor Furcht zitternde Stimme ist, in welcher ein direktes Betroffensein von der Welt her mitklingt. Die Stimme begleitet aber nicht nur jedes Sprechen, sondern sie prägt die Bedeutung des Gesagten bzw. des Sagens selbst wesentlich mit. Eine scheinbar schlichte Frage wie »Was meinst Du damit?« vermag nicht nur ein sachliches Interesse auszudrücken, sondern je nach Stimmung und stimmlicher Artikulation bekundet sie Neugier, Skepsis, Unmut oder gar Entrüstung. Grammatisch eindeutig als Frage identifizierbar kann die Äußerung also in bestimmten Situationen zu einer Drohung gegenüber dem Anderen oder einer Demonstration der eigenen Befindlichkeit werden. Eine »absolute Nähe […] zur Idealität des Sinns« 92 – wie sie Derrida im Anschluss an seine Husserl-Analyse der phänomenologischen Stimme zuspricht – ist im faktischen Reden also gerade aufgehoben, weil die jeweilige Stimmung des Redens nicht ›neutralisiert‹ oder ›ausgeschaltet‹ werden kann. Prägnant zusammengefasst: Das stimmhafte Moment jeder Rede macht eine grundlegende »Preisgegebenheit« des Daseins offenbar. 93 Allerdings weist Heidegger auch darauf hin, dass die sich in der jeweilig so oder so gefärbten Stimme niederschlagende Befindlichkeit ihrerseits durch bestimmte Vorgaben des Man beeinflusst, ja kontrolliert werden kann: Die im Gerede sich verfestigende Ausgelegtheit organisiere die »Möglichkeiten des durchschnittlichen Verstehens und der zugehörigen Befindlichkeit« (SZ 167 f.; Hervorhebung M. S.). Einem ist, wie einem in dieser oder jener Situation zu sein hat – man ist betroffen, man freut sich, man zeigt Interesse. In den Prolegomena hebt Heidegger ebenfalls eine beständige Bedrohung für die ›Echtheit‹ des Sichbefindens durch die herrschende Meinung hervor: »Durch Vorgabe bestimmter Weisen des Gestimmtseins, des Fühlens, kann sich eine Befindlichkeit ausbilden, die ein Dasein in ein fremdes verkehrt« (GA 20, 377). Die Stimme, welche die Angänglichkeit des Daseins von der Welt her ›mitklingen‹ lässt, steht also nach Heidegger stets in der 1. Logischer Untersuchung und Heideggers Sein und Zeit«, in: Heidegger und Husserl im Vergleich. Heidegger Forum 3, hrsg. von Friederike Rese, Frankfurt a. M. 2010, 169– 185, hier: 183 ff. 92 Derrida 1983, 25. 93 Von einer »Preisgegebenheit« des Daseins spricht Heidegger bezüglich der Geworfenheit in der Einleitung in die Philosophie; vgl. GA 27, 328 f.

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Gefahr, sich den Erwartungen der Anderen oder ihren jeweiligen Stimmungen anzupassen, sich auf die Anderen abzustimmen. Die Betroffenheit des Daseins von der Welt und anderem Dasein her droht so aber wiederum ausschließlich als Bevormundung des je eigenen Daseins durch die Anderen verstanden zu werden – als Verlust eigentlicher Gestimmtheit, die keiner Dominanz des Man ausgesetzt ist.

1.9 Vorsagen und Nachreden – Die Ambivalenz der Sprachauffassung in Sein und Zeit Die Interpretation unterschiedlicher Aspekte der heideggerschen Sprachauffassung in Sein und Zeit hat gezeigt, dass die Präsentation von Rede als einer Weise des In-Seins von einer grundlegenden Ambivalenz geprägt ist: Auf der einen Seite kommt der Rede als Artikulation der Verständlichkeit eine ganz zentrale Rolle zu. Einige Bemerkungen Heideggers legen gar nahe, dass die Rede Befindlichkeit und Verstehen als den beiden anderen Erschlossenheitsweisen nicht gleichgestellt, sondern übergeordnet ist, weil sie beide dominiert. Heidegger in den Grundbegriffen der aristotelischen Philosophie von 1924: »Die Herrschaft der Ausgelegtheit hat der lgo@.« (GA 18, 276) 94 Andererseits enthüllte die Interpretation von Auslegung und Aussage, Rede und Sprache, Bedeutung und Zeichen sowie Gerede und Mitteilung eine auffällige ›Sprachskepsis‹ – Skepsis in dem Sinne, dass Heidegger davor zurückscheut, die Faktizität der jeweils konkreten Sprache sowie des tatsächlichen Sprechens als unhintergehbares Moment des verstehend-redenden In-der-Welt-seins tatsächlich anzuerkennen. In Anlehnung an Heideggers eigene Entlarvung der husserlschen Bewusstseinsphilosophie als »Angst vor dem Dasein« (GA 17, 97) ließe sich sagen, Dementsprechend behauptet v. Herrmann, dass das Existenzial Rede »höheren Wesens« sei, »weil es alle anderen Existenzialien durchgreift und durchmachtet«; vgl. v. Herrmann 2004, 112 f. Auch Stassen räumt der Rede eine Sonderstellung ein und spricht in Anspielung auf Heideggers späteres Sprachdenken vom »›Haus‹ des Daseins« (Stassen 1973, 120). Hingegen betont Gethmann, dass Heideggers Kritik an der Bewusstseinsphilosophie nicht zwangsläufig mit einer Hinwendung zur Sprache verbunden sei: »Heidegger propagiert eine Wende von der Phänomenologie der Bewußtseinstatsachen zur Phänomenologie der ›Werkwelt‹«; vgl. Carl Friedrich Gethmann, »Heidegger und die Wende zur Sprache«, in: ders., Vom Bewußtsein zum Handeln. Das phänomenologische Projekt und die Wende zur Sprache, München 2007, 169–184, hier: 180 f. 94

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dass die Sprachbetrachtungen in Sein und Zeit von einer latenten ›Angst vor der Stimme‹ geprägt sind. Insofern lebt in Heideggers Betrachtung von Rede und Sprache die Sorge Husserls um eine von empirisch-weltlichen Bezügen noch nicht kontaminierte ›Sphäre‹ bedeutungshaften Ausdrucks unterschwellig – wenn auch in deutlich modifizierter Form – fort. Für die Ambivalenz der Sprachauffassung in Sein und Zeit äußerst bezeichnend ist es, wenn Heidegger am Ende von § 34 noch einmal die grundsätzliche Frage nach der Seinsart von Sprache aufwirft: Im Grunde müsse sich »die philosophische Forschung einmal entschließen zu fragen, welche Seinsart der Sprache überhaupt zukommt. Ist sie ein innerweltlich zuhandenes Zeug, oder hat sie die Seinsart des Daseins oder keines von beiden?« (SZ 166) Mit dieser Äußerung gesteht Heidegger seine eigene Unentschlossenheit bezüglich der Bedeutung von Sprache für das In-der-Welt-sein letztlich selbst ein. 95 Die einzelnen Interpretationen in diesem Abschnitt entdeckten eine Reihe von Abdriftungsbewegungen, die bestimmte Sprachphänomene als von einem ursprünglichen Erschließen wegstrebend präsentierten. Die aufgezeigten Tendenzen einer Entfernung lassen zwar all diese Phänomene als ›sekundär‹ gegenüber einem ›früheren‹ Be-deuten erscheinen, sie müssen aber aufgrund der Komplexität der heideggerschen Konzeption sorgfältig voneinander unterschieden werden. So lassen sich die Überlegungen zur möglichen Vorsprachlichkeit der Auslegung in gewissem Sinne an die Frage nach dem Verhältnis von Um- und Mitwelt anschließen, die im vorigen Abschnitt behandelt wurde. Schließlich ist das Miteinandersprechen eine wesentliche Komponente mitweltlichen Seins, wenn auch nicht die einzige. Die Auslegung als vorsprachlich und nicht nur vorprädikativ oder vorpro95 Die Ambivalenz der Sprachauffassung in Sein und Zeit drückt sich noch in zwei weiteren zentralen Aspekten aus, die hier allerdings nicht eingehender behandelt werden können. So ist es erstens problematisch, die Rede in der Sorgestruktur als »Sichvorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)« wiederzufinden. Weil das Verstehen dem Entwurfcharakter des Daseins zugeordnet werden kann und die Befindlichkeit vornehmlich die Faktizität erschließt, bliebe für die Rede nur das Verfallen übrig, welches Heidegger ja ausdrücklich in die Sorge integriert. Eine solche Identifizierung zwischen Rede und Verfallen legt aber wiederum nahe, Sprache vornehmlich als Gerede zu begreifen. Möglicherweise durchgreift die Rede auch alle drei Sorgemomente – dann nähme sie eine herausragende Stellung ein. Außerdem hat Heidegger Schwierigkeiten, der Rede eine spezifische Zeitekstase zuzuordnen.

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positional zu begreifen, bedeutet letztlich, die Betrachtung des Umgangs mit Zuhandenem primär am Hantieren eines einzelnen Daseins auszurichten, das ganz bei den Dingen und bei sich ist, und dann dieses Sein-bei nachträglich thematisiert und gegenüber Anderen artikuliert. Zwar konfrontiert Heidegger das tatsächliche Miteinandersprechen in der besorgten Welt nicht mit einem vorsprachlichen Denken – einem einsamen Operieren mit ›Seeleneindrücken‹, die dann erst für die zwischenmenschliche Kommunikation ›versprachlicht‹ werden –, doch zeigte vor allem die Charakterisierung des Geredes auf, dass Heidegger das tatsächliche Sprechen – als ein Auslauten von Sprache – mit einem Verlust der Rede als einer ›eigenen‹ oder ›eigentlichen‹ Artikulation der Verständlichkeit begreift. Somit gerät seine Auslegung aber unweigerlich in die traditionelle Differenzierung von ›innen‹ und ›außen‹, ›privat‹ und ›öffentlich‹ hinein. Doch auch wenn das Hantieren mit Zeug sich ohne tatsächlich ausgesprochene Worte vollziehen kann – die spezifische Umwelt ist schließlich nach Heidegger selbst immer eine gemeinschaftlich geteilte. In dieser werden nicht nur Namen für die zugänglichen ›Zeuge‹ geprägt – so dass der Umgang sich stets auf ein schon benanntes ›Etwas‹ bezieht –, sondern es werden auch die konkreten Regeln für den Umgang mit einem bestimmten Zuhandenen durch interexistenziale Verständigung festgelegt, weitergegeben und bekräftigt. Sprachlichkeit aus dem alltäglichen Umgang mit Zuhandenem auszuschließen, bedeutet demnach stets, die Komponente der Mitweltlichkeit abzudrängen. Die Differenzierung zwischen Rede und Sprache hingegen erweitert die Komplexität der Sprachproblematik in Sein und Zeit insofern, als sie die Diskussion auf eine neue Ebene verlagert. Es steht nun nicht mehr allein zur Debatte, welche Rolle Sprache und Sprechen in der faktischen Lebenswelt des Daseins spielen, sondern es geht um die Bedeutung der Faktizität überhaupt für das Da-sein und somit um die ›Schlagkraft‹ der heideggerschen Existenzialanalyse gegenüber der traditionellen Betrachtung des Menschen als eines geistigen Wesens, das Sprache hat. Indem Heidegger in § 34 explizit mit der Differenz ontologisch – ontisch arbeitet, schließt er seine Thematisierung von Rede und Sprache an die Interpretation der Weltlichkeit der Welt – also an die Überlegungen zur Gewinnung eines existenzial-ontologischen Weltbegriffs – an. Die spezifische Bedeutsamkeit einer konkreten Umwelt ist dem jeweiligen Dasein immer schon vorgegeben, weil es in 218 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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diese Umwelt hineingeworfen ist. Heidegger stellte nun aber dezidiert die Frage nach der Möglichkeit von Bedeutsamkeit überhaupt und ließ diese in § 18 von Sein und Zeit im Dasein als einem letzten Worumwillen ›gründen‹. 96 Im vorigen Abschnitt dieser Untersuchung wurde das Dasein daher als Kosmopolit bezeichnet – weil alles in einer ontischen Umwelt Begegnende aufgrund der fundamentalen Vertrautheit mit Weltlichkeit überhaupt dem Dasein nie als tatsächlich Fremdes, sondern nur als ein noch nicht gänzlich verstandenes ›Etwas‹ begegnen kann. Wenn Heidegger nun mit der Rede als existenzial-ontologischem Fundament jeglicher Sprache die Strukturierung dieser jeder Umwelt vorhergeworfenen Ordnung näher charakterisiert, dann bedeutet dies, dass jedes spezifische Sprechen in der Welt sich als ein Zurückkommen auf die schon vorher-geredete Gliederung von Welt begreifen lässt. 97 Jede konkrete ›Weltansicht‹ einer bestimmten Sprache wie der englischen, japanischen oder hebräischen – so unterschiedlich ihre spezifischen Grammatiken etwa auch sein mögen – ist nur möglich aufgrund der Geredetheit von Welt als solcher. Indem Heidegger Rede als ontologisches Fundament von Sprache entdeckt, ›verankert‹ er die Welt als Bedeutungsganzheit also im redenden – d. h. eben nicht faktisch sprechenden – Da-sein. Somit nimmt die Rede eine herausragende Rolle bei der Ermöglichung und Ausgestaltung des fundamentalen Zuhauseseins in der Welt ein – sie gibt der Ökonomie des Da-seins ihre Struktur und kann insofern durchaus als eine ›transzendentale Größe‹ begriffen werden. 98 In einem Beitrag in Nietzsche II interpretiert Heidegger die Metaphysik der Neuzeit – die Fokussierung auf das welterkennende bzw. weltkonstituierende Subjekt – durch folgenden prägnanten Satz: »Die Wirklichkeit des Wirklichen ist die Vorgestelltheit durch das vorstel96 Während die Rede in diesem Paragraphen nicht erwähnt wird, spielt das existenziale Verstehen bereits eine zentrale Rolle; vgl. SZ 87. 97 Vgl. GA 21, 147, wo Heidegger selbst das Verstehen eines Begegnenden als ein Zurückkommen fasst. 98 Vgl. dazu Apel 1963, 54 ff. sowie Stassen 1973, 48. Inwieweit Heideggers Vorhaben, in einer Abgrenzung von bewusstseinsphilosophischen Paradigmen das faktische Dasein in den Blick zu nehmen, zum Scheitern verurteilt ist, weil er mit seiner Differenzierung ontologisch – ontisch die traditionelle Unterscheidung transzendental – empirisch beerbt, zeigt hinsichtlich der Sprache Lafonts Beitrag konsequent auf; vgl. Lafont 1994, 21, 36 ff., 63, 103 und 109 f.

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lende Subjekt und für dieses.« 99 Eine ›Übersetzung‹ dieser Charakterisierung in die Sprache von Sein und Zeit zeigt, wie Heideggers Bestimmung der Rede als einer jeder Sprache vorausgehenden Artikulation von Bedeutsamkeit die Radikalität seiner Ablösung von der klassischen Subjektphilosophie in Frage stellt: Die Bedeutsamkeit des Bedeutenden ist in Sein und Zeit die Geredetheit durch das redende Dasein und umwillen seiner. 100 Wenn Heidegger jedoch gegen den Primat der Anschauung in Husserls Bewusstseinsphilosophie betont, dass »wir sehen, was man über die Sache spricht« (GA 20, 75), dann macht er deutlich, dass es eine jeweils geschichtlich konkrete, in einer bestimmten Begrifflichkeit dem Dasein vorgegebene Welt ist, in welche das Dasein als faktisches hineingeworfen ist, der gegenüber es sich nicht ›neutral‹ positionieren und entwerfen kann und in der es strenggenommen nie ›das erste Wort‹ hat. Faktisches Dasein ist stets an schon installierte Zeichensysteme verwiesen, an Regeln des Zeichengebrauchs, die Andere gemacht haben: »Auf die Welt kommend wächst man in eine bestimmte Tradition des Sprechens, Sehens, Auslegens hinein.« (GA 18, 274) Wenn Heidegger in der Einführung in die phänomenologische Forschung Nietzsche mit dem Satz zitiert »Jedes Wort ist ein Vorurteil«, dann ließe sich dieses Zitat durchaus als besonders prägnante Herausstellung der fundamentalen Vorstrukturiertheit des faktisch redend-verstehenden Da-seins lesen. Heidegger bringt es allerdings in einem anderen Kontext – er beklagt hier wiederum die mit der Faktizität des Sprechens einhergehenden Möglichkeiten der Täuschung und Verdeckung. 101 So streiten in Sein und Zeit zwei unterschiedliche Begriffe eines Vorsagens und Nachredens miteinander: Die Rede gehört der Dimension eines transzendental-apriorischen ›Vor‹ an. Das Zurückkommen 99 Martin Heidegger, Der europäische Nihilismus, in: ders., Nietzsche. Zweiter Band, Pfullingen 1961, 31–256, hier: 129. Im Folgenden wird der Band zitiert als N II. 100 Strenggenommen muss in Sein und Zeit also unterschieden werden zwischen der geredeten Bedeutsamkeit überhaupt als dem vorhergeworfenen Strukturganzen, den geredeten Bedeutungen in einer konkreten Umwelt und der ›Versprachlichung‹ dieser Bedeutungen. 101 Siehe GA 17, 36 sowie Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, in: ders., Menschliches, Allzumenschliches I und II. Kritische Studienausgabe Band 2, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Aufl., München 2002, 367–704, hier: 577. Nietzsche spricht hier von der »Gefahr der Sprache für die geistige Freiheit« und in eben dieser Hinsicht führt Heidegger das Zitat in seiner Vorlesung an.

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auf dieses ›Vor‹ in jedem aktuellen Sprachgebrauch zeigt, dass die Abgrenzung der Rede von der Sprache dem Denkmodell der Heimkehr verpflichtet ist. Denn indem Da-sein im redenden Gliedern der Welt den Spielraum für jegliches ontische Besorgen mit Anderen einräumt, ist es als sprechendes in einem fundamentalen Sinne bei sich – denn die Welt präsentiert sich als ein vom Dasein selbst eingerichteter Kosmos. Die Rede ist im Grunde monologisch, weil sie von keiner echten Stimmenvielfalt geprägt ist. Die Sprache als weltliche Ausprägung von Rede hingegen verweist auf ein faktisches, nicht ein- oder wieder-holbares ›Vor‹, welches anzeigt, dass das jeweilige Dasein den Spielraum für das eigene Sprechen immer schon von den faktischen Sprachgewohnheiten und den sprechenden Anderen her vorgegeben bekommt. Die Vorstruktur des Verstehens im Sinne dieses faktischen ›Vor‹ zu begreifen, das bedeutet schließlich, eine »apriorische Passivität« 102 in allem Sprechen aufzuzeigen: Im je eigenen Verstehen ist dem einzelnen Dasein das geredete Verständnis Anderer stets voraus. Die Diskussion um die Abdrängung des Zeichens aus dem ursprünglichen Erschließen der Bedeutungshaftigkeit von Welt zeigte besonders eindringlich, was mit der Aufgabe der Differenz zwischen Rede und Sprache – d. h. zugleich der Anerkennung der Faktizität der Rede selbst – letztlich auf dem Spiel steht: die grundlegende Nähe und Verfügbarkeit alles Seienden für das redende Dasein. Redendes Verstehen garantiert schließlich die prinzipielle Zugänglichkeit des Innerweltlichen – sie macht möglich, dass für das Dasein Seiendes potentiell anwesend ist. 103 Bedeutsamkeit bezeichnet Heidegger selbst als »Modus der Anwesenheit, auf die alles Seiende der Welt hin entdeckt ist«

102 Jaspers bezeichnet das Moment der Geworfenheit als Herausstellung einer solchen apriorischen Passivität des Daseins; vgl. Jaspers 1978, 27. 103 Dementsprechend behauptet Stassen: »Eine von Heidegger selbst nicht ausgeführte Voraussetzung, auf der seine phänomenologische Methode beruht, ist der Gedanke der Zugänglichkeit alles Seienden« (Stassen 1973, 25). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Heideggers Darstellung der Anschauung bei Husserl als »erfassende[s] Haben des Seienden selbst in seiner Leibhaftigkeit« (GA 21, 103). Es wird hier deutlich, dass Heidegger nicht zu diesem ›Ideal‹ eines Habens der ›Sachen‹ in Distanz tritt, sondern lediglich zur Orientierung dieses Habens am theoretischen Erfassen der Dinge. Am Beispiel einer Tafel bemerkt er schließlich, dass diese »dann in einem eigentlichen Sinne leibhaftig da« sei, »sofern sie in dem gebraucht wird, was sie ist« (GA 21, 104). Dass dieses Gebrauchen ein Über-die-Tafel-Reden gerade ausschließt, macht er kurz darauf ebenfalls deutlich; vgl. GA 21, 105.

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(GA 20, 287). Die Leistung der Rede sei es, »etwas als offen da, als vorhanden seiend zugänglich zu machen« (GA 63, 11). Das Zeichen soll schon gegenüber der Verweisung eines bestimmten Zeugs ›sekundär‹, d. h. in dieser fundiert sein – würde die ›Zeichenhaftigkeit‹ nun auf die Ebene der Rede verlegt, so bedeutete dies nichts weiter als eine radikale Infragestellung der grundlegenden Näherbarkeit alles Seienden sowie der Anderen für das je eigene Dasein, und dies wagt Heidegger in Sein und Zeit nicht. 104 Wenn Husserls Thematisierung der rein expressiven Rede von einer unmittelbaren Präsenz des Gegebenen ausgeht, so ist auch Heideggers Sprachauffassung – trotz seines Ziels, die traditionelle ›Vorhandenheitsontologie‹ zu überwinden – an einer Vorstellung von Sprache als dem Garanten einer Verfügbarkeit des innerweltlich Seienden für das sprechende Dasein orientiert. Dabei wird die Möglichkeit eines Machtverlusts des Daseins im Sinne einer ›Preisgegebenheit‹ in der Diskussion einiger der Faktizität des Sprechens wesentlicher Momente berührt, aber nicht mit aller Deutlichkeit artikuliert. 105

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2.1 Die Bedeutung der Sprachthematik für Bubers dialogischen Ansatz Im Rahmen der Konzeption von Ich und Du wurde das Etwas-Haben – als welches sich bei Heidegger das verstehend-redende Sein in der Welt wesentlich realisiert – gerade als das Kennzeichen weltvereinnahmender Subjektivität vorgestellt. Das ausdrückliche Bestimmen von etwas als etwas fällt für Buber augenscheinlich in das Reich des Eigenwesens. Während dieses die Eswelt stets schon verstanden, d. h. sich in ihr orientiert hat, ist die Person dem Du zwar nahe, aber sie ›begreift‹ es nicht als ein spezifisches ›Etwas‹ oder einen bestimmten ›Jemand‹. Demnach 104 Es ist offenkundig, welche grundlegenden neuen Fragestellungen entstehen, wenn das Schema Rede = ontologisch, transzendental vs. Sprache = weltlich, empirisch unterlaufen wird: Eine Vielzahl möglicher Gliederungen ›zersprengte‹ die eine Welt in eine Vielheit von ›Welten‹ – die Möglichkeit eines gemeinsamen Verstehenshorizontes überhaupt wäre in Frage gestellt. 105 Vgl. zur Dominanz des entwerfenden Verstehens gegenüber den Momenten Geworfenheit/Faktizität auch Hübner 2001, 30.

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scheint es in Bubers Ich-Du – dessen Ereignis gerade das Zerschlagen einer vorgeprägten Ordnung meint – wesentlich um das Aussetzen oder den Ausfall einer stets schon vorentworfenen Bedeutungshaftigkeit von Welt zu gehen, in der alles und jeder aus der Perspektive vorgegebener Sinnhorizonte heraus begegnet. Als eine Sphäre, die selbst nicht vom Ich und seinem Gegenüber eingerichtet und verwaltet wird, sondern welche die Partner der Begegnung als solche erst erstehen lässt, begreift Buber – wie gesehen – das Zwischen. Ein Modus dieser ›machtfreien Zone‹ wurde schon ausführlicher thematisiert: die Liebe als ein ›metaphysisches‹ und ›metapsychisches‹ Faktum. 106 In Ich und Du weist Buber aber noch weitere Phänomene dem Zwischen zu: »Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du.« (DP 41) Geist begreift er jedoch als Wort – und das bedeutet: Sowie das Zwischen einen Seinsbereich meint, der niemals von einem einsamen Ich ›produziert‹ noch überhaupt irgendwie ›hergestellt‹ werden kann, so ist die Sprache nach Buber im Kern – d. h. primär – nicht etwas, das ein redendes Subjekt souverän aus sich hervorbringt, um mit ihm auf die Gegenstände in der Welt zuzugreifen. Buber entsprechend: »[…] in Wahrheit nämlich steckt die Sprache nicht im Menschen, sondern der Mensch steht in der Sprache und redet aus ihr, – so alles Wort, so aller Geist.« (DP 41) 107 Insofern vermag die Lautsprache als ein Geschehen zwischen den Menschen zur ausgezeichneten Heimat der Begegnung zu werden. Sie ist für Buber das »Merk- und Denkmal des menschlichen Miteinanderseins« (W I, 420), in dem sich die Beziehung besonders eindrucksvoll manifestiert – denn allein im zwischenmenschlichen Bereich »vollendet sich die Sprache als Folge, in Rede und Gegenrede. Hier allein begegnet das sprachgeformte Wort seiner Antwort. Hier nur geht das Grundwort gleichgestaltig hin und wider, in Einer Zunge sind das der Ansprache und das der Entgegnung lebendig […]. Die Beziehungsmomente sind hier, und nur hier, Vgl. DP 18 f. Wie bei Ebner ist hier ein deutlicher Einfluss des johanneischen Geistbegriffs ersichtlich; siehe dazu Biemanns Ausführungen zum sog. »Patmos-Bund«, dem u. a. Franz Rosenzweig, Hans und Rudolf Ehrenberg, Karl Barth und Eugen Rosenstock-Huessy angehörten; vgl. MBW VI, 49 ff. Buber bewegte sich im Umfeld dieser Gemeinschaft. Zentral scheint bei Buber aber ebenso ein Rückgang auf den jüdischen Geistbegriff (ruach); vgl. als einschlägige Stellen Martin Buber, Moses, in: W II, 9–230, hier: 190 f. sowie ders., Der Glaube der Propheten, in: W II, 231–484, hier: 303 und ders., »Der Mensch von heute und die jüdische Bibel«, in: W II, 874–869, hier: 862. 106 107

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verbunden durch das Element der Sprache, in das sie eingetaucht sind. Hier ist das Gegenüber zur vollen Wirklichkeit des Du erblüht.« (DP 104)

Dass Sprache überhaupt für Bubers Konzeption eine tragende Rolle spielt, wird schon im ersten Absatz von Ich und Du nahegelegt, denn schließlich präsentiert Buber die beiden Weisen des Ich-Welt-Verhältnisses von vornherein als ein Sprechen – als Artikulation sog. Grundworte. Es stellt sich jedoch die Frage, was genau Buber unter dem Sprechen dieser ›Entscheidungsworte‹ versteht. Da er beteuert, dass »vieles gesagte Du im Grund ein Es« (DP 64) meine und manches Es durchaus ein Du, scheint die konkrete sprachliche Form nicht ausschlaggebend zu sein. Den »Laut Du mit den Lautwerkzeugen hervorbringen, heißt […] beileibe noch nicht das unheimliche Grundwort sprechen« (DP 38), betont Buber. Bereits diese knappen Bemerkungen vermögen ganz unterschiedliche Vermutungen bezüglich des Gesprochenwerdens der Grundworte zu wecken: Vielleicht ›sagt‹ ein Sprechvorgang nach Buber immer noch mehr, als im Deuten des offenkundig ›Gemeinten‹ zugänglich wird. Möglicherweise geht Buber aber auch von einem so weiten Sprachbegriff aus, dass die doppelte Hinwendung zur Welt überhaupt schon als ein ›Sprechen‹ bezeichnet werden kann – ganz gleich, ob eine konkrete lautliche Äußerung vollzogen wird oder nicht. 108 Denkbar wäre dann, das ›Grundwortsprechen‹ lediglich als Metapher für die Einnahme einer Grundhaltung zu begreifen, die sich nicht durch eine ›Sprachhandlung‹ im engeren Sinne ausdrücken muss. So ist einerseits offenkundig, dass Bubers ›dialogisches‹ Denken als ein solches in einem zentralen Bezug zum Phänomen Sprache steht; andererseits wurde bereits deutlich, dass Buber mitunter den Boden des konkreten Miteinandersprechens im zwischenmenschlichen Bereich verlässt bzw. – denkt man an die drei ausgezeichneten Beziehungssphären – diese Möglichkeit der Kommunikation in ein weiter gefasstes ›Sprechen‹ einbindet, welches schließlich auch im eigentlichen Sinne ›sprachlose‹ Wesen (den Baum, das Gemälde) einschließt. 109 Diese Interpretation legt ein Satz nahe, den Buber seinem Manuskript Ich und Du ursprünglich voranstellte, der aber im Druck schließlich nicht übernommen wurde – ebenso wie geplante Kapitelüberschriften, die »Wort«, »Geschichte« und »Gott« heißen sollten. Der Satz lautete: »Was hier Sprache genannt wird, ist der Urakt des Geistes, dessen menschlichem Vollzug die Laut- und alle Zeichensprache als Helfer und Werkleute dienen«; vgl. Kohn 1961, 240 sowie Buber 1973, 128 f. 109 Siehe zu den drei Sphären und der jeweiligen Rolle der Sprache DP 10. 108

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Zudem fällt auf, dass in Bubers Werk Sprache – obgleich sie einen so wichtigen Bezugspunkt darstellt – selten explizit und in einer ausführlicheren Thematisierung Gegenstand der Betrachtung wird. So trifft in gewissem Sinne Stassens Urteil über den Ort der Sprache in Sein und Zeit ebenso Bubers Ich und Du: Sprache ist auch hier »überall und nirgends« 110 angesprochen – überall, d. h. von den ersten Sätzen an, mitthematisch, aber nirgends ausdrücklich zum Thema gemacht. Bemerkenswert ist auch, dass in der Vortragsreihe Religion als Gegenwart, welche die Ausarbeitung von Ich und Du unmittelbar begleitete, Sprache keine zentrale Rolle spielt – im Gegenteil: Dass das Zueinandersprechen eine ausgezeichnete Realisierung des Ich-Du sein könnte, wird hier noch nicht nahegelegt. Möglicherweise hat erst die EbnerLektüre Buber dazu gebracht, das Sprachgeschehen als eine besonders bedeutende Chance echter Begegnung zu begreifen. 111 Schließlich betont Ebner eindringlich, dass uns die ›geistigen Realitäten‹ des Lebens wesentlich durch das Wort in seiner Lebendigkeit, seinem Hin-undher-Gehen »zwischen dem Ich und dem Du« (WGR 17) gegeben sind. Andererseits wäre es Bubers früherem Denken vor Ich und Du auch nicht angemessen zu behaupten, das Thema Sprache habe hier gar keine Rolle gespielt. Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Schriftstellern sowie verstreute Bemerkungen zum Wesen der Sprache – vor allem der Dichtung – und zur spezifisch jüdischen Sprachauffassung in Briefen, in den Schriften zum Chassidismus sowie dem schon ausführlicher thematisierten Dialog-Werk Daniel zeigen, dass Buber die Sprache auch nicht urplötzlich als zentrale Möglichkeit eines nichtvergegenständlichenden Verhältnisses zwischen den Menschen entdeckt hat. 112 Ihre herausragende Bedeutung hebt er aber tatsächlich erst im Zuge der weiteren Ausarbeitung seiner Dialogphilosophie nach Ich und Du hervor. So legen vor allem »Zwiesprache« (1929) sowie die deutlich späteren Texte »Urdistanz und Beziehung« (1950), »Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens« (Friedenspreisrede 1953), »Elemente des Zwischenmenschlichen« (1953), »Dem Gemeinschaftlichen folgen« (1956) sowie »Das Wort, das gesprochen wird« Stassen 1973, 48. Vgl. dazu Horwitz 1978, 181 f. 112 Als prägender Einfluss kann sicherlich die Sprachenvielfalt genannt werden, die Buber in seiner Kindheit in Lemberg erlebte; vgl. Buber 1961, 8 f. Vgl. zu den unterschiedlichen Phasen des buberschen Sprachdenkens auch MBW VI, 9 ff. 110 111

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(1960) Zeugnis von der zentralen Stellung der menschlichen Sprache für den Gedanken des ›Dialogischen‹ bei Buber ab. So ist es durchaus bemerkenswert, wenn Hans Kohn – der erste Buber-Biograph – bereits 1930 bemerkt: »Bubers Philosophie auf der reifsten Stufe ist Sprachphilosophie.« 113 Während mit Kohn also behauptet werden kann, dass Bubers Denken wesentlich als ein ›Sprachdenken‹ – d. h. ein Denken von der Sprache her – begriffen werden muss, auch wenn er keine ausdrücklich ausgearbeitete Sprachphilosophie im strengen Sinne anbietet, 114 so betonen andere Buber-Interpreten, dass die Sprache bei Buber »viel weniger […] Ausgang des Denkens« 115 gewesen sei als bei den meisten anderen Dialogphilosophen wie Ebner, Rosenzweig und Rosenstock-Huessy. 116 Wie bei Heidegger in Bezug auf die 20er Jahre lässt sich also auch bei Buber eine gewisse Unsicherheit bezüglich des Status von Sprache – im Sinne der konkreten menschlichen Sprache – in seinen dialogischen Schriften feststellen. Es wird sich aber im Folgenden zeigen, dass am Vorgang des Zueinandersprechens als einem Ansprache-Antwort-Geschehen wesentliche Momente des Ich-Du besonders prägnant aufgezeigt werden können – deutlicher als dies in einem Rückgriff auf andere konkrete Ausgestaltungen des Miteinanders von Menschen möglich ist. 117 Dabei Kohn 1961, 240. Siehe zu dieser Formulierung eines Sprachdenkens, welches sich – anders als manche Sprachphilosophie – sein eigenes In-der-Sprache-Sein zu vollem Bewusstsein bringt, Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein. Band 1, Frankfurt a. M. 1964, 3. 115 Casper 1967, 300. Ebenso Biemann: Bubers Sprachphilosophie sei »tatsächlich nur umrißhaft und selbst im Spätwerk weitgehend an der Peripherie seines Denkens« geblieben, »während gerade Rosenzweig, Ebner und Rosenstock-Huessy ihr dialogisches Denken aus einer Philosophie der Sprache heraus entwickelten« (MBW VI, 9). 116 Zur Diskussion des spezifisch dialogischen Sprachdenkens vor dem Hintergrund der sprachphilosophischen Tradition vgl. Rohrbach 1973 und Anna E. Bauer, Rosenzweigs Sprachdenken im »Stern der Erlösung« und in seiner Korrespondenz mit Martin Buber zur Verdeutschung der Schrift, Frankfurt a. M. 1992. Beide Forschungsbeiträge beziehen Buber ausdrücklich ein und zeigen den breiten Hintergrund der Sprachkonzeptionen des dialogischen Denkens (vom Alten Testament bis zu Entwürfen des 20. Jahrhunderts) auf. 117 So hebt Theunissen prägnant hervor, dass der Andere in der Tradition – auch noch bei Husserl und Sartre – vornehmlich als im Medium der sinnlichen Wahrnehmung begegnend gedacht worden sei. Bei Heidegger finde bereits eine deutliche Akzentverschiebung statt, hier sei der Andere primär im besorgend-fürsorgenden Umgang mit Zeug miterschlossen. Bei Buber aber sei »die Heimat des Du die Sprache« (Theunissen 1977, 281). 113 114

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wird sich die Interpretation des buberschen Denkens zur Sprache in diesem Abschnitt auf den Bereich des Zwischenmenschlichen beschränken, also den weiter gefassten Sprachbegriff Bubers vorerst ausklammern. Inwieweit es Buber letztlich um das Aufzeigen einer dialogischen Wirklichkeit geht, die sich jenseits der konkreten Menschensprache als ein allumfassendes ›Sprachgeschehen‹ vollzieht, soll schließlich in den späteren Ausführungen zu Bubers Begriff echter Verantwortung Thema werden.

2.2 Besprechen und Ansprechen – Der Vorrang der Gesprochenheit des Wortes Die erste Annäherung an die bubersche Auffassung von Sprache als einer ausgezeichneten Realisation des Zwischen legte bereits nahe: Wenn Buber als eine herausragende Verwirklichung der Ich-Du-Beziehung das Miteinandersprechen hervorhebt, dann muss er eine Dimension der Sprache entdecken, die in der Lage ist, die Begegnung mit einem ›unverorteten‹ Du zu ermöglichen – eine Dimension, welche unter Umständen in der gesamten Tradition des philosophischen Nachdenkens über die Sprache nur wenig oder gar keine Beachtung gefunden hat. Wenn Geist etwas ist, das »sich ereignet, genauer: etwas, was nicht erwartet wird, sondern plötzlich geschieht« (W I, 393), kann Sprache als beziehungsstiftende Kraft in Bubers Konzeption – wie schon angedeutet – nicht primär als vom Menschen geführtes Werkzeug, als kontrollierbares Instrument, begriffen werden. Allerdings wurde eben ganz bewusst von einer bestimmten Dimension der Sprache gesprochen, die Buber entdeckt – auch die Sprache muss nach Buber strenggenommen zwiefältig sein. Nicht nur als Realisation des Ich-Du wird sie in Bubers Werk thematisiert, sondern ebenso bedenkt Buber auch ihre eshafte Seite und lehnt sich hier durchaus an traditionelle Bestimmungen der Sprache als eines Erkenntnis- und Verständigungsmittels an. Welche Momente der Sprache als solcher vermögen nun Begegnung zu eröffnen, welche könnten die Ich-Du-Beziehung gerade gefährden oder ganz verhindern? Im Ich-Es eröffnet sich dem Ich die Welt als Kontinuum von ›Gegenständen‹ in einem weiten Sinne – das Eigenwesen erfährt und erlebt stets ›etwas‹. Diese ›Gegenstände‹ können jederzeit benannt wer227 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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den – sie sind als solche grundsätzlich besprechbar, sei es ein anderer Mensch, ein materielles Ding oder auch ein zeitlich bestimmbarer Vorgang. Somit scheint das ›Besprechen von …‹ eine zentrale Weise des Ich der Eswelt zu sein, die ihm ›zu Füßen liegenden Objekte‹ zu fassen und ›dingfest‹ zu machen. Wenn Buber behauptet, die Worte ›funktionierten‹ hier – in der Distanznahme zu den besprochenen Gegenständen – »wie das hergerichtete Gerät, als fertiges und gebrauchsfähiges Objekt« (W I, 420), so macht er vor allem zwei Merkmale des Sprechens im Ich-Es-Verhältnis deutlich: Die geglaubte Beherrschbarkeit der Sprache durch das sprechende Eigenwesen und den Zugriff auf die Dinge, welche sich das Ich in der Anwendung des geeigneten Instruments ›Sprache‹ zueignet. Als vornehmlich »gegenständliche Sprache« (DP 21), welche die geforderten Beschreibungen des spezifischen Soseins eines Gegenstandes leisten kann, funktioniert Sprache in der Eswelt außerdem als Kommunikationsmittel für die Eigenwesen, um die gemachten Erfahrungen zu teilen. Bedenkt man die beständige Strukturiertheit der Es-Sphäre, kann behauptet werden: Das Es-Besprechen kennt seinen jeweiligen Gegenstand im weitesten Sinne bereits, hat ihn immer schon begriffen, bevor es ihn eigens zum Thema macht und sein Sein in der jeweils konkreten Situation beschreibt. 118 In der Beziehung dagegen wird das Du gerade nicht in seinem Sosein bestimmt, sondern Ich und Du begegnen einander. Welches Moment an der menschlichen Sprache weist die für das Ich-Du zentralen Merkmale Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit auf und könnte ein echtes gleichrangiges Gegenüber konstituieren? Ein bezeugbarer Ereignischarakter von Sprache verwiese direkt auf ihre beziehungsstiftende Kraft – und ein solches Geschehen ist nach Buber der Vorgang des stets neu sich vollziehenden faktischen Sprechens, das immer ein Sprechen zu Anderen ist. So unterscheidet Buber in »Das Wort, das 118 Es stellt sich hier im Anschluss an die Diskussion des Eigenwesens als einer Form transzendentaler Subjektivität im vorigen Abschnitt dieser Untersuchung die Frage, ob Buber Sprache im Ich-Es im Sinne einer ›transzendentalen Größe‹ bedenkt, d. h. als ein besonders ausgezeichnetes Ordnungsschema für die Eswelt. Denn sofern Sprache stets mit einer festgelegten Grammatik und einem bestehenden Wortschatz die Welt ›begreift‹, bringt sie schon ein Ordnungsschema und eine vorgegebene Begrifflichkeit mit sich, um einzelne Objekte zu klassifizieren und Vorgänge zu beschreiben. Bubers deutliche Anlehnung an die Werkzeug-Konzeption könnte allerdings eher nahelegen, dass er Sprache als nachträgliche Benennung einer ursprünglich nicht-sprachlich strukturierten Eswelt ansieht – schließlich zielt er in Ich und Du vor allem auf die kausale sowie zeitlich-räumliche Strukturierung der Welt ab.

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gesprochen wird« drei ›Seinsweisen‹ der Sprache: den »präsenten Bestand«, den »potentialen Besitz« und das »aktuelle Begebnis«. 119 Der präsente Bestand meint die Gesamtheit des Sagbaren innerhalb eines lokal und zeitlich begrenzten Bereichs; der potentiale Besitz gilt Buber als die Ganzheit des in einem eingegrenzten Bereich je Geäußerten. Wie der Bestand setzt der Besitz geschichtlich Erworbenes und Tradiertes voraus – jener ist zumindest theoretisch kalkulierbar, dieser ist – wenn auch in deutlichen Grenzen – rekonstruierbar und muss selbst in der Stiftung einer neuen Tradition auf das bereits Bestehende zurückgreifen und an es anschließen. Das tatsächliche Gesprochenwerden, das faktische Wort dagegen ›ist‹ laut Buber allein durch den »verwirklichungsfähige[n] Wille[n] von Menschen zur Kommunikation« (MBW VI, 126). Sprachbestand und -besitz aktualisieren sich im gesprochenen Laut und der fixierte Wortschatz, der selbst ein ›Etwas‹ ist, gewinnt nach Buber so Gegenwart: »Am faktisch gesprochenen Wort ist ja nicht das Gesagte, sondern das Sagen das ewig neue Ereignis, und das Sagen steht in der Gegenwart, eben der personhaften Gegenwart« 120 . Das Ansprechen selbst lässt sich nicht festhalten, nicht in gleicher Weise wiederholen. Die Gesprochenheit des Wortes ist nach Buber aber, wie schon angedeutet, stets ein Ansprechen – ein Sprechen, das den Sprecher transzendiert. 121 In »Das Wort, das gesprochen wird« hebt Buber dieses Wegstreben des Wortes zum Anderen hin im faktischen Sprechen prägnant hervor: »Ich meine, die Wichtigkeit des gesprochenen Wortes gründet in der Tatsache, daß es nicht bei seinem Sprecher bleiben will. Es greift nach einem Hörer aus, es ergreift ihn, ja es macht diesen 119 Vgl. Martin Buber, »Das Wort, das gesprochen wird«, in: MBW VI, 125–137, hier: 125 f. 120 Martin Buber, »Philosophical Interrogations«, in: MBW VI, 139–143, hier: 141. Vgl. zur uneinholbaren Wirklichkeit des gesprochenen Wortes auch Bloch 1977, 25 f. und 128. 121 So fasst Bloch den Unterschied von eshaftem und duhaftem Sprechen als den von Sprechen-über und Sprechen-zu; Theunissen geht von der Dualität von Be- und Ansprechen aus; vgl. Bloch 1977, 216 f. und Theunissen 1977, 282 ff. Auffällig an Bubers Differenzierung zwischen Gesprochenheit und Gesprochenem ist die große Nähe zu Lévinas’ Unterscheidung zwischen Dit (Sprache als Gesagtes) und Dire (Sprechen als Sagen). Dass Lévinas in seinem Beitrag zu Buber im Sammelband Außer sich diese zentrale Differenzierung unmittelbar nach einer Thematisierung des buberschen Sprachdenkens anführt, lässt ahnen, wie stark er hier von Buber inspiriert wurde; siehe Lévinas 1991, 27 ff.

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selber zu einem, wenn auch vielleicht nur lautlosen Sprecher.« (MBW VI, 127) Die Ansprache stiftet also eine Nähe zum Anderen, wie sie im Besprechen eines Objektes nicht erzeugt werden kann; denn der Andere wird – ob er will oder nicht – unweigerlich in die durch die Ansprache eröffnete Beziehung eingebunden, er ist aufgefordert zur Antwort. 122 Das heißt: Auch wenn der Angesprochene sich abwendet und eine direkte Entgegnung verweigert, ist er dennoch in einem ursprünglichen Sinne ›betroffen‹ durch die an ihn ergangene Rede. 123 Gleichzeitig manifestiert sich in der Anrede nach Buber aber auch eine grundlegende Distanz zwischen dem Sprecher und dem Angesprochenen, die nicht durch einen Akt des Erkennens und Verstehens überbrückt werden darf, soll das Ich-Du nicht in ein Ich-Es verwandelt werden: Das Anreden, so Buber in »Urdistanz und Beziehung«, »gründet sich auf die Setzung und Anerkennung der selbständigen Anderheit des Andern, mit dem man auf eben diesem Grunde anredend und Rede stehend Beziehung pflegt« (W I, 420). Lévinas hebt die Bedeutung der buberschen Fokussierung der Anrede in der Abgrenzung von einer traditionellen Weise, Intersubjektivität zu denken, prägnant hervor: »Der adäquate Zugang zur Anderheit des Anderen ist nicht etwa eine Wahrnehmung, sondern dies Du-Sagen. Also eine unmittelbare Berührung in diesem Anruf, ohne daß dabei ein Objekt ins Spiel kommt.« 124 Da der Andere hier eben nicht Gegenstand der Rede, sondern ihr Adressat ist, zeigt er sich als von mir unabhängige andere Person, denn das, was der Andere entgegnet, fällt nicht in meinen Einflussbereich: Auch wenn die Anrede den Angesprochenen zur Antwort aufruft – wie diese ausfällt, ist von meiner Perspektive aus nicht vorhersehbar. Der Akt des Ansprechens birgt also stets auch ein Wagnis in sich – ich setze mich einer neuen Situation aus, zu der ich zwar den Anstoß geben mag und an der ich konstitutiv mitwirke, die sich im Ganzen aber meiner Kontrolle entzieht. 125 Peperzak prägnant zum Unterschied zwischen 122 Antwort ist hier im weiten Sinne von Entgegnung überhaupt gemeint, denn die Anrede muss ja keine Frage darstellen. Vielmehr scheint es Buber darum zu gehen, dass jede Anrede einen Anspruch artikuliert und den Anderen auffordert, diesem Anspruch zu entsprechen; vgl. dazu Waldenfels’ Überlegungen in Antwortregister (konkret: Waldenfels 1994, 191 ff.). 123 Siehe Waldenfels’ zutreffende Bemerkung: Man kann nicht nicht antworten (Waldenfels 1994, 357). 124 Lévinas 1963, 123. 125 Vgl. dazu Theunissens Interpretation der Sprache als »Basis des Absprungs von der

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Be- und Ansprechen: »Indem ich meine Worte an dich richte, erreiche ich dich als jenen Anderen, der seiner Thematisierung einen unüberwindlichen Widerstand entgegenhält.« 126 So lässt sich die Situation des Ansprechens durchaus als ein Ineinanderfallen von Aktion und Passion beschreiben, welches das Ich-Du nach Buber wesentlich kennzeichnet. Denn auch wenn die primäre Aktion vom zuerst Redenden ausgeht, so liefert er sich doch im Akt der Ansprache in gewissem Sinne dem Anderen aus und das Anrede-Antwort-Geschehen im Ganzen vollzieht sich nicht im einen oder anderen Partner der Begegnung, sondern zwischen ihnen.

2.3 Das echte Gespräch und sein Verfall im Gerede Als konkrete Realisierung lebendiger Wechselrede thematisiert Buber vor allem in der späteren Schrift »Elemente des Zwischenmenschlichen« ausführlich das »echte Gespräch« als ein »sinngeladene[s] phonetische[s] Ereignis, dessen Sinn weder in einem der beiden Partner noch in beiden zusammen sich findet, sondern nur in diesem leibhaften Zusammenspiel, diesem ihrem Zwischen« (DP 276). Von einem solchen gelungenen Dialog als Ereignis im bzw. des Zwischenmenschlichen grenzt Buber explizit ein nicht ›wirkliches‹ Gespräch ab und wählt dabei eine Bezeichnung, die der heideggerschen Begrifflichkeit für die Verweltlichung von Sprache im Man entspricht: »Das weitaus meiste von allem, was sich heute unter Menschen Gespräch nennt, wäre richtiger, in einem genauen Sinne, als Gerede zu bezeichnen.« (DP 282) Der Fokussierung auf die Gesprochenheit und den Anredecharakter von Sprache entsprechend hat Buber bei seiner Darstellung des echten Gesprächs vornehmlich diejenigen Momente des MiteinanderIntentionalität«: »Es gehört […] zum zweideutigen Wesen der Rede, daß sie, im Grunde und im Ganzen der Intentionalität verhaftet, sich als Anrede zugleich gegen das intentionale Schema wehrt. So gibt die Anrede ungeachtet ihrer intentionalen Verfassung den Boden ab für den Aufstand der Ich-Du-Beziehung gegen das Gefüge der Intentionalität.« (Theunissen 1977, 284) Denn: Die Aktion des Partners als »Vollzug seiner Freiheit« lässt sich von mir nicht entwerfen und je »fragender meine Frage ist, desto entschiedener bringt mir die Antwort Neues, Plötzliches, Unvorhergesehenes« (Theunissen 1977, 285). 126 Peperzak 1998, 31.

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redens im Blick, welche erstens die Stellung der Gesprächspartner zueinander betreffen und zweitens den Gegenwarts- und Einmaligkeitscharakter des Gesprächs als eines je aktuellen Zueinanderredens akzentuieren. So nennt Buber als die zentrale Prämisse des wirklichen Dialogs, »daß jeder seinen Partner […] als eben diesen Menschen meint« (DP 283). Das bedeutet: Die Anrede darf den Anderen nicht auf eine Vorstellung oder einen Eindruck reduzieren. Im Anschluss an die Diskussion des Innewerdens im vorigen Abschnitt kann festgestellt werden: Ansprechen als Innewerden heißt nach Buber, den Anderen in der Hinwendung zu ihm als wesenhaft Anderen zu meinen bzw. sein zu lassen. 127 Im echten Gespräch wird der Redepartner laut Buber somit als die Person bestätigt, die er ist – er wird in einem grundlegenden Sinne anerkannt. 128 Nicht entscheidend für die Möglichkeit eines echten Gesprächs im buberschen Sinne ist also, wie weit die Meinungen der Diskutierenden auseinanderliegen; die Miteinandersprechenden müssen im Verlauf des Gesprächs einander nicht sympathisch werden oder ihre Auffassungen aneinander angleichen. Buber selbst: »Die wahrhafte Hinwendung seines Wesens zum andern schließt […] Bestätigung, […] Akzeptation ein. Selbstverständlich bedeutet solch eine Bestätigung keineswegs schon eine Billigung; aber worin immer ich wider den andern bin, ich habe damit, daß ich ihn als Partner echten Gesprächs annehme, zu ihm als Person Ja gesagt.« (DP 293) 129

Entsprechend ist nach Buber für die Ermöglichung des gelingenden Gesprächs ebenfalls wesentlich, dass jeder der Sprecher nicht nur einen ausgewählten, als ›vorzeigbar‹ befundenen Teil seiner eigenen Person einbringt – jeder muss selbst mit dem ›ganzen Wesen‹ den Anderen ansprechen sowie sich anreden lassen. 130 Im Gerede als der Verfallsform des echten Gesprächs wendet man Vgl. DP 283 f. Als eine Interpretation der buberschen Dialogik, die das Moment der Anerkennung im Ich-Du sehr stark macht, siehe Walther Urs Ziegler, Anerkennung und Nicht-Anerkennung. Studien zur Struktur zwischenmenschlicher Beziehung aus symbolisch-interaktionistischer, existenzphilosophischer und dialogischer Sicht, Bonn u. a. 1992. 129 Noch stärker zeigt sich, dass Bubers Gesprächskonzeption keineswegs auf Harmonisierung zwischen Ich und Du aus ist, wenn er behauptet: »Ich sage Ja zu der Person, die ich bekämpfe, partnerisch bekämpfe« (DP 283). 130 Das heißt nach Buber ausdrücklich nicht, dass ich alles von mir kundgeben muss, also meine ›Seele‹ restlos ›offenbaren‹ soll; vgl. DP 294. Auch der Schweigende, so Buber, kann am Gespräch teilnehmen, er muss jedoch »entschlossen sein, sich nicht zu 127 128

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sich nach Buber zwar augenscheinlich einander zu, redet aber in Wahrheit nicht miteinander, sondern auf ein zum Es degradiertes Gegenüber zu: »Im allgemeinen sprechen die Leute nicht wirklich zueinander, sondern jeder ist zwar dem andern zugewandt, redet aber in Wahrheit zu einer fiktiven Instanz, deren Dasein sich darin erschöpft, ihn anzuhören.« (DP 282) Der Gegenwärtigkeitscharakter der Anrede wird durch die Vergangenheit des Schon-festgelegt-Habens von ›etwas‹ und ›jemand‹ – möglicherweise auch von sich selbst – durchkreuzt. Der ›misslungene‹ Dialog meint bei Buber also primär ein nur scheinbares, nicht voll realisiertes Miteinanderreden, bei dem das Sprechen mit dem Anderen als eigenes Erlebnis, als eigener Kampf oder als Selbstbestätigung einer Meinung betrachtet wird. In »Elemente des Zwischenmenschlichen« schildert Buber eine Situation, in der einer der Gesprächsteilnehmer – offenkundig auf Beifall hoffend – begann, »›glänzend‹, fechterisch, siegerisch« zu reden, und das Gespräch, so Buber, »verdarb«. 131 Wie bei Heidegger kann der Verfall der Rede also auch nach Bubers Dialogik in einer Orientierung an den vermeintlichen Erwartungen der Anderen liegen – in einem Sprechen, dem es primär um das Sprechen selbst geht, weil es dazu dienen mag, sich zu präsentieren, Einfluss zu erlangen usw. 132 Doch anders als Heideggers Ausführungen zum Man setzt Bubers Präsentation des Geredes den Hauptakzent nicht auf das Verschließen der besprochenen Sachen, reflektiert nicht ausdrücklich eine solche ›Bodenlosigkeit‹ des Geredeten. Vielmehr begreift Buber das ›verdorbene‹ Gespräch als einen verkappten Monolog, also als eine Verhinderung oder Verstellung der Begegnung mit dem Anderen als Anderen, d. h. mit ihm in seiner Unverfügbarkeit. Mit der Abwesenheit eines tatsächlichen Partners im Gerede fehlt die »ontologische Grundvoraussetzung« des wahren Gesprächs im buberschen Sinne, nämlich »die Anderheit, konkreter: das Moment der Überraschung« (MBW VI, 129). So unterscheidet sich Bubers Thematisierung des Geredes augenscheinlich auch von den Überlegungen Löwiths zum Misslingen eines Gesprächs, obgleich dieser den Aspekt des Aufeinanderzugehens im entziehen, wenn es etwa dem Gang des Gesprächs nach an ihm sein wird zu sagen, was eben er zu sagen hat« (DP 296). 131 Vgl. DP 297. 132 Die Rhetorik, welche von der Beeinflussbarkeit des Anderen durch die Rede ausgeht, muss für Buber strenggenommen prinzipiell ›Gerede‹ produzieren.

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Miteinandersprechen gegenüber Heidegger so stark hervorhebt. Wie Buber behauptet Löwith, dass im Ansprechen des Anderen »bereits der Anspruch auf Entsprechung« (IRM 126) liege. Auch betont er wie Buber, dass das echte Gespräch niemals durch eine reine Selbstbefragung und Selbstkritik ersetzbar wäre. 133 Den in der Anrede des Anderen mitartikulierten Anspruch deutet er aber durchweg als Ausdruck einer »immanenten Verständigungstendenz« (IRM 126) des Sprechens. Der Verfall des Miteinanderredens liegt nach Löwith dann vor allem in der Möglichkeit einer reinen Selbstgenügsamkeit des Gesprächs, die sich einstellen kann, wenn es für jeden der Teilnehmer »sein motivierendes ›Prinzip‹ schon immer im andern hat« (IRM 128), d. h. in der möglichen Erwiderung des Gegenübers. Doch liegt hier für Löwith das Problem nicht in der so geförderten Verhinderung einer Begegnung mit dem Anderen als einem solchen, sondern die »freie Entsprechung« sei vor allem Garant dafür, dass »das, wovon die Rede ist, ins Freie kommt« (IRM 130). Es ist deutlich, dass Bubers Vorstellung eines wahren Gesprächs sich von bestimmten traditionellen sowie zeitgenössischen und aktuellen Überlegungen zum ›Wesen‹ eines gelungenen Gesprächs in zentralen Punkten abgrenzt. 134 Weil Buber das Gespräch wesentlich unter dem Aspekt der Begegnung fasst, präsentiert er es offenkundig nicht als ein prozesshaftes Zusichkommen oder Sichzeigen einer befragten und besprochenen ›Sache‹, welches den Gang des Gesprächs heimlich bestimmt. So wie die Antwort im Sinne der Entgegnung auf einen Vgl. IRM 130. Hier stellt sich die Frage, inwieweit das neue Denken als eine Wiederbelebung des sokratischen Dialogs gefasst werden kann. Tatsächlich lobt Buber das Ich der Dialoge Platons – es sei das Ich »des unendlichen Gesprächs« (DP 68). Auf der anderen Seite möchte sich die Dialogik als Gesamtbewegung scharf von der Dialektik abgrenzen – einer Dialektik jedenfalls, die auf das Überwinden von Brüchen und auf eine umfassende Totalität aus ist. Dass das Modell Platons auch gerade als ein nicht echt dialogisches gefasst werden kann, zeigt Michel Serres eindringlich auf; vgl. Michel Serres, Hermes I: Kommunikation, hrsg. von Günther Rösch, aus dem Franz. übers. von Michael Bischoff, Berlin 1991, 47 ff. Er beschreibt die mäeutische Methode als gemeinsamen Kampf für die »Freisetzung einer Wahrheit, über die Einigung zu erzielen den Zweck des ganzen Unternehmens darstellt« (Serres 1991, 51), bei welchem der Andere als Anderer nicht weiter interessiere. Eine alternative Deutung präsentiert Dieter Mersch: »Der platonische Dialog wurzelt in einer […] Beziehung zum Anderen, dem Faktum einer antwortenden Ver-antwortung.« (Dieter Mersch, »Präsenz und Ethizität der Stimme«, in: Stimme. Annäherung an ein Phänomen, hrsg. von Doris Kolesch und Sybille Krämer, Frankfurt a. M. 2006, 211–236, hier: 233)

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Anspruch in der Dialogik nicht die bloße Füllung einer Leerstelle meinen kann, 135 so denkt Buber das Anrede-Antwort-Geschehen auch nicht als einen harmonischen oder harmonisierenden Prozess der Annäherung (zumindest nicht im Sinne einer Annäherung als Angleichung). Das echte Gespräch findet seine Erfüllung hier schließlich gerade nicht in einer vollständigen Übereinkunft, die alle Widerstände erledigt hat. Buber schildert das gelungene Gespräch nicht als eine »Verwandlung ins Gemeinsame hin« 136 und es scheint auch nicht durch einen gemeinschaftlich geteilten ›Rahmen‹ von vornherein umspannt sein zu dürfen. Weder beschwört Buber hier »die ›schöne Seele‹ einer Verständigungsgemeinschaft« 137 , noch darf das ›Zwischen‹, in dem das Gespräch seinen eigentlichen Ort hat, als ein »den Partnern gemeinsame[r] Sinnbestand« 138 begriffen werden. Somit entpuppt sich Bubers Gesprächskonzeption als Verzicht auf einen »transzendentalen Rahmen invarianter Kommunikationsbedingungen« 139 , der das Gegenüber von Ich und Du einfügte in eine umfassende, das Gespräch vorstrukturierende Ordnung. DementspreVgl. Waldenfels 1994, 191 f. Gadamer 1972, 360. Da Gadamers Hermeneutik das Gespräch als die zentrale Verständigungspraxis begreift und es als grundlegendes Muster für das Textverständnis nimmt, liegt ein Vergleich mit Buber jedoch nahe. Zudem nennt er die Überlieferung einen »echten Kommunikationspartner«, mit welchem wir »ebenso zusammengehören wie das Ich mit dem Du« (Gadamer 1972, 340). Wenn Gadamer schließlich die prinzipielle Unplanbarkeit eines jeden wirklichen Gesprächs betont, scheint er Bubers Ausführungen ebenfalls sehr nahezukommen. Doch begreift Gadamer erstens das Ich-Du als ein »Reflexionsverhältnis«, zweitens ist er doch eindeutig orientiert am sokratischplatonischen Gespräch als dem Hervortreten eines das subjektive Meinen der Gesprächspartner übertreffenden, jedoch allen gemeinsamen logos. Siehe zum Verhältnis Gadamers zur Dialogphilosophie Petra Plieger, »Gadamer und Ebner: Hörer des Wortes«, in: Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft, Nr. 2 (Frühjahr 2001), 17– 23 sowie Gadamer 1993, 10, 103 f. und 210 f. 137 Waldenfels 1994, 578. 138 So heißt es im Artikel »Dialog, dialogisch« von J. Heinrichs im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Band 2, hrsg. von Joachim Ritter, Darmstadt 1972, 226–229, hier: 226. 139 Andreas Hetzel, »Das schöpferische Wort. Bubers Sprachdenken und die Tradition der Logosmystik«, in: Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft, Nr. 8 (Frühjahr 2004), 41–51, hier: 48. Auch Gollwitzer charakterisiert Bubers Gesprächskonzeption zutreffend, wenn er bemerkt, das begegnende Verstehen sei »nicht ein Vorgang gegenseitiger Angleichung, auch nicht trotziger Selbstbehauptung gegen den anderen, sondern das gegenseitige An- und Aufnehmen des anderen in dem zwischen mir und dem anderen hin und her gehenden Dialog« (Helmut Gollwitzer, »Martin Bubers Be135 136

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chend dürfen Bubers Reflexionen zu den Voraussetzungen eines echten Gesprächs gerade nicht als Regeln genommen werden, deren Anwendung das Glücken der Unterredung garantiert, denn es gilt nach Buber grundsätzlich: »[…] ein echtes Gespräch kann man nicht vordisponieren.« (DP 296) Nur als nachträgliche Überlegungen zum Gelingen eines Gesprächs, nicht als Handlungsvorgaben, machen die buberschen Gedanken zum echten Gespräch – im Rahmen seiner eigenen dialogischen Konzeption – Sinn. 140 Allerdings – dies muss gegen Bubers emphatischen Gesprächsbegriff kritisch vorgebracht werden – geht es doch in einer Unterredung zumeist darum, etwas – oder oft auch: den Anderen selbst – zu verstehen. Zwar müssen die Partner eines Gesprächs nicht immer »von der unersättlichen Begierde nach absoluter Gewißheit ergriffen« und das Gespräch nicht stets »auf die letzten Dinge« ausgerichtet sein, 141 dennoch wird in jeder konkreten Unterredung etwas oder jemand zum Gegenstand der Rede gemacht – geht es doch darum, etwas zu erfahren, sich auszutauschen, Angelegenheiten zu klären usw. Dabei vermag der Andere als andere Person sicherlich eine zentrale Rolle zu spielen – der Austausch mit ihm kann mir völlig neue, überraschende Perspektiven auf den Gegenstand eröffnen, was in einem Selbstgespräch in dieser Weise nicht möglich ist. Doch letztlich machen nicht wenige Äußerungen von Buber selbst deutlich, dass es in einem echten Gespräch deutung für die protestantische Theologie«, in: Bloch/Gordon 1983, 402–423, hier: 403). 140 Wenn Hetzel auf die zentrale Gemeinsamkeit zwischen der Ordinary Language Philosophy und dem dialogischen Denken hinweist, die Performativität von Sprache in den Mittelpunkt zu rücken (siehe Hetzel 2004, 46), so muss demnach beachtet werden, dass es Buber gerade nicht darum geht, das Sprechen als »regelgeleitete Form des Verhaltens« zu thematisieren und die entsprechenden Regeln herauszustellen und zu ordnen; vgl. zu diesem Vorhaben hingegen John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, aus dem Engl. übers. von R. und R. Wiggershaus, Frankfurt a. M. 1979, 66. 141 Vgl. Siegfried Kracauer, »Das zeugende Gespräch«, in: ders., Schriften. Band 5,1: Aufsätze 1915–1926, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt a. M. 1990, 222–228, hier: 222. Die Kerngedanken dieses kurzen Textes aus dem Jahr 1923 hätten auch von Buber formuliert sein können (wobei Buber sich zu dieser Zeit schließlich noch nicht in schriftlich dokumentierter Weise über das ›echte Gespräch‹ geäußert hat). Kracauer hebt explizit hervor, dass es allein im Aufeinandertreffen konkreter, ganzer Personen zu »Akten geistiger Zeugung« kommen könne, »deren Ergebnisse weder dem einen noch dem anderen allein angehören, sondern die Frucht gemeinsamen Ringens sind« (Kracauer 1990, 225). Auch die Möglichkeit einer ›Verwandlung‹ der Gesprächsteilnehmer durch das Miteinandersprechen hebt er ausdrücklich hervor.

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auch immer um eine Form der Annäherung über ein gegenseitiges Verstehen geht; siehe etwa folgende Bemerkung in seiner Friedenspreisrede: »Der Krieg hat von je einen Widerpart, der fast nie als solcher hervortritt, aber in der Stille sein Werk tut: die Sprache – die erfüllte Sprache, die Sprache des echten Gesprächs, in der Menschen einander verstehen und sich miteinander verständigen« 142 .

Und in dem kurzen Text »Dem Gemeinschaftlichen folgen« hebt Buber explizit die bindende Kraft der Sprache für eine echte, d. h. personhafte, Gemeinschaft hervor, »wo einer dem andern irgend etwas in der Welt so zeigte, daß der es fortan erst wirklich wahrnahm; wo einer dem andern ein Zeichen so gab, daß der darin die bezeichnete Situation zulänglicher erkannte, als er es bisher vermocht hatte« (MBW VI, 120 f.). Dennoch neigt Buber bei der Beschreibung des echten Gesprächs stets dazu, den Bereich der verstehend zugeeigneten Gegenstände auszublenden. Zudem stellt sich die Frage, ob nicht jedes echte Miteinanderreden sich in einem gemeinsamen Horizont abspielen muss, der zumindest Minimalbedingungen für ein Miteinander garantiert – denn sonst käme letztlich überhaupt keine Form von Kommunikation zustande.

2.4 Die Frage nach der Welt- und Regellosigkeit des Sprechens im Ich-Du Während Heidegger die zentrale Bedeutung des Anderen als eines anderen Daseins für die Welterschließung nicht konsequent aufzuzeigen vermag, weckt Bubers Konzeption hingegen erneut den Eindruck einer auffälligen ›Weltlosigkeit‹ – jetzt: des Anrede-Antwort-Geschehens. Denn indem Buber die Begegnung mit dem Du ganz in die Dimension der stets neuen Ansprache verlegt, scheinen alle Momente eines jeden Sprechaktes, die durch Regelhaftigkeit und Beständigkeit, d. h. eine gewisse Wiederholbarkeit und Bestimmbarkeit, ausgezeichnet sind, der Es-Sphäre zugeschlagen zu werden. Somit führt Buber aber mit dieser 142 Martin Buber, »Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens«, in: NL, 219–230, hier: 225.

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Differenzierung zwischen Be- und Ansprechen die tiefe Zwiefältigkeit in jeden konkreten Sprechakt ein, denn jedes Sprechen-zu ist in der Regel ein Sprechen-über und verweist auf ein Etwas – eine Sache oder einen Sachverhalt – oder einen Jemand in der Welt, das bzw. der zum Thema gemacht wird. 143 Außerdem greift jede Anrede als Mitteilung, Aufforderung, Bitte oder Frage auf eine bestehende Grammatik und einen tradierten Wortschatz zurück, also auf ein bestimmtes Ordnungsschema und eine Begrifflichkeit, die sie im Vollzug des Redens nicht selbst erschafft. Am reinsten wäre die Ansprache noch in bloßen Anrufen wie »Du da!« oder »Hallo!« realisiert – doch auch diese Anredesituationen, so könnte eingewandt werden, vollziehen sich nicht jenseits einer irgendwie strukturierten ›Welt‹. Wie schon im Rahmen der grundlegenden Ausführungen zu Bubers Ich-Du-Verhältnis stellt sich die Frage nach der Möglichkeit, das Du als unverortet und zugleich doch als konkretes Individuum zu begreifen: Richtet sich nicht jede Anrede stets an einen bestimmten Jemand? 144 Zudem gibt es nicht nur Regeln für die Organisation des Geredeten – auch der Akt des Anredens vollzieht sich schließlich nicht vollkommen ›ungeregelt‹. Es gibt z. B. gewisse Vorgaben – gesellschaftlich normierte Vorstellungen von Höflichkeit etwa –, über die man sich zwar hinwegsetzen kann, die aber die jeweilige Ausgestaltung einer Anrede zumeist wesentlich mitbestimmen. Verhältnisse der Vertrautheit und Fremdheit regeln, ob und wie ich den Anderen anspreche. Machthierarchien drücken sich nicht selten in der Möglichkeit oder Unmöglichkeit aus, Andere spontan ansprechen zu dürfen. Wer in einer straff organisierten Gruppe ›ganz unten‹ steht, darf nicht von sich aus das Wort ergreifen, sondern nur reden, wenn er gefragt wird. Kurz: Keine Anrede vollzieht sich im ›luftleeren‹, sondern stets in einem sozialen Raum. Es ist also fraglich, ob die Anrede generell den Anderen in seiner nicht reduzierbaren Andersheit und Einzigartigkeit meint und sein lässt, ob sie also grundsätzlich einen tatsächlich machtfreien Raum eröffnet, oder ob eine solche Behauptung gegenüber der sozialen Wirklichkeit nicht vollkommen blind ist. 145 Siehe zu dieser Kritik auch Bloch 1977, 31 f. Vgl. dazu Waldenfels’ Kritik in Antwortregister: Diejenigen Dialogphilosophien, welche »von dem Du ausgehen, ohne das soziale Feld in Betracht zu ziehen, aus dem sich dieses Du als ein Du heraushebt, befrieden die Situation, indem sie sie vereinfachen« (Waldenfels 1994, 359). 145 Zudem begreift Buber ja den Anderen nicht grundsätzlich als unverfügbares Du – 143 144

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2.5 Exkurs I: Józef Tischners Analyse des Vorstellungsaktes Der polnische Sozialphänomenologe Józef Tischner nimmt in seinem Beitrag Das menschliche Drama bewusst eine Position zwischen der Vorstellung des Anderen als einem bloßen Alter Ego und dessen Bestimmung als einem unverorteten Du ein. Die Alternative zu einer ›Erniedrigung‹ des Anderen als einer Art ›Dublette‹ des eigenen Ich sieht er also nicht in einer ›Erhöhung‹ des Mitmenschen zu einem unverfügbaren Du, das jenseits aller konkreten weltlichen, sozialen Bezüge steht. 146 Besonders deutlich wird sein Ansatz, menschliches Miteinandersein vom Erkennen und Gebrauchen von Gegenständen grundsätzlich abzugrenzen, in den Ausführungen zum »Raum der Sprache und des Namens im menschlichen Miteinandersein« (so die entsprechende Kapitelüberschrift). Tischner wählt zur Verdeutlichung der fundamentalen Bedeutung von Sprache für das menschliche Miteinander einen Sprechakt, in dem ich mich selbst offenkundig »vergegenständliche«, d. h. mich zu einem Es mache, gleichzeitig aber überhaupt erst den Raum eröffne für ein tatsächliches Miteinander, welches sich radikal vom Nebeneinander von Gegenständen, aber auch vom Sichrichten eines menschlichen Bewusstseins auf Erkenntnisobjekte, unterscheidet: den Akt der Vorstellung. Hier – so Tischner – nenne ich in der Regel meinen Namen und gebe nicht selten auch eine nähere Erläuterung meines gesellschaftlichen Standorts, etwa in einer Auskunft zu meinem Beruf. In dieser Nennung des Namens und meiner ›Position‹ geschieht nach Tischner nun aber mehr als eine bloße Thematisierung meiner selbst. So unterscheide sich der Name – den strenggenommen nur ein Mensch habe, weil nur er »sich selbst in seinem eigenen Namen ergenauso vermag ich den Mitmenschen nach Buber schließlich als ein Es zu betrachten. Es lässt sich allerdings bei Buber eine Möglichkeit aufzeigen, die Beziehung zum Anderen und somit auch die Anrede des Anderen von der Bezugnahme auf nicht-menschliches Seiendes scharf abzugrenzen und dem anderen Menschen eine herausragende Stellung einzuräumen. Diese Möglichkeit eröffnet sich, wenn man seine Charakterisierung der Beziehung zum Menschen als »Gleichnis der Beziehung zu Gott« (DP 104) berücksichtigt. Siehe dazu die Ausführungen in Abschnitt V, Kapitel 2.5. 146 Vgl. MD 196 f. Als Vertreter der Alter-Ego-Position nennt er Husserl, als Repräsentanten einer Du-Philosophie Buber, Marcel und Scheler. Er bezeichnet die beiden Wege als »transzendentalen Subjektivismus« (Ausgehen des Du-Bewusstseins vom Ich) und »genetischen Objektivismus« (Herkommen des Ich-Bewusstseins vom Du); vgl. MD 198.

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kennt und sich selbst durch seinen Namen identifiziert« (MD 200) – fundamental von der Bezeichnung eines Dinges. Denn der Name befördere den »individuellen Wert des Menschen ans Tageslicht« und eröffne »einen besonderen Sinnhorizont, in dessen Rahmen das weitere menschliche Miteinander gedeihen kann« (MD 201). Das bedeutet nach Tischner, dass wir uns durch die Mitteilung unseres Namens – die zugleich eine Einladung ist, uns mit diesem Namen anzusprechen – jeglicher ›Verdinglichung‹ entziehen und eine »reichhaltige Welt der menschenspezifischen Werte« (MD 201) betreten. Somit wird in der Vorstellung ein Raum eröffnet, der ein Miteinandersein zulässt, welches sich gegen den Begriff des »abstrakten Menschen« (MD 202) 147 gerade sperrt. Am prägnantesten charakterisiert Tischner diese Stiftung eines echte Begegnung ermöglichenden Sinnhorizonts mit der Bemerkung, die Nennung des Namens käme »einer Verheißung gleich« (MD 201). Neben der Namensnennung beinhaltet die Vorstellung aber – wie schon erwähnt – nach Tischner oftmals auch die Angabe des eigenen Standorts im »namentlichen Raum des Sinns« (MD 203 f.). Dieser Ort meine nun nicht einen Punkt neben anderen, eine bestimmbare Stelle im physikalischen Raum, sondern – so Tischner – einen »dimensionslosen Raum des Sinns« (MD 204), d. h. einen Bereich meiner Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die unzertrennlich mit denen der Anderen verflochten sind. Dieser Standort gibt nun laut Tischner bestimmte Relationen in diesem sinnhaften Raum des Miteinanders vor, welche vor allem durch die zahlreichen Präpositionen wie ›mit‹, ›ohne‹, ›für‹, ›anstelle‹ usw. sichtbar werden können. Zentral ist nach Tischner die Präposition ›angesichts‹, weil sie eine fundamentale Gegenseitigkeit ausdrückt, welche Grundlage für alle anderen Möglichkeiten des Ohne-, Mit- und Gegeneinanders sei. Wenn ich mich vorstelle, so eröffne oder aktiviere ich demnach laut Tischners Konzeption einen sinnhaften Raum des Mitseins mit Anderen, der sich einerseits als ein Zueinander namentragender Personen grundsätzlich vom Nebeneinander von Dingen unterscheidet, der andererseits aber stets strukturiert ist durch konkrete Relationen, 147 Der abstrakte Mensch ist nach Tischner »das ideale Subjekt aller möglichen namentlichen Prädikationen und ihrer Kombination«. Er ist Objekt der Wissenschaften sowie alltäglicher Äußerungen wie: »Es ist unmöglich, dass sich ein Mensch so verhalten würde.«

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welche aus den jeweiligen Standorten der Personen resultieren. Vor dem Hintergrund eines grundsätzlichen ›Angesichts‹, welches die fundamentale Unterscheidung zwischen der Mensch-Mensch-Beziehung und der Hinblicknahme des Menschen auf einen Gegenstand sichtbar macht, formen sich diese Bereiche des Miteinanders nach Tischner aus in Aktualisierungen von Gegenseitigkeit, Gegensätzlichkeit und Macht. So geht sein Ansatz von einem Sprechakt aus, in welchem – in Bubers Terminologie – eshafte, d. h. objektivierende, Tendenzen und duhafte, also begegnungsstiftende, Momente ineinandergreifen, so dass hier weder eine Verdinglichung meiner selbst oder des Anderen noch meine und seine Isolierung aus allen sozialen – d. h. eben oftmals auch hierarchisch gegliederten – Bezügen vollzogen wird.

2.6 Jedes Wort ein Gespräch? – Die Frage nach einer fundamentalen Dialogizität des Wortes Im Anschluss an die Präsentation dieser Analyse Tischners lässt sich nun fragen, wie sinnvoll und überzeugend überhaupt eine schematische Aufteilung der Momente eines Begreifens, Einordnens, Vergegenständlichens auf der einen Seite – verbunden mit der Zeitlichkeit der Vergangenheit – und eines unmittelbaren Seinlassens und Begegnens – sich vollziehend in einer nicht wiederholbaren Gegenwart – auf einzelne Aspekte des vollen Redephänomens ist. Nach den kritischen Nachfragen zu einer möglicherweise eshaften Anrede 148 soll nun untersucht werden, ob sich nicht mit Buber auch ein Reden-über denken ließe, das seinen Gegenstand nicht in die Mangel des starren Begriffs nimmt, sondern vielleicht gar mit ihm ›dialogisiert‹. Kurz: Besteht die Möglichkeit, das, worauf sich die Rede bezieht, gerade nicht als Objekt eines zugreifenden, vereinnahmenden Ich zu verstehen? Statt die konkrete Rede radikal aufzuspalten in ein per se duhaftes Anreden und per se eshaftes Bereden, wie es tatsächlich nicht wenige Stellen bei Buber nahelegen, soll nun versucht werden, dem Aufscheinen einer Dialogizität auch im Bereich des Be-redens bzw. des Ge-redeten nachzugehen. 149 148 Die Buber im Grunde selbst bedenkt, wenn er betont, ›du‹ zu sagen meine noch lange nicht, einem Du zu begegnen. 149 Es gäbe sicher weitere Möglichkeiten, eine generelle Eshaftigkeit der Rede über … in Frage zu stellen, die hier allerdings nicht weiter berücksichtigt werden können: etwa das

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Das Faktum, dass jeder ›Gegenstand‹ als besprochener uns stets in einer bestimmten, durch die konkrete Sprache vorgegebenen Hinsicht begegnet, wurde bei Heidegger gerade als Möglichkeit gesehen, die Zentrierung auf ein – aus einer Sphäre der Eigenheit heraus – souverän sprechendes Subjekt in Frage zu stellen. In der Vorstrukturierung des Verstehens, so könnte man an Heidegger anschließen, sind Andere schließlich stets schon mit dabei. Und dieses Beteiligtsein Anderer müsste, wenn man die Faktizität des Sprechens ernst nimmt, eine echte Vielstimmigkeit der Rede erzeugen. Gibt es bei Buber Überlegungen zu einer grundlegenden ›Dialoghaftigkeit‹ des Wortes, so dass dieses – in seinem konkreten Gesprochenwerden – selbst als eine Art ›Gespräch‹ (mit den Dingen) begriffen werden könnte? Inwiefern ließen sich also aus dem Faktum, dass sich das gesprochene Wort nach Buber »in der schwingenden Sphäre zwischen den Personen« (MBW VI, 127) begibt, Konsequenzen für die semantische Ebene ableiten, für den propositionalen Gehalt des Geredeten? In »Das Wort, das gesprochen wird« behauptet Buber: »Nie ist Sprache gewesen, ehe Ansprache war« (MBW VI, 131). Das heißt: »Ein präkommunikatives Stadium der Sprache ist nicht zu ersinnen.« (MBW VI, 131) Somit grenzt sich Buber von der Vorstellung ab, der Ursprung der konkreten Wörter liege in einer Situation des einsamen Sichbeziehens auf Gegenstände und monologischen Benennens von Dingen und Vorgängen. Dialogisches Geschehen ist nach Buber demnach schon das Entstehen der Wörter, wobei sich die obigen Bemerkungen zwar auf die Entstehung von Sprache überhaupt zu beziehen scheinen, jedoch auch auf jede neue Situation der Wort- und Sprachschöpfung bezogen werden können. Indem Buber den Monolog nicht als ursprüngliche Weise des Weltbegreifens und -benennens ansieht, sondern als Rückzug aus einer fundamentaleren Dialoghaftigkeit des Menschen, betont er, was auch eine konsequente Ausarbeitung des heideggerschen Mitseins nahelegen müsste: Jedes Wort ist erstens ursprünglich einer Situation des echten Gegenüberseins von Mensch und Welt sowie Mensch und metaphorische Sprechen, das seinen ›Gegenstand‹ nicht dingfest macht, sondern ihn nur indirekt nennt; das Erzählen von etwas oder jemandem, das dieses oder jenen in seiner ›Eigenheit‹ oder ›Ursprünglichkeit‹ zu erhalten sucht, oder ein vorsichtiges Reden im Sinne der formalen Anzeige Heideggers, welches jegliches Vorurteil über das Besprochene auszuschalten sucht.

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Mensch entsprungen – ›Ergebnis‹ eines Dialogs, das dessen Spuren in sich trägt 150 –, und zweitens ist es immer schon bezogen auf andere Wörter als Wörter von Anderen. 151 In dieser ursprünglichen Konfrontation mit anderen Sprechern in konkreten Situationen und der Bezogenheit des Wortes auf fremde Wörter gründet nun auch die grundlegende Mehrdeutigkeit jeder faktischen Äußerung, die Buber wiederholt betont. Die Auflistung der Wörter im Wörterbuch hingegen suggeriert eine Eindeutigkeit der Zuordnung und eine Abgeschlossenheit des Bedeutens, welche das Entsprungensein des Wortes aus einer dialogischen Situation sowie die stete Eingefügtheit des Wortes in immer neue, lebendige Gesprächszusammenhänge verschweigt. Sprache ist laut Buber »ihrem Wesen nach ein System möglicher Spannungen« (MBW VI, 129). Die Begriffe, welche ein Wort bezeichnet, seien zwar stets sinnähnlich – sonst könnte überhaupt nicht kommuniziert werden –, aber nicht sinnidentisch. 152 Diese Spannung lässt sich laut Buber auch nicht vollkommen neutralisieren, wenn die Redepartner »damit beginnen, sich auf eine Definition des Begriffs zu einigen: das große Faktum der Personhaftigkeit wird auch noch in die Definition einzudringen wissen – es sei denn, daß die beiden ›Rede150 Wenn auch naturhaft Seiendes Du sein kann, muss Wortschöpfung nicht zuschreibende Benennung sein, die der Wirklichkeit einen subjektiven Stempel aufdrückt, sondern die Namen für die ›Dinge‹ könnten aus Situationen heraus entstanden sein, die sich als ›Kommunikation‹ – in einem weiteren Sinne – bezeichnen ließen. 151 Besonders eindringlich zeigt der russische Literaturwissenschaftler und Philosoph Michail Bachtin eine innere und ursprüngliche Dialogizität des Wortes auf. Wie Buber geht er vom lebendigen Wort aus und konstatiert: »Sprachphilosophie, Linguistik und Stilistik postulieren eine einfache und unmittelbare Beziehung des Sprechers zu ›seiner eigenen‹ einheitlichen und einzigen Sprache und eine einfache Realisierung dieser Sprache in der monologischen Äußerung des Individuums.« (Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hrsg. und eingel. von Rainer Grübel, aus dem Russ. übers. von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt a. M. 1979, 163) So ließen diese Sprachbetrachtungen aber »jene spezifischen Erscheinungen im Wort […] außer acht, die durch seine dialogische Orientierung inmitten fremder Aussagen innerhalb derselben Sprache bestimmt werden« (Bachtin 1979, 168). Weiter: »Der Gegenstand ist umgeben und durchdrungen von allgemeinen Gedanken, Standpunkten, fremden Wertungen und Akzenten. Das auf seinen Gegenstand gerichtete Wort geht in diese dialogisch erregte und gespannte Sphäre der fremden Wörter, Wertungen und Akzente ein, verflicht sich in ihre komplexen Wechselbeziehungen, verschmilzt mit den einen, stößt sich von den anderen ab, überschneidet sich mit dritten« (Bachtin 1979, 169). Somit lebe das Wort stets »auf der Grenze zwischen seinem eigenen und dem fremden Kontext« (Bachtin 1979, 176). 152 Vgl. MBW VI, 130.

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gesellen‹ gemeinsam den Logos an die Logistik verraten.« (MBW VI, 130) 153 Buber sieht es also gerade als die eigentliche Wirklichkeit des Sprechens an, dass an jedem Punkt eines Gesprächs Verstehen und Nicht-Verstehen miteinander verflochten sind. 154 Er betont die Fruchtbarkeit der Spannungen und will diese nicht durch eine künstlich erzeugte Konformität harmonisiert wissen: »[…] in der Sprache wie überall ertötet die eingesetzte Gemeinsamkeit die lebendige.« (MBW VI, 131) Diese Bemerkung betont nochmals, dass lebendige Gemeinsamkeit als ein Bezogensein auf einen tatsächlich Anderen im Rahmen einer dialogischen Konzeption gerade kein gleichförmiges, aufeinander abgestimmtes Nebeneinander meint und dass die Behauptung, die Entstehung des Wortes läge in einer dialogischen Situation, nicht sagen will, dass dieses Wort nun ein von allen in gleicher Weise gebrauchtes Instrument darstellt. Die Schaffung einer möglichst ökonomisch handhabbaren Universalsprache muss Buber demnach radikal ablehnen – das lebendige Wort würde durch ein solches Instrumentarium der ›totalen‹ Verständigung abgetötet. 155 In diesem Zusammenhang sind auch Bubers Überlegungen zum Denken als einem dialogischen Geschehen zentral. So fragt er in Anlehnung an die Bestimmung des Denkens als eines »innere[n] Gespräch[s] der Seele mit sich selbst« 156 in Platons Sophistes, ob das Denken denn nicht tatsächlich wesentlich monologisch sei. 157 Er verneint 153 Entsprechend kommentiert Biemann: »Jene Definität der Begriffe, die auf der Ebene der Verständigung unentbehrlich ist, hemmt auf der Ebene der Gesprochenheit die Dialogizität des Wortes.« (MBW VI, 14) 154 Vgl. Bubers Ausführungen zum Drama als der »Gestaltung des Wortes als eines zwischen den Wesen sich Bewegenden«. Diese Gattung führe eindringlich vor, »daß nie zwei Menschen mit den Worten, die sie gebrauchen, dasselbe meinen, daß es also keine reine Erwiderung gibt, daß in jedem Punkt des Gesprächs also Verstehen und Nichtverstehenkönnen verwoben sind« (Martin Buber, »Drama und Theater«, in: H, 197–201, hier: 197). 155 Vgl. MBW VI, 75. Buber betont aber auch: Die moderne Wissenschaft habe durchaus »ein hohes Recht, sich ein für ihre Zwecke restlos verwendbares Verständigungsmedium zu schaffen« (MBW VI, 131). Dieses Modell eines absolut spannungsfreien Verständigungsmittels dürfe aber nicht als Modell für Sprache überhaupt genommen werden. 156 Vgl. Platon, Sophistes, in: ders., Sämtliche Werke. Band 3, übers. von Friedrich Schleiermacher u. a., auf der Grundl. der Bearb. von Walter F. Otto u. a. neu hrsg. von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 1994, 253–335, hier: 328 (263 e). 157 Vgl. DP 176 f.

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dies allerdings sogleich: »Die Entstehung des Gedankens vollzieht sich nicht im Selbstgespräch.« (DP 177) Seine näheren Ausführungen machen zudem deutlich, dass der oder das ›Angeredete‹ im Denken nicht unbedingt ein anderer Mensch sein muss. Das bedeutet allerdings auch: Einer »rein dialogischen Prüfung und Erprobung, darin das empfängerische Amt nicht mehr dem Du-Ich, sondern einem echten Du übertragen wird« (DP 178), wird der Gedanke doch erst in der sprachlichen Äußerung gegenüber einem Anderen ausgesetzt. Buber zitiert in diesem Zusammenhang eine zentrale Bemerkung Wilhelm v. Humboldts, welche das Verlangen des Denkens nach einer Bestätigung durch Andere ausdrückt: »[…] der Mensch sehnt sich […] auch zum Behuf seines blossen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du, der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu erreichen.« 158 Buber betont dann jedoch – und damit bekräftigt er die besondere Akzentsetzung seiner Position –, dass der Begriff des Dialogs über den des bloßen ›Zurückstrahlens‹ deutlich hinausreiche: »Es geht hier durchaus nicht mehr bloß um das aufnahmebereite und zum Symphilosophieren geneigte Du, vielmehr vorzugsweise gerade um das widerständige, weil wahrhaft um den Andern, den anders und anderes Denkenden« (DP 179). 159 Buber scheint allerdings – das machen vor allem seine Bemerkungen zum Denken in »Das Wort, das gesprochen wird« deutlich – von einer ursprünglichen Denktätigkeit auszugehen, die noch unsprachlich ist. 160 Somit zeigt sich, dass er in gewissem Sinne doch noch der traditionellen Vorstellung einer in sich geschlossenen Sphäre der Begriffsbildung verhaftet ist, deren ›Produkte‹ im Wortwerden erst auf den Anderen – bei Buber: den tatsächlich Anderen – bezogen sind. »Der Denker ist ursprunghaft einsamer als der Dichter, aber nicht zielhaft 158 Wilhelm v. Humboldt, Ueber den Dualis, in: ders., Werke in fünf Bänden. Band III: Schriften zur Sprachphilosophie, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1963, 113–143, hier: 138 f. 159 Allerdings wird auch bei Humboldt der Gedanke artikuliert, dass die Sprache den »Unterschied« zwischen den sprechenden Individuen nicht zum Verschwinden bringt, sondern gerade bestätigt, auch wenn sie »Brücken« zwischen den Individuen baut; vgl. Wilhelm v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: Humboldt 1963, 368–756, hier: 558 f. 160 Vgl. MBW VI, 128.

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einsamer als er« (MBW VI, 128), heißt es. Zwar wird das humboldtsche Modell des ›Zurückstrahlens‹ radikalisiert durch die Hervorhebung der Widerständigkeit des Anderen im Gespräch, doch wird durch Bubers Behauptung der bloßen Angelegtheit des Denkens auf eine Konfrontation mit Anderen das Entspringen des Begriffs sowie letztlich auch das des konkreten Wortes in einem den Denkenden und Sprechenden entzogenen Zwischen wieder in Frage gestellt.

2.7 Eine ›neue‹ Grammatik auf der Basis der Grundworte Ich-Du und Ich-Es? Die Abwendung von der Fixierung auf die Aussage und die Bestimmung der Rede als Existenzial führten Heidegger in den 20er Jahren zur Hoffnung auf eine »Befreiung der Grammatik von der Logik« (SZ 165). Entsprechend stellt sich auch bei Buber die Frage, ob nicht vor dem Hintergrund des dialogischen Ansatzes eine kritisch prüfende Betrachtung der traditionellen Grammatik vorgenommen werden könnte, denn schließlich arbeitet Bubers Differenzierung zwischen Erfahren und Begegnen ganz grundlegend mit der Unterscheidung zwischen der 2. und 3. Person Singular der griechisch-lateinischen Grammatik. Schon Humboldt, den Buber ausdrücklich als Vordenker des dialogischen Prinzips nennt, 161 fasste Sprache konsequent als Anrede und Erwiderung und beschrieb in diesem Zusammenhang die Personalpronomen in einer Weise, welche seine Bedeutung für die Dialogphilosophie kenntlich macht: »Ich und Er sind wirkliche verschiedene Gegenstände, und mit ihnen ist eigentlich Alles erschöpft, denn sie heissen mit andren Worten Ich und Nicht-ich. Du aber ist ein dem Ich gegenübergestelltes Er. Indem Ich und Er auf innerer und äusserer Wahrnehmung beruhen, liegt in dem Du Spontaneität der Wahl. Es ist auch ein Nicht-ich, aber nicht, wie das Er, in der Sphäre aller Wesen, sondern in einer andren, in der eines durch Einwirkung gemeinsamen Handelns. In dem Er selbst liegt nun dadurch, ausser dem Nicht-ich, auch ein Nicht-du, und es ist nicht bloss einem von ihnen, sondern beiden entgegengesetzt.« 162

Siehe etwa DP 178 und 312. Humboldt 1963, 139. Vgl. auch SZ 119, wo Heidegger auf Humboldts Untersuchung von Sprachen eingeht, welche die Personalpronomen durch Ortsadverbien ausdrücken, das ›Du‹ etwa durch ein ›Da‹. Heidegger sieht beide Ausdrucksmöglichkeiten fundiert in 161 162

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Da Buber außerdem den beiden Grundworten eine jeweils eigene Zeitlichkeit zuweist, legt er zudem eine Diskussion der unterschiedlichen Tempora in Bezug auf die beiden möglichen Weltzugänge nahe. Ein anderer dem Kreis der Dialogphilosophen zugehöriger Denker hat genau hier angesetzt und eine Transformation der traditionellen Grammatik durchgeführt: In seiner Schrift Angewandte Seelenkunde 163 untersucht Eugen Rosenstock-Huessy die griechisch-lateinische Grammatik auf ihre durch Anrede und Antwort strukturierte Tiefendimension hin, wobei er die überlieferte Grundordnung der Personalpronomen radikal in Frage stellt: 164 »Von der akademischen Psychologie wird als einzig feste Größe das Ich gesetzt. Das Du, das Er und Sie, das ›Es‹ der Dinge, alles andere wird erst beachtlich dadurch, daß es von dieser ersten Person der Grammatik, von dem Ich psychisch aufgenommen wird. […] Diese Lehre entspricht der Behauptung der griechischen Grammatiker, das Ich sei die erste Person des Verbums. Und sie gibt damit deutlich ihre Abkunft von einem antiquierten […] Standpunkt des Denkens zu erkennen. Die griechische Philosophie und die griechische Schulgrammatik sind heute nicht mehr die gültige Basis für so weittragende Behauptungen. Mag auch in unseren Schulbüchern das Ich noch immer die erste Person heißen, so darf die Psychologie diese falsche Zählung nicht mehr naiv als Dogma voraussetzen.« (AS 753 f.)

Rosenstock-Huessys Grammatik der Seele begreift dementsprechend das Du als die wahre 1. Person, d. h. als den ›Pol‹ einer Beziehung zwischen Personen, von dem die eigentliche Aktivität ausgeht. Seine grundlegende These lautet also: »Alle Selbsterkenntnis, Icherkenntnis, wird hervorgerufen durch Anruf und durch ein bestimmtes Sichgetroffenfühlen, das in konkreter und dem Einzelnen widerfahrender Weise das Ich herausfordert.« (AS 765) Diese Behauptung einer fundamender ursprünglichen Räumlichkeit des Daseins – es zeigt sich erneut: Das Du gehört schlicht in den Raum hinein, den das Dasein redend-sprechend aufspannt. 163 Dieser Text, der den »Weg aus der bisherigen alexandrinischen Grammatik in eine inkarnierende Sprachlehre« eröffnen möchte, ging 1916 als ›Sprachbrief‹ an Franz Rosenzweig »zur Abwehr aller Sprachphilosophie« und ist so – nach Rosenstock-Huessy selbst – »die älteste Urkunde eines Sprachdenkens, in dem die Epoche von Parmenides bis Hegel ausgeschieden ist«; vgl. AS 739; Fn. 1. 164 Diese Neuordnung der Pronomen ist allerdings nur ein – wenn auch der wesentliche – Aspekt der neuen Grammatik. Rosenstock-Huessy weist zudem in dieser ursprünglichen Grammatik der 3. Person Singular der ›traditionellen‹ Ordnung (Es) den Indikativ und die Vergangenheit zu bzw. der 2. Person Singular der ›Schulbuchgrammatiken‹ (Du) den Imperativ und die Gegenwart.

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talen Nicht-Gleichrangigkeit zwischen Ich und Du sucht er vor allem durch den Hinweis auf die ersten Erfahrungen des Kindes zu stützen: »Das erste, was dem Kind […] widerfährt, ist, daß es angeredet wird. Es wird angelächelt, gebeten, gewiegt, getröstet, gestraft, beschenkt, gesättigt, es ist zuerst ein Du für ein mächtiges Außenwesen: vor allem für die Eltern.« (AS 754) Auch den Akt der Namensgebung als eine Prägung des Ich durch Andere wählt er als einen Beleg für die Vorrangstellung des Du als der echten 1. Person. In der Tat vermögen diese Hinweise den Weg zu öffnen, eine untergründige ›Ausgesetztheit‹ in jedem Ich-Sagen aufzuspüren. Letztlich fußt Rosenstock-Huessys Umstrukturierung der traditionellen Grammatik aber auf der nicht weiter begründeten und begründbaren Annahme eines grundlegenden Angesprochenwerdens von einem – übermächtigen – Gott her: »Für den Satz des Descartes: ›cogito, ergo sum‹, ich denke, darum bin ich, der ja der rein logische des ›Ich bin ich‹ des ›A = A‹ ist, muß also in der Seelenkunde der grammatische Satz eintreten: Gott hat mich gerufen, darum bin ich.« (AS 766 f.) Während sich auch bei Ebner und Rosenzweig Überlegungen zu einer kritischen Prüfung der traditionellen Grammatik bzw. der Gedanke einer grundlegenderen Grammatik finden lassen, 165 sucht man bei Buber nach solch expliziten Bezugnahmen auf konkrete Ordnungssysteme von Sprache – zumindest auf den ersten Blick – vergebens. Bedacht werden muss schließlich auch, dass Buber die ausgelauteten Personalpronomen gerade nicht vorschnell mit den Grundworten IchDu und Ich-Es identifiziert wissen möchte. Nicht zuletzt diese Zurückhaltung gegenüber einer Rückführung der Grundworte auf die konkrete Grammatik hat dazu geführt, dass Buber – wie schon erwähnt – der Status eines ›echten‹ Sprachdenkers mitunter abgesprochen wird, weil »er nicht wie die anderen Sprachdenker von der wirklich gesprochenen Sprache ausgeht« 166 . Und doch lassen sich bei Buber immer wieder ausführlichere Thematisierungen eines konkreten sprachlichen Ausdrucks oder ›Niederschlags‹ von Beziehungs- und Distanzierungsmomenten finden – vornehmlich im Rahmen seiner Exkurse zum begegnungsgeprägten Leben 165 Vgl. WGR 25, 27, 52 sowie 118 ff. und Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1988, 120 ff., 140 f. und 193 ff. Zum Sprachdenken Rosenzweigs und Rosenstock-Huessys siehe Bauer 1992 sowie Rohrbach 1973. 166 Rohrbach 1973, 137.

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der sog. ›Primitiven‹. 167 Von bestimmten Sprachphänomenen ausgehend, die sich bei einigen dieser Kulturen auffinden lassen, versucht er dabei – der Survivaltheorie des Ethnologen Edward Tylor folgend – Rückschlüsse auf die Anfänge der Menschheit bzw. der menschlichen Sprache zu ziehen. 168 So behauptet Buber in Ich und Du, dass die sog. Satzworte – die Kernelemente bestimmter polysynthetischer primitiver Sprachen – als »vorgrammatische Urgebilde […] zumeist die Ganzheit einer Beziehung« (DP 22) bezeichneten, durch deren Zersprengung erst die vielfältigen Wortarten entstünden. 169 In dieser Ganzheit sind die Personen nach Buber »noch reliefhaft, ohne gerundete Selbständigkeit« (DP 22) eingeschlossen – Substantive und Pronomen haben sich hier noch nicht zu einem komplexen Schema ausdifferenziert. Entsprechend geht er von der Annahme aus, dass sich die Begriffe und Vorstellungen von Personen im Verlauf der menschlichen Sprachentwicklung generell »aus Vorstellungen von Beziehungsvorgängen bzw. -zuständen herausgelöst haben« (DP 22 f.). Als vielleicht älteste Wortform vermutet Buber den Eigennamen, der die nötige Anwesenheit des Anderen in konkreten Situationen herbeiführen sollte. 170 Auch in »Das Wort, das gesprochen wird« geht er auf die Eigenarten solcher polysynthetischen Sprachen ein und formuliert als Kernthese die – im vorigen Unterkapitel schon angedeutete – Behauptung, dass die konkreten Situationen, in denen Menschen sich miteinander als gleichrangige Wesen über eine noch nicht verfügbar gemachte Welt verständigten, für die Sprachentwicklung primär gewesen seien. Der 167 Zumeist spricht Buber hier recht verallgemeinernd von den ›Primitiven‹ und den ›primitiven Sprachen‹. Als konkrete Beispiele nennt er u. a. Ausdrücke der Zulu und der Ureinwohner Feuerlands. 168 Die Theorie Tylors, welche Buber jedoch nicht explizit erwähnt, deutet die ›primitiven‹ Gesellschaften insgesamt als survivals – als ›Restbestände‹ – der universalen Anfänge. 169 Dabei greift Buber offensichtlich auf Edward Sapirs Beschreibung der sog. polysynthetischen Sprachen zurück. Zwar nennt er diese Quelle hier nicht, doch in »Das Wort, das gesprochen wird« geht er erneut auf die ›Satzworte‹ ein und erwähnt Sapir als Referenzautor; vgl. MBW VI, 132. Es sei dabei erwähnt, dass zwar viele der Indianerund Eskimosprachen als polysynthetisch eingestuft werden, dass aber auch das Finnische, Arabische und Lateinische zu diesem Sprachtypus gezählt werden. Das Kriterium: All diese Sprachen arbeiten mit Wörtern, die im extremsten Fall einem ganzen, mitunter recht komplexen Satz entsprechen können. 170 Vgl. W I, 420.

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heutige Sprachbestand und -besitz entpuppt sich vor dem Hintergrund dieser These als Ansammlung einst eigenständig gewordener Rufe, die sich aus komplexen dialogischen Situationen herausgelöst haben bzw. aus diesen isoliert worden sind. Die Sprache als Gegenstand der Wörterbücher und Grammatiken kann nach Buber also nicht mehr als einen blassen Schatten dieser Lebendigkeit und Beziehungsgeprägtheit der Worte vermitteln. 171 Nicht die bestehende Grammatik strukturiert Buber somit neu – die Gleichrangigkeit zwischen Ich und Du verbietet ja hier auch eine bloße Umkehrung von 1. und 2. Person wie bei Rosenstock-Huessy. Aber er sucht in anderen Grammatiken Belege dafür, dass Sprache in ihren Anfängen ein Produkt von konkreten Begegnungssituationen war und in ihrer lebendigen Realisierung immer wieder in solch konkreten Beziehungen sich aktualisiert, was die schematische und hierarchische Auflistung von 1., 2. und 3. Person der ›Schulbuchgrammatiken‹ nicht mehr zu bezeugen vermag.

2.8 Exkurs II: Bubers und Rosenzweigs Projekt einer »Verdeutschung der Schrift« Bei einer Betrachtung des Sprachdenkens Bubers bietet sich auch eine Bezugnahme auf das Projekt der Verdeutschung der Schrift – also die Bibelübersetzung Bubers und Rosenzweigs – an, 172 denn schließlich war Buber im Zuge dieses Unternehmens angehalten, umfassende Überlegungen zur Frage der Übersetzung und Interpretation historischer Texte und somit zur hermeneutischen Situation generell vorzuneh-

171 Siehe folgende Bemerkung in »Urdistanz und Beziehung«: »[…] der Mensch distanziert und verselbständigt auch seine Rufe, er setzt sie, wie das hergerichtete Gerät, als fertiges und gebrauchsfähiges Objekt beiseit, er macht sie zu Worten, die für sich bestehn.« (W I, 420) 172 Siehe zur Geschichte des 1925 begonnenen und 1961 von Buber vollendeten, durch den Tod Rosenzweigs 1929 und die Diktatur der Nationalsozialisten unterbrochenen und verzögerten Projektes Alfred Bodenheimer, »Grabmal? Gastgeschenk? Die BuberRosenzweigsche Verdeutschung der Schrift als Projekt jüdischer Authentizität«, in: Judaica. Beiträge zum Verstehen des Judentums, Heft 1/2003, 2–11. Als eingehende Darstellungen der Bibelübersetzung siehe außerdem Uwe Vetter, Im Dialog mit der Bibel. Grundlinien der Schriftauslegung Martin Bubers, Frankfurt a. M. u. a. 1993 und Klaus Reichert, »Zeit ist’s«. Die Bibelübersetzung von Franz Rosenzweig und Martin Buber im Kontext, Stuttgart 1993.

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men. 173 Zentrale Aspekte der buberschen Sprachauffassung – etwa die Betonung der Gesprochenheit des Wortes – kommen hier, im Umgang mit der hebräischen Bibel, besonders prägnant zum Ausdruck, wobei die konkreten Herausforderungen, welche solch ein Übersetzungsprojekt mit sich bringt, nicht selten auch eine schärfere Artikulation mancher Ansichten des dialogischen Sprachdenkens geradezu erzwingen. So äußert sich Buber vor allem im Kontext der Verdeutschung der Schrift recht umfassend zum unauflöslichen Zusammenhang von Form und Gehalt einer konkreten Rede. Andererseits treten bei der Verdeutschung als einer praktischen Anwendung wesentlicher Aspekte des buberschen und rosenzweigschen Denkens zur Sprache Schwierigkeiten und Widersprüche auf, welche die problematischen Momente der dialogischen Sprachkonzeption erneut in den Blick rücken lassen. Warum aber musste der Tanach – die jüdische Bibel – nach Buber und Rosenzweig überhaupt völlig neu übersetzt werden? Es gab schließlich – neben der Luther-Übersetzung des Alten Testaments, für die Buber und Rosenzweig durchaus lobende Worte finden – etliche Übertragungen der hebräischen Bibel ins Deutsche, auch im 20. Jahrhundert. 174 Die Antwort, die Buber auf diese Frage nach der Notwendigkeit einer neuen Übersetzung gibt, macht deutlich, worum es ihm und Rosenzweig im Wesentlichen geht: »Die besondere Pflicht zu einer erneuten Übertragung der Schrift, die in der Gegenwart wach wurde und zu unserm Unternehmen geführt hat, ergab sich aus der Entdeckung der Tatsache, daß die Zeiten die Schrift vielfach in ein Palimpsest verwandelt haben. Die ursprünglichen Schriftzüge, Sinn und Wort von erstmals, sind von einer geläufigen Begrifflichkeit teils theologischer, teils literarischer Herkunft überzogen, und was der heutige Mensch gewöhnlich liest, wenn er ›das Buch‹ aufschlägt, ist jenem lauschenden Sprechen, das sich hier eingetragen hat, so unähnlich, daß wir allen Grund hätten, solcher Scheinaufnahme die achselzuckende Ablehnung vorzuziehen, die ›mit diesem Zeug nichts mehr anzufangen weiß‹.« 175

Siehe Martin Buber/Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936. Bubers Beiträge aus diesem Buch sind außerdem in Band 2 der Werkausgabe (W II) abgedruckt und werden hier auch aus der Werkausgabe zitiert. Überlegungen Rosenzweigs zur Übersetzung finden sich auch in den Kleineren Schriften; siehe außerdem Franz Rosenzweig, Sprachdenken. Arbeitspapiere zur Verdeutschung der Schrift, hrsg. von Rachel Bat-Adam, Dordrecht 1984. 174 Vgl. zu den unterschiedlichen Übersetzungen Reichert 1993, 5 ff. 175 Martin Buber, Die Schrift und ihre Verdeutschung, in: W II, 1093–1186, hier: 1111. 173

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Angestrebt wird also eine Befreiung des Textes von ihn überlagernden, ihn dabei – nach Buber und Rosenzweig – mitunter verfälschenden Deutungen. Das Ziel ist somit offensichtlich eine Besinnung auf einen ursprünglichen Text, auf ›ursprünglich Jüdisches‹. Äußerst aufschlussreich ist dabei, wie Buber und Rosenzweig die angemessene Rezeption der hebräischen Bibel begreifen, nämlich als ein Hören auf dieses Ursprüngliche als etwas einst Gesprochenes: »Meinen wir ein Buch? Wir meinen die Stimme. Meinen wir, daß man lesen lernen soll? Wir meinen, daß man hören lernen soll.« (W II, 869) Und weiter: »Zur Gesprochenheit wollen wir hindurch, zum Gesprochenwerden des Worts.« (W II, 869) Nicht nur ist die Bibel selbst nach Meinung der beiden Übersetzer die schriftliche Dokumentation eines einzigen großen historischen Kommunikationsgeschehens zwischen Gott und Mensch, 176 sondern den gesamten Text selbst verstehen sie demnach als lebendige Stimme, die den Menschen zu jeder Zeit neu anzugehen vermag. 177 Obgleich Buber und Rosenzweig offenkundig zu einer ursprünglichen Bedeutung vordringen wollen, betonen sie aber, dass die heutigen Leser – oder besser: Hörer – sich nicht in die Entstehungswelt der Bibel zurückversetzen müssten (und auch gar nicht könnten), sondern dass sie sich in ihrer jeweiligen Zeit von der Stimme ›treffen‹ lassen sollten: Es gehe zwar um ein »Zurück«, aber um eine solche »Umkehr, die uns um die eigene Achse dreht, bis wir nicht etwa auf eine frühere Strecke unsres Wegs, sondern auf den Weg geraten, wo die Stimme zu hören

176 Es geht laut Buber in allen Texten der hebräischen Bibel um die Begegnung zwischen Göttlichem und Menschlichem; alle Teile hätten einen, wenn z. T. auch untergründigen, Dialogcharakter inne. Besonderes Interesse hegt Buber allerdings für die Prophetie Israels, wo der Botschaftscharakter besonders deutlich wird; vgl. W II, 1095 f. 177 Im Zusammenhang mit der Bibelübersetzung behauptet Buber auch zentrale Unterschiede zwischen der griechischen und der jüdischen Auffassung und Ausprägung von Sprache: Während das Wort der griechischen Antike »abgelöst und ausgeformt« sei, »dem Block des faktischen Gesprochenwerdens enthoben, mit dem Meißel der Denkkunst, der Redekunst, der Dichtkunst behauen«, zeichne sich das biblische Wort durch seine Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit aus, welche die faktische Gesprochenheit gerade nicht verleugne: »In der Bibel verwandelt sich die Stimme des sprechenden Menschen nicht, sie bleibt wie sie ist, und doch erscheint sie als aller Beiläufigkeit entrückt, sie ist eben ursprünglich.« Während das Wort in der griechischen Philosophie eher Bild sei, ereigne es sich im Judentum als dynamisches; vgl. zu dieser Gegenüberstellung insgesamt Martin Buber, »Biblischer Humanismus«, in: W II, 1085–1092, hier: 1090 ff.

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ist« (W II, 869). 178 Zudem ist Folgendes nach den Prämissen des dialogischen Denkens einsichtig: Das ›Ursprüngliche‹ als einst tatsächlich Gesprochenes ist selbst schon nicht auf einen einzigen Sinn zu reduzieren – auch das Gotteswort läßt sich laut Buber dezidiert nicht ein für alle Mal auf einen eindeutig bestimmbaren Gehalt hin festlegen, der unabhängig von der Situation des Gesprochenwerdens durch die Zeiten transportiert werden kann, sondern es findet seinen Sinn als ein Geschehen stets zwischen Gott und Mensch. 179 Die Konsequenz, die aus dem grundlegenden Dialogcharakter der Bibel für die Übersetzungstätigkeit gezogen werden muss: Bibelauslegung und -übersetzung ist selbst ein Kommunikationsakt, genauer: ein Dialog mit einem Dialog. Es gilt nach Buber und Rosenzweig also einerseits, als dieser konkrete Mensch des 20. Jahrhunderts zum Hören bereit zu sein, andererseits ist zu beachten, dass die zu übersetzenden Worte einst selbst in spezifischen Situationen gesprochen und vernommen wurden. 180 Das heißt aber eben auch: in einer ganz bestimmten Sprache. Buber: »Das biblische Wort ist auch von den Situationen seiner Gesprochenheit nicht abzulösen, sonst verliert es seine Konkretheit, seine Leiblichkeit.« (W II, 1184) Indem Buber das ›Ineinander‹ von faktischem Vollzug und Inhalt der Rede so stark betont, behauptet er also zugleich einen unauflöslichen Bezug zwischen Form und Gehalt der Rede: »In dieser Sphäre tönender und sinngeladener Spontaneität war die Sag-

178 Vom ›hebräischen Humanismus‹ als dem Ausdruck einer echten »Wiedergeburt der normativen Urkräfte« will Buber eine rein formale Renaissance streng geschieden wissen; vgl. W II, 1088. Der wirkliche hebräische Humanismus führe aber unweigerlich zur Bibel: »Die Urkräfte sind uns im Wort, im biblischen Wort überliefert.« (W II, 1089) Es gehe allerdings gerade nicht um den naiven Versuch einer Wiederholung von einst Gewesenem, sondern um »dessen Erneuerung in echt gegenwärtiger Erscheinung« (W II, 1088). Vgl. zu Bubers hebräischem Humanismus und der Rolle der Sprache für dieses ›Programm‹ Michael Volkmann, »Martin Bubers hebräischer Humanismus«, in: Martin Buber: Bildung, Menschenbild und Hebräischer Humanismus, hrsg. von Martha Friedenthal-Haase und Ralf Koerrenz, Paderborn 2005, 181–193, hier: 187 f. 179 Siehe DP 83 f. sowie folgende Bemerkung: »Vollzogene Offenbarung ist immer Menschenleib und Menschenstimme, und das heißt immer: dieser Leib und diese Stimme im Geheimnis ihrer Einmaligkeit.« (W II, 1112 f.) 180 Der Rückgang auf ›Ursprüngliches‹ lässt Buber folgende Aufforderung formulieren: Alle Vorurteile bezüglich der Bibel, alles Vorwissen muss ausgeschaltet werden. Indem Buber andererseits die Geschichtlichkeit des Angesprochenwerdens betont, lässt er die Realisierung einer kompletten Ausblendung aller ›Vorurteile‹ allerdings selbst fraglich werden.

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weise von dem zu Sagenden gar nicht zu trennen: dieses konnte überhaupt nur so gesagt werden.« (W II, 1176) Daraus folge: »Diese seine situationsgeborene, situationsgerechte Konkretheit muß dem biblischen Text bewahrt werden. Man darf ihn nicht als Stücke einer Literatur, man soll ihn stets als Teile eines ungeheuren, vielstimmigen, in einem Urgrund des schaffenden und offenbarenden Worts entspringenden, in ihm beterisch mündenden Gespräches lehren.« (W II, 1185)

Um die grundsätzliche Gebundenheit des Gesagten an die hebräische Sprache hervorzuheben, nennen Buber und Rosenzweig schließlich ihre Übersetzung eine Verdeutschung. Diese Bezeichnung soll deutlich machen, dass es nicht um eine einfache Übertragung des Inhalts der Bibel (im Sinne bestimmter Informationen, bestimmter Gesetze) in eine andere Sprache geht, sondern um das Schaffen einer Entsprechung, einer Nachbildung, welche den einzigartigen Charakter des Originals allerdings niemals völlig angemessen wiedergeben kann: »Deutsche Lautgestalt kann nie hebräische Lautgestalt reproduzieren, aber sie kann, aus analogem Antrieb wachsend und analoge Wirkung übend, ihr deutsch entsprechen, sie verdeutschen.« (W II, 1114) 181 Somit muss aber die Übersetzung des Tanach durch Buber und Rosenzweig strenggenommen die eigentliche Un-übersetzbarkeit einer Sprache in eine andere dokumentieren. Sie muss, soll sie dem eigenen Anspruch gerecht werden, die Widerstände, auf welche jede Übersetzung stößt, mitklingen lassen und darf sie nicht zu harmonisieren suchen. Im Rückgriff auf eine bekannte Bemerkung zur Stellung der Auslegung zwischen Vertrautheit und Fremdheit von Gadamer ließe sich sagen, dass eine gelungene Verdeutschung der Schrift das Zwischen als den »wahre[n] Ort der Hermeneutik« 182 nicht nur in den Blick bringt, sondern auch in diesem Zwischen als einer dialogischen Sphäre, d. h. einem nicht in eine vollkommene Nähe und Vertrautheit umwandelbaren Bereich, verbleibt. Buber selbst zur Spannung zwischen Allgemeinheit der Rede und Individualität des einst faktisch Ge181 Hier wird erneut das Programm eines hebräischen Humanismus deutlich: Letztlich geht es um eine Umwandlung des jüdischen Menschen – um ein Sich-wieder-Einfinden in die eigene Geschichte. 182 Gadamer 1972, 279. Siehe auch Dilthey: »Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre.« (Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften. Band VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 7., unveränd. Aufl., Stuttgart/Göttingen 1979, 225)

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redeten, die es überhaupt möglich macht, als Mensch des 20. Jahrhunderts auf dieses einst Gesprochene zu hören, und zwar wieder neu zu hören: »Das biblische Wort ist übersetzbar, weil es einen Gehalt hat, mit dem es an den Menschen ergeht. Es ist unübersetzbar, weil es ein Sprachgeheimnis hat, mit dem es an Israel ergeht. Im Zentrum eines biblischen Humanismus steht der Dienst an dem unübersetzbaren Wort.« (W II, 1090)

Es ist nun allerdings fraglich, inwieweit die konkrete Umsetzung des Bibel-Projektes als ›Produkt‹ dieses geradezu paradox scheinenden ›Dienstes‹ tatsächlich überzeugt. Betrachtet man das Ergebnis des Verdeutschungsprozesses, so ist offenkundig, dass diese Übersetzung die deutsche Sprache in einer Weise erklingen lässt, die mitunter sehr fremd anmutet. Um eine deutsche Entsprechung zu schaffen, greifen Buber und Rosenzweig dort, wo kein tatsächliches Synonym zu finden ist, oftmals nach »Ungebräuchlichgewordenem, ja Verschollenem« (W II, 1115). Buber betont – und auch diesem Gedanken ist die Übersetzung mannigfach gefolgt –, dass »der Übersetzer auch Neubildungen nicht scheuen« (W II, 1115) dürfe, wo er keine Entsprechung im deutschen Wortschatz findet. Zahlreiche Wortneuschöpfungen, die Wiederbelebung veralteter Ausdrücke und das Verfolgen verschlungener Etymologien sind demnach die zentralen ›Mittel‹ Bubers und Rosenzweigs, mögliche ursprüngliche Bedeutungen anklingen zu lassen. 183 Die Gliederung der Redeeinheiten in sog. Kolen (Zusammenfall von Atem- und Sinneinheit) erzielt außerdem eine Verleiblichung der Rede und erzeugt einen eminent dichterischdramatischen Charakter der Sprache, der es begünstigen soll, den Text tatsächlich laut vorzutragen. 184 Die Wirkung dieser Übersetzung und die sich anschließende Beurteilung des Projektes einer Verdeutschung der Schrift fällt jedoch ganz verschieden aus – und dies liegt nicht zuletzt am Anspruch des Unter183 Einige Beispiele: Buber und Rosenzweig übersetzen »ruach« nicht als »Geist« oder »Wind«, sondern als »Geistbraus« bzw. »Windbraus«. Das »Opfer« wird zur »Darnahung«, die »Stiftshütte« zum »Zelt der Gegenwart«, der »Altar« zur »Schlachtstatt« und die »Plage« zum »Niederstoß«. Die meisten der besonders sperrigen Übersetzungen stammen jedoch von Rosenzweig, der zu einer deutlich ›radikaleren‹ Angleichung an das Hebräische neigte als Buber; vgl. Reichert 1993 sowie Bodenheimer 2003. 184 Als ausführliche Darstellung der konkreten Übersetzungsprinzipien und -techniken Bubers und Rosenzweigs siehe Bauer 1992, 333 ff.

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nehmens selbst, das etwas leisten möchte, was geradezu utopisch erscheint, nämlich »in ein und demselben Wort, in einem Atemzug, Selbst und Anderer zu sein« 185 . Dementsprechend sehen die einen Rezipienten die Übersetzung als einen Text an, der die Brüche zwischen den Sprachen nicht harmonisiert, der Fremdheit und Spannungshaftigkeit aufscheinen lässt – andere beurteilen die Verdeutschung als ästhetisierend und rückständig, ja als naiv-romantisches Projekt. Nach der Fertigstellung der Übersetzung 1961 hält Gershom Scholem in Bubers Haus eine kleine Ansprache und hebt gegenüber Buber hervor: »Ihre Übersetzung war keineswegs ein Versuch, die Bibel im Medium des Deutschen auf eine Ebene klarer Verständlichkeit über alle Schwierigkeiten hinweg zu erheben. Vielmehr haben Sie es sich angelegen sein lassen, die Bibel nicht leichter zu machen als sie ist. Das Klare ist bei Ihnen klar, das Schwere ist schwer und das Unverständliche ist unverständlich. Sie machen dem Leser nichts vor und schenken ihm nichts.« 186

Als die Hauptabsicht dieses Projektes vermutet er gar den Ruf an den Leser: »[…] gehe hin und lerne Hebräisch!« 187 Während diese Äußerungen eine grundlegende Widerständigkeit, ja Widerspenstigkeit des Textes hervorheben, welche eine unmittelbare Aneignung des Geschriebenen bzw. in einer Bibellesung Gesprochenen hintertreibt, beurteilt Siegfried Kracauer in seiner vernichtenden Rezension des Ersten Bandes der Übersetzung in der Frankfurter Zeitung vom 27. und 28. April 1926 188 das Projekt als ›archaisierend‹ und ›reaktionär‹ und attestiert ihm – dies eine besonders brisante Bemerkung – eine deutliche Nähe zur »völkischen Romantik« 189 der Zeit. Die Übersetzung, so Kracauer, sinke »dort gerade in die Ohnmacht des ÄsReichert 1993, 33. Gershom Scholem, »An einem denkwürdigen Tage«, in: ders., Judaica 1, Frankfurt a. M. 1963, 207–215, hier: 209. 187 Ebd. Tatsächlich findet sich in Rosenzweigs Arbeitspapieren der Ausruf: »O lieber Leser, lerne hebräisch! und wirf meine Übersetzung ins Feuer«. Damit bezieht er sich allerdings auf einen Satz des Homerübersetzers Friedrich Leopold Graf zu Stolberg; vgl. Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften Band 1: Briefe und Tagebücher (2 Bände durchpaganiert), hrsg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann, Den Haag 1979, hier: Band 2, 765. 188 Vgl. den Wiederabdruck der Kritik in Kracauer 1990, 355–368. 189 Kracauer 1990, 362. Was tatsächlich auffällt, ist eine gewisse Nähe zu Wagners Einsatz des Stabreims im Bereich der Sprache und des Leitmotivs im Bereich der Musik – beide Mittel appellieren an das verstehende Gefühl, wollen das ›Reinmenschliche‹ (wie185 186

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thetischen zurück, wo sie am entschiedensten als Realität gelten möchte« 190 . Der gewählte Wortschatz und die rhythmische Gliederung bringen nach Kracauer also eine vornehmlich ästhetische Wirkung zustande und diese deutet er »als ein Symptom der Flucht«, als Zeichen eines Rückzugs aus dem gesellschaftlichen Dasein ins »Private als Refugium«. 191 Während Scholem dem Text zugesteht, selbst sein eigener (kritischer) Kommentar zu sein, betont Kracauer also, dass die Übersetzung dies gerade nicht leisten könne. 192 Der bewusste Verzicht der Übersetzer auf einen wissenschaftlichen Kommentar ist für ihn das augenfälligste Zeichen dafür, dass hier ein Zurück zu einer Ursprünglichkeit und Reinheit des Wortes proklamiert werde, welches beanspruche, die echte Wirklichkeit zu treffen, d. h. die eine Wahrheit zu verkünden. Auch wenn eine solche prophetische Verkündung nicht Bubers und Rosenzweigs Ziel war und sich mit den Grundgedanken der Dialogik auch nicht vereinbaren lässt – die Kritik Kracauers trifft einige zentrale Probleme der Übersetzung: Tatsächlich neigt die Verdeutschung – die als eine Angleichung an das Hebräische im Deutschen selbst nichts anderes ist als der Versuch einer Hebraisierung des Deutschen193 – dazu, eine Art »erfundenes Urdeutsch« 194 zu gebrauchen, weil sie im Bereich des Wortmaterials nicht selten auf lange Verschollenes und Altertümliches zurückgreift. Zudem verweist Kracauer überzeugend auf eine Gefahr der durchgängigen Orientierung am Mündlichen, an der Gesprochenheit: Ist dem aus dem Mund eines Gegenübers unmittelbar Vernommenen, welches kein Kommentar begleitet, nicht eine höhere Eingängigkeit eigen als dem geschriebenen Wort, dem Text mit Fußnoten? Die Grundüberlegung des Verdeutschungsprojektes, welches sich tatsächlich als »wahrhaft utopischer Schöpfungsplan« 195 bezeichnen der-)erwecken; vgl. zur Nähe zwischen der Verdeutschung und Wagners Programm Kracauer 1990, 360 und Reichert 1993, 20, 28 und 31. 190 Kracauer 1990, 362. 191 Siehe Kracauer 1990, 363. 192 Vgl. Scholem 1963, 211. 193 Kracauer: »Die hebräische Sprache soll nicht verdeutscht werden, sondern das Deutsch in jene sich hineindehnen«, um schließlich mit der ganzen »Gewalt des Ebenbildes die ihm Zugewandten zu ergreifen« (Kracauer 1990, 356). 194 Reichert 1993, 25. 195 Reichert 1993, 33.

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lässt, lautet nach Reichert: »[…] wie kann Selbst und Anderes sein, wie lassen sich zwei Stimmen haben – getrennt durch über zweitausend Jahre – in ein und demselben Wort«? 196 Diese Frage, welche nach Bubers Dialogik letztlich im Hintergrund jeder Übersetzung stehen muss, ausdrücklich artikuliert zu haben, ist vielleicht die wesentliche Leistung des von Buber und Rosenzweig unternommenen Verdeutschungsprojektes. 197

2.9 Das Schweigen und die Sehnsucht nach einem vollkommenen Ich-Du Obgleich Buber das Miteinanderreden – das faktische Zueinandersprechen – an zentralen Stellen seines Werkes als ausgezeichnete Realisierung des Ich-Du-Verhältnisses präsentiert, thematisiert er sowohl in Ich und Du als auch in »Zwiesprache« das Schweigen – im Sinne eines lautlosen Dialogs – als Vollendung der tatsächlich gleichrangigen Beziehung. Besteht die Abkehr vom Gerede nach Bubers bisher angeführten Aussagen zum Gespräch in der Weise des tatsächlichen Anredens des Anderen als Person, zieht er mit seiner – auf den ersten Blick überraschenden – Hinwendung zum Schweigen die Konsequenz aus dem unabwendbaren »Schicksal des Beziehungsvorgangs« (DP 41), dass wir ein jedes Du immer wieder zum Es ›degradieren‹ müssen: »Nur das Schweigen zum Du, das Schweigen aller Zungen, das verschwiegene Harren im ungeformten, im ungeschiedenen, im vorzunglichen Wort läßt das Du frei, steht mit ihm in der Verhaltenheit, wo der Geist sich nicht kundgibt, sondern ist.« (DP 42) 198 Zum vollendeten Dialog bedarf es also »keines Lauts, nicht einmal einer Gebärde« (DP 142). 199 Tatsächlich haben die kritischen Überlegungen zur Differenzierung von Anreden und Bereden sowie zu Bubers Konzeption von Gespräch und Gerede gezeigt, dass im Phänomen des Miteinanderredens es- und duhafte Momente, Strukturierung und Überstieg der OrdReichert 1993, 26. Dementsprechend resümiert Reichert trotz aller Probleme, welche das Programm und der Text Bubers und Rosenzweigs aufwerfen: »Nie ist Übersetzen utopischer, nie ist es konsequenter gewesen.« (Reichert 1993, 33) 198 Bubers Paradebeispiel sind zwei schweigende Männer auf einer Bank; vgl. DP 142 f. 199 So meint Buber hier ausdrücklich auch nicht das ›Schweigen der Verliebten‹, denn da seien zumindest noch Gesten beteiligt. 196 197

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nung, stets ineinandergreifen – sei es aufgrund der Unmöglichkeit, ein Moment der Tradiertheit und Übereinkunft in Sprachbesitz und -bestand ganz auszuschließen, oder aufgrund einer Situiertheit auch der Ansprache in einer stets geordneten ›Welt‹. Ein vollkommen reines Ich-Du im Miteinandersprechen zu verwirklichen, scheint demnach höchst problematisch zu sein. So trägt die Hochschätzung des Schweigens augenscheinlich der immer wiederkehrenden Schwierigkeit der buberschen Konzeption Rechnung, eine Objektivierung des Anderen und eine grundlegende Strukturierung der ›Wirklichkeit‹ vollkommen zu vermeiden. 200 Nur ein solch inhaltloser und zeichenloser ›Dialog‹, der keine eindeutig vernehmbare Äußerung, aber auch keinen direkten Appell darstellt, kann offensichtlich die von Buber in Ich und Du proklamierte Unverfügbarkeit und Unverortetheit des Du wirklich garantieren. Wenn Buber also im ›beredten Schweigen‹ ein Ereignis des Dialogischen aufzuzeigen suchte, das in Ermangelung jeglicher Bezugnahme auf Überliefertes und Geordnetes die vollendetste Form des Ich-Du darstellen soll, dann ist aber auch Folgendes klar: Die faktisch gesprochene Sprache wäre auch nach Buber tendenziell stets auf Gerede aus. Spricht Buber von einem »mitteilenden Schweigen« (DP 141), so meint dies also nicht, dass eine konkrete Mitteilung im Sinne einer Information vom einen Partner der Begegnung aus an den anderen ergeht, sondern vielmehr, dass hier dennoch ein tatsächliches Miteinander geschieht. Die Schweigenden stehen nach Buber hier nicht als isolierte Wesen nebeneinander, sondern sie sind im Schweigen aufeinander bezogen in einer Weise, in welcher dies zwei stumme, nebeneinanderliegende Steine niemals sein könnten. Zu Beginn dieses Kapitels wurde darauf hingewiesen, dass Sprache für Bubers dialogisches Denken zwar eine wesentliche Rolle spielt, dass sie auf der anderen Seite aber selten ausdrücklich thematisiert 200 Theunissen deutet Bubers Favorisierung des Schweigens als Reaktion auf die Unmöglichkeit, im Akt des Ansprechens das Intentionalitätsmodell vollkommen zu überwinden: »[…] das Grundwort Ich-Du findet zwar in der Rede eine Heimstätte, jedoch kann es sich nicht in ihr vollenden. Was positiv bedeutet: es muß sich in jener Sprache vollenden, die nicht mehr der Verlautbarung und des artikulierten Wortes bedarf.« (Theunissen 1977, 287) Zudem hebt Theunissen hervor, dass die Begegnung desto reiner geschehe, je mehr ein Sachbezug im Sprechen zurücktrete: »Indem das Du die Sache transzendiert, verläßt es auch die Rede. Es treibt von sich her über die Rede hinaus. Was bedeutet: es treibt ins Schweigen hinein.« (Theunissen 1977, 291)

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wird. In der Bedeutsamkeit, welche dem Schweigen eingeräumt wird, können nun auch deutlich sprachkritische Momente gesehen werden. Zwar präsentiert Buber das Schweigen als die äußerste Grenze des Redens und nicht als ein sprachfremdes Phänomen, doch besteht das Schweigen schließlich gerade im Aussetzen der gesprochenen Sprache, der Artikulation in einem konkreten Zeichensystem. In diesem Zusammenhang sind einige frühere Schriften Bubers aufschlussreich, denn hier findet sich mitunter eine ganz deutliche Sprachskepsis dokumentiert. 201 Besonders offenkundig sind diese Tendenzen in Bubers Auseinandersetzung mit der Mystik in der Einleitung zu den Ekstatischen Konfessionen – einer Sammlung von Berichten und Bekenntnissen von Mystikern unterschiedlicher Religionen und Kulturen aus allen Zeiten, welche Buber 1909 herausgab. 202 Obwohl Buber sich mit seiner Ich-Du-Konzeption deutlich vom ›Vereinigungsdenken‹ der früheren Schriften abgrenzen will und den ›schweigsamen Dialog‹ auch dezidiert nicht mit einem mystischen Erlebnis identifiziert wissen möchte, 203 so lebt doch in der Bestimmung des ›Eshaften‹ an der Sprache deutlich die frühere Skepsis gegenüber einer vornehmlich sprachlichen Zuwendung zur Welt und einer sprachlichen Bearbeitung der eigenen Erlebnisse fort. Entsprechend vermutet Siegfried Kracauer in seiner Rezension zu Ich und Du, dass Buber »vielleicht doch noch Mystiker wider Willen« 204 sei, wenn er alles aus dem 201 Vgl. dazu die Ausführungen Biemanns zum Einfluss Fritz Mauthners und Gustav Landauers auf Buber (MBW VI, 28 ff.). Mit Mauthner war Buber gut bekannt und dessen Kritik der Sprache (1901/02) – mit dem Ziel, den die Welt erkennen wollenden Menschen »von der Tyrannei der Sprache zu erlösen« – hat er nachweislich rezipiert; vgl. zu diesem Ziel Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie, 3., um Zusätze verm. Aufl., Leipzig 1923, 1. Gustav Landauer, ein enger Vertrauter Bubers, meint in Mauthner mehr als einen Sprachphilosophen zu erkennen – er sieht ihn als einen »Religionsstifter in einem unkonventionellen, gottlosen und stimmungsmystischen Sinn« (MBW VI, 29), wovon sein Beitrag Skepsis und Mystik (1903) Zeugnis ablegt. Zentral für Buber war sicherlich auch die bekannte Sprachkritik in Hugo v. Hofmannsthals »Lord Chandos-Brief«. Buber bewunderte v. Hofmannsthal zutiefst und kannte ihn auch persönlich. 202 1921 gibt Buber diese Textsammlung zum letzten Mal selbst heraus. 203 Vgl. DP 142. 204 Siegfried Kracauer, »Martin Buber«, in: ders. 1990, 236–242. hier: 241. Kohn hingegen sieht gerade in der Bedeutung, welche Sprache bei Buber ab Ich und Du erhält, eine »völlige Abkehr von der mystischen Haltung in Bubers Jugend«; vgl. Kohn 1961, 240. Die Stellen zum Schweigen werden von Kohn bei dieser Beurteilung entsprechend nicht berücksichtigt.

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Ich-Du ausscheide, was in einem gewissen Rahmen geordnet und fixiert sei. Betrachtet man nun Bubers Beschreibungen der Möglich- und Unmöglichkeiten von Sprache in der Einleitung zu den Ekstatischen Konfessionen – bei denen er auf Bekundungen zahlreicher Mystiker zurückgreift –, so fällt auf, dass Sprache hier primär als Vehikel des »Getriebes« vorgestellt wird. 205 Als »Speicherung von Zeichen für die Affektionen und Nöte des Menschenleibes« sowie »die empfindbaren Dinge in Nähe und Ferne des Menschenleibes« kann sie laut Buber stets nur die ›Vielheit‹ aussprechen, d. h. Begrenztes und Bedingtes thematisieren. 206 Dementsprechend fliehe der Mensch in der Ekstase – als dem Erlebnis einer fundamentalen Einheit – auch aus der Sprache und tauche ein in das selbst »Unaussprechliche«, in das »stillste, sprachloseste Himmelreich« (EB XVI). Zudem sei Sprache immer »Erkenntnis: Erkenntnis der Nähe oder der Ferne, der Empfindung oder der Idee, und Erkenntnis ist das Werk des Getriebes, in ihren größten Wundern ein gigantisches Koordinatensystem des Geistes.« (EB XVIII) Erkenntnis aber sei der Ekstase fremd, ebenso wie Gemeinschaftlichkeit. Die Sprache jedoch, so Buber, ist »eine Funktion der Gemeinschaft und sie kann nichts als Gemeinsamkeit sagen«, denn selbst »das Persönlichste muss sie irgendwie in das gemeinsame Erlebnis der Menschen überführen, irgendwie aus diesem zurechtmischen, um es auszusprechen« (EB XIX). Obwohl Buber hier durchaus die großen Leistungen der Sprache bei der Stiftung von Kultur und Gemeinschaft sowie ihre herausragende Rolle für die Erkenntnisgewinnung und deren systematischen Ausbau in den Wissenschaften würdigt, 207 so wird das faktische Reden doch – ganz im Sinne zentraler Strömungen verschiedener Religionen – vornehmlich als eine Art ›Abstieg‹ und ›Verunreinigung‹ präsentiert: Sobald der Mensch den Mund aufmache, um zu reden, sei er »schon der Sprache verfallen« (EB XX) und sobald etwas ge- oder beredet sei, sei es 205 Obgleich Buber sich in dieser Einleitung stark an Äußerungen von Mystikern über die Sprache und das Schweigen anlehnt, so ist doch offensichtlich, dass er selbst zu der Sprachkritik nicht in eine deutliche Distanz geht. 206 Vgl. Martin Buber, »Ekstase und Bekenntnis«, in: Ekstatische Konfessionen, gesammelt von Martin Buber, Jena 1909, XI-XXVI, hier: XVII. Im Folgenden zitiert mit der Sigle EB. 207 Vor allem die Dichtung hebt Buber als besonders herausragende Realisierung von Sprache hervor; vgl. EB XVIIf.

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»hingeworfen unter die Tritte des Marktes« (EB XX). Allein im Schweigen ist laut Buber ein »schützendes Symbolon gegen die Götter und Engel des Getriebes« zu finden, eine »Hut wider seine Irrgänge, unsere Reinigung wider seine Unreinheit« (EB XIXf.). 208 Zwar wird weder das Ich-Du als Verschmelzung gedacht – das so zentrale Zwischen kennt die Mystik gerade nicht –, noch wird das IchEs durchgängig als ein ›Abfall‹ diskutiert, doch erinnern zahlreiche Begriffe und Wendungen, die Buber hier in der Einleitung zur Charakterisierung von Getriebe und Ekstase gebraucht, an die Beschreibung von Erfahrung und Begegnung. Auch in der Ich-Du-Beziehung geht es ja um Ganzheit, um Totalität, nämlich um die ganze Person, die laut Buber nicht nur Teile von sich in das echte Gespräch einbringt und die auch nur als ganze Person angesprochen werden darf, soll das Gespräch nicht misslingen. Während es im Ich-Es um Differenzierungen und Grenzziehungen geht, um das Erkennen bestimmter Eigenarten und Merkmale, so ist das Du ja gerade kein ›Bündel‹ von Eigenschaften, die als solche einzeln besprechbar wären. Es tritt also bei Buber eine grundsätzliche Spannung überdeutlich hervor, nämlich die zwischen einer Dialogik, die der Sprache eine herausragende Bedeutung einräumt, und einer Philosophie der Begegnung, welche auf einen Dialog abzielt, der sich von der faktisch gesprochenen Sprache gerade entfernt bzw. diese übersteigt.

2.10 Mittel-loses Sprechen vs. unmittelbares Entdecken Wie sich gezeigt hat, ist die Diskussion von Rede und Sprache in Heideggers Sein und Zeit im Wesentlichen noch orientiert an der Möglichkeit einer grundlegenden Zugänglichkeit alles Seienden sowie des anderen Daseins, auch wenn das Moment der Geworfenheit – mitklingend etwa in der Stimme – die Chance eröffnet, das Betroffensein des Daseins von Welt und anderem Dasein als tatsächlich anderem her

208 Wenn Buber schließlich darauf reflektiert, wie das mystische Erlebnis zum Zweck der Mitteilung in Sprache gefasst werden könnte, ohne vollkommen verkehrt zu werden, erinnert dies durchaus an sein Nachdenken über die Möglichkeiten einer ›Übersetzung‹ der eigenen Erfahrungen in eine allgemeinverständliche Sprache in der »Philosophischen Rechenschaft«.

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ausdrücklich in den Blick zu bringen und den tendenziellen Monologcharakter der Rede aufzusprengen. 209 Deutlicher als Heidegger in den 20er Jahren zeigt jedoch Buber auf, welche Einsichten bezüglich der sprachbezogenen bzw. sprachdurchdrungenen Verfasstheit des Menschen eine konsequente Verabschiedung der Werkzeugauffassung von Sprache sowie der Konzeption eines die Welt souverän besprechenden Subjekts zu eröffnen vermag: 210 Das dialogische Denken hebt ausdrücklich hervor, dass im Sprechen als einem Zueinandersprechen von Personen stets auch ein Entzug liegt. Indem Buber schließlich aufzeigt, inwieweit der Akt der Ansprache zwar ein Hingehen zum Anderen, aber kein Begreifen des Gegenübers darstellt, verweist er auf die Möglichkeit einer echten Begegnung im Miteinandersprechen, bei der jeder an ihr Teilnehmende den Anderen niemals als Gegenstand, sondern nur als Partner ›hat‹. Nicht die Möglichkeit der Sprache, ›Gegenstände‹ bzw. etwas als etwas dazuhaben und diese Offenbarkeit mit Anderen zu teilen, stellt Buber somit in den Mittelpunkt seines Sprachdenkens, sondern gerade das Faktum, dass im Sprechen etwas oder jemand sich einer vollständigen Verfügbarkeit durch den Sprecher verweigert. Entgegen der philosophischen Tradition begreift Buber also das Phänomen einer im Sprechen aufscheinenden Abwesenheit nicht als einen fundamentalen Mangel von Sprache generell oder des jeweils situationsgebundenen faktischen Sprechens im Besonderen, sondern er sieht das Ineinander von An- und Abwesenheit als wesentliches Moment jedes echten Dialogs. Während etwa Husserl – wie gesehen – bei seiner Betrachtung von »Ausdruck« und »Bedeutung« vornehmlich auf die Idealität der Bedeutung abzielt und somit auf die ständige Wiederholbarkeit des Urteilsgehalts, stellt Bubers Philosophie somit einen Aspekt der Sprache in den Mittelpunkt, den Husserls Ansatz schlichtweg marginalisieren muss: die Einzigartigkeit, ja Flüchtigkeit des konkreten Sprechvorgangs. In seiner Fokussierung auf die Gesprochenheit des Wortes neigt 209 In eine größere Nähe rückt folgender Beitrag Bubers und Heideggers Sprachdenken: Heinrich Ott, »Das Gebet als Sprache des Glaubens«, in: ders., Wirklichkeit und Glaube. Band II: Der persönliche Gott, Göttingen 1969, 94–121. 210 Vgl. dazu Theunissens kurzen Vergleich von ›Faktizität‹ in Sein und Zeit und Ich und Du: Indem Buber eine Identität von Aktion und Passion postuliere, werde er dem Phänomen einer ›Geworfenheit‹ besser gerecht als Heidegger selbst; vgl. Theunissen 1977, 322 f.

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Buber allerdings dazu, den jeweiligen Sprechakt aufzuspalten in Momente der Gegenwärtigkeit und Aspekte einer begegnungsverhindernden Vergangenheit. Wenn Landauer über Mauthners Sprachkritik sagt, sie zeige, »daß die Sprache nur Gedächtnis ist, daß sie niemals etwas Neues sagen kann« 211 , dann trifft er damit auch einen Gedanken Bubers, der alles Überlieferte an der Sprache einem Akt reiner, stets verlöschender ›Präsenz‹ zu opfern scheint, welcher alles Tradierte und Beständige in reiner Gegenwart aufhebt. Seine grundlegende Sensibilität für den Umstand, dass Verstehen auch als eine sublime Form der Annexion begriffen werden kann, führt also nicht selten zu einer Vernachlässigung des unhintergehbaren Gemeinsamen in jedem Miteinandersprechen – Wortschatz, Regelwerk, Thema, Gesprächshorizont –, ohne das jedes Gespräch eher einem Aneinandervorbeireden und bloßem Nebeneinandersein gliche als einer tatsächlichen Begegnung. Zwar ließe sich mit Buber auch eine Weise des Be-sprechens denken, welches eher als ein Dialogisieren denn als ein Festnageln des Gegenstandes auf ein bestimmtes Sein oder eine Reduzierung des Anderen auf bloß eine Perspektive verstanden werden könnte – und ein Sprechen, welches um die Mehrdeutigkeit der gebrauchten Wörter und ihre innere Vielstimmigkeit weiß, kommt der Vorstellung einer ›Widerständigkeit‹ auch der besprochenen ›Dinge‹ schon recht nahe. 212 Doch zeigt die ›Sehnsucht‹ nach einer Vollendung des Dialogs im Schweigen wiederum, dass die Unverfügbarkeit eines Du offenkundig nur im Aussetzen jeglichen stets auch auf Bestimmbarkeit, Verständnis und Mitteilung ausseienden Sprechens vollkommen garantiert werden kann – oder anders: an der äußersten Grenze des Sprechens, wo zwar nicht die Teilnahme am Leben des Anderen, aber jedes Sichrichten auf den Anderen aufhören soll. So eröffnet Bubers strenge Differenzierung zwischen Ich-Du und Ich-Es einerseits die Möglichkeit, den Blick auf das lebendige, nicht-wiederholbare Ereignis des Sagens zu lenken; andererseits bringt der Anspruch, ein gleichsam mittel-loses Sprechen aufzuzeigen – ein sich jeglichem Zugriff enthaltendes und in gewissem Sinne bescheidenes Sprechen – das Problem mit sich, alles, was an der Gustav Landauer, Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, 2. Aufl., Köln 1923, 41. 212 Vorausgesetzt, sie geht noch von einer tatsächlichen Bezugnahme auf ›Außersprachliches‹ aus, was Buber durchaus tut. 211

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Sprache als Mittel, d. h. auch als vermittelnd, aufgefasst werden könnte, ausschalten zu müssen. Bubers offenkundige Bevorzugung der Mündlichkeit lässt sich jedoch nicht ungeprüft gleichsetzen mit anderen Lobpreisungen des gesprochenen Wortes, welche dieses dem Schriftlichen als einer »entfremdeten Rede« 213 vorziehen. Sicherlich sieht Buber im gesprochenen Wort auch die bindende Kraft stärker ausgebildet als in der schriftlichen Mitteilung. Vor allem aber ist für ihn das Moment der Anrede hier – im schriftlich Niedergelegten – deutlich schwächer ausgeprägt bzw. seine Lebendigkeit ist nach Buber hier verblasst. Nicht die Annahme, dass das gesprochene Wort sich gleichsam selbst auslegt, während der Text einen mühsameren Verstehensprozess erfordert, 214 führt zu Bubers Hochschätzung der Gesprochenheit – auch nicht die Auffassung, im Mündlichen sei ein unmittelbareres Bei-sich- und Bei-der-Sache-Sein realisiert, 215 sondern vor allem das Hinauslangen des faktisch gesprochenen Wortes zu einem wirklichen Redepartner, der wesentlich Anderer ist und Anderer bleibt, begründet die herausragende Stellung der echten Gesprochenheit von Sprache in Bubers Dialogik. Besonders deutlich wird der Versuch, Brüche und Risse im Sprechen aufzuzeigen, bei der Übersetzung der hebräischen Bibel. Der Anspruch, durch Eigenes und Vertrautes – hier: die deutsche Sprache – Fremdes als tatsächlich Fremdes aufscheinen zu lassen, gibt einer Auffassung von Über-setzung Ausdruck, welche das Hin-und-her-Gehen zwischen zwei Sprachen nicht als ungefährliches Überschiffen von einem Ufer zum anderen betrachtet, 216 sondern als Aufbruch in ein 213 Gadamer 1972, 371. Siehe auch Gadamers Bemerkungen zur Schriftlichkeit als »Selbstentfremdung« (Gadamer 1972, 368). 214 Vgl. Gadamer 1972, 371. 215 Diesen von zahlreichen Philosophen behaupteten Vorzug der Mündlichkeit – der Stimme – gegenüber der Schrift als einer Art ›Abfall‹ stellt Derrida bekanntlich in den Mittelpunkt seiner Analyse des abendländischen Logozentrismus als Phonozentrismus. Hingegen betont Dieter Mersch, dass Derridas Kritik der metaphysisch verstandenen Stimme das gesprochene Wort verkenne und die Bedeutung der Stimme für den Bezug zum Anderen verfehle. So sehr Derrida mit seiner Kritik am Phonozentrismus etwas Wesentliches treffe – seine Dekonstruktion sehe einen gewichtigen Aspekt der Stimme nicht (den Buber sehr wohl sieht): Anders als der Schrift wohne der Stimme »in der Verbindung von ego und alter eine eigene Dimension« inne. Diese lasse sich »als ihre genuine ›Ethizität‹ auffassen« (Mersch 2006, 225). 216 Siehe zum Hintergrund des hier benutzten Bildes des Übersetzers als eines Bootsmannes Martin Stern, »Christopherus oder Vom Über-setzen zum Übersetzen. Gedan-

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Die Bestimmung und Rolle von Sprache

neues Land, aus dem man nicht als der zurückkommt, als der man auszog. 217 Die im Zuge der ›Verdeutschung‹ angestellten hermeneutischen Überlegungen Bubers und Rosenzweigs postulieren keine Glättung sämtlicher Widerständigkeiten, aber auch kein stummes Verharren vor vollkommen Unzugänglichem, sondern sie heben prägnant hervor, dass die Bibel selbst in jüdischer Tradition eine »Unterbrechung des Sehens, Abwesenheit und Anwesenheit zugleich« darstellt, Ausdruck von »Offenbarung und Verhüllung« ist. 218 Somit vermag die Verdeutschung als ein Verzicht auf Aneignung des Andersartigen den Grundgedanken des buberschen Sprachdenkens besonders eindringlich auszudrücken: Jedes Sprechen ist in gewissem Sinne auch ein Erleiden; selbst in ihren schöpferischsten Momenten – etwa im Dichten – ist Sprache Gespräch, also bezogen auf oder geprägt durch ein Du. 219 Die konsequenteste und radikalste Ablösung von der traditionellen Bestimmung eines Sprache – vornehmlich zur Erkenntnis – benutzenden Subjekts liegt aber sicherlich in dem Gedanken einer Konstitution des (sprechenden) Ich im Zwischen. Hier wird die Vorstellung einer Abfolge von Anrede und Antwort, die immer noch die Frage nach einem aktiven Anfangen eines der Partner sowie nach einem Sichrichten des einen auf den anderen aufwirft, abgelöst durch die Hinblicknahme auf ein umfassenderes Sprachgeschehen, das als solches den jeweils Sprechenden gleichsam ›vorausliegt‹. Freilich lädt auch dieses Modell zu kritischen Nachfragen ein: Wer setzt dieses Sprachgeschehen in Gang? Gibt es dann überhaupt noch ein ›Wer‹ außerhalb des jeweiligen Gesprächs oder der vielen Kommunikationssituationen? Es wird sich im nächsten Abschnitt deutlich zeigen, dass Buber – und dies ken zu einer Legende der Fremderfahrung«, in: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens, hrsg. von Ulrich Stadler, Stuttgart/Weimar 1996, 21–31. 217 Zur ethischen Dimension des Übersetzens, die in einer Treue dem Fremden gegenüber gesehen werden kann, welche allerdings im Prozess des Übersetzens immer wieder aufs Spiel gesetzt wird, siehe Alfred Hirsch, »Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens«, in: Übersetzung und Dekonstruktion, hrsg. von Alfred Hirsch, Frankfurt a. M. 1997, 396–428. 218 Vgl. Eveline Goodman-Thau, »Sehen, Sein und Sagen. Zur Lesbarkeit religiöser Erfahrung«, in: dies., Aufstand der Wasser. Jüdische Hermeneutik zwischen Tradition und Moderne, Berlin/Wien 2002, 73–117, hier: 74. Zu einer an ein hebräisches Denken angelehnten Hermeneutik, die eine nicht-relative Fremdheit gelten lässt, siehe auch Thomas Böning, Alterität und Identität in literarischen Texten von Rousseau und Goethe bis Celan und Handke, Freiburg i. Br. 2001, 17 f. 219 Zum Dichten als Gespräch siehe MBW VI, 126 ff.

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Buber: Sprache als beziehungsstiftende Kraft

lässt allein sein Festhalten an der traditionellen Rede von ›Ich‹ und ›Selbstbewusstsein‹ ahnen – keine radikale ›Auflösung‹ des sprechenden und handelnden Subjekts anstrebt.

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Abschnitt IV: Die Phänomene Wahrheit und Wahrhaftigkeit

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Heideggers Wahrheitsbegriff in Sein und Zeit

1.1 Die Erschlossenheit des Daseins als ursprünglichste Wahrheit Die Ausführungen zu Heideggers Sprachauffassung in Sein und Zeit sowie den einschlägigen Vorlesungen der 20er Jahre haben gezeigt, dass Heidegger unterschiedliche Konkretisierungen von Rede thematisiert, welche nicht in gleichem Maße ein ursprüngliches Verstehen – ein unmittelbares Sein bei den besprochenen ›Sachen‹ – artikulieren. So geht es dem neugierigen Gerede, als einer der herausragenden Realisierungen des Man, laut Heidegger gerade nicht darum, »wissend in der Wahrheit zu sein« (SZ 172). Die behauptete ›Bodenlosigkeit‹ des Geredes – seine Tendenz, den Zugang zum Seienden gerade zu verschließen – wirft somit ausdrücklich die Frage nach dem Wahrheitsbezug von Rede bzw. Sprache generell sowie möglichen spezifischen Ausformungen von Rede konkret auf. 1 Während Heidegger in Sein und Zeit dem ›Wesen‹ von Wahrheit eigens nachgeht (§ 44), fehlt auf Seiten Bubers jedoch eine auch nur annähernd so eingehende Beschäftigung mit der Wahrheitsproblematik. 2 Eine ›dialogische‹ Wahrheitskonzeption hat er nicht ausgearbeitet, Die Notwendigkeit einer Behandlung der Wahrheitsthematik ist allerdings schon von der Grundfrage in Sein und Zeit aus motiviert: »Die Philosophie hat von altersher Wahrheit mit Sein zusammengestellt.« (SZ 212) Die Sichtung des Wahrheitsphänomens in Sein und Zeit soll sich, so Heidegger, jedoch vorerst vor dem Hintergrund der Interpretation von Erschlossenheit, Entdecktheit, Auslegung und Aussage vollziehen; siehe SZ 183 und 212. 2 Somit ist es im Rahmen des in dieser Arbeit vorgenommenen Vergleichs nicht ergiebig, Heideggers Thematisierung des Wahrheitsphänomens und die aus ihr resultierenden Probleme in aller Ausführlichkeit zu diskutieren. Zu einer differenzierteren Auseinandersetzung siehe folgende Beiträge: Daniel O. Dahlstrom, Das logische Vorurteil. Untersuchungen zur Wahrheitstheorie des frühen Heidegger, Wien 1994; Carl Friedrich 1

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Heideggers Wahrheitsbegriff in Sein und Zeit

ebenso wenig hat er sich in systematischer Weise mit überlieferten oder zeitgenössischen Wahrheitsauffassungen beschäftigt. Allerdings setzt sich Buber – wie Heidegger – ausdrücklich vom traditionellen Verständnis der Wahrheit als einer Übereinstimmung (zwischen Vorstellungen oder Äußerungen eines Subjekts und dem zu erkennenden Objektzusammenhang oder Sachverhalt) ab und versucht, eine andere Dimension von ›Wahrheit‹ aufzuzeigen. 3 Während Heideggers Präsentation des Geredes die Möglichkeit einer Verdecktheit der Sachen zur Diskussion stellt, thematisiert Bubers Interpretation des missglückten Gesprächs ein nicht-aufrichtiges Miteinanderreden, also eine Verhinderung von echter Begegnung. In den Mittelpunkt der buberschen Überlegungen zur Wahrheit rückt also ein Konzept von Wahrhaftigkeit. Für den Vergleich ergibt sich somit folgender Fragehorizont: Im Hintergrund der Heidegger-Interpretation wird die Frage stehen, welche Akzente die Abwendung von der traditionellen Wahrheitskonzeption hier setzt und inwiefern beim Rückgang auf die Erschlossenheit des Daseins der Dimension des Mitseins Rechnung getragen wird. Bubers Ansatz soll hingegen u. a. daraufhin geprüft werden, inwieweit er die Möglichkeit bietet, auch den Sachbezug des Redens in die Thematisierung einer ›anderen‹ Wahrheit einzubinden. Dass Sein und Zeit – in der Distanzierung vom Primat des theoretischen Erkennens – traditionelle Wahrheitskonzeptionen kritisch hinterfragt, deutet sich schon im Methodenparagraphen (§ 7) an. Im Zuge der hier vorgenommenen Ausführungen zum lgo@ bemerkt Heidegger, dass von einem »konstruierten Wahrheitsbegriff im Sinne einer ›Übereinstimmung‹« (SZ 33) Abstand zu nehmen sei. Auch bei der Interpretation der Aussage verweist Heidegger bereits auf das Wahrheitsphänomen, indem er eine enge Verkoppelung zwischen Urteil und Wahrheit konstatiert: Das Urteil habe »von alters her als der primäre und eigentliche ›Ort‹ der Wahrheit« (SZ 154) gegolten. Die Gethmann, »Die Wahrheitskonzeption in den Marburger Vorlesungen«, in: ders. 1993, 137–168; Erich Schönleben, Wahrheit und Existenz. Zu Heideggers phänomenologischer Grundlegung des überlieferten Wahrheitsbegriffes als Übereinstimmung, Würzburg 1987 sowie Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 2., unveränd. Aufl., Berlin 1970. 3 Dabei bezieht er sich in »Zur Situation der Philosophie« (1948) durchaus positiv auf Heideggers Neuformulierung der Wahrheitsfrage – im Blick hat er allerdings Heideggers Denken nach Sein und Zeit; vgl. Martin Buber, »Zur Situation der Philosophie«, in: NL, 136–138, hier: 136.

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Die Phänomene Wahrheit und Wahrhaftigkeit

Urteilswahrheit, so heißt es jedoch bereits in § 7, sei nicht ein ursprüngliches, sondern ein »mehrfach fundiertes Phänomen von Wahrheit« (SZ 34). Heideggers Abkehr von der Orientierung an der Aussage bei der Thematisierung von Rede und Sprache geht also einher mit dem Aufweis eines fundamentaleren Wahrseins, welches das konkrete Wahr- oder Falschsein eines spezifischen Urteils überhaupt erst ermöglichen soll. Dementsprechend sucht Heidegger seinen eigenen Wahrheitsbegriff in Sein und Zeit durch eine Destruktion – oder besser: eine kritische Hinterfragung 4 – der herkömmlichen Bestimmung von Wahrheit zu entwickeln. Die oben implizit schon genannten Kernthesen der überlieferten Wahrheitsauffassung – Wahrheit als eine ›Entsprechung‹ (adaequatio intellectus et rei), ihr spezifischer ›Sitz‹ : das Urteil – sollen einer tiefergehenden Prüfung unterzogen werden. So präsentiert § 44a) von Sein und Zeit nun in sehr gedrängter Form verschiedene Ansätze, Wahrheit vor dem Hintergrund der Korrespondenzauffassung präziser zu fassen, indem etwa nach der Besonderheit dieser spezifischen Beziehung zwischen res und intellectus in Abgrenzung zu anderen Verhältnisformen gefragt wird oder die Analyse sich auf die Sphäre des Bewusstseins, des Subjekts beschränkt. Um sich dem Wesen von Wahrheit aber tatsächlich zu nähern, bedarf es nach Heidegger eines vorurteilsfreien Blickes auf die spezifische ›Leistung‹ der Aussage, welche traditionell als Ort der Wahrheit ausgegeben wird. Die Aussage, so Heidegger, ist ausschließlich dann wahr, wenn sie das Seiende an ihm selbst entdeckt, d. h. es sehen lässt, so wie es an ihm selbst ist: »Wahrsein (Wahrheit) der Aussage muß verstanden werden als entdeckendsein. Wahrheit hat also gar nicht die Struktur einer Übereinstimmung zwischen Erkennen und Gegenstand im Sinne einer Angleichung eines Seienden (Subjekt) an ein anderes (Objekt).« (SZ 218 f.) Sehr viel ausführlicher als in Sein und Zeit widmete sich Heidegger der Frage nach der Wahrheit jedoch schon in der Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit im WS 1925/26. 5 Was § 44a) von Sein und Zeit gleichsam im ›Schnelldurchgang‹ leisten möchte – eine DarHeidegger positioniert sich ausdrücklich nicht als Wahrheitsskeptiker im traditionellen Sinne. Die Denker, welche eine schlechthin geltende Wahrheit leugnen, sind nach Heidegger in der Regel ebenfalls der Vorstellung des Sitzes von Wahrheit im Urteil ›verfallen‹ ; vgl. etwa GA 21, 21 f. 5 Ebenfalls zentral für die Wahrheitsproblematik um 1927 ist die Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (SS 1928). 4

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Heideggers Wahrheitsbegriff in Sein und Zeit

stellung verschiedener Variationen des traditionellen Wahrheitsverständnisses und die Herausstellung des Wesens der wahren Aussage als eines Entdeckens – präsentiert Heidegger in der Logik-Vorlesung sehr viel detaillierter. Überzeugender sind die Ausführungen in dieser Vorlesung auch deshalb, weil die Verkoppelung der Behandlung der Wahrheitsfrage mit der Interpretation von Verstehen, Auslegung und Aussage viel deutlicher zu Tage tritt als in den Ausführungen in Sein und Zeit. So geht Heidegger im WS 1925/26 ausführlich auf aktuelle Wahrheitsauffassungen ein, die sich mitunter auch deutlich von der Übereinstimmungsthese abgrenzen. Husserls Psychologismuskritik und seine Bestimmung von Wahrheit als Evidenz, Lotzes Begriff von Wahrheit als Geltung und die neukantianische Auffassung von Wahrheit als Wert werden diskutiert. 6 Während er in Rickerts und Windelbands Wertphilosophie allerdings die vorerst letzte Station »des Verfalls der Frage nach der Wahrheit« (GA 21, 82) sieht, greift Heidegger Husserls Begriff der Anschauung positiv auf und schließt sein eigenes Fragen nach dem Wesen der Wahrheit hier an: Die Anschauung, wie die Phänomenologie sie begreife, gehe auf das Seiende selbst, auf das Seiende in seiner Leibhaftigkeit – sie ist, so Heidegger, ein »unmittelbares Haben des leibhaftig Vorhandenen« (GA 21, 105). Das bedeute aber auch: Jede Rede über eine Sache bedarf letztlich immer der Ausweisung, denn das, worüber geredet wird, ist schließlich gerade »nicht notwendig und ständig unmittelbar anwesend« (GA 21, 105). Daraus folge: »Die Rechtmäßigkeit einer Kenntnis oder einer Rede ist ihre Ausweisbarkeit bzw. Ausgewiesenheit. […] Als die, die sich jederzeit ihr Recht geben lassen kann aus der Anschauung der von ihr gemeinten Sache, ist sie wahr.« (GA 21, 108 f.) Höchst bedeutsam im Hinblick auf eine Ablösung des Wahrheitsbegriffs von der verhärteten traditionellen Auffassung ist für HeiDie Auseinandersetzung mit Husserls Psychologismuskritik formuliert Heidegger als eine Anti-Kritik, denn bei seiner Rettung absolut gültiger Wahrheit greife Husserl unkritisch auf den traditionellen ontologischen Unterschied zwischen Idealem und Realem zurück. Zudem bestimme er in den Logischen Untersuchungen das Verhältnis zwischen idealem Urteilsgehalt und konkret geäußertem Urteil (Urteilsakt) als das zwischen Gattung und Art. Im Hintergrund dieser beiden markanten ›Fehler‹ Husserls sieht Heidegger den von Lotze etablierten Begriff der ›Geltung‹ stehen, welcher – die platonische Ideenlehre rezipierend – Wahrheit als das Bleibende, Immerwährende bestimme; vgl. GA 21, 62 ff. sowie Dahlstroms aufschlussreiche Ausführungen zu Heideggers Auseinandersetzung mit Husserl und Lotze (Dahlstrom 1994, 43 ff., 94 und 107). 6

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Die Phänomene Wahrheit und Wahrhaftigkeit

degger an Husserls Ansatz demnach Folgendes: Wahrheit ist hier nicht primär in Bezug auf das Urteil bestimmt, sondern in Bezug auf das Erkennen als Anschauung.7 Mit Husserl lässt sich, so Heidegger, zeigen, dass die Urteilswahrheit ein »abgeleitetes Phänomen« ist, »das fundiert ist in der Anschauungswahrheit« (GA 21, 112). 8 Um diese Nicht-Ursprünglichkeit der Satzwahrheit, d. h. den Zusammenhang zwischen Anschauung und Urteil, präziser zu fassen, geht Heidegger nun in der Logik-Vorlesung auf Aristoteles – als den vermeintlichen Urheber der beiden Kernthesen der traditionellen Wahrheitsauffassung – und seine Interpretation des lgo@ in Peri hermêneias zurück. 9 Zu einer bestimmten Art des Redens – der Aussage – gehöre nach Aristoteles wesentlich die Möglichkeit des Wahroder Falschseinkönnens. Im Gegensatz zur Bitte etwa sei für Aristoteles die Aussage ein aufweisendes Sehenlassen – nur deshalb könne allein sie falsch oder wahr sein. Das ›⁄lhjeÐein‹ – wahr sein – übersetzt Heidegger entsprechend als ›ent-decken‹, das ›yeÐdesjai‹ als ›ver-decken‹. In Sein und Zeit wird das, »was die ältere Tradition der antiken Philosophie ursprünglich ahnte und vorphänomenologisch auch verstand« (SZ 219), prägnant zusammengefasst: »Das Wahrsein des lgo@ als ⁄pyansi@ ist das ⁄lhjeÐein in der Weise des ⁄pyafflnesjai: Seiendes – aus der Verborgenheit herausnehmend – in seiner Unverborgenheit (Entdecktheit) sehen lassen.« (SZ 219) Vgl. auch SZ 217 f. sowie GA 20, 73. Außerdem ermöglicht nach Heidegger der Begriff der Intentionalität, die Konzeption von Wahrheit als eines nachträglichen ›Zueinanderkommens‹ von Subjekt und Objekt als Konstruktion zu entlarven; vgl. GA 21, 95 f. 8 Zentral ist jedoch Folgendes: ›Anschauung‹ ist nach Heidegger schließlich nicht der ursprünglichste Zugang zu Seiendem. Obgleich es ein »Verdienst der bisherigen Phänomenologie [sei], die prinzipielle Bedeutung der Anschauung, des originären Rückgangs auf die Phänomene selbst, betont zu haben« (GA 58, 237), warnt Heidegger ausdrücklich vor der »Gefahr, die phänomenologische ›Anschauung‹ mit der Objektanschauung gleichzusetzen« (GA 58, 237). 9 Heidegger bemerkt aber sogleich, dass Aristoteles weder behauptet habe, der eigentliche Ort der Wahrheit sei der Satz und Wahrheit sei die Übereinstimmung des Denkens mit dem Seienden, noch habe er faktisch oder indirekt das gelehrt, was diese Behauptungen vorgeben. Sondern: »Der Urheber dieser Thesen […] ist er nur insofern, als diese durch eine auf unzureichende Interpretation gründende Berufung auf Aristoteles in Umlauf gekommen sind, die heute ungeschmälert die Auffassung der Probleme bestimmt.« (GA 21, 128) Die Beschreibung des Ent-deckens und Ver-deckens im Urteil erlaubt es nach Heidegger also nicht, hier so etwas wie eine ›Abbildtheorie‹ zu sehen, auch wenn Aristoteles die Erschlossenheit des Daseins als Ermöglichung des wahren sowie falschen Satzes nicht selbst erkannt habe; vgl. GA 21, 164. 7

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Heideggers Wahrheitsbegriff in Sein und Zeit

Nicht der Satz also ermöglicht nach Heideggers Aristoteles-Interpretation Wahrheit (und Falschheit), sondern: Der »Satz ist erst in der Wahrheit möglich« (GA 21, 135), weil er als konkrete Sprachform in einem fundamentaleren Entdecken- und Verhüllenkönnen fundiert ist. In der Vorlesung vom WS 1925/26 sucht Heidegger dem Wahr- und Falschseinkönnen der Aussage näher nachzugehen, indem er auf Aristoteles’ Analyse des Satzes als eines Zusammensetzens (sÐnjesi@) und Auseinandernehmens (diafflresi@) eingeht. Hier – so Heidegger – darf das Fragen aber nicht abgebrochen werden, sondern es ist ein Phänomen zu suchen, das »an ihm selbst Verbinden und Trennen ist und vor sprachlichen Ausdrucksbeziehungen und deren Zusprechen und Absprechen liegt, und andererseits das ist, was möglich macht, daß der lgo@ wahr oder falsch, entdeckend oder verdeckend sein kann« (GA 21, 141). 10

Dieses ursprünglichere, jedes Urteil überhaupt erst ermöglichende Phänomen findet Heidegger nun im primären Verstehen und seiner Struktur des hermeneutischen Als: Bevor ich ein Urteil über konkretes Seiendes fälle, muss dieses irgendwie schon zugänglich sein. Es be-deutet stets schon etwas, bevor es mit sprachlichen Bedeutungen versehen wird oder bevor über es in einer konkreten Sprache geredet wird – diese Deutung der Fundierungsstruktur zwischen Auslegung und Aussage ist aus dem vorherigen Abschnitt zur Sprachauffassung Heideggers und Bubers bekannt. 11 Das Wahrseinkönnen des Urteils ist nach Heidegger also begründet in einem grundlegenderen Enthüllen von Seiendem, welches – und hier drückt sich Heideggers deutliche Akzentverschiebung gegenüber Husserl aus – im alltäglichen Umgang mit diesem Seienden liegt, der es als das in Gebrauch nimmt, was es ist. 12 So fragt Heidegger im Anschluss an die Darstellung der Vorzüge des 10 Diesem Phänomen, so Heidegger, seien die Griechen letztlich ausgewichen – von der Orientierung an der Sprache seien sie nicht losgekommen; vgl. GA 21, 141 f. Heideggers Erklärungsversuch: Die Griechen hätten eben noch »viel stärker in der öffentlichen Sprache und Rede« (GA 27, 57) gelebt als wir heute. 11 Dahlstrom verweist auf die wichtige Differenzierung zwischen dem hermeneutischen Als im existenzialen und im existenziellen Sinne. Das existenziale hermeneutische Als liefere den Rahmen, jedes konkrete Werkzeug überhaupt – falsch oder richtig – einzusetzen, weil es auf das Begegnende als Zuhandenes generell geht; vgl. Dahlstrom 1994, 141. 12 Es zeigt sich hier ganz klar die schon angedeutete Tendenz Heideggers, die husserlsche Anschauung als theoretischen oder am Theoretischen orientierten Bezug zu sehen.

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Die Phänomene Wahrheit und Wahrhaftigkeit

husserlschen Anschauungsbegriffs in der Vorlesung vom WS 1925/26: Wie oder wann ist mir ein Seiendes – hier: eine Tafel – denn tatsächlich in seiner »eigensten Wirklichkeit« (GA 21, 104) das, was es ist? Seine Antwort: Wenn sie – die Tafel – gebraucht wird, d. h. nicht, wenn sie theoretisch erfasst ist. 13 In einer tieferen Deutung von Wahrheit als Übereinstimmung zeigt sich demnach: »Wenn Wahrheit […] Angleichung an Seiendes bedeutet, dann ist offenbar dies aussagende Sichanmessen darin fundiert, daß wir im Umgang mit dem Seienden gleichsam mit diesem schon übereingekommen sind« (GA 26, 158). 14 Somit ist aber deutlich, dass das Wahrsein – in einem fundamentaleren Sinne – eine Seinsweise des Da-seins selbst darstellt: »Das Entdecken ist eine Seinsweise des In-der-Welt-seins. Das umsichtige oder auch das verweilend hinsehende Besorgen entdecken innerweltliches Seiendes. Dieses wird das Entdeckte. Es ist ›wahr‹ in einem zweiten Sinne. Primär ›wahr‹, das heißt entdeckend ist das Dasein.« (SZ 220) Allerdings ist die Suche nach dem ursprünglichsten Phänomen von Wahrheit nach Heidegger jetzt noch nicht beendet, denn dieses Entdeckendsein selbst müsse auf seine Ermöglichung hin betrachtet werden: Die Entdecktheit des innerweltlich Zugänglichen – dies zeigte die Analyse des In-Seins – gründet schließlich in der Erschlossenheit Vgl. auch GA 21, 146 f. Diese Rückbindung des ursprünglicheren Entdeckens an das hermeneutische Als eröffnet die Möglichkeit, den in der Korrespondenztheorie eingeschlossenen Gedanken einer ›Angemessenheit‹ nicht vollends aufzugeben – und damit jegliches Kriterium für die Entscheidung über Wahr- und Falschheit zu verlieren: Die Adäquatheit des Urteils wird fundiert in einer ursprünglicheren ›Angemessenheit‹, die im ›richtigen‹ Umgang mit den Dingen liegt; vgl. dazu Gethmanns Ausführungen zu »Heideggers Pragmatismus in der Frage der Wahrheitskriterien« (Gethmann 1993, 151 ff.). Gethmann deutet Heideggers Wahrheitsmodell als ein operationales, in welchem sich die Wahrheit zur Aussage verhalte »wie der Schlüssel zum Schloß« (Gethmann 1993, 157). Wahrheit – deren Kriterium hier die Dienlichkeit sei – werde so zu einer »Erfolgskategorie«. Siehe ebenso die radikal pragmatische Deutung der heideggerschen Wahrheitskonzeption von Sein und Zeit durch Okrent (Okrent 1988, 100 und 124 f.). Allerdings lässt sich kritisch fragen, ob der praktische Umgang mit Seiendem nach Heidegger tatsächlich den einzigen tatsächlich ursprünglichen Zugang zu Seiendem darstellt; vgl. als Kritik an einer Reduzierung des primären Verstehens allein auf den praktischen Umgang mit Zuhandenem Dahlstrom 1994, 296 ff. 14 In gewissem Sinne nimmt Heidegger also die Theorie der adaequatio sehr ernst, wie auch folgende Bemerkung deutlich macht: »[…] was man im Urteil als Wahrheit faßt, ist zwar eine echte Bestimmung, aber die innere Möglichkeit der Wahrheit liegt in einem Ursprünglicheren« (GA 27, 50). 13

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des Daseins; als erschlossenes ist Dasein nach Heidegger also, in einem ontologischen Sinn, »in der Wahrheit« (SZ 221). Das bedeutet aber auch, dass nur solange Da-sein ist, überhaupt ›wahre‹ Sätze und wissenschaftliche, Wahrheit beanspruchende Theorien aufgestellt werden können: »Alle Wahrheit ist gemäß deren wesenhaften daseinsmäßigen Seinsart relativ auf das Sein des Daseins.« (SZ 227) 15 Die Erklärung ›ewiger Wahrheiten‹ ist demnach laut Heidegger eine »phantastische Behauptung« (SZ 227), oder – noch schärfer: »Von wahren Sätzen und Geltungen an sich zu reden, ist sinnlos und oberflächlich.« (GA 27, 153) Dies soll aber nach Heidegger ausdrücklich nicht heißen, Wahrheit sei ›bloß subjektiv‹ im Sinne einer Beliebigkeit. Heidegger macht deutlich, dass das Entdecken das Dasein durchaus »vor das Seiende selbst« (SZ 227) bringe. Dabei hebt er in der Vorlesung Einleitung in die Philosophie (WS 1928/29) sehr viel stärker als in Sein und Zeit hervor, dass das Begegnenlassen von Seiendem eine »eigentümliche Receptivität« in sich trage: »Dieses Begegnen-lassen ist in gewisser Weise Spontaneität, aber eine solche, die intentional doch den Charakter des Hinnehmens, der Receptivität hat.« (GA 27, 74) 16 Außerdem macht Heidegger in Sein und Zeit – in Abwendung von jeglichem Skeptizismus – die Unmöglichkeit des Daseins deutlich, darüber zu entscheiden, in der Wahrheit zu stehen bzw. stehen zu wollen oder nicht: »Die Wahrheitsvoraussetzung müssen wir ›machen‹, weil sie mit dem Sein des ›wir‹ schon ›gemacht‹ ist.« (SZ 228) 17 Die Interpretation des Man hat aber auch gezeigt, dass dem Dasein der Bezug zu den Sachen verstellt sein kann: »Das Dasein ist, weil wesenhaft verfallend, seiner Seinsverfassung nach in der ›Unwahr15 Heideggers Behauptung, die Gesetze Newtons sowie der Satz vom Widerspruch seien »nur solange wahr, als Dasein ist« (SZ 226), bedeutet nach Tugendhat, dass Wahrheit nun allein als faktisches Entdecken begriffen sei, dem kein unangemessenes Aufzeigen gegenübersteht, sondern lediglich die Verborgenheit, Unentdecktheit von Seiendem; vgl. zu dieser Kritik Tugendhat 1970, 329, 332 f. und 344. Als kritische Entgegnungen siehe Gethmann 1993, 151, 158 und 161 sowie Dahlstrom 1994, 271 ff. und Schönleben 1987, 234 ff. 16 Dementsprechend akzentuiert Heidegger hier die Passivität, welche im ursprünglichen Seinlassen der Dinge liegt, viel deutlicher als in Sein und Zeit, wo das Weltentwerfen und -verstehen doch wesentlich aktivisch vorgestellt wird; siehe GA 27, 102. 17 Hier ist eine im Wahrheitsbezug liegende ›Entmachtung‹ des Daseins angedeutet, die in den Texten zum Wahrheitsphänomen bald nach Sein und Zeit – wie »Vom Wesen der Wahrheit« (1930) und »Platons Lehre von der Wahrheit« (1931/32, 1940) – sehr viel stärker betont wird.

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heit‹.« (SZ 222) Allerdings ist laut Heidegger das Seiende hier »nicht völlig verborgen, sondern gerade entdeckt, aber zugleich verstellt; es zeigt sich – aber im Modus des Scheins« (SZ 222). Das bedeutet: Nur weil Dasein grundlegend erschlossenes ist, kann Seiendes bzw. die Existenz als solche – nach Sein und Zeit – auch immer wieder verschlossen sein. Das Seiende ist im Man nicht gänzlich dem Licht entzogen, sondern steht im Schatten der ursprünglichen Helle (»lumen naturale«), die das Dasein qua Da-sein stets mit sich trägt. Die Wahrheit muss dem Seienden demnach immer wieder entrissen werden: ⁄lffijeia ist für Heidegger wesentlich ⁄-lffijeia.

1.2 Wahrheit und Sprache – Die Öffentlichkeit als Hort der Unwahrheit? Problematisch an Heideggers Interpretation des Geredes in Bezug auf die Wahrheitsfrage ist nun Folgendes: Als Kriterium für die Wahroder Falschheit einer Aussage präsentiert Heidegger im Anschluss an Husserl die Ausweisung. Wenn diese scheitert, so erweist sich das Urteil im nachhinein als nicht zutreffend. Inwiefern aber kann Heidegger das in der Öffentlichkeit vollzogene Reden-über als ein In-der-Unwahrheit-Sein per se vorstellen? Das ›Weiterreichen‹ einer Aussage – so Heideggers eigene Ausdrucksweise – macht diese schließlich nicht zwangsläufig unwahr im Sinne des Falschseins. Auch wenn ich nur vom Hörensagen weiß, dass Diamant Glas ritzt, weil ich noch keinen Diamanten in der Hand gehabt habe und dies testen konnte – durch eigenes Ausprobieren ließe sich diese Aussage als wahr aufweisen. Sicherlich ist die Gefahr der Verfälschung und des ungeprüften Nachredens desto größer, je komplexer die Vermittlung ist – doch es ist offenkundig, dass das Gerede im Sinne eines Zirkulierens von Gesprochenem in einer anderen Weise ›unwahr‹ ist als eine falsche Aussage: Allein schon in der Nicht-Ursprünglichkeit des Bezugs zu Seiendem im Reden über dieses liegt nach Heidegger augenscheinlich eine Weise des Unwahrseins, welche die falsche Aussage gewissermaßen in einer doppelten Weise unwahr sein lässt, denn selbst ihr potentielles Wahrsein ist ja schon ein abkünftiges, also ›unwahr‹ im eben explizierten Sinne. 18 Die Möglichkeit des Falschseins des lgo@ im engen Sinne thematisiert Heidegger jedoch in Sein und Zeit – anders als in der Logik-Vorlesung vom WS 1925/26 – nicht.

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Anstatt zwischen einem grundsätzlich nicht an der Wahrheit interessierten Gerede – wie es sich im sog. ›Klatsch und Tratsch‹ manifestiert 19 – und dem Gerede im schlichten Sinne des alltäglichen Redens zu Anderen über Seiendes deutlich zu unterscheiden, präsentiert Heidegger tendenziell das sich sprachlich mitteilende Verstehen an sich schon als von der Wahrheit abdriftend. Das legt die Vermutung nahe, Sprache als Verlautbarung des Verstehens sei immer schon in der ›Unwahrheit‹ 20 – und zwar nicht nur, weil im Miteinandersprechen das bloße Nachreden dominiert, sondern auch weil jede konkrete Sprache, wie Heidegger schließlich mehrfach betont, stets schon eine eigene Ausgelegtheit der ›Sachen‹ mit sich bringt: »Das faktische Dasein des Sprechens als solchen, sofern es da ist und lediglich sofern es da ist als Sprechen, ist die eigentliche Quelle der Täuschung.« (GA 17, 35) 21 Wenn Heidegger jedoch stets hervorhebt, dass Dasein Mitsein ist – müsste er dann nicht auch aufzeigen, inwieweit anderes Dasein eine konstitutive Rolle für den Wahrheitsbezug des je eigenen Daseins spielt? Bislang tauchten die Anderen nur als Geber und Empfänger von weitergereichten Aussagen auf – bemerkenswerterweise beschreibt Heidegger selbst die Praktik des alltäglichen Miteinanderredens in dieser vergegenständlichenden Weise, die er im Wahrheitsparagraphen von Sein und Zeit gerade für die Fixierung der traditionellen Wahrheitsauffassung auf die Urteilswahrheit verantwortlich macht. 22 Ist 19 Vgl. Tugendhats Bemerkungen zur spezifischen Unwahrheit des Geredes als einer Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit (Tugendhat 1970, 362). 20 Entsprechend bemerkt Stahlhut, die Sprache werde hier als »abkünftiges Phänomen der Wahrheit behandelt, als Hinausgesprochenheit, die zumeist nur den Anforderungen eines durchschnittlichen Miteinanders gerecht wird« (Stahlhut 1986, 183). 21 Vgl. auch folgende Bemerkung: »Sofern dieser lgo@ dasjenige ist, worin sich alles Begriffliche abspielt, ist er es zugleich, der im Dasein […] die Möglichkeit des Irrtums ausmacht.« (GA 18, 276) Heidegger erwähnt allerdings immer wieder die Möglichkeit einer ursprünglich angeeigneten Sprache; vgl. etwa GA 17, 30. Die Alternative zur Unwahrheit des Man – die »Wahrheit der Existenz« (SZ 221) – wird nach Heidegger allerdings erst im Augenblick schweigender Selbstdurchsichtigkeit erschlossen. 22 Nach Heidegger liegt der Ursprung der traditionellen Wahrheitsauffassung in einer bestimmten Modifizierung des Entdeckens, nämlich in seiner ›Verdinglichung‹ : Aussagen würden zu ›innerweltlich Seiendem‹, das zwar das ursprüngliche Entdecken noch in sich trage, aber selbst als Zuhandenes zum verfügbaren Zeug werde (zur ›Verwahrung‹ von Entdecktheit). Die Beziehung zum innerweltlich Seienden wird laut Heidegger also jetzt als vorhanden vorgestellt: »Das in der Erschlossenheit des Daseins fundierte existenziale Phänomen der Entdecktheit wird zur vorhandenen, noch Bezugscharakter

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Heidegger vielleicht in gewissem Sinne selbst der Tradition zum Opfer gefallen? – Zwar setzt sich seine Interpretation der Aussage als einer Aufzeigung deutlich vom Gedanken einer Übereinstimmung zwischen Kognitionen oder Äußerungen eines Subjekts und der Realität einer Objektsphäre ab, doch gelingt es ihm augenscheinlich nicht, das Moment der Mitteilung anders als ein Weiterreichen von Gesagtem zu fassen. Zudem ist auch Heideggers Fragen nach der Wahrheit ganz auf das Urteil fokussiert – was nicht verwundert, weil es seinen Ausgang bei der herkömmlichen Bestimmung von Wahrheit als Urteilswahrheit nimmt. Doch betont Heidegger schließlich stets, dass mit der Abwendung von der Fixierung auf die Aussage auch andere Redeformen in den Blick rücken müssten, wie dies etwa in der antiken Rhetorik geschehe. Auch hebt er explizit hervor, dass das Bitten (e±cffi) z. B. ebenfalls offenbar mache, »aber in anderer Weise« (SZ 32), fragt dieser ›anderen Weise‹ jedoch nicht näher nach. So geht der Blick doch einzig auf das ›Offenbarmachen‹ der Rede im engeren Sinne – das Sehenlassen der Aussage im Sinne des ⁄pyafflnesjai. 23

1.3 Die nicht überwundene Orientierung an der Aussage Dieser Beobachtung, dass Heideggers Thematisierung des Geredes – als Aufweisung des alltäglichen Miteinanderredens – augenscheinlich ganz an der Redeform der Aussage orientiert ist, soll nun näher nachgegangen werden. Dabei bringen die folgenden Exempel einen im Grunde trivialen, aber dennoch bedeutsamen Umstand in den Blick: die Tatsache, dass der ›Inhalt‹ bestimmter Realisierungen von Rede gar nicht in der gleichen Weise weitergegeben werden kann wie der einer Aussage. Erstes Beispiel: A fragt B: »Kannst du mir bitte etwas Geld leihen?« – A bittet also B um Geld. Inwiefern kann B nun das Gesagte ›verbreiten‹ ? Etwa indem B zu C sagt: »A hat mich um Geld gebeten.« Was aber wird hier ›weitergegeben‹, möglicherweise gar der Öffentlichkeit zugänglich? Es ist die konkrete Sprachhandlung bzw. die Situation im Ganzen – es wird weitergesagt, dass A B um etwas – Geld in sich bergenden Eigenschaft und als diese in eine vorhandene Beziehung auseinandergebrochen.« (SZ 225) 23 Dies bemerkt auch Tugendhat kritisch; siehe Tugendhat 1970, 353.

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– gebeten hat. Anders bei einer feststellenden Rede: A sagt zu B: »Herr X ist nicht besonders klug.« Die Feststellung ist zwar auch ein Sprechakt – eine Behauptung – und über diese Handlung kann berichtet werden. B könnte C erzählen, dass A Herrn X als wenig klug bezeichnet habe, dass er/sie – dies schon eine bestimmte Deutung – über ihn ›hergezogen‹ habe usw. Es kann aber hier auch das Gesagte (der propositionale Gehalt) als solches ›weitergereicht‹ werden – B könnte A’s Rede einfach unkritisch wiederholen. 24 Indem Heideggers Präsentation des Geredes das ›wahrheitsferne‹ Sprechen vornehmlich als bloße Verbreitung des Gesagten vorstellt, ignoriert sie demnach Redeformen wie den Wunsch, das Geständnis usw., welche in besonderem Maße ein bestimmtes Verhältnis zwischen den Kommunizierenden konstituieren bzw. voraussetzen und nicht bloße ›Informationen‹ über Vorhandenes austauschen. Heideggers Thematisierung des Wahrheitsphänomens missachtet also Artikulationen des In-der-Welt-seins, in welchen das Einanderzugewandtsein von sprechendem und hörendem Dasein ein zentrales Moment darstellt. Im Weitererzählen der Bitte A’s läge schließlich vor allem ein ›Entfernen‹ von der ursprünglichen Situation der Annäherung A’s an B, also ein ›Herauslösen‹ aus der Teilnahme – im weitesten Sinne – an der Situation des Anderen. Die grundlegende Erschlossenheit des Daseins als eines Mitseins müsste demnach auch die interexistenziale Dimension der Rede und die hier liegenden spezifischen Möglichkeiten von ›Offenbarkeit‹ und ›Verschlossenheit‹ fundieren. Nicht allein die ›Richtigkeit‹ des Gesagten im Sinne der sog. ›Bodenhaftung‹, sondern auch die ›Aufrichtigkeit‹ der Sprechenden hätte Heidegger ausdrücklich thematisieren müssen, hätte er die Sphäre der Interexistenzialität in ihrer Fülle möglicher Beziehungen und Sprachhandlungen tatsächlich in den Blick genommen. 25 24 Allerdings stellt sich die Frage, ob die Annahme der Möglichkeit einer solchen Wiederholung des Gesagten in anderen Kontexten ohne jeglichen Bedeutungswandel nicht auch ›naiv‹ ist. 25 Heidegger hebt schließlich selbst die Kundgabefunktion jeder Rede ausdrücklich hervor. Dass hier das Moment der Wahrhaftigkeit – als Vermeidung einer Verstellung der Intention – eine zentrale Rolle spielt, arbeitet er jedoch nicht explizit heraus, deutet es allerdings an; vgl. etwa GA 17, 35 und 39 sowie GA 20, 76. Interessant in diesem Zusammenhang ist eine Anmerkung Heideggers in der Logik-Vorlesung vom WS 1925/ 26: Hier bedenkt er die Möglichkeit, auch eine Bitte oder Frage als ›wahr‹ oder ›falsch‹ bezeichnen zu können. Falsch könne eine Frage z. B. dann genannt werden, wenn das

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Man braucht jedoch nicht einmal auf Redesituationen einzugehen, in denen eine besondere Hinwendung der Sprecher zueinander stattfindet – selbst im Bereich der Ausweisung von Aussagen, wo der sprachliche Bereich im engen Sinne gar verlassen wird, ließe sich die Bedeutung des Mitseins in Bezug auf das ›Wesen‹ von Wahrheit sehr viel pointierter hervorheben, als Heidegger dies tut: Wenn die Ausweisung auf eine kulturell und gesellschaftlich geprägte Werkwelt zurückgreift, könnte der Gedanke einer intersubjektiven – bzw. interexistenzialen – Verbindlichkeit einen hohen Stellenwert erlangen. 26

1.4 Gemeinsamkeit als ein Sich-teilen von Wahrheit In der Vorlesung Einleitung in die Philosophie (WS 1928/29) widmet sich Heidegger ebenfalls der Frage nach einer ursprünglicheren Wahrheit als der Satzwahrheit. Bemerkenswert ist dabei, dass er hier ausdrücklich der Frage nachgeht, ob die Unverborgenheit des Seienden nicht je nach Seinsart des Seienden variiert. Heidegger gesteht zu, dass wir über Zuhandenes, Vorhandenes, andere Menschen sowie andere Lebewesen zwar in gleicher Weise reden können, doch möglicherweise »ist die Offenbarkeit (Wahrheit) des uns alltäglich zugänglichen Seienden in seiner Mannigfaltigkeit keine unterschiedslos gleichmäßige« (GA 27, 83). Wird hier einer spezifischen Dimension von ›Wahrheit‹ im Bereich der Interexistenzialität nachgegangen oder wird die Bedeu-

hinter ihr stehende »Verlangen durch sie unrichtig angegeben wird«. Offenkundig hat Heidegger hier aber nicht die Dimension der aufrichtigen oder unaufrichtigen Kundgabe im Blick, sondern eher das Phänomen einer angemessenen oder unangemessenen Formulierung der Frage in Hinsicht auf das, was der Fragende wirklich wissen will; vgl. GA 21, 130; Fn. 5. 26 So sieht Gethmann hier die Möglichkeit, in Richtung einer Konsenstheorie der Wahrheit weiterzudenken; vgl. Gethmann 1993, 160. Dass sich die Wahrheitsfrage nach diesem Ansatz – in der Konzipierung Habermas’ – allerdings erst bei der Ausbildung von Diskursen und nicht in der Sphäre des Handelns stellt, lässt eine Vermittlung mit Heideggers Konzeption jedoch problematisch werden, denn die Ausweisung eines ›wahren Urteils‹ soll nach Heidegger ja gerade nicht diskursiv geleistet werden; siehe dazu Jürgen Habermas, »Wahrheitstheorien«, in: Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, hrsg. von Helmut Fahrenbach, Pfullingen 1973, 211–265. Aufschlussreich ist hier vor allem eine kurze Bemerkung zu Husserls Evidenztheorie; vgl. Habermas 1973, 235.

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tung des Mitseins für das Entdecken von Seiendem ausdrücklich thematisiert? Um eventuellen Differenzierungen im ›Wesen‹ der Wahrheit nachzugehen, grenzt Heidegger das Miteinandersein von Dasein und Dasein scharf vom reinen Zusammenvorhandensein zweier Objekte ab. Zur Abgrenzung des daseinsmäßigen Miteinanders vom bloßen Nebeneinandersein etwa zweier Felsblöcke spielt Heidegger mehrere Erklärungen durch. Die erste Behauptung: Miteinandersein ist ein »bewußtes Zusammenvorhandensein« (GA 27, 86), d. h. in einem gegenseitigen Wissen voneinander läge das Wesentliche des Miteinanderseins. Diese Erklärung überzeugt nach Heidegger aber nicht, denn ein tatsächliches Erfassen des Anderen und seiner Wünsche, Eindrücke, Pläne usw. – dieser Hinweis ist aus Sein und Zeit bekannt – sei ja überhaupt erst möglich aufgrund eines fundamentaleren Mitseins. Das bedeutet in Bezug auf die Frage nach der spezifischen Unverborgenheit anderen Daseins: »Dasein muß zuvor schon für Dasein offenbar sein, damit gegenseitiges Erfassen möglich wird.« (GA 27, 88) Dieses Offenbarsein meine aber ausdrücklich keine Offenbarung des ›Innersten‹ des Anderen, seiner »Anlagen, Eigentümlichkeiten und Grillen« (GA 27, 88). Dabei ist bezeichnend, mit welchem Beispiel Heidegger aufzuzeigen sucht, dass Miteinandersein nicht zwangsläufig meine, sich miteinander zu beschäftigen: Zwei Wanderer steigen den Berg hinauf und bleiben – durch eine unerwartete Aussicht auf das Gebirge gebannt – schweigend nebeneinander stehen. Heidegger fragt: »Sind die beiden jetzt nur noch nebeneinander wie die beiden Felsblöcke, oder sind sie in diesem Augenblick gerade in einer Weise miteinander, wie sie es nicht sein können, wenn sie unentwegt zusammen schwatzen oder gar sich gegenseitig erfassen und auf ihre Komplexe beschnüffeln?« (GA 27, 86)

Dem Phänomen des Miteinanders bzw. der ursprünglichen Offenbarkeit nachfragend, welches das konkrete Einanderkennen und Miteinanderschwatzen überhaupt erst ermöglicht, schlägt Heidegger nun eine weitere Deutung des Miteinanderseins von Dasein und Dasein vor: Im Anschluss an das Beispiel der Wanderer, die gemeinsam vom Anblick der Berge hingerissen sind, fragt Heidegger, ob Miteinandersein nicht vielleicht als »Sichverhalten mehrerer zu Selbigem« (GA 27, 89) verstanden werden müsse. 27 Am Beispiel der allen gleichermaßen vertrau27

Den Gedanken eines ›gleichgeschalteten‹ Verhaltens weist er jedoch als naiv zurück.

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ten und zugänglichen Kreide im Hörsaal zeigt Heidegger auf, inwieweit jedem konkreten Sich-teilen der Kreide ein fundamentaleres Sein bei diesem Zuhandenen vorausgehen muss, und zwar diesem Zuhandenen als einem gemeinsamen: »Wir müssen schon vor dem Gebrauch und für ihn alle Teilhaber an der Kreide sein, um sie uns gegenseitig im Gebrauch zu überlassen bzw. um gemeinsam von einem Gebrauch derselben Abstand zu nehmen.« (GA 27, 101) Das heißt: Wir teilen uns die Offenbarkeit des Seienden, oder mit Heidegger: »Wir teilen uns in seine Unverborgenheit« (GA 27, 105; Hervorhebung M. S.). Weil Dasein immer Mitsein ist, so Heidegger abschließend, ist »die Art und Weise, wie Unverborgenheit von Vorhandenem (Wahrheit) zum Dasein gehört, […] notwendig und wesenhaft ein Sichteilen in Wahrheit« (GA 27, 118). 28 Es ist deutlich: Die Chance, die Eigenheit eines gegenseitigen Offenbarseins von Dasein und Dasein herauszustellen, das nicht direkt zurückgeführt wird auf ein gemeinsames Sein bei Zu- oder Vorhandenem, wird schnell aufgegeben und die Hinwendung zum Miteinandersein als Haben von gemeinschaftlich Geteiltem – hier im Sinne gemeinsamer Gebrauchsgegenstände – vollzogen. Offenbarkeit des Anderen meint hier augenscheinlich, ihm als anderem Dasein in seinem In-der-Welt-sein – seinem Besorgen von diesem und jenem – begegnen zu können. Die grundlegende Teilnahme aneinander, welche das mögliche Einanderoffenbaren im Sinne der Mitteilung des ›Eigensten‹ fundiert, ist nach Heideggers Vorstellung also die gemeinsame Teilhabe an der Offenbarkeit des zugänglichen Seienden von nicht-daseinsmäßiger Art.

Miteinander soll nach Heidegger besagen, »daß mehrere sich in verschiedener Weise zum Selbigen verhalten. Verhalten zu Selbigem schließt nicht aus, sondern sogar ein, daß das Verhalten verschieden ist.« (GA 27, 91) ›Selbiges‹ meint hier – das ist konsequent vor dem Hintergrund der Kritik an jeglicher ›Vorhandenheitsontologie‹ – ausdrücklich kein Unveränderliches, keine substantielle Beharrlichkeit, auch keine formale Identität des Seienden mit sich selbst, sondern »Seiendes, das mit sich identisch ist und dann noch als dieses Identische ein mögliches Erfaßbares für mehrere ist« (GA 27, 97). 28 Die ›Gemeinschaftlichkeit‹ der Wahrheit wird hier also ganz ausdrücklich hervorgehoben, allerdings entfaltet sie keine eigene Dynamik.

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Bubers Reflexionen zur Wahrheit in den Schriften zum dialogischen Prinzip

2.

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2.1 Das echte Gespräch als Manifestation von Wahrhaftigkeit Das echte Gespräch, welches Buber in der kleinen Schrift »Elemente des Zwischenmenschlichen« wesentlich als eine gelungene Begegnung interpretiert, stellt vor dem Hintergrund des dialogischen Ansatzes eine »ontologische Sphäre« dar, »die sich durch die Authentizität des Seins konstituiert« (DP 295). Diese spezifische Weise des Miteinanderseins präge sich aus, wenn die »Hinwendung zum Partner in aller Wahrheit« (DP 293) vollzogen werde, d. h. wenn jeder »den Partner, an den, oder die Partner, an die er sich wendet, als diese personhafte Existenz« (DP 293) meine. So wie Buber im Rahmen seiner Reflexionen zum wirklichen Gespräch den Sachbezug des Redens vernachlässigt, fokussiert er augenscheinlich nicht die Bedingungen des Wahrseins des zueinander Gesprochenen, sondern das zentrale Kriterium für das Gelingen eines echten Gesprächs liegt für ihn in der ›Haltung‹ der Gesprächspartner: Das Gespräch »erfüllt« sich nach Buber allein »zwischen Partnern, die sich einander in Wahrheit zugewandt haben, sich rückhaltlos äußern und vom Scheinenwollen frei sind« (DP 295). Nicht also stellen sich die Gesprächspartner bei Buber »im gelingenden Gespräch unter die Wahrheit der Sache« 29 – zumindest bestünde dann die Gefahr einer Einfügung des Ich-Du in einen übergeordneten, die fundamentale Distanz zwischen den Partnern in eine grundlegendere Nähe auflösenden Gadamer 1972, 360. Buber möchte »den Begriff der Aufrichtigkeit von dem dünnen Moralpredigtton, der sich ihm angeheftet hat, befreien und ihn wieder an den Begriff der Aufrechtheit anklingen lassen« (DP 280). Die zentrale Motivation für diese ›Befreiung‹ liegt vermutlich in Bubers Grundanliegen, das Ich der echten Begegnung als ganze Person zu fassen. Die Aufrichtigkeit als Aufrechtheit meint demnach eine Weise zu sein und nicht eine moralische Einstellung. 31 Buber selbst unterscheidet nicht dezidiert zwischen den Haltungen oder Phänomenen Authentizität, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit; verwiesen sei daher auf die differenzierten Ausführungen Bernard Williams’ in ders., Wahrheit und Wahrhaftigkeit, aus dem Engl. übers. von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2003. Williams proklamiert – in 29 30

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Rahmen –, sondern sie wenden sich in aufrichtiger bzw. aufrechter 30 Weise einander zu. 31 Dabei ist jedoch wichtig zu sehen, dass es nach Buber nicht darauf ankommt, »daß einer dem andern alles sage, was ihm einfällt« (DP 280). Eine vollkommene Öffnung des eigenen Selbst hat er hier nicht im Sinn: »Es kommt nicht darauf an, daß einer sich vor einem andern ›gehen lasse‹, sondern daß er dem Menschen, dem er sich mitteilt, an seinem Sein teilzunehmen gewähre.« (DP 280) 32 Und diese Möglichkeit der Teilnahme sei eben nur gegeben, wenn kein »Schein« sich zwischen die Gesprächspartner schiebe. 33 In »Elemente des Zwischenmenschlichen« skizziert Buber eine Situation, in der die Unterredung zweier Menschen ganz von einer nichtauthentischen Präsentation her bestimmt ist: Zwei lebende Wesen (Peter und Paul) und sechs »Gespenster« konstituieren nach Buber hier den unechten Dialog, denn neben den »real« Anwesenden bestimmten die jeweiligen Wunschbilder und Eindrücke vom eigenen Ich sowie von der anderen Person als Scheingestalten die Rede mit. Paul ›verdreifacht‹ sich nach Bubers Beschreibung zusätzlich in das Bild, das er vermitteln möchte, in die Wirkung, die er tatsächlich erzeugt, und in die Vorstellung, die er von sich selbst hat – das Gleiche gilt für Peter. Deutlich wird: Der Dialog verwandelt sich in einen irritierenden Chorus einander überlagernder Stimmen. Dieses Kalkulieren mit erwünschten Erscheinungsweisen bezeichnet Buber als »Leben vom Bilde« her, ein wahrhaftiges Dasein dagegen nennt er ein »Leben vom Wesen aus«. 34 Der Rückbezug auf die beiden Grundworte Ich-Du und Ich-Es, wie Buber sie in Ich und Du konzipiert hat, fällt nicht schwer: Das Leben vom Bilde aus hat den Anderen stets schon als einen bestimmten Jemand genommen und auch das Ich selbst präsentiert sich hier als so oder so seiend, als diese – hervorragenden – Eigenschaften habend usw. Abgrenzung von der postmodernen Wahrheitsskepsis – eine enge Verbindung zwischen dem Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit und der Achtung von Wahrheit. 32 So bekundet Buber, ähnlich wie Heidegger, nicht selten eine deutliche Abneigung gegenüber Gesprächsvorstellungen, die auf eine Art ›Seelenstriptease‹ abzielen. Im Hintergrund steht hier offenkundig seine Skepsis gegenüber der Psychoanalyse, sofern sie den Anderen analysiert und kategorisiert; vgl. etwa NL 154 ff. 33 Dass ›Schein‹ hier nicht das Produzieren von unwahren Aussagen meint, macht Buber deutlich, indem er betont, dass es hier um eine Lüge ginge, die sich »an der Existenz selber« vollziehe bzw. diese in ihrer Ganzheit treffe; vgl. DP 279. 34 Vgl. DP 279.

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Es geht den Sprechenden hier offensichtlich nicht um die Teilnahme an einem im Ganzen unverfügbaren Prozess – am Gespräch als einem nicht planbaren Geschehen –, sondern um das Herstellen bestimmter Eindrücke, welche die Situation kontrollieren sollen. Wenn Buber hingegen betont, das Grundwort Ich-Du könne »nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden« (DP 7) – so dass dieses Sprechen ein ›Leben vom Wesen aus‹ realisiert –, bezieht er sich offenkundig auf den Vollzugscharakter der echten Beziehung, in welche die Person nicht gezielt ausgewählte ›Stücke‹ von sich einbringt, sondern in der sie sich der Begegnung mit dem Anderen als ganze Persönlichkeit aussetzt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die gewählte Begrifflichkeit – die Rede vom Wesen und Bilde – dem dialogischen Grundansatz Bubers und seinem Ziel, mit dem Ich-Du eine andere Sphäre als die der Subjekt-Objekt-Beziehung aufzuzeigen, wirklich angemessen ist. Gerät Buber nicht mit dieser Terminologie in die Gefahr, doch wieder einer traditionellen Auffassung des Selbst als einer ›Substantialität‹ zu erliegen, die sich mit dem Grundansatz, Subjektivität als Bezogenheit (auf ein Du oder Es) zu verstehen, nicht verträgt? Die Rede vom ›Wesen‹ suggeriert schließlich ein In-sich-Ruhen und eine Unabhängigkeit von spezifischen Situationen und Begegnungen mit Anderen, wie sie Bubers Konzeption der Person strenggenommen nicht zulässt. Denn kein festgelegtes ›Etwas‹ tritt nach Bubers dialogischem Ansatz in die Beziehung ein, sondern durch das Zwischen erst sollen sich die Partner der Begegnung als das ›herausbilden‹, was sie ›sind‹. Wenn Heidegger die traditionelle metaphysische Rede vom ›Ich‹ und der ›Person‹ ablehnt, weil sie dem Dasein als Existenz aufgezwungen sei und es zu einem Vorhandenen degradiere, dann müsste sich auch Bubers Konzeption stärker von dieser Terminologie lösen, weil auch sie sich radikal gegen eine ›Verdinglichung‹ und ›Isolierung‹ der Person wendet. Doch noch eine weitere kritische Nachfrage drängt sich auf, und zwar im Anschluss an Bubers Abweisung jeglicher ›Bildhaftigkeit‹ im echten Zwischenmenschlichen: Wie soll sich eine konkrete Begegnung vollziehen, in der keiner vom Anderen einen bestimmten Eindruck erhält? Buber möchte vor dem Hintergrund seiner Konzeption des Du als einem unverorteten Gegenüber augenscheinlich jeden Ansatz eines Begreifens oder einer Vorstellung des Anderen aus der Sphäre des wahrhaftigen Einandergegenübers ausschließen. Die Blicke zwischen zwei ›Wesensmenschen‹ müssten also, da das Anschauen gleichsam

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›bildlos‹ sein soll, Blicke sein, die den Anderen als Anderen in einer Weise sehen, die nicht aufgezeichnet, nicht reproduziert werden kann.

2.2 Wahrheit als Allgemeingut vs. Wahrheit als Aufgabe eines jeden Einzelnen Die Rettung von Unverfälschtheit und Ursprünglichkeit im Miteinandersprechen setzt bei Buber offensichtlich den Akzent allein auf die Sprecher und ihr Verhältnis zueinander; so gesteht Buber auch selbst ein, dass er sich hier, in den Ausführungen zum echten Gespräch, allein auf den Sinn des Wortes ›Wahrheit‹ im Bereich des Zwischenmenschlichen, d. h. in der Dimension des Einanderansprechens, bezieht. Eine Konsequenz dieser Fokussierung auf die wahrhaftige Begegnung soll noch eigens genannt werden: Wie schon die Hochschätzung des gesprochenen Wortes nahelegt, scheut Buber nicht davor zurück, die lebendige Rede auf dem Wochenmarkt für ›wahrer‹, d. h. eben ›wahrhaftiger‹, zu halten als eine Disputation Gelehrter, die sich ausdrücklich der ›Wahrheitssuche‹ verschrieben hat – vorausgesetzt, die Marktbesucher reden aufrichtig miteinander und die Gelehrten betreiben die Suche eher als eine ruhmbringende ›Jagd‹ nach der ›Wahrheit‹ und wenig offen für die Anderen als tatsächliche Gesprächspartner. 35 Doch gibt es bei Buber überhaupt keine Überlegungen zur Wahrheit des im Gespräch Gesagten? 36 Verharrt man in der starren Trennung zwischen dem Akt der Anrede als Verwirklichung des Ich-Du und dem Moment des Beredens als Manifestation des Ich-Es, dann Vgl. Buber 1961, 21. Interessant mag in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die Hinwendung zu einer bewusst ›ungekünstelten‹ Sprache bei dem von Buber so geschätzten Hugo v. Hofmannsthal sein: Nach dem sprachkritischen »Chandos-Brief« wendet sich der Dichter – wie Asher Biemann ausführt – einer »Sprache des Herzens« zu, dessen Ort das Lustspiel wird. Biemann bemerkt treffend: Die Aussprache der Liebenden ist oft unbeholfen, deshalb immer echt; vgl. MBW VI, 26 sowie Bubers Erinnerungen an die Besuche des Burgtheaters (Buber 1961, 20 f.). 36 Sicherlich könnte man Bubers Gedanken zu Aufrichtigkeit und Rückhaltlosigkeit auch als Reflexionen über die Bedingungen dafür verstehen, dass in einem Gespräch überhaupt offen und ohne Machthierarchien ›Wahrheitsfindung‹ angestrebt werden kann. Eine Gleichsetzung zwischen dem ›Diskurs‹ im Sinne Habermas’ und dem ›echten Gespräch‹ bei Buber ist aber nicht wenig problematisch, weil Buber das wirkliche Gespräch keineswegs als vernünftiges, argumentatives Verhandeln von Geltungsansprüchen präsentiert. 35

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müsste die ›Wahrheit‹ des Gesprochenen tatsächlich der Es-Sphäre zugeschlagen werden. So heißt es schließlich auch in Ich und Du in Bezug auf die Eswelt: »Du nimmst sie wahr, nimmst sie dir zur ›Wahrheit‹, sie läßt sich von dir nehmen, aber sie gibt sich dir nicht. Nur über sie kannst du dich mit andern ›verständigen‹, sie ist […] bereit, euch gemeinsam Gegenstand zu sein, aber du kannst andern nicht in ihr begegnen.« (DP 35) Mit der Artikulation wahrheitsfähiger Aussagen wären wir nach Bubers Konzeption des zwiefältigen Weltbezugs also stets schon in der Es-Sphäre, wo einer ›feststellbaren‹, beschreibbaren ›Wirklichkeit‹ ein diese erfahrendes Subjekt gegenübersteht. So spärlich Bubers Überlegungen zum Wahrheitsphänomen in Bezug auf die Tradition sind – gegen den Gedanken einer »allgemeine[n] und zeitlose begriffliche[n] Wahrheit« 37 spricht er sich an zahlreichen Stellen vehement aus. Während Ich und Du nahelegt, dass im Reich des Es eine solche fixierbare Wahrheit aufgewiesen und artikuliert werden könnte, sucht Buber in Die Frage an den Einzelnen die traditionelle Vorstellung der »gehabten Wahrheit« insgesamt als »Spuk« zu entlarven. 38 Dabei geht er von dem von Max Stirner in Der Einzige und sein Eigentum vorgebrachten provokanten Ausspruch aus, die Wahrheit sei eine »Kreatur«. 39 Buber kommentiert: »Was Stirner hier unternimmt, ist die Auflösung der gehabten Wahrheit, der in Besitz nehmbaren und besitzbaren, des zugleich von der Person unabhängigen und der Person zugänglichen Allgemeinguts ›Wahrheit‹.« (DP 208) Stirners Angriff bediene sich allerdings nicht – wie die Sophistik etwa – erkenntnistheoretischer Mittel. Aber dies hätte ihm laut Buber auch nicht geholfen, denn die Erkenntnistheorie habe schließlich nicht »die konkrete menschliche Person« im Blick, auf die Stirner »mit fanatischer Unablenkbarkeit« (DP 209) ziele. Stirner stellt die traditionelle Vorstellung einer situationsunab37 Martin Buber, »Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit«, in: H, 121–141, hier: 139. 38 Siehe DP 209. Die in Ich und Du behauptete Gleichrangigkeit zwischen Ich-Es und Ich-Du – im Sinne einer Nicht-Ableitbarkeit und Nicht-Fundiertheit der einen aus bzw. in der anderen Sphäre – wird so allerdings in Frage gestellt. 39 Vgl. DP 208 sowie Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, mit einem Nachwort hrsg. von Ahlrich Meyer, Stuttgart 1972, 399. Wie stark sich Buber hier an Stirner anlehnt, wird vor allem auch durch seine Terminologie deutlich: Die auffällige Rede vom ›Spuk‹ und den ›Gespenstern‹ – die auch in »Elemente des Zwischenmenschlichen« zu finden ist – geht auf Stirner zurück, der in Der Einzige und sein Eigentum traditionelle – metaphysische – Vorstellungen als »Spuk« entlarvt.

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hängigen, ›verwahrbaren‹ Wahrheit nach Buber also radikal in Frage, indem er die Personbedingtheit jeder Wahrheit aufweist. Somit habe er den Weg geebnet für die Möglichkeit, eine Wahrheit zu sehen, »die man nicht mehr mit der Noesis allein bekommen und haben kann, die man existierend verwirklichen muß um ihrer innesein und sie mitteilen zu dürfen« (DP 211). Die Vorstellung einer erkenntnistheoretischen Wahrheit weicht dem Konzept einer in der Existenz zu bewährenden Wahrheit 40 – hier noch einen Bezug zur Reflexion über die Möglichkeit wahrer und falscher Urteile zu sehen, scheint relativ hoffnungslos.

2.3 Die Dimension der ›Treue‹ – Eine Anbindung an das Seiende vor jeder konkreten Verbindlichkeit? Doch vielleicht eröffnet sich die Chance, mit Buber einer ursprünglicheren Wahrheit als der Aussagewahrheit nachzuforschen – wie es Heideggers Interpretationen unternehmen –, ohne sie ausschließlich in der rein interpersonalen Sphäre zu verorten. Vielleicht ließe sich diese nicht-noetische Wahrheit im Sinne Bubers als eine grundlegendere ›Wahrheit‹ begreifen, welche die Möglichkeit allgemeingültiger Sätze – Formulierungen von Naturgesetzen etwa – keineswegs leugnen möchte, sondern sie zu fundieren sucht in einem Verhältnis zwischen Ich und Welt, das vor jeder Subjekt-Objekt-Spaltung liegt. Kurz: Bietet Bubers dialogischer Ansatz die Möglichkeit, neben der Thematisierung der Wahrhaftigkeit im Zwischenmenschlichen eine Weise des Bezogenseins auf Welt zu denken, welche die klassische Korrespondenztheorie der Wahrheit als Konstrukt oder zumindest als ›abgeleitet‹ entdeckt? In »Das Wort, das gesprochen wird« geht Buber im Zuge knapper Für Buber ist Kierkegaard der Denker, welcher – ausgehend von der Infragestellung der rein erkenntnistheoretischen Wahrheit – den Weg zu einer anderen, nämlich ›existenziellen‹ Wahrheit aufgezeigt habe: »Stirner hat die nur-noetische Wahrheit aufgelöst, und, all seinem Wissen und Wollen entgegen, den Raum freigemacht, in den die geglaubte und bewährte Wahrheit Kierkegaards getreten ist« (DP 211). 41 Den Ausgang nimmt das Nachdenken über Wahrheit hier bei der spezifischen ›Wahrheit‹ eines dichterischen Textes – Buber setzt sich also auch hier nicht direkt mit der Urteilswahrheit auseinander, behauptet jedoch, sein Wahrheitsbegriff im Sinne der ›Treue‹ solle auch die Wahrheit der Aussage einschließen; vgl. MBW VI, 134 f. 42 Dabei grenzt sich Buber – offenkundig in direkter Anspielung auf Heidegger – von der »sublime[n], dem Sein selber eignende[n] ›Unverborgenheit‹«, also Heideggers In40

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Bemerkungen 41 zu einer anderen Wahrheit als der nur-noetischen auf den hebräischen Ausdruck ›emeth‹ zurück, der traditionell mit Wahrheit übersetzt wird, im Grunde aber ›Treue‹, ›Vertrauen‹, ›Zuverlässigkeit‹ bedeute. 42 Eine solche sich im wirklichen Gespräch zeigende ›Treue‹ bedenkt Buber nun in dreierlei Hinsicht: 1) als Treue der ›Wirklichkeit‹ gegenüber, von der berichtet wird; 2) als Treue gegenüber dem angeredeten Partner; 3) als Treue des Sprechers sich selbst gegenüber. Neben der bereits ausführlich thematisierten Wahrhaftigkeit und Authentizität der Person kommt hier also ausdrücklich auch die Überlegung einer ›Angemessenheit‹ der Rede gegenüber dem ›Besprochenen‹ (der Wirklichkeit) ins Spiel, die bei der Darstellung des echten Dialogs nicht eigens thematisiert wurde. Was aber könnten Treue, Vertrauen, Zuverlässigkeit in Bezug auf die besprochene Welt bedeuten? Einmal vermag durch den Hinweis auf diese Phänomene der Forderung Ausdruck verliehen werden, der Sprecher müsse mit einem Anspruch der Genauigkeit 43 und Ernsthaftigkeit an die zu besprechenden Dinge herangehen – sich ohne Vorurteile auf sie einlassen. Außerdem aber – und hier liegt ein tatsächlich originelles Potential in Bubers Ausführungen – könnte diese Rückführung von ›Wahrheit‹ auf die hebräische Begrifflichkeit den Blick öffnen für eine vor allem Besprechen von Sachen und Sachverhalten liegende Bezugnahme auf die Welt, welche eben nicht das Sichrichten eines erkennenden Subjekts auf Objekte meint, sondern das Einandergegenüber von ganzer Person und nicht-dinghaft begriffener Wirklichkeit. Vor der Richtigkeit der Aussage läge dann eine Form der ›Bindung‹ zwischen Person und Welt, welche vor dem Hintergrund des buberschen Ansatzes als ein dialogisches Geschehen charakterisiert werden könnte: als eine Art grundlegendes Anvertrautsein der ›Dinge‹ – und Sich-ansprechen-Lassen durch diese – vor jeder konkreten Besprechbarkeit ihres spezifischen Soseins. terpretation der griechischen ⁄lffijeia, ab; vgl. MBW VI, 136. Zur Bedeutung von ›Wahrheit‹ im Alten Testament im Sinne von ›Wahrhaftigkeit‹ oder ›Zuverlässigkeit‹ (›emeth‹ bzw. ›emunah‹ mit der gemeinsamen Wurzel ›amen‹, die ›treu sein‹, ›fest‹ bedeutet) siehe außerdem W II, 1124 f. Zudem sei hier erinnert an die Darstellung der unterschiedlichen Glaubensweisen in Abschnitt I zum Philosophiebegriff beider Denker: ›Emunah‹ meint den Glauben, der vertraut, nicht das Sichbekennen zu konkreten Glaubensinhalten. 43 Nach Williams sind Genauigkeit und Aufrichtigkeit die zwei »Haupttugenden der Wahrheit«, d. h.: »Man tut alles, was man kann, um zu wahren Überzeugungen zu gelangen; und was man sagt, zeigt, was man glaubt.« (Williams 2003, 26)

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Buber selbst gibt einen Hinweis in diese Richtung, wenn er betont, Wahrheit sei primär nicht als »Übereinstimmung eines Gedachten mit einem Seienden« zu fassen, sondern als »Partizipation am Sein«. 44 Wie bei Heidegger, der die traditionelle Auffassung von Wahrheit als eine Art ›Verdinglichung‹ des ursprünglichen Entdeckens begreift, ist Wahrheit – oder besser: das Wahrsein – bei Buber dann jedoch ein Prozess. Hier, im Rahmen der Dialogphilosophie, müsste dieser allerdings als ein Geschehen beschrieben werden, das sich im Zwischen ereignet – im Zwischen als der Sphäre, in der gerade keine Vereinnahmung, Anmessung oder versöhnende Übereinkunft stattfindet, ohne dass die Begegnenden voneinander isoliert wären.

2.4 Ent-deckendes Reden vs. redliches Sprechen? Wie Heidegger sieht also auch Buber in der traditionellen Formulierung der Korrespondenztheorie nicht den ›wirklichen‹, ursprünglichen Sinn von Wahrheit getroffen. Beide Denker suchen eine Dimension menschlichen Daseins aufzuzeigen, die sich von einem erkennenden, beschreibenden Zugriff auf eine dingliche Wirklichkeit deutlich unterscheidet – Wahrheit in einem anderen, grundlegenderen Sinne ist für Heidegger und Buber kein starrer Bezug zwischen zwei ›vorhandenen‹ Sphären (Aussage und Wirklichkeit), die dennoch irgendwie zu einer Deckung kommen können. Während Heidegger jedoch zunächst im alltäglichen Zutunhaben mit Zuhandenem eine Weise der ›Offenbarkeit‹ des Seienden ausmacht, welche der Formulierung von theoretischen (wahrheitsfähigen) Aussagen vorausliegt, geht Buber auf das Ereignis des echten Gesprächs als einer Manifestation tatsächlicher Begegnung ein und sucht hier einen Sinn von Wahrheit aufzuzeigen, der nicht in der Angemessenheit des Gesagten gegenüber der Wirklichkeit liegt, sondern in der eröffneten Beziehung zwischen den Sprechenden. Emmanuel Lévinas bringt Bubers Intention prägnant zum Ausdruck: Das Wort bei Buber sei Vgl. Martin Buber, »Das Reinmenschliche«, in: H, 211–219, hier: 219. Zwei Umstände sprechen für eine solche Deutung der Treue als ›Bindung‹ zwischen der Person und einer nicht-vergegenständlichten Wirklichkeit: Buber begrenzt das Ich-Du nicht auf den interpersonalen Bereich, sondern schließt sämtliche ›Objektbereiche‹ ein. Zweitens fasst sein Begriff von Verantwortung, der im folgenden Abschnitt thematisiert wird, den Menschen als ein Wesen, das in mannigfachen Weisen angesprochen ist.

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»nicht etwa deshalb wahr, weil der es aussagende Gedanke der Sache entspricht oder das Sein enthüllt. Das Wort ist wahr, wenn es dem Ich-Du-Verhältnis – dem eigentlichen ontologischen Vorgang – entspringt. Es ist wahr, wenn es die Gegenseitigkeit des Verhältnisses vollbringt, indem es die Antwort erweckt und die besondere, der entsprechenden Antwort einzig fähige Person einsetzt.« 45

Bei Heidegger ist das wahre Wort das ent-deckende Wort, wobei sein Fragen nach dem ›Wesen‹ der Wahrheit nach einer ursprünglicheren Zugänglichkeit des Seienden vor allem Besprochenwerden sucht, welche er in der grundlegenden Erschlossenheit des verstehend-befindlich-redenden Da-seins gegründet sieht. Wahr ist das gesprochene Wort bei Buber hingegen, sofern ihm eine begegnungsstiftende Kraft innewohnt. In der Dimension der Ansprache, nicht des Besprechens, zeigt Buber die ›Wahrheitsfähigkeit‹ von Sprache auf. Entsprechend behauptet Biemann: »Die Klarheit der Sprache war für Buber überhaupt keine Klarheit der Aussage, sondern eine Klarheit der Ansprache« 46 . Demnach ist bei Heidegger die Rede primär unwahr, wenn sie die besprochenen Sachen verschließt – bei Buber ist sie wesentlich unwahr, wenn sie die Begegnung mit dem Du verstellt. Obgleich Heidegger Dasein nicht als vereinzeltes Ich denkt, gelingt es ihm nicht, eine eigenständige Weise von Offenbarkeit im interexistenzialen Bereich aufzuzeigen. Ebenso wenig arbeitet er die Bedeutung des Mitseins generell für das Entdecken von Seiendem klar heraus. So charakterisiert Lévinas Heideggers Konzeption des Mitseins folgendermaßen: »Es handelt sich […] um eine Vereinigung der einen Seite mit der anderen um eine bestimmte Sache herum, um einen gemeinsamen Bezugspunkt und, bei Heidegger, noch genauer, um die Wahrheit. Das ist aber nicht die Beziehung des Von-Angesicht-zu-Angesicht.« 47 Bei Buber scheinen hingegen die Reflexionen über die Rückhaltlosigkeit der Anrede das Nachdenken über eine Richtigkeit des Gesagten vollkommen zu verdrängen bzw. zu ersetzen. Die Anderen tauchen hier nicht als ›Helfer‹ bei der Suche nach Wahrheit auf, auch nicht als gleichberechtigte Teilnehmer an Diskursen, sondern als – zumindest im wirklichen Gespräch – wahrhaftig Angeredete und rückhaltlos AntLévinas 1963, 127. MBW VI, 14. 47 Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere, aus dem Franz. übers. und mit einem Nachwort vers. von Ludwig Wenzler, Hamburg 2003, 18. 45 46

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wortende. Eine Konsequenz dieser Anbindung von ›Wahrheit‹ an die Situation der echten Begegnung vereint jedoch Heidegger und Buber in gewisser Weise – denn in Anlehnung an Kierkegaard betont auch Buber: »[…] die Menge ist die Unwahrheit«. 48 Jedoch ist bei Buber wiederum das Miteinandersprechen ausgezeichneter Bewährungsort von Wahrheit, während Heidegger hier sogleich die Gefahr der Unwahrheit im Sinne einer Entfernung von den Sachen selbst sieht. Die bislang formulierte Grunddifferenz bei der Behandlung der Wahrheitsthematik – Heidegger: Fokus auf dem Bezug des Gesprochenen zu den Sachen, Buber: Blick auf die Begegnung von Ich und Du im Sprechen – lässt sich aber auch hinterfragen. Bubers Begriff von Wahrheit als ›Vertrauen‹ und ›Zuverlässigkeit‹ vermag auch das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit generell einzuschließen, wenn man bereit ist, hier den Hinweis auf ein Verhältnis zwischen Ich und Welt zu sehen, dass sich vom Subjekt-Objekt-Schema radikal abgrenzt. Die Nähe zu Heideggers Versuch, eine andere Weise der Übereinstimmung zwischen Dasein und Welt aufzuzeigen, ist dann offensichtlich. Außerdem ließe sich auch mit Heidegger der Versuch unternehmen, Phänomene wie Redlichkeit und Aufrichtigkeit ausdrücklich in den Blick zu nehmen, denn schließlich beschreibt Heidegger das Man nicht allein als Hort der Bodenlosigkeit des Geschwätzes, sondern er bestimmt es auch explizit als einen Ort des Sich-maskierens den Anderen gegenüber. Das Man als Weise des nicht-authentischen Existie-

Siehe DP 220 sowie Sören Kierkegaard, »›Der Einzelne‹. Zwei ›Noten‹ betreffs meiner Wirksamkeit als Schriftsteller«, in: ders., Gesammelte Werke. 33. Abteilung: Die Schriften über sich selbst, aus dem Dän. übers. von Emanuel Hirsch, Düsseldorf/Köln 1964, 96–120, hier: 100. 49 Gordon behauptet jedoch, dass Heidegger die Dimension von Wahrheit als Wahrhaftigkeit überhaupt nicht berücksichtige; vgl. Gordon 2001, 38. Dagegen versucht Smith, Heideggers »Wahrheit der Existenz« durch den hebräischen Wahrheitsbegriff zu beschreiben; vgl. Smith 1966, 62 f. Bemerkenswert ist, dass Heidegger selbst in Einleitung in die Philosophie auf eine Abhandlung Bultmanns (Rudolf Bultmann, »Untersuchungen zum Johannesevangelium«, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, Band 27 (1928), 113–163) verweist, in welcher dieser ausführlich den alttestamentlichen Wahrheitsbegriff thematisiert. Heideggers Kommentar: »Dabei kommen zur Sprache verwandte Begriffe von Wahrheit, Festigkeit, Treue, Zuverlässigkeit, Gerechtigkeit und dergleichen. Alle diese Begriffe, denen man bisher mit dem traditionellen Wahrheitsbegriff ratlos gegenüberstand, finden jetzt erste und angemessene Interpretationen.« (GA 27, 80) Zudem kann – dies zeigt etwa die Thematisierung der Wahrhaftigkeit in der Nikomachischen Ethik – das ⁄lhjeÐein auch 48

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rens, kurz: der Uneigentlichkeit, betrifft schließlich stets auch den Bereich des Miteinanderseins. 49 Dennoch muss ein zentraler Unterschied zwischen Bubers und Heideggers Abgrenzung vom traditionellen Wahrheitsbegriff hervorgehoben werden, der über die unterschiedlich starke Stellung von Sachbezug auf der einen Seite und Miteinandersein auf der anderen Seite hinausgeht, obgleich er mit dieser jeweiligen Akzentsetzung zu tun hat: Heideggers Thematisierung des Wahrheitsphänomens verweist – und aufgrund der engen Verkoppelung mit der Thematisierung von Rede und Sprache ist dies konsequent – auf unterschiedliche Dimensionen von Offenbarkeit und Zugänglichkeit. Obwohl sich Heidegger deutlich von Husserls Anschauungsbegriff und dem in der Psychologismuskritik implizit enthaltenen ›Platonismus‹ distanziert, stellt er doch das ›Ideal‹ eines ›leibhaftigen Gegebenseins‹ des Seienden auch bei der Behandlung des Wahrheitsphänomens nicht grundsätzlich in Frage. Das heißt: Je unmittelbarer Dasein entdeckt, desto ›wahrer‹ ist nach Heidegger der Bezug zum Seienden. Bei Buber hingegen verweisen die Überlegungen zu Wahrhaftigkeit und Treue auf Begegnungen mit Seiendem, in denen dieses als tatsächliches Gegenüber – d. h.: als unverfügbares, stets auch sich entziehendes – gegeben ist, bzw. besser: sich gibt. Wenn hier von einer grundlegenden Vertrautheit und Zuverlässigkeit zwischen Person und Wirklichkeit (oder Person und Person) gesprochen wird, dann kann diese nicht in einer die Fremdheit des Du relativierenden reinen Nähe bestehen, soll nicht der Grundansatz der buberschen Dialogik überhaupt in Frage gestellt werden. Als dialogisches Verhältnis muss diese Bindung zwischen Ich und Welt als ein Aneinanderwirken gefasst werden, welches jegliche Aktivität des Ich zugleich als eine Passivität – ein Ausgesetztsein – entdeckt und welches selbst nicht vorschnell als harmonisches Aufeinanderabstimmen der Partner gefasst werden darf. Die kurz nach Sein und Zeit einsetzenden Bemühungen Heideggers, das ›Wesen‹ von Wahrheit erneut zu fassen, scheinen – indem sie deutliche Akzentverschiebungen vornehmen und die (menschliche) Freiheit nun als »Eingelassenheit in die Entbergung des Seienden als eines solchen« (GA 9, 189) denken – der Konzeption eines jeglichem reinen Entwerfen des Daseins entzogenen Ineinanders von Verhüllung das wahrhaftige Reden meinen. Der Rückgang auf die griechische Begrifflichkeit stünde der Frage nach der Dimension interexistenzialer Offenbarkeit also nicht im Wege.

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und Enthüllung deutlich näherzustehen: »Die Entbergung des Seienden als eines solchen ist in sich zugleich die Verbergung des Seienden im Ganzen.« (GA 9, 198) 50 Jedoch zeigt auch Bubers Konzeption von Wahrheit als Authentizität deutlich auf, inwieweit er ein zentrales Moment, das zum Grundbestand neuzeitlicher Vorstellungen von ›Subjektivität‹ und ›Individualität‹ gehört, nicht radikal in Frage stellt, obgleich seine Dialogik die neuzeitliche ›Icherei‹ zu überwinden sucht: Nicht nur die ›Sicht‹ auf den Anderen darf sich im wahrhaftigen Einandergegenüber – wie Buber es postuliert – kein Bild von diesem machen, sondern auch das Verhältnis der Person zu sich selbst ist offenkundig nach Buber gedacht als Bezugnahme auf das eigene Selbst, die rein und unbeeinflusst ist von ›fremden‹ Vorstellungen und Projektionen. 51 So scheint dieser Konzeption von Authentizität jedoch wieder die Vorstellung eines sich selbst durchsichtigen Ich (oder Bewusstseins) zugrunde zu liegen, das sich auf Andere und Anderes beziehen kann oder auch immer schon auf solche und solches bezogen ist, aber nicht im Kern von einer Konfrontation mit Andersartigem affiziert ist. 52 Die hier beschriebene Treue sich selbst gegenüber impliziert so eine Beständigkeit des Ich, die durch den Aufweis des Zwischen als des eigentlichen Er-eignisses der Person zwar deutlich in Frage gestellt wird, die Buber aber – augenscheinlich – nicht wirklich destruieren möchte. 53

Vgl. zur unmittelbar nach Sein und Zeit sich wandelnden Wahrheitskonzeption neben Tugendhats Untersuchung (Tugendhat 1970, 363 ff.) Dorothea Frede, »Vom aufdeckenden Erschließen zur Offenheit der Lichtung«, in: Thomä 2003, 127–134. 51 Bemerkenswerterweise nennt Buber aber auch einen ›echten Schein‹ – das Vorbild; vgl. DP 278. Er unterscheidet also einen nicht lügenhaften Schein der Nachahmung, die sich als solche nicht verstellt, und einen unaufrichtigen Schein, der sich als Wirklichkeit ausgibt. Bedenkt man allerdings das Merkmal des Du, nicht auf einen ›Eindruck‹ festgelegt zu sein, stellt sich die Frage, ob nicht auch schon der ›echte‹ Schein das wahre Gespräch gefährden müsste: Schließlich ist der ›Held‹, dem ich nacheifere, im wahrsten Sinne des Wortes ein Vor-bild. 52 Dementsprechend kritisiert Buber all diejenigen Theorien, welche ›im‹ Ich selbst Kräfte oder Spuren aufzuzeigen suchen, welche diesem verborgen sind; siehe etwa H 317. 53 Es sei daran erinnert, dass Buber in Ich und Du die ›Zustände‹ Ich-Du und Ich-Es einem beiden ›zugrunde liegenden‹, sich durchhaltenden Selbstbewusstsein zuschreibt. 50

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›Eigentlichstes‹ Reden: Heideggers Interpretation der vorlaufenden Entschlossenheit

1.1 Die Frage nach Ganzheit und Eigentlichkeit des Daseins Schon in den vorherigen Interpretationen zum In-der-Welt-sein und zur Erschlossenheit des Daseins wurde an zentralen Stellen auf Heideggers existenziale Analyse des Gewissens vorausgedeutet: Bereits die Präsentation des Man als eines gesteigerten Zuhauseseins in der Welt warf die Frage nach einem eigentlichen, nicht durch die Herrschaft einer durchschnittlichen, veröffentlichten Erschlossenheit bestimmten In-der-Welt-sein auf, das dennoch wesentlich Sein mit Anderen ist. Erste deutliche Hinweise auf die Möglichkeit eines Rückzugs aus dem Man gaben die darauf folgenden Abschnitte zur Sprache und zur Wahrheit: Das Schweigen als Aussetzen des Geredes verwies auf eine »Wahrheit der Existenz« (SZ 221), welche die ›Unwahrheit‹ des Man überwindet. Zugleich läge in dieser Ablösung vom alltäglichen Sprechen, sowie von traditionellen überlieferten Begriffen auch im philosophischen Reden, die Möglichkeit, die Selbstdeutung des Daseins von der Welt und dem im Besorgen Begegnenden her zu überwinden und ein echtes philosophisches Fragen nach dem Sein des Daseins – und dem Sein überhaupt – auszubilden: 1 Die Interpretation des Philosophiebegriffs Heideggers in den 20er Jahren verwies schon ausdrücklich auf das Moment der ›Selbsterkenntnis‹ bei der Durchführung der Da-

Diese Selbstdeutung von der Welt her ist nach Heidegger schließlich ein zentrales Charakteristikum des Verfallens, welches erklärt, warum das Dasein dazu neigt, sich auch in philosophischer Selbstbesinnung zu ›vergegenständlichen‹ und etwa als res cogitans auszulegen.

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seinsanalyse, die mit dem Aufweis eigentlichen Seinkönnens also auch das Ursprungsmoment jedes echten philosophischen Redens aufzeigt. Der Weg von der Darstellung der Erschlossenheit des Daseins – Verstehen, Befindlichkeit, Rede – hin zur Thematisierung des Gewissens lässt sich unter Auslassung einiger Zwischenschritte folgendermaßen skizzieren: Im Anschluss an die Darstellung der uneigentlichen Modi von Verstehen und Rede – Neugier und Gerede – präsentiert Heidegger in § 38 schließlich, als »schärfere Bestimmung« (SZ 176) der Uneigentlichkeit, das Verfallen. Es bezeichne die Grundbewegtheit 2 des Daseins, welches »von ihm selbst als eigentlichem Selbstseinkönnen zunächst immer schon abgefallen und an die ›Welt‹ verfallen« (SZ 175) sei. Die Alltäglichkeit des Daseins – welche Heidegger bislang vornehmlich im Blick hatte – zeigt sich nun als »das verfallend-erschlossene, geworfen-entwerfende In-der-Welt-sein, dem es in seinem Sein bei der ›Welt‹ und im Mitsein mit Anderen um das eigenste Seinkönnen selbst geht« (SZ 181). Die Gleichursprünglichkeit dieser unterschiedlichen Merkmale sucht Heidegger anschließend in der schon genannten Strukturganzheit der Sorge zu fassen: Dasein zeigt sich als »Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)« (SZ 192). Die Analyse des Gewissensrufes und die ihr vorausgehende Befragung des Daseins als eines Seins zum Tode sollen nun eine noch ursprünglichere Interpretation des Daseins als Sorge leisten: Dasein werde jetzt erst in »seiner möglichen Eigentlichkeit und Ganzheit existenzial ans Licht gebracht« (SZ 233). Wenn in den vorherigen Abschnitten auf die Gewissensthematik hingedeutet wurde, dann geschah dies oftmals mit dem Hinweis, hier ließe sich möglicherweise eine größere Nähe zwischen Heideggers und Bubers Konzeptionen aufzeigen. Etwa wurde am Ende der Diskussion um die Freigabe die Möglichkeit einer ›Zerschlagung‹ der Ökonomie des Daseins angedeutet – einer fundamentalen Irritation des grundlegenden Zuhauseseins des Daseins in der Welt, welche auch ein Begegnen der Anderen als Anderer ermöglichen könnte. Auf der anderen Seite lässt sich bereits jetzt ahnen, dass das fundamentale »Bei-sichselbst-sein« (GA 20, 377) des Daseins als Überwindung der »Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist« (GA 63, 15), gerade auch als Beleg dafür genommen werden könnte, dass das eigentliche In-derHeidegger charakterisiert das Verfallen näher durch die Momente ›Versuchung‹, ›Beruhigung‹, ›Entfremdung‹ und ›Sichverfangen‹ ; vgl. SZ 177 f.

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Eigentliches Reden: Heideggers Interpretation der vorlaufenden Entschlossenheit

Welt-sein sich als Rückzug auf die Eigensphäre des jemeinigen Daseins vollzieht. Reiht sich Heidegger mit seinem Entwurf eines »eigens ergriffenen Selbst« (SZ 129) also doch wieder in die Tradition eines zunächst ›abgekapselten‹ Ich als Ausgangspunkt jeden Welterschließens ein? Diese Frage bringt die bereits erwähnte Problematik um die Phänomene Alltäglichkeit, Uneigentlichkeit und Verfallen deutlich in den Blick: Inwieweit kann Dasein eigentlich sein, wenn dies bedeutet »Beisich-selbst-sich-zu-eigen-haben« (GA 20, 390), obgleich es immer schon in einer Welt ist? – Inwiefern kann Dasein wesentlich bei sich sein, ohne dass die Dimension des Mitseins radikal an Bedeutung verliert? Somit steht noch einmal zur Debatte, ob Heideggers Konzeption des In-der-Welt-seins als eine bestimmte Variation des buberschen ›Eigen-wesens‹ gelesen werden kann oder ob der Aufweis des eigentlichen Selbstseins die Chance bietet, dieses mit der buberschen Personalität – als einer Variante eigentlichen Seins mit Anderen – in Verbindung zu bringen. Unter welchem konkreten Titel Heideggers Gewissensruf hier mit Bubers Denken in Beziehung gesetzt wird, das mag auf den ersten Blick vielleicht irritieren, denn von Verantwortung oder von einem Verantwortlichsein ist in Sein und Zeit nur an sehr wenigen Stellen die Rede. 3 Jedoch lässt sich das Aufgehen im Man – dies macht Heidegger selbst deutlich – durchgängig als ein Abtreten von Verantwortlichkeit lesen: »Weil das Man […] alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. Das Man kann es sich gleichsam leisten, daß ›man‹ sich ständig auf es beruft. Es kann am leichtesten alles verantworten, weil keiner es ist, der für etwas einzustehen braucht.« (SZ 127)

Schon in »Der Begriff der Zeit« (Abhandlung) von 1924 heißt es entsprechend zum Rückzug aus dem Man: »Der Weg zur Flucht in die Verantwortungslosigkeit des ›Niemand‹ wird abgebrochen.« (GA 64, 53) Das Phänomen der vorlaufenden Entschlossenheit eröffnet dem Dasein offensichtlich überhaupt erst die Möglichkeit, konkrete Verantwortung in einem echten Sinne zu übernehmen, und verweist so auf ein ursprünglicheres Verantwortungsgeschehen bzw. auf ein existenziales Verantwortlichsein des Daseins: »Rufverstehend läßt das Dasein Genauer: nur an den beiden im Folgenden zitierten Stellen. In anderen Texten der 20er Jahre wird jedoch der Bezug zur Verantwortung stärker herausgestellt. Die entsprechenden Bemerkungen werden im Verlauf der Interpretation angeführt.

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Entdeckung(en) einer ursprünglichen Verantwortung

das eigenste Selbst aus seinem gewählten Seinkönnen in sich handeln. Nur so kann es verantwortlich sein.« (SZ 288) Wenn Buber sich in Das Problem des Menschen kritisch mit Heideggers Daseinsanalyse auseinandersetzt, stellt er die Gewissensanalyse in den Mittelpunkt und bringt in Distanz zu Heidegger eine eigene Konzeption ›echten‹ Da-seins vor: Er geht aus von der Annahme einer ursprünglichen Verantwortlichkeit des Menschen, die nicht auf die traditionell neuzeitliche Konzeption einer primären Selbstverantwortung zurückgeführt werden dürfe. Ebenso wie Heidegger den Ruf des Gewissens ausdrücklich als eine Form der Rede – letztlich als die ›eigentlichste‹ Rede überhaupt – präsentiert, begreift Buber zudem diese Verantwortlichkeit als ein ›Sprachgeschehen‹ in einem weiten Sinne. Bevor jedoch die Deutung des Gewissensrufes in Sein und Zeit interpretiert werden kann, muss eine eingehendere Darstellung des Seins zum Tode erfolgen, um Heideggers Ansatz für die Frage nach der Möglichkeit des Ganzseinkönnens des Daseins zu präsentieren. 4 Zudem sind Todes- und Gewissensanalyse so eng miteinander verkoppelt, dass nur eine Interpretation des gesamten Phänomens der Entschlossenheit als einer angstbereiten, vorlaufenden Entschlossenheit Heideggers Präsentation eigentlichen Selbstseins gerecht wird.

1.2 Heideggers existenzialer Begriff des Todes 1.2.1

Da-sein als ein Sein zum Tode

Heidegger bringt zu Beginn von § 46 selbst einen möglichen Einwand gegen die Frage nach dem Ganzseinkönnen des Daseins vor: Wenn Dasein wesentlich sich vorweg ist, steht dann nicht immer noch etwas aus? Ist Dasein nicht ständig unabgeschlossen? Er deutet jedoch schon an – und die Erarbeitung des existenzial-ontologischen Begriffs 5 des Die Frage nach dem Ganzsein des Daseins formuliert Heidegger bereits in der Abhandlung »Der Begriff der Zeit« von 1924; die Analyse des Todes in diesem Text bietet eine prägnante Kurzfassung der späteren Darstellung in Sein und Zeit. Inwieweit Heidegger gerade auch bei Descartes und Husserl ein Versäumnis der Frage nach einer solchen Ganzheit sieht, wird in der Vorlesung vom WS 1923/24 deutlich: Descartes fasse das cogito »als eine Mannigfaltigkeit von cogitationes […], in der von einer zeitlichen Erstreckung zwischen Geburt und Tod auch nicht im mindesten geredet wird« (GA 17, 283). 5 In dieser ontologischen Betrachtung sollen alle anderen möglichen (ontischen) Unter4

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Eigentliches Reden: Heideggers Interpretation der vorlaufenden Entschlossenheit

Todes wird dies eindringlich zeigen –, dass eine solche Rede von ›Ende‹ und ›Ganzheit‹ an der Vorstellung eines Vorhandenen und nicht an der spezifischen Seinsweise des Daseins orientiert ist. Um die Eigenart des Zu-Ende-Seins des Daseins tatsächlich zu fassen, geht Heidegger zuerst auf das Erleben des Todes Anderer ein. Einen möglichen Ausgangspunkt für die Frage nach der Ganzheit des Daseins sieht er hier jedoch nicht gegeben, 6 weil das je eigene Dasein im Bezogensein auf den Tod nicht durch anderes Dasein ersetzt werden könne. Anders als im alltäglichen Besorgen, wo Einer die Aufgaben des Anderen übernehmen kann, ist diese Seinsmöglichkeit nach Heidegger durch eine grundlegende ›Unvertretbarkeit‹ gekennzeichnet: 7 »Keiner kann dem Anderen sein Sterben abnehmen.« (SZ 240) Das heißt strenggenommen auch: »Den Tod überhaupt gibt es nicht.« (GA 20, 433) Das Sterben verweist also nach Heidegger unmittelbarer als jedes suchungen des Todes in Biologie, Psychologie, Theologie usw. ihr Fundament finden. In Bezug auf die leibliche Dimension des Sterbens – den biologischen Tod – bedeutet dies: Die Möglichkeit des Ablebens des Daseins gründet gleichsam im Sterben als dem Sein zum Tode; vgl. SZ 247 sowie als Kritik dieser Abdrängung des genuin Leiblichen Eva Birkenstock, Heißt philosophieren sterben lernen? Antworten der Existenzphilosophie: Kierkegaard, Heidegger, Sartre, Rosenzweig, Freiburg i. Br./München 1997, 121 ff. 6 Dass Heidegger die Erfahrung des Todes Anderer nicht als Möglichkeit einer echten Begegnung mit dem Todesphänomen in Erwägung zieht, ist oft kritisiert worden. So fragt Wiplinger, »ob wir nicht in solch eigentlichem Mitsein den Tod erst ursprünglich erfahren, d. h. in der personalen Liebe, in der wir dem anderen gerade nicht um irgend etwas anderen (um einer ›Sache‹ willen), sondern einzig um seiner selbst willen verbunden sind« (Fridolin Wiplinger, Der personal verstandene Tod. Todeserfahrung als Selbsterfahrung, Freiburg/München 1970, 32). Tatsächlich stellt sich die Frage, inwieweit der Tod eines Anderen nicht auch genau das ›bewirken‹ kann, was im sich ängstigenden Vorlaufen in den je eigenen Tod geschehen soll: ein radikales Bedeutungsloswerden der Welt, ein totaler Zerfall aller Bezüge. Wenn Heidegger in »Was ist Metaphysik?« selbst behauptet, dass nicht allein Angst und tiefe Langeweile das Seiende im Ganzen zu offenbaren vermögen, sondern auch die »Freude an der Gegenwart des Daseins […] eines geliebten Menschen« (GA 9, 110), gibt er sogar einen Hinweis in diese Richtung. Solange jedoch der Andere als innerweltlich begegnend verstanden wird, kann dessen ›Aus-der-Welt-Verschwinden‹ immer nur die Erfahrung eines innerweltlichen Vorkommnisses liefern. 7 Allerdings lässt sich einwenden, dass es neben dem Tod noch andere Seinsmöglichkeiten gibt, die eine solche Unvertretbarkeit mit sich bringen. Etwa gilt dies für alle Möglichkeiten, die den je eigenen Leib betreffen, aber auch für Emotionen wie die Liebe; vgl. dazu die Kritik Sartres in Das Sein und das Nichts (konkret: Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hrsg. von Traugott König, aus dem Franz. übers. von Hans Schöneberg und Traugott König, 8. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2002, 918 ff.).

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alltägliche Besorgen auf die Jemeinigkeit des Daseins und seine spezifische Seinsart der Existenz. Alle Versuche, den Tod als »Ausstand« oder »Ende« im Sinne der Vollendung oder des Fertigseins zu begreifen, können somit – in ihrer Orientierung an Zu- und Vorhandenem – das spezifische ›Enden‹ des Daseins nicht angemessen beschreiben, denn: »Im Tod ist das Dasein weder vollendet, noch einfach verschwunden, noch gar fertig geworden oder als Zuhandenes ganz verfügbar. So wie das Dasein vielmehr ständig, solange es ist, schon sein Noch-nicht ist, so ist es auch schon immer sein Ende. Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Ende-sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden. Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist.« (SZ 245)

Der Tod steht nach Heidegger also nicht immer noch aus wie ein irgendwann einmal vorhandenes ›Etwas‹, sondern er steht dem Dasein stets bevor; allerdings kann dieser ›Bevorstand‹ eben kein aus der Umwelt her auf das Dasein zukommendes Geschehnis meinen, welches erwartet oder unerwartet das Dasein ›trifft‹. Sondern: Im Sein zum Ende »steht sich das Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor. In dieser Möglichkeit geht es dem Dasein um sein In-der-Weltsein schlechthin.« (SZ 250) Der Tod zeigt sich in Heideggers existenzialer Interpretation somit insgesamt als die »eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit« (SZ 250). Diese Möglichkeit muss – und kann – nach Heidegger nicht eigens gewählt werden, sondern sobald Dasein existiert, »ist es auch schon in diese Möglichkeit geworfen« (SZ 251). Im Man hingegen werde der Tod zumeist als ein »bekanntes innerweltlich vorkommendes Ereignis« (SZ 253) begriffen, das erst einmal die Anderen trifft. Auch oder gerade in dieser Verschleierung des eigentlichen Todesphänomens zeigt sich Da-sein laut Heidegger jedoch als ein Sein zum Ende. Zur alltäglichen Auslegung des Todes als eines Ereignisses, das ›irgendwann einmal‹ jeden trifft, gehört nach Heidegger zudem eine bestimmte Gewissheit. Diese Gewissheit ergibt sich aus der Erfahrung des Todes Anderer – es ist somit eine empirische Gewissheit, die den Tod als ein nach aller bisherigen Beobachtung höchst wahrscheinliches innerweltliches Vorkommnis nimmt, somit aber gerade nicht den existenzial begriffenen Tod als das Sein zum Ende erschließt.8 Indem der 8

Vgl. SZ 257.

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Tod im Man zudem meist in eine ferne Zukunft verlegt wird (›irgendwann einmal trifft es jeden‹) und damit eine bestimmte Zeit zugewiesen bekommt, verdeckt das alltägliche Reden über den Tod laut Heidegger außerdem die zeitliche Unbestimmtheit des Todes. Die Analyse der alltäglichen Todesauffassung des Daseins und deren ›Destruktion‹ ergibt laut Heidegger nun folgenden vollständig erarbeiteten existenzial-ontologischen Begriff des Todes: »Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins.« (SZ 258 f.) Wie das Existieren im Man das Sein zum Ende beständig verdeckt, wurde aufgezeigt – doch wie, so fragt Heidegger selbst, gestaltet sich nun ein eigentliches Sein zum Tode? Dieses müsste auf ein Verfügenwollen über den Tod radikal verzichten, d. h. ihn als ausgezeichnete Möglichkeit anerkennen und nicht als ›etwas‹ begreifen, das verwirklicht oder auch nur berechnet werden kann. 9 Im eigentlichen Sein zum Tode »muß die Möglichkeit ungeschwächt als Möglichkeit verstanden, als Möglichkeit ausgebildet und im Verhalten zu ihr als Möglichkeit ausgehalten werden« (SZ 261). Ein solches Sein zum Tode, welches ihn als Möglichkeit enthüllt, nennt Heidegger bekanntlich Vorlaufen. Dieses erschließe – indem es den Tod als eine Möglichkeit erhält, die in keiner Verwirklichung durch besorgendes Dasein ›aufgeht‹ – das eigene Ende nun gerade als das, was es ist: als die »Unmöglichkeit der Existenz überhaupt« (SZ 262), die »Möglichkeit der Unmöglichkeit jeglichen Verhaltens zu …« (SZ 262). Indem das Vorlaufen zum Tode diesen nicht als ein Geschehnis erwartet, das aus der Welt her auf das Dasein zukommt, sondern vielmehr als die »Möglichkeit der Unmöglichkeit« des Daseins als In-derWelt-sein schlechthin, erweist sich das Aushalten dieser möglichen Unmöglichkeit nach Heidegger nun als ein Zusichkommen des Daseins in seinem je eigenen, eigentlichen Seinkönnen als solchem: Nicht diese oder jene konkrete Möglichkeit tritt hier in den Blick, sondern im Bezogensein auf die unüberholbare letzte Möglichkeit wird Dasein als Möglichsein generell offenbar, d. h. als Seiendes, das in seinem existenzial verstandenen Möglichsein spezifische existenzielle Möglichkeiten ergreifen und realisieren kann. Indem der existenzial verstandene Tod sich nicht als ›letztes Stück‹ eines Weges, auch nicht als noch fehIm Selbstmord wird der radikale Möglichkeitscharakter des Todes gerade vernichtet, weil der Tod hier vom Dasein selbst aktiv verwirklicht wird; vgl. dazu GA 20, 439.

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lendes Teil für ein zusammengesetztes Ganzes präsentiert, »konstituiert« er laut Heidegger »die Ganzheit des Daseins von vornherein, so daß es erst aus dieser Ganzheit das Sein jeweiliger Teile, d. h. möglicher Weisen zu sein, hat« (GA 20, 432). 10 Hier bietet sich ein Seitenblick auf Heideggers spätere Thematisierung eines ursprünglichen, eigentlichen Geschichtlichseins des Daseins an, 11 weil dort explizit diskutiert wird, inwieweit die konkreten, sich dem Dasein eröffnenden Möglichkeiten stets begrenzte, dem Dasein in seiner Geworfenheit vorgegebene sind: »Die Entschlossenheit, in der das Dasein auf sich selbst zurückkommt, erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt.« (SZ 383) Dieses Übernehmen der überlieferten Möglichkeiten – das Heidegger auch als »Wiederholung einer überkommenen Existenzmöglichkeit« (SZ 385) 12 charakterisiert – bringe das Dasein dann in die »Einfachheit seines Schicksals« (SZ 384), welches vor dem Hintergrund des fundamentalen Mitseins stets das Geschick einer bestimmten Generation darstelle. In der Thematisierung der Geschichtlichkeit scheint sich so auf den ersten Blick ein Konflikt zwischen Entwurf und Geworfenheit anzudeuten. Heidegger hebt aber eindeutig die zentrale Stellung des Vorlaufens hervor, wenn er betont: »Das eigentliche Sein zum Tode […] ist der verborgene Grund der Geschichtlichkeit des Daseins.« (SZ 386) 13 Vgl. hierzu die Ausführungen zur ›Metaphysik des Todes‹ von Simmel und die Überlegungen Schelers zu ›Tod und Fortleben‹. Simmel hebt explizit eine »formgebende Bedeutung des Todes« für das Leben hervor: »Jeder Schritt des Lebens zeigte sich nicht nur als eine zeitliche Annäherung an den Tod, sondern als durch ihn, der ein reales Element des Lebens ist, positiv und a priori geformt.« (Georg Simmel, »Zur Metaphysik des Todes«, in: Logos 1 (1910), 57–70, hier: 60) Auch bei Scheler wird der Tod als apriorisches Moment begriffen, welches das menschliche Leben von Beginn an prägt; vgl. Max Scheler, »Tod und Fortleben«, in: ders. 1957, 11–64, hier: 22. Zudem lassen sich hier Beschreibungen einer alltäglichen Verdrängung des Todes finden, die Heideggers Charakterisierung der Todesauffassung im Man sehr ähneln. 11 Dabei wirft Heidegger noch einmal die Frage nach dem Ganzsein des Daseins auf und bemerkt, die Todesanalyse habe schließlich nur das eine ›Ende‹ des Daseins im Blick gehabt. 12 ›Wiederholung‹ ist hier eher im Sinne einer Erwiderung gemeint, nicht als bloßes ›Wiederhervorholen‹ eines einst einmal Gewesenen; vgl. SZ 386. 13 Weil die Geworfenheit – und somit auch die ›Geschicklichkeit‹ des Daseins – hier also dem grundlegenden Zum-Ende-Sein des Daseins ›untergeordnet‹ wird, soll es an dieser Stelle bei einem kurzen Hinweis auf die Geschichtlichkeit des Daseins bleiben. Zur radikalen Umakzentuierung des Verhältnisses zwischen einzelnem Selbst und Geschick 10

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Dieses Sein zum Tode als ein Vorlaufen zeichnet sich nun insgesamt durch einen ›Zerfall‹ der innerweltlichen Bezüge aus. Besonders deutlich tritt die Wendung vom Innerweltlichen hin zum In-derWelt-sein überhaupt in den Blick, wenn Heidegger die spezifische Befindlichkeit des Vorlaufens thematisiert. Tatsächlich erschlossen ist die Geworfenheit in das Sein zum Ende nach Heidegger in der Angst: »Das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst.« (SZ 266) Entsprechend lasse das Man »den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen« (SZ 254). Indem Heidegger diese ausgezeichnete Befindlichkeit – unter dem deutlichen Einfluss Kierkegaards 14 – konsequent von der Furcht unterscheidet, vermag er mit der Angst eine Gestimmtheit aufzuzeigen, welche nicht einzelnes Begegnendes erschließt, sondern Weltlichkeit überhaupt und somit das ›nackte‹ In-Sein schlechthin. 15 Bevor diese Stimmung näher interpretiert wird, soll jedoch der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Bestimmung des Todes als einer ausgezeichneten Möglichkeit sich als problematisch erweisen könnte. Neben der auffallend knappen Behandlung des Todes Anderer hat vor allem diese Fassung des Todes als einer Möglichkeit – u. a. bei Sartre, Buber und Lévinas – scharfe Kritik hervorgerufen. 16

und der Rolle dieser ›Umwertung‹ bei Heideggers NS-Engagement siehe den entsprechenden Abschnitt in Teil II dieser Arbeit. 14 Vgl. GA 20, 404. An dieser Stelle nennt Heidegger neben Kierkegaards Der Begriff der Angst außerdem Schriften Augustinus’ und Luthers. Er betont jedoch, dass all diese früheren Betrachtungen zur Angst diese als »psychologisches Problem«, nicht als ein Existenzial, gefasst hätten; vgl. GA 20, 405. 15 Aufgrund des ausgezeichneten Erschließungscharakters der Angst kann Heidegger schließlich behaupten: »[…] alle Furcht gründet in der Angst.« (GA 20, 393); vgl. zu dieser Fundierung auch SZ 186 und 189, wo Heidegger die Furcht als an die Welt verfallene, uneigentliche Angst bezeichnet. 16 Siehe Sartres Kritik in Das Sein und das Nichts und Lévinas’ Ausführungen in Die Zeit und der Andere. Mit Heideggers Todesanalyse setzt letzterer sich außerdem ausführlich auseinander in Gott, der Tod und die Zeit. Gegen Heidegger betont Lévinas in der ersten Schrift vor allem die radikale Infragestellung des seiner selbst und der Dinge qua Erkennen mächtigen Subjekts, in der zweiten stellt er in Abgrenzung zu Sein und Zeit die These auf, der Tod des Anderen sei »der erste Tod«; vgl. Lévinas 2003, 42 ff. und Emmanuel Lévinas, Gott, der Tod und die Zeit, aus dem Franz. übers. von Astrid Nettling und Ulrike Wasel, Wien 1996, 53. Zu Lévinas’ Kritik an Heideggers Todesanalyse siehe außerdem Branko Klun, Das Gute vor dem Sein. Levinas versus Heidegger, Frankfurt a. M. u. a. 2000, 162 f.

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1.2.2

Der Tod als Möglichkeit und sein beständiger Aufschub

Als dem Phänomen des Todes unangemessen ließe sich dessen Bestimmung als Seinsmöglichkeit des Daseins deshalb begreifen, weil die Rede von der ›Möglichkeit‹ doch auf ein existenziales ›Können‹ zu verweisen scheint. Doch ist der Tod nicht gerade der Moment, wo alles ›Ich kann‹ aussetzt? 17 Buber geht in Das Problem des Menschen kurz auf Heideggers Todesanalyse ein – die er als »eins der kühnsten und tiefsinnigsten Kapitel« (W I, 361) von Sein und Zeit bezeichnet – und formuliert folgende Kritik: Heidegger erkenne eine ganz andersartige Beschaffenheit des nicht-daseinsmäßig Seienden letztlich nicht an bzw. stelle diese immer schon in das Licht des Daseins. 18 Im Tod aber, so Buber, steht mir eine reale Macht entgegen, die als solche nicht in die Strukturverfassung des Daseins integriert werden darf. 19 Indem Heidegger das Sterbenkönnen im Sinne der Selbsttötung gerade als Vernichtung des Möglichkeitscharakters des Todes sieht, gesteht er jedoch selbst ein, dass jegliche Formulierung eines ›Ich kann sterben‹ seinem existenzialen Todesbegriff nach gerade keine Kontrolle über den Tod meinen kann. Es muss, um Heidegger hier eingehender zu interpretieren, noch einmal darauf verwiesen werden, warum er so vehement den Möglichkeitscharakter des Todes hervorhebt. Der Grund ist, dass er jegliche Rede vom Tod als purer, nicht zu leugnender ›Realität‹ oder ›Wirklichkeit‹ als uneigentliche Rede begreifen muss, nämlich als eine Vorstellung vom Tod, die sich der Terminologie der – von Heidegger so vehement kritisierten – ›Vorhandenheitsontologie‹ bedient. 20 Heidegger betont also den Möglichkeitscharakter, um den Tod vor jeglicher ›VerZu einer Analyse der Rede vom ›Können‹ in Bezug auf die Todesinterpretation Heideggers siehe Thomä 1990, 380 ff. 18 Ähnlich fällt auch die Kritik von Sternberger aus, der gegen Heidegger die Härte des Todes als eines meiner Macht entzogenen Ereignisses betont; siehe Adolf Sternberger, Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzial-Ontologie, Leipzig 1934, 133. 19 Allerdings charakterisiert er Heideggers Todesbegriff in einer Weise, welche die eigentliche Pointe der Analyse in Sein und Zeit vollkommen zu übersehen scheint: Buber präsentiert den Tod im Sinne Heideggers als bloßen Endpunkt, dessen konstruktive Bedeutung für jeden Augenblick des gelebten Lebens nicht deutlich werde; vgl. W I, 361. 20 Zum radikalen Umsturz der Hierarchie bezüglich Wirklichkeit und Möglichkeit bei Heidegger und der dabei zentralen Stellung der Todesanalyse siehe Wolfgang MüllerLauter, Möglichkeit und Wirklichkeit bei Martin Heidegger, Berlin 1960. 17

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dinglichung‹ zu schützen. Die alltägliche Rede »spricht vom Tode als ständig vorkommendem ›Fall‹. Sie gibt ihn aus als immer schon ›Wirkliches‹ und verhüllt den Möglichkeitscharakter und in eins damit die zugehörigen Momente der Unbezüglichkeit und Unüberholbarkeit.« (SZ 253) Somit soll die Hervorhebung des Möglichkeitscharakters des Todes diesen gerade in seiner Nicht-Planbarkeit, Nicht-Berechenbarkeit, d. h. Nicht-Verfügbarkeit enthüllen. 21 Das heißt dann schließlich: Der Tod ist einer Mächtigkeit des Daseins gerade entzogen. Doch blendet Heidegger unaufhörlich den Möglichkeitscharakter des Todes im Sinne seines Ungegenständlichseins und den fundamentalen Möglichkeitscharakter des Daseins, das wesentlich als ein Seinkönnen bestimmt ist, ineinander und dies verhindert gerade, dass der Tod als ›etwas‹ das Dasein von einem unverfügbaren ›Außen‹ her Begrenzendes enthüllt wird (wie ihn u. a. die Heidegger-Kritiker Buber und Lévinas auffassen). 22 So legen dann Bemerkungen wie die folgende durchaus eine deutliche ›Aktivität‹ des Daseins im Sein zum Tode nahe: »Die eigenste, unbezügliche Möglichkeit ist unüberholbar. Das Sein zu ihr läßt das Dasein verstehen, daß ihm als äußerste Möglichkeit der Existenz bevorsteht, sich selbst aufzugeben.« (SZ 264) Heidegger sieht also offensichtlich keinen anderen Weg als die Betonung eines fundamentalen Möglichkeitscharakters des Todes, um das Sein des Daseins und sein Enden von dem eines ›Dinges‹ scharf abzugrenzen. Deshalb wird das Zu-Ende-Sein schließlich auch unauffällig in ein Zum-Ende-Sein umgedeutet, 23 welches nun ganz mit dem Tod identifiziert wird. Dieses Sein zum Ende als eine Weise zu sein lässt sich dann freilich ohne größere Schwierigkeiten als eigene Seinsmöglichkeit begreifen. 24 Jedoch geschieht durch diese Identifizierung 21 Das Besorgen hingegen »hat die Tendenz, die Möglichkeit des Möglichen durch Verfügbarmachen zu vernichten« (SZ 261). In der Todesanalyse ist also – so Thomä treffend – eine »Konservierung der Möglichkeit« angestrebt; vgl. Thomä 1990, 379. 22 So hat – dies zeigt vor allem Sternberger überzeugend auf – die heideggersche Kritik am Realitätsbegriff schließlich zur Folge, dass jegliche Widerständigkeit eines dem Dasein gegenübertretenden Seins geleugnet wird; vgl. Sternberger 1934, 93 ff. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, von welcher Perspektive aus sich der Tod als radikales Aussetzen jedes Könnens überhaupt beschreiben ließe. Letztlich bliebe nur die Möglichkeit, das Entgegentreten dieser Macht einem anderen Dasein gegenüber zu ›erfahren‹ und danach von diesem Widerfahrnis Zeugnis abzulegen. 23 Vgl. etwa SZ 250. 24 Vgl. zu diesem Ansatz, den Möglichkeitscharakter des Todes durch die Auflösung in eine Seinsweise zu erklären, Thomä 1990, 394.

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Folgendes: Der Tod selbst als das tatsächliche Ende des Daseins wird beständig aufgeschoben. Wenn das Ende das Enden ist, dann ist der Tod als Möglichkeit des Daseins gerade nicht die Unmöglichkeit der Möglichkeit, sondern eben die im Dasein selbst nie ›realisierte‹ Möglichkeit der Unmöglichkeit. Thomä formuliert diese Konsequenz eindringlich, wenn er konstatiert: »Heidegger bringt das Selbst vor den Tod, ohne ihn eintreten zu lassen.« 25 1.2.3

Die Angst als Erschlossenheit von Unheimlichkeit und Unzuhause

In § 30 von Sein und Zeit thematisiert Heidegger die Furcht26 als eine Befindlichkeit, welche Innerweltliches – Zuhandenes, Vorhandenes oder Mitdasein – als ›Bedrohliches‹ erschließt. 27 Während die Furcht also stets auf etwas aus der Welt her Begegnendes, in bestimmte Verweisungszusammenhänge Eingeordnetes geht, verliert im Sichängstigen das Innerweltliche nach Heidegger jegliche Bedeutung. Die vertraute Bewandtnisganzheit, so Heidegger, »sinkt in sich zusammen. Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit.« (SZ 186) Das Wovor der Angst ist demnach vollkommen unbestimmt und lässt sich nicht greifen, während auf der anderen Seite jedes Innerweltliche nach Heidegger letztlich erfasst und bestimmt werden kann. Offenbar wird in der Angst, die das Dasein ganz plötzlich und ihrem ›Wesen‹ nach

Thomä 1990, 401. Bemerkenswert ist dabei, dass die Heidegger oftmals unterstellte Heroisierung des Todes sich nun geradezu als dessen Verdrängung entpuppt, was politisch ebenso brisant sein mag wie der Aufruf zum mutigen Opfertod; siehe Thomä 1990, 402. Zum Vorwurf des ›Heroismus‹, der in Heideggers recht pathetischer Schilderung der Selbstwerdung »in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstigenden Freiheit zum Tode« durchaus anklingt, vgl. exemplarisch Birkenstock 1997, 155 ff. sowie Anton Hügli/Byung-Chul Han, »Heideggers Todesanalyse (§§ 45–53)«, in: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«, hrsg. von Thomas Rentsch, Berlin 2001, 133–148, hier: 147. 26 Für die heideggersche Analyse der Furcht sind Aristoteles’ Ausführungen in der Rhetorik zentral; Heidegger liefert vor allem in der Vorlesung vom SS 1924 ausführlichere Interpretationen zum ybo@. 27 Wobei die Einreihung anderen Daseins unter das Zu- und Vorhandene sich hier erneut als problematisch erweist, denn die Bedrohung durch einen Anderen unterscheidet sich doch deutlich von der Bedrohlichkeit irgendwelcher ›Gegenstände‹ oder auch der anderer Lebewesen. 25

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gerade un-vermittelt überfällt, 28 somit ein spezifisches ›Nichts und Nirgends‹ – nichts Konkretes löst die Angst aus, von keinem bestimmbaren Ort her nähert sich hier ›etwas‹ dem Dasein an. Dieses ›Nichts‹ – hier liegt gerade die Pointe der Angstanalyse – erweist sich aber nach Heidegger nicht als ein »totales Nichts«, sondern die Angst erschließt das »ursprünglichste ›Etwas‹« überhaupt, welches strenggenommen – dies deuten die Anführungszeichen an – gar nicht als ein ›Etwas‹ verstanden werden darf, weil es selbst erst den Raum für das Begegnen jedes konkreten ›Etwas‹ eröffnet: Welt als Welt. 29 Die vollkommene Unbedeutsamkeit, »die sich im Nichts und Nirgends bekundet, bedeutet nicht Weltabwesenheit, sondern besagt, daß das innerweltlich Seiende an ihm selbst so völlig belanglos ist, daß auf dem Grunde dieser Unbedeutsamkeit des Innerweltlichen die Welt in ihrer Weltlichkeit sich einzig noch aufdrängt.« (SZ 187)

In »Was ist Metaphysik?« von 1929 eröffnet die Frage nach dem ›Wesen‹ des in der Angst erschlossenen ›Nichts‹ entsprechend den Blick auf das »Nichten« des Nichts als »Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein« (GA 9, 115). 30 Mit dem Bedeutungsloswerden des Innerweltlichen geht nun konsequenterweise einher, dass Dasein in der Welt keinen Anhaltspunkt mehr hat, sich selbst von ihr bzw. dem in ihr Begegnenden her auszulegen – sich für die eigene Deutung an Innerweltlichem zu orientieren. Somit zeigt sich auch in der zum Vorlaufen in den Tod gehörenden Gestimmtheit ein radikales Zurückgeworfensein des Daseins auf sich selbst. Die Angst vor dem Tod ist demnach »Angst ›vor‹ dem eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Seinkönnen. Das Wovor dieser Angst ist das In-der-Welt-sein selbst. Das Worum dieser Angst ist das Sein-können des Daseins schlechthin.« (SZ 251)

28 Heidegger: »Die ursprüngliche Angst kann jeden Augenblick im Dasein erwachen. Sie bedarf dazu keiner Weckung durch ein ungewöhnliches Ereignis.« (GA 9, 118) 29 Vgl. SZ 187. ›Erschließen‹ heißt hier nicht (zwangsläufig) ›begreifen‹. 30 Als Stimmung, in der das ›im Ganzen‹ des Seienden ebenfalls erschlossen ist, nennt Heidegger hier zudem die »tiefe Langeweile« (›es ist einem langweilig‹); vgl. GA 9, 110. In der Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik vom WS 1929/30 löst diese Form der Langeweile schließlich die Angst als ausgezeichnete Stimmung ab. Auffällig ist dabei eine deutliche ›Totalisierungstendenz‹, denn die einzelnen Momente des gesamten Phänomens der angstbereiten, vorlaufenden Entschlossenheit finden sich hier in dieser einen Grundgestimmtheit versammelt; vgl. GA 29/30, 205 f. und 216.

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Das sich ängstigende Vorlaufen lässt sich also insgesamt beschreiben als ein Aussetzen des Be-deutens, als ein Bezogensein auf etwas, das im strengen Sinne gerade kein ›Etwas‹ ist. 31 Somit lässt die Analyse des Todes Phänomene offenbar werden, welche in gewissem Sinne die Struktur der Intentionalität sprengen bzw. sich ihr nicht einordnen lassen. Die vertrauten Bezüge sind hier zerfallen, an nichts Innerweltliches kann ›man‹ sich in der Angst noch klammern: »[…] das In-derWelt-sein wird in der Angst zu einem völligen ›Nicht-zu-Hause‹ schlechthin.« (GA 20, 400) Das In-Sein, so Heidegger in Sein und Zeit, kommt in der Angst »in den existenzialen Modus des Un-zuhause« (SZ 189). Heißt das aber, dass die fundamentale Ökonomie des Daseins, wie sie in Abschnitt II aufgewiesen wurde, nun grundsätzlich in Frage gestellt wird? So behauptet Heidegger schließlich: »Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zuhause muß existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden.« (SZ 189) Es zeigte sich jedoch in den eben präsentierten Ausführungen zur Angst, dass allein der vertraute Umgang mit Innerweltlichem sowie das durchschnittliche Verstehen im Man in der Angst gleichsam aussetzen. Dem Auftreten von Störungen im Umgang mit Zuhandenem entsprechend lässt aber dieser Ausfall alltäglich-vertrauter Bedeutsamkeit gerade die grundlegende Verfasstheit des Daseins – sein In-der-Welt-sein – nur umso deutlicher hervortreten. Das heißt: In der Unheimlichkeit steht das fundamentale Vertrautsein mit Welt im ursprünglichsten Sinne nicht in Frage, sondern wird als Seinsverfassung des Daseins gerade offenbar. Was in der Angst unmöglich wird, ist die Einordnung des Daseins selbst ›in die Welt‹ bzw. die Deutung des eigenen Seins ›aus der Welt her‹ – diese bietet keine Heimstatt mehr für einen beruhigenden Aufenthalt unter anderem Seienden. Die Ordnungsstruktur selbst – Welt als Weltlichkeit – jedoch tritt gerade in ihrer bloßen ›Nacktheit‹, d. h. Offenheit für jegliche konkreten Entwürfe des Daseins hervor. Dies ist unheimlich, weil sich die Welt als Eröffnung jeder spezifischen In Einführung in die phänomenologische Forschung betont Heidegger, dass Stimmungen nicht als Intentionalität gefasst werden dürften. Indem er hier vor allem die Angst im Blick hat, legt er zugleich nahe, dass es in besonderem Maße diese Stimmung ist, die niemals als ein Sich-auf-etwas-Richten begriffen werden kann, weil sie gerade das Entgleiten eines jeden ›Etwas‹ darstellt; vgl. GA 17, 288.

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Ordnung nicht selbst wieder in ein bestimmtes System einordnen lässt, weil Weltlichkeit selbst als Horizont des jeweils konkret Begegnenden sich nicht ›greifen‹ lässt wie Zuhandenes oder analysieren wie Vorhandenes. Dass Heidegger hier demnach nicht das grundlegende Zuhausesein des Daseins als In-Sein überhaupt in Frage stellt, sondern das gesteigerte Zuhausesein im Man, wird allerdings in Sein und Zeit selbst deutlich, wenn Heidegger betont: »Die verfallende Flucht in das Zuhause der Öffentlichkeit ist Flucht vor dem Unzuhause, das heißt der Unheimlichkeit, die im Dasein als geworfenen, ihm selbst in seinem Sein überantworteten In-der-Welt-sein liegt.« (SZ 189) In der Abhandlung »Der Begriff der Zeit« (1924) heißt es zudem: »Das einem Unheimlichsein ist die privative Seinsart des ›zu Hause‹, d. h. eine mögliche Seinsweise des Inseins.« (GA 64, 42) 32 Allerdings verweist die Angstanalyse – und die nun folgenden Interpretationen von Gewissensruf und ursprünglichem Schuldigsein werden dies vertiefen – auf eine deutliche Irritation der Souveränität des Daseins in diesem fundamentalen In-Sein selbst, insofern Dasein über dieses nicht in der Weise verfügt, wie es über Innerweltliches verfügen kann, das aus der stets vorentworfenen Welt als Horizont jeglicher konkreten Umwelt her begegnet. 1.2.4

Das angstbereite Vorlaufen als ursprünglichste Selbstgewissheit: sum moribundus statt cogito sum

Im angstvollen Bezogensein auf den Tod als eigenste, unüberholbare Möglichkeit kommt das weltentwerfende Dasein nach Heidegger auf sich selbst, auf sein eigenstes Seinkönnen zurück. Im Vorlaufen wird sich das Dasein also seiner selbst gewiss – oder besser: Es ist sich selbst 32 Auffallend ist eine deutliche Nähe zwischen der heideggerschen Unheimlichkeit und der Interpretation dieses Phänomens durch Sigmund Freud: Das Unheimliche ist hier – in der psychoanalytischen Deutung – das Heimische-Heimliche, das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist. Vom Man aus gesehen ist das Unheimliche der Angst genau das: ein Aufscheinen des ursprünglichen Zuhauseseins in der Welt, welches jedoch nicht die Sicherheit der im Erkennen oder Hantieren zugänglichen und verlässlichen ›Dinge‹ bietet, und deshalb im durchschnittlichen Orientieren in der Welt zunächst ›übersehen‹ wird. Vgl. zum Bezug zwischen Unheimlichkeit bei Heidegger und Freud Michael Düe, Ontologie und Psychoanalyse. Metapsychologische Untersuchung über den Begriff der Angst in den Schriften Sigmund Freuds und Martin Heideggers, Frankfurt a. M. 1986.

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erschlossen. Insofern lässt sich das Ergebnis von Heideggers existenzialontologischer Analyse des Todes durchaus als Variante jener traditionellen philosophischen Konzeptionen lesen, welche die Ermöglichung des (erkennenden wie praktischen) Zugangs zu allem andersartig Seienden im diesem Zugang ›vorausliegenden‹ Selbstbewusstsein des Erkenntnissubjekts gründen lassen. Tatsächlich hebt Heidegger in Sein und Zeit ausdrücklich hervor, dass der Ermöglichungsgrund jeder anderen Form von Gewissheit in der ursprünglichen, nicht-empirischen Gewissheit 33 des eigenen Todes liege: »Das Für-wahr-halten des Todes […] zeigt eine andere Art und ist ursprünglicher als jede Gewißheit bezüglich eines innerweltlich begegnenden Seienden oder der formalen Gegenstände; denn es ist des In-der-Welt-seins gewiß. Als solches beansprucht es nicht nur eine bestimmte Verhaltung des Daseins, sondern dieses in der vollen Eigentlichkeit seiner Existenz. Im Vorlaufen kann sich das Dasein erst seines eigensten Seins in seiner unüberholbaren Ganzheit vergewissern. Daher muß die Evidenz einer unmittelbaren Gegebenheit der Erlebnisse, des Ich und des Bewußtseins notwendig hinter der Gewißheit zurückbleiben, die im Vorlaufen beschlossen liegt. Und zwar nicht deshalb, weil die zugehörige Erfassungsart nicht streng wäre, sondern weil sie grundsätzlich nicht das für wahr (erschlossen) halten kann, was sie im Grunde als wahr ›dahaben‹ will: das Dasein, das ich selbst bin und als Seinkönnen eigentlich erst vorlaufend sein kann.« (SZ 265)

Ein Zweifelsweg Descartes’, eine transzendentale Reduktion Husserls führen nach Heidegger demnach zu einer Form der Selbstgewissheit, die nicht ursprünglich ist. 34 Es geht Heidegger also ausdrücklich nicht darum, die Möglichkeit einer Fundierung jeglicher Erschlossenheit in der Selbsterschlossenheit des ›Subjekts‹ in Frage zu stellen, doch diese Selbsterschlossenheit ist seinem Grundansatz nach eben nicht die eines ›reinen Ich‹, sondern die des »faktischen Subjekts« (SZ 229; Hervorhebung M. S.), genannt ›Dasein‹. Heidegger führt die Tendenz der

Letztlich sprengt die spezifische Gewissheit des Todes nach Heidegger das Schema ›empirische Erkenntnis vs. apodiktische Evidenz‹ generell, weil das Gewiss-sein des Todes »überhaupt nicht in die Abstufungsordnung der Evidenzen über Vorhandenes« hineingehöre; siehe SZ 264 f. 34 Zu einer ausführlicheren Diskussion der Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Ansatz Husserls und Descartes’ siehe bei Heidegger selbst GA 17, 254 ff. Merker deutet die Konzeption der Uneigentlichkeit als Transformation der ›natürlichen Einstellung‹ im Sinne Husserls, die Gewinnung der Eigentlichkeit dementsprechend als Transformation der husserlschen transzendentalen Reduktion; vgl. Merker 1988, 164 sowie 169 f. 33

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Neuzeit, im ›Ich‹ das ›Fundament‹ jeglicher Gewissheit zu suchen, also augenscheinlich gerade zu Ende. Sehr deutlich wird diese Tendenz bereits in den Prolegomena vom SS 1925, wenn Heidegger unmittelbar an Descartes’ cogito anschließt: »Diese Gewißheit, daß ich es selbst bin in meinem Sterbenwerden, ist die Grundgewißheit des Daseins selbst und ist eine echte Daseinsaussage, während das cogito sum nur der Schein einer solchen ist. Wenn solche zugespitzten Formeln überhaupt etwas besagten, müßte die angemessene und das Dasein in seinem Sein betreffende Aussage lauten: sum moribundus, und zwar nicht moribundus als Schwerkranker oder Verwundeter, sondern sofern ich bin, bin ich moribundus – das moribundus gibt dem sum allererst seinen Sinn.« (GA 20, 437 f.) 35

Heideggers Bestimmung des sum moribundus als ursprünglichere Deutung neuzeitlicher sowie zeitgenössischer Selbstbewusstseinskonzeptionen trägt also zweifelsohne innovative – sich von wesentlichen Motiven traditioneller Entwürfe radikal abgrenzende – Momente in sich. Heidegger nimmt aber auch deutliche Anleihen bei der Tradition, die gerade überwunden werden soll. Die Abgrenzung besteht einmal in einer Betonung der Begrenztheit – Endlichkeit – des seiner selbst gewissen Daseins; gerade in der Gewissheit, keine dauerhafte Präsenz zu haben, und nicht in der Versicherung der ›Teilhabe‹ an einer Sphäre ›immerwährenden Seins‹ liegt bei Heidegger die Wahrheit der Existenz, die alle anderen ›Wahrheiten‹ ermöglichen soll. 36 35 Zur Gegenüberstellung von cogito sum und moribundus sum siehe Jean-François Courtine, »Voix de la conscience et vocation de l’être«, in: ders., Heidegger et la phénoménologie, Paris 1990, 305–325. 36 Dass diese ›Wahrheiten‹ nach Heidegger kein ›immerwährendes Gelten‹ meinen können, wird somit noch einmal deutlich. Welche Schwierigkeiten dies für die Begründung objektiver Geltung im Bereich der Mathematik und Logik mit sich bringt, liegt auf der Hand. Heidegger selbst geht dieser Frage bewusst nicht nach: »Der Ursprung der Wissenschaft aus der eigentlichen Existenz ist hier nicht weiter zu verfolgen.« (SZ 363) Siehe dazu Apels aufschlussreichen Beitrag zu Heideggers Abgrenzung von jeglichem ›Bedeutungsplatonismus‹ : Karl-Otto Apel, »Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung? (Existenzialismus, Platonismus oder transzendentale Sprachpragmatik?)«, in: Vernünftiges Denken. Studien zur praktischen Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. von Jürgen Mittelstraß und Manfred Riedel, Berlin/New York 1978, 407–419. Apel schließt einerseits an Heideggers »Endlichkeitsthese« an und begreift den Tod als Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung überhaupt, fragt andererseits aber kritisch, inwieweit mit Heidegger auch die Bedingung der Möglichkeit einer »zeitunabhängigen und schlechthin intersubjektiven Geltung« beantwortet werden könne; vgl. Apel 1978, 413.

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Außerdem wird die rein theoretisch gefasste oder am Modell theoretischen Erkennens ausgerichtete Selbst-Habe als »künstliche Selbsterfassung« (SZ 185) entlarvt. Entsprechend hat Heidegger, wenn er vor Sein und Zeit von der Unheimlichkeit des Daseins spricht, meist traditionelle Auslegungen menschlichen Daseins als Subjekt, Bewusstsein oder res cogitans im Blick und beschreibt diese Konzeptionen als Flucht vor dem eigentlichen Dasein. Macht er in Einführung in die phänomenologische Forschung (WS 1923/24) etwa als Motivation für Husserls Hinwendung zum reinen Bewusstsein eine »Sorge um erkannte Erkenntnis« aus, so charakterisiert er diese sogleich als Ausdruck des Wunsches, »im Seienden heimisch zu werden, in ihm selbst zu Hause zu sein in der Weise des gesicherten Daseins« (GA 17, 289). Als ›traditionell‹ an der von Heidegger mit dem angstvollen Vorlaufen charakterisierten Rückzugsbewegung auf das Selbst erscheint nun jedoch die mit der Suche nach einem ›sicheren Fundament‹ jeglichen Wissens zumeist einhergehende ›Vereinzelung‹ des Ich bzw. hier des je eigenen Daseins, welche das Bedeutungsloswerden der Welt – d. h. der Dinge und auch der Anderen – wesentlich mit sich bringt. Heidegger: »Die ›Welt‹ vermag nichts mehr zu bieten, ebensowenig das Mitdasein Anderer.« (SZ 187) Weiter: »Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein« (SZ 187). Noch prägnanter: »Die Angst vereinzelt und erschließt so das Dasein als ›solus ipse‹.« (SZ 188) Konsequenterweise kann Heidegger diesen »existenzialen ›Solipsismus‹« (SZ 188) nicht als vollkommene Isolierung des Daseins verstehen. Keineswegs solle im angstbereiten Vorlaufen ein »isoliertes Subjektding in die harmlose Leere eines weltlosen Vorkommens« (SZ 188) versetzt sein. Das Dasein sei »vereinzelt«, dies aber »als In-derWelt-sein« (SZ 189) – so heißt es ausdrücklich. Noch deutlicher wird Heidegger mit folgender Bemerkung: »Das Versagen des Besorgens und der Fürsorge bedeutet […] keineswegs eine Abschnürung dieser Weisen des Daseins vom eigentlichen Selbstsein. Als wesenhafte Strukturen der Daseinsverfassung gehören sie mit zur Bedingung der Möglichkeit von Existenz überhaupt.« (SZ 263) Doch auch wenn Dasein im Sterben »wesensmäßig In-der-Weltsein und Mitsein mit Anderen« sein soll – Heidegger betont explizit, dass sich das Da-sein »jetzt gerade eigentlich erst in das ›Ich bin‹« verlege: »Erst im Sterben kann ich gewissermaßen absolut sagen ›ich

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bin‹.« (GA 20, 439 f.) 37 Es drängt sich also durchaus die Frage auf, inwiefern die Bestimmung des In-der-Welt-seins als Existenzial sich mit einer solchen Konzeption eigentlichen Selbstseins als existenzialer ›Vereinzelung‹ überhaupt sinnvoll verbinden lässt.

1.3 Die existenziale Analyse des Gewissens 1.3.1

Das Gewissen als Bezeugung eigentlichen Wählenkönnens

Mit seiner existenzial-ontologischen Interpretation der Stimme des Gewissens sucht Heidegger nun ein Phänomen aufzuzeigen, das sich als eine tatsächliche Bezeugung der im Vorlaufen lediglich als Möglichkeit präsentierten Eigentlichkeit des Daseins offenbart: 38 Es gelte nach37 Entsprechend Hügli und Han: »Hier spricht das Rest-Subjekt, das Heidegger zum Zeitpunkt von Sein und Zeit nicht abzustreifen vermochte.« (Hügli/Han 2001, 146) Hingegen knüpft Nancy bei seiner Suche nach einer Konzeption von Gemeinschaft, die nicht als bloße Zusammenkunft oder Verschmelzung von Subjekten gedacht ist, direkt an Heideggers Todesanalyse an, auch wenn er eingesteht, dass das »›Sein zum Tode‹ des Daseins nicht bis in letzter Konsequenz in sein Mitsein impliziert ist«; vgl. Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, aus dem Franz. übers. von Gisela Febel und Jutta Legueil, Stuttgart 1988, 37. 38 Indem Heidegger das Gewissen in seiner existenzialen Dimension deutet, werden wie bei der Interpretation des Todes psychologische, theologische oder moralphilosophische Deutungen auf ein ursprünglicheres Phänomen verwiesen. Inwieweit Heidegger in der aristotelischen phronesis das Phänomen eines ursprünglich begriffenen Gewissens sieht, kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Eine solche ›Identifizierung‹ belegt vor allem eine Stelle aus der Sophistes-Vorlesung. Heidegger betont hier: »Die yrnhsi@ ist nichts anderes als das in Bewegung gesetzte Gewissen, das eine Handlung durchsichtig macht.« (GA 19, 56) Allerdings darf diese Bemerkung nicht vorschnell mit der Gewissensanalyse in Sein und Zeit in Einklang gebracht werden. Sieht man zudem auf Heideggers Übersetzung von ›yrnhsi@‹ im sog. »Natorp-Bericht« – »fürsorgende Umsicht« – wird deutlich, dass zwar die Bezogenheit auf einen nicht-theoretischen Zugang zur ›Welt‹ eine große Nähe zur Gewissensanalyse in Sein und Zeit darstellt, dass andererseits deren Grundanliegen, die Bezeugung eigentlichen Seins aufzuweisen, hier noch nicht herauslesbar ist; vgl. Martin Heidegger, »Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation)«, hrsg. von Hans-Ulrich Lessing, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, Band 6 (1989), 235–274, hier: 255. Zur yrnhsi@ in Heideggers Deutung siehe Anna P. Ruoppo, »Von Hegel zu Aristoteles. Phronesis, ethos, Ethik im frühen Denken Martin Heideggers«, in: Denker/Figal 2007, 237–254 sowie Friederike Rese, »Handlungsbestimmung vs. Seinsverständnis. Zur Verschiedenheit von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik und Heideggers Sein und Zeit«, in: Denker/Figal 2007, 170–198.

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zuforschen, »inwieweit überhaupt und in welcher Weise das Dasein aus seinem eigensten Seinkönnen her Zeugnis gibt von einer möglichen Eigentlichkeit seiner Existenz, so zwar, daß es diese nicht nur als existenziell möglich bekundet, sondern von ihm selbst fordert« (SZ 267). Da Heidegger das Gewissen als Modus der Rede präsentiert, begreift er den Gewissensruf offenkundig als Artikulation dessen, was im sich ängstigenden Vorlaufen schon unausdrücklich ›verstanden‹ ist. Schon im Vorlaufen eröffnet sich dem Dasein die Perspektive, sich der Fremdbestimmtheit durch die Anderen im anonymen Man zu entwinden und die Möglichkeit des eigenen Wählenkönnens zu erschließen. Heidegger: »Das Vorlaufen zum Tode in jedem Augenblick des Daseins bedeutet das Sich-zurückholen des Daseins aus dem Man im Sinne des Sich-selbst-wählens.« (GA 20, 440) Das Gewissen ruft nun dezidiert zu dieser Wahl auf – es fordert sie und bezeugt so nach Heidegger die Möglichkeit eines eigentlichen Selbstseinkönnens des Daseins; der Gewissensruf zeige an, dass Dasein je als ›Selbst‹ sein kann. Diese Wahl meint nun konsequenterweise nicht, sich für diese oder jene konkrete Seinsmöglichkeit zu entscheiden – für einen bestimmten Beruf, Wohnort usw. –, sondern sie bedeutet die Grundentscheidung für das eigene Wählenwollen überhaupt: »Das Sichzurückholen aus dem Man, das heißt die existenzielle Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein muß sich als Nachholen einer Wahl vollziehen. Nachholen der Wahl bedeutet aber Wählen dieser Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigenen Selbst.« (SZ 268) Der Einfluss Kierkegaards ist hier unverkennbar, und weil auch Bubers Konzeption echter Verantwortung deutliche Züge einer Kierkegaard-Rezeption aufweist, sollen dazu einige knappe Erläuterungen folgen: 39 Besonders aufschlussreich für Heideggers Verständnis eines Wählens der Wahl ist der 2. Teil von Kierkegaards Entweder – Oder, welcher mehrere fiktive Briefe einer Person B (der ›Ethiker‹) an den Adressaten A (der ›Ästhetiker‹) enthält, in deren Mittelpunkt die Thematisierung einer spezifischen Wahl steht, zu der B A auffordert. Diese Siehe zu Heideggers eigenen Verweisen auf die Bedeutung Kierkegaards für sein Denken in den 20er Jahren GA 63, 5 sowie GA 61, 182. Zur Bedeutung der Konzeption Kierkegaards für die Charakterisierung der Selbstwahl durch Heidegger siehe zudem Figal 1988, 252 ff.

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Wahl, welche der Ethiker Wilhelm seinem jungen Freund beschreibt, meint nun gerade keine Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, die sich im Leben punktuell immer wieder eröffnen, sondern eine Wahl, in der »man das Wollen wählt« 40 . Der Ästhetiker, der beständig neue Seinsmöglichkeiten erschließt und sich nie endgültig für etwas entscheidet, wählt laut Wilhelm lediglich in einem »uneigentlichen Sinne« 41 . Im haltlosen Springen des Ästhetikers von einer Möglichkeit zur nächsten, so die Diagnose des Ethikers, wird die ›eigentliche Wahl‹ also gerade unterlassen, »weil andere für ihn gewählt haben, weil er sich selbst verloren hat« 42 . Die ethische Wahl als Wahl des Wählenwollens überhaupt erschließt nun auch erst die grundlegende Differenz des Guten und Bösen; sie untersteht selbst noch nicht einer bestimmten Moral, sondern eröffnet strenggenommen erst die Möglichkeit, sich ›richtig‹ oder ›falsch‹ zu entscheiden. Eben diese grundlegende Ermöglichungsfunktion einer solchen Wahl der Wahl kommt nun auch dem Gewissensruf in Sein und Zeit zu. 43 1.3.2

Das Gewissen als schweigender Ruf der Sorge

Heidegger präsentiert den Gewissensruf zunächst als ›Unterbrechung‹ des Hörens auf das Gerede im Man: »Der Ruf bricht das sich überhörende Hinhören des Daseins auf das Man, wenn er, seinem Rufcharakter entsprechend, ein Hören weckt, das in allem gegenteilig charakterisiert ist im Verhältnis zum verlorenen Hören.« (SZ 271) Angerufen ist also das Man-selbst – doch was wird ihm mitgeteilt? Im Grunde genommen nichts: »Der Ruf sagt nichts aus, gibt keine Auskunft über Weltereignisse, hat nichts zu erzählen. […] Dem angerufenen Selbst 40 Sören Kierkegaard, Entweder – Oder. Teil I und II, unter Mitw. von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hrsg. von Hermann Diem und Walter Rest, aus dem Dän. übers. von Heinrich Fauteck, 6. Aufl., München 2000, 718. 41 Kierkegaard 2000, 715. 42 Kierkegaard 2000, 712. 43 Somit lässt sich die Gewinnung von Eigentlichkeit bei Heidegger selbst nicht als ein moralischer Akt deuten, sondern sie ermöglicht erst jegliche moralische Verhaltung. Zur lebhaften Debatte um die Frage nach einer ethischen Dimension der Eigentlichkeit siehe Andreas Luckner, »Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit (§§ 54–60)«, in: Rentsch 2001, 149–168. Luckner betont, die Konzeption der Eigentlichkeit habe nicht selbst moralische Qualität, sei aber moralphilosophisch durchaus relevant, weil der Mensch erst als eigentliches Selbst frei sei, das Gute wie das Böse zu wählen. Siehe zu diesem Thema außerdem Rese 2007.

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wird ›nichts‹ zu-gerufen, sondern es ist aufgerufen zu ihm selbst, das heißt zu seinem eigensten Seinkönnen.« (SZ 273) 44 Die Stimme des Gewissens redet also strenggenommen stimmlos und ›ohne Worte‹ – der Gewissensruf entpuppt sich bei Heidegger als ein Einbruch der Stille in das alltägliche Geschwätz und meint auch keine ›innere Mitteilung‹ im Sinne eines lautlosen Tadelns seiner selbst. Nach Heidegger kann der Ruf letztlich gar nicht zu einer tatsächlichen Verlautbarung kommen, soll er nicht von der Sphäre des Man vereinnahmt werden. 45 Obgleich er also nichts Konkretes mitteilt, sondern das Dasein vielmehr in einem reinen Anruf aufrüttelt, ist der Gewissensruf nach Heidegger aber keineswegs ›unbestimmt‹ oder ›vage‹, sondern entfaltet seine eigene, spezifische ›Eindringlichkeit‹. Allerdings könne er auch ›falsch‹ interpretiert werden – das »verhandelnde Selbstgespräch« wäre laut Heidegger mögliches Resultat eines solchen ›Verhörens‹. 46 Wer angerufen ist und was gerufen wird, das wurde bereits gefragt. Doch wer ruft hier? Auch der Rufer ist nach Heideggers Charakterisierung durch eben die auffällige ›Nicht-Fassbarkeit‹ gekennzeichnet, die den Gewissensruf insgesamt auszeichnet: Es handele sich um niemanden, der den weltlichen Bezügen eingeordnet werden könnte, der sich als diese oder jene Person vorstellt. Also, so Heidegger, kommt der Ruf eindeutig »nicht von einem Anderen, der mit mir in der Welt ist«, sondern der »Ruf kommt aus mir« (SZ 275). Aber er wird – sonst könnte er das Man-selbst niemals aufrütteln – laut Heidegger nicht geplant oder willentlich und wissentlich vollzogen: »›Es‹ ruft, wider Erwarten und gar wider Willen.« (SZ 275) ›Wo‹ aber lässt sich dieses ›Es‹ im Dasein selbst aufzeigen? Als in In dieser inhaltlichen ›Leere‹ des Rufs ließe sich durchaus eine Nähe zum Formalismus des kategorischen Imperativs sehen; siehe dazu Heideggers bemerkenswerte Interpretation des kantischen Verständnisses der Achtung in Die Grundprobleme der Phänomenologie (konkret: GA 24, 188 ff.). Heidegger deutet die Achtung als den eigentlichen Modus, »in dem sich die Existenz des Menschen offenbar wird«, und zwar »so, daß in der Achtung ich selbst bin, d. h. handele« (GA 24, 194). Weiter: »Die Achtung offenbart die Würde, vor der sich und für die sich das Selbst verantwortlich weiß. In der Verantwortlichkeit enthüllt sich erst das Selbst, und zwar das Selbst nicht in einem allgemeinen Sinne als Erkenntnis eines Ich überhaupt, sondern das Selbst als je meines, das Ich als das jeweils einzelne faktische Ich.« (GA 24, 194) 45 Denn dann bestünde sogleich die Gefahr der im Man herrschenden Zweideutigkeit; vgl. SZ § 37. 46 Vgl. SZ 274. Inwieweit sich der Gewissensruf gerade als Selbstgespräch in einem ursprünglicheren Sinne begreifen lässt, wird allerdings bald deutlich. 44

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der Welt nicht auffindbarer verweist der Rufer auf die Dimension des Unzuhause, welche – wie gezeigt – in der Angst erschlossen ist. Das Dasein in seiner fundamentalen Unheimlichkeit ruft nach Heideggers Deutung also das Man-selbst an und ruft es auf, sich aus dem Man zurückzuziehen. Der Gewissensruf entpuppt sich somit insgesamt als Ruf der Sorge, denn seine konstitutiven Momente – Rufer, Angerufener und Aufgerufener – lassen sich den drei Dimensionen der SorgeStruktur zuweisen: »[…] der Rufer ist das Dasein, sich ängstigend in der Geworfenheit (Schonsein-in …) um sein Seinkönnen. Der Angerufene ist eben dieses Dasein, aufgerufen zu seinem eigensten Seinkönnen (Sich-vorweg …). Und aufgerufen ist das Dasein durch den Anruf aus dem Verfallen in das Man (Schon-sein-bei der besorgten Welt).« (SZ 277)

Der Ruf – dies wurde schon angedeutet – kann laut Heidegger aber auch ›überhört‹ oder ›falsch‹ verstanden werden. Somit gehört offenkundig ein verstehendes Hören zum ganzen Phänomen des Gewissensrufes hinzu, ein spezifisches »Anrufverstehen«, nämlich das »Gewissen-haben-wollen« (SZ 288). 47 1.3.3

Das existenziale Schuldigsein

Heidegger gesteht ein, dass das Gewissen in der alltäglichen wie traditionellen Auslegung als Instanz begriffen wird, die auf ein Schuldigsein verweist. Ein existenzialer Begriff der Schuld sei aber bisher nicht ausgearbeitet worden. Der Prämisse folgend, dass auch im uneigentlichen Verstehen eines Phänomens Spuren eines tatsächlichen Erschlossenhabens aufscheinen, nimmt Heidegger alltägliche Auffassungen des Schuldigseins in den Blick und macht folgende grundlegende Vorstellungen aus: Schuldigsein sei zunächst im Bereich des alltäglichen Besorgens verstanden als ›Schulden haben‹ bei jemandem. Eine weitere zentrale Auslegung ziele ab auf ein Schuldigsein im Sinne des Urheberseins: Man ist schuld an etwas. Zudem könne Dasein schuldig 47 Hier von einem ›Wollen‹ zu sprechen, ist allerdings nicht unproblematisch, denn als zielgerichtetes Handeln kann das Hören auf den Gewissensruf schließlich nicht charakterisiert werden; vgl. zur Problematik um ›Aktivität‹ und ›Passivität‹ im Gewissensruf Figal 1988, 266 ff. Folgendes Zitat macht deutlich, wie Heidegger versucht, Entwurf und Geworfenheit hier zusammenzudenken: »Rufverstehend läßt das Dasein das eigenste Selbst aus seinem gewählten Seinkönnen in sich handeln.« (SZ 288)

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werden an einem Anderen, d. h. Schuld daran haben, »daß der Andere in seiner Existenz gefährdet, irregeleitet oder gar gebrochen wird« (SZ 282). Um den Bereich dieser am Besorgen und alltäglichen Miteinander orientierten Schuldverständnisse zu verlassen und zu einem existenzialen Begriff von Schuld vorzudringen, sucht Heidegger nach grundlegenderen Bestimmungen des Schuldphänomens, welche nicht an einer Auslegung des Menschen im Sinne der traditionellen – philosophischen wie theologischen – Anthropologie orientiert sind. Erneut – wie bei der Analyse von Angst, Tod und Gewissensruf – gelangt so ein spezifisches ›Nichts‹ in den Blick. Dieses wird sich im Verlauf der heideggerschen Analyse als ursprünglicher erweisen als alle konkreten Mängel und ›Leerstellen‹ im alltäglichen Besorgen. Außerdem zeigte die Interpretation ›vulgärer‹ Schuldauffassungen, dass in der Idee von Schuld die Vorstellung eines ›Grundsein für …‹ enthalten ist. Als »formal existenziale Idee des ›schuldig‹« gibt Heidegger demnach folgende Deutung vor: »Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit.« (SZ 283) Weil diese ›Nichtigkeit‹ nicht durch konkrete Vorstellungen eines Sollens oder Müssens bestimmt sein kann, soll sie einer existenzialen Dimension von Schuld zugehören, kann Heidegger behaupten: »Das Schuldigsein resultiert nicht erst aus einer Verschuldung, sondern umgekehrt: diese wird erst möglich ›auf Grund‹ eines ursprünglichen Schuldigseins.« (SZ 284) Dieses ursprüngliche Schuldigsein, das also keinerlei moralische ›Wertung‹ in sich trägt, sieht Heidegger in der Faktizität des Daseins begründet: »Seiend ist das Dasein geworfenes, nicht von ihm selbst in sein Da gebracht. Seiend ist es als Seinkönnen bestimmt, das sich selbst gehört und doch nicht als es selbst sich zu eigen gegeben hat.« (SZ 284) Da die Geworfenheit nach Heidegger kein einmaliges Ereignis meint, welches irgendwann einmal geschehen ist und anschließend vorbei war, sondern das Dasein in seinem ganzen Sein existenzial bestimmen soll, enthüllt sich somit das Seinkönnen des Daseins als ein solches, das von dieser ›Nicht-Mächtigkeit‹ dem eigenen Grund gegenüber im Kern durchdrungen ist. Im Durchstimmtsein der erstreckten Existenz durch diese ›Nichtigkeit‹ liegt nach Heidegger jedoch wiederum, dass das Dasein »existierend der Grund seines Seinkönnens« (SZ 284) ist, denn es entwirft sich auf die Möglichkeiten, in die es geworfen ist. Da-sein heiße schließlich nicht, lediglich die tiefe Last des puren ›Dass‹ auszuhalten, sondern sich selbst auf Möglichkeiten hin auszulegen – im 318 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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Vorlaufen zudem auf die eigenste, letzte Möglichkeit. Heidegger daher: »Das Selbst, das als solches den Grund seiner selbst zu legen hat, kann dessen nie mächtig werden und hat doch existierend das Grundsein zu übernehmen.« (SZ 284) Oder noch differenzierter: Das Selbst ist nicht »durch es selbst, sondern an es selbst entlassen aus dem Grunde, um als dieser zu sein« (SZ 284 f.). Der Nicht-Mächtigkeit, welche in der Faktizität des Daseins beschlossen liegt, tritt nun nach Heidegger aber eine zweite ›Nichtigkeit‹ hinzu, welche dem Entwurf zugehörig sei: Im Erschließen bestimmter Möglichkeiten werden immer andere ausgeschlossen oder treten erst gar nicht in die Sicht. Es zeige sich so: »Die Sorge selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt.« (SZ 285) Dasein ist nach Heideggers Interpretation eines existenzialen Schuldigseins also an sich in einer ursprünglichen Weise ›schuldig‹, ohne ›mangelhaft‹ oder ›unvollständig‹ oder gar ›verdorben‹ zu sein, wenn Schuld als Grundsein einer Nichtigkeit bestimmt ist. Der Ruf des Gewissens ›sagt‹ dem Dasein nach Heidegger also, »daß es – nichtiger Grund seines nichtigen Entwurfs in der Möglichkeit seines Seins stehend – aus der Verlorenheit in das Man sich zu ihm selbst zurückholen soll, das heißt schuldig ist« (SZ 287).

1.4 Die vorlaufende Entschlossenheit als Selbst-ver-antwortung Das »verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein« (SZ 297) nennt Heidegger auch die Entschlossenheit. Diese ist nun als »eigentliche Wahrheit« (SZ 297) des Daseins entdeckt worden. Dem Gedanken eines Wählens der Wahl entsprechend handelt es sich bei Heideggers Konzeption dieser ursprünglichen Entschlossenheit nicht um den Entschluss für oder gegen eine bestimmte Seinsmöglichkeit, sondern es geht um die Aufgeschlossenheit für das eigenste Seinkönnen des Daseins überhaupt, welche erst ermöglicht, dass das Dasein in spezifischen Situationen 48 jeweils so oder so entscheidet. Da – wie die Todesanalyse zeigen sollte – Dasein jedoch allein im Vorlaufen als Bezogensein auf »die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins« (SZ 258 f.) Ge48 Heidegger stellt der in der Entschlossenheit eröffneten Situation die ›allgemeine Lage‹ gegenüber, in welcher sich das Man stets befinde; vgl. SZ 300.

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wissheit seiner selbst als ›faktisches Subjekt‹ erlangt, ist die Entschlossenheit allein als vorlaufende eben das Phänomen, welches die spezifische (nicht substantialistisch begriffene) Selbst-ständigkeit des Daseins bezeugt. 49 Insgesamt präsentiert sich Heideggers Deutung der vorlaufenden Entschlossenheit nach einer Interpretation ihrer einzelnen Momente – Sein zum Ende, Angst, Gewissen-haben-wollen – als Konzeption einer ursprünglichen Selbst-ver-antwortung: 50 Dasein ist einmal aufgerufen zum Selbst-sein, d. h. dazu, »es selbst zu sein im Wie der ergriffenen Selbstverantwortung«, und nicht »zu sein in der Weise des Gelebtwerdens von dem, was es jeweils besorgt« (GA 64, 54). 51 Zudem ist dieses Eigentlichsein erschlossen in einem spezifischen Redegeschehen – verstehender ›Anrede‹, ›Hören‹ und ›Entgegnung‹ –, welches, selbst weder als rein theoretischer noch rein praktischer Selbstbezug gedacht, 52 alle konkreten verantwortlichen Verhaltungen zu umweltlich Begegnendem oder anderem Dasein sowie jegliches konkrete Verhalten sich selbst gegenüber fundieren soll. Selbst-verantwortung im Sinne des Ein-Selbst-Seins wird also im Rahmen der heideggerschen Konzeption erschlossen in der Selbst-verantwortung als ursprünglicher Rede des Daseins mit sich selbst. 53 EntVgl. zu Heideggers Bestimmung der Selbst-ständigkeit des Daseins in Abgrenzung von traditionellen Ich- und Subjektbegriffen der neuzeitlichen Philosophie SZ 322. 50 Im Anschluss an Heidegger versucht Thomé einen existenzial-ontologischen Begriff von Verantwortung zu entwickeln; vgl. Martin M. Thomé, Existenz und Verantwortung. Untersuchungen zur existenzialontologischen Fundierung von Verantwortung auf der Grundlage der Philosophie Martin Heideggers, Würzburg 1998. Als Grundverfasstheit des Daseins sucht er dabei eine »responsorische Prekarietät« aufzuweisen, welche eine fundamentale Nicht-Mächtigkeit und Ausgeliefertheit des Daseins anzeige; vgl. Thomé 1998, 117. So macht er zwar Heideggers Daseinsanalyse für das Phänomen einer ursprünglichen Verantwortung äußerst fruchtbar, betont aber insgesamt all die Momente der Daseinsanalyse, welche ansatzweise auf Dialogizität, Fremdheit und Ohnmacht hindeuten, übermäßig stark und vernachlässigt all jene, welche eine deutliche Zentrierung der begegnenden Dinge auf das redend-verstehende Dasein anzeigen. 51 Siehe zu der Verbindung von Entschlossenheit und Selbstverantwortung bei Heidegger selbst auch GA 64, 54 und GA 20, 440 f. Das Gewissen als Aufruf zum Verantwortlichsein in diesem weiten Sinne deutet explizit auch Figal; siehe Figal 1988, 239 f. 52 Heidegger vermeidet in Sein und Zeit u. a. deshalb den Begriff des ›Handelns‹ weitgehend, weil er die strikte Trennung zwischen einem praktischen und theoretischen Verhalten nahelege; vgl. SZ 300. 53 Somit liegt in dieser eigentlichsten (schweigenden) Rede letztlich die Möglichkeit von Sprache überhaupt begründet, wie Heidegger in Einführung in die phänomenolo49

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gegen Heideggers eigener, die Ablehnung des ontisch-vulgär begriffenen Gewissens bekräftigender Beteuerung präsentiert sich der Gewissensruf somit eindeutig als ein Selbstgespräch – in existenzial-ontologischem Sinne –, denn der Ruf erklingt im Dasein selbst, obgleich Rufer und Angerufener nicht vollkommen ›identisch‹ sind. Im vorletzten Abschnitt zur Sprache wurde die Stimme als ein Phänomen vorgestellt, das die existenziale Geworfenheit des Daseins zum Klingen bringen könnte. Es ist bezeichnend, dass die Stimme dort, wo sie in Sein und Zeit tatsächlich eine fundamentale Rolle spielt, erstens eine schweigende Stimme ist und zweitens eine grundvertraute, nämlich die eigene, oder besser: eigenste. Dem Man-selbst erscheint die Stimme des Gewissens zwangsläufig als eine »fremde Stimme« (SZ 277), 54 an anderer Stelle jedoch spielt Heidegger auf den Gewissensruf an und spricht sehr zutreffend von der »Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt« (SZ 163). Dieses unterschwellige stete Da-sein der Stimme bedeutet hier aber nichts weiter, als den Zugang zum eigensten Sein latent stets präsent zu haben und eines Anstoßes von anderswoher dabei unbedürftig zu sein. Entsprechend bemerkt Derrida zum Gewissensruf: »In nächster Nähe zu sich selbst vernimmt sich die Stimme […] als völlige Auslöschung des Signifikanten: sie ist reine Selbstaffektion«. 55 Dass die Loslösung von einer Fremdbestimmung nicht wieder gische Forschung selbst andeutet: »Sprache besagt, primär gesehen (interpretatorisch) als Sprechen in der Unheimlichkeit: sich aussprechen, lautwerden in der Unheimlichkeit. (Ein bekanntes Phänomen, daß man im Unheimlichen anfängt, laut zu reden.)« (GA 17, 317 f.) Sprache steht also nach Heidegger stets im Dienste einer ›Verdrängung‹ der Unheimlichkeit und dies bestätigt lediglich den Eindruck, welchen die Interpretation von Rede und Sprache im entsprechenden Abschnitt hinterließ. 54 Merker sieht in Heideggers Gewissensruf starke Anleihen beim Gnostizismus und deutet auch die ›fremde‹ Stimme als ein Moment, das auf den Mythos der Gnosis rückverweist. Hier sei der erlösende Ruf eines fremden Mannes zentral, der den Lärm der Welt übertönt und zur Rückkehr zum reinen Ursprung aufruft. Bemerkenswert ist an Merkers Deutung, dass der Gewissensruf damit als eine Art anamnesis erscheint und so die Grundbewegtheit der Heimkehr erneut in den Blick rückt; vgl. Merker 1988, 167 f. Auch ohne diesen Hintergrund lässt sich das Hören auf die Stimme des ›Freundes‹ jedoch eindeutig als ein ›anamnetisches‹ Hören verstehen. 55 Derrida 1974, 38. Ebenso deutet auch Gethmann Heideggers Konzeption als zu der Tradition gehörig, die Moral einer Selbstadressierung entspringen lässt; vgl. Gethmann 1993, 314. Eine andere Interpretation liefert Dastur im Anschluss an Ricœur: Sie begreift den Gewissensruf als überzeugenden Ausdruck eines grundlegenden Draußenseins des Daseins, das jegliche ›Innerlichkeit‹ des Rufes sprenge; vgl. Françoise Dastur,

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durch eine fraglos übernommene konkrete Vorgabe von Anderen erzielt werden kann, ist einsichtig. 56 Aber es zeigt sich erneut eine grundlegende Ambivalenz in Heideggers Analysen, die einerseits mit traditionellen metaphysischen Bestimmungen von ›Ich‹ und ›Welt‹ brechen, andererseits deutliche Spuren dieser Traditionen unbemerkt in sich tragen. Schon aufgezeigt wurde im Zuge der Interpretation des moribundus sum, dass Heidegger trotz aller Kritik an der Annahme eines zunächst weltlosen Ich das Vorlaufen als Vereinzelung denkt, die aber keine tatsächliche Isolierung des Daseins meinen soll. Wenn nun auch das Gewissen als reiner, schweigender Selbstanruf gedeutet wird, bekräftigt dies den Eindruck, dass die Gewinnung eigentlichen Selbstseins mit einer wesentlichen Affiziertheit durch Andere oder andersartig Seiendes generell nach Heidegger unvereinbar ist. Obgleich er stets betont, dass die Entschlossenheit Dasein als Mitsein und In-derWelt-sein umgreife, tendiert die Daseinsanalyse schließlich dazu, das Sein-bei überhaupt mit einem Verlorensein an Welt und Öffentlichkeit zu identifizieren. Auch wenn ein Besorgen denkbar ist – und von Heidegger selbst nahegelegt wird –, 57 das durchdrungen ist von einer grundlegenden Selbstbestimmtheit, bleibt eine tatsächliche Bezogenheit auf Welt und Andere bzw. ein Getroffensein durch diese in der Konstitution des eigentlichen Selbstseins durchweg unthematisch. So wurzelt offenkundig auch die Möglichkeit, die Anderen »›sein‹ zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen und dieses in der vorspringend-befreienden Fürsorge mitzuerschließen« (SZ 298), 58 letztlich in »Das Gewissen als innerste Form der Andersheit. Das Selbst und der Andere bei Paul Ricœur«, in: Waldenfels/Därmann 1998, 51–63. 56 So verweist die vorlaufende Entschlossenheit letztlich auf eine Wiedergewinnung von Freiheit – in Sein und Zeit entwickelt Heidegger jedoch nicht explizit einen existenzial-ontologischen Begriff der Freiheit, obgleich zentrale Stellen der Eigentlichkeitsanalyse auf ein ursprüngliches Freisein hindeuten: »Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Sein-können, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbstwählens und -ergreifens.« (SZ 188) Diese Deutung der Freiheit des Daseins lässt sich mit der u. a. in »Vom Wesen der Wahrheit« (1930) präsentierten Interpretation von Freiheit als »Eingelassenheit in die Entbergung des Seienden als eines solchen« (GA 9, 189) sicher nicht vorschnell zur Deckung bringen. Beiden Deutungen scheint jedoch das Moment einer Offenheit für … wesentlich, so dass sich an der Wandlung des Freiheitsbegriffs durchaus die deutlichen Akzentverschiebungen in Heideggers Konzeption um 1930 ablesen lassen. 57 Vgl. SZ 297 f. 58 Wenn man jedoch bei Heidegger Momente stark machen möchte, die in Richtung einer Begegnung mit dem Anderen als je eigenem In-der-Welt-sein weisen, liefern die

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der eigenen Selbstdurchsichtigkeit des jemeinigen Daseins, die eben gerade ohne Beteiligung einer tatsächlich fremden Stimme errungen wird. 59 Es lässt sich also feststellen: Trotz der Annahme des Mitseins als eines Existenzials vermag Heidegger nicht aufzuzeigen, inwieweit bei der ursprünglichsten Artikulation des sum ein Bezug zu anderem Dasein (so wenig wie zum ›Sein überhaupt‹) konstitutiv ist. Indem die Selbstdurchsichtigkeit des Daseins nach Heidegger also eindeutig nicht errungen wird durch das Gegenübertreten eines anderen Selbst, zeigt sich erneut, dass das Mitsein hier nicht als tatsächliche Konfrontation mit Anderen als Anderen – ebenfalls Existierender – konzipiert ist. Als apriorische Verfasstheit bedeutet das Mitsein also dasjenige Moment, welches jedes konkrete ›Erscheinen‹ eines Anderen aus der Welt her für das je eigene Dasein ermöglicht, das in der eigenen Erschlossenheit aber keine Dynamik entfaltet. 60 Im letzten Abschnitt zur Wahrheit wurde im Rahmen der BuberInterpretation bereits eine bestimmte Konzeption von Authentizität thematisiert – diejenige, welche Buber in »Elemente des Zwischenmenschlichen« präsentiert. Heideggers Interpretation der vorlaufenden Entschlossenheit wirft nun abschließend die Frage auf, ob nicht die Vorstellung eines »eigens ergriffenen Selbst« (SZ 129), eines reinen »Bei-sich-selbst-seins« (GA 20, 377), hier in einer Weise konzipiert ist, welche zumindest eine traditionelle Vorstellung eines Authentischseins 61 deutlich irritiert, obwohl eine Bezogenheit auf ›andersartiges kurzen Hinweise zur vorspringend-befreienden Fürsorge tatsächlich die besten Ansatzpunkte; vgl. etwa folgende Bemerkung: »Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.« (SZ 122) 59 Entsprechend fundiert Weischedel in seiner auf Heideggers Daseinsanalyse zurückgehenden Dissertation Das Wesen der Verantwortung die zwischenmenschliche sowie religiöse Verantwortung in der ›intimsten‹ Weise, einem ›Partner‹ Rede und Antwort zu stehen: in der Selbstverantwortung, denn »das Sich-zu-sich-selbst-verhalten des Menschen ist sein ursprüngliches Verhalten« (Wilhelm Weischedel, Das Wesen der Verantwortung, Frankfurt a. M. 1933, 539). Heidegger selbst überdeutlich: »Erst aus der entschlossenen Vereinzelung her und in ihr ist das Dasein eigentlich frei und offen für das Du.« (GA 24, 408) 60 So heißt es bei Sartre treffend: Das Mit drückt bei Heidegger eine »ontologische Solidarität«, einen Parallelismus weltentwerfender ›Daseine‹ aus, und verschleiert so den »Skandal der Pluralität der Bewußtseine«; vgl. Sartre 2002, 445 und 442. 61 Obgleich dieses ursprüngliche Authentischsein hier noch kein authentisches Verhalten in Situationen meinen kann, sondern im Rahmen der grundlegenden Entschlossen-

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Seiendes‹ für die Konstitution von Eigentlichkeit als Selbst-verantwortung hier keine Rolle spielt. Wenn die vorlaufende Entschlossenheit so etwas wie ein ursprüngliches Sich-selbst-Haben meint, dann zeigt doch zumindest die Deutung des existenzialen Schuldigseins, dass dieses Bei-sich-selbst-Sein insgesamt von einer Nichtigkeit durchzogen ist, welche jede Vorstellung einer stabilen, reinen Identität mit sich selbst als Idee entlarvt, die durch eine Orientierung am Sein von Vorhandenem – oder allgemein: Dinglichem – gewonnen wurde. Insofern lässt sich Heideggers Deutung der Eigentlichkeit mit Sartres ›Dekonstruktion‹ der metaphysischen Voraussetzung einer Vorstellung von Ehrlichkeit als ›für sich selbst das sein, was man ist‹ 62 in Beziehung setzen: Sowohl in Sein und Zeit als auch in Das Sein und das Nichts wird die menschliche Existenz aufgewiesen als ein Sein, das sich vom Mit-sich-selbst-identisch-Sein eines bloßen Dinges radikal unterscheidet. 63 Die im letzten Abschnitt zur Wahrheit kritisch besprochene Rede Bubers von ›Sein‹ und ›Schein‹ der Person ließe sich also auch von Heideggers Standpunkt aus hinterfragen als eine Konzeption von Wahrhaftigkeit, die sich am ›Substantiellen‹ – am Beharrlichen der Gegenstände – ausrichtet.

2.

Bubers Konzeption eines ›eigentlichen Da-seins‹ : Verantwortung als dialogisches Geschehen

2.1 Die Bedeutung der Verantwortungskonzeption für den dialogischen Ansatz Wie bereits erwähnt wurde, setzt sich Buber in Das Problem des Menschen ausführlicher mit Heideggers Daseinsanalyse auseinander. Diese will er – durchaus im vollen Bewusstsein dessen, dass Heidegger seinen Ansatz in Sein und Zeit dezidiert nicht als eine Anthropologie begreift heit eher ein fundamentales Zu-sich-selbst-Finden darstellt, welches ein selbstbestimmtes Agieren vor Anderen dann erst möglich macht. 62 Vgl. Sartre 2002, 138. 63 So behauptet Sartre schließlich: Ehrlichkeit nach traditioneller Auffassung ist nicht nur ein Wert oder Erkenntnisideal, sondern setzt ein »Seinsideal, sie bietet uns eine absolute Adäquation des Seins mit sich selbst als Seinsprototyp« (Sartre 2002, 139). Diese absolute Identität ohne ›Riss‹ kommt nach Sartres Ontologie bekanntlich dem An-sich-sein (Ding-sein) zu, nicht dem Für-sich-sein (Bewusst-sein, Mensch-sein).

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– »auf die Echtheit und Richtigkeit des anthropologischen Gehalts prüfen« (W I, 360). 64 Dabei geht er vornehmlich auf Aspekte der vorlaufenden Entschlossenheit ein, um Heideggers Dasein schließlich als ein ›monologisches‹ zu entlarven. Im Zuge dieser Kritik deutet er selbst eine Auffassung ›eigentlichen Da-seins‹ im Rahmen eines dialogischen Ansatzes an, die es ermöglicht, das Sein der Person (als Ich des Ich-Du) näher als ein fundamentales Verantwortlichsein zu beschreiben. 65 Dabei kommt die Weite des buberschen Sprachbegriffs in den Blick, welche in den bisherigen Interpretationen bewusst ausgeklammert wurde, die sich aber schon mehrfach andeutete: So wurde im vorherigen Abschnitt zum Wahrheitsbegriff Heideggers und Bubers in den Ausführungen zum dialogischen Wahrheitsverständnis die Möglichkeit angesprochen, Bubers Begriff der Treue zur Wirklichkeit als Ausdruck einer allem konkreten Besprechen vorgängigen Dialogizität zu begreifen. Auf eben eine solche weist Bubers Verantwortungskonzeption nun unmittelbar hin. Dabei kehrt sich die Perspektive, welche in Ich und Du über weite Strecken noch vorherrschend war, in gewissem Sinne um: Nicht das auf ein Du ausgehende Ich, sondern das angesprochene, vom Anderen oder von andersartig Seiendem herausgeforderte Ich steht nun im Fokus. Wenn bei Buber tatsächlich immer wieder Bemerkungen zu finden sind, die eine deutliche Nachträglichkeit des Auszugs zum Anderen nahelegen, 66 so bietet die Verantwortungskonzeption also die Möglichkeit, das Ich als ›immer schon‹ von einem Anderen her an- und aufgerufenes zu betrachten. Als ein ›Dialogpartner‹ in ausgezeichneter Hinsicht gelangt dabei schließlich auch das sog. »ewige Du« in den Blick. Theologische Konsequenzen dieses buberschen Gottesbegriffs können hier nicht thematisiert werden – wichtig ist allein die Diskussion, ob das ewige Du eine

64 Dies ist auch erlaubt, wenn man bedenkt, dass Heidegger schließlich eine phänomenologisch angemessene Beschreibung (menschlichen) Daseins liefern will, auch wenn dies im Rahmen der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt geschieht. 65 Andere, mit dem Begriff Verantwortung in der Regel eng verbundene Phänomene wie Gewissen und Schuld finden bei Buber keine so intensive Diskussion wie die Verantwortung. Es sei deshalb lediglich verwiesen auf folgende Texte: Martin Buber, »Schuld und Schuldgefühle«, in: W I, 475–502 und ders., Bilder von Gut und Böse, in: W I, 605–650. 66 Siehe etwa folgende Aussage: »Freilich muß man, um zum Andern ausgehen zu können, den Ausgangsort innehaben, man muß bei sich gewesen sein, bei sich sein.« (DP 169)

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philosophisch relevante Rolle zu spielen vermag bzw. in welcher Weise man die Idee des ewigen Du philosophisch fruchtbar machen könnte.

2.2 Der ›Monologismus‹ des Daseins – Bubers Kritik in Das Problem des Menschen Buber beginnt seine Auseinandersetzung mit Heidegger mit dem Vorwurf, dieser habe nicht den wirklichen Menschen im Blick. 67 Da Buber selbst – trotz seiner Beteuerung, das konkrete Menschenleben zu thematisieren – immer wieder von dem Ich der Ich-Du- und Ich-Es-Beziehung sprechen muss, wäre diese Behauptung kaum überzeugend, wenn damit lediglich die Übersteigung ›empirischer‹ Begebenheiten auf ›wesenhafte‹ Strukturen menschlichen Seins hin gemeint sein sollte. Tatsächlich wird auch bald deutlich, dass Buber bereits mit dieser Bemerkung darauf abzielt, dem heideggerschen Dasein eine spezifische ›Isoliertheit‹ zuzuschreiben, denn er konkretisiert seinen Vorwurf folgendermaßen: »Das wirkliche Dasein, also der wirkliche Mensch in seinem Verhalten zu seinem Sein, ist nur in Verbindung mit der Beschaffenheit des jeweiligen Seins, zu dem er sich verhält, faßbar.« (W I, 361) Zur näheren Erläuterung seines kritischen Kommentars präsentiert Buber nun eine knappe Interpretation der Analysen von Tod und Schuld aus Sein und Zeit. Wie bei der im vorherigen Heidegger-Kapitel schon genannten Kritik am existenzial-ontologischen Begriff des Todes geht Buber allerdings auch an der Pointe des heideggerschen Begriffs der ursprünglichen Schuld vorbei: Er bezieht sie auf das Aufgehen im Man, nicht auf eine fundamentale Nicht-Mächtigkeit des Daseins in Bezug auf den eigenen ›Grund‹. Buber stimmt Heidegger jedoch grundsätzlich zu, wenn es darum geht, konkrete Verschuldungen in einem fundamentaleren Schuldigsein zu fundieren: »Heidegger hat recht darin, daß alles Verständnis von Verschuldung auf ein ursprüngliches Schuldigsein zurückgehen muß.« (W I, 363) Diese Schuld können wir nach Buber aber nur dann in den Blick bekommen, wenn wir Buber spricht dabei von der »chemischen Reinheit« des Daseinsbegriffs; vgl. W I, 360. Zu Bubers Kritik an Heidegger insgesamt siehe Gordon 2001 sowie das entsprechende Kapitel zu Heidegger und Buber in Assen Ignatow, Heidegger und die philosophische Anthropologie. Eine Untersuchung über die anthropologische Dimension des Heideggerschen Denkens, Königstein/Ts. 1979. Zum Gewissensruf und zur Dialogik Bubers siehe auch Wahl 1963 sowie Smith 1966, 109 f.

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»des ganzen Lebens ohne Reduktion inne werden, des Lebens, darin der einzelne Mensch sich gerade zu etwas anderem als er selbst wesentlich verhält« (W I, 363). Leben – oder Existieren – besteht nach Buber also gerade darin, »daß ich vor die Gegenwärtigkeit eines Seins gestellt bin, mit dem ich keine Spielregeln vereinbart habe und mit dem sich keine vereinbaren lassen. Die Gegenwärtigkeit des Seins, vor die ich gestellt bin, wechselt ihre Gestalt, ihre Erscheinung, ihre Offenbarung, sie ist anders als ich, oft erschreckend anders, und anders als ich sie erwartet habe« (W I, 363).

Eine ursprüngliche Schuld – die ebenso wie bei Heidegger selbst keine spezifische Moral impliziert – besteht im Rahmen des dialogischen Ansatzes nun entsprechend darin, sich auf sich selbst zurückzuziehen, d. h. zugleich: der Andersartigkeit des Begegnenden nicht standzuhalten. Buber: »Wenn ich auf den Ruf des gegenwärtigen Seins ›Wo bist Du?‹ antworte: ›Da bin ich‹, aber ich bin nicht wirklich da, d. h. nicht mit der Wahrheit meines ganzen Wesens, dann bin ich schuldig. Das ursprüngliche Schuldigsein ist das Bei-sich-bleiben.« (W I, 363) 68 Echtes Da-sein bedeutet für Buber also treue – d. h. wahrhaftige – Antwort dem Anruf gegenüber, der vom wirklich Anderen her kommt. Entsprechend begreift Buber den Gewissensruf – durchaus traditionell – als nachträglichen Ruf, also als Ruf, der auf eine bereits geschehene ›Verfehlung‹ (hier: die Verweigerung dem ersten Ruf gegenüber) folgt. 69 Heideggers Konzeption der Eigentlichkeit zielt nach Buber demnach ab auf ein »monologisches Dasein« (W I, 365), auch wenn sich das ›Selbstgespräch‹ im Gewissensruf mitunter recht geschickt als Dialog tarne, indem »eine unbekannte Schicht des menschlichen Selbst nach der andern auf die Innenanrede« (W I, 365) antworte. 70 68 Buber spielt hier auf Gottes an Adam gerichtetes »Wo bist du?« an, das auch in Rosenzweigs Stern der Erlösung eine zentrale Rolle spielt. In »Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre« wählt Buber eine chassidische Interpretation dieser Bibelstelle als Erläuterung des grundlegenden Angesprochen- und Verantwortlichseins des Menschen. Der Ruf wird hier somit gedeutet als Aufruf zur Selbstreflexion über das eigene Leben. Da der entsprechende Abschnitt in Bubers Text mit dem Stichwort »Selbstbesinnung« überschrieben ist, lässt sich hier durchaus eine – wenn auch fraglos religiös geprägte – Gegenkonzeption zum heideggerschen Gewissensruf herauslesen; vgl. W III, 716 f. 69 Vgl. W I, 363. Somit trägt Bubers Beschreibung des ursprünglichen Schuldigseins jedoch schon deutlich moralische Züge an sich. 70 Es ist bemerkenswert, wie sehr Bubers Kritik an Heideggers Da-sein seiner Kritik an

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In dieser Interpretation des existenzialen Gewissens wird deutlich, dass Bubers Kritik Heideggers Konzeption durchaus zu treffen vermag, obgleich sie nicht selten den Eindruck erweckt, sie verstehe die Bestimmung des Daseins als eines Seienden, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, als Ausdruck eines existenziellen Egoismus. Buber betont jedoch explizit, dass Heidegger Dasein grundsätzlich als In-der-Weltsein und Mitsein konzipiert habe 71 – d. h. sein Vorwurf des Monologismus zielt tiefer als die bloße Feststellung, Heidegger habe Beziehungen wie Freundschaft oder Liebe nicht ausreichend thematisiert. Das heideggersche Dasein ist für Buber – exemplarisch aufgezeigt an der eigentlichen ›Selbstfindung‹ – ein »geschlossenes System« (W I, 369), weil seine Bezogenheit auf Andere erstens keine echte Begegnung im buberschen Sinne darstellt, d. h. keine Beziehung zum Anderen als tatsächlich Anderen 72 meint, und zweitens, weil die Ursprünglichkeit des Mitseins in der Gewinnung eigentlichen Selbstseins nicht überzeugend aufgewiesen wird. 73 Die Konsequenz für eine Auffassung von Rede

der Psychoanalyse ähnelt; siehe etwa Martin Buber, »Das Unbewußte«, in: NL, 158– 189, hier: 163 f. Die Annahme einer strukturellen Ähnlichkeit zwischen heideggerscher und freudscher ›Unheimlichkeit‹ sowie zwischen Tiefenhermeneutik und Psychoanalyse generell wird so bekräftigt. 71 Vgl. W I, 366 f. Allerdings interpretiert er Heideggers Fürsorge-Begriff in einer Weise, die an der existenzial-ontologischen Dimension vorbeizielt, nämlich als konkrete Fürsorge im Sinne des Dem-Anderen-Helfens. Der Hinweis, in der Fürsorge gehe man immer noch stets vom eigenen Selbst aus, findet sich jedoch auch bei Löwith. Dieser deutet die heideggersche Freigabe des Anderen auf sein eigenes Sein hin als Akt, der sich stets an der eigenen Idee von Selbständigkeit orientiert und so das je eigene Selbst gerade vom Anderen freihält; vgl. IRM 96 ff. 72 Buber: Die Entschlossenheit ist »Verschlossenheit gegen alle echte Verbindung mit den Anderen und der Anderheit« (W I, 371). 73 Entsprechend Theunissen: Während »nach Heidegger das Selbst nur im freigebenden Sich-absetzen von anderem Selbst zu sich kommen kann, hat es nach Buber sein Sein allein in der Beziehung« (Theunissen 1977, 272). Verwiesen sei aber auch auf einige Beiträge, die eine große Nähe zwischen Heideggers eigentlichem Dasein und Bubers Ich-Du sehen; so beurteilt Knittermeyer Bubers Kritik als vollkommen unangemessen und versucht, das heideggersche Mitsein durch bubersche Termini zu beschreiben; vgl. Hinrich Knittermeyer, Die Philosophie der Existenz. Von der Renaissance bis zur Gegenwart, Wien/Stuttgart 1952, 288 f. Gleichermaßen urteilt Detlev v. Uslar in ders., »Vom Wesen der Begegnung im Hinblick auf die Unterscheidung von Selbstsein und Sein selbst bei Heidegger«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band XIII (1959), 85–101. Bubers Kritik an der monologischen Grundstruktur des Daseins hingegen zustimmend bezieht sich Jean-François Courtine direkt auf Bubers Auseinander-

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hebt Buber noch einmal explizit hervor, wenn er behauptet, Heidegger postuliere im Grunde: »Jeder kann wesentlich nur mit sich selbst reden; was er mit den anderen redet, kann nicht wesentlich sein – d. h. das Wort kann nicht das Wesen des Einzelnen transzendieren und ihn in eine andere Wesenheit, in eine erst zwischen den Wesen und durch ihr wesentliches Verhältnis zu einander entstehende, versetzen.« (W I, 370)

So lassen sich schließlich die zwei eindringlichen Vergleiche, welche Buber in seiner Kritik zur Charakterisierung des heideggerschen Daseins wählt, durchaus als Verbildlichungen der in jeglicher Transzendenz des Daseins doch liegenden Immanenz seines eigenen Seins deuten – auch wenn sie auf den ersten Blick das Existenzial des In-der-Weltseins zu ignorieren scheinen: Nach Buber zeigt Sein und Zeit – dies das erste Bild – lediglich einen »Teilbezirk« des wirklichen Lebens, der »seine Selbständigkeit, seinen selbständigen Charakter und seine selbständigen Gesetze dadurch erhält, daß man gleichsam den Blutkreislauf des Organismus an einer Stelle abschnürt und nun zusieht, was sich in dem abgeschnürten Teil vollzieht« (W I, 362). Direkt im Anschluss vergleicht Buber Heideggers Analysen mit dem Vorgang eines komplexen, sich selbst genügenden Spiels: »[…] es ist uns zumute, als sei der Boden, auf dem wir wandeln, ein Brett, auf dem ein Brettspiel gespielt wird, dessen Regeln wir erfahren, indem wir vorwärts dringen, tiefsinnige Regeln, über die wir nachdenken und nachdenken müssen, die aber doch nur dadurch entstanden sind und dadurch bestehen, daß man sich einmal entschlossen hat, dieses geistvolle Spiel zu spielen« (W I, 362).

Selbstbezüglichkeit, beschlossen in einer spezifischen Kreisbewegung, d. h. Rückkehr zu bereits Präsentem – auf diese Motive weisen die beiden Vergleiche nachdrücklich hin und so vermag Buber mit ihnen, trotz seiner mitunter vorschnellen Beurteilung der anspruchsvollen heideggerschen Analysen, die Konzeption der Selbsterschlossenheit des Daseins in Sein und Zeit treffend als ein Denken der Heimkehr zu charakterisieren. 74

setzung mit Heidegger in ders., »La voix (étrangère) de l’ami. Appel et/ou dialogue«, in: ders. 1990, 327–353, hier: 347 f. 74 Siehe dazu die Bemerkung Delhoms, die ›fremde Stimme‹ stehe bei Heideggers Gewissensruf eindeutig »im Schatten von Odysseus« (Pascal Delhom, Der Dritte. Lévinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, München 2000, 96).

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2.3 Personale Existenz als Ver-antwortung 2.3.1

Die Ausweitung des Sprachbegriffs

Wenn Buber bei seiner kurzen Präsentation eigentlichen Da-seins als eines Antwortens auf einen ›echten‹ Anruf von einer in Gestalt und Erscheinung wechselnden »Gegenwärtigkeit des Seins« (W I, 363) spricht, dann deutet dies darauf hin, dass das ursprüngliche Da-sein im Rahmen seiner Konzeption nicht auf den Bereich interpersonaler Beziehungen beschränkt ist. Auch die Möglichkeit echter Begegnung wurde schließlich in Ich und Du nicht auf die zwischenmenschliche Sphäre allein bezogen, in der konkrete, in menschlicher Lautsprache geführte Gespräche stattfinden. Buber weitet das Ansprache-AntwortModell also aus zu einer Konzeption dialogischer Wirklichkeit jenseits der artikulierten Worte. So versichert er ja schon bei der Präsentation des Schweigens, dass auch ohne lautliche oder gestisch-mimische Zeichen Zwiesprache geschehen könne – sie »kann sich aller Sinnenfälligkeit begeben und bleibt Sprache« (DP 142). Konsequenterweise ist die menschliche Lautsprache dann nur eine spezifische Sprache neben anderen, denn – so Buber – der Mensch rede »in vielen Zungen, Zungen der Sprache, der Kunst, der Handlung« (DP 41). Neben dem echten Gespräch im tatsächlichen Miteinanderreden nennt Buber – hier noch im Bereich des Zwischenmenschlichen verbleibend – nun u. a. folgende Exempel für ein ›sprachloses Gespräch‹ : eine wirkliche Lehrstunde, eine echte Umarmung und einen wahrhaften Zweikampf. Außerdem beschreibt Buber das Aufeinandertreffen zweier Blicke im Gedränge eines Luftschutzkellers sowie ein subtiles Verhältnis zwischen zwei Hörenden im dunklen Opernsaal als dialogische Momente. 75 In diesen Begegnungen ohne hörbaren Laut und eindeutig ›lesbare‹ Gebärde begegnet mir nach Buber jemand, der mir unvermittelt ›etwas sagt‹. Dabei betont er explizit, dass erstens dieses ›Etwas‹ im Grunde nicht übersetzt werden könne in eine konkrete Ansage und dass zweitens dieses Sagen kein zielgerichtetes Verhalten des Anderen bedeute, sondern sich besser als ein »es sagt« beschreiben ließe. Dieses ›Sagen‹ meint er zudem ausdrücklich nicht als Metapher: »[…] das Sagen, auf das ich hinzeige, ist wirkliche Sprache. Im Haus der Sprache 75

Vgl. zu den genannten Beispielen DP 144 ff. sowie W I, 405 f.

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sind viele Wohnungen, und das ist eine der innern.« (DP 152) Auch wenn also keine konkrete, verstehbare Rede an mich ergangen ist – dennoch ist nach Buber hier »ein Wort geschehen, das eine Antwort heischt« (DP 152). Die gerade genannten Beispiele bezogen sich nun immer noch auf Verhältnisse zwischen Menschen. 76 Die bei Buber vorgenommene Einbindung sprachloser Wesen oder gar vollkommen lebloser Dinge in die Möglichkeit dialogischer Begegnung bedeutet aber letztlich, dass ›alles‹ mich ansprechen und Antwort einfordern kann: »Keine Art von Erscheinung, keine Art von Begebenheit ist grundsätzlich aus der Reihe derer geschaltet, durch die mir jeweils etwas gesagt wird.« (DP 153) Somit scheint Buber auf eine vorsprachliche ›Sprache‹ abzuzielen, die tiefer und nicht bloß neben der menschlichen Lautsprache angesiedelt ist – auf ein ›Sprechen‹ oder ›Sprachgeschehen‹, das ursprünglicher und umfassender ist als der zwischenmenschliche Sonderbereich. 2.3.2

Verantwortung als Antworten auf einen Anspruch

Vor allem in der kurzen Abhandlung »Zwiesprache« (1929) präsentiert Buber diese Rückführung des lautlich artikulierten Ansprache-Antwort-Geschehens auf eine grundlegendere Sphäre des Gegenüberseins von Mensch und Welt, das er als dialogisches Verhältnis charakterisiert. Eben dieses Einandergegenüber begreift Buber nun als ursprüngliche Ver-antwortung im Sinne eines Ereignisses, das nicht in der Sphäre der »Sonderethik, eines frei in der Luft schwebenden ›Sollens‹« (DP 161) 77 lokalisiert wird, sondern eine Seinsbestimmung des Menschen meine. 78 Der Mensch steht als solcher nach Buber immer schon in der Verantwortung, weil er ein ›in der Sprache‹ lebendes Wesen ist, und dies in dem eben aufgezeigten fundamentalen Sinne. Das heißt: Der Andere sowie die Welt überhaupt kann mich nur deshalb im kon76 Obwohl schon die Favorisierung des Schweigens eine deutliche Entfernung von der tatsächlichen Verlautbarung des Wortes anzeigte, kann dieses jedoch noch der menschlichen Rede – als ihre äußerste Grenze – zugerechnet werden. 77 Es fällt auf, dass Bubers Charakterisierung bestimmter Moralphilosophien oft sehr oberflächlich bleibt. So scheint er mitunter einer jeden Suche nach allgemeinverbindlichen Normen eine völlige Blindheit den konkreten Situationen gegenüber zu unterstellen, in denen die Regel sich schließlich bewähren muss. 78 Buber begreift die dialogische Beziehung schließlich als ein ontologisches Verhältnis; vgl. dazu W I, 405 f.

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kreten Sinne etwas ›angehen‹, weil er bzw. sie mich stets schon ›angeht‹ in dieser ursprünglicheren Weise. In Anspielung auf Max Stirner behauptet Buber entsprechend: »Wo mich, weil alles ›Mein Eigentum‹ ist, kein primärer Anspruch berühren kann, ist die Verantwortung ein Schemen geworden.« (DP 206 f.) Noch deutlicher: »Verantwortung setzt einen primär, d. h. aus einem nicht von mir abhängigen Bereich mich Ansprechenden voraus, dem ich Rede zu stehen habe.« (DP 206) Ansprache in diesem weiten Sinne ist nach Buber nun alles, »was einem widerfährt, was man zu sehen, zu hören, zu spüren bekommt« (DP 161). »Als das, was mir widerfährt, ist das Weltgeschehen Anrede an mich.« (DP 154) Nicht nur die großen, außergewöhnlichen Geschehnisse fordern uns nach Buber also heraus, sondern letztlich all das, was uns tagtäglich geschieht: »Leben heißt angeredet werden, wir brauchten nur uns zu stellen, nur zu vernehmen.« (DP 153) Als beispielhafte Situationen solch weitgefasster Verantwortung nennt Buber u. a. folgende – mehr oder weniger – gewöhnliche oder häufig sich ereignende Geschehnisse: »[…] ein Kind hat deine Hand ergriffen, du verantwortest seine Berührung, eine Menschenschar regt sich um dich, du verantwortest ihre Not.« (DP 163) Buber führt noch ein anderes Beispiel an, welches zwar – wie alle seine ›Tierszenen‹ – in gefährlicher Nähe zum Kitsch steht, das aber deshalb nicht uninteressant ist, weil es die visuelle Ebene anspricht: »Ein Hund hat dich angesehen, du verantwortest seinen Blick« (DP 163). Auch im Zwischenmenschlichen wurde das Anblicken schließlich als eine Weise ursprünglicher Ansprache genannt und dies zeigt, dass Buber den Blick anders deutet, als dies in einer der bekanntesten phänomenologischen Interpretationen des Angeblicktwerdens geschieht: Während Sartre in seiner Blickanalyse in Das Sein und das Nichts die eigene Objektivierung durch den Anderen – den Subjekt-Anderen – hervorhebt, deutet Buber das Blicken des Gegenübers als einen Anruf, der meine Antwort fordert. So wird im Rahmen beider Konzeptionen die Stellung des Ich insoweit geschwächt, als sich im Angeblicktsein ein tatsächliches Getroffensein des Subjekts ausdrückt; Buber denkt dieses Dem-Anderen-Ausgesetztsein jedoch nicht als Verdinglichung, sondern gerade als Eingesetztsein der Person als einer verantwortlichen. 79 Dass Buber dabei den sprichwörtlich gewordenen ›Hundeblick‹ bemüht, wirft jedoch die Frage auf, wie es um den erniedrigenden, abschätzigen Blick steht – letztlich müsste auch dieser nach Buber zumindest die Spur eines nicht-objektivierenden und nicht-ob-

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Allerdings kann man jeglicher Anrede gegenüber laut Buber auch die Ohren verschließen – und in einer solchen ›Taubheit‹ sieht er ein wesentliches Charakteristikum seiner eigenen Zeit. 80 Ein philosophischer Ausdruck einer solchen Verschlossenheit wäre z. B. die Interpretation der Welt als Ansammlung bloßer Dinge. Das also durchaus mögliche Zurückweichen vor der Ver-antwortung stellt bei Buber aber lediglich ein – mit Heidegger geredet – ›abkünftiges‹ Phänomen dar: Den dialogischen Grundcharakter menschlichen Seins zur Welt begreift er als ein Faktum, als eine Ur-Wirklichkeit, welche zwar immer wieder ›verdunkelt‹, aber niemals ›vernichtet‹ werden kann. 81 Bin ich jedoch bereit zur Antwort, dann vollzieht sich diese nach Buber ihrerseits in der »unübersetzbaren Sprache des Tuns und des Lassens« (DP 163). Ich kann also bezüglich dieser Anrede und Antwort in keinem ›Wörterbuch‹ nachschlagen, was mitgeteilt wird, wie ich zu verstehen und zu reagieren habe; das gesagte Etwas ist bei diesem ›Sprechen‹ begrifflich nicht zu fassen, es ist strenggenommen ja »gar nicht ein Was« (DP 156). Ich werde also mit der Situation nach Buber nicht ›fertig‹, indem ich auf vorgegebene Deutungsmuster, Techniken und Kenntnisse zurückgreife: »Diese Sprache hat kein Alphabet, jeder ihrer Laute ist eine neue Schöpfung und nur als solche zu erfassen.« (DP 162) Wie bei Heideggers Gewissensruf ergeht hier also eine Anrede an mich, die letztlich ›nichts‹ sagt; wenn Buber hier dennoch von an mich ergehenden Zeichen spricht,82 dann handelt es sich im Grunde um Zeichen, die nichts Konkretes bezeichnen; geblieben ist allein die Appellfunktion bzw. eine Anzeige in spezifischer Hinsicht: die eines Nicht-Festgelegtseins von ›Wirklichkeit‹, einer Nicht-Objekthaftigkeit der Welt. 83

jektivierbaren Anrufs in sich tragen, denn Buber sucht mit dem Aufweis ursprünglicher Verantwortung schließlich keine konfliktfreie Sondersphäre zwischenmenschlichen Seins zu beschreiben. Siehe zur Gegenüberstellung von Sartres Blickanalyse und Bubers Konzeption der Ich-Du-Begegnung im echten Gespräch Haardt 1999, 197 ff. 80 Vgl. DP 153. 81 Somit vollzieht sich nicht allein die Umkehrung der Blickrichtung auf das nun angesprochene Ich, sondern das Dialogische erscheint jetzt als die tatsächliche Wirklichkeit, die keine gleichwertige Ich-Welt-Beziehung wie das Ich-Es neben sich stehen hat. 82 Vgl. DP 153 f. 83 Wenn Heidegger den Ursprung von Sprache in der verschwiegenen Unheimlichkeit und somit in der Selbsterschlossenheit des Daseins verortet, dann ließe sich bezüglich der buberschen Konzeption behaupten: Jedes Sprechen ist ver-antwortliches Sprechen

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So wurde deutlich: Verantwortlich ist der Mensch nach Buber, weil er von der Welt her angesprochen ist. Aus einem Bereich außerhalb meiner Verfügungsgewalt tritt mir ein Anspruch entgegen, dem ich zu entsprechen habe: Ich ver-antworte die Situation. Diese Auffassung schließt einmal eine deutliche Abgrenzung gegenüber jeder Konzeption primärer Verantwortung als Selbstbezug des Menschen ein – hier liegt die Distanz zu Heidegger und der gesamten neuzeitlichen Tradition, 84 denn die Verlagerung der für den Verantwortungsvollzug konstitutiven Momente der ›Ansprache‹ und ›Antwort‹ in die Situation der Selbstprüfung – der Selbstreflexion – muss Buber zwangsläufig als Verkümmerung der ursprünglichen Verantwortung begreifen. ›Wirklich‹ ist Verantwortung für Buber nur – in Anspielung auf das später thematisierte ewige Du –, »wenn es die Instanz gibt, vor der ich mich verantworte, und ›Selbstverantwortung‹ hat nur dann Realität, wenn das ›Selbst‹, vor dem ich mich verantworte, in das Unbedingte durchsichtig wird« (DP 164). »Verantwortung, die nicht einem Wort antwortet«, ist ihm schlichtweg »eine Metapher der Moral« (DP 164). Außerdem geht es Buber – und hier liegt wiederum eine große Nähe zu Heideggers Gewissensruf als eines ursprünglichen Redeereignisses – um eine fundamentale Ver-antwortlichkeit, die dem Menschen nicht erst dann eigen ist, wenn im Rahmen einer bestimmten Moral oder Rechtsverfassung konkrete Ansprüche an ihn ergehen. 2.3.3

Exkurs: Verantwortung bei Emmanuel Lévinas und der Bezug zu Bubers Konzeption

Als ein Ereignis, das nicht der Selbstreflexion des Ich, sondern einem Anruf vom Anderen her entspringt, wird Verantwortung bekanntlich auch von Emmanuel Lévinas thematisiert. 85 Aufgrund dieser augenim ursprünglichen Sinne, denn auch die Benennung von ›Dingen‹ ist mit Buber schließlich als dialogisches Geschehen charakterisierbar. 84 Picht hebt als wesentliches Kennzeichen der neuzeitlichen Ethik die Rückbindung jeglicher Verantwortlichkeit an das seiner selbst gewisse Ich hervor; vgl. Georg Picht, »Der Begriff der Verantwortung«, in: ders., Wahrheit. Vernunft. Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969, 318–342, hier: 320. Picht hat bei dieser Charakterisierung vornehmlich die kantische Ethik vor Augen – so behauptet er schließlich, der kategorische Imperativ sei die »klassische Formel für den auf die autonome Vernunft zurückbezogenen Begriff der Verantwortung« (Picht 1969, 321). 85 Zur Abgrenzung Lévinas’ vom Gedanken einer primären Selbstverantwortung siehe die Ausführungen Gürtlers, welche auch auf Heideggers ›Entschlossenheit‹ eingehen;

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scheinlichen Nähe zum buberschen Verantwortungsbegriff sollen nun einige kurze Bemerkungen zum Ansatz von Lévinas und den Berührungspunkten mit Bubers Dialogik folgen. 86 Im Gespräch mit Philippe Nemo erläutert Lévinas, inwieweit seine Konzeption von Verantwortlichkeit Subjektivität anders bestimmen soll, als dies in der neuzeitlichen Tradition in der Regel geschehen sei: »In der Tat ist Verantwortlichkeit kein bloßes Attribut der Subjektivität, so als würde diese bereits vor der ethischen Beziehung in sich selbst existieren. Die Subjektivität ist nicht ein Für-sich; sie ist […] ursprünglich ein Für-einen-Anderen.« 87 Bindung an den Anderen – Nähe zu ihm – konstituiert sich nach Lévinas ausschließlich in dieser fundamentalen Verantwortlichkeit und nicht, ebenso wie bei Buber, über einen Erkenntnisbezug zwischen Ich und Anderem. Zudem ist die Verantwortung auch bei Lévinas als ein ›Sprachgeschehen‹ begriffen: Das sog. ›Antlitz‹ (visage) im Sinne Lévinas’ ›bedeutet‹ ohne Kontext; es ist »für sich allein Sinn« und gewinnt diesen nicht aus einer Einordnung in bestimmte soziale, weltliche Bezüge. 88 Entsprechend meint Lévinas hier nicht das konkret wahrnehmbare Gesicht des Anderen in seinem je individuellen Aussehen, sondern »die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet« (TU 63). Als so verweisungslos bedeutend spricht vgl. Sabine Gürtler, Elementare Ethik. Alterität, Generativität und Geschlechterverhältnis bei Emmanuel Lévinas, München 2001, 147 ff.; zur Rolle der hebräischen Tradition bei dieser Distanzierung siehe Catherine Chalier, »Levinas and the Hebraic Tradition«, in: Ethics as First Philosophy. The Significance of Emmanuel Levinas for Philosophy, Literature and Religion, ed. by Adriaan T. Peperzak, New York/London 1995, 3–12. 86 Zum Verhältnis der Ansätze von Buber und Lévinas siehe exemplarisch Delhom 2000, 172 ff. sowie Rudolf Funk, Sprache und Transzendenz im Denken von Emmanuel Lévinas. Zur Frage nach einer neuen philosophischen Rede von Gott, Freiburg/München 1989, 321–328 und Stephan Strasser, »Buber und Levinas. Philosophische Besinnung auf einen Gegensatz«, in: Revue internationale de philosophie, No 126 (1978), 512–525 (im Folgenden zitiert als Strasser 1978 a). Zu einem Verantwortungsbegriff, der ebenfalls den tatsächlich Anderen als ursprünglichen Anspruchsteller begreift, siehe außerdem Löwiths Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (konkret: IRM 129 ff.) sowie Grisebachs Gegenwart (konkret: Grisebach 1928, 234, 497 und 509). Als aktuelle Konzeption einer Ethik, die von den Antworten »auf das, was uns widerfährt und in Anspruch nimmt«, ausgeht, sei Waldenfels’ responsive Ethik genannt; vgl. Bernhard Waldenfels, Schattenrisse der Moral, Frankfurt a. M. 2006, hier: 39. 87 Lévinas 1986, 73. 88 Vgl. Lévinas 1986, 65. Eine deutliche Nähe zum unverorteten Du ist offenkundig.

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das Antlitz nach Lévinas – »Antlitz und Gespräch sind miteinander verbunden« 89 . Sein erstes ›Wort‹ sei jedoch ein Gebot: »Du sollst nicht töten«. Diese Bestimmung soll freilich keine Leugnung der beständig gegebenen Möglichkeit der Tötung des einen Menschen durch den anderen darstellen – Lévinas betont jedoch, dass sich das Antlitz gerade jeglicher Vereinnahmung entziehe: »In ihm behauptet sich der unendliche Widerstand des Seienden gegen unsere Macht« 90 . Im vollzogenen Mord am Anderen werde das Antlitz also nicht getroffen bzw. ausgelöscht, sondern der Andere als weltlich – mit Heidegger: innerweltlich – Begegnender: »Im gleichen Moment, wo meine Fähigkeit zu töten in die Tat umgesetzt wird, ist mir der Nächste schon entwischt. Gewiß kann ich im Töten ein Ziel erreichen, ich kann töten, wie ich jage oder wie ich Bäume fälle oder Tiere erschlage, doch dann habe ich den Nächsten in der Erschlossenheit des Seins ganz allgemein ergriffen, als Element der Welt, in der ich mich befinde, ich habe ihn im Horizont gesehen. Ich habe ihm nicht ins Gesicht gesehen, ich bin nicht seinem Antlitz begegnet.« (ZU 21)

Obgleich Lévinas vor dem Hintergrund der Sprachlichkeit der Begegnung mit dem Anderen Verantwortlichkeit wie Buber als Antworten begreift und zudem, ähnlich der buberschen Unterscheidung zwischen Ansprechen und Besprechen, zwischen einem die Bindung an den Anderen herstellenden Sagen und einem im Gespräch Gesagten unterscheidet 91 – die Anrede des Anderen ausdrücklich als Befehl aufzufassen, dies markiert eine bedeutende Differenz zu Bubers dialogischem Ansatz. Anders als Buber denkt Lévinas den Bezug zum Anderen schließlich als radikal asymmetrisch und spricht dabei ausdrücklich von einer »totalen Unterwerfung« des Subjekts: »Gerade in dem Maße, in dem die Beziehung zwischen dem Anderen und mir nicht gegensei-

Lévinas 1986, 66. Emmanuel Lévinas, »Ist die Ontologie fundamental?«, in: ZU, 11–23, hier: 22. 91 In einem seiner Buber-Aufsätze, wo Lévinas die Unterscheidung zwischen Dit (Sprache als Gesagtes) und Dire (Sprechen als Sagen) direkt nach einer Diskussion des buberschen Sprachdenkens anbringt, begreift er in diesem Zusammenhang mit Buber das Antworten, das jeder echte Dialog mit sich bringt, als »Ver-antwort-lichkeit«; siehe Lévinas 1991, 27 ff. Auf eine Beeinflussung Lévinas’ durch Bubers Unterscheidung zwischen Besprechen und Ansprechen verweist auch Maaß; siehe Holger Maaß, Phänomenologie im Dialog. Sprachphilosophische Interpretationen zu Husserl, Heidegger und Lévinas, Leipzig 2002, 232 f. 89 90

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tig ist, bin ich dem Anderen gegenüber unterworfen (je suis sujétion à autrui)« 92 . Obgleich bei Buber im Rahmen der Verantwortungskonzeption das Ich als ein stets schon angesprochenes und aufgerufenes in den Blick rückt, findet eine solch radikale ›Unterwerfung‹ des Ich hier tatsächlich nicht statt. Auch wenn Buber die dialogische Beziehung keineswegs als schlichtes, bruchloses Hin und Her denkt, 93 sondern das Du sich gegenüber dem Es ja gerade durch seine Uneinholbarkeit auszeichnen soll – aus einer Perspektive des Denkens von Lévinas dominiert bei Buber eindeutig das Moment der Gleichrangigkeit der Partner. Die Vorgängigkeit des Anrufs beraubt das Ich bei Buber also zwar seiner Souveränität im Sinne eines reinen In-sich-Ruhens und Vonsich-aus-Beginnens, weil der Anstoß zur Antwort von anderswo herkommt – das eigentliche Geschehen der Verantwortung geschieht jedoch hier in einem ›Zwischen‹, welches beide Partner des Verantwortungsgeschehens zusammenbringt, ohne jedoch Anrede und Antwort harmonisch aufeinander abzustimmen. 94 92 Lévinas 1986, 75. Siehe auch die Rede von ›Geiselschaft‹ und ›Versklavung‹ in Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, aus dem Franz. übers. von Thomas Wiemer, Freiburg/München 1998, hier: 297 ff. Lévinas betont jedoch auch, dass mich niemand in meiner Verantwortlichkeit ersetzen könne. Darin liege wiederum eine ›Erhöhung‹ des angesprochenen Subjekts: »Diese Last ist eine höchste Gnade des Einzigen. Ich, nicht-auswechselbar, ich bin ich einzig in dem Maß, in dem ich verantwortlich bin.« (Lévinas 1986, 78) 93 Es sei daran erinnert, dass Buber durch seine Betonung der Gleichrangigkeit zwischen Ich und Du primär eine ›Erniedrigung‹ des Gegenübers des Ich verhindern möchte, ohne jedoch die dialogische Begegnung bzw. die ursprüngliche Ver-antwortung als einem Pingpong-Spiel ähnliche Wechselbeziehung zu denken. Es gibt auch Stellen, an denen die Notwendigkeit einer Wechselseitigkeit im Ich-Du-Moment ganz geleugnet wird; siehe DP 13. Zudem dürfte es gerade im Bereich einer ›Anrede‹ durch die ›Dinge‹ problematisch sein, von einer tatsächlich wechselseitigen Verantwortung auszugehen. 94 Als einer von wenigen Lévinas-Interpreten deutet Funk an, dass Lévinas’ Abgrenzung vom dialogischen Denken dieses oftmals zu sehr auf das Denken eines harmonischen Wir oder bloßen Wechselwirkens reduziert; vgl. Funk 1989, 198 ff. sowie 321 ff. Zudem ist fraglich, ob die Begegnung mit dem Anderen als Anderen diese radikale Asymmetrie tatsächlich zur Voraussetzung braucht; so betont Derrida – und diese Bemerkung steht Bubers Ansatz durchaus nahe –, dass die ›Unheimlichkeit‹ des Anderen gerade in seiner Gleichrangigkeit mir gegenüber zu liegen vermag; vgl. Derrida 1976, 191 ff. Tatsächlich geht Derrida in »Gewalt und Metaphysik« auch kurz auf Lévinas’ ›Vorwürfe‹ gegenüber dem buberschen Ich-Du ein und hebt explizit hervor, dass eine Lesart, die dieses als ›heimeliges‹ Zweier-Verhältnis sieht, an Bubers Intention gerade vorbeizielt; vgl. Derrida 1976, 161; Fn. 39.

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Neben der fehlenden ›Höhe‹ des Anderen gegenüber dem Ich bei Buber beklagt Lévinas auch einen angeblichen Formalismus des IchDu. In seinem Gefolge wirft Józef Tischner Buber (und anderen Dialogphilosophen) vor, eine bloß formalistische Beziehung zwischen Ich und Du zu entwerfen, die ein traditionelles, ontologisch fundiertes Verhältnis (Subjekt-Objekt) durch die Betonung der Relationalität beider Beziehungspole zu überwinden sucht, dabei aber letztlich den Denkmustern der Ontologie sowie deren Begrifflichkeit verhaftet bleibe. 95 Diese Kritik beinhaltet zwei miteinander verbundene Aspekte: Einmal zielt sie auf die Weite des Ich-Du ab. Verantwortlichkeit ist bei Buber eben nicht auf den zwischenmenschlichen Bereich beschränkt, sondern das Ich-Du stellt tatsächlich ein ›Schema‹ dar, welches auf alle möglichen Beziehungen zwischen menschlichem Sein und weltlich Begegnendem angewendet werden kann. Zweitens impliziert der Vorwurf die These, dass Buber trotz seines dialogischen Grundansatzes den Schritt zu einer ›Fundamentalethik‹ als Erster Philosophie – wie Lévinas sie in Abgrenzung von der durch die griechische Metaphysik geprägten europäischen Philosophie konzipiert – versäumt habe. In der Tat begreift Buber die Ethik meist als einen Teilbereich menschlichen Seins. Lévinas’ Versuch, »Subjektivität mithilfe ethischer Begriffe« 96 zu beschreiben, ist in der Absetzung gegenüber anderen philosophischen Konzeptionen sicherlich radikaler als Bubers Ansatz. Den Schritt zum Verständnis einer Ethik jenseits des eng gefassten Begriffs vollzieht Buber nicht ausdrücklich, sondern kritisiert – wie gesehen – explizit den Begriff einer »nur-ethischen Verantwortung« (DP 208) in Abgrenzung von seiner dialogisch begriffenen Verantwortlichkeit. Die ›Urwirklichkeit‹ von Ich und Du ist nach Buber nicht Ethik, sondern »Religion«, und zwar Religion im Sinne »gelebter Gegenwart« 97 . Sein Denken bzw. die ›Kernessenz‹ seiner Konzeption Vgl. MD 95 ff. Lévinas 1986, 72. 97 Siehe zu diesem Begriff von Religiosität RG 47. In Gottesfinsternis deklariert Buber als ethische Sphäre den Bereich der Entscheidung, »wo die menschliche Person sich mit ihrer eigenen Möglichkeit konfrontiert« (W I, 575). In der Beziehung – d. h. hier: in der Beziehung zum Absoluten – aber trete die Person aus dem ethischen Bereich hinaus und öffne sich der religiösen Sphäre. Allerdings heißt es in einem in Der Jude und sein Judentum veröffentlichten Text explizit zum Wesensgehalt des hebräischen ›Denkens‹ : »Das ethische ist unausschmelzbar eingegangen in das religiöse Leben.« (JJ 192) ›Eingegangen‹ meint hier aber offenkundig nicht ein ›Aufgehen in …‹, sondern eine Verschmelzung, so dass Religion und Ethik im Kern zusammenfallen. Zudem begreift auch 95 96

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bezeichnet Buber aber auch mehrfach als einen »hebräischen Humanismus«. Wesentliches Merkmal dieses Humanismus sei, dass es hier nicht um das Selbstverhältnis der Person gehe, »nicht darum, daß sie in ihrer eigenen Reflexion das zum Selbstbewußtsein gelangte Sein entdecke«, sondern »um das Verhältnis des Menschen zu allem Seienden« 98 . So berühren sich der »Humanismus des anderen Menschen« im Sinne Lévinas’ und Bubers Denken zwar im Rückgang auf eine von ihnen als spezifisch jüdisch begriffene Tradition, die Beziehung zum ›Anderen‹ in den Mittelpunkt menschlichen Seins zu rücken, doch während Lévinas’ Humanismus allein auf den anderen Menschen abzielt, schließt Bubers Dialogismus eben auch die Beziehung des Menschen zu nicht-menschlichem Seienden ein. 99 Es wurde in dieser Untersuchung schon mehrfach darauf hingewiesen, dass Buber in der Tat zahlreiche Begriffe der traditionellen Metaphysik übernimmt, obgleich dies die Originalität seines eigenen Ansatzes immer wieder in Gefahr bringt. Trotz des also durchaus berechtigten Vorwurfs eines Verharrens in überlieferten Begriffen bekräftigt Lévinas in einer expliziten Würdigung des »Pioniers« Buber in dem Sammelband Außer sich schließlich aber auch das Bestehen einer großen Nähe zwischen seinem Ansatz und Bubers dialogischem Denken. So charakterisiert er Bubers Werk in einer Weise, welche die vorher angeführte Kritik wieder zu entschärfen vermag: Bubers Konzeption sei »eine Erneuerung der Ethik, die weder mit einem mythischen Gelten einiger Werte nach Art der platonischen Ideen, noch mit einer vorgeschalteten Thematisierung, Erkenntnis oder Theorie des Seins mit dem Ziel der Selbsterkenntnis, aus welcher sich die Ethik als Konsequenz oder Rattenschwanz ergeben würde, noch mit dem universalen Vernunftgesetz beginnt. Die Ethik beginnt vielmehr angesichts der Exteriorität des Anderen, angesichts des Nächsten, und, wie ich

Lévinas mitunter die Beziehung zum Nächsten als »Religion«, hinter der sich allerdings keine metaphysischen oder theologischen Konzepte verstecken sollen; vgl. ZU 19 sowie TU 46. 98 Martin Buber, »Gläubiger Humanismus«, in: NL, 113–120, hier: 116. 99 Damit ergibt sich jedoch nicht nur eine Chance, nämlich die einer Begründung konkreter Verantwortung gegenüber der ›Umwelt‹, sondern es stellt sich mit Lévinas auch die Frage, ob die Bedeutung des anderen Menschen durch diese Ausweitung des Ich-DuVerhältnisses nicht nivelliert wird. Schließlich fällt die traditionelle Unterscheidung zwischen Person und Sache hier insofern weg, als auch nicht-vernünftige, nicht-autonome, ja nicht-belebte ›Dinge‹ als ›anredend‹ im fundamentalen Sinne verstanden sind.

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gerne sage, angesichts seines Antlitzes, das meine Verantwortung schon durch seine menschliche Aussage in die Pflicht nimmt.« 100

2.3.4

Die Verantwortung des Einzelnen

Die Frage an den Einzelnen (1936) ist neben »Zwiesprache« die zweite der buberschen Schriften zum dialogischen Prinzip, in welcher der Verantwortungsbegriff eine zentrale Rolle spielt. 101 Dabei wird ein Moment besonders akzentuiert, das Bubers Konzeption in eine deutliche Nähe zu Heideggers Eigentlichkeit als Überwindung des Man-selbst zu bringen scheint: 102 Im echten Eingehen auf den an mich ergangenen Anruf liegt nach Buber durchaus eine gewisse Vereinzelung beschlossen, nämlich eine Vereinzelung im Sinne des treuen Einstehens der ganzen Person. Buber stellt also einen direkten Bezug zwischen dem eigentlichen Vollzug von Verantwortung und seiner bereits thematisierten Konzeption von Wahrheit als Wahrhaftigkeit her – einer Wahrheit, die nur in der konkreten Situation verwirklicht werden kann, aber nicht für alle Zeiten ›zu haben‹ und immer wieder ›abrufbar‹ ist. Um einen ›echten‹ Begriff von Verantwortung zu gewinnen, konfrontiert Buber in diesem Text den »Einzelnen« im Sinne Kierkegaards mit Stirners Vorstellung des »Einzigen«. Wie bei der Thematisierung des Wahrheitsbegriffs beurteilt Buber Stirner durchaus differenziert: Stirners Kategorie des Einzigen sei zwar Ausdruck eines allmächtigen Ich, das sich der »ontischen Uranderheit des Anderen« (DP 207) voll100 Lévinas 1991, 30. Auch die Beurteilung der ontologischen Begrifflichkeit bei Buber fällt hier differenzierter aus: Bubers Konzept beinhalte eine »ethische Auffassung von Transzendenz, die aber vor einem Rückfall in eine gewisse Sicht, in der das Ich-Du – das Ethische – wiederum als ein gewisser, privilegierter Modus der Gegenwärtigkeit, das heißt als eine Seinsmodalität aufgefaßt wird, nicht immer gefeit ist« (Lévinas 1991, 30 f.; Hervorhebungen M. S.). 101 Die aktuelle politische Situation in Deutschland bildet den – aus guten Gründen nicht explizit angesprochenen – Hintergrund dieses Textes, in dem Buber unter Bezugnahme auf Kierkegaards Begriff des »Einzelnen« die Bedrohung der Person durch die Kollektivierung zum Zentralthema erhebt. Während Buber Kierkegaard hier durchaus positiv rezipiert, sieht er die Kategorie des ›Einzelnen‹ in Das Problem des Menschen wieder eher kritisch; vgl. W I, 376. Zum Verhältnis Buber – Kierkegaard siehe Robert R. Perkins: »Buber und Kierkegaard – Eine philosophische Begegnung«, in: Bloch/Gordon 1983, 289–314. 102 Die hier wie dort stattfindende Bezugnahme auf Kierkegaard mag den Vermittlungshintergrund darstellen.

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kommen verschließe – andererseits wohne der Streitrede des »pathetischen Nominalisten und Ideenentlarvers« (DP 200) auch ein positives Moment inne. Denn sie destruiere die »Scheinverantwortung vor einer Vernunft, einer Idee, einer Natur, einer Institution, vor allerhand erlauchten Gespenstern, vor alledem, was wesentlich nicht Person ist und also nicht wirklich, wie Vater und Mutter, wie Fürst und Meister, wie Gatte und Freund, wie Gott, zur Verantwortung ziehen kann« 103 .

Stirner stellt nach Buber also jede ›abstrakte‹ Verantwortung radikal in Frage, ohne jedoch zur tatsächlichen – nämlich dialogischen – Wirklichkeit von Verantwortung durchzudringen. Indem Stirner herrschende ›Vorurteile‹ schonungslos angreife, schaffe er aber überhaupt erst die Basis für einen neuen Ansatz: »›Lüge ist was ihr Verantwortung nennt!‹ schreit er – und hat recht: es ist Lüge. Aber es gibt eine Wahrheit. Und der Weg zu ihr liegt freier, nachdem die Lüge durchschaut ward.« (DP 207) Während die Preisung des »Einzigen« aber per se das bindende Angesprochensein von einem Anderen her leugnet und somit gar nicht dem Wesen echter Verantwortung nachgeht, spricht Kierkegaards »Einzelner« laut Buber ein ganz zentrales Merkmal der echten Verantwortung an. Indem Kierkegaard den Einzelnen von der Menge absetze, betone er schließlich, dass der Person das Rede-und-Antwort-Stehen nicht abgenommen werden könne – sei es von einer anderen Person, einer Gruppe oder einer Institution. 104 Vereinzelung meint bei Buber also nicht Fundierung von Verantwortung im Selbstbezug des Menschen, 105 doch eine Abgrenzung von Anderen ist auch im dialogischen 103 DP 207. Siehe zur näheren Erläuterung der ›Scheinhaftigkeit‹ einer Verantwortung vor der Vernunft oder einer Idee W I, 1115 f. 104 Im letzten Abschnitt wurde bereits Bubers Anlehnung an Kierkegaards Rede von der »Unwahrheit« der »Menge« erwähnt. Buber betont jedoch auch, dass nicht jeder seine Entscheidung in der Isolation treffen müsse – dies würde seiner Vorstellung des Zwischenmenschlichen auch deutlich widersprechen. Er hebt lediglich hervor, dass eine Gruppe als dynamische Eigenmacht den Einzelnen nicht entmachten, d. h. ihn in ein einziges großes »Gruppen-Ich« integrieren dürfe, solle noch echte Ver-antwortlichkeit bestehen; vgl. DP 201. 105 In Ich und Du thematisiert Buber auch zwei Arten von Einsamkeit: Die eine löse das Ich aus dem erfahrenden und gebrauchenden Umgang mit den Dingen, was jedoch keine vollkommene Beziehungslosigkeit meine; die zweite hingegen sei reine Zwiesprache nur mit sich selbst; vgl. DP 105 f. Zudem betont Buber: »Dialogisches Leben ist nicht eins, in dem man viel mit Menschen zu tun hat, sondern eins, in dem man mit den Menschen, mit denen man zu tun hat, wirklich zu tun hat.« (DP 167)

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Verantwortungskonzept ganz deutlich impliziert, nämlich eine Absetzung von ihnen, insofern sie als Träger oder Repräsentanten von allgemein herrschenden Meinungen und Interessen auftreten, die jeden Anspruch sogleich reduzieren auf eine bestimmte Deutung, welche sich vor dem Hintergrund der herrschenden Auffassungen – Wertesysteme, Ideologien usw. – anbietet. Aufgegeben ist dem Menschen nach Buber demnach, nicht auf die Offenbarung konkreter Botschaften zu warten, aus denen sich universale Gesetze herauslesen ließen, nach denen strikt zu handeln automatisch ein verantwortliches Handeln wäre. 106 Eben diese starke Akzentuierung des Rufgeschehens gegenüber einem bestimmten Inhalt der Anrede – die Behauptung Bubers, dass die Situation »immer neu, unvorhersehbar, unvordenkbar, unvorschreibbar gelebt wird« (DP 97) – ist jedoch auch höchst problematisch: Wenn Buber mit seiner Konzeption von Verantwortung auf ein grundlegendes Redegeschehen abzielt, welches noch keine konkrete Moral impliziert – lässt sich dann nicht jede ›Antwort‹ auf einen solch unbestimmten Anruf rechtfertigen mit dem Hinweis auf die Un-eindeutigkeit der gegebenen ›Zeichen‹ ? Wie soll überhaupt noch unterschieden werden zwischen einem verantwortlichen und einem un-verantwortlichen Handeln im engen, konkreten Sinne? 107 Entsprechend wird Bubers Entwurf nicht selten kritisch als – indirekter – Aufruf zur ›moralischen Anarchie‹ gelesen. 108 Die Stärke des Ansatzes mag darin liegen, 106 Daher Bubers Deutung auch des Dekalogs als situationsgebundener Anrede: Im Gegensatz zu allen »katechismusähnlichen Abfassungen« ist nach Buber hier »alles auf die eine Stunde bezogen, in der gesprochen und gehört wird« (W II, 150). Siehe auch Bubers kurzen Text »Was soll mit den Zehn Geboten geschehen?« (in: W II, 895–899), in dem er die Entwicklung des positiven Rechts als letzte Etappe eines Isolierungsprozesses des Gesprochenen aus der konkreten Situation begreift. 107 Somit stellt sich auch die Frage nach einer Ausweitung der »Augenblicksverantwortung des Menschen« (Martin Buber, »Wie kann Gemeinschaft werden?«, in: JJ, 358– 375, hier: 374) in Richtung einer Vorstellung von Gerechtigkeit, die sich von der dualen Struktur eines Ich-Du löst; diese Notwendigkeit sieht Lévinas schließlich ausdrücklich und führt die Figur des Dritten ein, welche die Momente des Vergleichens, Urteilens, Verallgemeinerns in den Diskurs über Verantwortung dem Nächsten gegenüber einbringt; vgl. zu dieser Gerechtigkeitskonzeption exemplarisch Gürtler 2001, 175 ff. 108 Vgl. zu diesem Problem folgende Auseinandersetzungen mit Bubers ›Ethik‹ : Marvin Fox, »Einige Probleme in Bubers Moralphilosophie«, in: Schilpp/Friedman 1963, 135– 152 und Maurice Friedman, »Die Grundlagen von Martin Bubers Ethik«, in: Schilpp/ Friedman 1963, 153–179. Fox zieht aus Bubers Betonung der Nicht-Objektivierbarkeit der immer neuen Situation folgenden Schluss: Eine solche Moralphilosophie redet, »in-

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trotz einer Bindung des Anspruchs an eine menschenunabhängige Sphäre die Bedeutung einer freien Entsprechung des Angeredeten hervorzuheben. 109 Doch nach welchen Kriterien soll entschieden, d. h. eine bestimmte Antwort gewählt werden? Und wie steht die Entscheidung im Verhältnis zu den gegebenen ›Zeichen‹ ? Wenn Buber von der ›ganzen‹ Person spricht, schließt er eine rein rationale Begründung konkreter Entscheidungen aus. Dabei proklamiert er aber auch keine Irrationalität, weil die ganze Person die Vernunft nicht aussondert, sondern einschließt. Letztlich zeigt schon die Diskussion des stirnerschen Ansatzes Bubers Dilemma deutlich auf: Seine eigene Konzeption bezieht sich positiv auf einen Denker, der das Fraglichgewordensein absolut verbindlicher Werte ausdrücklich artikuliert; es wird aber schnell deutlich, dass Buber auf der anderen Seite auch keine vollkommene Beliebigkeit in moralischen Fragen zulassen möchte. Wann immer er sich konkreten moralischen Problemen zuwendet, geht er ganz selbstverständlich von den Werten aus, die in der jüdisch-christlichen Tradition stehen. Zudem möchte er sich mit dem Gebrauch der Termini ›Situation‹, ›Wahl‹, ›Entscheidung‹ nach eigener Aussage keineswegs in die Nähe einer Existenzphilosophie im Sinne Sartres begeben. Wie Buber dessen Ansatz skizziert, müsste letztlich einer ausführlicheren kritischen Prüfung unterzogen werden – es reicht jedoch für das hier thematisierte Problem aus, diese Kritik ohne eingehenderen Kommentar anzuführen: Sartre proklamiere eine ›Erfindung‹ von Werten, weil es keinen apriorischen Sinn der Welt oder des Lebens gäbe. 110 Ein freies Neuschaffen von Werten – welches allerdings den Wählenden keineswegs von einer fundamentalen Verantwortung für sein Tun entlasten muss – hält Buber nun ausdrücklich für Trug, denn einen »Sinn oder Wert dem sie versucht, zu moralischer Ordnung aufzurufen, tatsächlich moralischer Anarchie das Wort« (Fox 1963, 151). Auf diese mögliche Kritik geht Buber jedoch selbst ein; siehe W I, 578. 109 So wird durch die radikale Ablehnung des Gedankens der Selbstverantwortung keine Fremdbestimmung des Menschen proklamiert. Buber äußert sich selbst zu diesem möglichen Vorwurf gegenüber seiner Konzeption; siehe W I, 578. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Waldenfels’ responsive Ethik sich ebenfalls der ›Gefahr‹ ausgesetzt sieht, den Anderen zu ›vergöttlichen‹ oder eine Gleichgültigkeit gegenüber dem konkreten Gehalt der Antwort zu vermitteln; vgl. Waldenfels 2006, 40, wo sich der Autor kritisch mit den Deutungen der responsiven Ethik entweder als einer Hyper- oder einer Amoral auseinandersetzt. 110 Vgl. W I, 554.

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kann man dann glauben, annehmen, als weisendes Licht über das eigne Leben stellen, wenn man ihn gefunden, nicht wenn man ihn erfunden hat« (W I, 554). Eine bloße Einigung zwischen Menschen, die aus verschiedenen Möglichkeiten schließlich die von nun an geltenden Werte auswählen und festsetzen, beurteilt Buber an derselben Stelle als ein geradezu absurdes Geschehen. Auf der anderen Seite lassen sich bei Buber zahlreiche Stellen finden, welche ein deutliches ›Pathos der Entscheidung‹ durchscheinen lassen; am offensichtlichsten bekundet sich ein solches, wenn er das ›Böse‹ mit dem Sich-nicht-Entscheiden identifiziert. 111 So ist Bubers Verantwortungskonzeption – betrachtet man die Frage nach den zu gebenden ›Antworten‹ – von einer deutlichen Spannung zwischen der Distanzierung von den bloßen ›Metaphern der Moral‹ und einer doch stillschweigenden Orientierung an ihrem konkreten Inhalt gekennzeichnet. Wie in Bezug auf Heideggers ›Entschlossenheit‹ lässt sich konstatieren: Eine spezifische Ethik ist mit dieser Konzeption von Verantwortung nicht gegeben, obgleich Buber nicht so konsequent wie Heidegger den Rückgriff auf bestimmte traditionelle Werte meidet. 112 Bubers Entwurf hat aber insofern Relevanz für den moralphilosophischen Bereich, als er die grundlegende Konstellation zu beschreiben versucht, welche das Artikulieren bestimmter Ansprüche und das Eingehen auf diese überhaupt erst möglich macht.

2.4 Bubers Rückgriff auf ein hebräisches Sprachdenken Einen zentralen Hintergrund des Kerngedankens der dialogischen Verantwortung – der Idee eines ursprünglichen Angesprochenseins des Menschen – bildet Bubers Auseinandersetzung mit der Sprachauffassung des Judentums generell sowie der Sprachmystik des Chassidismus im Besonderen. Aufgrund der großen Bedeutung dieser Quellen für den buberschen Verantwortungsbegriff lohnt es sich durchaus, die wesentlichen Motive jüdischer Sprachmystik – bzw. Bubers zahlreiche Bemerkungen zu dieser – explizit zu thematisieren, obgleich es sich hier um religiöse Texte handelt. Dabei soll Bubers Konzeption durch Vgl. DP 261. Insofern teilen beide Entwürfe das ›Schicksal‹, bei ihren Kritikern immer wieder einen grundlegenden Dezisionismusverdacht zu wecken. 111 112

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den Rückbezug auf diese religiösen Wurzeln jedoch nicht legitimiert werden. Die eingehende Beschäftigung Bubers mit dem Chassidismus als einer spezifischen Ausprägung jüdischer Mystik beginnt lange vor der Entdeckung des ›Dialogischen‹ ; die intensivste Phase liegt zwischen 1904 und 1912. 113 Das besondere Merkmal dieser Strömung innerhalb des Judentums, welches Buber besonders faszinierte, stellt ihre Weltzugewandtheit dar, man könnte auch sagen: ihre Heiligung des Alltags. Buber in »Die jüdische Mystik« von 1909: »Der Chassidismus ist die Ethos gewordene Kabbala. Aber das Leben, das er lehrt, ist nicht Askese, sondern Freude in Gott.« 114 Gershom Scholem beschreibt in seiner Charakterisierung des polnischen Chassidismus, dabei gar den Begriff der ›Primitivität‹ nicht scheuend, die Bewegung folgendermaßen: »Fast alle Begriffe der Kabbala erhalten Beziehung auf solche Werte des persönlichen Lebens im Menschen, und die das nicht tun, bleiben leer und unwirksam. Daher erfahren alle Ideen und Vorstellungen, die eine Beziehung des Individuums zu Gott betreffen, eine ungeheure Intensivierung.« 115

Im Alltäglichen Gott begegnen zu können, das schließt eine radikale Transzendenz Gottes konsequenterweise aus; und wie Gott sich nun in der Welt offenbaren soll, verweist unmittelbar auf die bubersche Konzeption von Verantwortung als eines Antwortens: Für den Frommen – 113 Schon als Kind kam Buber in Kontakt mit dieser letzten Bewegung jüdischer Mystik, die im 18. Jahrhundert im Süd- und Nordwesten der heutigen Ukraine entstand und sich innerhalb des polnisch-russischen Judentums rasch ausbreitete. Siehe zum Einfluss auf Buber exemplarisch Gerda Topp, »Der Chassidismus Martin Bubers in seinem Leben und Wirken«, in: Dialog mit Martin Buber, hrsg. von Werner Licharz, Frankfurt a. M. 1982, 175–230. 114 Martin Buber, »Die jüdische Mystik«, in: W III, 9–18, hier: 15. 115 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, 374. Eine deutliche Distanz zur talmudisch-rabbinischen Tradition ist also wesentliches Charakteristikum dieser Strömung auch nach Scholem; dennoch wirft er Buber vor, seine eigene ›existentialistische‹ Philosophie in den Chassidismus hineingelegt und somit ein verzerrtes Bild dieser Bewegung abgeliefert zu haben. So verschweige Buber z. B., dass der Chassidismus durchaus auch eine theoretische Literatur hervorgebracht hat und nicht durchweg in einer Art Laienmystik bestand; vgl. Gershom Scholem, »Martin Bubers Deutung des Chassidismus«, in: ders. 1963, 165–206. Gerhard Wehr betont in seiner Auseinandersetzung mit Bubers Chassidismus-Deutung, dass Buber letztlich einen »Neo-Chassidismus« geschaffen habe, indem er die schlichten Erzählungen der Ostjuden in eine geschliffene Literatur übersetzte; vgl. die Kapitel zu Buber in Gerhard Wehr, Der Chassidismus. Mysterium und spirituelle Lebenspraxis, Freiburg i. Br. 1978.

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den Chassid – sei »die ganze Welt nur ein Wort aus Gottes Mund«, also sei »das geringste Ding in der Welt würdig, daß Gott sich aus ihm dem Menschen, der ihn wahrhaft sucht, offenbare« 116 . Daraus folge entsprechend, dass jeder Mensch nahezu ›unendliche Verantwortung‹ habe, indem er dieser Offenbarung 117 ent-spreche: »Er bewegt sich, er redet, er blickt, und jede seiner Bewegungen, jedes seiner Worte, jeder seiner Blicke schlägt Wellen ins Geschehen der Welt; er vermag nicht zu erkennen, wie starke und wie weithin reichende. Jeder Mensch bestimmt mit all seinem Sein und Tun das Schicksal der Welt in einem ihm und allen unkenntlichen Maße; denn die Ursächlichkeit, die wir wahrnehmen können, ist ja nur ein winziger Ausschnitt aus dem unausdenklich vielfältigen unsichtbaren Wirken aller auf alle.« (W III, 972)

Es ist also eindeutig nicht die Buchstaben-Kombinatorik der Kabbala, auf die sich Bubers Interesse an der Sprachauffassung der jüdischen Mystik richtet, sondern deren Ehrfurcht vor dem Sichereignen des Wortes, das hier die Welt und ihren geschichtlichen Verlauf als ein großes lebendiges Anrede-Antwort-Geschehen ausweist. 118 Zu einem ›Überschuss‹ in jeder sprachlichen Äußerung, welche in Funktionen des Mitteilens und Bezeichnens nicht vollkommen aufgeht, schreibt Scholem in seinen aufschlussreichen Ausführungen zur Sprachauffassung der jüdischen Mystik Folgendes: »Der Mystiker entdeckt an der Sprache eine Würde, eine ihr immanente Dimension oder, wie man heute sagen würde: etwas an ihrer Struktur, was nicht auf Mitteilung eines Mitteilbaren ausgerichtet ist, sondern vielmehr […] auf Mitteilung eines Nicht-Mitteilbaren, das ausdruckslos in ihr lebt und selbst wenn es Ausdruck hätte, so jedenfalls keine Bedeutung, keinen mitteilbaren ›Sinn‹.« 119

116 Martin Buber, »Mein Weg zum Chassidismus«, in: W III, 959–973, hier: 962. Die Welt als Wort Gottes begreift auch Hamanns ›sakramentales Sprachdenken‹ ; siehe zur Nähe und Distanz zwischen Bubers und Hamanns Sprachdenken Schaeder 1966, 135 f. Hetzel bringt Bubers weite Sprachauffassung mit Böhmes und Schellings Logosmystik in Verbindung; vgl. Hetzel 2004, 44 f. 117 Zu Bubers Begriff der ›Offenbarung‹ siehe Emil L. Fackenheim, »Martin Bubers Offenbarungsbegriff«, in: Schilpp/Friedman 1963, 242–264. 118 Der gesprochenen Sprache einen Vorzug vor der Schrift zu geben, bedeutet also, noch einmal eine spezifische Akzentsetzung innerhalb der jüdischen Sprachauffassung bzw. gar innerhalb der Sprachmystik selbst vorzunehmen. 119 Gershom Scholem, »Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala«, in: ders., Judaica 3, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1977, 7–70, hier: 8 f.

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Die Beziehung zum Göttlichen als einen »Dialog zwischen Himmel und Erde« 120 zu begreifen, schreibt Buber jedoch dem Judentum insgesamt als wesentliches Moment zu; es wurde ja bereits im Abschnitt zur Sprache deutlich, dass Bubers und Rosenzweigs Bibelübersetzung die grundsätzliche Auffassung zugrunde liegt, dass die Bibel die gesamte Lebenswirklichkeit des Menschen als ein dialogisches Geschehen präsentiere. Buber entsprechend zur Sprachauffassung im Judentum generell: »Der Verlauf des menschlichen Daseins wird vom Judentum, für das alles Weltgeschehen von der Schöpfung bis zur Erlösung im Zeichen der Sprache steht, als ein Zwiegespräch empfunden. Der Mensch wird durch das, was ihm widerfährt, was ihm geschickt wird, durch sein Schicksal angeredet; durch sein eigenes Tun und Lassen vermag er auf diese Anrede zu antworten, er vermag sein Schicksal zu verantworten. Diese Antwort mag stammelnd erfolgen – wenn nur eine unbedingte Entscheidung des Menschen in ihr rückhaltlos zum Ausdruck kommt. Die menschliche Person ist in der Auffassung des Judentums, trotz aller Belastung vom Ursprung her bis auf heute, immer noch in der Lage des ersten Menschen; sie steht in der Freiheit, auf die Anrede, die vom schöpferischen Geheimnis aus an sie ergeht, die Lebensantwort zu geben oder sie zu versagen – das anvertraute Stück Welt zu heiligen oder es zu entweihen.« 121

Die Inspiration der buberschen Verantwortungskonzeption durch die jüdische Tradition ist somit offenkundig. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass Bubers Präsentation der hebräischen Bibel sowie eines ›hebräischen Denkens‹ generell auch eine bestimmte Interpretation darstellt: Buber lässt sich zwar für seine Dialogik von jüdischen Motiven inspirieren, seine Deutung jüdischer Quellen ist jedoch wiederum durch seine philosophische Ausrichtung, d. h. spätestens seit Ich und Du: durch seine Dialogik, wesentlich beeinflusst. So erhielt Bubers Neubestimmung des Ich-Welt-Verhältnisses sicherlich eine starke Prägung durch hebräische Grundgedanken, sie ver-

120 Martin Buber, An der Wende, in: JJ, 144–183, hier: 173. Schon die Schöpfung ist nach dieser Deutung Dialog: »die Schöpfung als Sprache: Anruf ins Nichts und Antwort der Dinge durch ihr Erstehn« (Martin Buber, Die chassidische Botschaft, in: W III, 739– 894, hier: 743). Als produktive Auseinandersetzung mit der Dimension des schöpferischen Wortes bzw. der Sprachlichkeit der Schöpfung in der hebräischen Bibel siehe auch Walter Benjamin, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: ders., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, ausgew. von Rolf Tiedemann, Stuttgart 1992, 30–49. 121 Martin Buber, »Das Judentum und die neue Weltfrage«, in: JJ, 234–238, hier: 236.

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mag aber auch losgelöst von diesen Wurzeln philosophische Schlagkraft zu entfalten, denn letztlich beruft sich Buber nie in dogmatischer Manier auf die jüdischen Quellen, sondern er sieht sie als Ausdruck und Bezeugung grundlegender Erfahrungen, die auf ein ›Begegnen‹ zwischen Mensch und Mensch sowie Mensch und Welt hinweisen, welches durch eine vornehmlich erkenntnistheoretisch orientierte Fassung des Ich-Welt-Verhältnisses nicht angemessen beschrieben werden kann. 122 Wenn Peperzak fragt, ob sich das Begegnen von Seiendem – Natur und Kunst etwa – möglicherweise eher als eine Art Aufforderung oder Ansprechen beschreiben ließe, und nicht als ein ›Erscheinen‹ oder ›Gegebensein‹, dann schließt er somit ausdrücklich an Bubers Aufweis einer fundamentalen Dialogizität menschlichen Seins an. 123

2.5 Das ewige Du Dass Bubers Konzeption des »ewigen Du«, welche er vornehmlich im 3. Teil von Ich und Du präsentiert, nicht einfach ausgesondert werden kann, ohne einen zentralen Aspekt des Grundansatzes von Ich und Du zu ignorieren, liegt schon deshalb auf der Hand, weil Buber in der die Niederschrift von Ich und Du unmittelbar begleitenden Vortragsreihe Religion als Gegenwart den Gegenentwurf zur Eswelt am Thema der Religiosität expliziert: Buber setzt hier unmittelbar mit der Frage nach einem nicht zu vergegenständlichenden Gott ein. Dies macht deutlich, dass der 3. Teil von Ich und Du für Buber selbst nicht einen nachträglich angefügten Bezug der Grundworte auf die Sphäre der Religion bedeutet, sondern im Mittelpunkt seines eigenen Suchens nach einer Sphäre echter Verbundenheit mit der Welt steht. 124 Dass sich die Ausführungen in den ersten beiden Teilen des Werkes jedoch auch ohne Einbeziehung des ewigen Du fruchtbar machen lassen, wurde in den vorherigen Interpretationen gezeigt. So stellt sich die Frage, welches neue Moment durch die Bezugnahme auf dieses eine ›ausgezeichnete‹ 122 Es sei daran erinnert, dass Buber in Religion als Gegenwart die Charakterisierung des Ich-Du mit einem Appell an die Zuhörer beginnt, sich auf eigene Erfahrungen zu besinnen. 123 Siehe Peperzak 1998, 32 ff. 124 So war Ich und Du ursprünglich auch nur als erster Band eines umfassenden, fünfbändigen Werkes zum Thema Religion gedacht, vgl. den Brief Bubers an Rosenzweig vom 14. 09. 1922 (Buber 1973, 128 f.).

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Du zum dialogischen Ansatz hinzutritt und inwieweit sich hier ein Gedanke auftut, der die Konzeption insgesamt bereichert oder einige ihrer wesentlichen Aspekte zu vertiefen vermag. 125 Zunächst präsentiert Buber das ewige Du als ›Mittelpunkt‹ aller einzelnen, konkreten Beziehungen: »Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm. Durch jedes geeinzelte Du spricht das Grundwort das ewige an.« (DP 76) Die Beziehung realisiert sich nach Buber mit den Dingen, in der Kunst, mit der Natur und auch zwischen den Menschen also nur deshalb, weil wir in jedem konkreten Du ›im Grunde‹ das ewige anreden – all diese »Sphären sind in ihm beschlossen, es in keiner« (DP 103). 126 Somit scheint das ewige Du einmal die isolierten Ich-Du-Momente – die sich ja auf keinem Zeitstrahl einordnen lassen, sollen sie nicht wieder ›gebannt‹ werden – miteinander zu verbinden; 127 zweitens soll es offensichtlich garantieren, dass trotz einer stets anwachsenden Eswelt diese niemals zur eigentlichen ›Wirklichkeit‹ werden kann: Durch das ewige Du »sind wir der Verfremdung der Welt und der Entwirklichung des Ich […] nicht ausgeliefert« (DP 102). Das bedeutet: Es ›gibt‹ nach Bubers Konzeption ›etwas‹, das gleichsam ›immun‹ gegenüber jeglichen Verdinglichungsversuchen ist – ›etwas‹, das sich einer Einordnung in die Es-Sphäre radikal entzieht. ›Ewig‹ bedeutet hier also offenkundig einmal ein ›Immer-Du-Sein‹ im Gegensatz zum weltlichen ›Etwas‹, das mal als Es, mal als Du begegnen kann. Zweitens muss ›ewig‹ – soll der Zusammenhang der endlichen Du-Momente garantiert sein – auch heißen: immerwährend ›da‹ sein, ohne in jedem Augenblick ausdrücklich gegenwärtig zu sein. Das erste Charakteristikum – niemals zum Es degradiert werden zu können – hebt Buber nun explizit hervor: Es sei das wesentliche Merkmal des ewigen Du, »seinem Wesen nach« (DP 76) nicht Es wer125 Die hier vorgenommene Interpretation des ewigen Du muss eine Auswahl treffen, welche Momente sie thematisiert und welche sie nicht einbezieht. Es sei daher verwiesen auf folgenden Beitrag, der einen umfassenden Überblick über die wesentlichen Aspekte und Probleme der Konzeption eines ›ewigen Du‹ gibt: Yehoshua Amir, »Das Endliche und das Ewige Du bei Buber«, in: Bloch/Gordon 1983, 87–105. Siehe außerdem die ausführlichere Interpretation des ewigen Du in Malcolm L. Diamond, Martin Buber. Jewish Existentialist, New York 1960, hier: 39 ff. 126 Daher vollendet sich nach Buber die Verwirklichung des ›eingeborenen Du‹ – der ›Beziehungstrieb‹ – auch erst im ewigen Du; vgl. DP 76. 127 Vgl. DP 102.

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den zu können, obgleich es immer wieder mit vielen Namen und Attributen versehen worden sei. Letztlich gibt Buber ihm selbst einen konkreten Namen, nämlich ›Gott‹, betont jedoch sogleich: »Ob man Gott als Er oder als Es beredet, es ist immer Allegorie.« (DP 101) Weder bedeutet also das Nennen der Bezeichnung ›Gott‹ nach Buber zwangsläufig das Einnehmen der Grundhaltung gegenüber dem ewigen Du, noch ist diese an den dezidierten Glauben an den Gott einer bestimmten Religion gebunden. 128 Als das radikal Un-verortbare kann das ewige Du konsequenterweise nach Buber weder abgeleitet oder erschlossen noch zielgerichtet gesucht werden – andererseits betont er jedoch auch, dass die Beziehung zum ewigen Du eine Wechselbeziehung sei: Der ›göttliche Sinn‹ der Schöpfung ereigne sich im Zwischen – wie jeglicher ›Sinn‹ überhaupt. Buber findet dies beispielhaft ausgesagt in der Zeile eines Gedichts von Hölderlin: »Seit ein Gespräch wir sind und hören können von einander« 129 . Der Gedanke eines ewigen Du will die endlichen Gegenüber also keineswegs entwerten: »Wer mit den Menschen reden will, ohne mit Gott zu reden, dessen Wort vollendet sich nicht; aber wer mit Gott reden will, ohne mit den Menschen zu reden, dessen Wort geht in die Irre.« (DP 160) Bubers Verantwortungskonzeption geht von einem fundamentalen Angeredetsein des Menschen aus; als eine ›Inspirationsquelle‹ zeigte sich die Sprachauffassung der jüdischen Mystik. Muss das ewige Du dann nicht als der ›Sender‹ der an mich ergehenden ›Zeichen‹ aufgefasst werden? Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass die Rede vom ›Sender‹ der ›Zeichen‹ hier eher zu Missverständnissen führt, d. h. letztlich: dass es konsequenter von Buber gewesen wäre, diese Terminologie insgesamt fallen zu lassen. 130 Denn: Die Vorstellung eines Sen128 Wenn der Mensch »mit seinem ganzen hingegebnen Wesen das Du seines Lebens anspricht« (DP 77), dann spricht er laut Buber zu Gott. Bubers Distanz gegenüber jeglichen religiösen Ritualen drückt sich in seiner Konzeption des ewigen Du somit deutlich aus; vgl. auch DP 114 f. 129 Vgl. W I, 474. Buber zitiert diesen Vers als Schluss des Gedichts »Versöhnender der du nimmergeglaubt« (in der dritten Fassung); vgl. auch Martin Buber, »›Seit ein Gespräch wir sind‹. Bemerkungen zu einem Vers Hölderlins«, in: NL, 71–72. Im später entdeckten Gedicht »Friedensfeier« heißt es »Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander«; vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Gedichte und Hyperion, hrsg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M./Leipzig 1999, 341. 130 Er formuliert letztlich selbst zurückhaltend: »Nennen wir den Sprecher dieser Sprache Gott, so […]« (DP 160).

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ders von Zeichen impliziert in der Regel die Auffassung, dass eine konkrete Botschaft an den Adressaten ergeht. Genau dies soll hier aber nicht der Fall sein, weshalb die personifizierende Rede von einem ›Sprecher‹ – ebenso wie die von den ›Zeichen‹ – in Bubers Konzeption problematisch ist. 131 Wie ließe sich die spezifische ›Gegebenheit‹ des ewigen Du – berücksichtigt man sein zentrales Merkmal der Un-fassbarkeit – nun angemessener bezeichnen? Möglicherweise könnte der Begriff der ›Spur‹ helfen, welcher sowohl bei Lévinas als auch bei Derrida eine so zentrale Rolle spielt und hier gerade kein Zeichen meint, das jemand hinterlassen hat, um etwas Bestimmtes anzuzeigen. 132 Das ewige Du, so ließe sich sagen, begegnet als ›Spur‹ in der Welt, d. h. es scheint in allen konkreten endlichen Ich-Du-Beziehungen durch, letztlich in jeder konkreten Bezugnahme auf ›etwas‹, denn es soll schließlich das selbst »Unaussprechliche« sein, um »dessen willen«, so Buber, es überhaupt Sprache gibt. 133 Das ewige Du lässt sich somit – von einem philosophischen Standpunkt aus – als Personifizierung des selbst Nicht-Mitteilbaren im Sprechen deuten – es lässt sich lesen als der Name für diese ›Spur‹, welcher eine uneinholbare Abwesenheit in jeder Begegnung zum Ausdruck bringt. 134 Dabei handelt es sich um eine Abwesenheit, die keinen Mangel meint, sondern die jeder Nähe zum jeweiligen Du innewohnt, 131 Zudem spricht Buber ebenso wie von einer »Augenblicksverantwortung« von einem »Augenblicksgott«, findet jedoch folgenden Vergleich, um eine erfahrbare ›Identität‹ des ewigen Du zu behaupten: Wie wir aus verschiedenen Werken eines Autors diesen als ›Generalsprecher‹ herausläsen, so könnten wir aus den »Sprechern der Sprüche im gelebten Leben« den einen Gott heraushören; vgl. DP 160. 132 Siehe exemplarisch Lévinas 1983, 226 ff. sowie Derrida 1983, 122 ff.; zur Spur bei Lévinas siehe Bernhard Casper, »Illéité. Zu einem Schlüssel›begriff‹ im Werk von Emmanuel Levinas«, in: Philosophisches Jahrbuch 91 (1984), 273–288 und zu einem Vergleich von Lévinas’ und Derridas Denken der Spur siehe Werner Stegmaier, »Die Zeit und die Schrift. Berührungen zwischen Levinas und Derrida«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21 (1996), 3–24. 133 Siehe DP 96 f. 134 Buber denkt jedoch, wie gesehen, auch in Bezug auf das ewige Du ein Ineinander von Nähe und Ferne; entsprechend distanziert er sich von der dialektischen Theologie und meint, es sei »nicht erlaubt zu sagen, Gott sei das ganz Andere, ohne daß Gott auch zugleich als das ganz Nahe, Vertraute anerkannt wird« (NL 131); vgl. auch DP 80. Strasser betont, dass hier eine deutliche Differenz zu Lévinas liege, nach dessen Einschätzung Buber die Transzendenz Gottes nicht radikal genug denke; vgl. Strasser 1978 a, 520. Aufschlussreich ist hier der Hinweis auf die unterschiedlichen jüdischen Strömungen, denen Buber und Lévinas sich zugehörig fühlten; siehe dazu Daniel Krochmal-

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weil auch dieses endliche Du sich dem erkennenden Zugriff verschließt. Wenn Buber nun betont, dass aufgrund einer echt ausgeprägten Dialogizität die Beziehung zum anderen Menschen »das eigentliche Gleichnis der Beziehung zu Gott« sei, weil »darin wahrhafter Ansprache wahrhafte Antwort zuteil wird« (DP 104), dann bietet die Einbeziehung des ewigen Du zudem die Möglichkeit, das Gelingen einer vollkommenen Vergegenständlichung des anderen Menschen in Frage zu stellen. Wie in Bezug auf das Antlitz im Sinne Lévinas’ ließe sich dann sagen: Auch wenn ich den Anderen beständig als ›Gegenstand‹ mit diesen oder jenen Eigenschaften wahrnehmen kann – es ist ›etwas‹ am Anderen, dass diese innerweltliche Dimension beständig transzendiert. 135

2.6 Griechisches Denken vs. hebräisches Denken? Jacques Derrida stellt seinem Lévinas-Essay »Gewalt und Metaphysik« als Motto ein Zitat von Matthew Arnold – aus Culture and anarchy (Cambridge 1960) – voran, das folgendermaßen beginnt: »Hebraism and Hellenism, – between these two points of influence moves our world.« 136 Wie gesehen rekurriert Buber an zentralen Stellen immer wieder auf hebräische Quellen und Motive, die er als Bekundungen ursprünglicher Erfahrungen ansieht. Auch stellt er nicht selten bestimmten griechischen Begriffen das hebräische ›Pendant‹ an die Seite, um zu verdeutlichen, dass es sich hier gerade nicht um eine einfache Entsprechung handelt, sondern dass sich in diesen hebräischen Begriffen – z. B. ›emeth‹ und ›emunah‹ – ein mitunter ganz anderer Zugang zu den Phänomenen Ausdruck verschafft hat. 137 Auf der anderen Seite ist Heideggers beständiger Rückgang auf die griechischen Anfänge der Philosophie und deren Begriffsprägungen so offenkundig, dass Derrida nik, »Emmanuel Levinas im jüdischen Kontext«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21 (1996), 41–62. 135 Somit wäre die zwischenmenschliche Beziehung doch ausgezeichnet gegenüber dem Ich-Du zwischen Mensch und ›Ding‹. 136 Vgl. Derrida 1976, 121. 137 Zur Gegenüberstellung zentraler philosophischer und theologischer Begriffe im Hebräischen und Griechischen siehe Thorleif Boman, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, 4. Aufl., Göttingen 1965.

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ihn – ebenso wie Husserl – in seinem eben genannten Essay selbst als einen ›Griechen‹ bezeichnet. 138 In seinem Vortrag »Was ist das – die Philosophie?« von 1955 behauptet Heidegger schließlich: »Die oft gehörte Redeweise von der ›abendländisch-europäischen Philosophie‹ ist in Wahrheit eine Tautologie. Warum? Weil die ›Philosophie‹ in ihrem Wesen griechisch ist –, griechisch heißt hier: die Philosophie ist im Ursprung ihres Wesens von der Art, daß sie zuerst das Griechentum, und nur dieses, in Anspruch genommen hat, um sich zu entfalten.« 139

Die zentrale Rolle Aristoteles’ schon in der frühen Freiburger Phase und der Rückgang auf Platon wurden in dieser Arbeit immer wieder angesprochen, die Interpretationen der Vorsokratiker hingegen werden erst ab den 30er Jahren zentraler Bestandteil des heideggerschen Programms, ein nicht- oder vor-metaphysisches Denken zu realisieren. Wenn Buber also eindeutig auf einen ›hebräischen Humanismus‹ abzielt und Heidegger beständig auf die griechischen Anfänge der Philosophie zurückgeht – ließen sich die unterschiedlichen Wege bei der Überwindung des Prinzips der Subjektivität dann nicht als unmittelbarer Ausdruck der grundlegenden Differenz ›Athen vs. Jerusalem‹ begreifen? 140 Besonders ein Unterschied wird bei einer Gegenüberstellung von hebräischem und griechischem Denken stets hervorgehoben: Während in der abendländischen, von den Griechen geprägten Philosophie der Gesichtssinn – das Visuelle und damit verbunden auch die Metapher 138 Vgl. Derrida 1976, 127. Dass auch Husserl hier ein ›Grieche‹ genannt wird, zeigt, dass mit dieser Bezeichnung mehr angezeigt ist als ein expliziter Rückgang auf die griechischen Philosophen. 139 Martin Heidegger, »Was ist das – die Philosophie?«, in: ders., Identität und Differenz, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a. M. 2006 (GA 11), 3–26, hier: 9 f. 140 Wobei eine solch plakative Gegenüberstellung letztlich einer viel ausführlicheren Klärung bedürfte, für welche grundlegenden Gedanken hier ›Jerusalem‹, für welche ›Athen‹ stehen soll. Als Einführung zu einer möglichen Dichotomie ›Athen vs. Jerusalem‹ siehe Walter Lesch, »Kontexte der Befreiung. Zum Verhältnis von Religion und Philosophie am Beispiel des Judentums«, in: Jüdische Traditionen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Joachim Valentin und Saskia Wendel, Darmstadt 2000, 12– 31. Zur Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von (griechisch geprägter) Philosophie und einem Denken, das auf Motive der hebräischen Bibel zurückgreift, siehe außerdem Chalier 1995 sowie Micha Brumlik, »Phänomenologie und theologische Ethik«, in: Lévinas. Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie, hrsg. von Michael Mayer und Markus Hentschel, Gießen 1990, 120–143, hier: 125 f.

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des Lichts – eine zentrale Rolle spielt, rücken im hebräischen Denken das Hören und die lebendige Stimme in den Mittelpunkt. So unterscheidet Buber in »Der Geist des Orients und das Judentum« 141 – allerdings mit Vorsicht vor allen gefährlichen Verallgemeinerungen – einen ›abendländischen‹ und einen ›orientalischen Menschentypus‹ und hebt als zentralen Unterschied die hervorstechende Dominanz des Sehens sowie des Bildnerischen in der abendländischen Kultur hervor. Folgende Gegenüberstellung soll diese Differenz auf den Punkt bringen: »Platon schaut, und da ist nichts weiter als das Schauen; der jüdische Prophet schaut Gott nur, um sein Wort zu vernehmen.« (JJ 48) In Gottesfinsternis heißt es entsprechend: »Die Geschichte der griechischen Philosophie ist die einer […] Optisierung des Denkens.« (W I, 533) Dasselbe Motiv spricht Derrida an, wenn er in Bezug auf Lévinas’ Rückgriff auf jüdische Quellen behauptet, dieser stelle »den Laut über das Licht« 142 . Tatsächlich handelt es sich hier um eine Differenz, die auch Bubers und Heideggers unterschiedliche Wege zu markieren scheint: Wenn Buber ›Offenbarung‹ als Ansprache denkt, die eine Antwort heischt, und den ›logos‹ als lebendiges Wort im Zwischen bestimmt (als dia-logos), Heidegger dagegen die Rede als eher monologisches Offenbarmachen des Seienden im Sinne eines Sehenlassens deutet, dann drückt sich hier offenkundig eine jeweils andere ›Bevorzugung‹ eines der Sinnesorgane aus. Heidegger verweist schließlich selbst ausdrücklich auf die in der philosophischen Tradition seit der Antike herrschende Fixierung auf den visuellen Bereich, die er letztlich nicht kritisch in Frage stellt. 143 Entsprechend ist Sein und Zeit durchdrungen von Varianten des Begriffsfeldes von Licht und Helle. 144 141 Buber bezieht sich mit dem ›Typus des Orientalen‹ nicht allein auf die Juden, sondern sucht ›Wesenszüge‹ aufzuzeigen, die seiner Auffassung nach ebenso »in den Urkunden der asiatischen Antike wie im heutigen Chinesen oder Inder« Ausdruck finden; vgl. Martin Buber, »Der Geist des Orients und das Judentum«, in: JJ, 46–65, hier: 47. 142 Derrida 1976, 153. Vgl. zur Bedeutung des Wortes als akustischem Geschehen im Judentum auch Scholem 1977, 7 f. und zum Stellenwert von Licht und Sinn in der abendländischen Philosophie Maurice Blanchot, Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz, aus dem Franz. übers. von Hans-Joachim Metzger und Bernd Wilczek, München/Wien 1991, 246 f. 143 Siehe zur Präferenz des Sehens SZ 170 f. sowie GA 20, 379. 144 Vgl. dazu Strube 1996 sowie zur ›Lichtung‹ und ihrem Potential einer Überwindung der traditionellen Lichtmetaphorik Leonardo Amoroso, »Heideggers ›Lichtung‹ als ›lucus a (non) lucendo‹«, in: Philosophisches Jahrbuch 90 (1983), 153–168.

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Bubers Konzeption eines ›eigentlichen Da-seins‹

Auf der anderen Seite sucht Heidegger jedoch die Vorherrschaft eines bestimmten Blickens, die Favorisierung der theoria als Zugang zur ›Welt‹, gerade zu überwinden. Der neugierig auf die Dinge starrende Blick wird nicht als die ursprüngliche Weise des Umgangs mit den Sachen vorgestellt, entgegengesetzt ist ihm jedoch wiederum ein spezifisches Sehen, nämlich die besorgende und fürsorgende Umsicht. 145 Allerdings thematisiert Heidegger auch ausdrücklich die Bedeutung des Hörens, das eine zentrale Rolle bei der Konstitution des Mitseins spielen soll; doch als Modus der offenbarmachenden Rede ist es letztlich ein sehendes Hören, weil es immer schon verstehend lauscht. 146 Wenn bei Buber hingegen das Hören auf die Anrede des Anderen in den Mittelpunkt rückt, dann akzentuiert er eben nicht primär die Dimension der Mitteilung, des Begreifens des Gesagten, sondern die immer neue Kraft des lebendigen Wortes, Begegnungen zu initiieren, Verantwortlichkeit zu gründen. Der Blick als beobachtender gehört bei Buber hingegen eindeutig in das Reich des Es – im Ich-Du muss ich des Anderen letztlich ›unbildlich‹ innewerden. Allerdings greift Buber – wie in den vorigen Kapiteln deutlich wurde – bei seiner Beschreibung der dialogischen Dimension auch auf Szenen des Anblickens und Angeblicktwerdens zurück; der Blick kann nach Buber auch als Anrede begriffen werden, als sprechender Blick, wobei dies hier gerade nicht bedeutet: als restlos ›entzifferbarer‹ Blick, der unmittelbar auf bestimmte Gedanken und Gefühle des Blickenden verweist. Diese kurzen Charakterisierungen von Varianten des Sehens und Hörens bei Heidegger und Buber zeigen nun deutlich, um welche Unterschiede und Abgrenzungen es bei der Favorisierung des jeweiligen Sinnesorgans letztlich zu gehen scheint, nämlich um eben die Gegensatzpaare, welche im Rahmen des Heidegger-Buber-Vergleichs bislang 145 Entsprechend muss die Abgrenzung vom theoretischen Weltzugang nach Derrida nicht zwangsläufig zu einer ›gewaltlosen‹ Annäherung an das Seiende führen; so blieben nach Lévinas die heideggerschen ›Möglichkeiten‹ eindeutig ›gewaltsame Eingriffe‹ : »Obgleich sie vor-technisch und vor-objektiv sind, unterdrücken sie darum nicht weniger und ergreifen nicht weniger Besitz.« (Derrida 1976, 149) 146 David Espinet verfolgt die Spuren einer ›Phänomenologie des Hörens‹ in Heideggers Gesamtwerk und sieht bereits in den 20er Jahren die spätere Hinwendung zum Hören, d. h. zugleich die Abkehr von der traditionellen philosophischen Fixierung auf das Visuelle, vorbereitet; siehe D. Espinet, Phänomenologie des Hörens. Eine Untersuchung im Ausgang von Martin Heidegger, Tübingen 2009. Er muss jedoch eingestehen, dass Heidegger sich in Sein und Zeit noch vielfach an Metaphern der Optik orientiert; vgl. Espinet 2009, 129 f.

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Entdeckung(en) einer ursprünglichen Verantwortung

eine zentrale Rolle spielten: um Aktivität vs. Passivität sowie Erkennen vs. Begegnen, um eine – mehr oder weniger subtile – Aneignung des Anderen vs. ein ›Seinlassen‹ des Fremden. So weist z. B. die erwähnte ›Eigenart‹ einer spezifisch hebräischen Hermeneutik, Leerstellen, Brüche, Abwesenheiten ausdrücklich als solche einzuschließen, auf eben diese Differenzen hin: Statt mit einer zielgerichteten ›Ausleuchtung‹ jeder ›dunklen‹ Stelle anzusetzen, steht hier erst einmal die Bereitschaft im Vordergrund, sich von einer anderen Stimme ansprechen zu lassen. 147 Auf den Punkt bringt Derrida das wesentliche Motiv einer Favorisierung des Hörens, wenn er von der »alten dunklen Freundschaft zwischen dem Licht und der Macht« 148 spricht. Doch Buber selbst liefert schließlich eine aufschlussreiche ›Übersetzung‹ der Weltzugänge Hören und Sehen in eine andere Terminologie, indem er auf die hebräische Charakterisierung des göttlichen Angesichts zurückgreift: »Der Mensch kann Gottes Antlitz nicht ›sehen‹ (in unserer Begriffssprache: es kann ihm nicht Gegenstand werden), aber er kann sich von ihm ins eigne anreden lassen und ihm Rede stehen (in unserer Begriffssprache: es kann ihm Partner werden).« (W II, 1157) 149 Es handelt sich bei der Behauptung eines Primats des ›Sehens‹ oder ›Hörens‹ also augenscheinlich um die Bezugnahme auf zwei entgegengesetzte ›Chiffren‹ für verschiedene Weisen, das Sein des Menschen in der Welt und in Bezug auf Göttliches zu denken, so dass durchaus von einem sehenden Hören und hörenden Sehen gesprochen werden kann, so dass sich Sprache als »Gebild« oder als »Geschehen« 150 fassen lässt, so dass ein ›Sehenlassen‹ der Dinge nicht zwangsläufig eine gewaltsame Vereinnahmung dieser meinen muss. Letztlich orien147 Wobei auch die traditionelle abendländische Hermeneutik von einer grundlegenden Offenheit dem Text gegenüber ausgeht. Als Unterschied zwischen der jüdischen und christlichen Tradition sei jedoch auf folgende Differenz verwiesen: Das ›Pfingstwunder‹ als Möglichkeit eines unmittelbaren Einanderverstehens ist ein christliches Motiv. 148 Derrida 1976, 141. Siehe auch Lévinas’ Charakterisierung der ›Erhellung‹ als Aufhebung radikaler Fremdheit (konkret: Lévinas 2003, 37 f. sowie Lévinas 2002, 52). 149 Das jüdische Bilderverbot spielt sicherlich eine zentrale Rolle bei der Affinität zum akustischen Bereich. 150 So Buber: »Der abendländische Humanismus empfängt Sprache als Gebild […]. Ein anderes muß das Gesetz eines biblischen Humanismus sein. Er empfängt die Sprache als Geschehen, als das Geschehen in der Gegenseitigkeit« (W II, 1091 f.). Buber weiter: »Der Logos der Griechen ist; er ist ewigseiend (Heraklit) […]. Im Anfang der biblischen Schöpfungsgeschichte ist das Wort nicht, es geschieht, es wird gesprochen. […] Die Griechen lehren das Wort, die Juden berichten es.« (W II, 1091)

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Bubers Konzeption eines ›eigentlichen Da-seins‹

tiert sich auch Buber oftmals an einer stark visuell geprägten Metaphorik: Wir »blickten« in jeder konkreten Begegnung »an den Saum des ewigen Du hin« – jedes einzelne Du sei ein »Durchblick« zu ihm. 151 Außerdem präsentiert Buber das Ich-Du-›Erlebnis‹ ausdrücklich als ein Schauen. 152 Ebenso orientiert sich der Leitgedanke der Gottesfinsternis an einer visuell gefärbten Metaphorik. Auf der anderen Seite lehnt Heidegger zentrale Begriffe der metaphysischen Tradition vehement ab und sieht auch schon in der griechischen Philosophie selbst deutliche ›Verfallstendenzen‹. 153 Eine zu schematische Zuweisung der beiden Konzeptionen zu den Modellen eines griechischen auf der einen und eines hebräischen Denkens auf der anderen Seite läuft also Gefahr, originelle Momente beider Entwürfe zu verdecken, sofern die griechische Philosophie auf eine Philosophie des Sehens, die hebräische auf eine des Lautes reduziert wird. Zudem zeigt sich: Auditive und visuelle Elemente sind in der hebräischen Bibel selbst eng miteinander verbunden. 154 Außerdem ereignet sich das ›Wort‹ hier nicht selten gerade als ›verschwebendes Schweigen‹. 155 Umgekehrt sieht ein Denker wie Lévinas auch in der griechisch geprägten Philosophie Motive, welche ein Totalitätsdenken sprengen. 156 151 Vgl. DP 76 und 103. Auf den Umstand, dass Buber gleichermaßen auf visuelle wie auditiv-sprachliche Metaphern zurückgreift, weist Bloch ausdrücklich hin; vgl. Bloch 1977, 80. 152 Vgl. DP 42 f. 153 Erinnert sei an den im vorherigen Abschnitt erwähnten Versuch Smiths, Heideggers »Wahrheit der Existenz« durch den hebräischen Wahrheitsbegriff zu beschreiben. Dabei stützt er sich primär auf eine Textstelle bei Pöggeler, wo die mögliche Bedeutung der jüdisch-christlichen Wahrheitskonzeption für Heidegger erwähnt wird. Da sich diese Bemerkung Pöggelers aber nicht auf direkte Textstellen bei Heidegger bezieht, scheint es eher unangemessen, diesem eine tatsächliche Orientierung am hebräischen Denken zuzuschreiben, wie Smith es versucht; vgl. Smith 1966, 62 f. und Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, 3., erw. Aufl., Pfullingen 1990, 89 (im Folgenden zitiert als Pöggeler 1990 a). Zur Frage nach einer Nähe zwischen der Konzeption Heideggers und hebräischen Motiven siehe auch Klun 2000, 324 ff. 154 Dies zeigt Buber selbst in dem Aufsatz »Abraham, der Seher« (in: W II, 871–893). Allerdings, das hebt Buber hervor, begegnet Gott in den Offenbarungen stets verhüllt, so dass das Sehen Abrahams nicht mit dem erkennenden Blick gleichzusetzen sei. 155 Siehe Bubers Kommentar zu dieser Bibelstelle (I. Könige 19, 12) in Moses (konkret: W II, 126 f.). Hier wird sehr deutlich, wie Bubers weiter Sprachbegriff auf die mannigfachen lautlichen und lautlosen Ereignisweisen des Wortes in der hebräischen Bibel verweist. 156 So fallen Ontologie und Metaphysik nach Lévinas bekanntlich nicht zusammen und er sieht in der metaphysischen Tradition vor allem zwei bedeutende Motive: Das ›Jen-

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Entdeckung(en) einer ursprünglichen Verantwortung

Auch wenn Sehen und Hören also nicht unbedingt als vollkommen starr einander gegenüberstehende Zugangsweisen zur Welt gedacht werden müssen – die Grunddifferenzen zwischen einem Denken des Sichtbaren, Zugänglichen, Vertrauten und einem Denken, welches der Verhüllung, dem Entzug eine zentrale Stelle einräumt, werden dadurch nicht geleugnet oder verwischt. Wenn Buber etwa behauptet, wir hätten uns oftmals »selber Wachs in die Ohren gesteckt« (DP 135), um der an uns ergehenden Anrede in allem Geschehen zu entgehen, dann verweist diese Bemerkung wiederum direkt auf die Figur des Odysseus, die für Lévinas das Sinnbild für das griechische Denken als einer Reduzierung des Andersartigen auf Eigenes, Vertrautes darstellt.

seits des Seins‹ (Platon und Neuplatonismus) sowie die Idee des Unendlichen bei Descartes; vgl. TU 60 f.

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Abschnitt VI: Konzeptionen von Zeit und Zeitlichkeit

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Heideggers Überlegungen zur Zeit in den 20er Jahren

1.1 Der Abbau alltäglicher wie philosophischer Vorurteile zur Zeit und die Entdeckung einer ursprünglichen Zeitlichkeit Heideggers Analysen der vorlaufenden Entschlossenheit stehen zu Beginn des zweiten Abschnitts des ersten Teils von Sein und Zeit. Indem sie diesen mit dem Titel »Dasein und Zeitlichkeit« versehenen Abschnitt einleiten, führen sie direkt zur Zeitthematik hin. Den Grundgedanken Heideggers kann man folgendermaßen ausdrücken: »Menschliche Subjektivität […] läßt sich beschreiben als Vollzug von Zeit.« 1 Das bedeutet: Die Strukturganzheit der Sorge wird nun als in der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins fundiert aufgewiesen. Im Rahmen eines Vergleichs von Heideggers und Bubers Neubestimmung von ›Subjektivität‹ muss Heideggers Konzeption der Zeitlichkeit daher zur Sprache kommen. Diese Thematisierung kann jedoch nur einige zentrale Gesichtspunkte der heideggerschen Überlegungen zur Zeit in den 20er Jahren ansprechen, weil auf Seiten Bubers eine solche philosophische Reflexion fehlt. Allerdings gibt Buber in seinen Schriften durchaus Hinweise auf das Phänomen Zeit. Wie bereits deutlich wurde, weist er den beiden Grundworten Ich-Du und Ich-Es eine jeweils eigene Zeitdimension zu, so dass es möglich ist, auch mit Bubers Ansatz verschiedene Zeitauffassungen auszumachen und eingehender zu thematisieren. Bei Heidegger lassen sich nun bereits in den frühen Freiburger Vorlesungen einige der zentralen Motive der in Sein und Zeit präsentierten Zeitlichkeitsanalysen finden. So hebt Heidegger schon in der 1 Mike Sandbothe, Die Verzeitlichung der Zeit. Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft, Darmstadt 1998, 114.

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Konzeptionen von Zeit und Zeitlichkeit

Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion (WS 1920/ 21) in Bezug auf die Geschichtlichkeit des faktischen Daseins hervor, dass die gängige Vorstellung des Historischseins als eines Werdens und Vergehens in der Zeit die Geschichtlichkeit des Daseins nicht treffe. 2 Indem Heidegger in dieser Vorlesung schließlich die urchristliche Religiosität als herausragende Artikulation faktischen Lebens interpretiert, rücken zudem Bezüge zur Zeit in den Blick, welche in die Richtung einer ursprünglichen Zeitlichkeit des faktischen Daseins weisen. So grenzt Heidegger in seiner Interpretation paulinischer Briefe die christliche Parusie radikal von der Erwartung eines irgendwann einmal kommenden Ereignisses ab. 3 Die christliche Hoffnung auf die Wiederkehr des Herrn ziele nämlich gerade nicht auf ein bestimmbares ›Wann‹. Heidegger: »Das ›Wann‹ ist schon nicht ursprünglich gefaßt, sofern es im Sinn einer einstellungsmäßigen ›objektiven‹ Zeit gefaßt wird.« (GA 60, 102) Gesehen wird hier von Heidegger also eine Zeitlichkeit jenseits der datierbaren Zeit – entsprechend behauptet er, die Zeitlichkeit der urchristlichen Religiosität sei eine Zeit »ohne eigene Ordnung und feste Stellen« (GA 60, 104). Das heißt: »Von irgendeinem objektiven Begriff der Zeit her kann man unmöglich diese Zeitlichkeit treffen.« (GA 60, 104) So vollzieht sich das faktische Leben nach Heidegger nicht ›in‹ der Zeit, sondern das faktische Dasein lebe »die Zeitlichkeit als solche« bzw. die »Zeit selbst«. 4 Die Abgrenzung von einem Verständnis der Zeit als homogenem Kontinuum, in das sich auch der Vollzug des Daseins einordnen lässt, wird hier somit bereits sehr deutlich. Eine tatsächliche Kurzfassung der differenzierten Zeitanalysen, wie sie schließlich in Sein und Zeit präsentiert werden, liefern jedoch erst die wenige Jahre später entstandene Abhandlung »Der Begriff der Zeit« sowie der gleichnamige Vortrag (beide von 1924). 5 Dabei beginnt Vgl. GA 60, 32. Vgl. GA 60, 102. Neben einer solchen nicht-festlegbaren Zukunft treten in Heideggers Interpretation der Paulus-Briefe auch die Dimensionen der Vergangenheit und der Gegenwart in den Blick. So thematisiert er das Gewordensein der Thessalonicher als Gemeinde sowie den ›kair@‹ als erfüllten Augenblick; vgl. GA 60, 93 ff. und 150. Zur ›vollständigen‹ Zeitlichkeit der urchristlichen Religiosität siehe die Ausführungen in Pierfrancesco Stagi, Der faktische Gott, Würzburg 2006. 4 Vgl. GA 60, 80 und 82. 5 Als Anlass zur Abhandlung nennt Heidegger den Briefwechsel zwischen Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg, die beide die Frage nach der Geschichtlichkeit 2 3

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Heideggers Überlegungen zur Zeit in den 20er Jahren

der Vortrag – anders als die Abhandlung sowie später die Zeitanalyse in Sein und Zeit – mit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem alltäglichen, naturwissenschaftlichen und traditionellen philosophischen Verständnis von Zeit, 6 um von diesen Vorstellungen ausgehend auf eine ursprünglichere Zeitlichkeit des Daseins zu stoßen. 7 Dieser Weg – das Vordringen vom ›vulgären‹ Zeitverständnis aus zu einer grundlegenderen Zeitlichkeit – bietet sich auch für die hier angestrebte Präsentation der heideggerschen Zeitkonzeption an, weil so die Destruktionsbewegung von Heideggers Analysen besonders einsichtig wird. Was die Bemerkungen zur Zeitlichkeit des faktischen Lebens in der Religionsvorlesung vom WS 1920/21 schon andeuten, sucht Heidegger nun ab 1924 ausführlich zu zeigen: Zeit ist vornehmlich begriffen worden als »das, worin sich Ereignisse abspielen« (GA 64, 109). Obgleich dieses Verständnis nach Heidegger alle Auslegungen von Zeit – die alltägliche, naturwissenschaftliche, philosophische – im Kern beherrscht, differenziert er zwischen diesen drei Zugangsweisen zum Zeitphänomen und sucht die alltägliche Zeitauffassung als Ursprungsgebiet des ›vulgären‹ Zeitbegriffs generell aufzuweisen. Im alltäglichen Besorgen zeigt sich Zeit nach Heidegger zunächst als ›etwas‹, mit dem man rechnet, das man verbraucht oder sich nimmt, nach dem man sich richtet, das man verlieren oder gewinnen kann. Zentral bei diesem Besorgen von Zeit ist offenkundig eine grundlegende Datierbarkeit, die sich z. B. in der Rede von ›jetzt‹, ›dann‹, ›zuvor‹ oder ›gleich‹ ausdrückt. Eine höhere Genauigkeit und Verlässlichkeit der Zeitbestimmung und -einteilung ermöglicht jedoch der Uhrgebrauch – die Uhr 8 liefert das Maß, an dem sich alle orientieren können. Die an der Uhr ablesbare Weltzeit weist nach Heidegger nun insgesamt folgende Merkmale auf: Neben dem Charakter der Datierbarkeit und Öffentlichkeit ist ihr eine wesentliche Bedeutsamkeit und umgetrieben habe. Den Vortrag, der vor der Marburger Theologenschaft gehalten wurde, beginnt Heidegger dagegen mit der Frage nach der Ewigkeit. 6 Im Vortrag »Der Begriff der Zeit« geht Heidegger auch kurz – dies bleibt eine Ausnahme – auf Einsteins Relativitätstheorie ein; vgl. GA 64, 109. 7 Ebenso verfährt Heidegger in Die Grundprobleme der Phänomenologie (SS 1927), wo sich die – neben den Ausführungen in Sein und Zeit – eingehendste Darstellung der Zeitlichkeit des Daseins finden lässt. 8 Heidegger unterscheidet zwischen einem ›natürlichen‹ Uhrgebrauch – gemeint ist die Orientierung an Naturgegebenheiten wie Tag- und Nachtwechsel – und einer ›künstlichen‹ Uhr, unter die alle Arten von hergestellten Zeitmessern gehören; vgl. SZ 413 f.

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Konzeptionen von Zeit und Zeitlichkeit

Gespanntheit eigen. Der Charakter der Bedeutsamkeit meint, dass im alltäglichen Besorgen Zeit stets als Zeit, um zu … verfügbar oder nicht verfügbar ist. ›Gespanntheit‹ heißt, dass die besorgte Zeit nicht aus lose miteinander verbundenen Momenten besteht, sondern als Dauer verstanden ist. Als durch diese vier Aspekte gekennzeichnete Zeit ist die Weltzeit laut Heidegger letztlich das, worin das innerweltlich Zuhandene und Vorhandene begegnet. Heidegger betont nun, dass der Fokus im Besorgen der Zeit selbst stets auf dem Jetzt liege: Der Uhrgebrauch ließe sich deuten als »Gegenwärtigen des wandernden Zeigers« (SZ 420). Das ›Früher‹ zeige sich dann als das ›Jetzt-nicht-mehr‹, das ›Später‹ sei begriffen als das ›Jetzt-noch-nicht‹. Die Zeit entpuppt sich im Uhrgebrauch nach Heidegger schließlich als »das im gegenwärtigenden, zählenden Verfolg des wandernden Zeigers sich zeigende G e z ä h l t e « (SZ 421). Dies sei nun aber genau die Definition, die schon Aristoteles von der Zeit gegeben hat: In der Physik habe er sie bekanntlich als das »Gezählte« an der Bewegung gedeutet, somit letztlich als das »Worin des Veränderlichen« (GA 64, 109). 9 Das aristotelische Zeitverständnis orientiert sich also nach Heidegger an der Zeitlichkeit des alltäglichen Besorgens bzw. an der hier begegnenden Weltzeit – es denkt Zeit als eine Folge von Jetztpunkten, wobei das Jetzt jedoch nicht als isoliertes ›Stückchen‹ einer zusammengesetzten Linie verstanden sei, sondern als stetiger Übergang. Gegenüber der im Besorgen zugänglichen Weltzeit wird im traditionellen philosophischen Zeitbegriff laut Heidegger aber nun folgende Modifikation vollzogen: Der Charakter der Bedeutsamkeit wird übersehen, auch die Datierbarkeit wird in ihrem ursprünglichen Sinne nicht berücksichtigt. Das Jetzt werde vielmehr gleichsam selbst zu etwas Vorhandenem bzw. die gesamte Jetzt-Folge werde als beständig Vorhandenes aufgefasst. Insgesamt ist nach Heidegger so das »volle Jetzt-Phänomen hinsichtlich der Datierbarkeit, Weltlichkeit, Gespanntheit und daseinsmäßigen Öffentlichkeit« zu einem »unkenntlichen Fragment herabgesunken« (SZ 424). 10 Weil die gesamte philosophische Thematisierung der Zeit nach Vgl. auch GA 64, 78 f. und 109. Am ausführlichsten äußert sich Heidegger in den Grundproblemen von 1927 zu Aristoteles’ Zeitbegriff; vgl. GA 24, 327 ff. 10 Die Gespanntheit der Zeit findet nach Heidegger allerdings in Aristoteles’ Fassung des Jetzt als eines beständigen Übergangs Niederschlag; vgl. GA 24, 372 f. 9

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Heideggers Überlegungen zur Zeit in den 20er Jahren

Aristoteles laut Heidegger im Kern den aristotelischen Zeitbegriff bzw. dessen wesentlichen Implikationen übernimmt, ist das philosophische Fragen nach der Zeit während der letzten zweieinhalb Jahrtausende nach Heideggers Diagnose nicht wirklich weitergekommen. So behauptet er etwa: »In der neuzeitlichen Philosophie sind die wichtigsten Untersuchungen über die Zeit bei Leibniz, Kant und Hegel zu finden, wo im Grunde überall die Aristotelische Zeitinterpretation durchbricht.« (GA 24, 328) In Sein und Zeit diskutiert er bekanntlich Hegels Begriff der Zeit als »radikalste und zu wenig beachtete begriffliche Ausformung des vulgären Zeitverständnisses« (SZ 428). 11 Die Beurteilung dessen, was Kant für die Erarbeitung eines ursprünglichen Zeitbegriffes geleistet haben könnte, fällt hingegen sehr viel differenzierter aus. So bezeichnet Heidegger Kant aufgrund der Ausarbeitung der Schematismuslehre 12 in der Kritik der reinen Vernunft als den »Erste[n] und Einzige[n], der sich eine Strecke untersuchenden Weges in der Richtung auf die Dimension der Temporalität bewegte, bzw. sich durch den Zwang der Phänomene selbst dahin drängen ließ« (SZ 23). Eine tatsächliche Hinwendung zu einer ursprünglichen Zeitlichkeit und deren Thematisierung im Hinblick auf das Seinsverstehen wird aber auch bei Kant – so Heideggers Urteil – nicht vollzogen. In Sein und Zeit nennt er dafür zwei Gründe: das Versäumnis der Seinsfrage und die Missdeutung des Daseins als ›Subjekt‹. Diese Unterlassung bzw. Fehldeutung habe zur Folge, dass der so entscheidende Zusammenhang zwischen dem ›Ich denke‹ und der Zeitlichkeit hier letztlich »nicht einmal zum Problem« (SZ 24) werde. 13 11 Zu einer Deutung der Zeit bei Hegel siehe auch GA 21, §§ 20–21. Als kritische Auseinandersetzung mit der heideggerschen Hegel- und Aristoteleslektüre siehe Jacques Derrida: »Ousia und gramme. Notiz über eine Fußnote in Sein und Zeit«, in: ders. 1988 b, 53–84. 12 Das Schematismuskapitel betrachtet Heidegger als »Angel« bzw. als das »eigentliche Zentrum« der gesamten Kritik der reinen Vernunft; siehe GA 25, 168 sowie GA 21, 358. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Zeitbegriffen der Kritik der reinen Vernunft findet sich nicht nur in Kant und das Problem der Metaphysik und in Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, sondern auch in der Logik-Vorlesung vom WS 1925/26. 13 Kant hat – so Heidegger – die Zeit dementsprechend ebenso wie Aristoteles als JetztZeit gedacht; vgl. GA 25, 342. Vor allem in Kant und das Problem der Metaphysik nutzt Heidegger Kant jedoch unmittelbarer für die Annäherung an eine ursprüngliche Zeitlichkeit; z. B. betont er, dass der sich im Schematismuskapitel andeutende Zeitbegriff deutlich über den vulgären hinausweise, und setzt die transzendentale Einbildungskraft

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Konzeptionen von Zeit und Zeitlichkeit

Auch die Möglichkeit, einen alternativen Weg in der philosophischen Behandlung der Zeitthematik auszumachen, der an eine andere große Zeitreflexion eines der Antike zugehörigen Philosophen anknüpft, sieht Heidegger nicht: Augustinus, dessen bekannte Äußerungen über die Rätselhaftigkeit der Zeit er oft zitiert, 14 habe zwar schon eindringlich auf eine Beziehung zwischen Geist (menschlichem Sein) und Zeit hingewiesen, dennoch teile diese Zeitauffassung die wesentlichen Bestimmungen der aristotelischen Zeitinterpretation. 15 Bergsons Untersuchungen bezeichnet Heidegger dagegen als die weitaus »selbständigsten« – sie versuchten besonders nachdrücklich, über den traditionellen Zeitbegriff hinauszulangen, seien jedoch auch nicht zum eigentlichen Zeitphänomen vorgedrungen. 16 Bemerkenswerterweise werden Husserls phänomenologische Zeitanalysen in Heideggers Texten kaum berücksichtigt, obgleich Heidegger schließlich 1928 mit Edith Stein zusammen Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins herausgibt. So erwähnt er diese Vorlesungen im Rahmen einer Erörterung der Zeitproblematik in Metaphysische Anfangsgründe der Logik (SS 1928) nur kurz und behauptet, die Zeit bleibe auch hier ein bloßer »Abfluß der Jetzt, Soeben und Sogleich« (GA 26, 263). 17 Ein Verdienst Husserls sei es allerdings, zum ersten

letztlich mit der ursprünglichen Zeitlichkeit gleich; vgl. GA 3, 176 ff. Siehe zu Heideggers Interpretation der Zeitthematik bei Kant Dietmar Köhler, Martin Heidegger. Die Schematisierung des Seinssinnes als Thematik des dritten Abschnittes von »Sein und Zeit«, Bonn 1993. 14 Siehe etwa GA 24, 325. 15 Vgl. GA 24, 327. Es lassen sich allerdings auch Stellen finden, an denen Heidegger Augustinus’ Ansatz als fortschrittlicher beurteilt; siehe etwa GA 24, 336. Zu Heideggers Verhältnis zu Augustinus’ Zeitreflexionen siehe auch Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit, Frankfurt a. M. 1992. Insgesamt fällt auf, dass Heideggers Äußerungen zu den verschiedenen Zeitkonzeptionen der philosophischen Tradition stark schwanken. 16 Vgl. GA 24, 328 f. sowie GA 26, 262 und GA 21, 249 f. Zur Bergson-Rezeption in Deutschland – besonders auch zu den Äußerungen Heideggers – siehe Rudolf W. Meyer, »Bergson in Deutschland. Unter besonderer Berücksichtigung seiner Zeitauffassung«, in: Phänomenologische Forschungen, Band 13 (1982), 10–64. 17 Dagegen zeigt Bernet auf, dass sich Husserls Analysen der Zeit auch als »unmetaphysische« Annäherung an die Zeit lesen lassen, weil die Gegenwart hier als von einer ›Abwesenheit‹ affiziert begriffen werden kann; vgl. Rudolf Bernet, »Die ungegenwärtige Gegenwart. Anwesenheit und Abwesenheit in Husserls Analyse des Zeitbewußtseins«, in: Phänomenologische Forschungen, Band 14 (1983), 16–57.

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Heideggers Überlegungen zur Zeit in den 20er Jahren

Mal vor dem Hintergrund der Intentionalität nach dem Zeitphänomen gefragt zu haben. 18 Die philosophische Annäherung an die Zeit wird von Heidegger also insgesamt als »ein Symptom der europäischen Verfallsgeschichte« 19 gedeutet. Beständig übersehen bzw. verdeckt wurde in der Tradition nach Heidegger eine Zeitlichkeit, bei der erstens das Dasein selbst nicht als innerzeitiges Seiendes gefasst ist und die zweitens nicht ›objektiv‹ ist wie die öffentliche Weltzeit, weil sie deren Fundament darstellt. 20 Wie aber lässt sich nach Heidegger nun diese ursprüngliche Zeitlichkeit beschreiben? Wo lassen sich Vollzüge des Daseins aufzeigen, die eine solche Zeitlichkeit in den Blick bringen? Mit der Interpretation der Parusie im WS 1920/21 verwies Heidegger bereits auf eine spezifische Zukunftsbezogenheit, welche gerade nicht im Erwarten eines eindeutig datierbaren Ereignisses besteht, sondern die sich in einer bezeichnenden Ungewissheit bezüglich des ›Wann‹ hält. Eine solche Verwiesenheit auf ›Zukünftiges‹ begegnete nun auch in der Analyse des eigentlichen Seins zum Tode – das Vorlaufen hält sich nach Heidegger zwar in der absoluten Gewissheit des Todes, nimmt diesen aber gerade nicht als irgendwann einmal eintretende Wirklichkeit. Also wird im Hinblick auf das eigentliche Verstehen des Todes eine bestimmte ›Zeitbezogenheit‹ offenbar, die sich nicht mit dem ›Gebrauch‹ der veröffentlichten Weltzeit gleichsetzen lässt und die ebenso wenig auf Zeit als reine Abfolge bedeutungsleerer Jetztpunkte rekurriert. Jedoch trägt auch dieser vulgäre Zeitbegriff nach Heidegger Momente in sich, die in die Richtung einer echt begriffenen Zeitlichkeit des Daseins weisen: Der Umstand, dass im alltäglichen Besorgen die Zeit zumeist als vergehende – also flüchtige – Zeit gefasst sei, lasse sich als unausdrückliches ›Wissen‹ um die »endliche Zukünftigkeit der Zeitlichkeit des Daseins« (SZ 425), d. h. den eigenen Tod, deuten. Auch die Vorstellung der Nicht-Umkehrbarkeit der Jetzt18 Zu Husserls und Heideggers Zeitverständnis im Vergleich siehe Rudolf Bernet, »Die Frage nach dem Ursprung der Zeit bei Husserl und Heidegger«, in: Heidegger Studies, Volume 3/4 (1987/88), 89–104. 19 Kurt Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt a. M. 1993, 53. 20 Diese Zeitlichkeit kann jedoch auch nicht als ›subjektiv‹ gefasst werden, weil Dasein nach Heidegger eben nicht als ›Subjekt‹ im traditionellen Sinne verstanden werden darf; vgl. GA 24, 358.

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Konzeptionen von Zeit und Zeitlichkeit

Punkt-Folge offenbart nach Heidegger die Ahnung eines radikalen Endes. Um zur ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins vorzudringen, geht Heidegger also auf seine Deutung der Gewinnung eigentlichen Seinkönnens in der vorlaufenden Entschlossenheit zurück und interpretiert diese im Hinblick auf sich an ihr zeigende ›zeitliche‹ Aspekte. 21 Im Folgenden soll nun die ursprüngliche Zeitlichkeit in ihren drei Ekstasen vorgestellt werden, wobei Heideggers differenzierte Analysen der zeitlichen Fundamente der einzelnen Existenzialien im Rahmen der Auseinandersetzung mit Buber nicht in aller Ausführlichkeit thematisiert werden können. 22 Entsprechend sollen lediglich die wesentlichen Akzentsetzungen Heideggers bei seiner Präsentation einer ursprünglichen Zeitlichkeit dargestellt werden, so dass die scharfe Abgrenzung dieser von den eben vorgestellten, nach Heidegger aus ihr abgeleiteten Zeitbegriffen möglichst deutlich hervortritt.

1.2 Die ursprüngliche ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit des Daseins Das Vorlaufen ist nach Heidegger also »nichts anderes als die eigentliche und einzige Zukunft des eigenen Daseins« (GA 64, 118). Nur weil Dasein »überhaupt in seiner eigensten Möglichkeit auf sich zukommen kann und die Möglichkeit in diesem Sich-auf-sich-zukommen-lassen als Möglichkeit aushält« (SZ 325), ist das eigentliche Ganzseinkönnen als Sein zum Ende möglich. Während sich also das Vorlaufen – im Sinne dieses Sich-auf-sich-zukommen-Lassens des Daseins – als urHeidegger rechtfertigt diesen Weg mit der Erklärung, die Zeitlichkeit könne »phänomenal ursprünglich« am eigentlichen Ganzseinkönnen des Daseins »erfahren« werden; vgl. SZ 304. Allerdings ergibt sich durch diese Annäherung das Problem, dass eigentliche und ursprüngliche Zeitlichkeit miteinander identifiziert werden. Siehe dazu Margot Fleischer, Die Zeitanalysen in Heideggers »Sein und Zeit«. Aporien, Probleme und ein Ausblick, Würzburg 1991, 19 ff. 22 Eingehende Interpretationen der heideggerschen Zeitkonzeption sowie ihrer problematischen Aspekte liefern Fleischer 1991 und Marion Heinz, Zeitlichkeit und Temporalität. Die Konstitution der Existenz und die Grundlegung einer temporalen Ontologie im Frühwerk Martin Heideggers, Würzburg/Amsterdam 1982 sowie Christian Iber, »Sein und Zeit oder Zeitlichkeit und Dasein. Probleme von Heideggers Zeitphilosophie«, in: Selbstbesinnung der philosophischen Moderne. Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer Grundbegriffe, hrsg. von Christian Iber und Romano Pocai, Cuxhaven/ Dartford 1998, 119–143. 21

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sprünglich-eigentliche Zukünftigkeit entpuppt, beschreibt Heidegger die uneigentliche Zukunft als ein Gewärtigen: Im uneigentlichen Verstehen komme das Dasein nicht in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zu, sondern »es ist besorgend seiner gewärtig aus dem, was das Besorgte ergibt oder versagt« (SZ 337). Ein Blick auf die Ausprägung der Zukünftigkeit im uneigentlichen Verstehen – der Neugier – vermag das ›Wesen‹ des Gewärtigens an einem Beispiel zu konkretisieren: »Die Neugier ist ganz und gar uneigentlich zukünftig und dies wiederum dergestalt, daß sie nicht einer Möglichkeit gewärtig ist, sondern diese schon nur noch als Wirkliches in ihrer Gier begehrt.« (SZ 347) 23 Die in der vorlaufenden Entschlossenheit liegende Übernahme der Geworfenheit kann nach Heidegger nun wiederum nur so garantiert werden, »daß das zukünftige Dasein sein eigenstes ›wie es je schon war‹, das heißt sein ›Gewesen‹, sein kann« (SZ 325 f.). 24 Weil es jedoch das Sichentwerfen auf die letzte, eigenste Möglichkeit ist, das ein echtes Zurückkommen auf das eigene Gewesensein initiiert, ›entspringt‹ nach Heidegger die Gewesenheit »in gewisser Weise« der Zukunft. 25 Diese ›Rückkehr‹ zum eigenen Gewesensein in der vorlaufenden Entschlossenheit nennt Heidegger auch die Wiederholung: »Im Vorlaufen holt sich das Dasein wieder in das eigenste Seinkönnen vor.« (SZ 339) Die uneigentliche Gewesenheit bezeichnet er dagegen als ein Vergessen: Im uneigentlichen In-der-Welt-sein hat sich das Dasein in seinem eigensten geworfenen Seinkönnen zunächst ›vergessen‹. Einsichtig wird diese Deutung an der Zeitlichkeit der Furcht, wie sie von Heidegger präsentiert wird: Weil das Dasein in dieser uneigentlichen Befindlichkeit ganz auf innerweltlich Begegnendes bezogen ist, das ihm als furchteinflößendes erscheint, lässt sich hier eine spezifische Vergessenheit des je eigenen Daseins als eines existierenden ausmachen. 26 Eine ursprüngliche ›Zukunft‹ und ›Vergangenheit‹ wurden freigelegt, wie steht es nun um die Dimension der ›Gegenwart‹ ? Heidegger 23 Heidegger unterscheidet dabei noch einmal das Gewärtigen vom Erwarten; dieses sei in jenem fundiert, weil das Gewärtigen überhaupt erst einen Umkreis enthülle, aus dem her etwas Bestimmtes erwartet werden könnte; vgl. SZ 337 sowie GA 24, 410. 24 ›Vergangen‹, so Heidegger, können strenggenommen nur Dinge oder Vorgänge sein; vgl. GA 24, 411. 25 Vgl. SZ 326. 26 Vgl. SZ 339 und 341. Dieses grundlegende Vergessen fundiert nach Heidegger schließlich erst das Nichtbehalten sowie das ausdrückliche ›Erinnern‹ von Dingen oder Ereignissen im engen Sinne; vgl. GA 24, 412.

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orientiert sich wiederum am eigentlichen Ganzseinkönnen: In der vorlaufenden Entschlossenheit ist die jeweilige Situation des Existierens so erschlossen, »daß die Existenz handelnd das faktisch umweltlich Zuhandene umsichtig besorgt« (SZ 326). Dieses Sein bei innerweltlich Seiendem in der Situation sei nun nur möglich aufgrund eines prinzipiellen Gegenwärtigens dieses Seienden. Heidegger grenzt konsequenterweise erneut eine eigentlich-ursprüngliche Ausprägung dieser dritten Zeitdimension von einer uneigentlichen ab: 27 Die eigentliche Gegenwart zeige sich im Phänomen des Augenblicks, welches vom ›Jetzt‹ deutlich zu unterscheiden sei. 28 Dieses stelle ein Zeitphänomen dar, welches der Zeit als Innerzeitigkeit – der Zeitlichkeit des Zu- und Vorhandenen – zugehöre: »das Jetzt, ›in dem‹ etwas entsteht, vergeht oder vorhanden ist« (SZ 338). Die uneigentliche Gegenwart nennt Heidegger das Gegenwärtigen – dieses sei entsprechend »augenblickslosunentschlossen« (SZ 338). Wie das Gewärtigen als uneigentliche Zukunft lässt sich auch die uneigentliche Gegenwart am Phänomen der Neugier näher erschließen: Die Neugier »gegenwärtigt […] das Vorhandene nicht, um es, bei ihm verweilend, zu verstehen, sondern sie sucht zu sehen, nur um zu sehen« (SZ 346). Das Gegenwärtigen der Neugier »gegenwärtigt« nach Heidegger also allein »um der Gegenwart willen« (SZ 347), d. h. es geht vollends im Sein zum gerade Begegnenden auf und lenkt das Dasein beständig von sich selbst ab. Bezüglich der ursprünglich-existenzialen Zeitlichkeit kann nun mit Heidegger insgesamt folgende ›Ursprungsbewegung‹ aufgezeigt werden: »Zukünftig auf sich zurückkommend, bringt sich die Entschlossenheit gegenwärtigend in die Situation.« (SZ 326) Somit »entspringt« die Gewesenheit nach Heideggers Konzeption einer ursprünglichen Zu-kunft, und zwar so, »daß die gewesene (besser gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entläßt« (SZ 326). Diese ursprüngliche Zeitlichkeit – das macht die Beschreibung sehr deutlich – ›ist‹ nun Wobei die Interpretation der Dimension der Gegenwart bei Heidegger einige bezeichnende Probleme aufweist – siehe dazu die Ausführungen im nächsten Unterkapitel. 28 Dabei verweist er auf Kierkegaards Beschreibung des Augenblicks, die jedoch nicht zu einer existenzialen Zeitlichkeit vordringe; vgl. SZ 338; Fn. 1. Im Hintergrund dieser Bezugnahme steht, wie Heidegger selbst deutlich macht, Jaspers’ Auseinandersetzung mit Kierkegaard in Psychologie der Weltanschauungen. Zudem habe Aristoteles in der Nikomachischen Ethik den Augenblick (kair@) treffend beschrieben, bringe diesen aber nicht in Zusammenhang mit seinem Zeitbegriff aus der Physik; vgl. GA 24, 409. 27

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strenggenommen nicht, sondern sie zeitigt sich. Eindringlich macht Heidegger diesen Vollzugscharakter deutlich, wenn er in dem Vortrag »Der Begriff der Zeit« betont: »Die Zeit ist das Wie. Wenn nachgefragt wird, was die Zeit sei, dann darf man sich nicht voreilig an eine Antwort hängen (das und das ist die Zeit), die immer ein Was besagt.« (GA 64, 124) Die sich zeitigende Zeit beschreibt Heidegger auch näher als ekstatisch. Das bedeutet: Das Wesen der Zeitigung lässt sich als ein Außer-sich-Sein in den drei einander entspringenden Ekstasen Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart charakterisieren. 29 Die Vorstellung einer »puren, anfangs- und endlosen Jetzt-folge« (SZ 329) übersieht diesen ekstatischen Charakter der Zeitlichkeit konsequenterweise vollkommen. Wie deutlich wurde, räumt Heidegger der Ekstase der Zukunft eine besondere Stellung ein: »Das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft.« (SZ 329) Dennoch betont er: »Die Zeitlichkeit zeitigt sich in jeder Ekstase ganz« (SZ 350); entsprechend liegt die Möglichkeit der einzelnen Existenzialien nach Heideggers Analyse in einer eigentlichen oder uneigentlichen Zeitigung aller drei Zeitdimensionen, auch wenn das verstehende Entwerfen des Daseins primär in der Zukunft, das in der Befindlichkeit erschlossene Geworfensein primär in der Gewesenheit und das Verfallen primär in der Gegenwart gründen soll. 30 In einer abschließenden Interpretation weist Heidegger den drei Zeitekstasen nun noch einen jeweiligen Horizont zu – dabei handelt es sich um bestimmte ›Schemata‹ 31 , die aus den vorherigen Analysen in Sein und Zeit bereits bekannt sind: Der Zukünftigkeit als primärer Zeitlichkeit des Entwurfs gehöre das Umwillen-seiner zu, der Gewe29 In Metaphysische Anfangsgründe der Logik beschreibt Heidegger die Zeitigung der Zeit durch Bergsons Begriff des ›élan vital‹, um deutlich zu machen, dass der Zeitigung keine Substanz zugrunde liegt, die sich in einem zweiten Schritt in den drei Ekstasen entäußert; vgl. GA 26, 268. 30 Allerdings stellt sich die Frage, wie Heidegger gleichzeitig der Zukunft eine so herausragende Stellung einräumen und trotzdem von einer grundlegenden Gleichursprünglichkeit der Ekstasen reden kann. Auch ergeben sich etliche Unstimmigkeiten bei der Zuweisung der jeweiligen Primärekstasen zu den eigentlichen und uneigentlichen Ausprägungen der Existenzialien. So konkurrieren in den uneigentlichen Realisierungen der Erschlossenheitsweisen die Gegenwart – als Zeitlichkeit des Verfallens – und die jeweilige Entwurf oder Geworfenheit zugeordnete Ekstase um den Primärstatus. 31 Als Diskussion der Schemata vor dem Hintergrund der heideggerschen Kant-Auslegung siehe Köhler 1993, 106 ff.

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senheit als primärer Zeitlichkeit der Geworfenheit das Wovor, der Gegenwart als primärer Ekstase des Verfallens – und in den Zeitanalysen damit gleichgesetzt: des Besorgens – das Um-zu. Durch die Zuweisung dieser Schemata sucht Heidegger die Möglichkeit von ›Welt‹ in der Zeitlichkeit des Daseins gründen zu lassen, denn Welt wurde schließlich früher interpretiert als Bedeutsamkeitszusammenhang, der sich – zurückgehend auf ein letztes Worum-willen – als Ganzes aufeinander verweisender Um-zu-Bezüge beschreiben lässt. Heidegger entsprechend zur Horizonthaftigkeit der ursprünglichen Zeit: »Der Horizont der ganzen Zeitlichkeit bestimmt das, woraufhin das faktisch existierende Seiende wesenhaft erschlossen ist.« (SZ 365) Aufgrund der Horizonthaftigkeit der ekstatischen Zeit gehört nach Heidegger also zum Dasein je eine Welt, ›in‹ der es ›ist‹. Insgesamt kann mit Heidegger die ursprüngliche Zeitlichkeit der Existenz als ekstatisch-horizontal, endlich 32 und sich primär aus der Zukunft zeitigend beschrieben werden. Der Vorstellung von Zeit als einer kontinuierlich ablaufenden Folge neutraler Jetzt-Punkte setzt Heidegger demnach eine Konzeption von Zeitlichkeit entgegen, in welcher diese eindeutig kein selbst immerwährendes Kontinuum darstellt, in dem Seiendes wird und vergeht: Die existenziale Zeit ist nichts ›Vorhandenes‹, das sich dadurch auszeichnet, für immer da zu sein und alle Geschehnisse in sich abrollen zu lassen wie in einer Art ›Behälter‹.

1.3 Die Deutung der Tradition als ›Metaphysik der Präsenz‹ Betrachtet man Heideggers Präsentation des vulgären Zeitbegriffs, welcher nach seiner Interpretation trotz einiger vielversprechender Schritte in Richtung einer ursprünglichen Zeitlichkeit die gesamte philosophische Tradition des Nachdenkens über die Zeit beherrscht hat, dann erinnert diese Diagnose vehement an die ›Klage‹ über das Vergessen der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt. Dass in Heideggers Konzeption Seins- und Zeitdenken generell eng miteinander verbunVgl. SZ 330. Dass der Begriff einer endlichen ursprünglichen Zeitlichkeit glücklich gewählt ist, kann angezweifelt werden: Setzt die Charakterisierung einer endlichen Zeit nicht immer schon die Vorstellung eines linearen Zeitstrahls voraus, auf dem Anfangsund Endpunkt ablesbar sind? Letztlich müsste Heidegger bezüglich der ursprünglichen Zeit die Dichotomie Endlichkeit – Unendlichkeit ganz fallen lassen.

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den sind, wird schließlich schon am Titel des Werkes Sein und Zeit ersichtlich, der weder ein bloßes Nebeneinander der ›Phänomene‹ anzeigen möchte noch einen Gegensatz beider. Wie genau jedoch Seinsauslegung und Zeitverständnis nach Heidegger aufeinander verwiesen sind, das soll nun präzisiert werden. Zwar erklärt Heidegger in Sein und Zeit, es müsse eine »Interpretation des Bodens der antiken Ontologie im Lichte der Problematik der Temporalität« (SZ 25) geleistet werden, führt diese jedoch im veröffentlichten Werk bekanntlich nicht durch. Allerdings gibt § 6 mit der Überschrift »Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie« deutliche Hinweise auf Heideggers Kernthesen bezüglich des Zusammenhangs zwischen einem traditionellen Seinsverständnis und dem herkömmlichen Zeitbegriff. Dass schon in der Antike die Herausbildung des vulgären Zeitverständnisses nach Heideggers Einschätzung in verhängnisvoller Weise mit dem Versäumnis eines echten Fragens nach dem Sein einherging, wird zudem deutlich, wenn Heidegger im Rahmen der Zeitanalysen in Sein und Zeit bezüglich Aristoteles behauptet: »Der Ursprung der so offenbaren Zeit wird für Aristoteles nicht Problem. Seine Interpretation der Zeit bewegt sich vielmehr in der Richtung des ›natürlichen‹ Seinsverständnisses.« (SZ 421) Bereits zu Beginn der 20er Jahre hat Heidegger die These aufgestellt, seit der Antike habe die Philosophie sich für die Auslegung des Seins des Seienden am zunächst Vorhandenen, den zugänglichen ›Dingen‹ in der Welt, orientiert. Im Vortrag »Der Begriff der Zeit« heißt es: »Der Sinn von Sein ist […] am Seienden als Umwelt des nächsten Besorgens abgelesen« (GA 64, 101); im oben erwähnten Paragraphen von Sein und Zeit behauptet Heidegger entsprechend, »daß die antike Auslegung des Seins des Seienden an der ›Welt‹ bzw. ›Natur‹ im weitesten Sinne orientiert« (SZ 25) gewesen sei. Diese Ausrichtung am ›stets Vorhandenen‹ habe nun dazu geführt, dass ›Sein‹ als »Verfügbarkeit, Anwesenheit« (GA 64, 100) begriffen worden sei. 33 Anwe33 Vgl. zu dieser These zur antiken Ontologie exemplarisch SZ 24, GA 21, 199 ff. sowie GA 64, 100 ff. und GA 18, 24 ff. Heidegger behauptet an manchen Stellen eine vornehmliche Orientierung am zuhandenen Zeug, dann wieder eine Fokussierung auf ›naturhaft‹ Seiendes. Grundsätzlich hebt er jedoch hervor, dass das zunächst ›Vorhandene‹ stets als hergestelltes begriffen worden sei, was beim Zeug naheliegt, in Bezug auf ›Natur‹ aber – im Kontext der jüdisch-christlichen Tradition – durch die Vorstellung eines ›Schöpfers‹ ebenfalls plausibel wird. Eine zentrale Rolle spielt die Betonung der Orientierung an den ›Dingen‹ als hergestellten schließlich bei Heideggers Kritik an Descartes’

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senheit heißt aber: Präsenz; anwesend sein bedeutet präsent sein, gegenwärtig sein – und hier sieht Heidegger schließlich den Bezug zwischen einer Orientierung am Vorhandenen als dem Seinstypus schlechthin und der Fokussierung auf die Zeitdimension der Gegenwart bzw. das Jetzt. In »Der Begriff der Zeit« wird dieser Bezug von Heidegger besonders prägnant herausgestellt: »Das Wort ›Gegenwart‹ hat in seiner Bedeutung eine eigentümliche Indifferenz; es besagt einmal: Anwesenheit in der Umwelt (die Praesenz) und dann das ›Jetzt‹ (das Praesens). Die Indifferenz ist der Ausdruck des phänomenologischen Tatbestandes im Dasein, daß das ›jetzt‹ sagende sich aussprechende Ansprechen der Welt als aufgehendes Besorgen in dieser, sich von der Welt her als dem verfügbar Anwesenden auslegt.« (GA 64, 74)

Obgleich Heidegger selbst nicht ausdrücklich von einer »Metaphysik der Präsenz« (bzw. »Metaphysik des Präsens«) spricht, kann seine These also durchaus mit diesem von Derrida im Anschluss an Heideggers Deutung geprägten Schlagwort belegt werden. 34 Das – vermeintliche – Verharren der Philosophie in einer solchen Präsenzmetaphysik während der letzten zweieinhalb Jahrtausende hat also nach Heidegger einmal zur grundsätzlichen Verstellung eines Zugangs zum Sein selbst fernab jeglicher vorschnellen Orientierungen an einem spezifischen Seienden geführt; es sei außerdem ablesbar an der Dominanz des vulgären Zeitverständnisses im Sinne der Jetzt-Folge in der gesamten abendländischen Tradition. Zudem wird das Ausmaß dieser Vorhandenheits- und Gegenwartsfixierung deutlich in der – von Heidegger so kritisch hinterfragten – neuzeitlichen Tradition, das menschliche Dasein als ›Ichsubstanz‹ oder ›Subjekt‹ auszulegen.

res cogitans als eines ens creatum; vgl. GA 64, 102 und GA 17, 252. Besonders ausführlich widmet sich Heidegger der Orientierung am ›stets Anwesenden‹ bei der Auslegung des Seins des Seienden in der Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit aus dem SS 1930; vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, hrsg. von Hartmut Tietjen, Frankfurt a. M. 1982 (GA 31), 51 ff. In den Mittelpunkt rückt dabei die Beziehung zwischen dem alltäglichen Begriff des Anwesens im Sinne des Eigenen (o'sffla als das Hab und Gut) und dem philosophischen Begriff des Anwesens im Sinne des eigentlichen Seins des Seienden (o'sffla als Seiendheit). Außerdem differenziert Heidegger hier stärker zwischen Platons und Aristoteles’ ›Ontologie‹. 34 Was nicht bedeutet, dass Derrida nicht zentrale neue Aspekte einer solchen ›Präsenzmetaphysik‹ aufdeckt; siehe das übernächste Kapitel. Zur Bezeichnung »Metaphysik der Präsenz« vgl. bei Derrida exemplarisch einige prägnante Bemerkungen in der Grammatologie, konkret: Derrida 1983, 41, 87 und 286.

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Zuletzt drückt sich diese doppelte Favorisierung der Anwesenheit in Bezug auf die Zeitauslegung der Tradition laut Heidegger noch in der schon erwähnten Auffassung der Zeit als etwas selbst (immerwährend) Vorhandenen aus. Heidegger: »Für die vulgäre Erfahrung ergibt sich folgendes: Seiendes begegnet in der Zeit. […] Das bedeutet aber: die Zeit ist in gewisser Weise.« (GA 24, 385) Wenn das andere Seiende vornehmlich als Vorhandenes begegnet und die Zeit sich irgendwie ›an ihm‹ zeigt, so ist sie – dies Heideggers Deutung – eben »mitvorhanden, sei es in den Objekten oder im Subjekt oder überall« (GA 24, 385). Mit dieser Interpretation der philosophischen Tradition als eines Denkens der Präsenz mag es nun auch zusammenhängen, dass Heidegger in Sein und Zeit mit der Herausstellung einer echten ursprünglichen Gegenwart massive Probleme hat. Zwar spricht er ausdrücklich vom Augenblick als eigentlicher Gegenwart, die sich vom bloßen JetztPunkt grundlegend unterscheiden soll, doch erscheint diese Ekstase, anders als Zukunft und Gewesenheit, in der ursprünglichen Zeitlichkeit nicht vollends ausgeprägt zu sein. Dies wird deutlich, wenn Heidegger etwa behauptet, »daß das Gegenwärtigen, in dem das Verfallen an das besorgte Zuhandene und Vorhandene primär gründet, im Modus der ursprünglichen Zeitlichkeit eingeschlossen bleibt in Zukunft und Gewesenheit« (SZ 328). 35 An einer anderen Stelle heißt es: »In der Entschlossenheit ist die Gegenwart aus der Zerstreuung in das nächst Besorgte nicht nur zurückgeholt, sondern wird in der Zukunft und Gewesenheit gehalten. Die in der eigentlichen Zeitlichkeit gehaltene, mithin eigentliche Gegenwart nennen wir den Augenblick.« (SZ 338)

Indem der Augenblick also als »gehaltene Entrückung« (SZ 338) des Daseins an innerweltlich Begegnendes konzipiert ist, kann von einer tatsächlich entfalteten Gegenwart auf der Ebene der ursprünglichen Zeitigung nicht die Rede sein. 36 Bezeichnenderweise betont Heidegger zudem, die Gegenwart der Angst als eigentlicher Befindlichkeit sei »im Sichzurückbringen auf die 35 Fleischer konstatiert, dass eine ursprüngliche Gegenwart gar nicht aufgezeigt werde, was das gesamte Konzept der ursprünglichen Zeitlichkeit zum Scheitern bringen könnte; vgl. Fleischer 1991, 25. 36 Auch bezeichnet Heidegger, wie schon deutlich wurde, den »formalen Charakter« der Gegenwart überhaupt genauso wie die uneigentliche Gegenwart als ein ›Gegenwärtigen‹ ; Heinz sieht das als ein Anzeichen dafür, dass »die Gegenwart an ihr selbst uneigentlich ist« (Heinz 1982, 93).

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eigenste Geworfenheit gehalten« (SZ 344). Weil die Angst sich nicht auf Innerweltliches bezieht, könne sie sich nämlich »ihrem existenzialen Sinne nach nicht an ein Besorgbares verlieren« (SZ 344). Im Anschluss daran behauptet Heidegger dann noch, die Gegenwart der Angst könne strenggenommen gar nicht als Augenblick bezeichnet werden – die ›Gegenwart‹ der Angst »hält den Augenblick, als welcher sie selbst und nur sie möglich ist, auf dem Sprung« (SZ 344). Indem die Gegenwart als Zeitlichkeit des Verfallens und somit als dominierende Ekstase bei allen uneigentlichen Ausprägungen der einzelnen Erschlossenheitsweisen präsentiert wird, ist sie im Rahmen der heideggerschen Konzeption offenkundig vornehmlich als die Zeitekstase begriffen, welche die Auslegung von Sein, Dasein und Zeit im Sinne der Präsenzmetaphysik fundiert. Während die ursprüngliche Zukunft und Gewesenheit letztlich ein eigentliches Selbstverhältnis des Daseins ausdrücken – ein Zusichkommen als Zurückkommen –, lässt sich die Erschlossenheit der Situation schließlich eindeutig nicht im Sinne einer solchen ›reinen‹ Selbstbezüglichkeit fassen. Hier kommt zwangsläufig eine Bezogenheit auf andersartig Seiendes und anderes Dasein ins Spiel und die Gefahr des Sichverlierens an das Begegnende scheint nach Heidegger unabwendbar, sobald die Gegenwart sich aus ihrer Gehaltenheit in Zukunft und Gewesenheit ›befreit‹. 37 Entsprechend beschreibt Heidegger das ›Entspringen‹ der Gegenwart aus Zukunft und Gewesenheit – siehe die zeitliche Interpretation der Neugier – als ein ›Davonlaufen‹. Übernimmt die Gegenwart gleichsam die ›Führung‹ innerhalb der Zeitigung des Verstehens, der Rede 38, des Sichbefindens – und diese übernimmt sie nach Heidegger augenscheinIn Heideggers Beschreibung der eigentlichen Gegenwart als einer nicht voll ›realisierten‹ Ek-stase drückt sich nun erneut die Problematik um die tendenzielle Gleichsetzung von Sein-bei überhaupt mit einem uneigentlichen Daseinsvollzug aus, die sich u. a. in der Diskussion der vorlaufenden Entschlossenheit zeigte. 38 Bemerkenswert ist, dass Heidegger der Rede zunächst gar keine eigene Zeitekstase zusprechen möchte. Schließlich weist er der Rede doch eine eigene Zeitlichkeit zu, und welche, ist für die Frage nach der Möglichkeit einer eigentlichen Rede sehr aufschlussreich: »Weil jedoch die Rede faktisch sich zumeist in der Sprache ausspricht und zunächst in der Weise des besorgend-beredenden Ansprechens der ›Umwelt‹ spricht, hat […] das Gegenwärtigen eine bevorzugte konstitutive Funktion.« (SZ 349) Das bedeutet: Sprache wird erneut tendenziell mit dem Gerede identifiziert. Siehe zur Diskussion von Rede und Zeitlichkeit bei Heidegger Günter Wohlfart, Der Augenblick. Zeit und ästhetische Erfahrung bei Kant, Hegel, Nietzsche und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust, Freiburg/München 1982, 133 ff. sowie Fleischer 1991, 19 ff. und 28 f. 37

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lich, sobald sie in vollem Sinne ›entsprungen‹ ist –, dann wird das so erschlossene Dasein zwangsläufig »möglichkeitsblind« (SZ 195) und ist von sich selbst als einem existierenden Seienden abgelenkt.

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Ein mögliches Zeitdenken mit Buber

Obgleich Buber das Phänomen ›Zeit‹ nie ausführlich zum Thema gemacht hat, lassen sich doch in Ich und Du Hinweise auf verschiedene Zeitauffassungen finden, denen näher nachzugehen sich durchaus lohnt. Dabei wird sich zeigen, dass sich auch einige Berührungspunkte zu Heideggers Versuch einer kritischen Hinterfragung des traditionellen Zeitbegriffs auftun, obgleich – dies sei vorweggenommen – Buber keine Zeitvorstellung präsentiert, die mit Heideggers ursprünglicher Zeitlichkeit in einen direkten Zusammenhang gebracht werden könnte. Im Abschnitt zum Verhältnis von ›Ich‹ und ›Welt‹ wurde bereits deutlich, dass die Zeit bei Buber einen der zentralen Ordnungsparameter der Eswelt darstellt. Jedes Ding, jeder Vorgang findet hier seinen Platz im beständigen »Weltnetz aus Raum und Zeit« (DP 12) und ist daher laut Buber eindeutig lokalisierbar, datierbar, messbar. Indem Buber die Raum-Zeit-Ordnung im Sinne eines Koordinatensystems beschreibt, rekurriert er eindeutig auf die traditionelle Deutung der Zeit als eines homogenen Kontinuums – oder im Sinne Heideggers: als eines selbst stets präsenten ›Behälters‹, in dem die weltlichen Vorgänge ablaufen. Im Ich-Es hat das Eigenwesen sein Objekt als etwas ›in‹ der Zeit Seiendes, oder es ließe sich auch sagen, das ›Haben‹ des Objekts besteht gerade in einer solchen Einordnung in die lineare Zeitreihe. Doch nicht allein der Gegenstand der Erfahrung – das Es – ist nach Buber der Zeit als Ordnungssystem eingeschrieben, sondern auch die konkreten Ich-Es-Momente selbst – die einzelnen Erfahrungen – begreift das Eigenwesen als Momente in der einen ablaufenden Zeit. Auch die Ich-Es-Erlebnisse selbst sind also datierbar sowie sich letztlich auch das Eigenwesen, indem es sich als ein so und so seiendes Wesen begreift, ›in‹ die Zeit einzureihen vermag wie ein ›Ding‹. Die Begegnung mit einem Du kann nun im Nachhinein sicherlich ebenfalls datiert werden, dabei wird sie jedoch zu einem Es ›gemacht‹ – schließlich gesteht Buber selbst ein, dass die Rede über Ich-Du-Begegnungen diese schon vergegenständlicht. Das Ich-Du an sich fällt nach Bubers Charakterisierung also gewissermaßen aus der linearen Zeit 375 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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heraus, weil es nicht im Rahmen einer es übersteigenden Ordnung stattfindet und weil seine Gegenwart nach Buber konsequenterweise auch nicht als Jetzt-Punkt gefasst werden darf, der einen eben gewesenen ablöst und sogleich in einen neuen übergeht. Buber grenzt die Gegenwart des Du schließlich dezidiert ab von der »punkthafte[n], die nur den jeweilig im Gedanken gesetzten Schluß der ›abgelaufenen‹ Zeit, den Schein des festgehaltenen Ablaufs bezeichnet« (DP 16). Das Ich-Du fällt also nicht ›in‹ die Zeit, es hat aber eine eigene Zeitlichkeit, die Buber eben als erfüllte Gegenwart beschreibt. Da diese augenscheinlich nicht als stetig vergehender Jetzt-Moment gedacht ist, muss Buber sie strenggenommen als »absolute Gegenwart« begreifen, als eine Gegenwart, »die nie zur Vergangenheit werden kann« (RG 48), soll das Ich-Du nicht zu einer Es-Erfahrung degradiert werden. 39 Wenn diese Gegenwart nun eine solche sein soll, welche nicht dem Fluss einander ablösender Gegenwartsmomente angehört, dann kann man letztlich auch nicht sagen, das Ich-Du geschähe ›in‹ der Gegenwart, sondern vielmehr zeitigt sich diese Gegenwart im Geschehen der Begegnung. Die Zeitlichkeit des Ich-Du ist somit weder subjektiv noch objektiv, sondern scheint sich erst in der Begegnung der Partner zu konstituieren. Um die Nicht-Lokalisierbarkeit des Du deutlich zu machen, greift Buber auch auf einen Vergleich zurück, der im Zusammenhang mit diesem Erstehen einer spezifischen Zeitlichkeit in der Begegnung sehr aufschlussreich ist: »Und wie das Gebet nicht in der Zeit ist, sondern die Zeit im Gebet, das Opfer nicht im Raum, sondern der Raum im Opfer, und wer das Verhältnis umkehrt, hebt die Wirklichkeit auf, so finde ich den Menschen, zu dem ich Du sage, nicht in einem Irgendwann und Irgendwo vor.« (DP 13)

Bestätigt wird durch dieses Zitat somit der oben nahegelegte Gedanke, die Ich-Du-Begegnung finde nicht ›in‹ der Zeit statt, sondern die Zeit – im Sinne der absoluten Gegenwart – werde ›in‹ der Beziehung gestiftet. Zwar spricht Buber auch an einer Stelle in Ich und Du von einem Begegnen des Du ›in‹ der Zeit, wie er dieses beschreibt, ist jedoch bezeichDiese Bemerkungen zu einer absoluten Gegenwart finden sich in Religion als Gegenwart und beziehen sich nicht auf die Beschreibung des Ich-Du, sondern auf die eines ›echten‹ Bezugs zum Religiösen. In diesem Kontext wendet sich Buber besonders kritisch gegen die Vorstellung der Gegenwart als eines »Augenblicks der Menschenseele« und betont die Notwendigkeit, von einer Zeit auszugehen, welche die Subjektivität transzendiere; vgl. RG 48.

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nend: Das Du erscheine in der Zeit als der »des in sich erfüllten Vorgangs, der nicht als Teilstück einer steten und festgegliederten Folge, sondern in einer ›Weile‹ gelebt wird, deren rein intensive Dimension nur von ihm selbst aus bestimmbar ist« (DP 34). 40 Deutlich geworden ist also, dass Buber – ebenso wie Heidegger – den traditionellen Zeitbegriff nicht als treffende Beschreibung der Zeit schlechthin begreift. Die Zeitlichkeit des Ich-Du als ursprünglicher zu begreifen als die Zeit im Sinne des Ordnungsschemas für Vorgänge und Gegenstände, das ist jedoch problematisch, denn es fehlt hier offenkundig die Erstreckung in die drei Dimensionen der Zeit, also in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eher scheinen die beiden Zeitbegriffe bei Buber nebeneinander zu stehen, so wie nicht selten auch Ich-Es und Ich-Du als einander radikal ausschließende Sphären präsentiert werden. In Das Problem des Menschen hingegen legt Buber eine Unterscheidung zweier Zeitphänomene nahe, bei der eine andere Konzeption von Zeitlichkeit als die der Zeitreihe präsentiert wird, die aber dennoch alle drei ›Ekstasen‹ beinhaltet: Buber differenziert hier zwischen der »kosmologischen Zeit« und der »anthropologischen Zeit«. Auffällig ist, dass Buber in Bezug auf die kosmologische Zeit von einem »Vorhandensein« spricht – einem Vorhandensein der Zeit selbst bzw. ihrer drei Dimensionen. Die anthropologische Zeit soll sich nun gerade in der Hinsicht von der kosmologischen unterscheiden, dass etwa die Zukunft hier nicht »vorhanden« sein könne, weil »sie nach meinem Bewußtsein und Willen in einem gewissen Maße von meiner Entscheidung abhängt« (W I, 333). Mit der anthropologischen Zeit meint Buber entsprechend »die Zeit in Hinsicht auf die besondere Wirklichkeit des konkreten, bewußt wollenden Menschen« (W I, 333). Da im Hintergrund dieser Bemerkungen eine – zugegebenermaßen knappe und oberflächliche – Auseinandersetzung mit Hegels Geschichtsphilosophie steht, geht es Buber offenkundig vor allem um die ›Rettung‹ einer Zukunft, die sich allein aus der Konfrontation der Handlungen freier Individuen ergibt und somit unvorhersehbar ist. Dennoch ist diese Stelle interessant, weil hier wiederum der Versuch einer Distanzierung von der überge40 Die Schilderung des ›Herausfallens‹ der Ich-Du-Momente aus der linear ablaufenden Weltzeit ähnelt jedoch den traditionellen Beschreibungen des Einbruchs religiös-mystischer Erlebnisse in das alltägliche ›Getriebe‹.

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ordneten Weltzeit deutlich wird, welcher vom Verweis auf eine Zeitlichkeit des konkreten Lebens begleitet wird. 41 Da Buber sich jedoch nicht systematisch dem Phänomen der Zeit widmet, sondern nur hier und dort in seinen Texten einige Hinweise auf eine andere Zeit als die homogen abfließende einstreut, bleibt sehr vieles offen. So stellt sich nicht zuletzt die Frage, ›in‹ welcher Zeit die Ich-Es- und Ich-Du-Momente einander abwechseln sollen. Geht Bubers Konzeption insgesamt nicht doch von einer übergeordneten, objektiven ›Weltzeit‹ aus, in der das zwiefältige Leben abläuft? Bemerkenswert ist allerdings noch, dass Buber nicht allein thematisiert, welche Zeitvorstellung dem Ich-Es zugehört – Zeit als gleichmäßig abfließend, Ordnung ermöglichend –, sondern dass er das Ich-Es selbst noch einmal im Lichte einer bestimmten Zeitdimension deutet. Wie in dieser Untersuchung schon erwähnt wurde, weist Buber dem Ich-Es insgesamt die Zeitlichkeit der Vergangenheit zu. Das heißt nun offensichtlich: Vorgänge und Dinge ›in‹ die Zeit einzureihen bzw. sie ›in‹ der Zeit zu erfahren bedeutet, in einem spezifischen Sinn ›vergangenheitsbezogen‹ zu existieren. Während Heidegger dazu tendiert, Objektivierung und Gegenwart zusammenzudenken, stehen bei Buber Gegenstand und Vergangenheit in einem direkten Zusammenhang: »[…] Gegenstände […] bestehen im Gewesensein.« (DP 16) Begreift man das Ich-Es nun als Beschreibung des traditionellen Subjekt-Objekt-Verhältnisses bzw. als Auseinandersetzung mit traditionellen Beschreibungen von ›Ich‹ und ›Welt‹, dann ließe sich daraus folgern, dass Buber der Tradition – anders als Heidegger – eine untergründige Vergangenheitsfixierung attestieren würde. Wenn bei Buber nun die Zeitlichkeit des Ich-Du gerade die Gegenwart ist, wie verhält sich sein Denken dann aber zur von Heidegger aufgezeigten ›Metaphysik der Präsenz‹ ? Und welche eigene ›Zeitlichkeit‹ würde Buber Heideggers Konzeption des erschlossenen Daseins als eines In-der-Weltseins zuschreiben? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei die bisherigen Ergebnisse des gesamten Vergleichs zwischen Heideggers Fundamentalontologie und Bubers dialogischem Denken vor dem Hintergrund ihrer beiden Zeitbegriffe eine abschließende Deutung finden.

Buber grenzt sich hier bewusst von Bergsons ›durée‹ ab, obgleich dessen Vorstellung einer diskontinuierlichen Zeit Buber durchaus beeinflusst haben mag; vgl. W I, 334.

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Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse des Vergleichs

3.

Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse des Vergleichs im Hinblick auf die Dimension der Zeit

Bei den Ausführungen zum Philosophiebegriff Heideggers und Bubers wurde hervorgehoben, dass Buber auf eine immer wieder neu geschehende ›Wirklichkeit‹ hinzeigen möchte, eine in einer lebendigen Gegenwärtigkeit erfahrene Wirklichkeit, die sich strenggenommen in keiner sprachlich ausgearbeiteten Philosophie angemessen repräsentieren lässt, sondern auf die nur mit ›vorsichtigen Fingerzeigen‹ hingedeutet werden kann. Schon hier meldete sich somit ein zentraler Grundzug des dialogischen Denkens Bubers: die Dominanz der Zeitdimension der Gegenwart als einer solchen, die in keiner Erinnerung wiedergeholt und in keiner vorweggenommenen Zukunft antizipiert werden kann, und in eins mit dieser Favorisierung der Gegenwart die Vorsicht gegenüber der Möglichkeit einer adäquaten, vollständigen Repräsentierbarkeit des in der echten Begegnung Widerfahrenden. Allein diese Beschreibung macht nun deutlich, dass bei Buber die Gegenwart der Beziehung gerade kein Anwesendsein des Gegenübers – des Du – im Sinne eines Verfügbarseins meint. ›Etwas‹ begreifbar machen heißt nach Buber vielmehr, es auf bereits bekannte Strukturen zurückzuführen, was im Rahmen einer solch ›unvermittelten‹ Gegenwart gerade nicht möglich ist. Dennoch ist der Andere in der Begegnung auch ›präsent‹ in einem bestimmten Sinne – die Ansprache etwa stiftet ja durchaus eine Nähe zum Angeredeten, lässt ihn aber ›anders‹, d. h. hier: uneinholbar, sein. Der bei Buber so hervorstechende Begriff der ›Unmittelbarkeit‹, mit dem er einen wesentlichen Charakterzug des Ich-Du zu beschreiben sucht, darf dementsprechend auch nicht vorschnell einem reinen, unreflektierten ›Präsenzdenken‹ zugerechnet werden. Wenn Buber Gegenwart und Gegenstand gerade als scharfe Gegensätze auffasst, dann bedeutet dies schließlich, dass die Gegenwärtigkeit des Du nicht dessen (unmittelbares) Erkanntsein durch ein Ich meint. So zeigte sich ja auch, dass das Kriterium für das echte Gespräch bei Buber gar nicht der Grad an Offenbarkeit des Besprochenen darstellt, sondern die Wahrheitsfähigkeit der Sprache im Bereich des Dialogischen liegt vielmehr in ihrer Kraft, echte Begegnung zu stiften. Die Gegenwart des gesprochenen Wortes begreift Buber entsprechend als immer neues Geschehen bzw. als Geschehnis des immer Neuen. Will man Bubers Gegenwart nun als Zeitdimension verstehen, die 379 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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doch eine gewisse ›Ausgespanntheit‹ in eine andere Zeitekstase in sich trägt, dann böte sich vor diesem Hintergrund an, sie als eine zukunftsgeprägte Gegenwart zu begreifen: Weil das Du nicht aus einer vorentworfenen Ordnung heraus erscheint, steht es dem Ich gleichsam als uneinholbares Gegenüber bevor. Auf der anderen Seite lässt sich – bedenkt man die Perspektivverschiebung bei der Verantwortungskonzeption – bei Buber auch auf eine Vergangenheitsbezogenheit verweisen, welche im Stets-schon-angesprochen-Sein des Menschen von der Welt her liegt. Da die meiner Ver-antwortung immer schon vorausgegangene Anrede aber keine eindeutige Erwiderung einfordert – weil die Verantwortung bei Buber nicht als eine Art bruchlose Wechselrede gedacht ist –, ist die Anrede gewissermaßen immer schon vergangen und nicht wieder-holbar. Diese Überlegungen zeigen, dass die Favorisierung einer der drei Zeitdimensionen innerhalb einer philosophischen Konzeption nicht zwangsläufig darüber entscheidet, inwieweit diese Konzeption traditionelle metaphysische Vorstellungen übernimmt – denn wie gesehen rekurriert Buber erstens mit seiner Thematisierung der Gegenwart gerade nicht auf das Ideal eines unverstellten Zugangs zu den ›Sachen‹ und ihrer vollständigen Re-präsentierbarkeit im Sprechen und zweitens lassen sich auch durch Verweise auf eine spezifisch gedachte Zukunft und Vergangenheit zentrale Aspekte des buberschen Ansatzes fassen. Ergänzt man Bubers Konzeption um die Einbeziehung der beiden anderen Zeitdimensionen, dann muss es sich, wie deutlich wurde, jedoch um eine Zukunft handeln, die ›unerreichbar‹, und eine Vergangenheit, die ›uneinholbar‹ ist, soll der Grundansatz eines unverorteten Du nicht grundlegend hinterfragt werden. 42 Bubers Fokussierung auf die Gegenwart verweist also nicht unmittelbar auf ein Denken, das sich als eine ›Metaphysik der Präsenz‹ (im Sinne Derridas) beschreiben ließe, weil sie mit einer Reduzierung des Seins des dem Ich Gegenüberseienden auf ein Objektsein radikal bricht. Indem Buber die Gegenwärtigkeit des Gegenstandes im Sinne seines Begriffen- und Festgelegtseins gerade mit der ›Vergangenheit‹ des Ich-Es zusammendenkt, wird eine bestimmte Vorstellung von ›Prä-

Zur Konzeption einer ›absoluten‹ Vergangenheit siehe Jacques Derrida, »Die différance«, in: ders. 1988 b, 29–52, hier: 46 sowie Derrida 1983, 116 und Lévinas 1983, 229 f. Zu einer absoluten Zukunft siehe Lévinas 2003, 48 und 51 f.

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senz‹ hier eindeutig mit einer Vereinnahmung der ›Dinge‹ assoziiert. 43 Wenn Heidegger nun die untergründige Beziehung zwischen der Zeitekstase der Gegenwart und dem Verstehen von Sein als Anwesenheit entdeckt, hat er dann auch diese Dimension des Gegenstandseins im Blick? Und wenn nicht, finden sich dann in der Konzeption des Daseins als eines erschlossenen In-der-Welt-seins vielleicht Hinweise auf ein Denken der ›Präsenz‹ in einem solchen Sinne, wie es von Bubers Konzeption aus kritisierbar wäre? Die eingehende Thematisierung von Heideggers Analysen in Sein und Zeit und in den dieses Werk begleitenden Vorlesungen und Texten zeigte, dass hier in verschiedenen Zusammenhängen vielfach von ›Offenbarkeit‹, ›Nähe‹, ›Vertrautheit‹ und schließlich auch ›Anwesenheit‹ die Rede ist. Alles nicht-daseinsmäßig Seiende sowie anderes Dasein sind dem jemeinigen Dasein in fundamentaler Weise ›nahe‹, d. h. prinzipiell zugänglich – sie begegnen aus der Welt heraus, die ein Existenzial des jemeinigen Daseins darstellen soll. Zuhandenheit selbst, darauf wurde nachdrücklich verwiesen, wird von Heidegger explizit als die »Anwesenheit des nächst Verfügbaren« (GA 20, 258) präsentiert. 44 Entsprechend konnte das In-der-Welt-sein hier als ein Zuhausesein bzw. Haushalten in einem existenzialen Sinne interpretiert werden. Die Diskussion von Rede und Sprache – vornehmlich die Interpretation des Ausschlusses des Zeichens – zeigte dann, dass die Thematisierung dieser Erschlossenheitsweisen sich ebenfalls primär an der Möglichkeit einer grundlegenden Zugänglichkeit alles Seienden sowie des anderen Daseins orientiert. 45 Bedeutsamkeit bezeichnet Heidegger 43 Die ›Ewigkeit‹ des ewigen Du kann also strenggenommen nicht meinen, dass es – als das sich jeglicher Vergegenständlichung gerade Entziehende – immer da ist im Sinne des immer Verfügbaren. Jedoch scheint Buber hier durchaus eine ständige, immerwährende Anwesenheit dieses ausgezeichneten Du zu denken und rekurriert so auf einen traditionellen Begriff von Ewigkeit. Siehe dazu die kritische Bemerkung von Theunissen: »[…] der Rekurs auf ein unvergängliches Wesen erscheint, solange man bloß im Horizont der Zeit denkt, wie eine phänomenal ungerechtfertigte Zuhilfenahme platonischer Metaphysik.« (Theunissen 1977, 344) 44 Vgl. dazu Theodore Kisiel, »Der Zeitbegriff beim frühen Heidegger (um 1925)«, in: Phänomenologische Forschungen, Band 14 (1983), 192–211. Der Autor betont, welch zentrale Stellung das Gegenwärtigen im Sinne des Appräsentierens bzw. das Gegenwärtigen als Garant der Zugänglichkeit von Seiendem überhaupt in Heideggers Schriften von 1925–1927 innehat. 45 Wenn Heidegger auf subtile Weise doch noch ›Husserlianer‹ ist, wie es der Abschnitt

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schließlich selbst als »Modus der Anwesenheit, auf die alles Seiende der Welt hin entdeckt ist« (GA 20, 287), und die Leistung der Rede sei es, »etwas als offen da, als vorhanden seiend zugänglich zu machen« (GA 63, 11). Je unmittelbarer Dasein entdeckt, desto ›wahrer‹ ist der Bezug zum Seienden nach Heidegger – dies zeigten die Analysen im Abschnitt zum Wahrheitsbegriff beider Denker eindringlich. Diese kurze Wiederholung einiger wesentlicher Ergebnisse der bisherigen Interpretationen macht deutlich, dass dem welt-erschließenden Dasein das Begegnende prinzipiell präsent ist im Sinne eines Zugänglichseins. Insofern ist Dasein offenkundig in einem ganz fundamentalen Sinne ein gegenwärtigendes Seiendes. In seinen Zeitanalysen in der Logik-Vorlesung vom WS 1925/26 geht Heidegger auch selbst auf dieses grundlegende Gegenwärtigen ein, welches das verstehende Dasein als solches auszeichnet. Dabei schließt er an die in dieser Vorlesung zentrale Unterscheidung zwischen dem ursprünglichen Entdecken des ›hermeneutischen Als‹ und dem abgeleiteten Entdecken des ›apophantischen Als‹ an und bemerkt: »Entdecktheit bzw. Wahrheit der weltbezogenen Aussage besagt Gegenwart. Sein aber besagt Anwesenheit, d. h. der Sinn von Sein ist aus Gegenwart begriffen, darin allein so etwas möglich ist wie Anwesenheit. Anders ist Sein überhaupt nicht zu begreifen. Denn was besagt Verstehen? Etwas als etwas bestimmen. Seiendes ist nun an ihm selbst, in seinem An-sich genommen, verstanden, wenn es verstanden wird in dem reinen Sein-zu-ihm-selbst, d. h. in und aus der puren Gegenwart des Daseins zu seiner Welt. Gegenwart ist ganz und gar nichts Subjektives und Subjektivistisches, Idealistisches im üblichen, erkenntnistheoretischen Wortverstand, sondern das Sein zur Welt selbst, darin sie sich in ihrem An-sich, in verschiedenen Stufen der Näherung und Bestimmung zeigen kann.« (GA 21, 415)

Diese Stelle – welche eine eigene Interpretation Heideggers präsentiert und keine explizite Auseinandersetzung mit der griechischen Ontologie – zeigt sehr deutlich, dass Heidegger hier Präsenz im Sinne von Zugänglichkeit nicht mit einem weltvereinnahmenden Bestreben des traditionellen neuzeitlichen ›Subjekts‹ identifiziert, das zu überwinden wäre. Was Heidegger mit seiner Kritik an der ›Metaphysik der Präsenz‹

zu Heideggers ›Sprachdenken‹ in Sein und Zeit nahegelegt hat, dann ist er zwangsläufig auch noch ›Präsenzmetaphysiker‹ – zumindest im Sinne Derridas; vgl. zum Bezug zwischen einsamer Rede und Augenblick in Husserls »Ausdruck und Bedeutung« Derrida 2003, 83 ff.

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Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse des Vergleichs

im Blick hat, ist also vornehmlich deren Tendenz, Sein auf Dinglichkeit zu reduzieren, d. h. das Gegenwärtige stets als beständig Vorhandenes mit diesen oder jenen Eigenschaften zu begreifen und das Dasein als ›Subjekt‹ im Sinne eines ›substantiell‹ Seienden. Die Interpretation von Ganzheit und Eigentlichkeit des Daseins vermag dies insofern zu bestätigen, als in der vorlaufenden Entschlossenheit schließlich eine nicht-substantialistisch begriffene Selbständigkeit des Daseins gefunden werden soll, in der das Dasein sich seiner selbst als eines existierenden Seienden gewiss ist. Das bedeutet zugleich: dessen gewiss zu sein, endlich zu existieren, also keine Präsenz im Sinne des Immerdaseins zu haben, dennoch aber in dieser Gewissheit um das eigene Sein den Grund der möglichen Präsenz – Gegenwärtigung – alles anderen Seienden erschlossen zu haben. 46 So zeigt sich schließlich, inwieweit die Deutung des heideggerschen Denkens während der 20er Jahre durch das Modell der Heimkehr und das Bubers durch das Motiv des Aufbruchs mit der Zeitlichkeit vereinbar ist, welche beide Denker innerhalb ihrer Konzeptionen selbst in den Mittelpunkt stellen: Obgleich Buber das Ich-Du als Gegenwart beschreibt, ist hier kein reines Anschauen eines enthüllten Gegenübers gemeint, sondern das Aus-sein auf tatsächlich Andersartiges. Obwohl Heidegger die Ekstase der Zukunft so stark macht, begegnet nach Sein und Zeit alles Seiende im Lichte des erschlossenen ›Da‹, so dass die Auslegung alles gegenwärtig Begegnenden stets auf die grundlegende Vertrautheit mit Welt zurückkommt. Was sich bei Heidegger hinter der Zukunftsfavorisierung verbirgt, ist also vornehmlich die Distanznahme zur Ausrichtung am gegenständlich Seienden – den ›Dingen‹ –, und in dieser Distanzierung sind beide, Buber und Heidegger, vereint: Dasein und Person als ›wahres‹ Ich sind beide nicht als etwas Vorhandenes konzipiert. Doch auch das Zuhandene, nicht nur das theoretisch Erkannte, 47 ist bei Heidegger ›präsent‹ im Sinne einer ›Verfügbarkeit‹ und die Anderen sind miterschlossen im Entwurf von Welt. Das Du bei Buber hingegen ist dies nicht, d. h. nicht prinzipiell verfügbar, immer schon ›verstanden‹. 46 Zur These, dass Heidegger selbst in Sein und Zeit einer unterschwelligen ›Metaphysik der Präsenz‹ verhaftet sei, siehe auch Derrida 1988 b, 119 ff. Zu einer Auseinandersetzung mit Husserl, Heidegger und Derrida unter dem Schlagwort ›Metaphysik der Präsenz‹ vgl. Bernet 1983 sowie ders. 1986. 47 Gegenüber dem Zuhandenen gründet das Vorhandene nach Heidegger zwangsläufig in einem noch gesteigerten Gegenwärtigen; vgl. SZ 363.

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Allerdings wurde im Verlauf der Analysen auch mehrfach auf problematische Aspekte des buberschen Ansatzes verwiesen – auf interne Schwierigkeiten der Konzeption selbst sowie auf Fragen zur Angemessenheit der buberschen Beschreibung von so etwas wie einer ›dialogischen Wirklichkeit‹. Wenn Buber eine vollkommene Gegenwart – frei von jeglichen eshaften Momenten – proklamiert, begibt sich seine Konzeption schließlich in die Nähe metaphysischer Grundüberzeugungen, welche wiederum einer ›Metaphysik der Präsenz‹ im heideggerschen Sinne durchaus nahestehen. Zu denken wäre hier z. B. an die bubersche Rede von ›Wesensmensch‹ und ›Bildmensch‹. Zudem scheint die Favorisierung einer reinen Gegenwart – hier besteht dann jedoch eine Nähe zu Heidegger – von einer zu erreichenden Ursprünglichkeit auszugehen, welche durchaus fragwürdig ist. Dies machte vor allem die Diskussion um die Bibelübersetzung deutlich, denn offenkundig kann dieses Projekt auch als ein solches verstanden werden, welches auf unmittelbare Eingängigkeit des Gesagten abhebt und gerade nicht auf das Aufscheinenlassen von tatsächlich fremder Rede. Auf der anderen Seite deutet Buber auch an, dass bei vielen Phänomenen und Erfahrungen du- und eshafte Momente einander durchdringen. Die Gegenwärtigkeit des Ich-Du wäre dann immer schon von vergangenheitsbezogenen Momenten durchkreuzt, was vor dem Hintergrund des buberschen Ansatzes bedeutete: von nicht vollends zu eliminierenden Momenten der ›Aneignung‹ oder – von einer Heidegger-nahen Position aus formuliert – von Tendenzen der dezidierten Näherung, die alles ›Begegnen‹ im Sinne eines gegenseitigen Verstehens überhaupt erst möglich machen. Zuletzt stellt sich die Frage, was es vor dem Hintergrund der eben diskutierten Aspekte bedeutet, dass Subjektivität bei Heidegger nun selbst als Vollzug von Zeit gedeutet wird. Und was lässt sich bei Buber aus der Zeitlichkeit des Ich-Du für die Bestimmung des Seins der Person ableiten? Es gilt also abschließend zu fragen nach der impliziten ›Zeitlichkeit‹ der Zeitkonzeptionen Heideggers und Bubers selbst. Wenn Heidegger die Sorgestruktur in einer ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit fundiert, dann kann dies auf folgende Weise gedeutet werden: Dasein ist seines eigenen Grundes nicht mächtig, weil es allein in der Zeitigung dieser unverfügbaren Zeitlichkeit ›ist‹. Fragt man nun jedoch nach dem Verhältnis von Ich und Welt vor dem Hintergrund dieser Grundlegung der Sorge in der Zeitigung, dann ergibt sich nicht zuletzt durch den horizontalen Charakter der Zeit, dass mit der Zeit384 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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lichkeit des jemeinigen Daseins zugleich die Welt da ist, in der alles andersartig Seiende begegnet. Rentsch spricht daher von einer »Metasubjektivierung als Temporalisierung« 48 . Diese Deutung bestätigte die Interpretation des heideggerschen Denkens in Sein und Zeit als eines Denkens der Heimkehr, wobei die Erschlossenheit in der Zeitlichkeit nun eine noch ursprünglichere Grundlegung erhält. Andererseits bekräftigt die Hervorhebung der Endlichkeit der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins noch einmal die Distanzierung Heideggers von einem selbst als ›zeitlos‹ gedachten Erkenntnissubjekt. So wiederholen sich zwei Motive, die bereits im letzten Abschnitt herausgestellt wurden – was nur konsequent ist, wenn die Zeitlichkeit die Sorgestruktur fundieren soll: eine gewisse Ab-gründigkeit des Daseins und seine Begrenztheit, d. h. Endlichkeit. Betonte man nun, dass diese beiden Charakteristika in jeglicher Erschlossenheit von Seiendem – sowie des eigenen Seins – durch das verstehend-befindlich-redende Dasein gleichsam ›durchscheinen‹ müssten, so deutete dies zumindest auf die Möglichkeit hin, das Gegenwärtigen der ›Dinge‹ oder das des eigenen Selbst anders zu denken denn als Offenbarmachen oder Erschließen stets verfügbarer ›Gegenstände‹ – ›Gegenstand‹ hier gemeint im Sinne des Seienden als eines zugänglichen. 49 Während das Eigenwesen bei Buber – als transzendentales Subjekt – dem Begegnen der Dinge das Raum-Zeit-Koordinatensystem vorgibt, in das es sich selbst – als empirisches Individuum – ebenfalls einordnen kann, konstituiert sich die Zeitlichkeit des Ich-Du in der Begegnung. Wenn die Person nun das Ich in der Beziehung zu Anderen bzw. Anderem sein soll, dann ist die Zeitlichkeit der Person offenkundig konstituiert durch diese Beziehung. Somit liegt es nahe, hier auf eine Behauptung Lévinas’ zurückzugreifen, die lautet: Die Zeit ist nichts anderes als die Beziehung zum Anderen. 50 Auch wenn Buber 48 Thomas Rentsch, »Zeitlichkeit und Alltäglichkeit (§§ 67–71)«, in: ders. 2001, 199– 227, hier: 222. Auch Grisebach weist in seinem Werk Gegenwart darauf hin, dass die Erstrecktheit des Daseins in den drei Zeitekstasen bedeute, dass es nun für das Dasein nichts mehr gäbe, »was es nicht selbst wäre«; vgl. Grisebach 1928, 524. 49 Es sei zudem daran erinnert, dass Heidegger das Offenbarmachen als ein Sehenlassen begreift, so dass auch in Sein und Zeit durchaus eine Sensibilität für Abstufungen im ›Verfügen‹ über Seiendes aufscheint. 50 Das Ziel von Die Zeit und der Andere ist, »zu zeigen, daß die Zeit nicht das Faktum eines isolierten und einsamen Subjektes, sondern das Verhältnis des Subjektes zum anderen ist«; siehe Lévinas 2003, 17. Zu den sich von Heidegger distanzierenden Zeitreflexionen Lévinas’ siehe Wolfgang N. Krewani, »Zum Zeitbegriff in der Philosophie von

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Konzeptionen von Zeit und Zeitlichkeit

nur einen vagen Hinweis in die Richtung einer so begriffenen Zeitlichkeit gibt – deutlich ist, dass die Zeitlichkeit des Gegenübers in der echten Begegnung nach Buber nicht aus einer ursprünglicheren Zeitlichkeit des ›Ich bin‹ abgeleitet bzw. in dieser fundiert sein kann, so wie es Heideggers Analysen nahelegen. So zeigt sich, dass Heideggers Fundierung des Daseinsvollzugs in einer ekstatischen Zeitlichkeit die ›Mittelpunktstellung‹ des Daseins in einer geordneten Welt letztlich nicht in Frage stellt, sondern noch bekräftigt, obgleich sie auf der anderen Seite eine radikale Abwendung von der – nach Heidegger so dominanten – ›Vorhandenheitsontologie‹ darstellt, die er in der traditionellen Fassung des ›Ich‹ am Werke sieht. Umgekehrt verweisen Bubers Andeutungen zur Zeitlichkeit des IchDu-Verhältnisses in die Richtung einer im Zwischen sich konstituierenden Zeitlichkeit, also auf eine Zeit, die nicht nur nicht die Zeit eines ›Dinges‹ oder ›Vorgangs‹ ist, sondern die sich zudem erst in der Begegnung mit einem gleichrangigen Partner ›entfaltet‹. 51

4.

Von der Zeitlichkeit des Daseins zur Temporalität des Seins

4.1 Heideggers Ent-deckung der Temporalität in Die Grundprobleme der Phänomenologie vom SS 1927 In Sein und Zeit kommt Heidegger über eine Analyse der Zeitlichkeit des Daseins nicht hinaus – der geplante dritte Abschnitt des ersten Teils mit dem Titel »Zeit und Sein« fehlt bei der Veröffentlichung sowie der ebenfalls geplante zweite Teil mit Ausführungen zu Kants Schematismuslehre, den ontologischen Fundamenten von Descartes’ cogito und Aristoteles’ Zeitbegriff im Zusammenhang mit der antiken Ontologie. Wie die Auseinandersetzung mit Descartes hätte aussehen können, wird mit einem Blick auf die ausführliche Descartes-Interpretation in Einführung in die phänomenologische Forschung (WS 1923/24) deutEmmanuel Levinas«, in: Phänomenologische Forschungen, Band 13 (1982), 107–127. Einen Vergleich zwischen der Zeitlichkeit des Daseins und Lévinas’ Überlegungen zur Zeit liefert Strasser; vgl. Stephan Strasser, Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Levinas’ Philosophie, Den Haag 1978, 176 ff. 51 Auf eine Zeitlichkeit, die sich im Zwischen begibt, verweist auch Tischner in seiner phänomenologischen Betrachtung des Menschen als eines dramatischen Wesens; vgl. MD 22.

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Von der Zeitlichkeit des Daseins zur Temporalität des Seins

lich. Was Heidegger bezüglich der kantischen Schematismuslehre ausgeführt hätte, lassen die Darstellungen in Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (WS 1927/28) sowie Kant und das Problem der Metaphysik (1929) ahnen. Dass sich die Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Zeitbegriff in der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie (SS 1927) besonders ausführlich gestaltet, wurde bereits erwähnt – diese Vorlesung ist nun auch sehr aufschlussreich im Hinblick auf die in Sein und Zeit nicht mehr vorgenommenen Überlegungen zum Verhältnis von Zeit und Seinsverstehen. Sein und Zeit bricht ab mit folgenden Fragen: »Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?« (SZ 437) Die Vorlesung über die Grundprobleme sucht nun ausdrücklich eine neue »Ausarbeitung des 3. Abschnitts des I. Teiles von ›Sein und Zeit‹« (GA 24, 1; Fn. 1) zu leisten und geht dabei – zumindest ansatzweise – der Zeitlichkeit des Verstehens von Sein nach. Als Grundfrage einer phänomenologischen »Wissenschaft vom Sein«, die mit der Feststellung eines scheinbar selbstverständlichen Seinsverständnisses im faktischen Dasein anhebt, nennt Heidegger zu Beginn der Vorlesung folgende: »Was ist es, was dieses Verstehen von Sein überhaupt möglich macht? Von wo aus, das heißt: aus welchem vorgegebenen Horizont her verstehen wir dergleichen wie Sein?« (GA 24, 21) Auf die in Sein und Zeit geleistete Analytik des Daseins zurückgreifend, behauptet Heidegger anschließend: »Der Horizont, aus dem her dergleichen wie Sein überhaupt verständlich wird, ist die Zeit. Wir interpretieren das Sein aus der Zeit (tempus). […] Die Grundproblematik der Ontologie als der Bestimmung des Sinnes des Seins aus der Zeit ist die der Temporalität.« (GA 24, 22) Mit dem Ausdruck ›Temporalität‹ meint Heidegger in dieser Vorlesung also die Zeitlichkeit des Daseins, insofern sie in ihrer Funktion thematisiert ist, Bedingung der Möglichkeit des – vorontologischen wie ontologischen – Seinsverständnisses zu sein. 52 Die Temporalität ist nach Heidegger dann »die ursprünglichste Zeitigung der Zeitlichkeit als solcher« (GA 24, 429). Allerdings führt er nun allein die temporale Interpretation eines 52 Vgl. GA 24, 388. Auch in der Logik-Vorlesung vom WS 1925/26 spricht Heidegger schon von ›Temporalität‹, meint damit jedoch die Betrachtung von Phänomenen überhaupt auf ihre Zeitlichkeit hin; vgl. GA 21, 199.

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Konzeptionen von Zeit und Zeitlichkeit

spezifischen Seins durch, nämlich die des Seins des Zuhandenen. »Zuhandenheit« und »Abhandenheit« – das ›Fehlen‹ von Zuhandenem – begreift er dabei als »bestimmte Abwandlungen eines Grundphänomens«, welches »formal mit Anwesenheit und Abwesenheit und allgemein als Praesenz« bezeichnet werden könne. 53 ›Praesenz‹ wird nun also als die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von Zuhandenheit vorgestellt. Heidegger zielt offenkundig auf eine ›ursprünglichste‹ Gegenwart ab, die nicht mit dem Jetzt, auch nicht mit dem in Sein und Zeit charakterisierten Augenblick, Gewärtigen oder Gegenwärtigen überhaupt gleichzusetzen ist, weil sie das Verstehen des Zuhandenen als eines spezifischen Seienden ermöglichen soll. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass Heidegger sich hier nicht wesentlich von den Analysen in Sein und Zeit entfernt, weil er erstens immer noch nach einem zeitlichen Vollzug des Daseins und seinem ›Verstehen von …‹ fragt, zweitens geht es auch hier nicht um das Verstehen von Sein überhaupt, sondern Heidegger widmet sich dem Verstehen von Zuhandenem, dessen Erschlossenheit letztlich auch schon in Sein und Zeit (§ 69) auf ihre Zeitlichkeit hin gedeutet wurde. Bemerkenswert ist allerdings – vor allem im Anschluss an die Diskussionen im vorherigen Kapitel –, dass in den Grundproblemen von 1927 allein die Temporalität der Praesenz thematisiert wird. Die starke Stellung des Futurs aus Sein und Zeit findet sich hier nicht wieder, zumindest wird eine solche nicht angedeutet. Entsprechend urteilt Kisiel: »Mit der alleinigen Behandlung der Präsenz gibt Heidegger anscheinend den Spielraum für die Herrschaft einer Metaphysik der ständigen Anwesenheit frei« 54 .

4.2 Das Scheitern einer geplanten »Kehre« und dessen Konsequenzen Offenkundig scheitern die Grundprobleme also bei dem Versuch, das konsequent zu vollziehen, was Heidegger selbst in der bald folgenden Wenn Heidegger die Zeitlichkeit als Temporalität im Blick hat, benutzt er bewusst lateinische Ausdrücke, um eine terminologische Unterscheidung von den bereits thematisierten Ekstasen Zu-kunft, Gewesenheit und Gegenwart zu ermöglichen; vgl. GA 24, 433. In Bezug auf den Zeithorizont des Vermissens von etwas, des Un-gegenwärtigens, spricht er entsprechend auch von Absenz; vgl. GA 24, 442. 54 Theodore Kisiel, »Das Versagen von Sein und Zeit: 1927–1930«, in: Rentsch 2001, 253–279, hier: 262. 53

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Von der Zeitlichkeit des Daseins zur Temporalität des Seins

Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik (SS 1928) sowie im späteren »Brief über den ›Humanismus‹« von 1946 selbst als eine »Kehre« bezeichnet – eine Kehre im Sinne der Umkehrung der Fragerichtung von »Sein und Zeit« zur Thematisierung von »Zeit und Sein« bzw. der Abkehr von der Daseinsanalytik als Hinkehr zur »Analytik der Temporalität des Seins«. 55 Bezeichnenderweise spielt die Zeit – zumindest so, wie sie in Sein und Zeit präsentiert wird – ab ca. 1930 in Heideggers Vorlesungen und Texten keine herausragende Rolle mehr. 56 Da Zeit und Dasein bei Heidegger von den ersten Überlegungen zu einer anderen Zeit als der objektiven Weltzeit zu Beginn der 20er Jahre an so eng miteinander verbunden sind, führt von dieser Konzeption der Zeitlichkeit augenscheinlich kein Weg zu einer Zeit des Seins selbst – die von Heidegger anvisierte ›Kehre‹ erweist sich als nicht durchführbar. Eine solche Zeitlichkeit des Seins überhaupt zu entdecken hieße schließlich auch, die philosophische ›Annäherung‹ an das Sein selbst anders zu denken, als Heidegger dies um 1927 tut. Wenn Heidegger hier die Frage nach dem Sein – wie Abschnitt I zeigte – als »metaphysische Erinnerung« begreift, dann rekurriert er auf die spezifische, nicht ›vulgär‹ begriffene ›Vergangenheit‹ des apriorischen Früher. 57 Das Sein ist nicht ›etwas‹, das irgendwann einmal gewesen und nun vorbei ist, sondern vielmehr ›etwas‹ latent stets Gegenwärtiges, vom fragenden Dasein wieder-holbares. In einer Fußnote in Sein und Zeit

55 Vgl. GA 26, 201 sowie Martin Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: GA 9, 313–364, hier: 327 f. 56 Was nicht heißt, dass Zeit und Zeitlichkeit überhaupt nicht mehr thematisiert werden; siehe etwa Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, hrsg. von Hermann Mörchen, Frankfurt a. M. 1988 (GA 34), 226 f. sowie EM 157. Eine besondere Ausnahme stellt die Logik-Vorlesung vom SS 1934 dar, auf die im folgenden Teil II dieser Untersuchung näher eingegangen wird. Hier spielt die Zeitlichkeit noch einmal eine wichtige Rolle. Ab ca. 1936 rückt dann – dies bezeugen die Beiträge zur Philosophie – der »Zeit-Raum« bzw. »Zeit-Spiel-Raum« als »Augenblicksstätte für die Gründung der Wahrheit des Seyns« in den Blick; vgl. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1989 (GA 65), 323; siehe auch GA 65, 87, 174, 188, 192, 227 und 260 f. 57 Heidegger bezieht seine Zeitlichkeitsanalyse selbst auf die Möglichkeit von Aprioriforschung: »Früher als jedes mögliche Früher irgendwelcher Art ist die Zeit, weil sie die Grundbedingung für ein Früher überhaupt ist.« (GA 24, 463) Dies solle jedoch nicht heißen, Zeit sei das erste Seiende und zudem selbst ewig.

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Konzeptionen von Zeit und Zeitlichkeit

bemerkt Heidegger im Anschluss an eine Herausstellung der traditionellen Fassung des Erkennens als eines Gegenwärtigens: »Ob jede Wissenschaft und ob gar philosophische Erkenntnis auf ein Gegenwärtigen zielt, bleibe hier noch unentschieden.« (SZ 363; Fn. 1) Der erste Abschnitt dieses Vergleichs stellte jedoch bereits eine grundlegende Spannung bei Heideggers Charakterisierung der Seinsfrage um 1927 sowie in seinen ersten Hinweisen auf das Sein selbst heraus. Diese Spannung drückt sich u. a. in der erwähnten Unentschiedenheit darüber aus, ob das Sein überhaupt bei Heidegger als Phänomen begriffen ist – in dem Sinne, in dem das Phänomen in § 7 von Sein und Zeit charakterisiert wird. 58 Die Unsicherheit bezüglich des Zeitcharakters der philosophischen Erkenntnis weist nun in dieselbe Richtung, denn Phänomen und Präsenz bzw. Gegenwärtigen gehören offenkundig insofern zusammen, als das Entdecken der Phänomene durchaus eine Gegenwärtigung – ein Offenbarmachen des Sich-vonihm-selbst-her-Zeigenden – bedeutet. Nun wurde in dieser Arbeit schon an einigen Stellen auf zentrale Texte aus den Jahren nach Sein und Zeit verwiesen und dabei auch angedeutet, welche Akzentverschiebungen und Veränderungen in der heideggerschen Konzeption sich hier ablesen lassen. So erwähnte der erste Abschnitt zum Philosophiebegriff bereits die ausdrückliche Hervorhebung einer fundamentalen Ab-gründigkeit des Daseins in »Vom Wesen des Grundes« von 1929. Der Abschnitt zum Wahrheitsverständnis Bubers und Heideggers verwies auf Heideggers Interpretation der Freiheit in »Vom Wesen der Wahrheit« (1930) 59 , wo diese als »Eingelassenheit in die Entbergung des Seienden als eines solchen« (GA 9, 189) begriffen wird. Da-sein meint nun ein »Sicheinlassen« auf das »Offene und dessen Offenheit, in die jegliches Seiende hereinsteht« (GA 9, 189).

So behauptet Cosmus vor dem Hintergrund einer Diskussion um das Scheitern von Sein und Zeit, dass das Sein selbst gerade nicht als Phänomen im Sinne des im Methodenparagraphen vorgestellten Begriffs verstanden werden dürfe; siehe Cosmus 2001, 56. 59 Bei der Nennung der Jahreszahl 1930 muss jedoch angemerkt werden, dass die Veröffentlichung des Vortrags erst 1943 erfolgte. Zu Differenzen zwischen dem Text in späteren Veröffentlichungen und der ursprünglichen Vortragsfassung siehe Ekkehard Fräntzki, Die Kehre: Heideggers Schrift »Vom Wesen der Wahrheit«. Urfassung und Druckfassungen, Pfaffenweiler 1985. 58

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Von der Zeitlichkeit des Daseins zur Temporalität des Seins

So deutet sich schon hier die Entdeckung einer Offenheit des Seins selbst an, in der das Dasein als solches steht und aus der heraus Seiendes das Dasein ›angeht‹. Offensichtlich vollzieht Heidegger nun also eine konsequentere Ablösung von einem Denken der Präsenz, d. h. eine deutlichere Distanzierung von der Verortung des andersartig Seienden in einer vom jemeinigen Dasein ›entworfenen‹ Welt, deren Fundament in der Selbsterschlossenheit des Daseins liegt. Wenn das nicht-daseinsmäßig Seiende nun nach Sein und Zeit offensichtlich nicht mehr als dem Dasein verfügbar präsentiert wird und das Verstehen von Sein und Seiendem dezidiert nicht mehr als ›Leistung‹ des Daseins verstanden werden darf, dann stellt sich jedoch die Frage, ob Heideggers späteres Denken nicht in einer größeren Nähe zu Bubers dialogischem Ansatz steht als die Konzeption der Existenzialontologie. Dieser noch unbestimmten Ahnung einer Annäherung zwischen Heideggers und Bubers Denken soll nun im zweiten Teil der Untersuchung im Rahmen einer Interpretation der heideggerschen Konzeption(en) in den Jahrzehnten nach der Phase der Fundamentalontologie nachgegangen werden. Wenn vorhin bemerkt wurde, dass Heideggers geplante »Kehre« – die von der Daseinsanalyse ausgehende Wendung zum Sein selbst – gescheitert ist, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, wie man die Entwicklung des heideggerschen Denkens nach Sein und Zeit überhaupt beschreiben soll. Sind es Akzentverschiebungen, die er vornimmt, oder ist es ein grundlegender Wandel, der sich hier vollzieht? Handelt es sich um eine zweite, ursprünglich so nicht angelegte, dann aber notwendig gewordene ›Kehre‹ ? Es lassen sich also an dieser Stelle schon zwei Fragen an Heideggers späteres Denken formulieren – die nach einer größeren Nähe zu einem dialogischen Ansatz im Sinne Bubers und die nach dem Verhältnis des späteren Seinsdenkens zur Existenzialanalyse von Sein und Zeit. Es ist nun aber offensichtlich, dass beide Fragestellungen im Kern miteinander verbunden sind, weil die konkrete Beantwortung beider davon abhängt, als wie tief man den Abstand zwischen der Fundamentalontologie und dem späteren Seinsdenken beurteilt, d. h. für wie radikal man die ›Veränderungen‹ in Heideggers Denken hält. Um dessen Vollzug in den Jahrzehnten nach den 20er Jahren überhaupt in einem relativ begrenzten Rahmen thematisieren zu können, muss zwangsläufig ein bestimmtes Phänomen in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Wahl fällt aus zwei Gründen auf die Sprache: Erstens wendet sich Heidegger bekanntlich recht bald nach Sein und Zeit verstärkt einer aus391 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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Konzeptionen von Zeit und Zeitlichkeit

drücklichen Thematisierung der Sprache zu, bis sie schließlich eine ganz herausragende Stellung in seinem Denken erhält. Zweitens lädt die zentrale Bedeutung der Sprache im dialogischen Denken zu einer eingehenderen Betrachtung des späteren heideggerschen ›Sprachdenkens‹ ein.

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Teil II: Heideggers Denken zur Sprache nach Sein und Zeit

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Abschnitt I: Die radikale Distanzierung von traditionellen Sprachauffassungen und erste Hinweise zum ›Wesen‹ der Sprache

1.

Die Hinwendung zur Sprache und die verschärfte Abkehr vom ›Subjekt‹

Wie gesehen ist Heidegger bezüglich des Status von Sprache in Sein und Zeit selbst noch unentschlossen: Die Philosophie müsse sich »einmal entschließen zu fragen, welche Seinsart der Sprache überhaupt zukommt. Ist sie ein innerweltlich zuhandenes Zeug, oder hat sie die Seinsart des Daseins oder keines von beiden?« (SZ 166) Bemerkenswert ist nun, dass eine der bekanntesten Erklärungen Heideggers für das Scheitern von Sein und Zeit unmittelbar auf das Thema Sprache rekurriert: Im »Humanismus-Brief« behauptet er, die Daseinsanalyse in Sein und Zeit habe sich zwar schon deutlich von einem traditionellen Subjektdenken verabschiedet, doch der »zureichende Nach- und Mitvollzug dieses anderen, die Subjektivität verlassenden Denkens« (GA 9, 327) sei durch den Umstand erschwert, dass der dritte Abschnitt des ersten Teils – »Zeit und Sein« – bei der Veröffentlichung des Werkes zurückgehalten wurde. Dieser Abschnitt sei nun wiederum nicht veröffentlicht worden, »weil das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte und so mit Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam« (GA 9, 328). Das Scheitern von Sein und Zeit erweist sich in Heideggers Rückblick also nicht zuletzt als das ›Versagen‹ der ausgewählten Terminologie – oder besser: als Sichversagen einer tatsächlich angemessenen Sprache. Eine endgültige Überwindung der Sprache der Metaphysik – dies sieht Heidegger bald nach Sein und Zeit ganz deutlich – geht aber aufs Engste einher mit einer deutlichen Distanzierung gegenüber jeglichen traditionellen Auffassungen von Sprache selbst. Im SS 1931 artikuliert Heidegger die Notwendigkeit, dem Wesen der Sprache tatsächlich ›vorurteilsfrei‹ nachzugehen, folgendermaßen: Auf der einen Seite könne man »die innere Verwahrlosung der Sprache und die Mißachtung ihrer 395 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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Die radikale Distanzierung von traditionellen Sprachauffassungen

Würde« beobachten, auf der anderen Seite habe die bloße »Vergötzung eines abgelösten Klanggebildes« Konjunktur, und dann gäbe es auch noch eine »Sprachwissenschaft, die in einem ständigen Leerlauf ihre zahllosen Entdeckungen macht, ohne im ganzen den Weg zur Sprache zurückzufinden« (GA 33, 148). Indem Sprache nun von Heidegger sehr bald nach 1927 dezidiert nicht mehr als Werkzeug begriffen wird, avanciert sie innerhalb seiner Konzeption zum hervorragenden Ereignis der Offenheit des Menschen für das Seiende, wird schließlich gar zum »Haus des Seins« (GA 9, 313) selbst erklärt. Der fundamentale Bezug zwischen der Frage nach dem Sein, dem Projekt einer Neubestimmung menschlicher ›Subjektivität‹ und der Frage nach dem Wesen der Sprache – welcher sich in Sein und Zeit schon meldete – wird somit nun von Heidegger selbst ausdrücklich bedacht. Unterwegs zur Sprache – dieses Motto ließe sich über Heideggers Denken nach Sein und Zeit insgesamt stellen. Im Folgenden sollen die zentralen Etappen auf diesem ›Weg zur Sprache‹ vorgestellt und interpretiert werden. Bei der Thematisierung der ersten Andeutungen zum ›echten‹ Wesen der Sprache zwischen 1929 und 1934, der Diskussion von Heideggers philosophischer Konzeption zur Zeit des Rektorats, der Darstellung seiner Hinwendung zur Kunst und kritischen Auseinandersetzung mit Technik und Metaphysik sowie seiner Bestimmung von Sprache in den 50er Jahren wird zwar versucht, all jene Themen zu berücksichtigen, bei denen sich direkte Anknüpfungspunkte bezüglich der in Teil I durchgeführten Analysen ergeben – dies kann aber nicht in vollem Umfang geschehen. Jedoch soll die hier getroffene Auswahl möglichst alle zentralen Veränderungen und Akzentverschiebungen in Heideggers Konzeption diskutieren, welche für die Beantwortung der Frage nach dem ›Wandel‹ in seinem Denken selbst sowie der nach dem Verhältnis zwischen dialogischem und seinsgeschichtlichem Denken besonders aufschlussreich sind.

2.

Das Phänomen ›Sprache‹ in den Vorlesungen von 1929/30–1933/34 – Korrekturen an der Sprachkonzeption von Sein und Zeit

In der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik (WS 1929/30) halten sich Heideggers Interpretationen des lgo@ über weite Strecken noch an die Ausführungen in Sein und Zeit – so bringt etwa die Aus396 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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Das Phänomen ›Sprache‹ in den Vorlesungen von 1929/30–1933/34

einandersetzung mit Aristoteles’ Konzeption in dieser Vorlesung keine neuen Aspekte zur Sprache. Bemerkenswert ist jedoch, dass die um 1927 noch so zentrale – und wie sich zeigte: höchst problematische – Unterscheidung zwischen Rede und Sprache nun keine Rolle mehr zu spielen scheint. Zudem liefert Heidegger bei der Klärung des Begriffs ›Metaphysik‹ in den diese Vorlesung einleitenden Paragraphen eine Übersetzung von ›yÐsi@‹ 1 und ›lgo@‹, welche gegenüber der Deutung des lgo@ (Rede) als Artikulation des entwerfenden Verstehens in Sein und Zeit einen deutlich anderen Akzent setzt: Heidegger begreift die yÐsi@ – traditionell mit ›Natur‹ übersetzt – in einem weiten Sinne als das »sich selbst bildende Walten des Seienden im Ganzen« (GA 29/30, 38 f.). Die yÐsi@ meine »dieses ganze Walten, von dem der Mensch selbst durchwaltet und dessen er nicht mächtig ist, das aber gerade ihn durch- und umwaltet« (GA 29/30, 39), und über das sich der Mensch zudem »immer schon ausgesprochen hat« (GA 29/30, 39). Entsprechend heißt als Mensch zu existieren nun nach Heidegger: »das Waltende zum Ausspruch bringen« (GA 29/30, 40). Der lgo@ wird also hier bestimmt als das »Entnehmen des Waltens des Seienden im Ganzen aus der Verborgenheit« (GA 29/30, 41). Es zeigt sich: Die Sprache macht nach wie vor laut Heidegger ›etwas‹ offenbar, doch soll dies ein ›Walten‹ sein, dessen der Mensch im Grunde nicht mächtig ist. In der einige Jahre später gehaltenen Vorlesung Vom Wesen der Wahrheit (WS 1933/34) distanziert sich Heidegger schließlich ausdrücklich von »der herrschenden Vorstellung von […] der Sprache überhaupt« 2 : Sprache sei hier erstens verstanden als »das lautgewordene, veröffentlichte und daher zunächst und zumeist faßliche Denken« (GA 36/37, 103); zweitens werde sie als etwas Vorhandenes begriffen, das in einzelne Elemente zerlegt werden kann. 3 Heidegger dazu: Schon in der Vorlesung vom SS 1929 präsentiert Heidegger eine eigenständige Deutung der griechischen ›yÐsi@‹ ; vgl. Martin Heidegger, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, hrsg. von Claudius Strube, Frankfurt a. M. 1997 (GA 28), 23 f. 2 Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, in: ders., Sein und Wahrheit, hrsg. von Hartmut Tietjen, Frankfurt a. M. 2001 (GA 36/37), 81–264, hier: 102. 3 Da die Sprache in Sein und Zeit tendenziell als ›Veröffentlichung‹ der Rede gedeutet wurde, geht Heidegger mit dieser Bemerkung deutlicher gegen den traditionellen Sprachbegriff an als einige Jahre zuvor. Außerdem wird die Beschreibung der Sprache als etwas in ›Wörterdinge‹ Zerlegbares nun sehr viel eindeutiger als noch in Sein und Zeit als eine Vorstellung präsentiert, die das eigentliche ›Wesen‹ von Sprache vollkommen verfehlt. 1

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»Man sieht leicht, daß das eine ungeheure Vergewaltigung der Leistung der Sprache ist; man vergleiche ein Gedicht oder ein lebendiges Gespräch von Mensch zu Mensch; Stimmart, Tonführung, Satzmelodie, Rhythmik und so fort. Zwar hat man später und in der Gegenwart versucht, […] den Vorrang der logisch-grammatischen Fassung der Sprache zurückzudämmen – doch ist die alte grammatisch-logische Vorstellung geblieben –; und sie wird bleiben, solange 1. die Art des Denkens und Vorstellens bleibt, wie sie mit der Logik der Griechen in das abendländische Denken eingegangen ist, 2. solange nicht endlich die Frage nach dem Wesen der Sprache von Grund aus entwickelt wird.« (GA 36/37, 104)

Die Hinweise, welche Heidegger in dieser Vorlesung nun selbst zum ›wahren Wesen‹ der Sprache gibt, sind deshalb sehr aufschlussreich, weil sie einerseits an die Ausführungen in Sein und Zeit anschließen – die Kritik an einer Beherrschung des Denkens über Sprache durch die traditionelle Grammatik und Logik ist ja nicht neu –, andererseits setzt sich Heidegger nun explizit von wesentlichen Aspekten seiner Thematisierung von Rede und Sprache in Sein und Zeit ab. Seine eigene Annäherung an das Wesen der Sprache leitet er im WS 1933/34 mit einer noch einmal ausdrücklich formulierten Absage an die Auffassung von Sprache als Instrument zur Bezeichnung bzw. Kundgabe sowie ihre Deutung als Abbild des Seienden ein und legt nahe, das Seiende im Ganzen sei »als Seiendes nur mächtig und entfaltet in und durch die Sprache« (GA 36/37, 106). Dieser Hervorhebung einer ›welteröffnenden‹ Kraft der Sprache folgt nun jedoch recht unvermittelt die These, der »Ursprung und Grund der Sprache« (GA 36/ 37, 107) sei das Schweigen. Mit eben dieser Behauptung will Heidegger sich ausdrücklich von den Überlegungen zum Schweigen als einer Weise des Redenkönnens um 1927 entfernen. In Sein und Zeit habe er zwar Sprache und Schweigen in einen »wesentlichen Zusammenhang« gebracht und »auch der Ansatz für eine hinreichend ursprüngliche Fassung des Wesens der Sprache gegenüber der bislang herrschenden ›Sprachphilosophie‹« (GA 36/37, 110) sei gefunden worden – er habe aber das Eigentliche noch nicht gesehen: dass Rede und Sprache als aus dem Schweigen entspringende Phänomene betrachtet werden müssten. Auf den ersten Blick nimmt sich diese Deutung des Schweigens als Ursprung der Sprache wie eine gegenüber Sein und Zeit noch gesteigerte Identifizierung der Sprache mit einer Art nachträglichen ›Veröffentlichung‹ des im Schweigen Erschlossenen aus. Jedoch bestimmt Heidegger das Schweigen nun in einer Weise, die einen anderen Ak398 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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Das Phänomen ›Sprache‹ in den Vorlesungen von 1929/30–1933/34

zent setzt als die Beschreibung der schweigenden vorlaufenden Entschlossenheit als einer Selbsterschlossenheit: Im Schweigen, so Heidegger jetzt, liege zwar eindeutig ein gewisses »Beisichbehalten«, dieses meine aber gerade eine spezifische Öffnung, nämlich die »Offenheit für das Seiende, die in sich gesammelte ist« (GA 36/37, 110). 4 Genauer: Schweigen sei »Sammlung und zwar des ganzen Verhaltens, so daß dieses an sich hält und dadurch in sich gestrafft und so erst recht auf das Seiende, dazu es sich verhält, ausgerichtet und ihm voll ausgesetzt bleibt. Schweigen: die gesammelte Aufgeschlossenheit für den übermächtigen Andrang des Seienden im Ganzen.« (GA 36/37, 111)

Deutlich bringt Heidegger das Schweigen hier also mit einer Ausgesetztheit des Menschen in Verbindung, mit einem Ausgesetztsein in das ihn ›angehende‹ Seiende. Wie in Sein und Zeit unterscheidet er jedoch das »wahrhaftige Wort« vom »Gerede« als dem »Unwesen der Sprache« (GA 36/37, 111): Ersteres breche zwar das Schweigen, es sei aber »Zeuge jener Verschwiegenheit« – es sei »die bändigende Gestaltung […] jener gesammelten Aufgeschlossenheit« (GA 36/37, 111). Weil das wahrhaftige Wort das Schweigen laut Heidegger nicht einfach aufhebt, sondern ›mitnimmt‹, darf es auch nicht als nachträgliche ›Wortwerdung‹ einer ursprünglicheren – im Schweigen artikulierten und noch sprachlosen – Bedeutung verstanden werden. Heidegger spricht sich hier klar gegen eine »nachträgliche Scheidung von Wortlaut, Bedeutung und Sache« (GA 36/37, 113) aus. 5 Das heißt: Es gibt das Seiende nach Heidegger nun explizit nur »im Wort« (GA 36/37, 114). Zwar findet in der konkreten ›Gestaltung‹ der Aufgeschlossenheit des Menschen für das Seiende in den vielen Worten nach Heidegger eine gewisse ›Zerstreuung‹ statt – er betont aber, dass diese nicht zwangsläufig eine ›Zersplitterung‹ der ursprünglichen Sammlung meine, was bedeutete: eine radikale Entfernung vom Ursprung. Vielmehr ›Lgo@‹ konsequent als ›Sammlung‹ bzw. ›lffgein‹ als ›sammeln‹ zu übersetzen ist ein Grundzug des heideggerschen Sprachdenkens nach Sein und Zeit, der sich an dieser Stelle schon zeigt; vgl. auch GA 33, 5 und 122 sowie Heideggers ausführlichere Interpretation des lgo@ bei Heraklit in Einführung in die Metaphysik (konkret: EM 97 f.). 5 Auch diese Entscheidung für die Überwindung der Trennung zwischen Bedeutung und konkretem Wort stellt eine deutliche Distanznahme zur Thematisierung von Rede und Sprache in Sein und Zeit dar. 4

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sei die Sprache aufgrund ihrer Herkunft aus dem Schweigen ebenfalls Sammlung, wenn auch eine abgeleitete. Es zeigt sich ganz deutlich, wie das alte Schema ›echte Rede vs. Gerede‹ hier weiterlebt, Heidegger nun aber eindeutig das Verwahrtwerden der Sammlung in der menschlichen Wortsprache hervorhebt. So beschreibt er die Sprache an einer Stelle auch als »Verlagerung« (GA 36/37, 114) der ursprünglichen Sammlung, d. h. gerade nicht als ›Abfall‹ von einer reineren Offenbarkeit des Seienden im Schweigen.

3.

Die Logik-Vorlesung vom SS 1934: Logik als Wissen von der Sprache

Ein Semester später, also im Sommer 1934, hält Heidegger die Vorlesung Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache. 6 Als Ziel seiner Ausführungen gibt er eine »Erschütterung« der Logik im herkömmlichen Sinne an – ein ›Unternehmen‹, mit dem er schon seit vielen Jahren beschäftigt sei. 7 Die Logik bestimmt er anschließend als »Wissenschaft vom lgo@, von der Rede, strenggenommen von der Sprache« (GA 38, 13). 8 Welche Auffassung vom Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen im Hintergrund dieser Bestimmung steht, macht Heidegger selbst deutlich: »Wenn das Denken eine Art von Sprache wäre, dann, könnten wir übertriebenerweise sagen, ist die Logik ein Wissen um die Sprache.« (GA 38, 13) Er gesteht ein, dass dies zunächst »befremdlich« klinge, behauptet jedoch nachdrücklich: »Wir kommen um die Frage nach der Sprache […] nicht herum.« (GA 38, 13) Dem möglichen Einwand, die Sprache werde doch traditionell in der Sprachphilosophie behandelt, setzt er die – noch unbegründete – These entgegen, dass allein »aus einem zureichenden Verständnis der In dem in Unterwegs zur Sprache veröffentlichten Beitrag »Aus einem Gespräch von der Sprache zwischen einem Japaner und einem Fragenden« bemerkt Heidegger, er habe in dieser Vorlesung zum ersten Mal tatsächlich »gewagt, die Frage nach der Sprache zu erörtern«; vgl. US 93. 7 Vgl. Martin Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, auf der Grundlage der Vorlesungsnachschrift von Wilhelm Hallwachs hrsg. von Günter Seubold, Frankfurt a. M. 1998 (GA 38), 11. 8 Diese Deutung der Logik als Wissenschaft von der Sprache kann durchaus als gewichtige Korrektur an der Differenzierung von Rede und Sprache in Sein und Zeit gelesen werden. 6

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Die Logik-Vorlesung vom SS 1934: Logik als Wissen von der Sprache

Sprache« (GA 38, 15) die Philosophie entspringe. Möglicherweise, so Heidegger, ist die Sprache nämlich viel mehr als »das Nachträgliche, das Zweitrangige, Hülse und Schale der Dinge« (GA 38, 16). Es folgen nach diesen ersten Hinweisen zum wahren Wesen der Sprache eingehendere Überlegungen zum ›Ort‹, an dem die Sprache am ursprünglichsten anzutreffen sei. Heidegger diskutiert das ›Wesen‹ der Sprache als im Wörterbuch niedergelegter Bestand sowie ihr Sichereignen im lebendigen Gespräch. Diese Überlegungen zeigen aber: Die Frage nach dem Wesen der Sprache führt unweigerlich zur Frage nach dem Wesen des Menschen, denn »sie ist nur, sofern der Mensch ist« (GA 38, 167). Entsprechend wendet sich Heidegger nach diesen Vorfragen zum Wesen der Sprache ausführlich dem Sein des Menschen zu und greift die Sprache erst ganz am Ende der Vorlesung wieder als eigenes Thema auf. Bestimmt wird ihre ›Leistung‹ dabei als Geschehenlassen der »Ausgesetztheit in das Seiende« sowie der »Überantwortung an das Sein« (GA 38, 168). Diese Bestimmungen sollen anzeigen: »Kraft der Sprache und nur kraft ihrer waltet die Welt – ist Seiendes.« (GA 38, 168) Sprache als Offenheit für das ›Walten‹ des Seienden im Ganzen – diese Charakterisierung lässt sich, wie gesehen, schon in der Vorlesung vom WS 1929/30 finden. Die Weite des ›Waltens‹ hebt Heidegger nun jedoch in einer Weise hervor, welche die herausragende Bedeutung der Sprache noch eindringlicher bekräftigt als die vorherigen Vorlesungen: »Die Lieblichkeit des Tales und das Drohen des Gebirges und des tobenden Meeres, die Erhabenheit der Gestirne, die Versunkenheit der Pflanze und die Befangenheit des Tieres, das berechnete Rasen der Maschinen und die Härte des geschichtlichen Handelns, der gebändigte Rausch des geschaffenen Werkes und die kalte Kühnheit des wissenden Fragens, die gefestigte Nüchternheit der Arbeit und die Verschwiegenheit des Herzens – all das ist Sprache, gewinnt und verliert das Sein nur im Geschehnis der Sprache.« (GA 38, 169)

Allerdings lässt diese emphatische Beschreibung des Wesens der Sprache offen, mit welchem Recht all das genannte Seiende, welches so verschiedene Sphären wie menschliches Handeln auf der einen und naturhafte Prozesse auf der anderen Seite einschließt, in seinem ›Walten‹ als ›Sprache‹ beschrieben werden darf. 9 Heideggers Distanzierung von traditionellen Sprachauffassungen wird in dieser Vorlesung klar Der – an dieser Stelle der Vorlesung jedoch nicht ausdrücklich angeführte – Hintergrund ist offensichtlich Heideggers weiter Begriff von yÐsi@ als des Seienden im Gan-

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herausgestellt – seine eigenen Ausführungen zum Wesen der Sprache hingegen lassen vieles offen und brechen schließlich, wie die Vorlesung insgesamt, gerade dort ab, wo näher nachzufragen wäre. Schließlich bringt Heidegger zum Ende dieser Vorlesung noch ein offenkundig zentrales Charakteristikum der Sprache vor, welches in der bisherigen Interpretation zum Sprachdenken kurz nach Sein und Zeit noch nicht in den Blick rückte: So bestimmt Heidegger die Sprache hier als »das Walten der weltbildenden und bewahrenden Mitte des geschichtlichen Daseins des Volkes« (GA 38, 169; Hervorhebungen M. S.). Schon in Die Grundfrage der Philosophie zwei Semester zuvor bezeichnete Heidegger die Sprache als die eigentliche »Bewahrerin und Mehrerin der Welt […], in die hinein jeweils ein Volk existiert« 10 . Dass das echte Wesen der Sprache überhaupt ans Licht kommen kann, begründet Heidegger zudem in den einleitenden Passagen der Logik-Vorlesung mit der »Notwendigkeit unseres Geschickes« (GA 38, 11), welche die ›Erschütterung‹ der Logik als etwas letztlich gar nicht Planbares aufweisen soll. Wesentliches Fragen, d. h. echtes, ursprüngliches Philosophieren, sei nämlich stets »getragen von jenem dunklen Geheiß, aus dem ein Fragen entspringt, dessen der einzelne, der die Frage erstmalig stellt, nicht mächtig ist, für das der einzelne nur zum Durchgang wird für die Geschichte eines Volkes« (GA 38, 18). 11 Bereits die in diesem Abschnitt ebenfalls einbezogene Vorlesung Vom Wesen der Wahrheit ›verkündete‹ ihrerseits: »Das Wesen der Dinge ist nur zu erwirken in der Art und dem Ausmaß, in dem wir selbst als Volk und jeder Einzelne im Volk im Dasein wesentlich werden – wesentlich, d. h. ins Gesetz und Gefüge des Seienden gebunden.« (GA 36/37, 87) Es wurde schon angemerkt, dass den größten Raum der LogikVorlesung letztlich die Bestimmung des Wesens des Menschen einnimmt – es zeigt sich nun, dass gegenüber der Auslegung des Daseins in Sein und Zeit etwas Entscheidendes geschehen ist: Das Dasein ›west‹ nun nach Heidegger offenkundig als ›Volk‹, d. h. das jemeinige Dasein hat sich zum »volklichen Dasein«, ja zum »deutschen Dasein« gewandelt. 12 Mit dieser Hinwendung zum Volk – das zeigt ein Blick auf die zen (welcher die Unterscheidung Natur vs. Geschichte hinfällig macht; vgl. GA 28, 23 f.) und seine Deutung des lgo@ als ›Sammlung‹ des Seienden im Ganzen. 10 Martin Heidegger, Die Grundfrage der Philosophie, in: GA 36/37, 1–80, hier: 58. 11 Heidegger betont jedoch auch, dass einem niemand die echte Annäherung an das Wesen – hier: das Wesen der Sprache – abnehmen könne; vgl. GA 38, 19. 12 Siehe etwa GA 36/37, 6 und 89. Das Volk spielte allerdings bereits in Sein und Zeit

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entsprechenden Vorlesungen – drängen jedoch noch weitere Phänomene und Begriffe in den Mittelpunkt, die in Heideggers Schriften der 20er Jahre gar keine oder keine ausgezeichnete Rolle gespielt haben: Für die Bestimmung des Wesens des Menschen sind nun zentral das »Geschick«, die »Arbeit«, der »Kampf«, die »Bestimmung«, der »Auftrag«, die »Sendung« sowie »Führung«. Welche Bedeutung muss diesen Begriffen zugestanden werden? Das heißt: Welchen Stellenwert haben sie beim Fortgang des heideggerschen Denkens nach Sein und Zeit insgesamt und welche Rolle spielt ihre Thematisierung insbesondere bei den Überlegungen zur Sprache ab 1929/30? Bevor diesen Fragen im Folgenden nachgegangen wird, sei vorab angemerkt: Das Thema ›Heidegger und der Nationalsozialismus‹ kann hier nicht in aller Ausführlichkeit diskutiert werden. 13 Es wird weder eine Rolle, und zwar im Rahmen der näheren Bestimmung der Geschichtlichkeit des Daseins. 13 Um dies zu leisten, müsste zuerst eine Bestimmung des spezifisch ›Nationalsozialistischen‹ selbst erfolgen, wobei die NS-Ideologie von zahlreichen inneren Spannungen getragen war. Außerdem müssten neben den Vorlesungen um 1933/34 zahlreiche andere Texte Heideggers aus dieser Zeit interpretiert und seine Aussagen über die Rektoratszeit kritisch überprüft werden. Etliche Texte aus dieser Phase sind veröffentlicht im Band 16 der Gesamtausgabe (Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910–1976, hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt a. M. 2000). Aufschlussreich sind zudem die Briefwechsel mit Karl Jaspers, Hannah Arendt und Elisabeth Blochmann. Zuletzt müsste eine eingehende Durchsicht der Forschungsdebatte erfolgen. Um zumindest einen Überblick zur Literatur zu diesem Thema zu bieten, seien die zentralen Beiträge der letzten Jahrzehnte genannt: Zu den frühesten kritischen Forschungen gehören Guido Schneeberger, Nachlese zu Heidegger. Dokumente zu seinem Leben und Denken, Bern 1962 sowie Alexander Schwan, Politische Philosophie im Denken Heideggers, Köln/Opladen 1965; zu den historischen Fakten bezüglich des Rektorats und deren Bewertung siehe Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt a. M./New York 1988 und Martin Heidegger und das ›Dritte Reich‹. Ein Kompendium, hrsg. von Bernd Martin, Darmstadt 1989. Auf Seiten der französischen Philosophie seien hervorgehoben Jean-François Lyotard, Heidegger und »die Juden«, aus dem Franz. übers. von Clemens-Carl Härle, Wien 1988 und Philippe Lacoue-Labarthe, Die Fiktion des Politischen. Heidegger, die Kunst und die Politik, aus dem Franz. übers. von Thomas Schestag, Stuttgart 1990. Eine Dokumentation der sich an Victor Farías’ Heidegger und der Nationalsozialismus (Frankfurt a. M. 1989, aus dem Span. und Franz. übers. von Klaus Laermann; auf Französisch unter dem Titel Heidegger et le nazisme 1987 erschienen) entzündeten Debatte liefert Die Heidegger-Kontroverse, hrsg. von Jürg Altwegg, Frankfurt a. M. 1988. Auf Emmanuel Fayes nicht weniger umstrittenes Buch Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie (Berlin 2009, aus dem Franz. übers. von Tim Trzaskalik; auf Französisch unter dem Titel Heidegger. L’introduction du nazisme dans la philosophie 2005 erschienen) folgt

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Die radikale Distanzierung von traditionellen Sprachauffassungen

ein tatsächlich abschließendes Urteil über das Verhältnis des heideggerschen Denkens um 1933/34 zur nationalsozialistischen Ideologie gefällt noch eine endgültige Bewertung der konkreten Ausgestaltung von Heideggers Engagement als Rektor der Freiburger Universität unternommen. Allerdings werden die folgenden Ausführungen explizit Stellung zu einigen zentralen Aspekten von Heideggers Denken zur Zeit des Rektorats beziehen, so dass die wesentlichen Streitpunkte in der Debatte um Heideggers NS-Engagement zur Sprache kommen.

mit Politische Unschuld? In Sachen Martin Heidegger, hrsg. von Bernhard H. F. Taureck, München 2008 ein Band, der noch einmal Faye selbst sowie Befürworter und Kritiker seiner Thesen zu Wort kommen lässt. Zahlreiche, neu (wieder-)veröffentlichte Dokumente (u. a. Dienstschreiben aus der Rektoratszeit, Seminar-Mitschriften, Briefe) macht das Heidegger-Jahrbuch 4 zugänglich (Heidegger und der Nationalsozialismus I. Dokumente, hrsg. von Alfred Denker und Holger Zaborowski, Freiburg/München 2009; im Folgenden zit. als Denker/Zaborowski 2009 a). Im zweiten Band (Heidegger und der Nationalsozialismus II. Interpretationen. Heidegger-Jahrbuch 5, hrsg. von Alfred Denker und Holger Zaborowski, Freiburg/München 2009; im Folgenden zit. als Denker/ Zaborowski 2009 b) werden zentrale Fragestellungen bezüglich Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus vor dem Hintergrund dieser Dokumente und in Auseinandersetzung mit bereits vorgebrachten Interpretationen und Thesen in einzelnen Beiträgen und Essays diskutiert.

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Abschnitt II: Heideggers philosophische Konzeption zur Zeit des Rektorats

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Ein Philosoph ›schaltet sich ein‹

Die bloße Auflistung der genannten Termini wie ›Arbeit‹ oder ›Bestimmung‹ sagt sicherlich noch nichts darüber aus, in welcher Weise Heidegger sie versteht und wie er sie im Rahmen seiner eigenen Konzeption einsetzt. Doch die Vorlesungen um 1933/34 zeigen ganz deutlich: Die Hinwendung vom ›neutralen‹ Dasein zum deutschen Dasein sowie der Rückgriff auf ›Arbeit‹, ›Auftrag‹ und ›Sendung‹ bedeutet mehr als eine halbherzig vollzogene Anpassung an eine Sprache, die der Denker Heidegger eigentlich gar nicht sprechen will, aber sprechen muss, weil er in einer Zeit zum Universitätsrektor gewählt wird, in der die Nationalsozialisten an der Macht sind – also eine ›Bewegung‹, die eben ›eine solche‹ Sprache spricht. 1 Kurz: Wenn Heidegger auch in seinen Vorlesungen nun von »Führung« und vom »deutschen Volk« redet, dann handelt es sich hier nicht um bloße ›Einsprengsel‹ oder gar vollkommene Fremdwörter in der heideggerschen Sprache von 1933/34. 2 Eine

1 Zur Sprache der Nationalsozialisten siehe Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, 4. Aufl., Köln 1987. Klemperers Betrachtungen zur »Lingua Tertii Imperii«, die nach eigener Aussage halb einen »Erlebnisbericht«, halb eine »wissenschaftliche Betrachtung« darstellen, suchen zu zeigen, wie die Nationalsozialisten eher als durch große Propagandaaktionen durch eine ganz unauffällige Veränderung von »Wortwerten und Worthäufigkeiten« ihr »Gift« verteilen konnten und in der Sprache »ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel« fanden; vgl. Klemperer 1987, 22. 2 Es wäre auch verwunderlich, wenn ein Philosoph, der so sehr wie Heidegger um eine ›eigentliche‹ Sprache bemüht ist, unreflektiert eine bestimmte Rhetorik übernehmen würde. Andererseits war Heidegger als Rektor zwangsläufig dazu angehalten, eine Sprache zu sprechen, die der Sprache der Nationalsozialisten zumindest nicht allzu deutlich entgegengesetzt war. Heidegger spricht im Spiegel-Interview von 1966 von »Kompromissen«, die er eingehen musste; vgl. das »Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger« (in: GA 16, 652–683, hier: 657).

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scharfe Trennung zwischen dem Denker Heidegger und dem politischen Akteur Heidegger lässt sich also nicht durchführen.3 Dass die Philosophie kein bloßes ›Nebengeschäft‹ des Menschen ist – keine Tätigkeit neben anderen –, sondern seine ganze Existenz im Kern angeht, diese Einsicht bringt Heidegger schließlich schon während der 20er Jahre immer wieder nachdrücklich vor. So nennt er die Philosophie bereits 1919/20 eine »Angelegenheit lebendigen, persönlichen Seins und Schaffens« (GA 58, 5). Die berühmte, im März 1933 gegenüber Jaspers geäußerte Bemerkung, man müsse sich einschalten, 4 bekundet schließlich, dass Heidegger nun konsequent danach strebt, die »Philosophie zur Wirklichkeit [zu] machen« (GA 36/37, 4). Entsprechend erklärt er in der Vorlesung Die Grundfrage der Philosophie vom SS 1933 emphatisch: »Das Wesen ist nicht, was vorgestellt, erfaßt werden könnte, denn alles Vor-stellen ist weg-stellen; nicht wegstellen wollen wir, sondern ergreifen, und zwar in der vorgreifenden Entschlossenheit des Mithandelns, im mutvollen Ergreifen des Wesens im Vorgriff.« (GA 36/37, 88) 5 Ein Semester später charakterisiert er zudem den Befreier im Höhlengleichnis Platons – den Philosophen – als einen, der »mithandelt in der Geschichte derer, die seinsmäßig mit ihm in eine Gemein-

Eine Darstellung der unterschiedlichen Positionen zur Frage nach dem ›Verhältnis‹ zwischen dem Denker und dem Rektor Heidegger liefert die – allerdings sehr tendenziöse – Studie von Hassan Givsan (ders., Eine bestürzende Geschichte: Warum Philosophen sich durch den ›Fall Heidegger‹ korrumpieren lassen, Würzburg 1998). Eine differenzierte Diskussion dieser Positionen präsentiert Thomä; vgl. Thomä 1990, 474 ff. Indem er der Frage nach dem Zusammenhang von Heideggers Denken und der Übernahme des Rektorats aus der »Textgeschichte« heraus zu deuten versucht, präsentiert Thomä eine überzeugende Interpretation dieses Zusammenhangs, weil er einerseits dieses Engagement sehr ernst nimmt, andererseits durch die eingehende Analyse der Texte einer vorschnellen Identifikation der heideggerschen Rede von ›Volk‹, ›Arbeit‹ usw. mit der nationalsozialistischen Terminologie entgegenwirkt. Allerdings sind einige der für die Diskussion des Themas wichtigsten Vorlesungen und Texte erst zwischen 1998 und 2001 in der Gesamtausgabe erschienen. Siehe daher als erneute Auseinandersetzung Dieter Thomä, »Heidegger und der Nationalsozialismus. In der Dunkelkammer der Seinsgeschichte«, in: ders. 2003, 141–162. 4 Eine Erklärung, die Jaspers in diesem Moment nicht richtig einzuschätzen vermag; vgl. zu dieser Szene Karl Jaspers, Philosophische Autobiographie, München 1977, 100. 5 Offenkundig liegt in dieser Entschlossenheit zum ›Mitmachen‹ eine deutliche Aufwertung des ›augenblickhaften‹ Handelns; vgl. zu dieser auffälligen Akzentverschiebung gegenüber Sein und Zeit Thomä 1990, 496 ff. 3

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schaft zusammengehören« (GA 36/37, 186). 6 Die Philosophie wird für Heidegger nun zum »Kampf«, konkret: zum »unausgesetzte[n] fragende[n] Kampf um das Wesen und Sein des Seienden« (GA 36/37, 12). 7 Die echte Philosophie, so Heidegger in den einleitenden Passagen zu Die Grundfrage der Philosophie, muss dabei die Geschichte »zur Auseinandersetzung zwingen« (GA 36/37, 12) und diese Auseinandersetzung muss, soll sie eine wahrhafte Philosophie hervorbringen, einer »wirklichen Not und Notwendigkeit des Daseins« (GA 36/37, 13) entspringen. 8 Das philosophische Fragen endgültig ›militarisierend‹ behauptet Heidegger in der Einleitung abschließend: Ihr »Angriff« muss die »Hauptstellung der Gesamtgeschichte treffen, mit deren Eroberung sich alles entscheidet« (GA 36/37, 13). 9 Warum aber nun das Engagement für den Nationalsozialismus – inwieweit vermag gerade durch diesen Einsatz die Philosophie ›Wirklichkeit‹ zu werden? Folgende Bemerkung Heideggers aus Vom Wesen der Wahrheit gibt einen Hinweis auf die Bedeutung, welche er dieser ›Bewegung‹ zuschreibt: »Der Nationalsozialismus ist nicht irgendwelche Lehre, sondern der Wandel von Grund aus der deutschen und, wie wir glauben, auch der europäischen Welt.« (GA 36/37, 225) Es ist nicht die konkrete ›Weltanschauung‹ 10 des Nationalsozialismus, die HeidegSiehe auch GA 34, 85. Hier spricht Heidegger dem Philosophen eine wesentliche Einsamkeit zu, die jedoch keine Vereinzelung meine. Bemerkenswert ist auch folgende Interpretation der Rolle der Philosophen im Staat nach Platon: »Nicht sollen Philosophieprofessoren Reichskanzler werden, sondern Philosophen yÐlake@, Wächter. Die Herrschaft und Herrschaftsordnung des Staates soll durchwaltet sein von philosophierenden Menschen, die aus dem tiefsten und weitesten, frei fragenden Wissen Maß und Regel setzen, Bahnen der Entscheidung erschließen.« (GA 34, 100) 7 »Kampf« ist nach Heidegger nun auch das Herausstellen des Seienden in die Offenbarkeit; vgl. GA 36/37, 118. Als »Kampf« wird er bald auch das Herrwerden des Dichters über die Dichtung beschreiben; vgl. Martin Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, hrsg. von Susanne Ziegler, Frankfurt a. M. 1980 (GA 39), 22. 8 Zu einer solchen »Not« gibt Heidegger im WS 1934/35 ausführlichere Hinweise. Ihr zentrales Wirken sieht er offenkundig darin, dass sie eine Entscheidung erzwinge. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang auch von »Zucht« und begreift diese als die »von innen her ansetzende Bändigung und Bindung« an das ›Ursprüngliche‹ in der Entscheidung; vgl. GA 39, 248. 9 Die »Hauptstellung, in der sich alle wesentlichen Kräfte der abendländischen Geistesgeschichte wie in einem großen Block« gesammelt haben, ist für ihn hier die hegelsche Philosophie; vgl. GA 36/37, 13. 10 Zur Ersetzung des Begriffs ›Philosophie‹ durch ›Weltanschauung‹ in der Sprache des Nationalsozialismus siehe Klemperer 1987, 106. 6

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ger hier rühmt, sondern dessen ›Leistung‹ liegt nach Heidegger offenkundig darin, den geschichtlichen Augenblick als Entscheidungsmoment auf die Spitze zu treiben, so dass die »abgeleitete Scheinkultur endgültig in sich zusammenstürzt« (GA 36/37, 14). 11 An einer anderen Stelle bezeichnet Heidegger die philosophischen Konzeptionen des 19. Jahrhunderts als »Mischmasch« 12 – ihn gelte es abzulösen durch eine »klare, ursprüngliche« Haltung des Menschen zu seiner »eigenen Stellung auf der Erde« (GA 36/37, 147). Die Sehnsucht nach einem fundamentalen Wandel lässt sich bereits in Die Grundbegriffe der Metaphysik vom WS 1929/30 deutlich spüren, wenn Heidegger all dem aktuellen »Organisieren und Programmbilden und Probieren« zuschreibt, etwas zu verdecken, was im Grunde das Dasein erst vor sich selbst bringen könne: »eine wesenhafte Bedrängnis unseres Daseins im Ganzen« (GA 29/39, 244). 13 Inwieweit dem Nationalsozialismus von Heidegger um 1933 schließlich eine gleichsam ›metaphysische‹ Bedeutung – ein das ›Wesen‹ des Menschen befreiendes und die abendländische Philosophie umwandelndes Wirken – zugesprochen werden kann, deutet sich hier somit schon an: Ersehnt wird in diesen Passagen von 1929/30 letztlich eine fundamentale »Umwälzungsmacht«, die offenbaren soll, worin das eigentlich Geschichtliche des Daseins nach Heidegger liegt – »in der Künderschaft der großen Augenblicke« (GA 38, 159). Fast scheint es also, als ob Heidegger hier auf politischer Ebene eine Kraft am Werke sieht, die er selbst als wesentliches Moment jeder Entsprechend rät Heidegger in Briefen die Adressaten mitunter dazu, die »niedrigen und weniger erfreulichen Dinge«, welche mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten auch einhergehen mögen, nicht weiter zu beachten; vgl. etwa GA 16, 73 sowie 93. 12 Aufgrund der herausragenden Bedeutung, welche das vermeintliche Ideal der ›Reinheit‹ bei den Nationalsozialisten spielte, handelt es sich hier zweifelsohne um einen brisanten Begriff – auch wenn Heidegger ihn ›nur‹ auf philosophische Konzeptionen anwendet. 13 Vgl. zu diesem Motiv der gesteigerten Bedrängnis, die zu einer unausweichlichen Entscheidung zwinge, auch Winfried Franzen, »Die Sehnsucht nach Härte und Schwere. Über ein zum NS-Engagement disponierendes Motiv in Heideggers Vorlesung ›Die Grundbegriffe der Metaphysik‹ von 1929/1930«, in: Heidegger und die praktische Philosophie, hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler, Frankfurt a. M. 1988, 78–92. Insgesamt tritt in den Texten um 1933 eine unübersehbare Häufung der Begriffe »Not«, »Notwendigkeit«, »Übermacht«, »Bedrängnis«, »Größe«, »Gesetz«, »Gefüge«, »Zwang« und »Entscheidung« auf, die allesamt auf das von Franzen konstatierte Bedürfnis nach »Härte und Schwere« verweisen. 11

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echten Philosophie schon in den 20er Jahren stets herausgestellt hat: die der Destruktion, welche – jedoch ohne bloße Zerstörungswut – jahrhundertealte Verdeckungen abbaut, von traditionellen Vorurteilen befreit und das Dasein zu sich selbst bringt. 14 Indem das Fragen nach der Wahrheit nun 1933 zum »handelnde[n] Begreifen oder Nichtbegreifen der Weltstunde, in die der Geist dieser Erde eingetreten ist« (GA 36/37, 120), erklärt wird, überträgt Heidegger die Destruktionskraft der Philosophie gleichsam auf eine ›höhere‹ Macht bzw. bettet sie in ein Geschehen ein, in das sich der echte, d. h. der entschlossene Philosoph, hineinstellt und somit zugleich zum geschichtlich handelnden Menschen wird. 15 Wenn Löwith bemerkt, nach der Rektoratsrede wisse man nicht, »ob man Diels’ Vorsokratiker in die Hand nehmen soll oder mit der S.A. marschieren« 16 , dann müsste man mit Heideggers Konzeption von 1933 – so absurd dies erscheint – letztlich antworten, dass hier eben gar kein wesentlicher Gegensatz bestehe. 17 Obgleich in Heideggers Vorlesungen um 1933/34 eine sich in geradezu begeisterten Aus- und Anrufen bahnbrechende Aufbruchsstimmung herrscht, wird die Interpretation der Ausführungen zum Wesen des Menschen in der Logik-Vorlesung vom SS 1934 jedoch zeigen, dass die Hinwendung zum ›volklichen Sein‹ des Menschen, der zudem einer ihm auferlegten ›Bestimmung‹ zu folgen habe, nicht den Einbruch bislang völlig unbekannter Motive in Heideggers Konzeption bedeutet. Vielmehr geht Heidegger hier – mitunter explizit – auf zentrale Begriffe aus Sein und Zeit bzw. der Phase der Existenzialontologie zurück und schließt an die hier geleisteten Analysen an. Allerdings setzt er bei 14 Im WS 1937/38 liefert Heidegger eine Charakterisierung der ›echten‹ Revolution, welche diese Bezugnahme auf die Destruktion stützt: Diese Revolution meine nicht »bloßen Umsturz und Zerstörung, […] sondern umschaffende Umwälzung des Gewohnten, damit der Anfang wieder zur Gestalt komme«; vgl. Martin Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik«, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1984 (GA 45), 41. 15 Löwith verweist bekanntlich auf ein Gespräch mit Heidegger, in dem dieser einen Einklang zwischen seinem Denken und seinem NS-Engagement zugesteht und seine Konzeption der Geschichtlichkeit als Grund für diesen Zusammenschluss von Denken und politischem Handeln nennt; vgl. Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986, 57. 16 Vgl. Löwith 1986, 33. 17 Aufschlussreich ist hier Heideggers Identifizierung einer Hinwendung zur Philosophie Heraklits mit dem Anspruch, die Größe des eigenen, deutschen Schicksals zu beund ergreifen; vgl. GA 36/37, 86 ff.

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zentralen Punkten andere Akzente als in Sein und Zeit oder stellt Phänomene in den Mittelpunkt, die um 1927 entweder keine gewichtige Rolle spielten oder gar ein regelrechtes ›Schattendasein‹ führten wie etwa die Natur. Somit entpuppt sich die Hinwendung zum Da-sein als Volk-sein jedoch als Versuch, einige der gravierenden Spannungen und Probleme zu bereinigen, von denen die Daseinsanalyse in Sein und Zeit gezeichnet ist: 18 die Spannung zwischen Entwurf und Geworfenheit sowie die zwischen Mitsein und Vereinzelung des Daseins. Weil auf eben diese Probleme und Unstimmigkeiten in Heideggers Konzeption um 1927 im bisherigen Vergleich zwischen Heidegger und Buber immer wieder kritisch hingewiesen wurde, muss nun näher untersucht werden, wie genau Heidegger diese Probleme um 1933/34 selbst zu lösen versucht und welche Rolle dabei die eben genannten Begriffe – vornehmlich ›Volk‹, ›Auftrag‹, ›Sendung‹ sowie ›Arbeit‹ – spielen.

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Heidegger beginnt seine Ausführungen zum Wesen des Menschen in der Logik-Vorlesung 19 mit der aus den 20er Jahren bereits bekannten Interpretation des Daseins als eines Selbstseins: Der Mensch ›ist‹ immer als ein Ich-selbst, Du-selbst, Wir-selbst. Die Überlegungen zum Wesen des Menschen führen uns nach Heidegger also auf uns selbst zurück und somit eröffnet sich die Frage: Wer sind wir überhaupt? Zwar betont Heidegger, dass »das Wir, auch im Sinne der echten Gemeinschaft, […] nicht schlechthin und unbedingt den Vorrang« (GA 38, 51) habe, 20 doch geht er bei der Fortführung des Fragens nach dem Selbstsein des Menschen sogleich vom aktuellen Wir – d. h. der Auf diese Bedeutung zentraler Aspekte der heideggerschen Konzeption um 1933/34 weist Thomä ausdrücklich hin; vgl. Thomä 1990, 487 ff. sowie 542. 19 Die Vorlesung war ursprünglich unter dem Titel »Der Staat und die Wissenschaft« angekündigt worden – der Rücktritt vom Rektorat führte wohl zu dieser Änderung, die Heidegger erst in der ersten Vorlesungsstunde mitteilte; vgl. das Nachwort des Herausgebers zur Vorlesung (konkret: GA 38, 172). 20 Vgl. folgende Bemerkung: »So wie das Ich das wirkliche Selbstsein verengen und abschließen kann, so sicher kann auch ein Wir das Selbstsein zerstreuen, vermassen, verhetzen und sogar ins Verbrechen treiben.« (GA 38, 51) 18

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Gemeinschaft im Hörsaal – aus und erklärt: »[…] wir sind eingelassen in das Erziehungsgeschehen« (GA 38, 56), konkret das der Hochschule. Mit dieser Feststellung, das suggerieren die folgenden Ausführungen, scheint die Frage aber bereits beantwortet zu sein: 21 »Indem wir eingefügt sind in diese Forderungen der Hochschule, wollen wir den Willen eines Staates, der selbst nichts anderes sein will als der Herrschaftswille und die Herrschaftsform eines Volkes über sich selbst. Wir als Dasein fügen uns in eigener Weise hinein in die Zugehörigkeit zum Volk, wir stehen im Sein des Volkes, wir sind dieses Volk selbst.« (GA 38, 57) 22

Diese Konstitution des Wir als Volk beschreibt Heidegger auch als ein Einfügen in den Augenblick. Mit dieser Charakterisierung möchte er hervorheben, dass das Da-sein im Sinne des Eingelassenseins in das Erziehungsgeschehen nicht ein spezifisches bloßes Vorhandensein von Menschen meint, sondern dass vielmehr eine bestimmte »Entschiedenheit« das Selbstsein als Volk ausmacht: »Wir sind da! Wir sind bereit! Es geschehe!« (GA 38, 57) Jedoch betont Heidegger auch, dass es möglich sei, sich bei dieser Entschiedenheit von anderen Menschen mitnehmen zu lassen – daher gelte offenkundig: »Wir sind eigentlich wir nur in der Entscheidung, und zwar jeder vereinzelt.« (GA 38, 58) Doch diese Entscheidung, so Heidegger, »rückt den einzelnen nicht auf das Ich zurück, sondern weitet ihn zum Selbst-Dasein in der Erziehung« (GA 38, 58). 23 Das bedeute: »Trotz der entscheidungsmäßigen Tren21 Eilebrecht hingegen präsentiert die Logik-Vorlesung als exemplarische Vorführung eines echten, offenen Fragens – die Begriffe ›Volk‹, ›Sendung‹, ›Arbeit‹ usw. werden hier entsprechend nicht problematisiert; vgl. Tilo Eilebrecht, Durch Fragen ins Offene. Zur Charakteristik von Heideggers Denkwegen, Freiburg/München 2008, 133 ff. 22 Die hier angesprochene Beziehung zwischen Volk, Staat und ›Herrschaftswille‹ ist ein zentrales Thema in Heideggers Übung »Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat« aus dem WS 1933/34, über dessen inhaltlichen Verlauf von Heidegger durchgesehene Studentenprotokolle Aufschluss geben. In einer höchst fragwürdigen Anwendung der Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem wird das Verhältnis zwischen Volk und Staat hier folgendermaßen bestimmt: »Das Volk ist das Seiende, dessen Sein der Staat ist.« (Martin Heidegger, »Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat«, in: Denker/Zaborowski 2009 a, 53–88, hier: 79) 23 Für eine nähere Interpretation dieser Identifikation des Eintritts in die Universität mit der Entscheidung für das Volk wäre eine Analyse der Reden des Rektors Heidegger aufschlussreich. Siehe z. B. die Ansprache zur Immatrikulation am 6. Mai 1933 (GA 16, 95–97), in der Heidegger behauptet: »Die Immatrikulation bedeutet den Übertritt in die Kampf- und Erziehungsgemeinschaft jener, denen die geistige Sendung des deutschen Volkes das erste und letzte ist.« (GA 16, 96) Auch die in der Rektoratsrede behauptete

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nung der einzelnen vollzieht sich hier ein verborgener Einklang, dessen Verborgenheit eine wesentliche ist.« (GA 38, 59) Zwei zentrale Fragen ergeben sich nun jedoch nach Heidegger: Erstens müsse näher gefragt werden, was ein ›Volk‹ überhaupt ausmacht. Außerdem sei zu klären, was in Bezug auf das Volksein mit ›Entscheidung‹ gemeint ist. Entsprechend analysiert Heidegger zunächst verschiedene Auffassungen vom ›Volk‹ : das Volk als Körper, als Seele, als Geist. Es überrascht nicht, dass er diese Vorstellungen aufgrund ihrer Verwurzeltheit im traditionellen Menschenbild konsequent ablehnt: »Wir wollten gerade den Vorstellungen den Rücken kehren, nach denen der Mensch in der Zusammensetzung von Leib, Seele und Geist genommen wird.« (GA 38, 68) Kurz: So wie das einzelne Dasein ist das Volk nach Heidegger kein ›Was‹, sondern ein ›Wie‹. 24 Das heißt konsequenterweise: Das Volksein lässt sich mit Heidegger dezidiert nicht ›biologisch‹ fassen, so wie es die Rassentheorien des 19. und 20. Jahrhunderts proklamieren. Mit dem platten Biologismus der Nationalsozialisten ist Heideggers Denken also unvereinbar. Besonders scharf artikuliert Heidegger seine Ablehnung einer biologischen bzw. biologistischen Deutung des menschlichen Daseins in der Kritik an einem im Januar 1934 in Freiburg gehaltenen Vortrag von Erwin G. Kolbenheyer. Kolbenheyer – ein damals bekannter Schriftsteller und Anhänger des NS-Regimes – wird hier von Heidegger als »Höhlenbewohner« bezeichnet, weil er einem Biologismus anhänge, der blind sei gegenüber »der geschichtlichen existenziellen Grundwirklichkeit des Menschen bzw. eines Volkes« (GA 36/37, 211). 25 Die Frage nach dem Wer-sein des Volkes verweist also laut Heidegger eindeutig nicht auf eine gemeinsame biologisch zu bestimmenGleichursprünglichkeit von Arbeits-, Wehr- und Wissensdienst ist hier zu nennen; vgl. Martin Heidegger, »Die Selbstbehauptung der deutschen Universität«, in: GA 16, 107– 117, hier: 113 f. 24 Bemerkenswerterweise betont Heidegger, die Begriffe ›Staat‹ und ›Volk‹ müssten letztlich selbst als geschichtlich begriffen werden. Andererseits bräuchten wir aber einen möglichst bestimmten, einheitlichen Begriff des Volkes; vgl. GA 38, 68. 25 Wie Heidegger diese Kritik weiter präzisiert, zeigt jedoch, dass ihn die Ablehnung von Biologismus und Rassismus nicht zwangsläufig in eine unüberbrückbare Ferne zur NS-Ideologie bringt: Kolbenheyer könne aufgrund seiner Orientierung am Biologischen nicht sehen, dass »zum geschichtlichen Sein« die »Entscheidung zu einem bestimmten Seinwollen und Schicksal – Einsatz des Handelns, Verantwortung im Ertragen und Durchhalten, Mut, Zuversicht, Glaube, Opferkraft« (GA 36/37, 210) gehöre. Das Motiv ›Härte und Schwere‹ tritt hier überdeutlich hervor.

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de Grundlage, sondern ist eine »Entscheidungsfrage«, weil in Bezug auf den Menschen gilt: »Sind und Sein stehen unter einer Entscheidung.« (GA 38, 70) Somit könne nur die Beantwortung der zweiten Frage, die nach dem Wesen der Entschiedenheit, Aufschluss über das Sein des Volkes geben. 26 Der bloßen Entschiedenheit stellt Heidegger aber nun die echte »Entschlossenheit« entgegen: »[…] darin liegt, daß dasjenige, wozu wir entschlossen sind, ständig vor uns steht, all unser Sein bestimmend; es beschäftigt uns nicht gelegentlich, sondern die Entschlossenheit gibt unserem Sein eine ganz bestimmte Prägung und Beständigkeit. […] In der Entschlossenheit ist der Mensch […] in das künftige Geschehen eingerückt.« (GA 38, 77)

Mit der Entschlossenheit, so Heidegger, stehen wir demnach »im Bezirk der Geschichte« (GA 38, 78). Wie sah die Bestimmung der Geschichtlichkeit des Daseins in Sein und Zeit aus? Die Interpretation zur vorlaufenden Entschlossenheit in Teil I/Abschnitt V ging bereits kurz auf die Geschichtlichkeit des Daseins ein und hob hervor, dass das Dasein nach Heidegger im Auf-sich-Zurückkommen die je faktischen Möglichkeiten seines eigentlichen Existierens »aus dem Erbe« (SZ 383) her erschließt, welches es als geworfenes Dasein übernimmt. Schon bei der Diskussion der Geschichtlichkeit der Existenz in Sein und Zeit war bezüglich des Daseins von der »Einfachheit seines Schicksals« (SZ 384) die Rede, welches Heidegger – die Dimension des Mit26 Dokumente aus der Rektoratszeit legen jedoch offen, dass Heidegger mitunter nicht davor zurückscheute, sich der Sprache einer primitiven ›Blut-und-Boden‹-Ideologie zu bedienen: In der Rektoratsrede spricht er von den »erd- und bluthaften Kräften« (GA 16, 112) und in einer Stellungnahme zur Philosophie Hönigswalds setzt er der Vorstellung des Menschen als »freischwebendem Bewußtsein« seine »Herkunft aus Boden und Blut« (GA 16, 132) entgegen. In der Rede anlässlich eines Jubiläums des Instituts für pathologische Anatomie an der Universität Freiburg behauptet Heidegger, dass jedes Volk »die erste Gewähr seiner Echtheit und Größe in seinem Blut, seinem Boden und seinem leiblichen Wachstum« (GA 16, 151) habe. In den Vorlesungen sucht er jedoch stets die Leiblichkeit des Daseins in der Gestimmtheit bzw. der Existenz zu fundieren; vgl. GA 38, 151 f. sowie GA 36/37, 178. Jedoch geht Heidegger im SS 1933 auf die »Stammesverwandtschaft« der Deutschen mit den Griechen ein und sieht im Rückgang auf die Griechen die Notwendigkeit, »die Grundmöglichkeiten des urgermanischen Stammeswesens auszuschöpfen und zur Herrschaft zu bringen« (GA 36/37, 89); vgl. auch GA 39, 134. Siehe zu Heideggers ambivalenter Stellung zu biologistischen Deutungen des Menschen Alexander Schwan, »Heideggers ›Beiträge zur Philosophie‹ und die Politik«, in: Martin Heidegger. Kunst – Politik – Technik, hrsg. von Christoph Jamme und Karsten Harries, München 1992, 175–202, hier: 186 ff.

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seins betonend – als Geschick einer Generation präsentierte. Als Geschick bezeichnete Heidegger also schon in Sein und Zeit ausdrücklich »das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes« (SZ 384). Dabei betonte er, dass sich das Geschick nicht aus den einzelnen Schicksalen der Individuen zusammensetze, sondern dass im »Miteinandersein in derselben Welt und in der Entschlossenheit für bestimmte Möglichkeiten« die Schicksale »im vorhinein schon geleitet« (SZ 384) seien. Auch wo sich das Geschick besonderen Ausdruck verschaffen soll, verriet Heidegger bereits hier, ohne jedoch konkreter zu werden: in der »Mitteilung« und im »Kampf«. Es wurde bei der Interpretation der vorlaufenden Entschlossenheit jedoch angemerkt, dass Heidegger in Sein und Zeit noch eindeutig die zentrale Stellung des Vorlaufens hervorhebt, d. h. die ›Geschicklichkeit‹ des Daseins in der Möglichkeit des Entwerfens auf den je eigenen Tod ›gründen‹ oder dieser ›entspringen‹ lässt. So heißt es in Sein und Zeit schließlich: »Das eigentliche Sein zum Tode […] ist der verborgene Grund der Geschichtlichkeit des Daseins.« (SZ 386) Auf den ersten Blick scheint Heidegger auch in der Vorlesung vom SS 1934 eine solche Vorrangstellung der Zukünftigkeit des Daseins zu behaupten, wenn er bemerkt: »Das Wesentliche erfahren wir nur aus dem Wie und Wofür unserer Selbstentscheidung, welche wir künftig werden wollen, was wir als unser Künftiges unter unseren Befehl stellen wollen. Das von früher her Wesende bestimmt sich aus unserer Zukunft.« (GA 38, 117) Gleich im Anschluss daran behauptet er jedoch, die Bestimmung dieser Zukunft könne »nicht freischwebend erdacht und ersonnen werden. Sie bestimmt sich vielmehr aus dem von früher her Wesenden.« (GA 38, 117) Dieses ›Wesende‹ habe »sein Eigentümliches darin, daß es über jedes Heutige und Jetzige immer schon hinweggegriffen hat: Es west als Überlieferung.« (GA 38, 117) Das bedeute: »Unser Vorausgeworfensein in die Zukunft ist die Zukunft der Gewesenheit« (GA 38, 118). Dieses Geschehen oder Ineinandergreifen von Zukunft und Gewesenheit bezeichnet Heidegger nun auch als die »ursprünglich einzige und eigentliche Zeit« (GA 38, 118). Diese Zeit erfahren wir laut Heidegger als »Macht, die unser eigenes Wesen trägt, als Überlieferung, die uns selbst nach vorne trägt in unsere Aufgabe« (GA 38, 119). Wir erfahren sie nach Heidegger also »nur und eigentlich, wenn wir uns in unserer Bestimmung zur Erfahrung bringen« (GA 38, 126). Diese ›Bestimmung‹ interpretiert er nun in dreifacher Hinsicht und dabei gelan414 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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Heideggers Konzeption von Volk, Bestimmung und Arbeit 1933/34

gen schließlich die für die Konzeption um 1933/34 zentralen Begriffe »Auftrag«, »Sendung« und »Arbeit« in den Blick. Mit der ›Bestimmung‹ meint Heidegger keine »feste Ausstattung unserer leiblichen oder sonstigen Beschaffenheit« (GA 38, 127), auch keine »Abrichtung« des Daseins auf bestimmte Zwecke. Die Bestimmung sei vielmehr das, »was wir für uns erwirken als unseren Auftrag« (GA 38, 127). Dieser ›Auftrag‹ ist uns nach Heidegger »vorbestimmt […] aus unserer Sendung: aus dem, was von früher her in unserem Wesen als unser Wesen west« (GA 38, 127). Die Bestimmung meint also insgesamt »ein Nach-vorne-getragen-Sein in der Sendung, die uns als Auftrag entgegenkommt« (GA 38, 128). In der Bestimmung eröffnet sich nach Heidegger entsprechend die ursprüngliche Geschichtlichkeit des Daseins, die »Macht« 27 der ursprünglichen Zeitlichkeit. Die eigentliche Weise, unsere Bestimmung zu übernehmen, begreift Heidegger anschließend als das Arbeiten 28 : In der Arbeit stellen wir uns in unsere Bestimmung hinein, indem wir sie – dies Heideggers eigener Ausdruck – schaffen. Arbeit ist nach Heidegger somit nicht irgendeine Beschäftigung, sondern »die Prägung und das Gefüge des Vollzuges unserer Sendung und der Erwirkung unseres Auftrages im jeweiligen geschichtlichen Augenblick« (GA 38, 128). 29 Somit rückt in der Deutung der Arbeit die dritte Zeitekstase – die Gegenwart als geschichtlicher Augenblick – in den Mittelpunkt. Heidegger hebt dabei hervor, dass die Arbeit aus Sendung und Auftrag entspringe so wie die Gegenwart aus Zukunft und Gewesenheit. Die Arbeit ist nach Heidegger somit nun die ausgezeichnete »Gegenwärtigung« des Seienden, das eigentliche »Anwesendmachen des Seienden« (GA 38, 154). Doch dieses Gegenwärtigen wird von Heidegger nun dezidiert als ein »Ent27 Heidegger bezeichnet die Zeit auch als »das Machtgefüge«, als die »große und einzige Fuge unseres Seins« sowie als »Quelltrunk des geschichtlichen Volkes«; vgl. GA 38, 130. 28 Zu Heideggers Begriff der Arbeit siehe Thomä 1990, 594 ff. sowie Jean-Michel Palmier, Les Écrits politiques de Heidegger, Paris 1968, 167 ff. Hier wird auch die Frage diskutiert, inwieweit Ernst Jüngers Konzeption der Arbeit Vorbild für die heideggerschen Überlegungen war. Heidegger äußert sich in der Immatrikulationsansprache vom 25. 11. 1933 selbst positiv zu Jüngers Vorstellung von Arbeit; vgl. Martin Heidegger, »Der deutsche Student als Arbeiter«, in: GA 16, 198–208, hier: 205 f. Bemerkenswerterweise deutet Heidegger hier auch an, mit dem Begriff der Arbeit das zu charakterisieren, was er Jahre zuvor als Sorge bestimmt habe. 29 Der Arbeiter ist für Heidegger kein besonderer Typus des Tätigen, die Arbeiter stellen für ihn keine ›Klasse‹ unter anderen dar.

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Heideggers philosophische Konzeption zur Zeit des Rektorats

gegenwarten« konzipiert – wir warten dem Seienden entgegen und lassen es »in seiner Geschichtlichkeit über uns kommen« (GA 38, 154).

3.

Die Existenzialanalyse aus Sein und Zeit und die Bestimmung des Menschen um 1933/34

Die eben vorgenommene Zusammenfassung der Interpretation des Wesens des Menschen in der Logik-Vorlesung von 1934 zeigt in eindringlicher Weise, welche zentralen Akzentverschiebungen und Modifikationen Heideggers Entwurf gegenüber der Konzeption von Sein und Zeit erfahren hat: Heidegger sucht nun eine »Zersprengung« (GA 38, 156) des Subjekts zu erreichen, indem er das Dasein als ausgesetzt und entrückt begreift, d. h. als eingelassen in ein ihm übergeordnetes, es letztlich überwältigendes Geschehen. Seinen Platz in der Welt findet das Dasein nun entsprechend in der ausdrücklichen Übernahme einer ihm vorgegebenen Bestimmung. In dieser Übernahme ist es zudem stets schon an eine Gemeinschaft ausgeliefert, denn das übergreifende Geschehen schickt dem Dasein seine Bestimmung laut Heidegger nicht als einem Einzelnen zu, sondern im Ineinanderund Übereinanderhinausgreifen von Sendung und Auftrag ›ist‹ das Dasein je als Volk angesprochen. Sehr viel stärker als noch in Sein und Zeit betont Heidegger jetzt also an der Fehlinterpretation des Menschen als ›Ich‹ oder ›Subjekt‹ den Charakter der Isoliertheit. 30 Die Spannung zwischen der Vereinzelung des jemeinigen Daseins im eigentlichen Sein zum Tode und der Dimension des Mitseins als fundamentaler Seinsweise des Daseins wird nun mit Macht zugunsten eines dem Einzelnen stets schon vorgängigen Miteinanderseins im bzw. als Volk gelöst. So behauptet Heidegger 1934: Nach der »Sprengung der Ichheit und der Subjektivität durch die Zeitlichkeit« kann die Aussage ›Dasein ist je meines‹ nur besagen, »daß mein Sein dem Miteinander und Füreinander übereignet ist« (GA 38, 163 f.). 31 Entsprechend ist die Entschlossenheit nun als eine Weise des Nach Heidegger hat der – von ihm häufig polemisch angegriffene – Liberalismus seine Wurzeln in dieser Auffassung des Menschen; vgl. GA 38, 149 sowie GA 36/37, 119. 31 Heidegger kommt hier auch noch einmal auf den Tod zu sprechen; vgl. GA 38, 164. Er bezeichnet das echte Verhältnis zum Tod zwar erneut als »schärfste Vereinzelung«, betont aber, das Dasein sei hier der »härtesten Entrückung« in das Sein ausgesetzt. Auch 30

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Die Existenzialanalyse aus Sein und Zeit und die Konzeption von 1933/34

Daseins begriffen, die nicht allein den Rückgang auf das ›Wesentliche‹ bedeutet, sondern in diesem Rückgang auf das Un-verstellte den Einzelnen gerade aufschließt für sein Sein als Volk: Im Entschlossensein, so Heidegger 1934 schließlich selbst, wird der Einzelne »über sich hinausgeschickt in die Zugehörigkeit, der er sich in der Entscheidung fügt« (GA 38, 58 f.). Bemerkenswert ist, dass Heidegger in Bezug auf die Entschlossenheit nun ausdrücklich von einem Geschehen der Verantwortung spricht: Bei der Übernahme der je eigenen Bestimmung handele es sich um eine Entsprechung, ein Antworten, das wir willentlich auf uns nähmen. 32 Auffällig ist auch, dass der Begriff der Existenz nun für die Charakterisierung des Daseins kaum noch eine Rolle spielt. Vermutlich ist er für Heidegger so eng mit der emphatischen Hervorhebung der Vereinzelung im Tode verbunden, dass er ihm bei der Hinwendung zum Volk als nicht mehr tragbar erscheint. 33 Entsprechend wird nicht mehr, wie noch in Sein und Zeit, die herausragende Stellung der Zukünftigkeit betont, sondern in den Mittelpunkt rückt eine Gewesenheit, die als Sendung immer schon über das ›Jetzige‹ hinweggegriffen hat und als Auftrag aus der Zukunft her auf uns ›Heutige‹ zukommt. Die Vorstellung eines Ergreifens der Gegenwart spielt aber 1933/ 34 eine wesentlich stärkere Rolle als in Sein und Zeit, wo der Status dieser Zeitekstase höchst problematisch war: Mit der Arbeit als einem ausgezeichneten Gegenwärtigen von Seiendem hat Heidegger offensichtlich eine Möglichkeit gefunden, das Dasein ›anpacken‹ zu lassen, ohne dass es sich an die Welt verliert und – dies wird nach Sein und Zeit für Heidegger zunehmend wichtig – ohne dass ein Herrichten des verweist er an anderer Stelle in der Vorlesung auf die Möglichkeit der Vereinzelung in einem positiven Sinne – diese sei aber allein aufgrund der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit möglich; vgl. GA 38, 156 f. 32 Vgl. GA 38, 121. Heidegger bemerkt dazu: »Wir sind gewohnt, Verantwortung moralisch oder religiös zu verstehen: Verantwortung vor dem Sittengesetz oder vor Gott. Der Begriff ›Verantwortung‹ ist aber philosophisch zu verstehen als ausgezeichnete Art des Antwortens.« 33 Siehe etwa die Bemerkung aus dem WS 1930/31: »Es ist mir nie eingefallen, eine ›Existenzphilosophie‹ zu verkünden.« (GA 32, 18) 1933 betont Heidegger, Philosophie sei nicht »Bekümmerung um die vereinzelte Existenz des einzelnen Menschen als solchen«, und bezeichnet Kierkegaard als einen Denker, der »nicht in die eigentliche Aufgabe« hineingefunden habe; vgl. GA 36/37, 10. Ein Semester später nutzt Heidegger wieder den Begriff ›Existenz‹ zur Beschreibung des menschlichen Seins, bevorzugt jedoch die Schreibweise ›Ek-sistenz‹ ; vgl. GA 36/37, 177.

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Seienden nach dem Willen eines machtvollen Daseins stattfindet. Indem Heidegger das Arbeiten also gerade als die entschiedene Übernahme der je eigenen Bestimmung beschreibt – als Verwirklichung von etwas, das dem Dasein als Volk aufgegeben ist –, vermeidet er eine Identifizierung des ›Hineingehens‹ in die gemeinsam geteilte Welt mit einem Verlust des Eigenen und präsentiert den Arbeiter als den Menschen, der »entrückt [ist] in die Offenbarkeit des Seienden und seines Gefüges« (GA 38, 154). 34 Entsprechend kann sich das Dasein in der echt begriffenen Arbeit nach Heideggers Charakterisierung nun gar nicht mehr auf ein einsames Hantieren mit den Sachen zurückziehen, denn in der Arbeit als dem Annehmen der Bestimmung ist das Dasein von vornherein ins Volk eingelassen. Doch hat Heidegger, indem er das Dasein im Volk aufgehen lässt, tatsächlich einen wesentlichen Schritt über die Bestimmung des Miteinanderseins in Sein und Zeit hinaus unternommen? Während Heidegger in den 20er Jahren keine ausführlichere Charakterisierung eines eigentlichen Miteinanderseins vornimmt, 35 stellt er nun mit dem Volk ein gleichsam ›heiles‹ Wir in den Mittelpunkt, welches jeder zeitweiligen Isolierung eines einzelnen Daseins sowie auch möglichen Verfallsformen des Miteinanders vorausgehen soll. Zwar spricht Heidegger auch ausdrücklich von der Gefahr der »Vermassung« und »Verhetzung«, 36 doch erscheint das Volk in seiner Konzeption um 1933 eindeutig als homogene, ja ›gleichgeschaltete‹ Einheit von Menschen, die sich nicht einander zuwenden, sondern gemeinsam der ihnen als Volk aufgegebenen Bestimmung folgen. Am prägnantesten ist hier sicherlich die folgende, schon zitierte Behauptung Heideggers: »Trotz der entscheidungsmäßigen Trennung der einzelnen vollzieht sich […] ein verborgener Einklang, dessen Verborgenheit eine wesentliche ist.«

Die Abgrenzung von einer Fixierung auf den theoretischen Zugang bleibt, Heidegger stellt diesem nun aber konsequenterweise die Arbeit – und gerade nicht mehr den erfolgsorientierten, pragmatischen Umgang mit Zuhandenem – gegenüber: »Das Seiende erschließt sich uns […] überhaupt nie ursprünglich in der wissenschaftlichen Erkenntnis von Objekten, sondern in den wesentlichen Stimmungen der darin schwingenden Arbeit« (GA 38, 158). 35 Nicht wenige Heidegger-Interpreten sehen hier einen wesentlichen Grund für das Versagen der heideggerschen Philosophie während der Zeit des Nationalsozialismus; vgl. Rentsch 1990, 10 und Hans Ebeling, »Das Ereignis des Führers. Heideggers Antwort«, in: Blasche 1989, 33–57, hier: 35 und 39. 36 Vgl. GA 38, 51. 34

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(GA 38, 59) 37 Wenn Heidegger die Frage nach dem konkreten Begegnen des anderen Daseins hier überhaupt nicht mehr stellt, dann mag das auch als Ausdruck dieser Hinwendung zu einem gleichsam kollektivierten ›Subjekt‹ Dasein genommen werden. 38 Es muss kaum betont werden, dass im Rahmen einer solchen Konzeption die Widerständigkeit des Anderen als anderer, eigener Existenz zugunsten eines gemeinsamen Lauschens auf die im Auftrag offenbarte Sendung aufgegeben ist. Heideggers gleichsam emphatische Hervorhebung des Miteinanderseins zu Beginn der 30er Jahre führt ihn also zur Konzeption eines Wir, welches sich wie ein großes ›Individuum‹ ausnimmt, dessen Konfrontation mit Anderen sich nun auf der Bühne Es stellt sich zwangsläufig die Frage, wie die oder der ›Führer‹ zu dieser Einheit stehen sollen. Wesentliche Führung, so heißt es im SS 1933, lebe »aus der Macht einer großen, im Grunde verborgenen Bestimmung« (GA 36/37, 3). In einem Vortrag vom August 1934 behauptet Heidegger: »Führer ist nicht der, der den Anderen vor-gesetzt ist, sondern derjenige, der mit den Anderen unbedingter hören und entschlossener dem Gesetz gehorchen kann.« (Martin Heidegger, »Die deutsche Universität«, in: GA 16, 285–307, hier: 300) Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Thematisierung von Macht und Herrschaft in der schon genannten Übung »Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat«. Heidegger begreift Herrschaft, die keine Unterdrückung meine, hier als »Erweckung desselben Wollens im anderen, d. h. desselben Zieles und Einsatzes, Vollzugs« (Heidegger 2009, 87). 38 Es sei hier noch einmal an Bubers Abgrenzung der Person von allen Kollektivverbünden in Die Frage an den Einzelnen von 1936 erinnert. Während Heidegger in den 30er Jahren also zeitweilig emphatisch eine solche Einheit feiert, thematisiert Buber explizit eine Weise des ›Vereinzeltseins‹, die jedoch keine Isolation bedeuten soll. Dies geschieht somit zu einer Zeit, wo Buber selbst vehement unter den Maßnahmen der Nationalsozialisten zu leiden hat, die Heidegger in Briefen zwar ausdrücklich bedauert, die für ihn aber offenkundig zu den »weniger erfreulichen Dinge[n]« (GA 16, 93) gehören, die gegenüber der Aufbruchskraft der ›Bewegung‹ nicht so schwer wiegen. Buber legt 1933 seine Professur für Religionswissenschaft und jüdische Ethik an der Universität in Frankfurt a. M. vor der offiziellen Entziehung der Lehrbefugnis nieder. 1935 wird ihm, der sich bis dahin stark in der jüdischen Erwachsenenbildung engagierte, jede öffentliche Betätigung untersagt. 1938 reist er mit seiner Familie nach Palästina aus. In Gottesfinsternis äußert er sich zu Heideggers Rektorat und konstatiert, Heidegger habe 1933 sein Denken mit der Stunde der Geschichte verbündet; siehe W I, 560 f. Aus Krafts Gespräche mit Buber geht hervor, dass Buber vermutlich Guido Schneebergers Buch über Heideggers NS-Engagement rezipiert hat; vgl. Kraft 1966, 106. Zur Bedeutung von Heideggers Rektorat auf der einen Seite und derjenigen philosophiegeschichtlicher Faktoren auf der anderen Seite für die konkrete Ausgestaltung der Heidegger-Rezeption in Israel vgl. folgenden, auch explizit auf Bubers Rolle eingehenden Beitrag: Thomas Meyer, »Bemerkungen zur ungeschriebenen Geschichte der jüdischen Heidegger-Rezeption«, in: Denker/Zaborowski 2009 b, 433–452. 37

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Heideggers philosophische Konzeption zur Zeit des Rektorats

der Welt abzuspielen scheint, wo die unterschiedlichen Völker aufeinandertreffen. 39 Sucht man Heideggers Konzeption um 1933/34 nun abschließend zu charakterisieren, so lässt sich festhalten, dass sie von neuen Spannungen durchzogen ist und von nicht wenigen Unklarheiten begleitet wird: So schwanken Heideggers Charakterisierungen des Wesens des Menschen zwischen einer Betonung des entschlossenen Handelns auf der einen Seite und einer Deutung des Schaffens – der Arbeit – als eines Sichfügens (in die je eigene Bestimmung eines Volkes). Folgende Charakterisierung der Arbeit macht die Ambivalenz der heideggerschen Auffassung des Menschen in dieser Phase seines Denkens deutlich: »Das Wesen der Arbeit: was den Vollzug der Weltbemächtigung im Kleinsten und Großen als Ermächtigung unseres Daseins durchwaltet.« (GA 36/37, 86) Auf der einen Seite ist Arbeit also ›Weltbemächtigung‹, auf der anderen Seite ein Stehen im Walten des geschichtlich Seienden. 40 Trotz dieser Spannung ist jedoch offensichtlich, dass das Motiv einer fundamentalen Abgründigkeit des Daseins – welches schon um 1930 in »Vom Wesen des Grundes« sowie in »Vom Wesen der Wahrheit« auftritt – nun eine Deutung erfährt, die das ›Walten‹ des Seienden und die Nicht-Mächtigkeit des Daseins gegenüber diesem Walten in einer Weise interpretiert, die in einer sehr einseitigen Fortführung des Motivs der Geworfenheit des Daseins aus Sein und Zeit liegt. Diese starke Betonung der Geworfenheit als eines Bestimmtseins des Menschen führt nun zwangsläufig zu einer gewissen ›Erstarrung‹ des Daseins. Auf der anderen Seite betont Heidegger jedoch auch, der Begriff des Volkes sei selbst nur geschichtlich zu verstehen. So stellt sich die Frage, ob das ›Deutsch-sein‹ dem Dasein überhaupt so etwas wie einen ›festen Halt‹ geben kann. Letztlich bleibt auch völlig offen, was genau Sendung und Auftrag dem volklichen Dasein zusprechen sollen. Eine konkrete Politik lässt sich aus Heideggers Charakterisierung des We-

Thomä deutet Heideggers Argumentation für den Austritt aus dem Völkerbund als »auf die nationale Ebene gehobene These aus ›Sein und Zeit‹, daß dem Sich-einlassen auf andere die Sicherung des Eigensten vorauszugehen habe« (Thomä 1990, 550). 40 Siehe auch folgende Bemerkung: »Der Mensch stellt sich als arbeitender in die Auseinandersetzung mit dem Seienden im Ganzen. In dieser Auseinandersetzung geschieht die Ermächtigung, Durchsetzung, Fügung und Bändigung der aufgeführten erdgestaltenden Mächte.« (GA 16, 205) 39

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Die Existenzialanalyse aus Sein und Zeit und die Konzeption von 1933/34

sens des Menschen in den Vorlesungen zumindest nicht unmittelbar ableiten. 41 Zuletzt fällt auf, dass um 1933 verschiedene Seinsweisen und Phänomene in Heideggers Konzeption um den Primärstatus beim Geschehen der Offenheit des Daseins konkurrieren: die Gestimmtheit, die Arbeit, die Zeitlichkeit sowie nicht zuletzt die Sprache. Folgendes Zitat macht deutlich, inwieweit Heidegger nun keine so klare Fundierungsstruktur zwischen unterschiedlichen Phänomenen mehr herauszustellen vermag wie noch in Sein und Zeit: »Nur wo Zeitlichkeit sich zeitigt, geschieht Sprache; nur wo Sprache geschieht, zeitigt sich Zeitlichkeit.« (GA 38, 169) So erarbeitet Heidegger um 1933 keinen Entwurf, der eine abschließende Auflösung der zentralen Spannungen der mit Sein und Zeit präsentierten Konzeption anbieten könnte. Die Tatsache, dass sein Lösungsversuch bezüglich dieser Spannungen so eng mit dem zeitweiligen Engagement für ein System des Terrors verbunden ist, wirft zuletzt folgende Frage auf, welche die weitere Interpretation des heideggerschen Denkens nach Sein und Zeit begleiten wird: Wie steht Heideggers Denken nach der Zeit des Rektorats zur Hinwendung zum deutschen Dasein? Das bedeutet: In welcher Weise begreift er den Menschen bzw. das ›Selbst‹ nun anders, als es der Entwurf des ›volklichen‹ Daseins tut?

41 Als Rektor musste Heidegger freilich deutlicher werden, wenn es etwa um konkrete Stellungnahmen zu hochschulpolitischen Themen oder die Einführung bestimmter Maßnahmen ging.

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Abschnitt III: Die Entdeckung Hölderlins und der Kunst

1.

Von der Arbeit zur Dichtung

Schon im letzten Paragraphen der Logik-Vorlesung verweist Heidegger auf ein Phänomen, welches eines der zentralen Themen seiner Vorlesungen und Vorträge der kommenden Jahre darstellen wird. Die Frage nach dem eigentlichen Ort der Sprache wieder aufgreifend bemerkt Heidegger am Ende der Vorlesung: »Das Wesen der Sprache bekundet sich nicht dort, wo sie vernutzt und verflacht, verdreht und verzwungen zum Verkehrsmittel und zum bloßen Ausdruck eines sogenannten Inneren herabgesunken ist. Das Wesen der Sprache west dort, wo sie als weltbildende Macht geschieht, d. h. wo sie das Sein des Seienden im voraus erst vorbildet und ins Gefüge bringt. Die ursprüngliche Sprache ist die Sprache der Dichtung.« (GA 38, 170)

Wurde über weite Strecken der Vorlesung die Arbeit als eigentliche Übernahme der Bestimmung präsentiert, so stellt Heidegger zuletzt das ›Wesen‹ der Dichtung als die wahre Kunde »von jenem Sein« vor, »das uns seit langem schon weit vorausgesprochen ist und das wir noch nie eingeholt haben« (GA 38, 170). Zu arbeiten bedeutete gerade, Gegenwart entschieden mitzugestalten – die Sprache des Dichters hingegen charakterisiert Heidegger nun als »nie heutig, sondern immer gewesen und zukünftig« (GA 38, 170). Präsentierte Heidegger also zunächst die Arbeit als ausgezeichnete Weise, das eigene geschichtliche ›Wesen‹ zu verwirklichen, so deutet er nun an, dass ›uns‹ in der Sprache des Dichters von unserem Wesen ›gekündet‹ werde, und zwar nicht in einer Sprache des ›Jetzt‹. Die Abwehr einer solchen Sprache bedeutet aber offenkundig weit mehr als eine implizite Kritik an einem unkritischen Verfallen an das, was gerade ›modern‹ ist. Letztlich behauptet Heidegger hier nicht nur, dass weniger der entschlossene Einsatz in der Arbeit als vielmehr das 422 https://doi.org/10.5771/9783495860137 © Verl

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Von der Arbeit zur Dichtung

aufgeschlossene Hören auf die Dichter das deutsche Volk zu sich selbst zu bringen vermag, sondern er legt auch nahe, dass dieses Zu-sichselbst-Kommen noch aussteht, möglicherweise gar in weiter Ferne liegt. Nun tritt Heidegger im März 1934 als Rektor der Freiburger Universität zurück. 1 Wenn die Hinwendung zur Dichtung am Schluss der Vorlesung vom SS 1934 eine deutliche Infragestellung der vorherigen Favorisierung des Arbeitseinsatzes darstellt, bedeutet dies zugleich, dass Heidegger hier eine ausdrückliche Abkehr vom Nationalsozialismus vollzieht? Tatsächlich treten ab der nächsten Vorlesung vom WS 1934/35 – zu Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« – neue Motive in den Vordergrund, welche eben noch zentrale Begriffe, wie den der Arbeit, verdrängen. 2 Auffällig ist auch, wie sehr sich Heidegger durch die Sprache Hölderlins ›inspirieren‹ lässt und dabei einigen zentralen Motiven aus dessen Gedichten einen Ort in seinem eigenen Denken einräumt – z. B. greift er Hölderlins Rede vom »Heiligen«, der »Innigkeit« und den »Göttern« auf. Doch ebenso wenig wie sich Heideggers Philosophie um 1933/34 als unmittelbare Verkündung nationalsozialistischer Ideologie beschreiben lässt, kann man nun in Heideggers Denken einen ›sauberen Schnitt‹ diagnostizieren, der all das unbedeutsam werden lässt, was in den Semestern zuvor zum Wesen des Menschen gesagt wurde. 3 Zu den konkreten Umständen siehe Ott 1988, 224 ff. Zur umfassenden Behandlung der Frage, inwieweit Heidegger sich nun neuen Motiven zuwendet, wäre eine Einbeziehung der Mitschriften und Protokolle zu seinen Seminaren nach 1933/34 unumgänglich. Während Faye in seinem Buch Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie sich gerade auf diese Quellen stützt, um seine These einer durch und durch vom Nationalsozialismus inspirierten Philosophie Heideggers zu untermauern, zeichnet Zaborowski ein differenzierteres Bild dieser Veranstaltungen, das direkten politischen Bezügen ebenso nachspürt wie ersten deutlichen Distanzierungsbewegungen; siehe Holger Zaborowski, »Eine Frage von Irre und Schuld?« Martin Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2010, 405 ff. 3 Interpreten, welche die Hölderlin-Auslegungen als vollkommen ›unpolitische‹ Texte lesen, ignorieren zwangsläufig jene Stellen, die an die vorherigen Vorlesungen anschließen, und übergehen vollkommen, dass Heidegger Politik und abendländische Metaphysik hier konsequent zusammendenkt; vgl. zu solch einer Lesart etwa Susanne Ziegler, Heidegger, Hölderlin und die 3Alffiqeia. Martin Heideggers Geschichtsdenken in seinen Vorlesungen 1934/35 bis 1944, Berlin 1991. Als kritische Deutungen der HölderlinAuslegungen vgl. hingegen Otto Pöggeler, »Nietzsche, Hölderlin und Heidegger«, in: Martin Heidegger – Faszination und Erschrecken. Die politische Dimension einer Phi1 2

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Die Entdeckung Hölderlins und der Kunst

Schließlich verweist die oben zitierte Bemerkung zum von ›uns‹ noch nie eingeholten Sein und die in ihr versteckte Andeutung, dass das deutsche Dasein gegenwärtig noch nicht zu sich gekommen sei, nicht auf eine Erkenntnis des menschenverachtenden Kerns der nationalsozialistischen Ideologie. Vielmehr legt sie nahe, dass die »innere Wahrheit und Größe« 4 des Nationalsozialismus – wie Heidegger ihn sieht – verdeckt werde durch fehlgeleitete Entwicklungen innerhalb der ›Bewegung‹, oder besser: durch eine gehemmte Entschlossenheit der ›Bewegung‹, welche die Revolutionskraft schwächt.5 Es stellt sich also wie bei der Beurteilung des heideggerschen Denkens in den Jahren unmittelbar nach Sein und Zeit die Frage, welche konkreten Veränderungen und Umwertungen Heideggers Konzeption in der Zeit nach dem Rektorat bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges aufweist, d. h. wo er an bereits bekannte Motive anschließt und wo er sich von Früherem distanziert. 6 Um dieser Frage nachzugehen, muss zunächst die Deutung des Dichtens als eines eigentlichen Schaffens und dessen Bedeutung für das Wesen des Menschen in den Blick genommen werden. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Ausführungen in der Hölderlin-Vorlesung vom WS 1934/35. 7 losophie, hrsg. von Peter Kemper, Frankfurt a. M./New York 1990, 178–195 und Annemarie Gethmann-Siefert, »Heidegger und Hölderlin. Die Überforderung des ›Dichters in dürftiger Zeit‹«, in: Gethmann-Siefert/Pöggeler 1988, 191–227. 4 Siehe EM 152. Bekanntlich will Heidegger schon 1935 diese Charakterisierung um eine in Klammern gesetzte Ergänzung erweitert haben, die darauf hinweist, mit der ›Größe‹ sei die »Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen« gemeint; siehe zur Diskussion um diese höchstwahrscheinlich später erst eingefügte Klammer Ott 1988, 276 ff. sowie Thomä 1990, 624 f. 5 Zu Heideggers kritischen Bemerkungen über unter Anleitung des NS-Regimes durchgeführte Maßnahmen etwa im hochschulpolitischen Bereich siehe die Ausführungen in Kapitel 5 zu Kunst und Künstlichkeit. 6 Eine andere Frage ist die nach Heideggers Verhalten auf der politischen Bühne nach dem Rektorat; siehe dazu Bernd Martin, »Martin Heidegger und der Nationalsozialismus – der historische Rahmen«, in: ders. 1989, 14–50, hier: 38 ff. Hier wird gezeigt, dass Heidegger diese Bühne nach dem Rücktritt nicht konsequent geschmäht hat, sondern u. a. auf Anfrage des preußischen Kultusministeriums hin einen konkreten Entwurf für eine geplante »Reichsdozentenakademie« vorlegte. Siehe dazu auch die Reden und Vorträge nach dem Rektorat, die in GA 16 veröffentlicht sind. 7 Heideggers Umgang mit den Dichtungen Hölderlins kann dabei nicht nach seiner Angemessenheit oder Unangemessenheit beurteilt werden; vgl. zu den vielfach vorgebrachten kritischen Einwänden Christoph Jamme, »Dem Dichten vor-denken. Aspekte von Heideggers ›Zwiesprache‹ mit Hölderlin im Kontext seiner Kunstphilosophie«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 38 (1984), 191–218, hier: 212 ff.

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Schaffen als ein »Stiften«

2.

Schaffen als ein »Stiften«

Gleich zu Beginn dieser Vorlesung wird deutlich: Ein echter Aufbruch, der jedoch gerade im Rückgang auf Ursprüngliches bestehen soll, wird nun in der Dichtung Hölderlins gesucht; die Kunst wird als ausgezeichnete Möglichkeit eigentlicher Erschlossenheit bzw. Entschlossenheit vorgestellt. 8 Der neue Ruf lautet entsprechend: »[…] wir wollen uns und die Kommenden unter das Maß des Dichters bringen.« (GA 39, 4) Hölderlin wird von Heidegger in dieser Vorlesung nun erstens präsentiert als der »Dichter des Dichters« (GA 39, 30), zudem begreift Heidegger ihn als den »Dichter der Deutschen« (GA 39, 214). Mit der ersten Charakterisierung möchte Heidegger hervorheben, dass gerade Hölderlins Gedichte uns eindringlich vom Wesen der Dichtung und der Sprache – letztlich vom Sein des Menschen als einem sprechenden Wesen überhaupt – Kunde geben. Die zweite Deutung Hölderlins als des »Dichters der Deutschen« lässt ahnen, dass Heidegger in dieser Vorlesung erneut eine Bestimmung des Volkseins vornehmen wird und die Geschichtlichkeit des Daseins als eines Wirseins zum Schaffen des Dichters in Beziehung setzt. Das Wesen der Dichtung bestimmt Heidegger nun in Abgrenzung von anderen – traditionellen und populären – Auffassungen folgendermaßen: Echte Dichtung erringe eine »Offenbarung des Seyns« (GA 39, 6). Das bedeutet nach Heidegger zweierlei: Dichtung schildert weder bloßes Seiendes ab, noch entspringt sie der Innerlichkeit eines Dichtergenies. 9 Wie aber lässt sich die ›Tätigkeit‹ des Dichters konkreter fassen, wenn er mit seinem Werk eine ›Offenbarung‹ des Seienden im Ganzen bzw. des Seins erwirkt? In Anlehnung an den letzten Vers der Hölderlin-Hymne »Andenken« bezeichnet Heidegger das Schaffen des Dichters als ein »Stiften«. 10 Dieses meint nach Heidegger zunächst Auffällig ist dabei, wie krampfhaft Heidegger versucht, Hölderlins Dichtung von jeglicher ›Romantik‹ – d. h. hier Schwärmerei – freizusprechen; vgl. GA 39, 17 f. 9 Heidegger führt in dieser Vorlesung auch Auffassungen von Dichtung von Spengler, Rosenberg und Kolbenheyer an und kritisiert sie scharf; vgl. GA 39, 26 f. Siehe auch folgenden Kommentar: »Vor kurzem noch suchte man nach den psychoanalytischen Untergründen der Dichtung, jetzt trieft alles von Volkstum und Blut und Boden, aber es bleibt alles beim alten.« (GA 39, 254) 10 Der Vers lautet: »Was bleibet aber, stiften die Dichter«; vgl. Hölderlin 1999, 362. In »Der Ursprung des Kunstwerkes« begreift Heidegger das Wesen der Kunst ebenfalls als Stiftung – Stiftung der Wahrheit – und bedenkt das Stiften in einem dreifachen Sinn: als Schenken, Gründen und Anfangen; vgl. Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunst8

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einmal, »das, was noch nicht ist, in seinem Wesen zum voraus erstmals [zu] entwerfen« (GA 39, 214). Er betont aber sogleich, dass dieses Entwerfen nicht als ein »Erfinden« oder »Erdenken« verstanden werden dürfe, sondern – so heißt es in einem späteren Text zu Hölderlin – als ein »Finden« begriffen werden müsse. 11 Dieses ›Finden‹ mache jedoch keinen Gegenstand dingfest, sondern das Stiften sei als ein »Schaffen, das keinen Gegenstand hat und nie Vorhandenes nur be-singt, immer ein Ahnen, ein Harren, ein Kommen-sehen« (GA 39, 257). Dichtung sei »das Wort dieses Geahnten« bzw. dieses Ahnen »selbst als Wort« (GA 39, 257). Der Dichter stellt also laut Heidegger nichts her im Sinne eines allein aus ihm selbst schöpfenden Schaffens, sondern seine Rede offenbart vielmehr, dass »der Mensch als der Zeuge des Seyns« (GA 39, 61) inmitten des Seienden lebt. Wenn Heidegger in »Der Ursprung des Kunstwerkes« also betont, alles Schaffen sei ein »Schöpfen«, was der »moderne Subjektivismus« völlig verkenne, dann soll mit dem Schöpfen hier ein Hervorholen gemeint sein, das sich mit dem Holen des Wassers von der Quelle vergleichen ließe. 12 Somit lässt die Dichtung nach Heidegger aber gerade das sehen, was den Menschen überhaupt ausmacht: unter der ›Macht‹ der Sprache zu stehen. Heidegger: »Kraft der Sprache ist der Mensch Zeuge des Seyns.« (GA 39, 62) Das bedeute zugleich: »Nur wo Sprache, da waltet Welt.« (GA 39, 62) Angelehnt an die Bestimmung des Dichtens als eines Stiftens lässt sich also sagen: Heidegger spricht der Sprache hier ausdrücklich zu, je eine Welt zu entwerfen, jedoch ohne Welt dabei zu ›erschaffen‹. Um das Verhältnis zwischen dem sprechenden Menschen und der im Sprechen ›gestifteten‹ Welt näher zu umschreiben, greift Heidegger nun um 1935 auf unterschiedliche Motive zurück. Von einem Vers Hölderlins ausgehend, den auch Buber zitiert, um das Sein des Menschen zu charakterisieren, 13 begreift Heidegger in der Vorlesung vom WS 1934/35 das ›Wesen‹ des Menschen selbst als ein Gespräch: »Unser werkes«, in: ders., Holzwege, 6., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1980, 1–72, hier: 63. Der Band wird im Folgenden zitiert als Hw. 11 Vgl. Martin Heidegger, »›Heimkunft/An die Verwandten‹«, in: ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1981 (GA 4), 9–31, hier: 15. Siehe auch GA 39, 217, wo Heidegger hervorhebt, das »ursprüngliche Sagen des Dichters« sei »als Stiften kein willkürliches Erfinden«. 12 Vgl. Hw 62. 13 Gemeint sind die Zeilen »Seit ein Gespräch wir sind/Und hören können voneinan-

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Schaffen als ein »Stiften«

Seyn geschieht […] als Gespräch, sofern wir, so angesprochen sprechend, das Seiende als ein solches zur Sprache bringen, das Seiende in dem, was es und wie es ist, eröffnen, aber auch zugleich verdecken und verstellen.« (GA 39, 70) Dieses ursprüngliche ›Gespräch-sein‹, welches das »Grundgeschehnis der Ausgesetztheit in das Seiende« (GA 39, 73) überhaupt bedeuten soll, stellt nach Heidegger nun erst den Grund für jedes konkrete Miteinandersprechen zwischen Menschen – also das Gespräch im alltäglichen Sinne – dar. In der Vorlesung im nächsten Semester – Einführung in die Metaphysik – schildert Heidegger jedoch das Schaffen des Dichters eher als einen Kampf: 14 Die echten Schaffenden – das seien Dichter, Denker, Staatsmänner 15 – »werfen dem überwältigenden Walten den Block des Werkes entgegen und bannen in dieses die damit eröffnete Welt« (EM 47). So erst komme »das Walten, die yÐsi@, im Anwesenden zum Stand« (EM 47). Diese Schilderung findet eine Entsprechung in der später vorgenommenen Interpretation des ersten Chorliedes der Antigone von Sophokles, wo der Mensch als t deintaton (das Furchtbarste) bezeichnet wird. Heidegger deutet das deinn 16 nun einerseits als »das Furchtbare im Sinne des überwältigenden Waltens« (EM 114), andererseits als das »Gewaltige im Sinne dessen, der die Gewalt braucht« (EM 115). Der Mensch sei somit als der oder das ›Furchtbarste‹ zu charakterisieren, weil er dem überwältigenden Walten des Seienden im Ganzen ausgesetzt sei, in diesem Ausgesetztsein aber selbst als ein »Gewalt-tätiger« existiere, indem er das Waltende in Werken banne. Die »Erschlossenheit des Seienden« wird von Heidegger hier der«; vgl. auch Martin Heidegger, »Hölderlin und das Wesen der Dichtung«, in: GA 4, 33–48, hier: 38 f. In Bezug auf Buber siehe W I, 474, NL 71 f. und MBW VI, 123. 14 Das Motiv des Kampfes im Sinne eines Streites prägt schließlich auch Heideggers Deutung des Wesens der Kunst in »Der Ursprung des Kunstwerkes«, wo das Wesen der Wahrheit als Streit zwischen Welt und Erde charakterisiert wird. 15 Auch im WS 1934/35 präsentiert Heidegger Dichter, Denker und Staatsschöpfer als die »eigentlich Schaffenden«; vgl. GA 39, 51. Siehe auch Hw 48. Allerdings deutet sich in der Einführung in die Metaphysik eine deutlichere Differenzierung zwischen dem politisch Handelnden und dem Denker an; vgl. etwa EM 8. Auch im WS 1934/35 spricht Heidegger jedoch schon von einer jeweiligen Vereinzelung von Dichten, Denken und Handeln, die jedoch auf eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit verweise; vgl. GA 39, 184. 16 In Vom Wesen der Wahrheit übersetzte Heidegger hingegen ›deinn‹ mit Angst und betonte, es sei die »Angst, die nur der große und heldische Mensch kennt« (GA 36/37, 95; Fn. 5).

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entsprechend bestimmt als »jene Gewalt, die der Mensch zu bewältigen hat, um in Gewalt-tätigkeit allererst inmitten des Seienden er selbst, d. h. geschichtlich zu sein« (EM 120). Es zeigt sich insgesamt, dass Heideggers Beschreibungen der Dichtertätigkeit um 1935 recht ambivalent ausfallen: Alle Charakterisierungen zeichnet freilich das Bestreben aus, das Dichten nicht als fesselloses Schaffen eines den ›Nabel‹ der Welt darstellenden Subjekts zu begreifen – Dichtung ist für Heidegger eindeutig kein »Gemächte« des Menschen. 17 Vielmehr lässt der Dichter nach Heideggers Bestimmung das Walten des Seienden zu Wort kommen, in das er – als menschliches Wesen – immer schon eingelassen ist. Seine ausgezeichnete Rolle besteht in der ausdrücklichen Bezeugung des ›Waltens‹ des Seienden in seinem Sein. Andererseits zeigt der Rückgriff auf das Kampf- und Gewaltmotiv in der Einführung in die Metaphysik, dass der Mensch mit Heideggers Konzeption um 1935 auch noch als ein ›Täter‹ beschreibbar ist, der dem ihn umwaltenden Seienden eine eigene Macht entgegensetzt.

3.

Dichtung als die »Ursprache eines Volkes«

Neben der Dimension des Entwerfens ist der Stiftung, welche im Dichten liegt, nach Heidegger nun ein zweites Merkmal eigen: Das Stiften »rette« das im Entwurf Gestiftete »als bleibendes Andenken an das eröffnete Wesen des Seyns« (GA 39, 214). Entwerfen und Andenken – beide Geschehnisse verweisen auf Zeitlichkeit, auf Zukünftiges und Gewesenes. Tatsächlich präsentiert Heidegger die Dichtung neben dem Denken und dem Sagen als eine der »drei Mächte«, die »unserem ursprünglichen, geschichtlichen Dasein zuinnerst zugehören« (GA 39, 6), oder nennt sie – an anderer Stelle – das »Grundgefüge des geschichtlichen Daseins« (GA 39, 76). Indem Heidegger im WS 1934/35 mit einer Interpretation von Hölderlins Hymne »Germanien« beginnt, kann er den Bezug der DichVgl. GA 39, 36. Entsprechend versteht Heidegger den Prozess der Gedicht-Interpretation als ein Einrücken in den »Machtbereich der Dichtung« (GA 39, 19). Bemerkenswert ist auch seine Deutung des Verstehens in diesem Zusammenhang: »Das Verstehen ist eigentlich – in seinem ursprünglichen Wesen genommen – das Wissen des Unerklärbaren, nicht als würde es dieses erklären und so das Erklärte beseitigen, sondern das Verstehen läßt gerade das Unerklärbare als ein solches stehen.« (GA 39, 247) 17

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tung zum geschichtlichen Sein des Daseins als eines Volkes jedoch herstellen, ohne ausführlicher auf die Geschichtlichkeit des menschlichen Seins sowie die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem ›Ich bin‹ und dem ›Wir sind‹ einzugehen. 18 Vielmehr deutet er »Germanien« von vornherein als ›Kunde‹ des Dichters, die vor allem folgende Frage erwachsen lässt: Wer sind wir selbst – d. h. wir als Deutsche? Im Ausgang von Hölderlins Werk begreift Heidegger dementsprechend Dichtung ganz selbstverständlich als die »Ursprache eines Volkes« (GA 39, 64). Wenn ›wir‹ also zu uns selbst kommen wollen – das bedeutet für Heidegger: uns selbst ›wollen‹ wollen –, 19 dann müssen wir auf einen Dichter hören, der zu einer anderen Zeit lebte und dichtete, dessen eigentliche Zeit aber noch nicht gekommen ist, denn: »Wir wissen nicht nur nicht, wer wir sind, wir müssen am Ende sogar erst und gerade teilnehmen an der Dichtung, um allererst die notwendige Bedingung dafür zu schaffen, daß es die Zeit wird, in der wir dann überhaupt erfahren können, wer wir sind.« (GA 39, 59) Hölderlins Dichtung gründet also nach Heidegger »einen Ort des Daseins, in dem wir noch nicht stehen, wo aber das dichterische Sagen uns hinzwingen will« (GA 39, 113). An diesen Ort gelangen wir, »wenn wir das stiftend gründende Sagen, das, was jetzt gesagt wird, entsprechend verstehen, d. h. wollen, daß wir auf den Grund kommen, der im stiftenden Gründen gelegt wird« (GA 39, 113). Hölderlin als den Dichter zu erkennen, der »die Deutschen erst dichtet« (GA 39, 220), und somit eine Aufgabe für die Zukunft 20 des deutschen Volkes zu formulieren – dies sieht Heidegger nun offen18 Einmal geht Heidegger in dieser Vorlesung jedoch ausdrücklich auf das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft ein: Dichtung präsentiert er dabei als »Zusammenriß des eigensten Wesens des Einzelnen, wodurch er in den Grund seines Daseins zurückreicht« (GA 39, 8). Diesem Wesen des Einzelnen setzt er dann als ursprünglichere Dimension eine Gemeinschaft entgegen, die »schon im voraus geschehen« sei; vgl. GA 39, 72. Dabei kommt Heidegger bezeichnenderweise noch einmal auf den Tod zu sprechen, allerdings auf einen ganz bestimmten Tod, nämlich den des Frontsoldaten. Erst die Bereitschaft zu diesem Tod schafft nach Heidegger nun den Boden für echte Gemeinschaft (hier: die Kameradschaft der Soldaten); vgl. GA 39, 73. 19 Zum Sich-wollen des Volkes siehe GA 39, 144. 20 Auffällig ist dabei Heideggers konsequente Hervorhebung der Nicht-Datierbarkeit dieses Zusichkommens der Deutschen; vgl. GA 39, 56. Der ›geschichtliche Augenblick‹ des deutschen Volkes lässt sich nach Heidegger nun also nicht mehr mit einem konkreten Datum verbinden – z. B. 1933 –, sondern liegt wie der Tod in Sein und Zeit in einer gerade nicht festlegbaren Zukunft.

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sichtlich als seinen ›politischen‹ Auftrag nach dem Rücktritt vom Rektorat an. Die Rolle des Philosophen – bzw. des Philosophen Martin Heidegger – ist also nach dessen eigener Selbsteinschätzung, den anzukündigen, der »Künder und Rufer« für diejenigen ist, »die selbst in eine Berufung als Bauleute am neuen Bau der Welt gestellt sind« (GA 39, 221). Entsprechend behauptet Heidegger: »Weil Hölderlin dieses Verborgene und Schwere ist, Dichter des Dichters als Dichter der Deutschen, deshalb ist er noch nicht die Macht in der Geschichte unseres Volkes geworden. Weil er das noch nicht ist, muß er es werden. Hierbei mitzuhalten ist ›Politik‹ im höchsten und eigentlichen Sinne, so sehr, daß, wer hier etwas erwirkt, nicht nötig hat, über das ›Politische‹ zu reden.« (GA 39, 214) 21

Als solche Künder und Ankünder übernehmen Philosoph und Dichter im Rahmen der heideggerschen Konzeption zweifelsohne eine ausgezeichnete Rolle, welche sie von dem Volk, zu dem sie sprechen, deutlich abhebt. Tatsächlich bezeichnet Heidegger die ›echten‹ Dichter in Anlehnung an Hölderlin auch als »Halbgötter«. 22 Gerade Hölderlin eine solch ausgezeichnete Stellung zuzusprechen liegt nach Heidegger nun auch deshalb nahe, weil seine Dichtung – Heideggers Deutung nach – von einer bestimmten Grundstimmung getragen ist, welche ein Geschehen offenbar macht, das bislang im Verborgenen lag und von keinem anderen Denker oder Dichter so deutlich ›erahnt‹ wurde wie von Hölderlin. Diese Grundstimmung lässt sich laut Heidegger als »heilig trauernde, aber bereite Bedrängnis« 23 beschreiben. Trauer worüber? Heidegger: Trauer wegen des »Verzichtenmüssen[s] auf das Rufen der alten Götter« (GA 39, 87), welches in den ersten Versen von »Germanien« beispielhaft ausgesprochen wird. Die Dichtungen Hölderlins künden nach Heidegger also von einem tiefen Verlust, einer fundamentalen Verlassenheit – sie erschließen die Siehe auch folgende Bemerkung zum »Handeln« des Dichtens und Denkens im WS 1941/42: »Hier öffnet sich ein eigener Raum eines geschichtlichen Handelns, das nicht der ›Taten‹ bedarf, um zu wirken und nicht der ›Wirkungen‹, um zu sein.« (Martin Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, hrsg. von Curd Ochwadt, Frankfurt a. M. 1982 (GA 52), 27) 22 Vgl. GA 39, 163 ff. Was diese Rede vom Halbgott neben einer kaum zu leugnenden Heroisierung Hölderlins – und impliziten Selbstheroisierung Heideggers – bedeuten könnte, wird im folgenden Kapitel deutlicher werden. 23 Zur Abgrenzung dieser Trauer von Sentimentalität und Verzweiflung siehe GA 39, 81 f. 21

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Dichtung als die »Ursprache eines Volkes«

»Flucht der Götter« und machen so die »Not der Götterlosigkeit« offenbar. 24 Hölderlins Dichtung spricht hier aber laut Heidegger gerade nicht über ein Ereignis, das lediglich einer bestimmten geistesgeschichtlichen Epoche der Weltgeschichte zugeordnet werden kann, sondern der Dichter »sagt hier, d. h. er sagt es stiftend, wie das Seyn geschieht, vormals und künftig« (GA 39, 98). Hölderlins Dichtung offenbart eine »Wesensgesetzlichkeit«, so dass sie nach Heidegger eben auch dem Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland lebenden Menschen etwas über sein Sein in der Verschränkung von Gewesenheit und Zukünftigkeit zu sagen hat. Die Zukunftsbezogenheit der bei Hölderlin dichterisch sich aussprechenden Trauer über die Götterlosigkeit liege nun darin, dass diese Trauer nicht einfach einst Vergangenes beklagt; vielmehr deutet Heidegger das Sichfügen in den Verzicht auf das Rufen der alten Götter gerade als »die einzig mögliche, entschlossene Bereitschaft für das Erharren des Göttlichen« (GA 39, 95). Das Aushalten des Verzichts sei gerade »das Bewahren ihrer Göttlichkeit« (GA 39, 95), welches den Weg für eine »neue Ankunft der Götter« (GA 39, 100) bereite. Die Geschichtlichkeit des Daseins als Volk entpuppt sich also in dieser Sicht Heideggers als ein Angesprochensein durch das ›Wesen‹ der Götter – durch ihr einstiges Gewesensein und künftiges erneutes Anwesen: »Das Gewesene […] ist das noch Wesende, das wir in gewisser Weise selbst sind, indem wir es, es vor uns bringend, es bewahrend und nach vorne tragend oder auch es abstoßend oder vergessen wollend, in unser Da-sein hereinstehen lassen. Die Schatten derer, so gewesen sind, besuchen uns neu, kommen auf uns zu, sind zu-künftig.« (GA 39, 108)

Dem Wohnort der Götter entgegengesetzt ist aber laut Heideggers Hölderlin-Deutung die Erde. 25 Die Grundstimmung von Hölderlins Dichtung ist nach Heidegger »entrückend zu den Göttern und einrückend in die Erde zugleich« (GA 39, 140). Das ›Wesen‹ der Götter steht mit der Erde und deren Gestaltung nach dieser Interpretation also 24 Vgl. GA 39, 95 ff. sowie EM 29. Während Heidegger 1933 eine das Dasein zur Entscheidung drängende Not als bereits gekommen sah, behauptet er nun, eine »Gesamtbedrohung des geistig-geschichtlichen Daseins«, die einen fundamentalen Wandel herbeiführen könnte, sei noch nicht erreicht; vgl. GA 39, 113. 25 Anders als in »Der Ursprung des Kunstwerkes«, wo Heidegger das Wesen des Kunstwerks als Aufstellen einer Welt und Herstellen der Erde deutet, wird die Erde hier jedoch nicht explizit als ›etwas‹ begriffen, dessen Wesen gerade ein Sichverschließen ausmacht.

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in einem innigen Zusammenhang: Die Erde ist »im vorhinein erfahren in der Helle eines fragenden Wissens um die geschichtliche Sendung eines Volkes« (GA 39, 104). Nicht als rein poetische Naturschilderungen lassen sich zentrale Passagen der Hölderlin-Gedichte nach Heidegger angemessen verstehen, sondern Hölderlins Werk bezeuge, dass die Erde als »heimatliche« Erde »für die Götter erzogen« (GA 39, 104) ist und dass das Einrücken in das geschichtliche Dasein zugleich ein Einrücken in die »erdhafte, landschaftliche Verwurzelung« (GA 39, 181) bedeutet. 26 Heimat entpuppt sich dann als »die Macht der Erde« (GA 39, 88), auf welcher der geschichtlich seiende Mensch – erneut mit Hölderlin gesprochen – »dichterisch wohnet« (GA 39, 88).

4.

Die »Flucht der Götter« – Heideggers Diagnose zum Zustand des Abendlandes

Doch was bedeutet diese Hölderlin entlehnte Rede von den ›geflohenen Göttern‹ im Rahmen der heideggerschen Konzeption um 1935? Inwieweit kann Heidegger als Philosoph dieses Motiv aufgreifen, ohne nichts anderes als eine weitere Dichtung zu liefern? 27 Der Hinweis auf folgende Bezugspunkte könnte die Rede von der ›Götterflucht‹ bei Heidegger erhellen: Erstens verweisen die ›alten Götter‹ auf das Erbe, welches uns von den Griechen – der griechischen Philosophie und Dichtung – her überliefert ist. Weiterhin kann die ›Götterlosigkeit‹ als Bild 28 verstanden werden für die Verdecktheit oder Verstelltheit des 26 Das »Vaterland« begreift Heidegger nun 1934/35 als »das Seyn selbst, das von Grund aus die Geschichte eines Volkes als eines daseienden trägt und fügt« (GA 39, 121). 27 Da Heidegger jedoch das Sprechen selbst schon als ein ›Dichten‹ in einem spezifischen Sinne begreift und schon 1934/35 dazu neigt, Dichten und Denken in eine enge Nachbarschaft zueinander zu rücken (vgl. GA 39, 5 f.), müsste hier strenggenommen zwischen einer Dichtung im weiten Sinne (das Sagen und das Denken) und einer Dichtung im engen Sinne (das Gedicht) unterschieden werden. 28 Siehe Heideggers Ausführungen zur Metapher im WS 1941/42 (GA 52, 39 f.). Er betont, dass nicht zunächst die Dinge erschlossen seien, um dann zu Symbolen zu werden, sondern dass die Dinge selbst je schon »gedichtet« seien, weil sie aus der durch Sprache eröffneten Welt heraus begegneten. Ein Semester später liefert er eine scharfe Kritik an der vermeintlichen Sinnbildhaftigkeit der Dichtung, indem er diese Vorstellung in die metaphysische Tradition der Unterscheidung zwischen Sinnlichem und Nichtsinnlichem einreiht. Hölderlins Dichtung sei gerade nicht sinnbildlich; vgl. GA 53, 30.

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Die »Flucht der Götter« – Heideggers Diagnose zum Zustand des Abendlandes

wahren Wesens des Menschen und – dies wird in der Einführung in die Metaphysik offenbar – für die Vergessenheit der Frage nach dem Sein als solchem. 29 Drittens verlangt diese Diagnose einer ›Götterflucht‹ geradezu nach einer Bezugnahme auf Nietzsches Verkündung vom ›Tode Gottes‹. Damit sind jedoch die – neben Hölderlin – für die heideggersche Philosophie der 30er Jahre besonders zentralen Figuren angesprochen: Nietzsche und die Vorsokratiker. Während Heideggers intensive Auseinandersetzung mit Nietzsche jedoch erst ab dem WS 1936/37 einsetzt, stellt Heidegger den Bezug zwischen Hölderlin und den Vorsokratikern schon im WS 1934/35 ausdrücklich her, 30 wenn er behauptet, bei Hölderlin sei »jenes Verständnis des Seyns nahe und wieder mächtig, das im Anfang der abendländischen Philosophie an die Macht kam und seitdem […] insbesondere das deutsche Denken und Wissen seit Meister Eckhart beherrschte« (GA 39, 123). Hölderlin – »unter der Macht des Heraklitischen Gedankens« (GA 39, 133) stehend – eröffnet mit seiner Dichtung nach Heidegger also die Möglichkeit einer echten Aneignung des ›uns‹ von den Griechen ursprünglich Zugesprochenen. 31 Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Heideggers in der Einführung in die Metaphysik unternommene Deutung des Zusammenhangs zwischen yÐsi@ und lgo@. Bei Platon und Aristoteles schon erste, deutliche ›Verfallserscheinungen‹ bezüglich der Bestimmung von lgo@ und yÐsi@ diag-

29 Vgl. EM 29, wo Heidegger die aktuelle geschichtliche Situation des ›Planeten‹ beurteilt, indem er sie auf das Verhältnis des Menschen zum Sein überhaupt bezieht und dabei – ohne Anführungszeichen zu benutzen – von einer Flucht der Götter spricht. Bemerkenswert ist auch, dass Heidegger im WS 1934/35 – die Orthographie der Zeit Hölderlins übernehmend – beginnt, mitunter ›Seyn‹ statt ›Sein‹ zu schreiben; allerdings lässt sich hier noch keine systematische Unterscheidung zwischen beiden Schreibweisen ausmachen. 30 Den Vorsokratikern – Heraklit, Parmenides und Anaximander – hat sich Heidegger allerdings schon einige Semester früher zugewandt; siehe etwa die Vorlesung Vom Wesen der Wahrheit (WS 1931/32), wo Heidegger die Notwendigkeit eines Rückgangs hinter Platon deutlich formuliert. 31 Dabei werden Hölderlin und Heraklit zwar nicht als ›Stammesbrüder‹ vorgestellt, doch Heidegger bezeichnet hier den Namen ›Heraklit‹ als »Urmacht des abendländischgermanischen geschichtlichen Daseins« und setzt so nicht nur jede echte Philosophie mit abendländischer Philosophie gleich, sondern begreift diese zugleich als im Wesen ›germanische‹ ; vgl. GA 39, 134. Auch spricht er im WS 1934/35 dezidiert von der »griechisch-deutschen Sendung«; vgl. GA 39, 151.

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nostizierend, wendet er sich hier vor allem Heraklit und Parmenides zu. 32 Wenn – wie bei den Vorsokratikern – das Sein des Seienden als »das aufgehende und in sich zurückgehende Walten« 33 entdeckt sei und der lgo@ als »Sammlung und Vernehmung des Seins des Seienden« (EM 131), dann offenbare sich der Mensch als »der im Logos, in der Sammlung, Stehende und Tätige: der Sammler. Er übernimmt und vollbringt die Verwaltung des Waltens des Überwältigenden.« (EM 132) So wurde – nach Heideggers Deutung – der Mensch vor Platon und Aristoteles als der »Verwahrer des Seins« (EM 108) begriffen, bevor sich die Auffassung vom Wesen des Menschen grundlegend wandelte und als Endpunkt dieser Wandlung ein Zustand erreicht ist, in dem wir laut Heidegger seit langem schon stehen: die »Herrschaft des Denkens als ratio (als Verstand sowohl wie als Vernunft) über das Sein des Seienden« (EM 136). Hölderlins Dichten von der Götterflucht kündet nach Heidegger also – in der ›Macht‹ des vorsokratischen Denkens stehend – von der Verdeckung des ursprünglichen Bezugs des Menschen zum Sein, der im Verlauf der abendländischen Philosophie immer mehr verschüttet und entstellt wurde, auf dessen Wiederherstellung jedoch geharrt werden muss. So wird der Mensch zwar bei Heidegger um 1935, wie gesehen, noch als ›Gewalt-täter‹ beschrieben, der das Sein des Seienden im Werk ›zum Stand‹ bringt, doch verweist die Rede vom Menschen als »Zeuge« und »Verwahrer« des Seins bereits auf das Bestreben, das Wesen des Menschen ganz aus seinem Bezug zum Sein selbst zu verstehen – einem Bezug, der keine ›Gewalt‹ des Menschen als echten Zugang zum Sein zulässt. Entsprechend bezeichnet Heidegger an anderer Stelle in der Einführung in die Metaphysik den Menschen als den »Zwischenfall, in dem plötzlich die Gewalten der losgebundenen Übergewalt des Seins aufgehen und ins Werk der Geschichte eingehen« (EM 125), und behauptet schließlich ausdrücklich: »Das Wesen und die

Vgl. zur Diagnose bezüglich der platonischen und aristotelischen Philosophie EM 130. Als ausführlichere Diskussion der verschiedenen Phasen von Heideggers Rückgang zu den Griechen und der zentralen Momente dieses Zurückgehens zum ›Anfang‹ siehe Michael Theunissen, »Heideggers Antike«, in: Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, hrsg. von Bernd Seidensticker und Martin Vöhler, Stuttgart/Weimar 2001, 83–97. 33 Martin Heidegger, Der Wille zur Macht als Kunst, in: ders., Nietzsche. Erster Band, Pfullingen 1961, 11–254, hier: 96. Im Folgenden wird der Band zitiert als N I. 32

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Kunst und Künstlichkeit – Erste Hinweise auf das ›Wesen‹ der Technik

Weise des Menschseins kann sich […] nur aus dem Wesen des Seins bestimmen.« (EM 106) 34 Mit der die Gedichte Hölderlins beherrschenden ›Trauer‹ hat Heidegger also offensichtlich eine Stimmung entdeckt, die den Menschen im Sichzurückbringen auf das eigene Sein zugleich vor das Sein überhaupt bringen soll – oder vorsichtiger formuliert: Die Trauer erschließt zumindest die Seinsverlassenheit. 35 Die Erschlossenheit der Entfremdung des Menschen vom Sein selbst wird aber um 1935 von Heidegger eindeutig mit der – offensichtlich ausgezeichneten – Rolle des deutschen Volkes zusammengedacht, was die abschließenden Worte der Hölderlin-Vorlesung vom WS 1934/35 noch einmal eindringlich vor Augen führen: »Die Stunde unserer Geschichte hat geschlagen. Wir müssen das Mitgegebene erst wieder in die reine Verwahrung nehmen, aber nur, um das Aufgegebene zu begreifen und zu ergreifen, d. h. zu ihm uns vor- und hindurchfragen. Die Gewalt des Seyns muß für das Fassenkönnen erst wieder und wirklich zur Frage werden.« (GA 39, 294)

5.

Kunst und Künstlichkeit – Erste Hinweise auf das ›Wesen‹ der Technik

Mit der Hinwendung zur Kunst stellt Heidegger ein Phänomen in den Mittelpunkt, welches – seiner Deutung nach – in ausgezeichneter Weise eine Offenbarung des Seins ›ins Werk setzen‹ kann. Dass es sich beim echten Kunstwerk gerade nicht um die Erfindung eines genialen Künstlersubjekts handelt, darauf heben Heideggers Interpretationen des Kunstschaffens um 1935 beständig ab. Als Zerrbild des echten Of34 Einerseits wird somit klar formuliert, was sich schon im WS 1929/30 andeutete, als Heidegger das Versetztsein des Menschen in die »Übermacht des Seins« hervorhob; vgl. GA 36/37, 100. Andererseits dominieren hier immer noch Motive, welche aus den früheren Überlegungen zur Frage nach dem Sinn von Sein bekannt sind. Entsprechend behauptet Heidegger in einer späteren Selbstkritik, dass sich diese Vorlesung noch nicht endgültig aus der »Fessel des Seinsverständnisses« gelöst habe; diese Kritik ist enthalten im Anhang zu Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1983 (GA 40). 35 Im WS 1937/38 präsentiert Heidegger jedoch erneut eine ausgezeichnete Stimmung: Die Verhaltenheit sei die »Grundstimmung des Bezuges zum Seyn«; vgl. GA 45, 2. Später thematisiert er dann das Erstaunen (jaum€zein) als die Stimmung, welche »in den Anfang des denkerischen Denkens versetzt« (GA 45, 165).

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fenbarwerdens des Wesens des Menschen als eines je geschichtlichen präsentiert Heidegger dabei immer wieder bestimmte ›Projekte‹ und ›Programme‹, welche das Zusichfinden des (volklichen) Daseins gleichsam künstlich zu erzeugen suchen – ohne sich dieser Künstlichkeit bewusst zu sein. So bemerkt er etwa im WS 1934/35, es werde »kein entscheidendes Verhältnis des Volkes zum Grund und Abgrund seines geschichtlichen Daseins geschaffen, indem nur die Sitte gepflegt wird« (GA 39, 99). Die »vermehrte Errichtung von Professuren der Volkskunde und Urgeschichte« erreiche nichts weiter als einen »veränderten Kulturbetrieb« (GA 39, 99), könne aber niemals einen tatsächlichen Wandel im Verhältnis des Menschen zu sich und zum Sein anstoßen. 36 In derselben Vorlesung behauptet Heidegger, echte Gemeinschaft entstehe niemals durch die »grobe Verschaltung der Allzuvielen in einer sogenannten Organisation«, welche »nur eine behelfsmäßige Vorkehrung, aber nicht das Wesen« (GA 39, 8) sei, d. h. das Wesen ursprünglicher Gemeinschaft. 37 Die ›Uneigentlichkeit‹ einer solchen ›organisierten‹ Weise des Volkseins – dies ist von entscheidender Bedeutung – liegt nach Heidegger aber offensichtlich nicht darin, dass hier etwas nicht richtig hergestellt wurde, sondern dass es überhaupt hergestellt ist – ›hergestellt‹ im Sinne des Gemachtseins. Tatsächliches Her-stellen, dies wird vor allem in »Der Ursprung des Kunstwerkes« deutlich, heißt nach Heidegger schließlich gerade, etwas in seinem Wesen hervorkommen zu lassen, es ins Offene zu bringen. 38 Wenn die yÐsi@ das Seiende als dasjenige meint, »was eigenwüchsig und zu nichts gedrängt aufgeht« (N I, 96), dann bedeutet ein jedes gezielte Zwingen des Seienden in diese oder jene Gestalt hinein nach Heidegger eben gerade kein InsWerk-Setzen des Wesens des Seienden, sondern eine Gewalttat gegenüber dem von sich aus Waltenden. Bemerkenswerterweise deutet Heideggers Interpretation des In der Hölderlin-Vorlesung vom WS 1941/42 behauptet Heidegger, die Deutschen meinten fälschlicherweise, das ihnen eigene Wesen durch Erfindung gründen zu können; vgl. GA 52, 73. 37 Siehe auch EM 28 f., wo Heidegger bestimmte zeitgenössische Phänomene wie planvoll organisierte Massenversammlungen kritisch beurteilt. Ebenso polemisiert er im WS 1934/35 gegen den gegenwärtigen Betrieb der Wissenschaft, welcher eine bloße ›Organisation‹ von »Wissensbeschaffung und -vermittlung« sei; vgl. GA 39, 195. 38 Vgl. Hw 33 f. 36

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Menschen als eines Täters – im Rahmen seiner Bezugnahme auf Antigone im SS 1935 – eben diese Gefahr einer ›Vergewaltigung‹ der Erde durch den ›Gewalttäter‹ Mensch schon an. 39 Der tffcnh 40 der Griechen, die Heidegger als das »überlegene, erwirkende Eröffnen und Offenhalten« (EM 122) des Seins im Seienden begreift, tritt somit eine andere Weise des Erwirkens entgegen, welche in das Seiende hineingreift, es zwingt, es zu beherrschen trachtet. Oder noch präziser: Die tffcnh selbst entwickelt sich nach Heidegger zu einem gewaltsamen Zugriff auf das Seiende. 41 In der Hölderlin-Vorlesung vom WS 1934/35 nennt Heidegger zwei zentrale Etappen im Prozess der ›Denaturierung‹ der yÐsi@, also der zunehmenden Verdeckung des Seienden als eines aus sich heraus Waltenden: das Christentum, das die Natur als etwas ›Geschaffenes‹ deutete, und die neuzeitliche Wissenschaft, welche die Natur »in die Machtbereiche der mathematischen Ordnung« (GA 39, 195) brachte und die schließlich in die Entfesselung der »maschinenhaften Technik« (GA 39, 195) mündete. Mit dieser letzten Station – der modernen Technik – ist nach Heidegger nun der Höhepunkt der Missachtung der yÐsi@ erreicht und die tffcnh der Griechen hat sich zu einem Phänomen gewandelt, das gerade den äußersten Gegensatz zum Ins-WerkSetzen der Wahrheit durch die Kunst darstellt. Es lassen sich also schon um 1935 deutliche Hinweise auf Heideggers – sich später noch wesentlich verschärfende – Technikkritik ausmachen; bereits hier finden sich Andeutungen darauf, dass die moderne Technik als hervorragendster Ausdruck einer Fehldeutung des Menschen als des vermeintlichen Weltbeherrschers begriffen werden muss. Jedoch darf eines nicht übersehen werden: Heideggers Charakterisierung des Dichtens als eines eigentlichen Offenbarmachens von Seiendem in seinem Sein weist immer noch Züge einer ›Tätigkeit‹ des Menschen auf. Zwar deutet die Antigone-Interpretation die Möglich39 Im Anschluss an die Deutung des ersten Chorliedes aus Antigone hebt Heidegger explizit ausbeuterische und zerstörerische Momente der Täterschaft des Menschen hervor; vgl. EM 118. 40 Zu Heideggers Interpretation der tffcnh als eines »Wissens« im Sinne des echten Ins-Werk-setzen-Könnens siehe auch Hw 45 f. sowie N I, 96 f. und GA 45, 177 ff. 41 So beschreibt Heidegger die Heraufkunft eines gewaltsamen Eingreifens des Menschen in das Seiende als eine Perversion der ursprünglichen tffcnh, welche ihrerseits zwar gegen die yÐsi@ ›vorgehe‹, sie dabei aber nicht zu überwältigen suche; vgl. GA 45, 180.

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keit der Erdvernutzung durch den Gewalttäter Mensch an, das einer solchen gerade entgegengesetzte Kunstschaffen wird aber dezidiert selbst noch als ›Tat‹ beschrieben, sowie das Stiften schließlich auch noch als Entwurf charakterisiert ist. Auf der anderen Seite entdeckte Heidegger schon mit der Arbeit eine Weise des Menschen, im Walten des Seienden zu stehen. Das bedeutet: Zwischen der Charakterisierung der Arbeit um 1933 und der Beschreibung des Dichtens um 1935 klafft kein solch tiefer Riss, dass sich sagen ließe, Heidegger habe mit der Hinwendung zur Dichtung erkannt, dass die ›Arbeit‹ per se für eine – in der Technik kulminierende – Beherrschung der Erde stehe. 42 Vielmehr ist sowohl die Schilderung der Arbeit als auch diejenige des Dichtens von Spannungen durchzogen, welche Heidegger erst durch die verschärfte Kritik am neuzeitlichen Subjektivitätsprinzip während der folgenden Jahre aufzulösen unternimmt. Das Fehlen eines radikalen Bruchs zwischen den Konzeptionen der Arbeit und der Dichtung wird nicht zuletzt deshalb hervorgehoben, weil Heidegger beständig versucht hat, die Zeit direkt nach dem Rektorat schon als eine Phase der ausdrücklichen Absetzung vom Nationalsozialismus bzw. gar des ›geistigen Widerstandes‹ gegen diese ›Bewegung‹ zu präsentieren. 43 Kann eine eindeutige Kluft zwischen den Konzeptionen von Arbeit und Dichtung jedoch nicht ausgemacht werden, erscheint diese Selbstcharakterisierung Heideggers in einem zweifelhaften Licht. Wie aber lässt sich diese Feststellung mit den zu Beginn Arbeit und Maschine gehören für Heidegger um 1933 gerade nicht ursprünglich zusammen; siehe GA 38, 133. Das »Rasen der Maschinen« und die »Nüchternheit der Arbeit« werden ausdrücklich nicht miteinander identifiziert; vgl. GA 38, 169. Auch deutet sich die Vorstellung einer »echten« Technik an, welche dem Walten der Natur kein eigenes Maß aufzwingt: »Je befreiter die Natur waltet, um so großartiger und gebändigter ist die gestaltende Macht der echten Technik ihr dienstbar zu machen.« (GA 16, 200) 43 Siehe vor allem »Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken« von 1945 (GA 16, 372–394) sowie den Antrag auf Wiedereinstellung in die Lehrtätigkeit vom 04. 11. 1945 (GA 16, 397–404) und das Schreiben an den Vorsitzenden des politischen Bereinigungsausschusses, Prof. v. Dietze, vom 15. 12. 1945 (GA 16, 409–415). Die Behauptung eines für jeden ersichtlichen »Widerstandes« gegen die nationalsozialistische Weltanschauung wird in den beiden Anschreiben besonders betont, wobei Heidegger die NietzscheVorlesungen als Verschärfung dieses Widerstandes charakterisiert, der jedoch schon im SS 1934 deutlich erkennbar gewesen sein soll. Der hier nicht unbedeutenden Frage nach der Wirkung und ausdrücklich dokumentierten Rezeption der Texte und Reden Heideggers zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geht Zaborowski nach und konstatiert eine große Spannbreite der Reaktionen; vgl. Zaborowski 2010, 553 f. 42

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des Kapitels angeführten Bemerkungen Heideggers zu ›künstlichen‹ Versuchen einer Gemeinschaftsstiftung in Beziehung setzen? Ist hier nicht eine eindeutige Kritik an bestimmten Projekten des nationalsozialistischen Regimes ausgesprochen – und wurde diese Kritik nicht als Auseinandersetzung mit einer subtilen ›Technisierung‹ präsentiert? Führt Heidegger also nicht – entsprechend seiner späteren Behauptung – schon sehr früh Nationalsozialismus und Technikbesessenheit zusammen? 44 Betrachtet man die Abgrenzung vom technisch-künstlichen Herstellen von etwas, das auf eine solche Weise nicht erzeugt werden kann, genauer, dann zeigt sich jedoch, dass Heidegger hier keineswegs den Nationalsozialismus insgesamt als eine ›Bewegung‹ entlarvt, in bzw. mit der die Technik zur Entfesselung kommt und die daher so zu verurteilen sei wie »Amerikanismus« und »Bolschewismus«. 45 Was Heidegger mit seinen Kommentaren augenscheinlich kritisiert, ist vielmehr ein Verharren im ›Althergebrachten‹, dessen Überwindung er dem Nationalsozialismus zutraute und auf die er immer noch zu hoffen scheint, ohne den Namen ›Nationalsozialismus‹ als Ausdruck für diese Hoffnung endgültig zu verabschieden. Das Organisieren 46 ist ihm also nur eine verhängnisvolle Missachtung dessen, was in der entschlossenen Arbeit ursprünglich zum Ausdruck kommen sollte: das Entrücktsein des Menschen »in die Offenbarkeit des Seienden und seines Gefüges« (GA 38, 154). 47 Wenn Heidegger also später Nationalso44 In den »Tatsachen und Gedanken« suggeriert Heidegger gar, er habe schon Anfang der 30er Jahre bei der Lektüre von Ernst Jüngers Aufsatz »Die totale Mobilmachung« und dessen Buch Der Arbeiter erkannt, dass Jüngers Charakterisierung des Arbeiters Ausdruck der »universale[n] Herrschaft des Willens zur Macht innerhalb der planetarisch gesehenen Geschichte« sei – einer Geschichte, in der alles, d. h. auch der Faschismus, stehe; vgl. GA 16, 373. 45 Siehe etwa die bekannte Äußerung in der Einführung in die Metaphysik, Russland und Amerika seien »metaphysisch gesehen« dasselbe, nämlich »dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen« (EM 28). 46 Die ›Organisation‹ ist in der Tat das ›Schreckgespenst‹ für Heidegger; vgl. exemplarisch GA 29/39, 244 f. sowie GA 39, 195. 47 Für eine Beurteilung von Heideggers späterem Denken ergibt sich dann jedoch die Frage, ob sich die immer stärker werdenden Motive der Passivität vollkommen von ihrer früheren Eingebundenheit in die Konzeption von 1933 lösen können. Zumindest muss darauf verwiesen werden, dass wesentliche Motive auch der späteren Konzeption um 1933/34 eine Rolle spielten oder gar hier ›entdeckt‹ wurden, z. B. das ›dichterische Wohnen‹, die ›Erde‹, die Vorstellung eines Geschicks, dem der Mensch übereignet ist.

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Die Entdeckung Hölderlins und der Kunst

zialismus und Technikraserei miteinander identifiziert, so blendet er – wie Thomä treffend bemerkt – »die Seite am Nationalsozialismus ab, die für ihn in besonderer Weise anschlußfähig war« 48 . Er ›vergisst‹, dass die sich ab 1934 tatsächlich schon andeutende Interpretation der Technik als Ausdruck des ›Unwesens‹ des Menschen keine ausdrückliche Kritik auch am eigenen Begriff der Arbeit um 1933 darstellt, den er als philosophierender Rektor Studierenden, Kollegen sowie der Freiburger Einwohnerschaft mit nicht wenig Pathos präsentiert hat.

6.

Der Dichter und die Schriftstellerei – Distanzierung vom ›Prosaischen‹

Zu Heideggers Thematisierung der ausgezeichneten Rolle der Dichtung für die Selbstfindung des Menschen gehört eine beständige Abgrenzung von einer nicht ›echten‹ Kunst. Die Konfrontation zwischen echter und vermeintlicher – dem ›modernen‹ Betrieb verfallener – Kunst macht Heidegger schon zu Beginn der 30er Jahre immer wieder an einem spezifischen Gegensatz fest: dem zwischen dem »Dichter« und dem (bloßen) »Schriftsteller«. So behauptet Heidegger bereits im SS 1931 – und somit vor der Präsentation seiner Hölderlin-Auslegungen in Vorlesungen und Vorträgen –, Sprache sei »ursprünglich und eigentlich in der Dichtung, diese jedoch nicht genommen als Beschäftigung von Schriftstellern, sondern in der Dichtung als Ausruf von Welt im Anruf des Gottes« (GA 33, 128 f.). Ein Semester später heißt es kategorisch: »Dichtung macht das Seiende seiender. Dichtung, nicht Schriftstellerei!« (GA 34, 64) Dichtung wird im WS 1934/35 schließlich konsequent als die heile, eigentliche Sprache präsentiert, 49 deren Verfall zur flachen AlltagsThomä 2003, 158. Wenn Vietta Heideggers Konzeption um 1933 einseitig auf eine Verkündung eines fessellosen Wollens reduziert, dann ignoriert er die Spannungen zwischen Entwurf und Fügung bei der Bestimmung des Seins des Menschen in Heideggers Denken um 1933/34; vgl. Silvio Vietta, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, Tübingen 1989. 49 Siehe auch Heideggers Gleichsetzung von Dichtung und echter Sprache in »Der Ursprung des Kunstwerkes« (konkret: Hw 60 f.). Wenn die Dichtung als eigentliche Sprache für das Offenbarwerden von Sein überhaupt steht, dann folgt daraus allerdings, dass alle echte Kunst – alles Ins-Werk-Setzen von Wahrheit – in einem weiten Sinne ›Dichtung‹ ist. 48

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sprache sich über das Herabsinken der Dichtung zur Prosa vollziehe. 50 Allein vor diesem Hintergrund kann Heidegger in der Hölderlin-Vorlesung vom WS 1941/42 schließlich verkünden, dass »in Jahrhunderten vielleicht ein einziger Dichter kommt« und dass dieser dann »sogar von den Urteilsfähigen kaum sogleich erkannt wird« (GA 52, 7). Bloße Schriftsteller hingegen gab und gibt es genug – so lautete die passende Ergänzung zu diesem Kommentar. Im Rückbezug auf die eben thematisierte Gegenüberstellung von Kunst und Künstlichkeit sowie in Anlehnung an zentrale Bemerkungen Heideggers in der zweiten Hölderlin-Vorlesung (WS 1941/42) ließe sich der Gegensatz von Dichter und Schriftsteller folgendermaßen beschreiben: Während den Dichter das Wort »angeht«, versucht der Schriftsteller, gezielt mit ihm »umzugehen«. 51 Während der Dichter das Wort also über sich kommen lässt, sucht der Schriftsteller letztlich, das Wort selbst (künstlich) zu schaffen – er produziert Literatur 52, nicht Dichtung, und meint, die Wörter seien sein Eigentum. 53 Entsprechend behauptet Heidegger im WS 1941/42: »Das Gedichtete ist keineswegs dasjenige, was Hölderlin von sich aus in seinem Vorstellen meinte, es ist vielmehr Jenes, was ihn meinte, als es ihn in dieses Dichtertum berufen hat. Streng genommen wird der Dichter von dem, was er zu dichten hat, allererst selbst gedichtet.« (GA 52, 13) Dem Herstellen im ursprünglichen Sinne, wie Heidegger es u. a. in »Der Ursprung des Kunstwerkes« thematisiert, tritt also auf Seiten des Schriftstellers das Vorstellen entgegen. 54 Dabei geht es jedoch offenkundig nicht primär um den Gegensatz zwischen ›Wirklichkeit‹ und ›Fiktion‹ – dem Tatsächlichen und dem ›bloß‹ Vorgestellten –, sondern das Vorstellen wird hier als Leistung des Schriftstellers präsentiert – als das, was er macht, wenn er ›etwas‹ macht, d. h. Literatur produziert. 55 Vgl. GA 39, 64 sowie 217 f. Vgl. GA 52, 37. Der Schriftsteller benutzt also die Sprache wie ein Instrument, mit dem man das Seiende herrichten und die Anderen gefügig machen kann; siehe auch EM 35. 52 Zur Abgrenzung der Dichtung von der Literatur siehe auch GA 16, 470. 53 Siehe GA 52, 7. 54 Neben der ursprünglich begriffenen tffcnh denkt Heidegger auch die eigentliche pofflhsi@ als Anwesenlassen des Seienden; vgl. etwa Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie. Denken und Dichten, hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1990 (GA 50, 89–133), 112. 55 Siehe dazu eine Bemerkung aus dem Vortrag »Die Begründung des neuzeitlichen Weltbildes durch die Metaphysik« von 1938 (später in Holzwege veröffentlicht als »Die 50 51

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Nun hat Heidegger zwischen den beiden Hölderlin-Vorlesungen aus dem WS 1934/35 und dem WS 1941/42 – vornehmlich im Rahmen seiner umfassenden Nietzsche-Deutungen – das ›Vorstellen‹ immer wieder als das ›Wesen‹ neuzeitlicher Subjektivität interpretiert. So deutet er das cogito Descartes’ im WS 1937/38 als eine Gewissheit, »in der sich der Mensch des Seienden als des Gegenstandes seines Vorstellens seiner Sicherheit versichert« (GA 45, 149). Und 1940, im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Nietzsches Nihilismusdeutung, beschreibt Heidegger die Bestimmung des Seienden als Seienden in der neuzeitlichen Philosophie – als einem konsequenten Subjektdenken – folgendermaßen: »Die Wirklichkeit des Wirklichen ist die Vorgestelltheit durch das vorstellende Subjekt und für dieses.« (N II, 129) So tritt in Heideggers Denken ab 1935 immer deutlicher ein Aspekt der neuzeitlichen Subjektivitätskonzeption in den Blick, der bei seiner früheren Kritik am ›Subjekt‹ in den 20er Jahren nicht in dieser Weise fokussiert wurde: Das ›Wesen‹ des Subjekts als ein ›Beherrschen‹ der Welt. Das Subjekt stellt Objekte vor heißt für Heidegger nun: Es übt Macht über sie aus. 56 Heidegger deutet die Rückführung jeglicher Erkenntnis auf das seiner selbst gewisse Ich nun also im Hinblick auf eine praktische Dimension. Diese Perspektive ermöglicht es schließlich, die Kritik am das Seiende unterwerfenden ›Wesen‹ der Technik als entarteter tffcnh mit der expliziten Thematisierung des ›Wesens‹ neuzeitlich gedachter Subjektivität zu verbinden. ›Technik‹ avanciert nun gleichsam zum ›Namen‹ für unterschiedliche ›Verfallserscheinungen‹ der abendländischen Philosophie, die jedoch für Heidegger alle miteinander verwoben sind und letztlich einer Geschichte zugehören: 57 das Verstehen der yÐsi@ als ›Natur‹, die Missdeutung des lgo@ als Vernunft oder Sprache im Sinne eines ausgezeichneten Zeit des Weltbildes«), wo Heidegger die imaginatio des Subjekts als ›Einbildung‹ des Seienden in die »Welt als Bild« charakterisiert; vgl. Martin Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes«, in: Hw, 73–110, hier: 104. In diesem Beitrag präsentiert Heidegger den »Grundvorgang der Neuzeit« insgesamt als »Eroberung der Welt als Bild«, wobei ›Bild‹ meinen soll: »das Gebild des vorstellenden Herstellens« (Hw 92). 56 ›Etwas‹ vor-stellen heißt nach Heidegger also ›etwas‹ als verfügbar zu-stellen; vgl. N II, 152. 57 Die ›Götterlosigkeit‹ herrscht nach Heidegger also nicht deshalb, weil es Maschinen gibt, sondern es gibt diese, weil das Zeitalter selbst – metaphysisch gesehen – ein ›technisches‹ ist; vgl. GA 45, 179 sowie Martin Heidegger, Was heißt Denken?, hrsg. von Paola-Ludovika Coriando, Frankfurt a. M. 2002 (GA 8), 27. In den Nietzsche-Vorlesungen wird die Technikkritik schließlich auch auf das politische System in Deutschland

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Der Dichter und die Schriftstellerei – Distanzierung vom ›Prosaischen‹

Werkzeugs, die Verkennung der ⁄lffijeia als Unverborgenheit in der Vorstellung bloßer ›Richtigkeit‹, das Verständnis von Kunst als Genieprodukt und die – in all diesen Entwicklungen sich zeigende – Deutung des menschlichen Seins als einer substantiell begriffenen Subjektivität sowie die Vergessenheit des Seins selbst. Da Heidegger den expliziten Zusammenschluss der ›Götterlosigkeit‹ mit einer ›Selbstvergötterung‹ des neuzeitlichen Menschen im Zuge seiner intensiven Beschäftigung mit Nietzsche ab dem WS 1936/37 vornimmt, muss nun eine kurze Thematisierung dieser Auseinandersetzung folgen. 58 In der vorhin schon angekündigten Konfrontation von Nietzsches Ausspruch zum ›Tode Gottes‹ mit Hölderlins Klage über die ›Götterflucht‹ sucht Heidegger schließlich die endgültige Verabschiedung des traditionellen, d. h. metaphysischen Denkens herbeizuführen, über das – vor ihm selbst – allein Hölderlin schon hinausgewiesen habe. 59

bezogen; vgl. etwa Martin Heidegger, Der Wille zur Macht als Erkenntnis, in: N I, 473– 658, hier: 474. 58 Mit der Kürze dieser Thematisierung geht konsequenterweise eine starke Verknappung der heideggerschen Thesen zu Nietzsches Denken einher. 59 Hölderlin denkt nach Heidegger noch metaphysisch, dichtet aber nicht-metaphysisch; vgl. GA 52, 120. Hölderlin habe weiter gesehen als Nietzsche, weil dieser hindurch musste »durch all jenes Fatale, was mit den Namen Schopenhauer, Darwin, Wagner, Gründerjahre angezeigt ist« (GA 39, 294).

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Abschnitt IV: Eigentliches Denken und Sprechen als endgültige Überwindung der Metaphysik

1.

Nietzsche als der letzte Metaphysiker und Heideggers Entdeckung des ›wahren‹ Nihilismus

Sucht man die Essenz der heideggerschen Nietzsche-Deutung anzugeben, dann ließe sich mit Heidegger selbst sagen: »Nietzsches Philosophie ist das Ende der abendländischen Metaphysik« 1 . Mit dem ›Ende‹ ist hier jedoch keineswegs die Überwindung der Metaphysik gemeint – vielmehr sieht Heidegger in Nietzsches Denken die Vollendung der Metaphysik erreicht, denn schließlich sei auch Nietzsches Konzeption der Versuch einer Beantwortung der Leitfrage aller bisherigen Philosophie – der Frage nach dem Sein des Seienden. Auf diese Frage liefert Nietzsche nach Heidegger nun genau zwei Antworten, von denen die eine das Seiende in Hinsicht auf seine Verfassung bestimme, während die andere das Seiende in Hinsicht auf seine Weise zu sein betrachte: Das Seiende im Ganzen, so Heidegger, ›ist‹ laut Nietzsche Wille zur Macht und ewige Wiederkunft des Gleichen. 2 Mit dieser Bestimmung des Seins des Seienden hat Nietzsche aber nach Heidegger eben die beiden Antworten auf die Leitfrage der Phi1 Martin Heidegger, Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken. Die ewige Wiederkehr des Gleichen, hrsg. von Marion Heinz, Frankfurt a. M. 1986 (GA 44), 226. Heidegger distanziert sich in seinen Ausführungen zu Nietzsche von den Interpretationen, die u. a. von Baeumler, Jaspers und Klages vorgelegt wurden. Ihm selbst kann man den Vorwurf machen, er vernachlässige Nietzsches beständige Betonung des perspektivischen Sehens, welche schließlich auch die Charakterisierung der eigenen ›Lehre‹ als Angabe eines ›metaphysischen Prinzips‹ hintertreibt. Zudem gibt es den einen Willen zur Macht bei Nietzsche nicht – das ›Subjekt‹ zerfällt schon hier in eine Vielheit von ›Willensquanten‹, d. h. Perspektiven. Problematisch ist auch, dass Heidegger auf die Nachlass-Kompilation Der Wille zur Macht zurückgreift, die eine Ordnung in Nietzsches Notizen bringt, welche dieser selbst schließlich nicht vorgegeben hat. 2 Vgl. GA 44, 225 f.

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Nietzsche als der letzte Metaphysiker

losophie zusammengeschlossen, welche im Anfang der abendländischen Philosophie von Parmenides und Heraklit gegeben wurden: Das Seiende ist (Parmenides) und das Seiende wird (Heraklit). Durch diese Verbindung der augenscheinlichen Gegensätze Beständigkeit und fortwährendes Werden entwirft Nietzsche laut Heidegger eine Philosophie, die »in den ersten Anfang derselben zurückläuft und in diesem Zurück- und Einschwenken die ganze bisherige Geschichte der Philosophie wie in einem Ring schließt« (GA 44, 226). In eben dieser Kreisbewegung liegt nach Heidegger die Vollendung der abendländischen Metaphysik beschlossen. Besondere Aufmerksamkeit widmet Heidegger in seinen Nietzsche-Vorlesungen jedoch den letzten Jahrhunderten der europäischen Philosophiegeschichte, d. h. der neuzeitlichen Metaphysik. In Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht sowie der Übermensch-Konzeption sieht er die spezifische Ausprägung der Metaphysik seit Descartes auf die Spitze getrieben: die Deutung des Seins des Seienden als eines Gegenstandseins für den Menschen, dessen Sein entsprechend als Subjektsein bestimmt wird. 3 Den Willen zur Macht gleichsam als ›Prinzip‹ alles Seienden auszurufen stellt für Heidegger nämlich eine »rücksichtslose und ins Äußerste gestellte Vermenschung der Welt« (N I, 654) dar, welche die »Ansetzung des Menschen als subiectum« – als des Zugrundeliegenden, d. h. des eigentlich Seienden – in bislang unerreichter Konsequenz vornimmt. 4 Indem Nietzsche alle Zugangsweisen des Menschen zur Welt – also auch das theoretische Verhalten, das scheinbar ›neutrale‹ Erkennen – auf das ›Wesen‹ des Willens zur Macht zurückführt, deckt er aber nach Heidegger letztlich auf, was die Ansetzung des Menschen als eines Objekte vorstellenden Subjekts im Grunde immer schon bedeutet habe: die Entmachtung der ›Dinge‹, die sich dem Vor-stellen fügen müssen. 5 So kann Heidegger schließlich seine In der ersten Nietzsche-Vorlesung vom WS 1936/37 – Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst – entwickelt Heidegger noch keine ausdrückliche Kritik an Nietzsches vermeintlichem ›Subjektivismus‹. Ein Semester später wird die Lehre vom Willen zur Macht dann jedoch als »höchste Vermenschlichung des Seienden« bezeichnet; vgl. GA 44, 100. 4 Siehe zu Heideggers ausführlichen Interpretationen der Identifikation zwischen menschlichem Ich und sub-iectum im Ausgang von Descartes N II, 141 f. 5 Zu Heideggers Deutung von Nietzsches Bestimmung des Erkennens als eines Befehlens vgl. N I, 606 f. Heidegger hebt hervor, dass Nietzsche das ego cogito von Descartes konsequent als ego volo auslege und dass der Leib nun als das eigentliche ›Subjekt‹ präsentiert werde; vgl. auch N II, 181 f. und 190. 3

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Eigentliches Denken und Sprechen als endgültige Überwindung der Metaphysik

Deutung von Nietzsches – nach eigenem Anspruch antimetaphysischer – Philosophie mit seiner Diagnose vom ›technischen‹ Zeitalter folgendermaßen zusammenbringen: »Die schrankenlose Herrschaft der modernen Technik in jeder Ecke dieses Planeten ist nur die späte Folge einer sehr alten technischen Auslegung der Welt; welche Auslegung sonst Metaphysik heißt. Der Wesensursprung der neuzeitlichen Technik liegt im Beginn der Metaphysik bei Platon. Diese neuzeitliche Technik erfährt ihre letzte metaphysische Rechtfertigung durch jene Metaphysik, die sich wissentlich als die Umkehrung des Platonismus begreift, durch die Metaphysik des Willens zur Macht, die Nietzsche gedacht hat.« (GA 52, 91)

Indem Nietzsches Philosophie also nach Heideggers Deutung die neuzeitliche Metaphysik vollendet, bejaht sie nach Heidegger zugleich »die Vormacht des Seienden gegenüber dem Sein« (N I, 477). Die Diagnose vom ›Tode Gottes‹ artikuliert somit laut Heidegger gerade nicht das, was seiner Auffassung nach mit der ›Flucht der Götter‹ bei Hölderlin erahnt ist, nämlich die ›Tatsache‹, dass die abendländische Geschichte als eine Geschichte begriffen werden muss, »in der es mit dem Sein selbst nichts ist« 6 . Der eigentliche Nihilismus, so Heidegger, ist daher nicht in der Entwertung der obersten Werte – dies Nietzsches Konzeption – zu sehen, sondern in der Vergessenheit des Seins selbst. 7 Nietzsche erkennt, so Heidegger, das Sein selbst nicht an, d. h. er vermag es nicht, »Sein aus dem Hinblick auf seine Wesensherkunft in aller Fragwürdigkeit walten [zu] lassen« (N II, 338). Die Offenheit oder Verborgenheit dieses ›Waltens‹, so Heidegger nun nachdrücklich, obliegt aber nicht dem seinsverstehenden Menschen, sondern muss aus dem Wesen des Seins selbst gedacht werden: »Das Wesen des eigentlichen Nihilismus ist das Sein selber im Ausbleiben seiner Unverborgenheit« (N II, 356). Somit geht es Heidegger keineswegs darum, Nietzsche den Vorwurf zu machen, er habe etwas nicht gedacht, was er hätte denken sollen – denn wenn das Wesen des eigentlichen Nihilismus dem Wesen des Seins selber zukommt, dann ist Philosophie – so Heidegger schon im WS 1937/38 –, »wann immer Martin Heidegger, Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus, in: N II, 335– 398, hier: 338. 7 Die Überwindung der Metaphysik liegt nach Heidegger entsprechend auch nicht in einer Umwertung aller Werte. Zu einer umfassenden Diskussion von Nietzsches differenzierter Sicht auf das Phänomen des Nihilismus siehe vor allem Heideggers Vorlesung Nietzsche: Der Europäische Nihilismus von 1940. 6

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Nietzsche als der letzte Metaphysiker

und wie immer das Seyn selbst zu seiner Wahrheit drängt, wenn die Eröffnung des Seienden selbst geschieht, wenn Geschichte ist« (GA 45, 120), 8 d. h. wenn »die Wahrheit des Seyns selbst sich ereignet« (GA 45, 120). 9 Indem Heidegger nun also den Menschen als in die »Wahrheit des Seins geworfen« (N II, 378) charakterisiert, 10 erfährt dessen frühere Bestimmung als »Zeuge des Seyns« (GA 39, 62) eine Interpretation, welche die 1935 formulierte ›Andeutung‹ präzisiert, das Wesen des Menschen könne oder müsse sich allein »aus dem Wesen des Seins bestimmen« (EM 106) lassen. Wenn Heidegger dieses ›Wesen‹ jetzt als ein seinsgeschichtliches bzw. seynsgeschichtliches 11 begreift, erfährt auch das menschliche Sprechen und Denken – wie sich oben schon ankündigt – eine neue Bestimmung, welcher im Folgenden nachgegangen werden soll. Dabei wird zunächst, an die Gegenüberstellung von Dichtung und Die Seinsgeschichte – welche keine Abfolge unterschiedlicher Ereignisse meint, sondern ein Sich-zuschicken des Seins – hat nach Heidegger verschiedene »Epochen«; siehe exemplarisch Martin Heidegger, »Zeit und Sein«, in: ZSD, 1–25, hier: 9; gemeint sind jedoch keine Zeitabschnitte in einem fortlaufenden Geschehen, sondern die Epoche bezeichnet hier ein jeweiliges Ansichhalten des Seins (¥pocffi). 9 Während Heidegger zwischen dem WS 1936/37 und dem II. Trimester 1940 die These von Nietzsche als dem letzten Metaphysiker immer nachdrücklicher formuliert, verfasst er Texte bzw. Textstücke, welche in der Gesamtausgabe unter den Titeln Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) und Besinnung erschienen sind. In den ›esoterisch‹ anmutenden und oft fragmentarisch bleibenden Beiträgen, die nicht selten als zweites Hauptwerk Heideggers bezeichnet werden (vgl. etwa Otto Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, Freiburg/München 1992, 317), behandelt Heidegger die Abdrängung des Seins zugunsten des verfügbaren Seienden unter dem Schlagwort der »Machenschaft« und prägt mit der Charakterisierung des Wesens des Seins als »Ereignis« eines der Grundworte des seinsgeschichtlichen Denkens. Es finden sich aber auch noch zahlreiche Motive der vergangenen Jahre wieder: die Dichter und Denker als »Schaffende« oder »Entwerfende«, der »Streit« zwischen Welt und Erde, die Rede von »Entscheidung« und »Sendung«; vgl. GA 65, 11, 29 und 96. In Besinnung deutet sich mitunter eine scharfe Kritik an nationalsozialistischen ›Projekten‹ und nationalsozialistischer Ideologie an; vgl. Martin Heidegger, Besinnung, hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1997 (GA 66), 27, 122 und 176. 10 Siehe auch folgende Stelle aus den Beiträgen, welche den »Sprung« ins seinsgeschichtliche Denken beschreibt: Dieser sei »der Vollzug des Entwurfs der Wahrheit des Seyns im Sinne der Einrückung in das Offene, dergestalt, daß der Werfer des Entwurfs als geworfener sich erfährt, d. h. er-eignet durch das Seyn« (GA 65, 239). 11 Zur systematischen Unterscheidung zwischen ›Sein‹ und ›Seyn‹ siehe GA 66, 253. Hier wird als erste ›Einsicht‹ in das wahre Wesen des Seins die Erkenntnis formuliert: »Das Sein ist das Seyn.« 8

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Eigentliches Denken und Sprechen als endgültige Überwindung der Metaphysik

Schriftstellerei anknüpfend, eine Passage aus der Parmenides-Vorlesung vom WS 1942/43 eingehender interpretiert – ein Textstück, in dem die komplexe Verbindung zwischen Technik-, Metaphysik- und Subjektkritik in Heideggers Denken um 1940 besonders deutlich hervortritt und in dem zugleich eine erneute Hinwendung zum eigentlichen Wesen der Sprache vollzogen wird. Heidegger verknüpft hier schließlich seine Auseinandersetzung mit dem modernen Literaturbetrieb mit der Kritik am Einsatz einer bestimmten Maschine – der Schreibmaschine. Dass es sich dabei nicht bloß um eine beiläufige Bemerkung über eine Alltagserscheinung des zeitgenössischen Wissenschaftsbetriebs handelt, wird in folgender Bemerkung deutlich: »In der ›Schreibmaschine‹ erscheint die Maschine, d. h. die Technik, in einem fast alltäglichen und daher unbemerkten und daher zeichenlosen Bezug zur Schrift, d. h. zum Wort, d. h. zur Wesensauszeichnung des Menschen.« 12

2.

Das Wort, die Hand und die Maschine

Heidegger eröffnet seine Diskussion des Verhältnisses von Maschinenund Handschrift in der Parmenides-Vorlesung mit dem Aufweis einer innigen Verbindung zwischen Hand und Wort. Dabei geht es ihm nicht allein darum, dem ursprünglichen Wesen der Sprache und ihrem Sein in der Schrift nachzugehen, sondern er präsentiert auch ein eigentliches Verständnis von ›Handlung‹, welches »das ursprünglich wesentliche Wesen von pr”gma« (GA 54, 118) darstellen soll. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Willen zur Macht als höchstem Verfügenwollen über die Dinge folgt nun also auch eine neue Bestimmung des Handelns, welche sich von der früheren Thematisierung der Entschlossenheit um 1930 deutlich abgrenzen muss, will sie nicht auf eine Stufe vor der in den Nietzsche-Interpretationen radikalisierten Abgrenzung vom ›Subjekt‹ zurückfallen. Die Annäherung an ein solches eigentliches Wesen der Handlung vollzieht sich zunächst über eine fundamentale Abgrenzung der menschlichen Hand vom tierischen Greiforgan: Während das den lgo@ entbehrende Tier höchstens Krallen und Pfoten habe, sei allein Martin Heidegger, Parmenides, hrsg. von Manfred S. Frings, Frankfurt a. M. 1982 (GA 54), 126.

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dem Menschen die Hand gegeben. 13 Zusammen mit dem Wort präsentiert sich die Hand laut Heidegger also als die »Wesensauszeichnung des Menschen« (GA 54, 118) – ›zusammen‹ meint hier aber ›in eins‹ mit dem Wort: »Nur das Seiende, das wie der Mensch das Wort (m‰qo@) (lgo@) ›hat‹, kann auch und muß ›die Hand‹ ›haben‹.« (GA 54, 118) Im Anschluss an diese Behauptung fundiert Heidegger gar das ›Haben‹ der Hand im ›Haben‹ der Sprache: »Der Mensch ›hat‹ nicht Hände, sondern die Hand hat das Wesen des Menschen inne, weil das Wort als der Wesensbereich der Hand der Wesensgrund des Menschen ist.« (GA 54, 119) Was heißt aber dann ›Handlung‹ ? Konsequenterweise versteht Heidegger unter Handlung nun nicht »die menschliche Tätigkeit (actio)«, sondern er begreift sie als »die einheitliche Weise, wie jeweils die Dinge vor-handen und zu-handen sind, d. h. auf die Hand bezogen sind, und wie jeweils der Mensch in seinem Verhalten, d. h. der durch die Hand handelnde, in den Bezug zum Vor-handenen gestellt ist« (GA 54, 124). ›Handlung‹ meint also »den einheitlichen Wesensbereich der ›vorhandenen‹ Dinge und des beistellend ›handelnden‹ Menschen« (GA 54, 119). TÞ pr€gmata wird für Heidegger jetzt zum Namen für »das eine ursprünglich unzertrennliche Ganze des Bezugs zwischen den Dingen und dem Menschen« (GA 54, 124). Dass das ›Handeln‹ des Menschen – das ›Wesen‹ der Hand gleichsam – nach einer solchen Deutung kein Zugreifen auf die Dinge meint, wird vollends deutlich, wenn Heidegger bemerkt: »Auch die Dinge ›handeln‹, insofern sie als die Vorhandenen und Zuhandenen im Bereich der ›Hand‹ anwesen.« (GA 54, 118) Die oben schon behauptete »Wesenszusammengehörigkeit der Hand mit dem Wort« (GA 54, 125) wird nun nach Heidegger darin offenbar, »daß die Hand Verborgenes entbirgt, indem sie zeigt und zeigend zeichnet und zeichnend die zeigenden Zeichen zu Gebilden bildet« (GA 54, 135), d. h. schreibt. Die Schrift ist also das »durch die Hand gezeigte und in solcher Zeichnung erscheinende Wort« (GA 54, 125). Daraus folgt, dass das Wort als geschriebenes für Heidegger zunächst, d. h. primär, Handschrift ist. Wenn die Schrift nun nicht mehr 13 Derrida zeigt in seiner Interpretation dieser Thesen auf, wie Heideggers Bestimmung des Daseins (des Menschen) sich in einer unterschwelligen und nicht eigens begründeten Absetzung vom ›Animalischen‹ hält; siehe Jacques Derrida, Geschlecht (Heidegger), aus dem Franz. übers. von Hans-Dieter Gondek, 2., durchges. Aufl., Wien 2005, 63 ff.

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durch »die schreibende und eigentlich handelnde Hand«, sondern durch den »mechanischen Druck« her-gestellt wird, dann ist der ursprüngliche Bezug zwischen Wort und Hand nach Heidegger konsequenterweise zerstört und das Wort als bloß ›Getipptes‹ zum reinen, neutralen Verkehrsmittel degradiert. 14 In diesem durch die Schreibmaschine erzeugten »Einbruch des Mechanismus in den Bereich des Wortes« (GA 54, 126) wird dem Menschen also der »Wesensrang der Hand« verhüllt, jedoch ohne dass der Mensch eigentlich erkennt, was hier im Grunde geschehen ist: ein fundamentaler »Wandel des Bezugs des Seins zum Wesen des Menschen« (GA 54, 126). 15 Heidegger entdeckt also im eigentlichen Schreiben ein Handwerk, welches keine Entäußerung des Vor-stellens von durch Wörter bezeichneten Dingen meint, sondern sich vielleicht vor dem Hintergrund von Heideggers Charakterisierung am ehesten als ein ›Ab-zeichnen‹ des im Wort anwesenden Seienden fassen lässt. Somit entpuppt sich die Schrift aber eindeutig als etwas Nachträgliches, denn sie dient dazu, das eigentliche (mündliche) Sprechen ›aufzuzeichnen‹. Heißt das möglicherweise, dass der ›Abfall‹ vom echten Wort nach Heidegger gar nicht erst mit der Maschinenschrift beginnt, sondern dass diese ihn bloß noch radikalisiert? Tatsächlich bemerkt Heidegger in Was heißt Denken? zu Beginn der 50er Jahre, dass Sokrates als der »reinste Denker des Abendlandes« zu bezeichnen sei, weil er nichts Schriftliches hinterlassen habe bzw. erst gar nicht geschrieben habe. 16 Heideggers nähere Begründung ist jedoch sehr aufschlussreich: Es geht ihm offensichtlich nicht darum, dass in der Schrift etwas nicht mehr so ursprünglich und rein verfügbar ist wie in der gesprochenen Sprache, sondern darum, dass die Schrift gerade etwas zu bannen versucht, was sich immer schon entzieht – das eigentlich zu Bedenkende, das Bedenklichste. 17 Vgl. GA 54, 119. Jedoch gesteht Heidegger der Schreibmaschine im Dienste einer Bewahrung der Schrift auch eine begrenzte Bedeutung zu. Zum Thema Technik und Sprache siehe die Ausführungen in Günter Seubold, Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg i. Br./München 1986, 248 ff. Die Schreibmaschinenkritik wird hier jedoch nicht einbezogen. 15 Heidegger bemerkt allerdings, die Schreibmaschine selbst sei keine echte Maschine, sondern eher ein »Mechanismus« – ihre Herstellung sei jedoch durch die Maschinentechnik ermöglicht; vgl. GA 54, 127. 16 Vgl. GA 8, 19 f. Entsprechend verweist Derrida in seiner Analyse von Heideggers Bemerkungen zur Schrift auf Motive des von ihm diagnostizierten Phonozentrismus; vgl. Derrida 2005, 77. 17 In diesem Zusammenhang deutet Heidegger den zeigenden Menschen selbst als ein 14

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Sprechen, Handeln, Denken – Zum ›Wesen‹ der Philosophie

Auf die von Heidegger diagnostizierte Nähe zwischen Dichten und Denken wurde nun schon mehrfach verwiesen – entsprechend zur Kluft, die sich zwischen dem Dichter und dem Schriftsteller auftut, müsste sich mit Heidegger auch eine wesentliche Differenz zwischen einem eigentlichen und einem uneigentlichen Denken aufzeigen lassen. Wenn Heidegger 1939 konstatiert, alles Handeln und Denken arbeite daran, »Machbares auszumachen« 18 , deutet sich bereits die Notwendigkeit eines Denkens an, das sich vom im Zeichen der Technik stehenden Rechnen mit den Dingen radikal entfernt. Entsprechend bedenkt Heidegger in der Parmenides-Vorlesung schließlich nicht nur das eigentliche Wesen des Wortes und die echt verstandene ›Handlung‹, sondern er gewinnt durch eine spezifische Deutung des ›Sehens‹ bzw. des Blicks ein Verständnis von Theorie, welches es ermöglicht, das Wesen der Philosophie – das eigentliche Denken – als Antwort auf den Anspruch des Seins selbst zu enthüllen.

3.

Sprechen, Handeln, Denken – Zum ›Wesen‹ der Philosophie

Heideggers Annäherung an ein ›eigentliches‹ Verständnis des Sehens setzt mit einer Deutung des griechischen ›je€w‹ ein: Das hier gemeinte ›Blicken‹ stelle keineswegs das »Sehen im Sinne des vorstellenden Hinsehens und Zusehens« (GA 54, 152) dar, bei dem sich der Mensch »auf das Seiende als ›Gegenstand‹ richtet und es erfaßt« (GA 54, 152). Ein solches – ›neuzeitlich‹ verstandenes Sehen – bezeichnet Heidegger als ein »Überfallen der Dinge« (GA 54, 153). Der »Blick des modernen Subjekts«, so behauptet er auf Nietzsche und Spengler zurückgreifend, sei »der Raubtierblick« (GA 54, 159). Die Griechen hingegen hätten das Blicken zunächst als die Weise erfahren, »wie der Mensch mit dem anderen Seienden selbst, aber als Mensch in sein Wesen aufgeht und anwest« (GA 54, 153). Dem Blicken als Aktion des Subjekts stellt Hei-

»Zeichen«: »Auf dem Zug in das Sichentziehende ist der Mensch ein Zeichen. Weil dieses Zeichen jedoch in das Sichentziehende zeigt, deutet es nicht so sehr auf das, was sich da ent-zieht, als vielmehr in das Sichentziehen.« (GA 8, 11) 18 Martin Heidegger, Die ewige Wiederkunft des Gleichen und der Wille zur Macht, in: N II, 7–29, hier: 27.

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Eigentliches Denken und Sprechen als endgültige Überwindung der Metaphysik

degger den Blick im Sinne des Anblicks von Seiendem entgegen, wobei Anblick gerade meint: »das Aufgehen und Entgegenkommen des ›Objekts‹« (GA 54, 153). Somit entpuppt sich der Blick des Menschen aber als eine Art Erwiderung des Anblicks des Seienden selbst. Heidegger: »Was dem Erblicken erscheint, ist der an den Menschen ergehende und ihn ansprechende Anblick, der Blick. Das Er-blicken, das der Mensch in bezug auf den erscheinenden Blick vollzieht, ist schon die Antwort auf den ursprünglichen Blick, der menschliches Er-blicken erst ins Wesen hebt.« (GA 54, 158)

Tatsächlich geht Heidegger nun auch auf den Blick des anderen Menschen – und damit auf den Anderen als mich Anblickenden – ein und sieht gerade hier den ursprünglichen Anblick am reinsten verwirklicht, denn in dieser Begegnung mit dem Blick des Anderen erfasse der Mensch sich selbst als das angeblickt seiende Wesen überhaupt. 19 Das ›theoretische Verhalten‹ lässt sich vor diesem Hintergrund nach Heidegger nun zwangsläufig nicht als »Veranstaltung des vorstellenden Subjekts« (GA 54, 219) angemessen begreifen, sondern das Wort Theorie (jewrffla) meine ursprünglich »den vernehmenden Bezug des Menschen zum Sein, welchen Bezug nicht der Mensch herstellt, in welchen Bezug vielmehr das Sein selbst erst das Menschenwesen stellt« (GA 54, 219). Die Philosophie charakterisiert Heidegger nun ebenfalls als ein – jedoch spezifisches – Blicken: Die wahre Philosophie erblicke nicht einzelnes Seiendes, sondern der »Wesensblick des eigentlichen Denkens« (GA 54, 237) erblicke das Sein selbst. Wenn menschliches Blicken überhaupt nach Heidegger aber Antwort ist (auf den Anblick des Seienden), dann entpuppt sich die Philosophie schließlich auch als Erwiderung, genauer: als »Achtsamkeit auf den Anspruch des Seins an den Menschen« (GA 54, 179). Der ›echte‹ Philosoph sucht laut Heidegger also, »dem Anspruch des Seins in einem gemäßen Denken zu antworten« (GA 54, 179). In einem solchen nicht-vorstellenden Erblicken des Seins selbst macht der Philosoph nach dieser Deutung nun etwas offenbar,

Vgl. GA 54, 152 und 158 f. Das Potential, welches in dieser Unterscheidung zwischen dem im strengen Sinne blicklosen Ding und dem mich tatsächlich anblickenden Anderen für eine radikale Differenzierung zwischen dem Begegnen von Dingen und dem von anderen Menschen liegt, entfaltet Heidegger hier jedoch nicht. Allerdings geht er auch auf das vermeintliche Anblicken des Tieres ein und räumt diesem eine »eigentümliche Zwischenstellung« ein.

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was den Menschen in seinem Wesen immer schon ausmacht: unter dem Anspruch des Seins zu stehen. 20 Heidegger: »Hätte der Mensch nicht schon das Sein im Blick, dann könnte er nicht einmal das Nichts denken, geschweige denn Seiendes erfahren. Wie soll der Mensch aber in diesem Bezug zum Sein stehen, wenn nicht das Sein selbst den Menschen anspricht und sein Wesen für den Bezug zum Sein in den Anspruch nimmt?« (GA 54, 217)

Den Bezug des Seins zum Menschen nennt Heidegger auch die »Lichtung« bzw. das »Offene«. Um dieses zu denken bzw. in es hineinzugelangen, bedürfte es nun keineswegs besonderer Anstrengungen, sondern lediglich des »einfachen Erwachens in der Nähe jedes beliebigen und unscheinbaren Seienden, welches Erwachen plötzlich sieht, daß das Seiende ›ist‹« (GA 54, 222). 21 Das Sehen der Philosophie zeugt für Heidegger also von der »Lichtung« als dem »anfängliche[n] Walten des Wesens der ⁄lffijeia«, d. h. der ›Wahrheit‹ des Seins selbst – ein Sehen, welches sich freilich vom Erblicken des einzelnen Seienden deutlich unterscheidet: Heidegger betont, dass das Denken des Seins stets einen »Sprung« verlange, 22 durch den die Philosophierenden »von dem gewohnten Boden des Seienden, auf dem uns zunächst das jeweilige Seiende ist, abspringen in das Boden-lose, als welches sich das Freie lichtet, das wir nennen, wenn wir am Seienden weiter nichts bedenken als das ›es ist‹« (GA 54, 223). Im Rückblick auf das von Heidegger zuvor präsentierte eigentliche Verständnis von ›Handlung‹ zeigt sich nun: Das Denken entpuppt sich als ein ausgezeichnetes Hand-werk – ausgezeichnet deshalb, weil es nicht Zu- und Vorhandenes anwesen lässt, sondern das Sein selbst. Im »Humanismus-Brief« von 1946 erklärt Heidegger entsprechend: 20 Letztlich steht der Mensch also immer schon in der Philosophie und braucht nicht in sie hineingeleitet, wohl aber in ihr angeleitet zu werden; vgl. GA 50, 101. 21 Neben der Parmenides-Vorlesung, dem »Humanismus-Brief« und Was heißt Denken? sind die Feldweg-Gespräche von 1944/45 äußerst aufschlussreich für Heideggers Deutung des Denkens im Rahmen einer seinsgeschichtlichen Konzeption. Besonders deutlich wird hier die Abgrenzung des Denkens von jeglichem ›Wollen‹, wobei die Motive des ›Hütens‹, des ›Dankens‹, der ›Gelassenheit‹ und des ›Wartens‹ bereits eine zentrale Rolle spielen; siehe Martin Heidegger, Feldweg-Gespräche (1944/45), hrsg. von Ingrid Schüßler, Frankfurt a. M. 1995 (GA 77), 100, 108 f., 116, 120 ff., 144 sowie 227. 22 Zum ›Sprunghaften‹ des seinsgeschichtlichen Denkens siehe auch GA 65, 237. Hier wird das Denken als »wissender Ein-sprung in die Augenblicklichkeit der Stätte des Anfalls« des Seyns bezeichnet.

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»Das Denken handelt, indem es denkt. Dieses Handeln ist vermutlich das einfachste und zugleich das höchste, weil es den Bezug des Seins zum Menschen angeht.« (GA 9, 313) 23 In Was heißt Denken? bezeichnet Heidegger das Denken ausdrücklich als das »einfachste und deshalb schwerste Hand-Werk des Menschen« (GA 8, 19). Handeln, dies kann laut Heidegger jedoch nur ein Wesen, welches den ›lgo@‹ hat – das Denken als ›eigentlichstes‹ Handeln bringt das Sein zugleich ›zur Sprache‹ bzw. sucht »die Wahrheit des Seins zu sagen« (GA 9, 313; Hervorhebung M. S.). Eigentliches Sagen wiederum vollbringt dann nichts anderes als die »bleibende und in ihrem Bleiben auf den Menschen wartende Ankunft des Seins je und je zur Sprache zu bringen« (GA 9, 363). Heidegger im »Humanismus-Brief«: »Der Mensch muß, bevor er spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen auf die Gefahr, daß er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat.« (GA 9, 319) 24 Das ›Wesen‹ echten Handelns als das eines wahren Denkens als das eines eigentlichen Sagens ist demnach, das »Sein selbst eigens in sein Eigenes, d. h. in das Offene (Freie) zu bringen« (GA 54, 225). Für die Sprache – in ihrem eigentlichen ›Wesen‹ – bedeutet dies nun, dass sie als »Haus des Seins« (GA 9, 313) zur ausgezeichneten Bewahrerin – niemals Besitzerin 25 – des Seins wird: Sprache ist für Heidegger nun »das vom Sein ereignete und aus ihm durchfügte Haus des Seins« (GA 9, 333), sie ist die »lichtend-verbergende Ankunft des Seins selbst« (GA 9, 326). Als solche »Ankunft des Seins« ist die Sprache nun vollends der Verfügung durch den Menschen entzogen. Entsprechend behauptet Heidegger im zweiten Teil der Vorlesung Was Gleich zu Beginn des »Humanismus-Briefs« geht Heidegger schließlich von einer engen Beziehung zwischen Denken und Handeln aus – Handeln im Sinne des Hervorgeleitens von etwas, der Entfaltung von etwas in »die Fülle seines Wesens«; vgl. GA 9, 313. 24 Im SS 1944 charakterisiert Heidegger das Sein auch als das selbst schweigende »Vorwort«, das jedem konkreten menschlichen Wort vorausgehe; vgl. Martin Heidegger, Logik. Heraklits Lehre vom Logos, in: ders., Heraklit, hrsg. von Manfred S. Frings, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1994 (GA 55), 183–387, hier: 383. In den Beiträgen wird das wahre ›Wesen‹ der Logik als »Sigetik« charakterisiert – das Sein selbst könne schließlich nie ausgesagt werden; vgl. GA 65, 78 f. 25 Das, was der Denkende denkt und der Sagende sagt, ist nach der Konzeption der Seinsgeschichte schließlich niemals sein Besitz, sondern »das Eigentum des Seins, dessen Zuwurf das Denken in seine Entwürfe auffängt« (Martin Heidegger, Entwürfe zur Geschichte des Seins als Metaphysik, in: N II, 458–480, hier: 484). 23

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Sprechen, Handeln, Denken – Zum ›Wesen‹ der Philosophie

heißt Denken? vom SS 1952: »Dichten und Denken benutzen nie erst die Sprache, um sich mit ihrer Hilfe auszusprechen, sondern Denken und Dichten sind in sich das anfängliche, wesenhafte und darum zugleich letzte Sprechen, das die Sprache durch den Menschen spricht.« (GA 8, 132 f.) Wenn die Sprache aber solchermaßen ›durch‹ den Menschen spricht, wird das »Zuspiel« 26 des Seins dann nicht zum ›Sprachspiel‹ ? Tatsächlich behauptet Heidegger ebenfalls im SS 1952, die Sprache »spielt mit uns« und wir – als Denkende – müssten auf dieses »Spiel der Sprache« Acht geben und auf das »hören, was die Sprache eigentlich sagt, wenn sie spricht« (GA 8, 123). Wäre das höchste Denken dann aber nicht ein solches, das dem Sprechen der Sprache selbst ›lauscht‹, d. h. nicht nur auf das hört, was sie sagt, sondern auf ihr Sagen selbst, um ihr eigenes Wesen zu ›erfahren‹ ? 27 Heideggers Texte zur Sprache aus den 50er Jahren legen eben dies nahe. In dem Vortrag »Das Wort« von 1958 bemerkt Heidegger: »[…] was kann es für den Sagenden Denkwürdigeres geben als das sich verschleiernde Wesen des Wortes, das entscheinende Wort für das Wort?« 28 Unterwegs zur Sprache – als der Titel, unter dem sie versammelt sind – heißt nach Heidegger nun ausdrücklich: mit der Sprache selbst eine Erfahrung machen. Das ›Machen‹ soll hier jedoch bedeuten: »durchmachen, erleiden, das uns Treffende empfangen, insofern wir 26 Zum »Zuspiel« des Seins siehe GA 65, 169 f. sowie Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1997 (GA 10), 169. 27 Siehe die Aufzeichnungen und Protokolle zu Heideggers Oberseminar zum Wesen der Sprache vom SS 1939, wo die Besinnung auf die Sprache schon als »ein entscheidender Weg zum Einsprung in das ganz andere, nämlich seynsgeschichtliche Denken« präsentiert wird; vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen der Sprache. Die Metaphysik der Sprache und die Wesung des Wortes, hrsg. von Ingrid Schüßler, Frankfurt a. M. 1999 (GA 85), 5. Entsprechend ist mit der radikalen Distanzierung von der traditionellen Metaphysik auch die Ablehnung der bisherigen Sprachphilosophie verbunden. Zwar geht Heidegger in den 50er Jahren ausführlicher auf die Errungenschaften eines Philosophen wie Wilhelm v. Humboldt ein, distanziert sich jedoch aus mehreren Gründen von dessen Konzeption: Einmal sei Humboldts Denken über die Sprache ganz der »Metaphysik seines Zeitalters« verhaftet, d. h. dem deutschen Idealismus; außerdem sei die Sprache für Humboldt nur »eine Art und Form der in der menschlichen Subjektivität ausgearbeiteten Weltansicht«; vgl. Martin Heidegger, »Der Weg zur Sprache«, in: US, 239–268, hier: 248 f. Siehe zur Identifikation von Seinsdenken und Sprachdenken auch Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Die zarte, aber helle Differenz. Heidegger und Stefan George, Frankfurt a. M. 1999, 44 und 47. 28 Martin Heidegger, »Das Wort«, in: US, 217–238, hier: 237.

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Eigentliches Denken und Sprechen als endgültige Überwindung der Metaphysik

uns ihm fügen« 29 . Entsprechend betont Heidegger gleich zu Beginn des Vortrags »Die Sprache« von 1950: »Der Sprache überlassen wir das Sprechen.« 30 Sie zu erörtern heiße, »uns an den Ort ihres Wesens zu bringen: Versammlung in das Ereignis« (US 12). Als einen ausgezeichneten ›Ort‹ ihres Aufenthalts begreift Heidegger auch in den Beiträgen aus den 50er Jahren das Gedicht. 31 Hölderlin ist immer noch präsent, doch es treten andere Dichter – Georg Trakl, Rainer Maria Rilke und Stefan George – in den Vordergrund. Entsprechend ist die seit den 30er Jahren behauptete Nähe zwischen Dichten und Denken ein wesentliches Motiv auch dieser späten Texte zur Sprache. Obgleich Heidegger in diesen immer wieder an frühere Auseinandersetzungen mit dem Wesen der Sprache anknüpft, geht das ›Experiment‹, die Sprache selbst sprechen zu lassen, auch mit neuen Beschreibungsversuchen bezüglich des Verhältnisses von Sprache und Welt einher: Als eigentlicher ›Wohnort‹ der Sterblichen wird nun das Geviert präsentiert und das Ge-Stell wird zum neuen Namen für das Wesen der Technik. Die folgenden Interpretationen widmen sich – die Darstellung des heideggerschen Denkens nach Sein und Zeit abschließend – dem in Unterwegs zur Sprache erwarteten Sich-zeigen der Sprache selbst, welches Heidegger, begreift man es nicht als Inszenierung seinerseits, mitunter eine Sprache ›aufnötigt‹, die sich an der Grenze des in einem philosophischen Text Zumutbaren bewegt. 32

Martin Heidegger, »Das Wesen der Sprache«, in: US, 157–216, hier: 159. Martin Heidegger, »Die Sprache«, in: US, 9–33, hier: 12. 31 Heidegger behauptet nun jedoch, eine »reine« Prosa sei genauso dichterisch wie die Poesie; vgl. US 31. 32 Bei dieser Interpretation wird sich mitunter die Bezugnahme auch auf spätere Texte Heideggers anbieten, d. h. Texte aus den letzten beiden Jahrzehnten seines Denkens. 29 30

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Abschnitt V: Versammlung in die Ortschaft der Sprache – Die Vorträge und Aufsätze aus den 50er Jahren

1.

Vom Zeichen zur »Zeige«

Schon in den 30er und 40er Jahren geht Heideggers Distanzierung von der Bestimmung der Sprache als eines Werkzeugs mit der Beschreibung ihres Wesens als eines »Nennens« und »Winkens« einher. So unterscheidet Heidegger bereits in der Hölderlin-Vorlesung vom WS 1934/35 – in Anlehnung an den Dichter – zwischen dem Wink und dem Zeichen und betont, der Wink habe es mit einer Ferne in der Nähe und Nähe in der Ferne zu tun. 1 In der Einführung in die Metaphysik von 1935 sucht Heidegger anschließend, »die unzerstörbare Nennkraft der Sprache und Worte wieder zu erobern« (EM 11) und präzisiert in »Der Ursprung des Kunstwerkes«, was die Worte als »Nennen« vollbringen sollen, nämlich ein ›Erscheinen‹ des Seienden selbst. 2 Im SS 1942 charakterisiert er schließlich dieses Erscheinenlassen folgendermaßen: »›Nennen‹ heißt: das Genannte im dichtenden Wort zu seinem Wesen rufen und dieses Wesen als dichterisches Wort gründen.« (GA 53, 24) 3 Als ein Rufen bestimmt nun auch der Vortrag »Die Sprache« von 1950 das Nennen der Worte: »Das Nennen verteilt nicht Titel, verwendet nicht Wörter, sondern ruft ins Wort.« (US 21) In diesem Gerufensein werde das Benannte zwar gegenwärtig, jedoch als etwas Sich-entziehendes: »Das Herrufen ruft in eine Nähe. Aber der Ruf entreißt gleichwohl das Gerufene nicht der Ferne, in der es durch das Hinrufen gehalten bleibt. Das Rufen ruft in sich und darum stets hin und her; Vgl. GA 39, 32. Vgl. Hw 59. 3 Thomä verweist darauf, dass schon bald nach 1933 der »Name« eine bedeutende Rolle in Heideggers Denken zur Sprache spielt; vgl. Thomä 1990, 659 ff. Sein Wesen ist durch die oben angeführten Hinweise auf das Winken und Nennen in den 30er und 40er Jahren charakterisiert. 1 2

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Versammlung in die Ortschaft der Sprache

her: ins Anwesen; hin: ins Abwesen.« (US 21) Dass Sprache nicht als Tätigkeit eines Objekte vor-stellenden Subjekts begriffen werden darf, sondern dass sie vielmehr Seiendes von sich aus anwesen lässt, bedeutet nach Heidegger nun offenkundig, dass sich das Seiende in diesem Anwesen zugleich ›zurückhält‹, denn nur so kann es sich als tatsächlich un-verfügbares ›geben‹. Das Wort ist nach dieser Auffassung kein Zeichen für ein Ding – sofern bezeichnen heißt, das Bezeichnete in eine Verfügbarkeit zu bringen –, es repräsentiert nichts, 4 sondern es gibt sich selbst als »zeigend-winkend-rufendes Scheinenlassen des zu Erblickenden« (GA 77, 174). 5 Versucht man nun, diese Hinweise zum Wesen der Sprache mit der sehr viel früheren Charakterisierung der Rede als Artikulation der Verständlichkeit um 1926 in eine Beziehung zu setzen, dann fällt auf, dass in den späten Texten zur Sprache bei Heidegger vornehmlich vom – einzelnen – Wort die Rede ist, welches das – wiederum einzelne – Ding anwesen lässt. In den 20er Jahren wurde Welt von Heidegger als Verweisungszusammenhang präsentiert, in dem jedes ›Ding‹ als bedeutungshaftes seine spezifische Stelle innehat. Scheut Heidegger nun die Verortung der Dinge in einer sie umgreifenden Struktur, um sie vor jeglicher Festlegung zu bewahren? 6 Anders gefragt: Wie könnte eine Bestimmung des Verhältnisses zwischen Ding und Welt vor dem Hintergrund des Wesens der Sprache als eines ›Nennens‹ aussehen? Dass Heidegger dem Wesen der Sprache in den Texten der 50er Jahre nicht zuspricht, bloß vereinzelte Dinge ins Wort zu rufen, wird deutlich, wenn er die Sprache als »Sage« charakterisiert, denn als solche vollbringe sie das »lichtend-verhüllende, schleiernde Reichen von Welt« (US 200). 7 Dieses Reichen lässt sich nach Heidegger durchaus

Zur Zerschlagung des Bündnisses zwischen Sprache und Präsenz beim späten Heidegger siehe Radomír Rozbroj, Gespräch. Die zwischenmenschliche Problematik im Spätwerk Heideggers, Würzburg 2008, 96 f. 5 In dieser Weise deutet Heidegger im SS 1943 auch das griechische s»ma: Sei das Zeichen ursprünglich begriffen, dann zeige es sich als »entbergende Verbergung«; vgl. Martin Heidegger, Der Anfang des abendländischen Denkens, in: GA 55, 1–181, hier: 179. Zum ›Sichgeben‹ des Wortes, das zugleich ein ›Geben‹ von ›Sein‹ ist, siehe US 193 f. 6 Aufschlussreich in Bezug auf eine solche Vermeidung eines umgreifenden Horizonts ist das erste Gespräch der Feldweg-Gespräche, wo als ein die Dinge versammelndes »Offene« die »Gegend« bedacht wird; vgl. GA 77, 111 ff. 7 Siehe zu früheren Bestimmungen der Sprache als ›Sage‹ auch GA 54, 99 ff. sowie 115. In der Sprache als Sage sieht Heidegger nun auch das gemeinsame »Element für das 4

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Vom Zeichen zur »Zeige«

auch als ein Zeigen 8 verstehen, welches jedoch keine nachträgliche Beziehung zwischen Wort und Ding sowie Satz und Dingzusammenhang knüpfe, sondern das Zeigen der Sage »erbringt das An- und Abwesende in sein jeweilig Eigenes, aus dem dieses sich an ihm selbst zeigt und nach seiner Art verweilt« (US 258). Die Sage als »Zeige« lässt also das gezeigte Ding »bei ihm selbst bleiben« (US 257), dies jedoch im Reichen einer es – in einem noch nicht näher bestimmten Sinne – ›umgebenden‹ Welt. 9 Zu deren Wesen liefert nun der Vortrag »Die Sprache« (1950) einen konkreten Hinweis: Als gerufene, so Heidegger, »versammeln« die Dinge »Himmel und Erde, die Sterblichen und die Göttlichen« (US 22). Diese »Vier« bestimmt Heidegger anschließend als »ursprünglicheiniges Zueinander« (US 22), als im Begegnen der Dinge ursprünglich versammeltes »Geviert« oder »Welt-Geviert« (US 24). 10 Das ›Verhältnis‹ zwischen Ding und Welt sucht Heidegger nun noch näher durch Ausdrücke zu umschreiben, die alle ein gegenseitiges Anwesen- und Verweilenlassen nahelegen: Das Nennen »traut Welt den Dingen zu«, die Welt »gönnt den Dingen ihr Wesen« (US 24). Bemerkenswerterweise gebraucht Heidegger zur Beschreibung der Beziehung von Welt und Ding auch den Begriff des »Zwischen« 11 , der andeuten soll, dass Dichten und das Denken« (US 189). Zur »zarte[n], aber helle[n] Differenz« (US 196) zwischen Dichten und Denken siehe US 38, 169, 173 und 185. 8 Alle Zeichen im engen Sinne entstammen nach Heidegger diesem ursprünglichen Zeigen; vgl. US 254. 9 Entsprechend nennt Heidegger das Zeigen der Sage auch ein »Hinweisen«; vgl. US 254. 10 In »Das Wesen der Sprache« wird deutlich, inwieweit Heidegger das »Geviert« in seiner Auseinandersetzung mit Hölderlin ›entdeckt‹ hat; vgl. US 206 f. Siehe zu diesem Motiv des späten Heidegger vor allem auch die Bremer Vorträge unter dem Obertitel »Einblick in das was ist« von 1949, wo das »Dingen« des Dings als »Versammlung des einfältigen Gevierts« präsentiert wird; vgl. Martin Heidegger, »Einblick in das was ist«, in: ders., Bremer und Freiburger Vorträge, hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1994 (GA 79), 1–77, hier: 13. Diese Vorträge bilden die Grundlage für die späteren – in Vorträge und Aufsätze – veröffentlichten Beiträge »Das Ding«, »Bauen Wohnen Denken« sowie »Die Frage nach der Technik«. 11 Schon in der Vorlesung vom WS 1935/36 spricht Heidegger vom »Zwischen« als dem »Offenen«, das die Erfahrung von Dingen erst möglich mache. Er betont, dass sich »dieses Zwischen […] nicht wie ein Seil vom Ding zum Menschen spannt, sondern daß dieses Zwischen als Vorgriff über das Ding hinausgreift und ebenso hinter uns zurück« (Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1984 (GA 41), 245).

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beide zueinandergehören, aber keineswegs miteinander verschmelzen, sondern in einem ursprünglichen »Unter-Schied« 12 aufeinander bezogen sind: »Der Unter-Schied vermittelt nicht nachträglich, indem er Welt und Dinge durch eine herzugebrachte Mitte verknüpft. Der Unter-Schied ermittelt als die Mitte erst Welt und Dinge zu ihrem Wesen, d. h. in ihr Zueinander, dessen Einheit er austrägt.« (US 25) Das bedeutet letztlich: Es ist die Dimension des Zwischen, welche Dinge und Welt in ihr Zueinander »ereignet« (US 25). Hier wird dem Ding nichts genommen, sondern es kommt – so Heidegger – erst im Versammeln des Gevierts »in sein Eigenes« (US 29). Auch das ›Verhältnis‹ der vier »Weltgegenden« zueinander beschreibt Heidegger schließlich als ein Aufeinanderbezogensein, bei dem jede Gegend in sich ruht, dennoch aber ihr Wesen in der »nachbarlichen Nähe« (US 212) zu den anderen hält – er spricht auch von einem ursprünglichen »Gegen-einander-über« (US 212) der »Vier«. 13 Indem die Sprache also Welt und Ding »in das Zwischen des Unter-Schiedes kommen heißt« (US 28), stiftet sie ein spezifisches Zueinander von Ding und Welt sowie Weltgegend und Weltgegend, das jedem Ding seinen ›Ort‹ einräumt, es jedoch nicht einer durch Verweisungen strukturierten Ordnung einverleibt. Dieses spezifische »Gegen-einander-über«, welches Nähe im Abstand und Distanz in der Nähe bedeutet, sieht Heidegger nun bedroht durch eben das, was bei ihm Ende der 40er Jahre die Bezeichnung »GeStell« erhält: den »Überfall« und die »Ausbeutung« alles Seienden, für die weiterhin auch der Name ›Technik‹ steht. Dieses ›alles‹ Seiende zum bloßen »Bestand« degradierende »Stellen« charakterisiert Heidegger nun prägnant als »Herrschaft des Abstandlosen« (GA 79, 25). 14 Diese Abstandlosigkeit stellt nun eine Nähe dar, die sich vom eben charakterisierten Zueinander von Ding und Wort sowie Ding und GeVgl. US 24 f. Heidegger führt das ›Unter‹ des Unter-Schieds auf das lateinische ›inter‹ zurück, so dass der Unter-Schied in seiner Deutung auf das Zwischen verweist. Andere Namen für den Unter-Schied: die »Innigkeit« und der »Riß«; vgl. US 24 und 27. 13 Die Rede von der »nachbarlichen Nähe« erinnert an die These von der »Nachbarschaft« zwischen Denken und Dichten; tatsächlich gebraucht Heidegger das »Gegen-einander-über« auch als Charakterisierung des Bezugs zwischen Denken und Dichten; siehe US 211. Zur spezifischen Vereinigung der »Vier« siehe auch GA 79, 18. Hier wird ihre Zusammengehörigkeit als ein gegenseitiges, nicht-abbildendes »Spiegeln« charakterisiert. 14 Vgl. zur Universalität des »Ge-Stells«, das Heidegger allerdings zumeist durch das Wesen unterschiedlichster Maschinen anzeigt, GA 79, 31 und 44. 12

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viert radikal unterscheiden soll, weil sie die hergestellte Überwindung einer vor-gestellten Distanz zwischen beiden ›Sphären‹ bedeutet: »Im Gegenständlichen haben wir das uns Angehende vor uns gestellt. So steht es von uns und wir von ihm weg. Doch dieses gegenständliche Vorstellen, das uns dem Anschein nach das Anwesende erst begegnen läßt, ist in seinem Wesen schon Angriff auf das uns Angehende.« (GA 79, 25)

Die Herabsetzung des Dinges zum ›Gegenstand‹ bezeichnet Heidegger nun auch als die »Verwahrlosung des Dinges als Ding« (GA 79, 47); wird das Ding solchermaßen »wahrlos«, so Heidegger, dann bedeutet dies zugleich, dass sich Welt im Sinne der vier aufeinander bezogenen Weltgegenden »verweigert« (GA 79, 47). Der Mensch vermag nach Heidegger somit nicht mehr wahrhaft in der Welt zu »wohnen«, sondern höchstens Wohnorte zu errichten, Häuser aufzustellen. 15 Wird die Sprache also in ihrem lichtend-verhüllenden Charakter, ihrem winkenden Nennen von Ding und Welt missachtet und als bloßes Instrument der Bezeichnung und Kommunikation verstanden, dann zeigt sich hier für Heidegger eine fundamentale »Heimatlosigkeit« des Menschen an, die darin besteht, Welt nicht mehr ursprünglich zu bewohnen, sondern sie gewaltsam zu ›kolonisieren‹.

2.

Die Sprache als Monolog?

Das ›Verhältnis‹ zwischen Wort und Ding sowie Sprache und Welt in Heideggers später Konzeption wurde ausführlicher diskutiert – wie aber steht es um die Beziehung zwischen dem sprechenden Menschen und der Sprache? 16 Wenn jedoch schon im letzten Abschnitt behauptet wurde, die Sprache spreche nun nach Heidegger ›durch‹ den Menschen, dann scheint es offensichtlich, dass der Mensch in Heideggers Konzeption der 50er Jahre vollends unter der ›Macht‹ der Sprache steht, d. h. dem Wesen der Sprache »übereignet« (US 30) ist. Konkretes menschliches Sprechen entpuppt sich dann als ein Hören auf die Sprache und 15 Vgl. Martin Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, 2., unveränd. Aufl., Pfullingen 1959, 145–162. 16 Anführungszeichen bieten sich bei der Rede vom Verhältnis an, weil Heidegger selbst betont, die Sprache eröffne strenggenommen mit dem ursprünglichen »Unter-Schied« erst die Möglichkeit aller ›Verhältnisse‹ bzw. sie sei selbst »das Verhältnis aller Verhältnisse«; vgl. US 215.

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jedes Wort muss als Erwiderung auf den ursprünglichen Anspruch der Sprache selbst verstanden werden. 17 Am deutlichsten formuliert Heidegger diese offenkundige ›Nachordnung‹ des menschlichen Sprechens, wenn er die Sprache in »Der Weg zur Sprache« als »Monolog« bezeichnet: »Die Sprache allein ist es, die eigentlich spricht.« (US 265) 18 Aber, so Heidegger, die Sprache »braucht das menschliche Sprechen«, ohne dadurch jedoch wieder ein »Gemächte unserer Sprechtätigkeit« (US 256) zu werden. Dieses ›Brauchen‹, das machen Hinweise Heideggers deutlich, darf aber nicht vorschnell als ein ›Benutzen‹ gedeutet werden. Im SS 1952 bemerkt Heidegger: »[…] das eigentliche Brauchen bringt das Gebrauchte erst in sein Wesen und hält es darin.« (GA 8, 190) Eine späte Bemerkung (datiert auf nach Juli 1970) zum vielfach geäußerten Satz vom Sprechen der Sprache deutet darauf hin, dass das »Eigentümliche des […] doppeldeutigen Brauchens« nicht gesehen wird, wenn man das gegenseitige Brauchen auf »das leere Spiel eines wechselseitigen Vermittelns« reduziert. 19 Mittelbarkeit im echten Sinne heiße vielmehr: »Angewiesenheit auf ein einzigartig verfasstes Gegeneinanderüber« (GA 75, 200). 20 Diese Formulierung erinnert deutlich an die vorhin präsentierte Charakterisierung des ursprünglichen Unter-Schieds als Walten des Raum gebenden Zwischen. Jedoch ist von einer gegenseitigen »Übereignung« in Bezug auf Sprache und Mensch bei Heidegger nicht ausdrücklich die Rede, sondern es dominiert die Vorstellung des menschVgl. zur Charakterisierung des Sprechens als eines Hörens auf die Sprache US 33 und 254 und zum Antwortcharakter eines jeden Wortes US 260. 18 Heidegger betont jedoch, dass der Monologcharakter der Sprache keinen »Egoismus« oder »Solipsismus« meine, denn die Sage sähe im Zeigen gerade von sich selbst ab, um das Gezeigte erscheinen zu lassen; vgl. US 262. Siehe zum Sich-zurückhalten der Sprache im Sprechen auch US 161. 19 Vgl. Martin Heidegger, »Hinweis auf eine mögliche Bestimmung des Dichterischen durch Hölderlin«, in: ders., Zu Hölderlin – Griechenlandreisen, hrsg. von Curd Ochwadt, Frankfurt a. M. 2000 (GA 75), 197–201, hier: 201. 20 Hier ist allerdings die Rede von der Beziehung zwischen Gott und Mensch, jedoch spricht Heidegger auch in Bezug auf das ›Verhältnis‹ zwischen Sprache und sprechendem Menschen ausdrücklich vom gegenseitigen Brauchen; so wird in »Aus einem Gespräch von der Sprache« betont, der Bezug des Menschen zur Sprache sei nicht als Relation zu deuten, in der Sprache und Mensch zueinanderstünden, sondern das DerSprache- bzw. Dem-Sein-Entsprechen wird hier als ein Wesen »im Brauch« beschrieben; vgl. US 126. 17

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lichen Sprechens als eines Sich-fügens. Dennoch machen Heideggers Bemerkungen zum spezifischen Gebrauchtwerden des menschlichen Sprechens deutlich, dass dessen Antwortcharakter nicht als eine Form der Hörigkeit verstanden werden darf, wie sie sich etwa zwischen Mensch und Mensch einstellen kann. Auch wenn Heidegger von der ›Macht‹ der Sprache redet – die ›Beziehung‹ zwischen Sprache und menschlichem Sprechen ist hier insofern ›gewaltlos‹, als erstens kein Zwang herrscht – kein her-gestelltes Verhältnis besteht –, sondern der Mensch »in sein Eigenes gebracht« (US 30) wird, und zweitens, weil die Sprache in ihrem Wesen selbst schließlich kein Seiendes darstellt, das ein anderes bedrängen könnte.

3.

Gespräch und Übersetzung: Spiel der Differenzen oder Sammlung auf das ›Eine‹ ?

Zwar nennt Heidegger das Sprechen der Sprache einen Monolog, doch findet sich in den Texten zur Sprache der 50er Jahre auch ein Beitrag, der dem Wesen der Sprache im Gespräch nachgeht bzw. das Geschehen der Sprache zwischen Sprechenden sich vollziehen lässt. Gemeint ist das auf echte Unterredungen zurückgehende »Gespräch von der Sprache zwischen einem Japaner und einem Fragenden«. 21 Indem dieser Text nicht nur die Sprache im Miteinandersprechen sich zeigen lässt, sondern zudem die Begegnung zwischen zwei konkreten Sprachen thematisiert, eröffnet er die Möglichkeit, vor dem Hintergrund der heideggerschen Konzeption ausdrücklich nach ›dialogischen‹ Momenten und Ereignisweisen der Sprache zu fragen. 22 In »Der Weg zur Sprache« wird das Zueinandersprechen von Heidegger folgendermaßen charakterisiert: »einander etwas sagen, ge-

21 Der Text entstand in den Jahren 1953/54. Anlass war der Besuch des Professors Tezuka von der Kaiserlichen Universität Tokio. Als ein weiteres von Heidegger verfasstes Gespräch wäre neben den Feldweg-Gesprächen noch der 1946/47–1948 entstandene Beitrag »Das abendländische Gespräch« zu nennen; siehe Martin Heidegger, »Das abendländische Gespräch«, in: GA 75, 57–196. 22 Indem Heidegger hier ausdrücklich das Wesen der vielen Sprachen bedenkt, kommt dem Beitrag durchaus eine Sonderstellung in seinem Werk zu; vgl. zu dieser Einschätzung auch Hans-Dieter Gondek, »Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits – Lacan als Übersetzer Heideggers«, in: Hirsch 1997, 263–348, hier: 275 f.

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genseitig etwas zeigen, wechselweise sich dem Gezeigten zutrauen« (US 253). Miteinandersprechen heiße: »zusammen von etwas sagen, einander solches zeigen, was das Angesprochene im Besprochenen besagt, was es von sich her zum Scheinen bringt« (US 253). In dem Gespräch zwischen dem Fragenden und dem Japaner machen die beiden Gesprächspartner aber recht bald die Erfahrung, dass ein solches gemeinsames oder gegenseitiges Zeigen eine besondere innere Spannung entfaltet, wenn die Worte, mit denen das benannte Seiende jeweils ›gerufen‹ wird, unterschiedlichen Sprachen angehören. 23 So muss der Fragende 24 gleich zu Beginn der Unterredung eingestehen, dass er das, was mit dem japanischen Wort Iki bezeichnet wird, in einem früheren Gespräch mit einem anderen japanischen Gast trotz dessen Erklärungsversuchen »stets nur aus der Ferne ahnen« (US 85) konnte. Somit erscheint dem Fragenden auch das Unternehmen dieses Gastes – Graf Kuki – als höchst problematisch: Kuki versuchte, das Wesen der japanischen Kunst durch Rückgriff auf die europäische Ästhetik zu fassen. Der Fragende kommentiert dieses Projekt folgendermaßen: Es sei keineswegs entschieden, »ob es für die Ostasiaten nötig und berechtigt sei, den europäischen Begriffssystemen nachzujagen« (US 87). 25 Gesehen wird offenkundig die Gefahr der Verfremdung und Verzerrung eines Denkens durch die Übernahme einer diesem Denken nicht ursprünglichen Begrifflichkeit. Auf die Charakterisierung der Sprache als »Haus des Seins« zurückgreifend ließe sich eine solche Entfremdung als eine erzwungene ›Umsiedlung‹ begreifen. Tatsächlich behauptet der Fragende im Anschluss an seine skeptische Bemerkung zu Kukis Unternehmen: »Wenn der Mensch durch seine Sprache im Anspruch des Seins wohnt, dann wohnen wir Europäer

So verdeutlicht dieses Gespräch jedoch nur in besonders eindringlicher Weise, was jedes Gespräch auszeichnet. Denn auch wenn die Dialogpartner dieselbe Muttersprache teilen, treffen – wenn auch in abgemilderter Form – unterschiedliche ›Sprachen‹ aufeinander. Wenn Heidegger – wie später deutlich wird – jede Sprachäußerung für auslegungsbedürftig hält, wird eben diese Spannungshaftigkeit eines jeden Gesprächs bezeugt. 24 Um hervorzuheben, dass dieses Gespräch kein Protokoll der tatsächlichen Unterhaltung zwischen Heidegger und Tezuka darstellt, wird hier vom »Japaner« und vom »Fragenden« gesprochen. 25 Siehe zur Diskussion der möglichen Gefahr, wenn das Wesentliche der Kunst und Dichtung einer bestimmten Kultur in einer dieser fremden Sprache besprochen wird, auch US 89. 23

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vermutlich in einem ganz anderen Haus als der ostasiatische Mensch.« (US 90) 26 Wenn die unterschiedlichen Sprachen aber somit »von Grund aus anderen Wesens« (US 90) sein sollen, wie ist dann ein Gespräch zwischen verschiedenen Sprachen bzw. den sie sprechenden Menschen überhaupt noch möglich? 27 Tatsächlich gelangt das Gespräch zwischen dem Japaner und dem Fragenden immer wieder an einen Punkt, an dem ein thematischer Faden abzureißen droht, weil ein gegenseitiges Verstehen unmöglich scheint, obgleich beide Gesprächsteilnehmer die deutsche Sprache sprechen. Zwei Möglichkeiten deuten sich jedoch an, die jeweilige Einbindung in die eigene, dem Anderen nicht ohne weiteres zugängliche Sprachwelt nicht als Mangel oder Verhinderung jeglichen Gesprächs zu begreifen. Diese Möglichkeiten weisen aber einen je anderen Weg: Der eine Hinweis führt zu einer positiven Einschätzung der im Gespräch auftretenden Unbestimmtheiten und sich andeutenden Brüche – er begreift ein Gespräch generell als etwas wesentlich Spannungsgeladenes; 28 der andere weist in die Richtung eines die unterschiedlichen Sprachen und deren Aufeinandertreffen im Gespräch doch vereinigenden bzw. harmonisierenden Momentes. So fällt auf der einen Seite auf, dass eine tatsächliche Annäherung im Gespräch zwischen dem Fragenden und dem Japaner sich stets dort anbahnt, wo die gewählten Worte ausdrücklich als »Winke« im früher charakterisierten Sinne begriffen werden. Wenn jede Sprache ein »verhüllendes Entbergen« des Benannten darstellt, dann leistet keine Sprache eine endgültige Fixierung des Besprochenen, sondern lässt dieses im Hin und Her von Anwesen und Abwesen erscheinen. Das bedeutet: Ein Gespräch vor dem Hintergrund dieser Auffassung von Sprache unternimmt gar nicht den Versuch, in einem Abgleich der jeweils gewählten Worte das eine Gemeinte herauszupräparieren, sondern die Erfahrung mit einem »fremden Winken« lässt die Phänomene auch anders, 26 Siehe auch Martin Heidegger, »Sprache und Heimat«, in: ders., Aus der Erfahrung des Denkens. 1910–1976, hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt a. M. 1983 (GA 13), 155–180. In diesem 1960 gehaltenen Vortrag präsentiert Heidegger Sprache als je geschichtliche, individuelle Heimat. 27 Im Gespräch zwischen dem Fragenden und dem Japaner wird auch die Vermutung geäußert, die unterschiedlichen Kulturen hätten radikal verschiedene Gebärden ausgeprägt; vgl. US 104 ff. Bei der Annahme einer ›Wesensnähe‹ zwischen Hand und Wort ist dies naheliegend. 28 Zur laut Heidegger bereichernden Vieldeutigkeit der Wörter siehe GA 52, 15.

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neu erscheinen und ermöglicht so einen fruchtbaren Austausch, der in der Konfrontation unterschiedlicher ›Welten‹ liegt. 29 Annäherung bedeutet hier also nicht Angleichung. Andererseits wird zum Ende des Gesprächs nahegelegt, ein glückendes Miteinanderreden vollziehe sich als gemeinsames Hören auf den Anspruch, der vor allem konkreten Sprechen an den Menschen ergehe: Das echte Gespräch entpuppt sich dann als »Versammlung auf das Wesen der Sprache« (US 151). Die konkrete Wechselrede zwischen den Sprechern – und hier zusätzlich: zwischen den verschiedenen Sprachen – wird somit auf den Zuspruch ›der‹ Sprache zurückgeführt und das Ansprache-Antwort-Geschehen im Gespräch erweist sich als eine Antwort auf diesen vorgängigen Anspruch. Dann ist es jedoch auch nicht entscheidend, ob das Gespräch – als Versammlung auf das Wesen der Sprache und Hören auf den Zuspruch des Seins – tatsächlich gesprochen oder nur geschrieben ist. Statt eines echten Miteinanderredens favorisiert der Fragende gar erneut das Schweigen als ein eigentliches Sagen. 30 In einem solchen gemeinsamen Ent-sprechen wird die Vielstimmigkeit, welche durch die im Dialog aufeinandertreffenden ›Sprachen‹ entsteht, letztlich auf eine in ihnen untergründig wirkende Abstimmung rückbezogen, die im Hören auf »die Stimme des Zuspruchs« liegt. 31 Während zuvor eine Vielzahl gleichwertiger ›Häuser‹ des Seins nahegelegt wurde, scheint nun aber die Möglichkeit einer Hierarchisierung unter den Sprachen gegeben, denn eine eigentliche Entsprechung muss nicht in allen Sprachen gleichermaßen verwirklicht oder zu verwirklichen sein. Entsprechend behauptet Heidegger, dass »im strengen Wortsinn« zwar jede Sprache als dem Menschen geschicklich zugewiesene »eigentlich« sei, dass aber nicht alle in der gleichen »Nähe zum Ereignis« stünden. 32 An anderer Stelle bemerkt Heidegger, jede SpraDas Potential einer solchen Konfrontation deutet sich auch an, wenn Heidegger das Denken als ein Im-Gespräch-Sein beschreibt bzw. von einem »gesprächsweisen Denken« redet; vgl. US 123 f. 30 Vgl. US 152. Das Schweigen wird jedoch anschließend wiederum als »Vorspiel zum eigentlichen Gespräch von der Sprache« (US 152) bezeichnet. 31 In seinen Überlegungen in »Was ist das – die Philosophie?«, die ausdrücklich ein Gespräch einleiten sollen, behauptet Heidegger schließlich: »Das Ent-sprechen hört auf die Stimme des Zuspruchs. Was sich als Stimme des Seins uns zuspricht, be-stimmt unser Entsprechen. […] Das Seiende als solches bestimmt das Sprechen in einer Weise, daß sich das Sagen abstimmt (accorder) auf das Sein des Seienden.« (GA 11, 21) 32 Siehe US 264. 29

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che sei im Kern philosophierend, doch »in je verschiedenem Grade« (GA 31, 50). Welche Sprache er favorisiert, ist offenkundig: das Griechische, dessen »tiefen und schöpferischen philosophischen Charakter« (GA 31, 50) sonst nur noch die deutsche Sprache aufweise. 33 Doch nicht nur zwischen verschiedenen Sprachen im engen Sinne, sondern auch zwischen verschiedenen Weisen des Sprechens und Schreibens sieht Heidegger schließlich wesentliche Unterschiede aufklaffen, die zu deutlichen Auf- und Abwertungen führen. So zieht er das ›ungekünstelte‹ Sprechen in der Mundart sowie die hölderlinschen Hymnen der modernen Schriftstellerei vor, weil diese – anders als jene – Ausdruck des Ge-Stells sei. 34 Auch das bei Heidegger immer wieder durchscheinende Anliegen, die ›ursprünglichen‹ Worte zu hüten, verdankt sich letztlich einer solchen Favorisierung bestimmter Sprachen und Sprechweisen. 35 Die sich somit meldende Ambivalenz in Heideggers spätem Denken zur Sprache zeigt sich zuletzt auch an seinen Bemerkungen zum Phänomen des Übersetzens. 36 Betrachtet man die verschiedenen Sprachen als je für sich stehende ›Häuser‹ des Seins, muss jeder Versuch, zwischen den Häusern zu wechseln, als ein tatsächliches Übersetzen begriffen werden, d. h. als Gang in die Fremde. Entsprechend betont Heidegger, wenn er sich zum Übersetzen äußert, beständig die Unangemessenheit der Vorstellung, ausgerüstet mit dem richtigen Werk33 Zur Romanisierung des Griechischen als einem verhängnisvollen Ereignis siehe GA 54, 62. Vgl. auch die oft zitierte Bemerkung aus dem Spiegel-Interview, die Franzosen sprächen deutsch, wenn sie anfingen zu denken; vgl. GA 16, 679. Bekanntlich behauptet Heidegger, Franzosen hätten ihm dies selbst bestätigt: »[…] sie versichern, sie kämen mit ihrer Sprache nicht durch.« Das Gespräch zwischen dem Fragenden und dem Japaner wirft allerdings auch die Frage auf, ob nicht zwischen dem seinsgeschichtlichen und dem japanischen, der griechischen Metaphysik so fremden Denken eine große Nähe bestehen könnte; die Heidegger-Rezeption in Japan, aber auch in Korea und China, ist immens und begann schon in den 20er Jahren; vgl. exemplarisch die Beiträge in Japan und Heidegger, hrsg. von Hartmut Buchner, Sigmaringen 1989. 34 Zur Mundart als ungekünsteltem Sprechen vgl. vor allem Martin Heidegger, »Hebel der Hausfreund«, in: GA 13, 133–150. 35 Siehe zu diesem ›Hüten‹ GA 77, 99. 36 Vgl. zum Übersetzen bei Heidegger GA 53, 75 f. sowie GA 54, 17 f. und GA 8, 180 ff. Insgesamt sind seine Bemerkungen zum Phänomen des Übersetzens jedoch recht spärlich – was im Grunde verwundert, bedenkt man, wie sehr Heideggers Denken selbst sich als ein Über-setzen vollzieht, wenn es etwa auf die griechischen Anfänge der Philosophie zurückgeht oder sich ausführlich der Etymologie bestimmter deutscher Wörter zuwendet.

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zeug – dem Wörterbuch – sei ein reibungsloses Übertragen des Gesagten von der einen Sprache in die andere möglich. So behauptet er im SS 1942: »Auf den geschichtlichen Geist einer Sprache im Ganzen hin gesehen, fehlt […] jedem Wörterbuch die unmittelbare Maßstäblichkeit und Verbindlichkeit.« (GA 53, 75) Anschließend heißt es rigoros: »Es gibt überhaupt keine Übersetzung in dem Sinne, daß das Wort der einen Sprache mit dem Wort der anderen zur Deckung gebracht werden könnte oder auch nur dürfte.« (GA 53, 75) 37 Jede Übersetzung sucht diesen Bemerkungen zufolge also dort eine Übereinkunft herzustellen, wo eine wesentliche Differenz herrscht. Wie ließe sich dann aber eine grundlegende Vereinnahmung des anderen Denkens durch die Anwendung der eigenen Sprache im Übersetzen überhaupt vermeiden? Heidegger legt nahe, das Übersetzen von Texten selbst als ›Gespräch‹ zu begreifen. 38 Zentral dabei sei ein tatsächliches »Sicheinlassen« (GA 8, 182) auf die andere Sprache, den fremden Text. Offen spricht Heidegger dabei – hier in Bezug auf das Übersetzen von Heraklit – auch von der Gefahr, beim »Übersetzen an das andere Ufer, das kaum bekannt ist und jenseits eines breiten Stromes liegt« (GA 55, 45), einen echten »Schiffbruch« zu erleiden. Einen solchen durchzumachen gehöre aber möglicherweise gerade zum echten Übersetzen dazu – ein vorschnelles ›Hinweggleiten‹ über Unverständliches entspricht zwangsläufig keinem wahrhaften Sicheinlassen auf das in der fremden Sprache Gesagte bzw. das Sagen der fremden Sprache selbst. 39 Jedoch finden sich bei Heidegger auch Bemerkungen zum Übersetzen, welche die Radikalität des Übersetzens wiederum in Frage stellen: Einmal betont Heidegger, jedes Übersetzen sei zwangsläufig ein Auslegen – eine tatsächlich ›gewaltlose‹ Annäherung an den fremden Text ist somit kaum möglich, denn die Hinwendung vollzieht sich laut Heidegger so von einem spezifischen »Vorstellungsbezirk« her, »innerhalb dessen man den auszulegenden Text zum voraus ansetzt« (GA 8, 181). 40 So deutet sich die Unmöglichkeit eines vom Eigenen tatsächlich Heidegger gesteht dem sachlichen Geschäftsbrief durchaus eine höhere Übersetzbarkeit zu als dem Gedicht, welches sich nie wahrhaft übersetzen ließe; vgl. etwa GA 55, 45. 38 In »Der Spruch des Anaximander« redet Heidegger wiederholt vom »Zwiegespräch« mit den Griechen; vgl. Martin Heidegger, »Der Spruch des Anaximander«, in: Hw, 317– 368. 39 Vgl. zum Stehenlassen des Unverständlichen auch GA 8, 186. 40 Bedenkt man jedoch, inwieweit Heidegger sich spätestens in den 50er Jahren von 37

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absehenden bzw. dieses ›einklammernden‹ Hörens auf die fremde Sprache unmissverständlich an. Im SS 1942 hat Heidegger es gar ausdrücklich als eigentliches Wesen der Übersetzung verstanden, »die Auseinandersetzung mit der fremden Sprache« nur »umwillen der Aneignung der eigenen« (GA 53, 80) anzustreben. Hintertrieben wird die Charakterisierung des Übersetzens als eines Übersetzens aber auch von einer erneuten Zuweisung dieses Geschehnisses zum Ereignis der Sprache oder der Wahrheit des Seins selbst. So gesteht der Japaner in dem »Gespräch von der Sprache«: »[…] während des Übersetzens war mir oft, als wanderte ich zwischen verschiedenen Sprachwesen hin und her, jedoch so, daß mir bisweilen ein Schein zuleuchtete, der mich ahnen ließ, der Wesensquell der grundverschiedenen Sprachen sei derselbe.« (US 115) Im WS 1942/43 spricht Heidegger entsprechend von einem dem konkreten Übersetzen von einer Sprache in die andere vorgeordneten Über-setzen, nämlich dem »unseres ganzen Wesens in den Bereich einer gewandelten Wahrheit« (GA 54, 18). Wenn Heideggers Übersetzungen den griechischen Worten doch so offenkundig ›Gewalt‹ antun, dann wird nun deutlich, worauf sich hier primär eingelassen wird: nicht auf die andere Sprache in ihrer Fremdheit, sondern auf die Wahrheit des Seins, deren Aufscheinen in ›ursprünglichen‹ Worten in die Sicht kommen soll. Das Herausstellen des Fremden der anderen Sprache steht dann gleichsam im Dienst der Dekonstruktion. Wenn sich dabei der deutsch sprechende Denker dem Griechischen nähert, dann ist er gegenüber dem z. B. französisch sprechenden privilegiert, denn die nach Heidegger bestehende Auszeichnung beider Sprachen bezüglich eines echten Philosophierens lässt die Erwiderung auf den Anspruch des Seins mit der Übersetzung zwischen einander ohnehin – seinsgeschichtlich – nahen Sprachen gleichsam zusammenfallen. 41 jeglichem durch Vorentwürfe strukturierten Hören abwendet, erscheint diese Deutung der Auslegung als nicht mehr angemessen. Jedoch betont er auch, jedes Auslegen sei ein Übersetzen und verweist somit auf ein intrasprachliches Übersetzen, das sich vollziehe, wenn wir z. B. Hölderlin interpretieren oder Kant lesen; vgl. GA 53, 75 sowie GA 8, 180. 41 Also kann letztlich immer noch von einer »griechisch-deutschen Sendung« (GA 39, 151) geredet werden, wenn dabei impliziert ist, dass es um die ›seinsgeschichtliche‹ Rolle der Völker geht; vgl. zu einer solchen Deutung des Volkes Hw 332. Es zeigt sich also, dass trotz einer zunehmenden Kritik am Begriff des Volkes, den Heidegger nun vom neuzeitlichen Subjektdenken her versteht, nicht ausgeschlossen wird, dass einzelne Völker eine hervorragende Rolle spielen. Noch Mitte der 40er Jahre wird das Deutsch-sein

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Versammlung in die Ortschaft der Sprache

Heideggers Überlegungen zum Gespräch und zum Phänomen der Übersetzung weisen also eine Spannung zwischen der Entdeckung »wesentlich« verschiedener Sprachen und dem Aufweis eines gemeinsamen Grundzugs in ihrem jeweiligen »Wesen« auf. Von Heidegger selbst artikuliert ist diese Spannungshaftigkeit jedoch in seiner spezifischen Deutung des »Selben«, das nicht das »Gleiche« meinen soll. 42 Vor diesem Hintergrund ließe sich sagen: Die einzelnen, je geschichtlichen Sprachen als Erwiderung auf den Zuspruch des Seins zu deuten heißt nicht zwangsläufig, sie ›gleichzuschalten‹ ; ihre »wesentliche« Verschiedenheit hervorzuheben bedeutet vor diesem Hintergrund jedoch auch nicht, sie der völligen Un-vermittelbarkeit preiszugeben. 43 Wenn »Mittelbarkeit« nach Heidegger »Angewiesenheit auf ein einzigartig verfasstes Gegeneinanderüber« bedeutet, dann ließe sich Heideggers Gesprächs- und Übersetzungskonzeption als Versuch begreifen, die Anerkennung wesentlicher Unterschiede in einem grundlegenden Aufeinanderbezogensein zu fundieren – einem Bezogensein, das im Sinne des zuvor thematisierten »Unter-Schieds« zu fassen wäre. Im Gespräch mit dem Japaner gesteht der Fragende – er sei nun doch ausdrücklich mit Heidegger identifiziert –, das richtige Wort für ein angemessenes Verstehen des Wesens der Sprache fehle ihm immer noch: »Der Ausblick für das Denken, das dem Wesen der Sprache zu entsprechen sich abmüht, bleibt in seiner ganzen Weite noch verhüllt.« (US 93) Dieses Eingeständnis lässt sich jedoch nicht mit der Unsicherheit bezüglich der Sprache gleichsetzen, die in Sein und Zeit artikuliert wurde. Die Schwierigkeit, die richtige Benennung für das Nennen selbst zu finden, rührt nun letztlich aus dem Wesen der Sprache selbst her – sie ist kein Seiendes, das zu bezeichnen wäre, sondern die angemessene Weise, sich ihr anzunähern, besteht nach Heidegger allein darin, ihr nachzuhören. explizit mit dem eigentlichen Dichten und Denken gleichgesetzt; vgl. GA 77, 236. Zu kritischen Bemerkungen zum Volk als ›Subjekt‹ siehe GA 66, 329 und GA 77, 235. 42 Siehe etwa GA 53, 153 sowie GA 55, 42 und GA 9, 363. Hier wird die Abgrenzung des ›Selben‹ vom ›Gleichen‹ exemplarisch umrissen. Siehe auch die Ausführungen zum ursprünglichen Wesen des ›Selben‹ und der bloßen Identität in Martin Heidegger, »Der Satz der Identität«, in: GA 11, 31–50. 43 Nach Heidbrink eröffnet Heidegger so einen Weg zum Umgang mit dem Anderen, »der weder auf eine Assimilation des Fremden hinausläuft noch in eine erneute Metaphysik der Differenz einmündet« (Ludger Heidbrink, »Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung«, in: Hirsch 1997, 349–372, hier: 368).

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Abschnitt VI: Eine abschließende Interpretation von Heideggers Denken nach Sein und Zeit

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Fundamentalontologie und seinsgeschichtliches Denken

Die in Teil II dieser vergleichenden Untersuchung vorgenommene Darstellung des heideggerschen Denkens nach Sein und Zeit setzte zwar den Schwerpunkt auf die Betrachtung des Phänomens Sprache, konnte aber aufgrund der zentralen Stellung, welche diesem schon bald nach 1930 in Heideggers Konzeption eingeräumt wird, die wesentlichen Motive und Themen dieses Denkens insgesamt in den Blick nehmen. Wenn nun eine abschließende Interpretation zu Heideggers Denken nach Sein und Zeit unternommen wird, stehen folgende Überlegungen im Hintergrund: Welche zentralen Veränderungen hat Heideggers Konzeption durchlaufen, d. h. wo finden sich die markantesten Distanzierungen zur Fundamentalontologie der 20er Jahre? Außerdem: Mit welchem Begriff lässt sich die Entwicklung des heideggerschen Denkens am treffendsten beschreiben? Bei der Beantwortung dieser Fragen muss zudem berücksichtigt werden, wie sich das Denken Heideggers in den Jahrzehnten nach Sein und Zeit seinerseits vollzieht, d. h. wo hier möglicherweise noch einmal zentrale Veränderungen und Wandlungen stattfinden. Betrachtet man zunächst Heideggers Bestimmung des Denkens vor dem Hintergrund der seinsgeschichtlichen Konzeption und setzt es zu der früher vorgenommenen Bestimmung des phänomenologischhermeneutischen Vorgehens bei der Frage nach dem Sinn von Sein in Beziehung, fällt zuerst auf, dass an die Stelle des Fragens nun ein auf den Anspruch des Seins Acht gebendes Hören getreten ist. 1 In der Auseinandersetzung mit Heideggers Philosophiebegriff der 20er Jahre wurde die Annäherung an das Sein als ⁄n€mnhsi@ charakterisiert – In »Das Wesen der Sprache« behauptet Heidegger ausdrücklich, das »Hören der Zusage« sei die »eigentliche Gebärde« des Denkens, und nicht das Fragen; vgl. US 180.

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wie gezeigt stellt Heidegger diesen Bezug zur platonischen Konzeption um 1927 selbst mehrfach her. So vermag folgende Bemerkung aus der Vorlesung Grundbegriffe (SS 1941) die Distanzierung von der früheren Präsentation der Seinsfrage besonders prägnant auszudrücken: Das Sein überhaupt sei »nicht etwa nur solches, an das wir uns erinnern, auf das wir als ein schon Bekanntes je wieder zurückkommen können im Sinne der Lehre Platons von der ⁄n€mnhsi@« 2 . Es müsse vielmehr erkannt werden, »daß das Sein nicht ein ›Gegenstand‹ der möglichen Erinnerung für uns, sondern selbst das eigentlich Erinnernde ist, jenes, das überhaupt innewerden läßt jegliches, was als Seiendes ins Offene kommt« (GA 51, 66). Suggerierte die Deutung des Zugangs zum Sein als »metaphysischer Erinnerung« um 1927 noch, dieses könne dem seinsverstehenden Dasein zugänglich werden über dieses Verstehen, so begreift das seinsgeschichtliche Denken das Sein selbst nicht mehr als vom Dasein aus annäherbar, sondern denkt es als ein solches, das sich jeglichem Begreifen überhaupt radikal entzieht. 3 Auf den Anspruch des Seins zu hören und diesem zu entsprechen meint also kein Offenbarmachen des Seins, weil dieses erstens nicht offengelegt werden kann wie Seiendes und weil zweitens hier keinerlei ›Machen‹ seitens des Menschen stattfindet. Entsprechend hört Heidegger schon sehr bald nach Sein und Zeit auf, sein Denken dezidiert als ›Phänomenologie‹ zu bezeichnen. Beinhalteten die meisten seiner Vorlesungen zwischen 1920 und 1927 Diskussionen der phänomenologischen Methode, so finden sich diese in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr. In Nietzsche II behauptet Heidegger ausdrücklich, die früher angezielte »Destruktion« sei ebenso wie die Methode der Phänomenologie und »alles hermeneutisch-transzendentale Fragen« überhaupt eindeutig »noch nicht seinsgeschichtlich gedacht« 4 gewesen. Die spezifisch »seinsgeschichtliche Erinnerung« gehe nämlich »in den Anspruch der lautlosen Stimme des Seins und zur Art ihres Stimmens zurück« (N II, 484). Von der Phänomenologie als Methode, 5 die Seiendes oder gar das Sein selbst offenbar machen 2 Martin Heidegger, Grundbegriffe, hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1981 (GA 51), 66. 3 Zum Zusammengehören von Erinnerung und Entzug im späten Denken Heideggers siehe auch GA 52, 161. 4 Martin Heidegger, Die Metaphysik als Geschichte des Seins, in: N II, 399–457, hier: 415. 5 Die ›Methode‹ wird nun konsequent den Einzelwissenschaften zugewiesen; vgl. etwa

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Fundamentalontologie und seinsgeschichtliches Denken

soll, distanziert sich Heidegger demnach nach Sein und Zeit ausdrücklich. 6 An die Stelle des Sehenlassens tritt ein ›Wesensblicken‹, das sich vom neuzeitlichen Verständnis des Sehens als eines vor-stellenden Blickens radikal unterscheiden soll: Der Wesensblick der Philosophie stellt nach Heidegger nun eine Erwiderung dar, d. h. der Philosoph erfährt sich zunächst selbst als Angeblickter bzw. Angesprochener (vom Seienden bzw. Sein her). In Sein und Zeit war für Heidegger selbst noch nicht entschieden, ob die Philosophie letztlich »auf ein Gegenwärtigen zielt« (SZ 363; Fn. 1); im Rahmen des seinsgeschichtlichen Denkens muss dies verneint werden, denn im An-denken 7 an das Sein findet keine Vergegenwärtigung im Sinne größtmöglicher Näherung statt: In seinem An-wesen entzieht sich, verbirgt sich das Sein zugleich. Auch das Sehen der ›Dinge‹ wird nun von Heidegger konsequenterweise anders gedeutet als noch in den 20er Jahren: Schon bald nach US 197. An ihre Stelle tritt der ›Weg‹ : »Der Weg läßt in das gelangen, was uns belangt, in dessen Bereich wir uns schon aufhalten.« (US 199) 6 Jedoch bedeutet der Verzicht auf den Namen ›Phänomenologie‹ nicht zwangsläufig, dass sich Heideggers späteres Denken überhaupt nicht mehr als ›phänomenologisches‹ deuten ließe. Es müsste jedoch ein Begriff von Phänomenologie vorausgesetzt werden, der folgende Aspekte einschließt: Das Phänomen müsste als etwas verstanden sein, was sich in einer wesenhaften Verborgenheit halten darf, ohne den Status des Phänomenseins zu verlieren, und der ›logos‹ müsste eindeutig als Erwiderung bestimmt werden. So interpretiert Cosmus etwa die ›Kehre‹ Heideggers als Wandlung einer daseinsanalytischen zu einer »anonymen Phänomenologie«, welche den phänomenologischen Ansatz gerade radikalisiere, weil erst hier eine tatsächliche Offenheit für den Anspruch der ›Sache(n) selbst‹ realisiert sei; vgl. Cosmus 2001, 70 ff. sowie 98 ff. Siehe zur Diskussion um das Verhältnis von Heideggers späterem Denken zur Phänomenologie auch Pöggeler 1990 a, 166 ff. sowie Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Weg und Methode. Zur hermeneutischen Phänomenologie des seinsgeschichtlichen Denkens, Frankfurt a. M. 1990; v. Herrmann deutet das Ineinander von Zuspruch und Entsprechung immer noch als phänomenologisch-hermeneutisches Modell; vgl. auch v. Herrmann 1999, 52 f. sowie 120 ff. Tatsächlich bringt Heidegger in den sehr späten Texten das Seinsdenken mitunter ausdrücklich mit dem Anspruch des »phänomenologischen Sehens« in Verbindung; z. B. spricht er von einer »Phänomenologie des Unscheinbaren« und sieht in einer recht verstandenen Phänomenologie das geforderte Sicheinlassen auf die Dinge und das Sein gegeben; vgl. Martin Heidegger, Seminare, hrsg. von Curd Ochwadt, Frankfurt a. M. 1986 (GA 15), 399 sowie Martin Heidegger, Zollikoner Seminare. Protokolle – Gespräche – Briefe, hrsg. von Medard Boss, Frankfurt a. M. 1987, 143. 7 Zum Wesen des Andenkens, welches das Erinnerte nicht zur Vergegenwärtigung bringt, siehe auch GA 52, 54 f. Im Zuge einer Deutung der Hölderlin-Hymne »Andenken« formuliert Heidegger hier die Ahnung, das Denken sei »eigentlich stets ›Andenken‹«.

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Sein und Zeit wird mit der Interpretation der yÐsi@ als Walten des Seienden im Ganzen ein Weg eingeschlagen, der zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Ding sowie Ding und Welt führt. Indem dieses Walten der yÐsi@ als ein Geschehen präsentiert wird, das nicht der Macht des Menschen entspringt, wird dieser schon 1929/30 als vom Seienden »umwaltet« charakterisiert. An die Stelle eines Begegnens des Seienden aus einer vom Dasein entworfenen Welt heraus tritt schon hier eine Konzeption, die den Menschen wesentlich als vom Seienden her angegangenen begreift. Jedoch fiel auf, dass die ausgezeichneten Weisen des menschlichen Seins zur Welt, die Heidegger in den folgenden Jahren thematisiert, von einer deutlichen Spannungshaftigkeit zwischen einem menschlichen Tun auf der einen Seite und dem Walten des Seienden selbst auf der anderen gekennzeichnet sind. So gelangte mit der Charakterisierung der Arbeit eine ›Tätigkeit‹ in den Blick, bei welcher der Mensch als Tätiger zugleich »entrückt« sein sollte »in die Offenbarkeit des Seienden« (GA 38, 154). Bezeichnenderweise treten bei Heideggers Versuchen einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Mensch und Seiendem nun Phänomene in den Mittelpunkt, welche in Sein und Zeit kaum beachtet wurden, z. B. Natur und Kunst. 8 Deren ›Eingliederbarkeit‹ in das geordnete Bedeutungsganze Welt wurde in Abschnitt II des ersten Teils dieser Untersuchung schließlich schon stark in Zweifel gezogen. 9 Tatsächlich wird das Kunstwerk nun von Heidegger gerade nicht einer durch Verweisungen strukturierten Welt eingeordnet, sondern es selbst soll Welt auf- und Erde her-stellen, d. h. walten lassen. Dabei wird der Welt mit der Erde eine ›Sphäre‹ an die Seite gestellt, deren Zum Leib, dessen Unthematischsein in Sein und Zeit ebenfalls angemerkt wurde, liefert Heidegger in den Zollikoner Seminaren mit Medard Boss aufschlussreiche Hinweise. Heidegger unterscheidet hier dezidiert zwischen »Leib« und »Körper«, gibt sich einer expliziten »Leibphänomenologie« gegenüber jedoch zurückhaltend; eine solche müsste – so Heidegger auf die Konzeption von Sein und Zeit zurückgehend – ihr Fundament letztlich in der Analyse der Grundstrukturen des In-der-Welt-seins haben; vgl. Heidegger 1987, 202 sowie 231. 9 Dabei wurde als Beispiel eine mit dem Zeug Bleistift angefertigte Zeichnung gewählt. Obzwar Heidegger sich in den 30er Jahren mit der Hinwendung zur Kunst vornehmlich auf die Dichtung konzentriert, finden sich auch Bezugnahmen auf bildende Kunst – und zwar nicht nur in »Der Ursprung des Kunstwerkes«. Zu einer kurzen Bezugnahme auf Cézanne siehe GA 13, 223 sowie Martin Heidegger, Gedachtes, hrsg. von Paola-Ludovika Coriando, Frankfurt a. M. 2007 (GA 81), 347 f. Siehe auch Günter Seubold, »Heideggers nachgelassene Klee-Notizen«, in: Heidegger Studies, Volume 9 (1993), 5–12. 8

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Wesen gerade in einem grundlegenden Sich-verbergen gründen soll, so dass sich die Möglichkeit andeutet, ein Her-stellen zu bedenken, das kein Verfügen über das Her-gestellte meint. Doch erst die mit den Nietzsche-Vorlesungen einsetzende Deutung des Vor-stellens – des Vollzugs neuzeitlich begriffener Subjektivität – als eines gewaltsamen Zugriffs auf die Dinge eröffnet Heidegger die Perspektive, letztlich auch das Hantieren mit Zuhandenem, wie es in Sein und Zeit präsentiert wurde, als Angriff auf das Seiende zu werten. 10 Wenn er zu Beginn der 40er Jahre behauptet, auch die Dinge ›handelten‹, insofern sie »als die Vorhandenen und Zuhandenen im Bereich der ›Hand‹ anwesen« (GA 54, 118), und wenn er nun den Blick des Menschen auf die Dinge als Erwiderung von deren Anblick deutet, ist der Weg eröffnet, die Dinge selbst als den Menschen ›be-dingende‹ zu begreifen. Am radikalsten wird das eigene ›Dingen‹ des Dinges jedoch in den Texten aus dem Umfeld des Gevierts ab 1949 formuliert. Wenn Heidegger den Bezug zwischen Ding und Welt – welcher die Menschen als die »Sterblichen« zugehören – nun als gegenseitiges Verweilenlassen charakterisiert, tritt die Distanzierung gegenüber einem Verständnis von Welt als vom Dasein eröffneter und in sich geordneter Bezugsganzheit überdeutlich hervor. Als ›Gliederung‹ eben dieser Verweisungsganzheit fasste Heidegger ab Mitte der 20er Jahre die Rede. Diese sollte das existenzial-ontologische Fundament der in existenzieller Ausprägung je verschiedenen Sprachen darstellen. Wenn Heidegger nun schon 1929/30 das Wesen der Sprache als Offenbarmachen des Waltens des Seienden im Ganzen beschreibt, dann kündigt sich bereits hier die Auffassung der Sprache als eines ausgezeichneten Ortes des Waltens der ›Dinge‹, als deren spezifischen ›Versammlungsortes‹ an – eine Auffassung, welche einige Jahre später in der Behauptung, nur wo Sprache sei, da walte Welt, nachdrücklich formuliert wird. Zwar spricht Heidegger dem in konkreten Worten sich vollziehenden Nennen von Seiendem nun zu, dieses in seinem eigenen Sein erscheinen zu lassen, doch sieht er die ›weltbildende‹ Macht der Sprache 10 Zur ›Kehre‹ als Abgrenzung vom ›Praktizismus‹ in Sein und Zeit siehe Gerold Prauss, Erkennen und Handeln in Heideggers »Sein und Zeit«, 2. Aufl., Freiburg im Br./München 1996, 92 ff. Wenn Brandom die ›Zueignung‹ von Zuhandenem, wie sie in Sein und Zeit präsentiert wird, als ein Antworten auf die ›Dinge‹ deutet, dann liefert er demnach eine Beschreibung des Mensch-Welt-Verhältnisses, welche die Konzeption des späten Heidegger trifft; vgl. Brandom 1997, 536 f.

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in einer besonderen Weise des Sprechens am reinsten realisiert: in der echten Dichtung. Obgleich er in einem weiten Sinne das Sein der Dinge selbst als ein Gedichtet-sein begreift, sofern sie in der durch Sprache ›gestifteten‹ Offenheit begegnen, kennt Heidegger also weiterhin auch Verfallsformen des Sprechens. Dabei bezieht er sich im Wesentlichen auf Realisierungen von Sprache, welche diese wie ein Instrument einsetzen und dabei verleugnen, dass nicht der Mensch die Sprache benutzt, sondern dass er selbst in der Sprache steht. 11 Das bedeutet aber: Nicht mehr der Verlust der vermeintlich ›eigenen‹ Worte und das Abdriften vom ursprünglich Erschlossenen steht bei der Thematisierung des »Unwesens« der Sprache nun im Vordergrund. Heidegger diskutiert als Verfallsformen des lgo@ jetzt vielmehr verstärkt spezifische Weisen der Rede, welche sich der »Machenschaft« des vorstellenden Subjekts verschrieben haben. Wenn er schließlich vor allem in den Texten aus Unterwegs zur Sprache die Nicht-Zeichenhaftigkeit der Sprache betont bzw. eine ›ursprüngliche‹ Auffassung des Zeichens als einer »entbergenden Verbergung« (GA 55, 179) präsentiert, dann wird das Zeichen im traditionellen Sinne nicht deshalb als problematisch angesehen, weil es nur dann benötigt wird, wenn das zu Zeigende nicht selbst gegenwärtig ist. Vielmehr darf das Wort nun nach Heidegger deshalb nicht als Zeichen im metaphysischen Sinne begriffen werden, weil dieses etwas zur Verfügung stellen will, das sich stets in einem Ineinander von Anwesen und Entzug gibt. Verzicht aufs Zeichen heißt jetzt gerade Verzicht auf eine totale Näherbarkeit alles Seienden. Trotz der Hinwendung zur Sprache deutet sich in Heideggers Denken nach Sein und Zeit aber immer wieder auch eine Favorisierung des Schweigens an. Jedoch geht es dabei nicht darum, die verlauteten Worte als eine Art ›Abfall‹ vom schweigend ursprünglicher erschlossenen Seienden zu präsentieren, sondern das Schweigen wird vornehmlich dort ins Spiel gebracht, wo vom Bedenklichsten ›gesagt‹ werden soll, d. h. vom Sein oder auch vom Wesen der Sprache selbst. Schon in Teil I/Abschnitt I zur Philosophiekonzeption Heideggers und Bubers So wie die Sprache nun kein Existenzial – also keine Seinsweise des Daseins – mehr darstellt, so auch die ›Wahrheit‹. Die Unverborgenheit des Seienden geht nach Heideggers späterer Konzeption schließlich nicht auf eine ›Leistung‹ des Menschen zurück, sondern der Mensch wird gedeutet als ein Wesen, das eingelassen ist in die Unverborgenheit (und Verborgenheit) des Seienden im Ganzen.

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wurde skizziert, wie ein philosophisches Sprechen aussehen könnte, das eine tatsächliche Unverfügbarkeit des Seins ›mitsprechen‹ ließe. In einem solchen Sprechen, so hieß es dort, müsste eine grundlegende Bezogenheit auf das Sein durchscheinen, die zugleich jedoch das Scheitern des Greifens nach dem Sein anklingen lässt. Wenn von etwas her geredet wird, das sich selbst entzieht und niemals Gegenstand der Rede selbst sein kann, dann muss eine Sprache gesprochen werden, die – so Thomä prägnant – »wie eine Wunde« ihr »eigenes Hintertreffen vor sich her trägt«. 12 Strenggenommen kann über das Sein also niemals angemessen gesprochen werden, sondern ein echtes An-denken an das Sein vollzieht sich eben darin, ihm – seinem Zuruf – zu entsprechen. Dieses im späten Denken Heideggers so zentrale Modell von Anspruch und Entsprechung dient nun auch dazu, das Eigentliche des Menschen anzugeben, welches die Daseinsanalyse von Sein und Zeit noch als in der vorlaufenden Entschlossenheit erreichbares Selbstsein präsentierte. Nun kommt der Mensch nach Heidegger in sein Eigenes, wenn er sich als dem Sein übereignet erfährt. In Abschnitt V wurde – hier in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem sprechenden Menschen und der Sprache – gefragt, wie eine solche Übereignung zu denken sei. Analog zum behaupteten Monologcharakter der Sprache ließe sich schließlich auch die Seinsgeschichte als Monolog des Seins bezeichnen. So behauptet Heidegger etwa in Nietzsche II: »Die Seinsgeschichte ist das Sein selbst und nur dieses.« (N II, 489) Die vielbeschworene Gelassenheit entpuppt sich dann konsequenterweise als vollkommene Überlassenheit des Menschen an das Sein und seine Zuschickung; die Erwiderung auf den Anspruch des Seins meint offenkundig keine Antwort im Sinne einer tatsächlichen Entgegnung, sondern – wie schon mehrfach nahegelegt wurde – ein Sichfügen. Besonders prägnant drückt sich dieser Gedanke in folgender Bemerkung aus dem Jahr 1949 aus: »Was der Denker vom Sein sagt, ist nicht seine Ansicht. Das Gesagte ist das 12 Vgl. Dieter Thomä, »Die späten Texte über Sprache, Dichtung und Kunst. Im ›Haus des Seins‹ : eine Ortsbesichtigung«, in: ders. 2003, 306–324, hier: 307. Siehe auch das Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag »Zeit und Sein« von Dr. Alfredo Guzzoni, aus dem hervorgeht, dass in diesem Seminar explizit die »ontisch-ontologische« Verfasstheit der Sprache thematisiert wurde, welche die Frage aufwirft, »ob es nicht eine Sprache des Denkens geben könnte, die das Einfache der Sprache so spricht, daß die Sprache des Denkens gerade die Begrenztheit der metaphysischen Sprache sichtbar mache« (ZSD 55).

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Eine abschließende Interpretation von Heideggers Denken nach Sein und Zeit

durch ihn hindurch sprechende Echo des Anspruchs, als welcher das Seyn selbst west, in dem Es sich zur Sprache bringt.« (GA 79, 66) 13 Nun wurde bereits auf das Motiv des ›Brauches‹ verwiesen, welches ein Zueinander von Sprache und sprechendem Menschen nahelegt – eine »Angewiesenheit auf ein einzigartig verfasstes Gegeneinanderüber« (GA 75, 200). Lässt sich möglicherweise auch das ›Verhältnis‹ zwischen Mensch und Sein in einer Weise fassen, die nicht jegliches vom Menschen Gesagte auf ein bloßes Echo des Anspruchs vom Sein reduziert? Tatsächlich gibt es einige Stellen in den Texten Heideggers, wo ein gegenseitiges Brauchen zwischen Sein und Mensch angedeutet wird. In »Der Satz der Identität« heißt es etwa: »Mensch und Sein sind einander übereignet. Sie gehören einander.« (GA 11, 40) Das »Er-eignis« – das Heidegger schließlich als An-eignung begreift und nicht als Geschehen oder Vorkommnis – wird hier dezidiert als ein Einander-zugeeignetsein von Sein und Mensch beschrieben. 14 In Der Satz vom Grund betont Heidegger entsprechend, das Geschick des Seins sei »nichts, was uns gegenüber liegt, vielmehr ist es eher als Gegeneinanderüber von Sein und Menschenwesen das Geschick selber« (GA 10, 140). Es scheint, als ob Heidegger in diesen Texten nicht nur davor zurückscheut, das Wesen des Seins dem Gemächte des Menschen zu überlassen, sondern ebenso sucht er zu vermeiden, das Sein als etwas vom Wesen des Menschen »Abgetrenntes« (GA 10, 140) zu präsentieren. Was die Vorstellung der gegenseitigen Übereignung – anders als der Gedanke der gleichsam monologischen Seinsgeschichte – ermöglicht, ist nun Folgendes: Das Geschehen von Ansprache und Entgegnung ließe sich als ein Geschehen von Verantwortung begreifen, in welchem der Mensch sich als vorgängig immer schon angesprochenes Wesen enthüllt, in dem er aber nicht einem ihn letztlich überwältigenden Prozess ausgesetzt ist, in den er überhaupt nichts ›Eigenes‹ einzubringen hat. 15 Entsprechend präsentiert Heidegger das Wesen der Technik als vom Menschen letztlich gar nicht überwindbares Phänomen; vgl. etwa Martin Heidegger, »Die Kehre«, in: GA 11, 113–124, hier: 116. 14 Mensch und Sein gehen einander an, so Heidegger; vgl. GA 11, 42. 15 Ist Verantwortung als bloßes Sichfügen gedacht, dann liegt in einem solchen Verständnis des Seinsgeschickes ein großes Entlastungspotential: Das massenweise Sterben in den Vernichtungslagern entpuppte sich als ein ›Geschehen‹, das – als Wesen des GeStells – in die Seinsgeschichte selbst hineingehört. Dass eine solche Zuordnung des 13

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Das Phänomen der Verantwortung verweist nun aber unmittelbar auf den Bereich des Zwischenmenschlichen. 16 Macht Heidegger selbst das Modell von Anspruch und Entsprechung für die Sphäre des Miteinanders von Menschen fruchtbar? Wie gezeigt wurde, spielt das Wirsein einige Jahre nach Sein und Zeit eine zentrale Rolle bei der Bestimmung des Wesens des Menschen: Die »Zersprengung« des Subjekts geht um 1933/34 einher mit der Einrückung des Einzelnen ins Volk. Dieses entpuppte sich jedoch als ein großes Kollektiv-Individuum, d. h. es geht Heidegger bei dieser Charakterisierung des Mitseins keineswegs um den Aufweis einer Vielstimmigkeit oder eines produktiven Austauschs in der Gemeinschaft, sondern um die eine gemeinsame Sendung und Bestimmung. Es wurde aber auch gezeigt, dass Heidegger später – vor allem im Beitrag »Aus einem Gespräch von der Sprache« – ausdrücklich die Begegnung zwischen Sprechenden im Dialog thematisiert und dabei auch die Konfrontation zwischen unterschiedlichen Sprachen bzw. Kulturen bedenkt. Im Kapitel zur Konzeption der »Mitteilung« in Sein und Zeit wurde hervorgehoben, dass Heidegger hier das Miteinandersprechen wesentlich als gemeinsame »Teilnahme am Offenbaren« (GA 20, 362)

Massenmords zum Seinsgeschick zu einer erschreckenden Nivellierung der grausamen Ereignisse führen kann, wird spätestens angesichts folgender Bemerkung Heideggers deutlich: »Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.« (GA 79, 27) Einige Interpreten deuten die Einordnung des Holocaust in die Seinsgeschichte jedoch nicht als Verharmlosung, sondern sie gestehen Heidegger vielmehr zu, gesehen zu haben, dass selbst ein solch unfassbares Geschehen (noch) keinen grundlegenden Wandel im ›Wesen‹ des Menschen herbeigeführt hat; vgl. Rozbroj 2008, 113 f. sowie Vietta 1989, 103 f. Tatsächlich spricht Heidegger in Bezug auf die Ermordungen in den Vernichtungslagern von »zahllose[n], grausig ungestorbene[n] Toden« – statt zu sterben und dabei Mensch (»Sterblicher«) zu sein, seien die Menschen hier schlichtweg »umgelegt«, also ihrer Menschlichkeit vollkommen beraubt worden; dennoch sei »das Wesen des Todes dem Menschen verstellt«, d. h. trotz dieser Morde sei der Mensch noch nicht der »Sterbliche« geworden; vgl. GA 79, 56. Habermas hingegen sieht in der Aufgabe der ›aktivischen‹ Elemente und der Konzeption der Seinsgeschichte insgesamt eine Entlastungsstrategie Heideggers am Werk – in der Hingabe an die Fremdbestimmung könne das um 1933 noch Gefeierte zum nicht beeinflussbaren Geschick ernannt werden; vgl. Jürgen Habermas, »Heidegger – Werk und Weltanschauung«, in: Farías 1989, 11–37. 16 Erst hier ergibt sich schließlich die Möglichkeit echter wechselseitiger Ver-antwortung.

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Eine abschließende Interpretation von Heideggers Denken nach Sein und Zeit

begreift – das heißt, das Gespräch erscheint um 1927 nicht als ein Geschehen, das eine innere Dynamik zwischen den Sprechenden entfaltet. Wie deutlich wurde, nimmt sich die Charakterisierung des Gesprächs im Rahmen des seinsgeschichtlichen Denkens ambivalent aus: Es ließe sich – begreift man es als Abstimmung auf den Zuspruch des Seins – ebenfalls als ›verkappter Monolog‹ verstehen; Heidegger eröffnet aber auch die Perspektive, es als Aufeinandertreffen tatsächlich wesensverschiedener ›Sprachwelten‹ zu begreifen, das ein beständiges Übersetzen hin zum tatsächlich Anderen einschließt. Es zeigt sich jedoch insgesamt, dass die radikale Abkehr vom ›Subjekt‹ bei Heidegger nicht mit einer ausdrücklichen Hinwendung zum Miteinandersein als einem Verantwortungsgeschehen zwischen den »Sterblichen« einhergeht. Im letzten Abschnitt von Teil I wurde eine abschließende Interpretation von Heideggers Denken um 1927 vorgenommen. Da-sein wurde dort als fundamentale Gegen-wärtigung beschrieben, d. h. es wurde die These aufgestellt, Sein und Zeit präsentiere mit dem Dasein ein ausgezeichnetes Seiendes, dem das aus der Welt her Begegnende prinzipiell zugänglich, ›verstehbar‹ ist. Wenn Heidegger nun in den Nietzsche-Vorlesungen das ›Wesen‹ des (sich) Gegenstände vor-stellenden Subjekts als Angriff und Zugriff auf die ›Dinge‹ deutet, dann findet hier eine grundlegende Abgrenzung von einem Denken der Präsenz statt, d. h. einer Konzeption, welche das Seiende vornehmlich als verfügbares für ein weltauslegendes Dasein betrachtet und welche auch die Annäherung an das Sein selbst als Erinnerung beschreibt, die das Erinnerte in der Wieder-holung tatsächlich zugänglich zu machen sucht.17 In dem Vortrag »Zeit und Sein« von 1962 kommt Heidegger – wie der Titel schon ankündigt – noch einmal explizit auf die Thematik von Sein und Zeit zurück, d. h. er fragt noch einmal ausdrücklich nach dem ›Verhältnis‹ von Sein und Zeit. Dabei wird »Anwesenheit« in einer Weise gedeutet, welche den Abstand zur Konzeption von Sein und Zeit deutlich aufscheinen lässt: Anwesenheit besage »das stete, den Menschen angehende, ihn erreichende, ihm gereichte Verweilen« (ZSD 13). Das An-wesen wird hier ausdrücklich als ein Währen und Weilen begriffen, das den Menschen ›angeht‹ : »Anwesen geht uns an, GegenZur Interpretation des heideggerschen Denkens nach Sein und Zeit als Distanzierung von einem dort noch untergründig herrschenden ›Präsenzdenken‹ siehe auch Rozbroj 2008, 76 ff.

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Heideggers eigene Rückblicke und die Frage nach der ›Kehre‹

wart heißt: uns entgegenweilen, uns – den Menschen.« (ZSD 12) Das Anwesen sowie das in ihm Anwesende sind somit in der Charakterisierung von 1962 jeglichem »Gemächte des Menschen« (ZSD 17) radikal entzogen. 18

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Heideggers eigene Rückblicke und die Frage nach der ›Kehre‹

Doch nicht nur in diesem späten Vortrag, sondern auch in zahlreichen anderen Beiträgen der Jahrzehnte nach Sein und Zeit hat Heidegger selbst auf die frühere Konzeption der Fundamentalontologie Bezug genommen. 19 Eine der bekanntesten Stellen – die Erklärung zu den Schwierigkeiten beim »zureichende[n] Nach- und Mitvollzug dieses anderen, die Subjektivität verlassenden Denkens« (GA 9, 237) im »Humanismus-Brief« – wurde bereits genannt. 20 Nicht wenige dieser späteren Rückbezüge auf Sein und Zeit sind von einer spezifischen Spannung gekennzeichnet: Oft scheint Heidegger sich lediglich gegen bestimmte Missverständnisse zu wehren, welche dieses Buch hervorgerufen habe, nicht selten deutet sich jedoch ein Verständnis für das Entstehen dieser ›Missverständnisse‹ an. So gesteht Heidegger etwa im Zuge des Seminars von Le Thor 1969, das Seinsverständnis in Sein und Zeit sei noch zu sehr in einer Weise präsentiert worden, die eine Deutung des Entwurfs als Leistung des Daseins begünstigen könnte. Deshalb habe er bald danach nicht mehr vom »Sinn«, sondern von der »Wahrheit« des Seins gesprochen.21 Im Seminar in Zähringen 1973 18 Die Zeit selbst denkt Heidegger nun konsequenterweise auch anders als in Sein und Zeit, nämlich als die in einem »dreifältig lichtende[n] Reichen einigende Nähe von Anwesen aus Gegenwart, Gewesenheit und Zukunft« (ZSD 17). Diese eigentliche Zeit als dreifältiges Reichen »hat den Menschen als solchen schon so erreicht, daß er nur Mensch sein kann, indem er innesteht im dreifachen Reichen und aussteht die es bestimmende verweigernd-vorenthaltende Nähe« (ZSD 17). Zum Vergleich der Zeitlichkeit des Daseins in Sein und Zeit mit dem späten Seins- und Zeitdenken siehe Iber 1998. 19 Siehe zu einer Diskussion und Einschätzung dieser Rückbezüge Dieter Thomä, »Sein und Zeit im Rückblick. Heideggers Selbstkritik«, in: Rentsch 2001, 281–298. 20 Im »Humanismus-Brief« sucht Heidegger insgesamt eine große Nähe zwischen der Konzeption von Sein und Zeit und dem seinsgeschichtlichen Denken herzustellen; vgl. etwa GA 9, 336 f. 21 Siehe GA 15, 334 f. In den Beiträgen bemerkt er, die Gefahr, Sein und Zeit ›existenziell-anthropologisch‹ zu deuten, liege tatsächlich nicht fern; vgl. GA 65, 87 f. Siehe

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Eine abschließende Interpretation von Heideggers Denken nach Sein und Zeit

bemerkt Heidegger, er wolle nun nicht mehr von der Ek-stase des Daseins reden, sondern von der »Inständigkeit in der Lichtung« (GA 15, 384), weil so deutlicher werde, dass der Mensch dem anderen Seienden »von Angesicht zu Angesicht« (GA 15, 384) gegenübersteht. An anderen Stellen grenzt Heidegger das seinsgeschichtliche Denken – wie bei der Distanzierung von der phänomenologischen Methode schon ersichtlich wurde – aber auch ganz klar vom Entwurf in Sein und Zeit ab. In Besinnung etwa bemerkt er, »Entdecktheit« und »Entschlossenheit« seien in Sein und Zeit noch nicht konsequent in seinsgeschichtlicher Weise gedacht gewesen. 22 In einem anderen Beitrag gesteht er ausdrücklich ein, die Konzeption des Selbst um 1927 sei tatsächlich gefährdet gewesen, »erneut nur eine Verfestigung der Subjektivität zu werden« (N II, 194). In dem Vortrag »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens« spricht Heidegger schließlich davon, dass er seit 1930 versucht habe, »die Fragestellung von ›Sein und Zeit‹ anfänglicher zu gestalten« 23 . Es ging darum, so Heidegger ebenfalls in diesem Vortrag, nach der Phase der Fundamentalontologie »den Ansatz der Frage in ›Sein und Zeit‹ einer immanenten Kritik zu unterwerfen« (ZSD 61). Auch in dem von Dr. Alfredo Guzzoni verfassten Protokoll zu einem Seminar zu »Zeit und Sein« wird deutlich, dass das Vorhaben, von der existenzialen Analytik des Daseins aus die Frage nach dem Sein zu entwickeln, Heideggers späterer Einschätzung nach von vornherein zum Scheitern verurteilt war. 24 Diese Bemerkungen legen eben das nahe, was schon am Ende der Interpretation der Zeitkonzeption von Sein und Zeit behauptet wurde: auch GA 54, 111, wo Heidegger die Konzeption einer Entschlossenheit kritisiert, die ein vom menschlichen Sich-wollen ausgehendes Wollen von Seiendem meine. Eine implizite Kritik an eigenen früheren Entschlossenheitskonzeptionen kann hier durchaus gesehen werden. Zur Möglichkeit, das Seinsverständnis als vor-stellenden Entwurf des Daseins zu verstehen, siehe auch GA 65, 223, 259 sowie 455. 22 Vgl. GA 66, 109. 23 Martin Heidegger, »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, in: ZSD, 61–80, hier: 61. 24 Vgl. ZSD 34. Heidegger bemerkte im Seminar offensichtlich, dass die Thematisierung von ›Zeit und Sein‹ nicht einfach auf der Existenzialanalyse hätte aufbauen können, sondern dass nach der Hinwendung zum Sein selbst »die ganze Analytik des Daseins ursprünglicher und in ganz anderer Weise« hätte wiederholt werden müssen; vgl. ZSD 34. Im Vortrag selbst findet sich auch eine Selbstkritik von ungewöhnlicher Schärfe: »Der Versuch in ›Sein und Zeit‹ § 70, die Räumlichkeit des Daseins auf die Zeitlichkeit zurückzuführen, läßt sich nicht halten.« (ZSD 24)

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Heideggers eigene Rückblicke und die Frage nach der ›Kehre‹

Eine von der Existenzialanalyse ausgehende, direkt an sie anschließende Hinwendung zum Sein selbst und seiner eigenen ›Zeitlichkeit‹ konnte nicht gelingen. Heideggers Ausarbeitung des seinsgeschichtlichen Denkens stellt also keine spätere Durchführung der geplanten »Kehre« dar, welche in der Konzeption von Sein und Zeit selbst stattfinden sollte. Wenn die Hinwendung zum seinsgeschichtlichen Denken nun nicht die anvisierte Kehre ist – lässt sie sich dann überhaupt noch treffend als eine ›Kehre‹ bezeichnen? Im Anschluss an Heideggers eigene Bemerkungen zur »Kehre« vor allem im »Humanismus-Brief« und dem Brief an William J. Richardson 25 von 1962 hat sich diese Bezeichnung für den ›Wandel‹ in Heideggers Denken durchgesetzt und wird selten in Frage gestellt. 26 Sicherlich liegt in der Umgewichtung, die Heidegger innerhalb des Verhältnisses von Dasein und Sein nun zugunsten des Seins vornimmt, eine Art ›Umkehrung‹ beschlossen. Beachtet man jedoch, dass der Begriff der ›Kehre‹ letztlich eine Bewegung bezeichnet, die in einer sauber vollzogenen, exakt durchgeführten Wendung besteht, lassen sich Zweifel anmelden, ob dieser Begriff zur Beschreibung dessen, was nach Sein und Zeit geschieht, tatsächlich geeignet ist. 27 So spricht Heidegger 1940 selbst bezüglich der Unvollendetheit von Sein und Zeit von einem »Abbruch« (N II, 194) – dies deutet allerdings einen anderen Verlauf des Denkens an als die Rede von der ›Kehre‹, nämlich den eines nicht immer geradlinigen Denkweges, bei dem mitunter wieder neu angesetzt werden muss. 25 In diesem Brief klagt Heidegger bekanntlich über das »boden- und endlose Gerede« über die »Kehre«; vgl. Martin Heidegger, »Ein Vorwort. Brief an Pater William J. Richardson«, in: GA 11, 145–152. Seine eigenen Andeutungen zur »Kehre« in diesem Brief vermögen allerdings kaum zum Verstummen des Geredes beizutragen, denn sie schwanken zwischen einer Identifizierung der vollzogenen »Wendung« mit der anvisierten »Kehre« in Sein und Zeit selbst und der Datierung des »Denkens der Kehre« auf die Mitte bzw. das Ende der 30er Jahre und liefern so neuen Stoff für Diskussionen. 26 Der Begriff der »Kehre« (des Ereignisses) oder des »kehrigen Ereignisses« spielt auch in den Beiträgen eine wichtige Rolle; vgl. etwa GA 65, 64 f., 185, 407 ff. sowie 412 f. 27 Zur Semantik der ›Kehre‹ siehe Dieter Thomä, »Stichwort: Kehre. Was wäre, wenn es sie nicht gäbe?«, in: ders. 2003, 134–141. Thomä orientiert sich vornehmlich an der Kehre im räumlichen Bereich, d. h. der ›Spitzkehre‹ einer Straße oder der Kehre, die der Skifahrer vollzieht. Vor dem Hintergrund der Semantik des Begriffs bezweifelt er, dass man in Bezug auf die Veränderungen nach Sein und Zeit tatsächlich von einer ›Kehre‹ sprechen kann, denn das Scheitern von Sein und Zeit ließe gar keine Basis übrig, von der aus eine tatsächliche – saubere – Kehre vollzogen werden könnte; vgl. Thomä 1990, 462 ff.

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Die Metapher vom »Weg« hat Heidegger bekanntlich selbst immer wieder genutzt, um die Bewegung seines sich über mehrere Jahrzehnte vollziehenden Denkens zu charakterisieren. Folgende Bemerkung im Gespräch mit dem Japaner zeigt besonders deutlich, inwieweit die Rede vom ›Weg‹ zur Charakterisierung des heideggerschen Denkens weniger Schwierigkeiten in sich birgt als die Rede von der ›Kehre‹ : 28 »Ich habe einen früheren Standpunkt verlassen, nicht um dagegen einen anderen einzutauschen, sondern weil auch der vormalige Standort nur ein Aufenthalt war in einem Unterwegs. Das Bleibende im Denken ist der Weg.« (US 98 f.) Die Rede vom ›Weg‹ ermöglicht also eine Beschreibung des Denkens, die auf der einen Seite eine Kontinuität andeutet, andererseits aber auch das Aufzeigen bestimmter Abbrüche oder eingeschlagener Um- und Irrwege ermöglicht. 29 In Bezug auf die Präsentation der Seinsfrage zu Beginn von Sein und Zeit ließe sich so etwa sagen, dass sich in der in Teil I/Abschnitt I herausgestellten Unsicherheit bezüglich der Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit des Seins zwei unterschiedliche Wege andeuten, 30 von denen schließlich einer beschritten wird – der, welcher in der Selbsterschlossenheit des Daseins den ›Grund‹ jeglichen Verstehens aufzuweisen sucht. Auch lassen sich weiSchwierigkeiten ergeben sich auch daraus, dass Heidegger das ›Gerede‹ um die ›Kehre‹ auch als Diskussion über eine mögliche »Bekehrung« begreift; vgl. GA 11, 149. Mit diesem Begriff kommen schließlich noch einmal ganz andere Assoziationen ins Spiel. 29 Siehe auch Pöggelers Einleitung zu Der Denkweg Martin Heideggers, wo verschiedene Dimensionen der Weg-Metapher ausgeleuchtet werden (Pöggeler 1990 a, 7 ff.); v. Herrmann spricht in Die zarte, aber helle Differenz von einem »Übergang« vom ersten Weg der Seinsfrage (Sein und Zeit) zu einem »zweiten Weg« (seinsgeschichtliches Denken); vgl. v. Herrmann 1999, 21. Er sieht jedoch keinerlei Bruch zwischen den zwei Wegen, sondern meint, der erste Weg trage in sich schon den Übergang zum zweiten. Hingegen betont Rosales, dass sich das seinsgeschichtliche Denken nicht bruchlos an Sein und Zeit anschließe – andererseits stelle die ›Kehre‹ aber auch keinen totalen Bruch dar; vgl. Alberto Rosales, »Zum Problem der Kehre im Denken Heideggers«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 38 (1984), 241–262. 30 Inwieweit sich in der auch schon um 1927 auftretenden Formulierung des ›Es gibt‹ ein Weg zum seinsgeschichtlichen Denken andeutet, wurde im Seminar zum Vortrag »Zeit und Sein« thematisiert. In diesem Vortrag sucht Heidegger schließlich die Reduktion von Sein und Zeit auf Seiendes dadurch zu vermeiden, dass er sagt »es gibt Sein« und »es gibt Zeit«; vgl. ZSD 5. Die entsprechenden Stellen zum ›Es gibt‹ von 1927, so heißt es nun im Protokoll zum Seminar, »zeigen sich heute als halbe Versuche, – Versuche der Ausarbeitung der Seinsfrage, Versuche, ihr die gemäße Richtung zu weisen, die noch im Unzulänglichen bleiben« (ZSD 47). 28

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Heideggers eigene Rückblicke und die Frage nach der ›Kehre‹

tere Motive in Sein und Zeit aufzeigen, mit denen erste, vorsichtige ›Schneisen‹ in Richtung des späteren Denkens geschlagen werden – z. B. ließe sich an die Thematisierung der Gestimmtheit des Redens in Sein und Zeit anknüpfen und behaupten, schon hier zeige sich andeutungsweise, dass Sprechen wesentlich ein Hören – auf schon ›Gesprochenes‹ – meint. 31 Anders als die Rede von der ›Kehre‹ suggeriert die Metapher des Wegs auch nicht zwangsläufig das endgültige Erreichen eines Zustandes, bei dem innegehalten werden kann. Gerade der Titel Unterwegs zur Sprache lässt das ›Angezielte‹ – die Sprache – in einer gewissen Ferne, deutet an, dass das echte Denken möglicherweise gerade niemals ein Ziel trifft, wohl aber eine Nähe herstellen kann. Ebenso fällt beim Rückgriff auf die Weg-Metapher die Schwierigkeit weg, eine genaue Datierung des Umschlags von einem noch der Fundamentalontologie nahen und einem konsequent seinsgeschichtlich angelegten Denken vorzunehmen – eine Datierung, bei der Heidegger selbst widersprüchliche Angaben macht. Statt einen Text besonders hervorzuheben und ihm den Durchbruch der ›Kehre‹ zuschreiben zu müssen, eröffnet die Beschreibung des Denkwegs die Möglichkeit, Zwischenetappen aufzuzeigen, auch ›kleinschrittige‹, aber dennoch sehr aufschlussreiche Veränderungen zu thematisieren, also den Weg als tatsächliche Suche in den Blick zu nehmen. Schließlich hat sich gezeigt, dass die Entwürfe der ersten Jahre nach 1927 von mannigfachen Spannungen gezeichnet sind, d. h. dass der Denkweg nach Sein und Zeit zunächst keineswegs zielstrebig verläuft. Obgleich sich schon in »Vom Wesen des Grundes« und »Vom Wesen der Wahrheit« eine deutliche Distanzierung von der Fundamentalontologie ausdrückt, 32 spricht doch nicht zuletzt der Rückgang auf zentrale Elemente der Daseinsanalyse um 1933 dafür, dass 31 Aufgrund einer gewissen ›Preisgegebenheit‹ des Daseins, die sich im Existenzial der Geworfenheit ausdrückt, bietet es sich insgesamt an, vor allem bei den Phänomenen und Motiven anzuknüpfen, die mit der Geworfenheit verbunden sind. Dies zeigten schließlich auch die Interpretationen der in der Angst erschlossenen Welt als Un-zuhause sowie die Deutung des ursprünglichen Schuldigseins, wo sich bereits eine spezifische ›Abgründigkeit‹ des Daseins andeutete. 32 Nach Cosmus’ Interpretation leitet »Vom Wesen des Grundes« die Kehrbewegung ein, »Vom Wesen der Wahrheit« markiert den Wendepunkt der Kehre und in den Beiträgen wird diese vollendet; vgl. Cosmus 2001, 81 f. Auch Rosales unterscheidet mehrere Phasen der »Kehre«, siehe Rosales 1984.

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Heidegger bis Mitte der 30er Jahre noch keine endgültige Ablösung von der Konzeption von Sein und Zeit vollzogen hat – oder besser: dass er das Scheitern von Sein und Zeit noch nicht vollends überwunden hat. 33 Auch die Vorlesung Einführung in die Metaphysik (1935) sieht Heidegger selbst nachträglich – wie schon erwähnt – noch nicht als tatsächliche Hinwendung zum seinsgeschichtlichen Denken an. 34 Erst die Auseinandersetzung mit Nietzsche führt zu einer immer nachdrücklicher formulierten Distanzierung von einer Bestimmung des Menschen, die diesen zwar schon als ein dem Seienden ausgesetztes Wesen begriffen hat, ihn aber dennoch als Entwerfenden, Schaffenden, Wollenden charakterisierte. Zugleich wird – in den Beiträgen, in Besinnung sowie der Vorlesung Grundfragen der Philosophie (WS 1937/ 38) – die Ereignung der Wahrheit des ›Seyns‹ selbst als eigentliches Wesen von Geschichte präsentiert. Dieser nun eingeschlagene Weg des seinsgeschichtlichen Denkens wird in den folgenden Jahren schließlich konsequent weiterverfolgt, wobei auch hier noch einmal neue Wege gebahnt werden oder auf frühere Wegabschnitte zurückgegangen wird. 35 So bleibt abschließend zu diskutieren, inwieweit die eben charakterisierte Bewegung des heideggerschen Denkens nach Sein und Zeit als Annäherung an einen ›dialogischen‹ Ansatz – im Sinne Bubers – interpretiert werden kann. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei an zentralen Stellen auf das Leitmotiv des gesamten Vgl. zu dieser Einschätzung Thomä 1990, 493 f. Der Autor begreift die Phase zwischen 1934 und 1948 insgesamt als die »Suche« Heideggers, mit welcher er auf die »Krise« (1928–1933) reagiert. Vor dem Hintergrund der Weg-Metaphorik muss aus der Unmöglichkeit eines scharfen Schnitts zwischen dem Denken um 1933/34 und den sich anschließenden Entwürfen letztlich folgende Konsequenz gezogen werden: Als tatsächlicher ›Irrweg‹, der vollkommen abgebrochen würde, hat sich das Denken um 1933 nicht erwiesen, denn hier werden zentrale Motive geprägt, die Heideggers weiteres Denken begleiten. 34 Heidegger selbst bezeichnet im Seminar in Le Thor von 1969 die Zeit zwischen 1927 und 1936 als »Holzweg«; siehe GA 15, 366. 35 Eine erneute ›Weichenstellung‹ ließe sich in den Bremer Vorträgen von 1949 sehen, während in »Zeit und Sein« sowie den Seminaren der 60er Jahre manch früherer Weg neu begangen oder an früher verlassene Wege angeschlossen wird. Heidegger selbst spricht schließlich von drei Phasen seines Denkens, die sich mit den Titeln ›Sinn‹ – ›Wahrheit‹ – ›Ort‹ (des Seins) überschreiben ließen; vgl. GA 15, 344. Kettering geht von dieser Dreiteilung aus und präsentiert eine Strukturierung des heideggerschen Denkens, die sich an den Leitworten Sinn, Wahrheit und Ortschaft orientiert; vgl. Kettering 1987, 93. 33

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Vergleichs, ›Heimkehr vs. Aufbruch‹, zurückgegriffen wird – eine Metaphorik, die beim späten Heidegger selbst eine wichtige Rolle spielt. 36 Vor dem Hintergrund der in Teil I vorgenommenen Interpretation von Heideggers und Bubers Konzeptionen im Lichte dieses Leitmotivs ist offenkundig, dass eine Distanzierung Heideggers von einem Denken der Heimkehr nach Sein und Zeit auf eine enge ›Nachbarschaft‹ mit einem dialogischen Denken hindeuten könnte. Da im nun folgenden ›Gespräch‹ zwischen Bubers Dialogik und Heideggers seinsgeschichtlichem Denken alle zentralen Motive und Ergebnisse der bisherigen Interpretationen einbezogen werden, handelt es sich zugleich um den Abschluss der gesamten Untersuchung.

36 Das Motiv des Ortes – und damit einhergehend das der Wanderschaft, der Fremde, des Wohnens – gewinnt nach Sein und Zeit immer mehr an Bedeutung und ist vor allem in den Hölderlin-Auslegungen sehr präsent.

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Schluss: Heideggers seinsgeschichtliches Denken und Bubers Dialogik – Anbahnung einer echten ›Begegnung‹ ?

Bubers Philosophieren wurde in Teil I/Abschnitt I in Anlehnung an sein eigenes Selbstverständnis als ein ›bezeugendes Zeigen‹ charakterisiert. Dieses erwies sich als ein vorsichtig-zurückhaltendes Hinweisen auf eine letztlich nicht ›fassbare‹ Wirklichkeit, für das der Philosoph mit seiner ganzen Person einsteht. Es ist offensichtlich, dass Heideggers Konzeption des An-denkens eine große Nähe zum bezeugenden Zeigen im buberschen Sinne aufweist: Das Sein selbst wird nun eindeutig als etwas nicht Greif- und nicht Aussagbares enthüllt. Wenn der Mensch jetzt bei Heidegger als »Zeuge« des Seins bezeichnet wird – und der Philosoph sich somit als ein ausgezeichneter Zeuge entpuppt –, dann bekundet sich auch hier eine Annäherung zwischen Heideggers und Bubers Konzeptionen: Zeuge (des Seins) zu sein heißt bei Heidegger, von etwas her zu sprechen, d. h. sich vorgängig ansprechen zu lassen, und im Sprechen von diesem Angesprochensein Anderen nichts zu ›beweisen‹, sondern sie höchstens zu einem anderen Hören und Sehen hinzuführen. Sicherlich hebt Bubers Dialogik den Bezug zum Anderen im Philosophieren stärker hervor als Heidegger, doch lässt sich auch das andenkende Philosophieren als ein solches begreifen, das Mitphilosophierende auf eine Erfahrung vorbereitet, die zwar jeder der Denkenden selbst machen muss, auf die aber durch ›Fingerzeige‹ von Anderen hingewiesen werden kann: Im Protokoll zum Seminar über »Zeit und Sein« wird dem Seminar das Wagnis zugesprochen, »auf eine Sache, die sich dem mitteilenden Aussagen aus ihr selbst versagt, weisend hin[zu]zeigen« und zu versuchen, »bei den Teilnehmern die eigene Erfahrung des Gesagten vorzubereiten, die Erfahrung von etwas, das nicht offen an den Tag gebracht werden kann« (ZSD 27 f.). 1 In einem Gespräch mit einem buddhistischen Mönch aus dem Jahr 1963 behauptet Heidegger gar ausdrücklich, es verlange nach einer neuen »Methode des Denkens«,

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Bubers Philosophiekonzeption konnte schließlich durch das Motiv des Aufbruchs charakterisiert werden, weil sich die Erfahrung der unbeständigen Wirklichkeit als ein Aussein auf etwas dem Ich stets Bevorstehendes, jedoch gerade nicht Antizipierbares umschreiben lässt. Die Rede von ›Zukünftigkeit‹ und ›Bevorstand‹ zielte hier also nicht auf die Benennung eines irgendwann eintretenden, erwartbaren Ereignisses ab, sondern suchte hervorzuheben, dass die Erfahrung der dialogischen Wirklichkeit bzw. die Begegnung mit dem Du nach Buber ein Getroffensein der Person einschließt – dass hier ›etwas‹ auf das Ich zukommt. Heideggers spätere Deutung der Er-innerung des Seins – welche nun nicht mehr als ⁄n€mnhsi@ verstanden werden soll, sondern als Hören und Antworten auf das den Menschen er-innernde Sein – verweist nun ebenfalls auf eine spezifische Zu-künftigkeit: »Wenn wir dem Erinnerten ganz sein Wesen lassen und sein Walten nirgends stören, dann erfahren wir, wie das Erinnerte bei seiner Wiederkehr gar nicht in der Gegenwart halt macht, um hier als noch Vergegenwärtigtes nur ein Ersatz für das Vergangene zu sein. Das Erinnerte schwingt sich über unsere Gegenwart hinweg und steht plötzlich in der Zukunft.« (GA 52, 54)

Meint An-wesen nun ein »Auf-uns-Zukommen«, so Heidegger selbst in »Zeit und Sein«, dann wird das ›Anwesende‹ schließlich in der Zukunft – oder besser: als Zu-kunft – »gereicht«. 2 Wenn Heidegger bald nach Sein und Zeit zudem den Menschen als im Walten des Seienden stehend charakterisiert und schließlich den Dingen selbst ein ›Handeln‹ zuschreibt, dann ist deutlich, dass sich keine unmittelbare Beziehung mehr zwischen dem menschlichen Sein zu den Dingen im Sinne Heideggers und dem buberschen Eigen-wesen als ›Herrschaft‹ über das Seiende aufweisen lässt. Nach Heideggers späterer Konzeption kann das Sein mit den Dingen nicht mehr als ›wohnliches‹ Sicheinrichten in einer stets schon vertrauten Welt beschrieben werden – die Dinge begegnen dem Menschen nach diesem Ansatz schließlich nicht mehr aus einem zuvor entworfenen Ordnungssystem welche allein »in unmittelbarem Gespräch von Mensch zu Mensch« erreicht werden könne; vgl. Martin Heidegger, »Aus Gesprächen mit einem buddhistischen Mönch«, in: GA 16, 589–593, hier: 589. Wenn bei Heidegger nun – wie im Gespräch mit dem Japaner – erneut doch das Schweigen favorisiert wird, dann geht es wie bei Buber darum, auf jegliches Verfügen zu verzichten. 2 Vgl. ZSD 13. Zur Deutung des Anwesenden als des uns Entgegenkommenden, uns Zukünftigen, siehe auch Hermann Mörchen, »Heideggers Satz: ›Sein‹ heißt ›An-wesen‹«, in: Blasche 1989, 176–200.

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heraus. Wenn Heidegger jetzt Phänomene in den Mittelpunkt stellt, deren Eingliederbarkeit in eine vom verstehend-redenden Dasein her entworfene Welt ohnehin bezweifelt werden konnte, so handelt es sich dabei bezeichnenderweise um Bereiche, denen auch Buber im Rahmen seiner Dialogik eine ausgezeichnete Rolle einräumt: Natur und Kunst. Wie Heidegger begreift auch Buber das Wirken des Künstlers schließlich nicht als ein Schöpfen aus dem ›Eigensten‹ ; vielmehr tritt dem Künstler laut Buber im Schaffen etwas entgegen, auf das er eingeht, um es zu verwirklichen. »Schaffen« meint also auch hier ein »Entdecken«. 3 Im Rahmen der in Teil I durchgeführten Interpretation des Verhältnisses von ›Ich‹ und ›Welt‹ wurde bereits behauptet, dass Buber mit der Charakterisierung des Eigenwesens eine praktische Dimension des neuzeitlichen Subjektivitätsverständnisses offenlege, indem er das Erkennen und Gebrauchen von ›Gegenständen‹ als Aneignung der Dinge durch das Subjekt begreife. Wenn nun eben diese Deutung neuzeitlicher Subjektivität als Beherrschung des Seienden im ›Vor-stellen‹ auch bei Heidegger Ende der 30er Jahre in den Blick rückt, so eröffnet sich hier konsequenterweise eine große Nähe zwischen beiden Konzeptionen. Besonders deutlich wird die Distanzierung vom ›kosmopolitischen‹, d. h. alles Seiende in der Welt prinzipiell erschließen könnenden Dasein in Heideggers späterer Deutung des Wohnens, welche etwa im Vortrag »Bauen Wohnen Denken« von 1951 präsentiert wird. Wie in Sein und Zeit deutet Heidegger hier das ›Ich bin‹ als ein ›Ich wohne‹, begreift dieses menschliche Wohnen aber ausdrücklich als ein Schonen Siehe DP 13 f. und 43 f. sowie RG 59 und 90 f. Speziell zum Dichten als dialogischem Akt siehe MBW VI, 128. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf Paul Celan verwiesen, dessen Werk nicht nur Spuren einer Buber-Rezeption aufweist, sondern der sich auch intensiv mit Heideggers Denken befasst hat; siehe die von Hadrien FranceLanord herausgegebene Materialsammlung Paul Celan und Martin Heidegger. Vom Sinn eines Gesprächs, aus dem Franz. übers. von Jürgen Gedinat, Freiburg i. Br./Berlin u. a. 2007. Celans anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises gehaltene Rede »Der Meridian« wird nicht selten als ›Antwort‹ auf Heideggers Texte in Unterwegs zur Sprache gedeutet; vgl. Jean Greisch, »Heidegger und Paul Celan. Das ›befremdete Ich‹ und die Sprache des Seins«, in: Thomä 2003, 504–510. Bezüglich der Beziehung zwischen Heidegger und Celan siehe auch Robert André, Gespräche von Text zu Text. Celan – Heidegger – Hölderlin, Hamburg 2001. Eine Diskussion von Celans Heidegger- und Buber-Rezeption präsentieren Pöggeler und Böning; siehe Pöggeler 1992, 99 f. sowie Böning 2001, 159 f. und 190 ff.

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der Dinge. 4 Heidegger charakterisiert also menschliches Sein in der Welt – jetzt im Sinne eines Eingebundenseins in das »Geviert« – nach wie vor als ein ›Zuhausesein‹, begreift dieses aber als ein Sicheinlassen auf das begegnende Seiende. Während ›Natur‹ in Sein und Zeit als dem weltentwerfenden Dasein ›verfügbare‹ Sphäre begegnete, präsentiert Heidegger nun als eine Weise des Sicheinlassens auf das Seiende dezidiert das »Hegen« und »Pflegen« der »wachstümlichen Dinge« 5 und gesteht diesen somit ein ›Eigensein‹ zu, welches ihnen auch in Bubers dialogischer Konzeption explizit zukommt. War die Nähe und Ferne des Zeugs in Sein und Zeit noch fundiert in der spezifischen Räumlichkeit des Daseins, dem eine »wesenhafte Tendenz auf Nähe« (SZ 105) zugesprochen wurde, so betont Heidegger später, dass die Dinge selbst einen Ort entstehen ließen, einen Raum freigäben. In-der-Welt-sein entpuppt sich nun als Aufenthalt 6 bei den Dingen und somit eröffnet Heideggers Deutung des Wohnens als eines Schonens die Möglichkeit, ein echtes Begegnen von andersartig Seiendem überhaupt zuzulassen – ein Begegnen, das wie bei Buber als ›Konfrontation‹ mit einem tatsächlichen Gegenüber gedacht ist. Bezeichnenderweise wählt Heidegger nun zur Beschreibung des Verhältnisses von Mensch und Welt ein Motiv, das im dialogischen Denken insgesamt eine zentrale Rolle spielt: das Einandergegenüber »von Angesicht zu Angesicht« (GA 15, 384). 7 Wie mit den Figuren des »UnterSchieds« und des »Gegen-einander-über« wird hier ein gegenseitiges Lassen angezeigt, das in einem fundamentalen Aufeinanderbezogensein gründet – einem Aufeinanderbezogensein, welches jeden der ›Partner‹ des Gegen-einander-über in sein Eigenes kommen lassen soll. Vor dem Hintergrund des Leitmotivs des gesamten HeideggerBuber-Vergleichs ist es nun höchst aufschlussreich, wenn sich Heidegger im Rahmen seiner Kritik am neuzeitlichen Subjektdenken im WS 1941/42 auch auf die Figur des Odysseus bezieht, die zumeist als ein mutig in die Welt hinausstrebender Abenteurer verstanden werde. 4 Heidegger deutet das gotische ›wunian‹ als Ausdruck eines Bleibens, welches ein zufriedenes Sichaufhalten bedeute. Das Wort ›Friede‹, so Heidegger, meint jedoch das ›Freie‹, was wiederum das vor Schaden Bewahrte oder Geschonte heiße; vgl. Heidegger 1959, 149. 5 Siehe Heidegger 1959, 152. 6 Heidegger versteht den Aufenthalt nun als ein Sichhalten im Anblick; vgl. GA 77, 138. 7 Siehe auch GA 77, 182.

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Dieser Deutung setzt er nun eine andere Interpretation der ›Fahrt‹ als Aufenthalt in der Welt entgegen: die Fahrt als ein Er-fahren der Dinge, das diesen entgegenwartet – die Fahrt als Zeit des Wartens, der Besinnung. 8 Obgleich Buber die Möglichkeit des Duseins auf alles Seiende ausweitet, zeigten die Interpretationen in Teil I dieser vergleichenden Untersuchung doch, dass bei seiner Thematisierung der echten Begegnung letztlich die Sphäre des Zwischenmenschlichen im Mittelpunkt steht. Wie gesehen geht Heideggers verstärkte Distanzierung vom neuzeitlichen Subjektivitätsprinzip nach Sein und Zeit nicht mit einer direkten Hinwendung zur Frage nach dem Verhältnis zwischen den Menschen einher. Zwar begreift Heidegger die Überwindung der neuzeitlichen Subjektphilosophie nun ausdrücklich als ein Hinterfragen der Vertrautheit und potentiellen Zugänglichkeit alles Seienden, doch konzipiert er die kritische Ablösung von einer Ontologie der ›Dinge‹ nach wie vor nicht konsequent als Überwindung einer – von Lévinas diagnostizierten – ›Xenophobie‹ in Bezug auf den fremden Menschen. Jedoch ließe sich die Figur des »Gegen-einander-über« auch auf die Beziehung der »Sterblichen« zueinander übertragen. So findet sich in der Vorlesung Der Satz vom Grund (WS 1955/56) folgende bemerkenswerte Aussage: »Wenn man also […], wie das jetzt häufiger geschieht, dem Phänomen der Begegnung nachsinnt, dann muß dabei eine Voraussetzung für die Sauberkeit dieses Vorhabens erfüllt sein. Es muß Klarheit darüber herrschen, ob das Phänomen der Begegnung im Bezirk der Subjekt-Objekt-Beziehung angesetzt und neuzeitlich vom Subjekt als Person her vorgestellt wird, oder ob die Begegnung im Bereich des Gegenüber gesucht wird. Das Gefüge dieses Bereiches denkend zu durchmessen, ist weit schwerer und kaum begonnen.« (GA 10, 121 f.)

In einem der Zollikoner Seminare (im März 1966) behauptet Heidegger entsprechend, man solle statt von einem »sogenannten Ich-DuVerhältnis« besser von einer »Du-Du-Beziehung« reden, »weil Ich-Du immer nur von mir aus gesprochen ist, während es doch in Wirklichkeit eine gegenseitige Beziehung ist« 9 . Vgl. GA 52, 180. Heidegger hier: »Die Gestalt des Abenteurers ist nur im Geschichtsraum des neuzeitlichen Menschentums und seiner ›Subjektivität‹ möglich. Odysseus war noch nicht Abenteurer.« 9 Heidegger 1987, 263. Kritische Bemerkungen zum Ich-Du finden sich auch in Unterwegs zur Sprache sowie der Parmenides-Vorlesung vom WS 1942/43; siehe US 130 und 8

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Während Heideggers Kritik am ›Ich-Du‹ Ende der 20er Jahre vornehmlich darauf abzielte, dieses als »Solipsismus zu Zweien« (GA 24, 394) zu entlarven, der das Existenzial des In-der-Welt-seins ignoriere und außerdem nicht kläre, wie die beiden Partner der Beziehung zueinanderkommen, stellt Heidegger nun die Forderung nach einer fundamentalen Gleichrangigkeit von Ich und Du in den Mittelpunkt, deren Zueinander zudem in einem vorgängigen Gegenüber zu suchen sei. Betrachtet man nun folgende Charakterisierung eines solchen Gegenübers durch Heidegger, dann wird deutlich, wie groß die Ähnlichkeit mit Bubers Konzeption des Zwischen 10 als einer ›machtfreien Zone‹ ist: »Im waltenden Gegen-einander-über ist jegliches, eines für das andere, offen, offen in seinem Sichverbergen; so reicht sich eines dem anderen hinüber, eines überlässt sich dem anderen, und jegliches bleibt so es selber« (US 211). Wenn in diesem Gegen-einander-über beide Partner des ›Verhältnisses‹ einander in spezifischer Weise ›verbergen‹, ohne dass dies einen Mangelzustand darstellen soll, dann eröffnet diese Beschreibung die Möglichkeit, in Heideggers Denken einen Hinweis auf die Chance einer echten Erfahrung des Fremden als Fremden auszumachen. Während die Begegnung mit dem Fremden zur Zeit der Fundamentalontologie faktisch keine Rolle spielte und das Fremde vornehmlich als eine vorübergehende Störung der ursprünglichen Vertrautheit mit den ›Dingen‹ begriffen wurde, bedenkt Heidegger in der Vorlesung zu Hölderlins Hymne »Andenken« im WS 1941/42 sowie in der HölderlinVorlesung ein Semester später ausdrücklich das Erreichen des Eigensten als Prozess der Auseinandersetzung mit dem Fremden, genauer: als Prozess der Anerkennung des Fremden. 11 So heißt es im WS 1941/42: GA 54, 247. Heidegger erwähnt hier – erneut ohne Nennung konkreter Denker oder Schriften – das Ich-Du als misslungenen Versuch, die Tradition neuzeitlicher Subjektivität zu überwinden. 10 Ein Begriff, der wie gesehen auch in Heideggers spätem Denken eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt; siehe exemplarisch GA 41, 245 sowie GA 65, 13 f., 62 f., 86, 299, 311, 428 und US 24 f. und 28. Zu den zentralen Stellen zum ›Zwischen‹ bei Heidegger siehe auch Christian L. Lutz, Zwischen Sein und Nichts. Der Begriff des »Zwischen« im Werk von Martin Heidegger. Eine Studie zur Hermeneutik des Metaxy, Bonn 1984, 102 f. Lutz verweist zwar auf Bubers Begriff des ›Zwischen‹, strebt aber keinen Vergleich mit Heideggers Konzeption an. 11 Heidegger ist hier (in Anlehnung an Hölderlin) jedoch ganz an der Begegnung zwischen dem Griechischen und dem Deutschen interessiert, weshalb er das Fremde (das Griechische) als das »gewesene Anfängliche des Eigenen« (des Deutschen) bezeichnen

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»Sich-selbst-finden ist […] niemals das eigensinnige Auf-sich-alleinpochen, sondern Hinübergehen aus dem Eigenen zum Fremden des Anderen und Herübergehen aus diesem anerkannten Fremden ins Eigene.« (GA 52, 86) Ohne die »Zwiesprache mit dem Fremden« (GA 52, 140), so Heidegger hier nachdrücklich, kann das Finden des Eigenen gar nicht stattfinden. Das Fremde begreift er dabei ausdrücklich als »das Gegrüßte« – und keineswegs als das einfach nur »Weggestoßene«; das Fremde habe »im Gegrüßtsein das gemäße Bleiben« (GA 52, 113). 12 Sicherlich ließe sich hier kritisch anmerken, Heidegger bedenke den Auszug zum Fremden doch nur im Hinblick auf die Rückkehr zum Eigenen – obgleich das ›Erringen‹ des Eigenen kein »gewalttätiges und […] verzwungenes Ansichreißen der eigenen Art« (GA 52, 123) meinen soll, werde das Fremde hier nur als solches anerkannt, um das Eigene umso schärfer hervortreten zu lassen. Doch betrachtet man Heideggers Charakterisierung eines Auszugs, der allein um des Fremden willen stattfindet, dann zeigt sich, dass er das Fremde keineswegs auf seine bloße ›Funktion‹ für die Findung des Eigenen reduzieren möchte. Vielmehr sieht er in einer Absolutsetzung des Fremden die Gefahr, dass der Abstand diesem gegenüber gerade eingeebnet wird. Heidegger verweist hier erneut auf die Gestalt des Abenteurers als ›Personifizierung‹ des neuzeitlichen Subjektivitätsprinzips: Für den Abenteurer gehe die Spannungshaftigkeit des »Unter-Schieds« von Eigenem und Fremdem gerade verloren, weil er im rauschartigen Aussein auf das Fremde im Sinne des Exotischen letztlich danach strebe, ›überall‹ in der Welt zuhause zu sein. 13 So zeigt sich insgesamt, dass Heidegger im Rahmen seines späten Denkens Motive anbietet, welche für die Beschreibung einer Begegnung mit dem Anderen als solchem durchaus geeignet sind. Die Interpretationen in Teil I/Abschnitt III zeigten, inwiefern das dialogische Denken als ausgezeichnete Verwirklichung der Ich-Du-Beziehung zwischen Personen die Sprache präsentieren kann – die Sprache in ihrer Lebendigkeit im tatsächlichen Gesprochenwerden. Das auf die Welt zugreifende Eigenwesen hingegen benutzt Sprache laut Buber kann; vgl. GA 53, 67. Das Eigene wird entsprechend bestimmt als »das Vaterländische des Deutschen« (GA 53, 60). 12 Heidegger betont im SS 1942 klar, es gehe keineswegs um eine Zurückweisung oder gar Vernichtung des Fremden; vgl. GA 53, 68. 13 Vgl. dazu GA 52, 179.

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als ein »hergerichtete[s] Gerät« (W I, 420), mit dem es über Dinge und Vorgänge verfügen kann. Wenn Heidegger sich nun bald nach Sein und Zeit vehement von der Auffassung von Sprache als einem Instrument distanziert, dann kritisiert er wie Buber die Reduzierung der Sprache auf ihre Funktion als Ausdrucks-, Bezeichnungs- oder Kommunikationsmittel. Die Ausführungen im entsprechenden Abschnitt zeigten jedoch auch, dass bei Buber die Abstandnahme von der Werkzeugauffassung von Sprache primär mit dem Aufweis ihres Wesens als einer Stiftung von Nähe und Distanz einhergeht; das Gespräch thematisiert der Dialogiker als spannungsgeladenes Geschehen, dem die Miteinandersprechenden ›übereignet‹ sind, und schon in der Initiierung eines möglichen Gesprächs, dem Ansprechen, sieht Buber ein Moment des Sichauslieferns beschlossen. Tatsächlich bedenkt auch Heidegger nach Sein und Zeit zunehmend das zwischenmenschliche Gespräch als ›Ort‹ des Wesens der Sprache, 14 doch liegt der Fokus bei ihm eindeutig auf der Rolle der Sprache als »Offenheit« für das Seiende, d. h. vornehmlich das nichtmenschliche Seiende. Wenn es nun heißt, in und durch die Sprache ›walte‹ Welt, bedeutet dies nicht, Sprache entwerfe je eine Welt, sondern Sprache sei der eigentliche ›Ort‹, an dem das Seiende den Menschen angeht. 15 Da Heidegger dabei die Sprache jeglicher Mächtigkeit des Menschen entzieht und sie selbst gar als ›das‹ eigentlich Sprechende bezeichnet, ließe sich hier durchaus ein direkter Bezug zu Bubers Bestreben herstellen, die Sprache als wahre ›Heimat‹ der Begegnung zu präsentieren. Schließlich heißt es auch bei ihm ausdrücklich: »[…] in Wahrheit nämlich steckt die Sprache nicht im Menschen, sondern der Mensch steht in der Sprache und redet aus ihr« (DP 41). 16 So bemerkt er schon im WS 1933/34, dass die Sprache u. a. im lebendigen Gespräch ihr eigentliches Wesen habe, und diskutiert im SS 1934 als eigentlichen ›Ort‹ der Sprache das Gespräch. 15 Oder: an dem sich der Mensch immer schon aufhält, wenn er zu den Dingen ausgeht; vgl. dazu Heideggers ›Erläuterung‹ der Rede von der Sprache als »Haus des Seins« in »Wozu Dichter?«: »Weil die Sprache das Haus des Seins ist, deshalb gelangen wir so zum Seienden, daß wir ständig durch dieses Haus gehen. Wenn wir zum Brunnen, wenn wir durch den Wald gehen, gehen wir schon immer durch das Wort ›Brunnen‹, durch das Wort ›Wald‹ hindurch, auch wenn wir diese Worte nicht aussprechen und nicht an Sprachliches denken.« (Martin Heidegger, »Wozu Dichter?«, in: Hw, 265–316, hier: 306) 16 In »Das Wort, das gesprochen wird« kritisiert Buber jedoch indirekt die heideggersche Rede vom ›Sprechen der Sprache‹ (vgl. MBW VI, 128 f.). Dass die Charakterisie14

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Dass Sprechen nun auch nach Heidegger nicht heißt, Dinge als besprochene verfügbar zu machen, wird in seiner Interpretation der Sprache als »Zeige« und »Sage« in den 50er Jahren besonders deutlich: Das Nennen begreift Heidegger schließlich als ein Anrufen der Dinge, welches sie in einer gewissen Ferne belässt. 17 Zwar spielt die Thematisierung des Gesprächs nach wie vor keine herausragende Rolle in Heideggers Denken zur Sprache, doch wenn er es thematisiert, dann hebt er durchaus Aspekte in den Vordergrund, die auch Buber beständig betont: In den Feldweg-Gesprächen wird das Gespräch dezidiert als Ereignis bedacht, bei dem den Sprechenden etwas widerfährt, »was ihr eigenes Wesen verwandelt« (GA 77, 57). Auch wird hier hervorgehoben, dass es bei einem echten Gespräch niemals um ein gezieltes Planen gehen könne. 18 Die Interpretation des Gespräches zwischen dem Japaner und dem Fragenden zeigte schließlich, dass es bei Heidegger durchaus Ansätze gibt, ein Ineinander von An- und Abwesenheit als wesentliches Moment jedes echten Dialogs zwischen Sprechenden anzusetzen – so wie Buber dies ausdrücklich tut – und das Gespräch nicht nur als gemeinsames ›Ansprechen‹ von Dingen zu begreifen. 19 Zuletzt bezeugt vor allem eine der wenigen expliziten Äußerungen Heideggers zu Bubers Denken, dass er die Deutung des Gesprächs als eine Begegnung mit dem ›Fremden‹ für angemessen und fruchtbar hält. In der Bemerkung zu Bubers Aufsatz »Hoffnung für diese Stunde« seiner Frau Elfride gegenüber behauptet er: »Das echte u. fruchtbare u. im Grunde unablässige Gespräch ist jenes, wo die Sprechenden verschierung der Sprache als ›Monolog‹ den Dialogphilosophen irritiert, ist wenig verwunderlich, doch liest man die Behauptung des Monologcharakters der Sprache bei Heidegger als Ausdruck des Bestrebens, die Sprache nicht als Instrument menschlicher Weltvereinnahmung zu begreifen, dann ist das ›Monologische‹ in einer Weise gedacht, die sich auch mit Bubers Ansatz vertragen könnte. 17 Wenn Heidegger nun verstärkt das Wesen der Sprache im Namen – im Wort – und nicht im Satz verortet, dann erinnert dies an Bubers Zurückhaltung gegenüber einer Einordnung der begegnenden Dinge in ein starres ›Koordinatensystem‹. Das Anrufen fungiert also bei beiden Denkern als Realisierung eines Seinlassens der Dinge bzw. bei Buber primär: als Realisierung des Seinlassens des angesprochenen anderen Menschen. 18 Vgl. GA 77, 74. 19 Betrachtet man speziell das Gespräch zwischen dem Japaner und dem Fragenden, muss eingestanden werden, dass es Heidegger hier eher als Buber – etwa in den DanielDialogen – gelingt, ein tatsächliches ›Gegen-einander-über‹ der Sprechenden erstehen zu lassen. Die Feldweg-Gespräche hingegen sind von einer starreren Rollenverteilung geprägt, die eine Person deutlich als den ›eigentlich Denkenden‹ präsentiert.

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dener Art sind und diese anschauend anerkennen, weder im bloßen gleichgültigen Geltenlassen, noch nach der Maßgabe eines einzigen Maßstabes u. seiner Doktrin.« 20 Bedenkt Heidegger nun außerdem die ›Praxis‹ des Übersetzens als die eines tatsächlichen Übersetzens, dann lässt sich hier ein direkter Bezug zur Diskussion des Übersetzens bei Buber und Rosenzweig herstellen. 21 Der Exkurs zu ihrem Bibelprojekt zeigte schließlich, dass sie in ihrer ›Verdeutschung‹ der hebräischen Bibel seit langem verhärtete Deutungen dieser Schrift aufzusprengen suchen, damit das Fremde des Hebräischen durchscheinen kann. Dabei greifen sie bewusst auf »Ungebräuchlichgewordenes«, »Verschollenes« (W II, 1115) in der eigenen Sprache – der deutschen – zurück. Wenn auch Heidegger davon ausgeht, dass jede Übersetzung die eigentliche Unübersetzbarkeit der einen Sprache in die andere aufscheinen lassen muss, dann zeigt sich hier eine grundsätzliche Nähe zu Bubers und Rosenzweigs Überzeugungen. Schließlich greift auch Heidegger im Rahmen seines Denkens nach Sein und Zeit noch einmal verstärkt auf »vergessene« Wendungen und Wörter der deutschen Sprache zurück, um traditionelle Begrifflichkeiten aufzusprengen, oder er wendet sich direkt den ursprünglichen griechischen Worten und Wörtern zu, so wie Buber nicht selten hebräische Begriffe einsetzt, um lange ›Verstelltes‹ zu ent-decken. 22 Heidegger 2007, 279. Zur Bedeutung des »Zwischen« bei Heideggers Diskussion des Übersetzens, welche ebenfalls auf eine Nähe zu Buber/Rosenzweig hindeutet, siehe Ivo De Gennaro, »Heidegger on Translation – Translating Heidegger«, in: Phänomenologische Forschungen, Neue Folge Band 5 (2000), 3–22, hier: 9. Siehe auch Theunissen 2001, 88. Der Autor sieht eine deutliche Parallele zwischen Heideggers ›Übersetzungspraxis‹ und Bubers sowie Rosenzweigs Prinzip der Verfremdung der deutschen Sprache. 22 So wie Heidegger favorisiert also auch Buber mit dem Hebräischen eine bestimmte Sprache, wenn es darum geht, eine ›ursprüngliche‹ Wirklichkeit aufzudecken. Vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit wundert es nicht, wenn Heidegger und Buber oftmals dann in einem Atemzug genannt werden, wenn es um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Einsatz einer betont ›eigentlichen‹ Sprache geht. Dabei wird nicht selten beiden Denkern ein geradezu ›prophetischer‹ Tonfall zugesprochen; vgl. dazu MBW VI, 182. Das bekannteste Beispiel einer kritischen Auseinandersetzung mit einer solchen Weise philosophischen Redens stellt sicherlich Adornos »Jargon der Eigentlichkeit« dar, wo nicht nur Heideggers Sprache in der Kritik steht, sondern auch zahlreiche Wendungen, die in Bubers Denken eine zentrale Rolle spielen; vgl. Theodor W. Adorno, »Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie«, in: ders., Gesammelte Schriften. Band 6, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2003, 413–526, hier: 417, 423, 435 und 446 f. Siehe auch Klemperers Kritik an Bubers Sprache mit »ihrer priesterlichen 20 21

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Dass mit der verstärkten Hinwendung zur Sprache bei Heidegger nun auch das Hören eine zentrale Stellung in seinem Denken einnimmt, wirft zudem die Frage auf, ob nicht eine ›Nachbarschaft‹ zwischen Bubers dialogischer Konzeption und Heideggers seinsgeschichtlichem Denken in einer kritischen Distanzierung von einer »Optisierung des Denkens« (W I, 533) gesehen werden könnte. Zwar geht Heidegger nach wie vor auf das griechische Denken zurück, welchem Buber eben eine solche »Optisierung« zuschreibt, doch indem er sich nun ausdrücklich den Vorsokratikern zuwendet, begreift er nicht zuletzt Platons Deutung des Seins des Seienden als §dffa als einen »Abfall« (EM 139) von einem ursprünglicheren Verständnis des Seins als yÐsi@. Zwar wird auch das Sein als yÐsi@ von Heidegger als ein ›Erscheinen‹ gedeutet und verweist so auf den Bereich des Visuellen, doch seine Unterscheidung zwischen dem Erscheinen im Sinne der yÐsi@ und demjenigen im Sinne der §dffa ist bezeichnend: Das Erscheinen im »eigentlichen Sinne nimmt als das gesammelte Sich-zum-Standbringen den Raum ein«, d. h. »schafft« sich selbst Raum; das Erscheinende im Sinne der §dffa tritt laut Heidegger hingegen »aus einem schon fertigen Raum« hervor und wird »in den schon festen Erstreckungen dieses Raumes durch ein Hinsehen gesichtet« (EM 139). Auf den Punkt gebracht: »Das Gesicht, das die Sache macht, wird jetzt entscheidend, nicht mehr sie selbst.« (EM 139) Platon wird hier also gleichsam zum ›Urvater‹ der Deutung der Welt als Bild stilisiert, die Heidegger schließlich als das ›Produkt‹ des ›Wesens‹ neuzeitlicher Subjektivität deutet. Eben ein solcher Zusammenschluss des ›weltbeherrschenden‹ Subjektseins mit einer Fokussierung auf das ›Sehen‹ wird – wie deutlich wurde – auch in Bubers dialogischer Konzeption nahegelegt, wenn er etwa betont, das hebräische Denken begreife die Sprache gerade nicht als »Gebild«, sondern als lautliches »Geschehen«, das den Menschen angeht. 23 Schon zitiert wurde im entsprechenden Absatz V des ersten Teils dieses Vergleichs auch folgende Bemerkung Bubers: »Platon schaut, und da ist nichts weiter als das Schauen; der jüdische Prophet schaut Gott nur, um sein Wort zu vernehmen.« (JJ 48) Zwar vollzieht Heidegger nun trotz der Feierlichkeit und Neigung zum geheimnisvollen Dunklen« (Klemperer 1987, 226 f.). Zur Sprache des späten Heidegger äußert sich Buber selbst kritisch in ders., »Der Mensch und sein Gebild«, in: W I, 424–441, hier: 427 f. 23 Vgl. W II, 1091.

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verstärkten Hinwendung zum Hören keine radikale Abkehr vom Begriffs- und Metaphernfeld des Lichtes sowie der Bestimmung des Gesichtssinnes als privilegiertem Zugang zu Sein und Seiendem, doch begreift er – und hier liegt die Nähe zu Buber – das Blicken des Menschen nun als ein gleichsam ›sprechendes‹ – vernehmendes und erwiderndes – Blicken. 24 Zudem diskutiert er explizit einen Zusammenhang zwischen dem ›Bildlichen‹ – als Produkt des Vor-stellens – und einer ›Gewalt‹ an den Dingen. 25 Dass das Sichtbarmachen von ›etwas‹ schon mit einer ersten Vereinnahmung einherzugehen vermag, drückt sich letztlich auch in Heideggers Experimenten bezüglich der Schreibweise von ›Sein‹ aus. In »Zur Seinsfrage« (1955) radikalisiert Heidegger die Distanzierung von der traditionellen Metaphysik, indem er ›Sein‹ durchstreicht: »Der Mensch ist in seinem Wesen das Gedächtnis des Seins, aber des Seins.« 26 In Bezug auf Bubers Distanzierung von der »Optisierung« des griechischen Denkens ist noch bemerkenswert, dass er selbst nicht nur im hebräischen Denken, sondern auch bei den Vorsokratikern Motive findet, welche er im Rahmen seines dialogischen Denkens aufgreift. So wendet er sich in »Dem Gemeinschaftlichen folgen« Heraklits Logoslehre zu und betont vor allem Heraklits Hervorhebung der Gemeinschaftlichkeit des ›logos‹, den er als »sinnhaftes Wort« deutet. 27 Gemeinschaftlichkeit setzt Buber dabei mit dem Wesen der Sprache im Zwischen gleich. 28 Buber greift schließlich auch auf Metaphern und Phänomene aus dem Bereich des Visuellen zurück, ohne dass sein Denken dadurch zu einem Präsenzdenken (im Sinne einer Identifikation von Präsenz und reiner Anwesenheit) würde. 25 In »Wozu Dichter?« unterscheidet Heidegger das Bild im Sinne des Gebildes, des Vorgestellten, und das Bild als das »Anschaubare des Anblickes der Dinge«, das »anschauliche Bild«; vgl. Hw 301. Zum Bild bei Heidegger und dieser zentralen Unterscheidung zwischen ›Gebild‹ und ›anschaulichem Bild‹ siehe Tobias Trappe, »Heidegger und die Phantasie«, in: Phänomenologische Forschungen, Neue Folge Band 5 (2000), 165–179. 26 Martin Heidegger, »Zur Seinsfrage«, in: GA 9, 385–426, hier: 411. Bei diesem Text handelt es sich um den leicht erweiterten Beitrag zur Festschrift für Ernst Jünger mit dem Titel »Über ›Die Linie‹«. Siehe Derridas Kommentar zu dieser heideggerschen Praxis des Durchstreichens: »Unter ihren Strichen verschwindet die Präsenz eines transzendentalen Signifikats und bleibt dennoch lesbar.« (Derrida 1983, 43) Heidegger will mit der Durchstreichung auch keine bloße Negation vornehmen, sondern die sich kreuzenden Striche sollen auf die vier Gegenden des Gevierts hinweisen; vgl. GA 9, 411. 27 Rohrbach weist darauf hin, dass auch bei Rosenstock-Huessy Heraklits Logoslehre als eine ›Dialogik‹ verstanden wird; vgl. Rohrbach 1973, 44. 28 Vgl. MBW VI, 103 ff. In einem Brief an Maurice Friedman vom 11. 08. 1951 grenzt er 24

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Indem Heidegger nun – ebenso wie Buber – das Menschsein generell als ein Angesprochensein begreift, 29 ließe sich hier auch die Anbahnung einer Nähe zwischen beiden Denkern in Bezug auf eine Konzeption von ursprünglicher Ver-antwortung sehen. Wurde Verantwortung in Sein und Zeit noch als Selbstverantwortung präsentiert, war der bedeutendste Anruf des Daseins hier also noch als ein Selbstanruf konzipiert, so soll der Mensch nun von einem Zuruf getroffen sein, der dezidiert nicht aus ihm selbst kommt. Eigentlich zu sein – ins Eigenste zu kommen – heißt nun nach Heidegger, einem Anspruch zu entsprechen, der von ›woanders her‹ kommt. So behauptet Dastur bei ihrer Gegenüberstellung von Heideggers Gewissensruf aus Sein und Zeit und seiner Konzeption der Seinsgeschichte, die Bedeutung der ›Kehre‹ bestehe darin, »sich dem ›Ereignis‹ der gegenseitigen Ereignung von Sein und Mensch zu öffnen, das heißt einem Denken der Begegnung, innerhalb derer Anruf und Antwort gleichzeitig auftreten« 30 . Doch gerade der Rückgriff auf das Modell von Anspruch und Entsprechung, welches auf den ersten Blick so offensichtlich in die Richtung eines ›dialogischen‹ Modells verweist, vermag auch eine deutliche Kluft zwischen dem späten heideggerschen und dem buberschen Denken aufbrechen zu lassen: Wenn in Bezug auf Heideggers Seinsgeschichte jene Deutung favorisiert wird, nach der das vom Menschen Erwiderte nichts anderes als ein »Echo des Anspruchs« ist, »als welcher das Seyn selbst west« (GA 79, 66), dann entpuppt sich die Seinsgeschichte, wie schon deutlich wurde, letztlich als Monolog. Auch seine Heraklit-Deutung explizit von der Heideggers ab, die er für »absolut falsch« hält; vgl. Buber 1975, 291. Interessant ist, dass Buber zudem eine ›Verwandtschaft‹ zwischen der heraklitischen Logoslehre und dem ostasiatischen Denken sieht, konkret: dem Daoismus; siehe W I, 1037 sowie MBW VI, 105 ff. Wie Heidegger wurde Buber selbst im ostasiatischen Raum sehr stark rezipiert – vor allem jedoch in Japan: Etliche Schlüsselwörter des buberschen Denkens haben in der japanischen Sprache einen festen Platz erhalten; siehe dazu Yoshimori Hiraishi, »Buber und das japanische Denken«, in: Bloch/Gordon 1983, 367–379. Siehe auch die Gegenüberstellung von Bubers dialogischem Denken und zentralen Konzeptionen der japanischen Philosophie des 20. Jahrhunderts in Frank Koren-Wilhelmer, Auf der Spur des Du. Personalität zwischen Immanenz und Transzendenz bei Martin Buber und Kitaro Nishida, Wien/Zürich 2007. 29 Heidegger nutzt das Modell von Ansprache und Entsprechung wie Buber auch zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt, d. h. er redet ausdrücklich von einem Angesprochensein des Menschen von der Welt her; vgl. Heidegger 1987, 185. 30 Dastur 1998, 54.

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wenn dieses ›Echo‹ sich aus verschiedenen Stimmen zusammensetzen kann – im Grunde ist es die eine Stimme des Seins, die dann in jedem Gespräch und jeder Übersetzung widerhallt, und das Wesen jeden echten Gesprächs im buberschen Sinne würde wiederum in Frage gestellt: »das Beharren der Spannung in der Näherung« (NL 72) zwischen den Miteinandersprechenden. 31 Insofern trifft Bubers verdeckte Kritik am ›Monologcharakter‹ der Sprache bei Heidegger durchaus etwas: 32 Wenn die Antwort des Menschen auf den Zuspruch des Seins bzw. die Sprache keine tatsächliche Antwort im Sinne des Dialogikers darstellt, dann kann das Sein des Menschen letztlich nicht als »Gespräch« bezeichnet werden, obgleich Heidegger eben dies in Anlehnung an Hölderlin behauptet. 33 Das Verhältnis zwischen Mensch und Sein doch als eine Art ›verkapptes‹ Selbstgespräch aufzufassen, bedeutete also, hier eine grundlegende Einebnung der – von einem dialogischen Denken aus positiv zu bewertenden – Spannungen zu sehen, die sich in der Begegnung zwischen Eigenem und Anderem (Fremdem) ergeben. Zudem zeigt gerade Siehe dazu Ute Guzzoni, »›Anspruch‹ und ›Entsprechung‹ und die Frage der Intersubjektivität«, in: Nachdenken über Heidegger, hrsg. von Ute Guzzoni, Hildesheim 1980, 117–135. Guzzoni stellt fest, dass das gegenseitige Entsprechen im Gespräch bei Heidegger letztlich ein gemeinsames Entsprechen gegenüber dem Anspruch einer ›Sache‹ bzw. dem Anspruch des Seins meint. Anschließend konfrontiert sie Heideggers Modell mit dem ›Ich-Du-Verhältnis‹, in dem beide Glieder »sowohl radikal ihresgleichen wie radikal gegeneinander Andere sind« (Guzzoni 1980, 128). Ihre Beschreibung dieser Beziehung erinnert deutlich an die bubersche Konzeption. 32 In einem Brief an Buber bemerkt Binswanger kritisch, Buber träfe mit seinem in »Das Wort, das gesprochen wird« gegenüber Heidegger erhobenen Vorwurf der »monologisierenden Hybris« Heideggers Philosophieren nicht, denn dieses stünde in einem »dauernden Dialog mit den großen Philosophen aller Zeiten«; vgl. Buber 1975, 547. Buber antwortet, er verstehe das, was hier als ›dauernder Dialog‹ bezeichnet werde, gar nicht als echten Dialog, welcher »notwendig das Unvorhersehbare« (Buber 1975, 547) impliziere. Siehe auch Pöggelers Bemerkung zur Nivellierung eines echten ›Zwischen‹ durch Heideggers Betonung der jedem Dialog vorhergehenden »Offenheit« (des Seins selbst); vgl. Pöggeler 1992, 343. Ebenso deutet Heideggers kurze Bemerkung zu Bubers Ansatz seiner Frau gegenüber an, dass er dem Begegnen von Menschen sowie dem Begegnen von Mensch und ›Gott‹ ein ursprünglicheres Ansprache-Antwort-Geschehen vorordnen möchte; vgl. Heidegger 2007, 279. 33 Buber geht in Gottesfinsternis kurz auf Heideggers Deutung von Hölderlins »Seit ein Gespräch wir sind« ein und gesteht Heidegger eine Ahnung des dialogischen Prinzips zu; vgl. W I, 560. Jedoch bezieht er sich hier auf eine Stelle aus »Hölderlin und das Wesen der Dichtung«, wo Heidegger in Anlehnung an Hölderlin auf das Gespräch zwischen den Menschen und den Göttern eingeht; vgl. GA 4, 39 f. 31

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der von Heidegger zu Beginn der 30er Jahre eingeschlagene Weg nachdrücklich, dass die Proklamierung einer fundamentalen Passivität im ›Wesen‹ des Menschen und die damit einhergehende ›Entthronung‹ des Subjekts auch in eine Richtung weisen kann, die vor dem Hintergrund einer Suche nach der Möglichkeit echter Anerkennung des Fremden nicht weniger fragwürdig erscheint als die ›Grundlegung‹ der Welt und alles in ihr Begegnenden in der Selbsterschlossenheit eines jemeinigen Da-seins. Als wesentliches Ziel des buberschen Ansatzes hebt Smith in seinem Heidegger-Buber-Vergleich entsprechend hervor, »das Verfügen-Wollen der Subjektivität« zu überschreiten, ohne dabei »zu einem Sich-Fügen« überzugehen. 34 Konsequenterweise ergibt sich dort wiederum eine größere Nähe zwischen beiden Konzeptionen, wo Heidegger bei der Beschreibung des ›Verhältnisses‹ zwischen Mensch und Sein auf Motive zurückgreift, die ein wesentliches Einandergegenüber, ein gegenseitiges ›Brauchen‹ nahelegen – Motive, mit welchen keine ›Harmonisierung‹ angezeigt werden soll, sondern die vielmehr andeuten, dass die ›Entsprechung‹ des Menschen nicht als reines ›Echo‹ auf den Anspruch des Seins gedacht werden muss. 35 Wenn Buber Heideggers ›Sein‹ mehrfach als »leer« bezeichnet und ihm eine signifikante ›Anonymität‹ zuschreibt, 36 dann spricht er der Konzeption der Seinsgeschichte jedoch jegliche Nähe zu seiner eigenen Konzeption von Ver-antwortung ab. Diesem ›leeren‹ Sein setzt er dabei konsequenterweise die Vorstellung des ›ewigen Du‹ entgegen als die eines in jeglicher ›Anrede‹ von der Welt her eigentlich ›Sprechenden‹. Seine – allerdings sehr knappen – Bemerkungen zu Heideggers ›Sein‹ scheinen jedoch das wesentliche Anliegen Heideggers gerade zu verfehlen: das Sein eben nicht als den »Grundbegriff aller

Siehe Smith 1966, 33. Smith geht auf einige dieser Motive ein, die eine Gegenseitigkeit zwischen Sein und Mensch andeuten, z. B. das ›Brauchen‹. Er behauptet jedoch, dass der Gedanke des Sichfügens dominiere; vgl. Smith 1966, 106 f. Alfredo Rocha de la Torre begreift das spezifische ›Brauchen‹ als Ausdruck eines ›Zusammengehörens‹ von Mensch und Sein, das ein ursprüngliches gegenseitiges Anerkennen meine, und eröffnet so die Möglichkeit eines Gesprächs mit der Dialogik; vgl. Alfredo Rocha de la Torre, Zur Struktur der Sprache. Die Möglichkeit der Anerkennung kultureller Verschiedenheit bei Heidegger, Würzburg 2008, 127 ff. und 148 f. 36 Vgl. NL 115 f. sowie W I, 557. Siehe auch NL 136 – hier kritisiert Buber explizit die vollkommene Übereignung des Menschen an dieses ›anonyme‹ Geschehen. 34 35

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Metaphysik« (W I, 558) zu nehmen und ihm gerade nicht »den Charakter der echten Denkbarkeit« (W I, 558) zuzusprechen – wenn damit gemeint sein soll, das Sein tatsächlich zu ›begreifen‹. In Teil I/Abschnitt V wurde Bubers ewiges Du als ›Personifizierung‹ eines Momentes des selbst nicht Mitteilbaren in jedem menschlichen Sprechen interpretiert – ›Gott‹ fungierte nach dieser Deutung als Name für die nicht entzifferbare Spur des radikal Un-besprechbaren, welche jeder konkreten Ich-Du-Begegnung eingeschrieben ist. 37 Wenn das ewige Du nun ein ›Etwas‹ meint, das gerade kein ›Etwas‹ ist – das nur angesprochen und dem nur geantwortet werden kann –, deutet sich dann hier nicht eine gewisse Nähe zu Heideggers ›Sein‹ an? 38 Das soll nicht heißen, Heideggers Projekt ließe sich als verkappte ›Theologie‹ fassen; 39 ebenso wenig soll Bubers Bestimmung Gottes als eines ›Du‹ in eine ›Ontologie‹ übersetzt werden. 40 Doch sucht nicht sowohl Bubers Rede von der »Gottesfinsternis« als auch Heideggers Diagnose der »Seinsvergessenheit« eine grundlegende ›Verfallenheit‹ des Menschen an das Machbare und Besitzbare zu enthüllen – eine ›Verfallen-

In »Der Spruch des Anaximander« (1946) wählt Heidegger eben diesen Begriff der Spur, um das Aufscheinen des »Unterschiedes des Seins zum Seienden« (Hw 360) zu bezeichnen. Derrida knüpft ausdrücklich an diesen Spur-Begriff an; siehe Derrida 1988 b, 83 f. Pöggeler untersucht Heideggers Rede von der Spur in verschiedenen Texten und konfrontiert sie mit der Spur-Metapher bei Lévinas, Freud und Derrida; vgl. Pöggeler 1992, 315 ff. 38 Smith sucht ausdrücklich eine Nähe zwischen Heideggers ›Sein‹ und Bubers ›ewigem Du‹ aufzuzeigen; vgl. Smith 1966, 74. Eilebrecht sieht die Möglichkeit, mit Buber das heideggersche »Denken des Seins« als »dialogisches Geschehen« zu deuten; vgl. Eilebrecht 2008, 233 f. 39 Jedoch kann in Bezug auf Heideggers Konzeption durchaus die Frage aufgeworfen werden, inwieweit die Rede vom ›Sein überhaupt‹ auf Motive der traditionellen Rede vom Göttlichen verweist. In Absetzung von der klassischen ›Onto-Theologie‹ behauptet Heidegger allerdings kategorisch: »Das ›Sein‹ – das ist nicht Gott« (GA 9, 331). 40 In Gottesfinsternis sieht Buber nur dort ›positive‹ Ansätze bei Heidegger, wo dieser – in Anlehnung an Hölderlin – ausdrücklich von den ›Göttern‹ oder dem ›Heiligen‹ spricht; vgl. W I, 555 ff. Bei der Kritik an Heideggers seinsgeschichtlichem Denken neigt Buber somit dazu, das ›ewige Du‹ doch sehr konkret zu fassen – die ›Duhaftigkeit‹ Gottes wird hier ausschließlich als ›Personalität‹ gedeutet. Dies wirft jedoch die Frage auf, ob – im Rahmen des dialogischen Ansatzes als eines philosophischen – dieses ›Etwas‹, das kein ›Etwas‹ ist, so selbstverständlich ›Gott‹ genannt werden kann, ohne dass nicht eine Fülle von Assoziationen in den Ansatz hineingetragen wird, die dessen Originalität wieder verdeckt. 37

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heit‹, der beide Denker den Verzicht auf totale Näherung des den Menschen umgebenden Seienden entgegensetzen, und zwar des Seienden als eines solchen, dem die Spur eines radikal Sich-entziehenden eingeprägt ist? Der Mensch, der auf die Begegnung mit dem Du aus ist, und der Mensch, der sich dem Anspruch des Seins stellt – beide haben kein »abenteuerliches Herz« (GA 53, 91), weil beide Erfahrung nicht als (subjektives) Erlebnis begreifen. Ein Selbst zu sein, das bedeutet sowohl in Bubers dialogischer Konzeption als auch im späten Denken Heideggers, nicht im Eigenen als dem Heimatlichen zu verharren, aber auch nicht, dieses vollkommen aufzugeben. 41 Inwieweit eine Bestimmung des ›Heimischen‹ selbst im Rahmen eines ›ab-gründigen‹, auf fundamentale Differenzen hinweisenden Denkens von einer inneren Spannungshaftigkeit gezeichnet ist, dies macht Heideggers Bezugnahme auf die Metaphorik des Heimes und Herdes im SS 1942 deutlich. In dieser Vorlesung zu Hölderlins Hymne »Der Ister« präsentiert Heidegger eine erneute Deutung des tò deintaton im ersten Chorlied der Antigone des Sophokles. Anders als noch in der Einführung in die Metaphysik von 1935 wird hier jedoch nicht die Bedeutung des »Gewaltigen« oder »Gewalttätigen« in den Vordergrund gerückt, sondern Heidegger übersetzt das deinn nun als das »Unheimliche« im Sinne des »Unheimischen«. 42 Nach Heidegger ist der Mensch insofern in einem grundlegenden Sinne ›unheimisch‹, als er im Seienden Aufenthalt nimmt – denn: Die eigentliche »Heimstatt des Heimischen« sei allein »das Sein selbst, in dessen Licht und Glanz, Glut und Wärme sich alles Seiende je schon gesammelt hat« (GA 53, 143). 43 Allerdings eröffnet sich laut Heidegger auch die Möglichkeit eines Seins beim Seienden, 41 Schließlich sucht Buber das Ich nicht als einem übermächtigen Du ausgeliefertes Wesen zu beschreiben, ebenso wenig zersprengt er es in eine ›Vielheit‹ (von Trieben, Stimmen etc.). Jedoch wurde mehrfach kritisch angemerkt, dass es Buber nicht vollkommen gelingt, die Sprengkraft des ›Zwischen‹ in Bezug auf traditionelle Begriffe von Ichheit, Selbstheit, Selbstbewusstsein voll zu entfalten, da er sich von der Vorstellung eines festen Ich-Punktes als Pol einer relationalen Bindung an die Welt letztlich nicht radikal löst. 42 Vgl. GA 53, 76 ff. Heidegger entfernt sich somit von der früheren Übersetzung, wo das ›Unheimliche‹ auch schon eine Rolle spielte, jedoch nicht im Mittelpunkt stand. Allerdings soll die neue Übersetzung auch die Bedeutung des »Gewaltigen« einschließen bzw. ursprünglicher fassen. 43 Heidegger deutet den im Chorlied genannten »Herd« ( stffla) als das Sein; vgl. GA 53, 134 ff.

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welches aus dem Heimischsein im Sein bestimmt ist, 44 so dass zwischen einer eigentlichen und einer uneigentlichen Weise des Unheimischseins unterschieden werden muss. Letztere besteht nach Heidegger konsequenterweise im Sichverlieren an das Seiende, welches das Sein selbst vergisst: »Auf allen Gassen des Seienden ist der Mensch ›zuhause‹. […] Allein, indem der Mensch überallhinkommend je zu ›etwas‹ kommt, kommt er doch zum Nichts, weil er ja am jeweiligen Seienden haften bleibt und in diesem das Sein und Wesen nicht faßt.« (GA 53, 93) Wenn Heidegger nun behauptet, Geschichte sei »nichts anderes als […] Rückkehr zum Herde« (GA 53, 156), stellt dann das späte Denken Heideggers nicht auch ein Denken der Heimkehr dar? Tatsächlich scheint es auf den ersten Blick so, als ob das Motiv der Odyssee – begreift man Odysseus als den Rückkehrer schlechthin – auch zur Charakterisierung des seinsgeschichtlichen Denkens geeignet sei. Doch liegt das ›Heimatliche‹ jetzt nicht im eigenen Selbst verborgen, sondern das Eigentlichsein des Menschen besteht nun im Hören auf den Anspruch des Seins. 45 Vor allem aber wird das ›Heim‹ hier in einer Weise bedacht, die mit der Assoziation von Herd und Sicherheit, Heimat und ›Bodenständigkeit‹ konsequent bricht, denn: »Das Sein […] ist kein Boden, sondern das Boden-lose.« (GA 54, 223) Dieses ist nach Heidegger zwar zugleich das »anfänglich Bergende« (GA 54, 224), d. h. aber nicht ›etwas‹, worin sich der Mensch ›wohnlich‹ einrichten kann. Schließlich wahrt das Sein »sein Eigenes im Sichentbergen, insofern es sich als dieses zugleich verbirgt« (GA 10, 104). 46 Obgleich Heidegger also zur Charakterisierung der Wahrheit des Seins auf das Motivfeld der Heimat 47 zurückgreift, wird das Heim geSiehe zu dieser Möglichkeit eines auf das Heimische bezogenen Unheimischseins GA 53, 146. 45 Entsprechend betont Marten, wenn er Heideggers spätes Denken als Oikeiolektik (Heimsage des Menschen) begreift, dass das Heimsagen den Menschen nicht auf das zurückführt, »was er selber zueigen hat, sondern dem er zueigen ist, in das er gehört« (Marten 1982, 243). 46 Der wesentliche Unterschied zur Konzeption des Unzuhauses in Sein und Zeit liegt somit offen: War in den 20er Jahren von der ›Unheimlichkeit‹ des Daseins die Rede, dann ging es um den Rückzug aus dem Man, der zum ›eigensten‹ Selbst führt – ein Rückzug, bei dem sich Weltlichkeit zugleich als Existenzial zeigte. Nun wird als Heim das dem Dasein entzogene Sein präsentiert und als uneigentliche Unheimlichkeit der Aufenthalt im Seienden, der von einer spezifischen Seinsvergessenheit gezeichnet ist. 47 So wird die ›Heimat‹ hier konsequent ›seinsgeschichtlich‹ gedacht (vgl. auch GA 9, 44

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rade nicht als fester Grund, als letzte, sichere Zuflucht präsentiert, sondern als Ab-grund, der in jeglichem wohnlichen Sicheinrichten im Seienden ›anwest‹. So ließe sich abschließend gar fragen, ob vor dem Hintergrund einer solchen Konzeption des ›Heims‹ ein gemeinsames Sicheinfinden auf das Sein überhaupt als Einebnung fundamentaler Differenzen zwischen den sich ›Sammelnden‹ gedeutet werden muss, oder ob nicht gerade durch die ›Aufsprengung‹ des Bedeutungs- und Beziehungsgeflechts von Heim, Sicherheit, Vertrautheit, Bodenständigkeit und ›Wohnlichkeit‹ der Horizont für ein Denken der radikalen Unterschiede auch zwischen den Seienden eröffnet wird. Denn wenn der gemeinsame ›Grund‹ sich als ›Ab-grund‹ entpuppt, dann wird seine identitätsstiftende Macht letztlich in Frage gestellt. 48 Schließlich soll auch das ›ewige Du‹ in Bubers Konzeption einen Mittelpunkt und Zusammenhang aller konkreten Ich-Du-Begegnungen darstellen, ohne dass die sich in diesen Begegnungen offenbarende grundlegende Andersheit der einzelnen ›Dus‹ nivelliert wird. Nach dieser Deutung des ›Heimatlichen‹ des Seins ließen sich Bubers dialogisches und Heideggers seinsgeschichtliches Denken als Versuche begreifen, menschliche Existenz als Aussein auf ›etwas‹ Sichentziehendes, selbst nicht Lokalisierbares zu beschreiben, welches jedes heimelige Sicheinrichten im Eigenen als ein ›un-heimlich heimeliges‹

338), was aber nicht bedeutet, dass jegliche Verbindung zwischen seinsgeschichtlicher Heimat und ›erdhafter‹ Heimat gesprengt ist; siehe dazu Rainer Marten, »Heideggers Heimat – Eine philosophische Herausforderung«, in: Guzzoni 1980, 136–159. 48 Wenn Derrida in seiner Auseinandersetzung mit Lévinas’ Philosophie der radikalen Andersheit behauptet, dass Heideggers Denken des Seins kein Denken der Heimkehr im Sinne des Odyssee-Motivs darstellt, dann möchte er mit dieser Charakterisierung eben dies andeuten; vgl. Derrida 1976, 235; Fn. 118. Während Lévinas das Sein als das »erste Verbergende« (als Nivellierung der radikalen Andersheit des Anderen) betrachte, sei das Sein vielmehr selbst das »erste Verborgene«, weshalb sich die ›Beziehung‹ zwischen Sein und Seiendem gerade nicht als Machtausübung beschreiben ließe; siehe Derrida 1976, 228. Skepsis gegenüber Lévinas’ Vorwurf des ›Totalitarismus‹ äußert auch Peperzak; vgl. Adriaan T. Peperzak, »Einige Thesen zur Heidegger-Kritik von Emmanuel Levinas«, in: Gethmann-Siefert/Pöggeler 1988, 373–389, hier: 380. Zur Charakterisierung des Seins als des »Macht-losen« bei Heidegger selbst siehe GA 66, 192. Weil das Sein als das die Sprechenden im Gespräch Verbindende ›etwas‹ Sichentziehendes ist, sieht auch Lemke in Heideggers spätem Denken den »Raum eines Zwischen« eröffnet, der sich jeglichem Identitätsdenken entzieht; vgl. Anja Lemke, »Vom Dasein zum Wirsein? – Gemeinschaftskonzeptionen im Denken Martin Heideggers«, in: Philosophisches Jahrbuch 108 (2001), 115–133, hier: 131.

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aufscheinen lässt, weil jeder Selbstbezug – jede ›Heimkehr‹ – im vorgängigen Bezogensein auf ein ›Anderes‹ als uneinholbare ›terra incognita‹ gründet.

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Schriften von Heidegger

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Aus den genannten Ausgaben zitierte einzelne Vorlesungen, Vorträge und Aufsätze Heidegger, Martin: »Anmerkungen zu Karl Jaspers ›Psychologie der Weltanschauungen‹«. In: Wegmarken (GA 9). 1–44. –: »Antrag auf die Wiedereinstellung in die Lehrtätigkeit (Reintegrierung)«. In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910–1976 (GA 16). 397–404. –: »Aus der Tischrede bei der Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Instituts für pathologische Anatomie an der Universität Freiburg«. In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910–1976 (GA 16). 150–152. –: »Aus einem Gespräch von der Sprache zwischen einem Japaner und einem Fragenden«. In: Unterwegs zur Sprache. 83–155. –: »Aus Gesprächen mit einem buddhistischen Mönch«. In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910–1976 (GA 16). 589–593. –: »Bauen Wohnen Denken«. In: Vorträge und Aufsätze. 145–162. –: »Brief über den ›Humanismus‹«. In: Wegmarken (GA 9). 313–364. –: »Das abendländische Gespräch«. In: Zu Hölderlin – Griechenlandreisen (GA 75). 57-196. –: »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«. In: Zur Sache des Denkens. 61–80. –: »Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken«. In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910–1976 (GA 16). 372–394. –: »Das Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger«. In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910–1976 (GA 16). 652–683. –: »Das Wesen der Sprache«. In: Unterwegs zur Sprache. 157–216. –: »Das Wort«. In: Unterwegs zur Sprache. 217–238. –: Der Anfang des abendländischen Denkens. In: Heraklit (GA 55). 1–181. –: »Der Begriff der Zeit« (Abhandlung). In: Der Begriff der Zeit (GA 64). 1–103. –: »Der Begriff der Zeit« (Vortrag). In: Der Begriff der Zeit (GA 64). 105–125. –: »Der deutsche Student als Arbeiter«. In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910–1976 (GA 16). 198–208. –: Der europäische Nihilismus. In: Nietzsche. Zweiter Band. 31–256. –: »Der Satz der Identität«. In: Identität und Differenz (GA 11). 31–50. –: »Der Spruch des Anaximander«. In: Holzwege. 317–368. –: »Der Ursprung des Kunstwerkes«. In: Holzwege. 1–72.

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Literaturverzeichnis –: »Der Weg zur Sprache«. In: Unterwegs zur Sprache. 239–268. –: Der Wille zur Macht als Erkenntnis. In: Nietzsche. Erster Band. 473–658. –: Der Wille zur Macht als Kunst. In: Nietzsche. Erster Band. 11–254. –: »Die deutsche Universität«. In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910-1976 (GA 16). 285–307. –: Die ewige Wiederkunft des Gleichen und der Wille zur Macht. In: Nietzsche. Zweiter Band. 7–29. –: Die Grundfrage der Philosophie. In: Sein und Wahrheit (GA 36/37). 1–80. –: Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem. In: Zur Bestimmung der Philosophie (GA 56/57). 1–117. –: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus. In: Frühe Schriften (GA 1). 189–411. –: »Die Kehre«. In: Identität und Differenz (GA 11). 113–124. –: Die Metaphysik als Geschichte des Seins. In: Nietzsche. Zweiter Band. 399–457. –: Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus. In: Nietzsche. Zweiter Band. 335-398. –: »Die Selbstbehauptung der deutschen Universität«. In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910–1976 (GA 16). 107–117. –: »Die Sprache«. In: Unterwegs zur Sprache. 9–33. –: »Die Zeit des Weltbildes«. In: Holzwege. 73–110. –: »Ein Vorwort. Brief an Pater William J. Richardson«. In: Identität und Differenz (GA 11). 145–152. –: »Einblick in das was ist«. In: Bremer und Freiburger Vorträge (GA 79). 1–77. –: Einleitung in die Phänomenologie der Religion. In: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60). 1–156. –: »Einleitung zu ›Was ist Metaphysik?‹«. In: Wegmarken (GA 9). 365–388. –: Entwürfe zur Geschichte des Seins als Metaphysik. In: Nietzsche. Zweiter Band. 458-480. –: »Erläuterungen und Grundsätzliches«. In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910–1976 (GA 16). 409–415. –: »Hebel der Hausfreund«. In: Aus der Erfahrung des Denkens. 1910–1976 (GA 13). 133–150. –: »›Heimkunft/An die Verwandten‹«. In: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4). 9–31. –: »Hinweis auf eine mögliche Bestimmung des Dichterischen durch Hölderlin«. In: Zu Hölderlin – Griechenlandreisen (GA 75). 197–201. –: »Hölderlin und das Wesen der Dichtung«. In: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4). 33–48. –: Logik. Heraklits Lehre vom Logos. In: Heraklit (GA 55). 183–387. –: »Mein Weg in die Phänomenologie«. In: Zur Sache des Denkens. 81–90. –: »Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag ›Zeit und Sein‹« (verfasst von Dr. Alfredo Guzzoni). In: Zur Sache des Denkens. 27–60. –: »Sprache und Heimat«. In: Aus der Erfahrung des Denkens. 1910–1976 (GA 13). 155-180. –: Vom Wesen der Wahrheit. In: Sein und Wahrheit (GA 36/37). 81–264. –: »Vom Wesen der Wahrheit«. In: Wegmarken (GA 9). 177–202.

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Andere Schriften –: »Vom Wesen des Grundes«. In: Wegmarken (GA 9). 123–175. –: »Was ist das – die Philosophie?«. In: Identität und Differenz (GA 11). 3–26. –: »Was ist Metaphysik?«. In: Wegmarken (GA 9). 103–122. –: »Wozu Dichter?«. In: Holzwege. 265–316. –: »Zeit und Sein«. In: Zur Sache des Denkens. 1–25. –: »Zur Immatrikulation«. In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910-1976 (GA 16). 95–97. –: »Zur Seinsfrage«. In: Wegmarken (GA 9). 385–426.

Andere Schriften Mit Sigle zitierte Schriften AS

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Personen- und Sachregister

Adorno, Th. W. 498 Agamben, G. 214 Anaximander 433 Apel, K.-O. 113, 174, 182, 219, 311 Arendt, H. 25, 107, 109, 403 Aristoteles 36, 38, 47, 49, 83, 95, 173– 174, 181, 183, 187–188, 272–273, 306, 353, 362–363, 368, 371–372, 386–387, 397, 433–434 Arnold, M. 352 Augustinus 303, 364 Austin, J. L. 185, 201 Avenarius, R. 94 Bachtin, M. M. 18, 243 Baeumler, A. 444 Barth, K. 69, 223 Barthes, R. 214 Becker, O. 106 Benjamin, W. 347 Bergson, H. 91, 364, 369, 378 Biemann, A. 23–24, 223, 226, 244, 260, 286, 291 Binswanger, L. 19, 115, 117, 148–149, 153, 156, 161, 502 Blanchot, M. 354 Bloch, J. 68–70, 143, 152, 159, 229, 238, 357 Böhme, J. 346 Bollnow, O. F. 101 Brandom, R. B. 120, 178, 475 Brentano, F. 36 Brunner, E. 122 Buber-Winkler, P. 23 Bultmann, R. 122, 292

Casper, B. 71, 86, 89, 133, 144, 226, 351 Cassirer, E. 187, 198 Celan, P. 71, 491 Cézanne, P. 474 Cosmus, O. 33, 41, 50, 81, 390, 473, 485 Cullberg, J. 21, 87, 89, 148 Darwin, Ch. 443 Dastur, F. 321, 501 Derrida, J. 151, 154, 193, 199, 201, 203, 214–215, 265, 321, 337, 351–352, 354–356, 363, 372, 380, 382–383, 449–450, 500, 504, 507 Descartes, R. 82, 87, 104, 131, 142– 143, 248, 298, 310–311, 358, 371, 386, 442, 445 Dilthey, W. 20, 33, 63, 83, 91, 120, 133, 187, 254, 360 Dreyfus, H. L. 178, 186 Ebner, F. 17–18, 27, 61, 74, 82, 86–90, 121, 131, 136, 145, 157–158, 223, 225–226, 248 Ehrenberg, H. 89, 223 Ehrenberg, R. 223 Einstein, A. 361 Fassbind, B. 21, 71, 170 Feuerbach, L. 120–121 Fichte, J. G. 87, 131 Figal, G. 56, 93, 114, 188, 314, 317, 320 Fischer-Barnicol, H. A. 23–25 Frank, S. L. 18, 148–149, 153

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Personen- und Sachregister Frege, G. 207 Freud, S. 39, 309 Gadamer, H.-G. 19, 174, 235, 254, 265 George, St. 456 Gethmann, C. F. 52, 182, 216, 269, 274–275, 280, 321 Gogarten, F. 18, 121, 145 Gordon, H. 21, 122, 292, 326 Grimm, J. 88 Grisebach, E. 19, 77, 145, 165, 335, 385 Grünewald, M. 69 Guzzoni, A. 482 Habermas, J. 280, 286, 479 Hamann, J. G. 88, 346 Hegel, G. W. F. 247, 363, 377 Heidegger, E. 25, 497 Heim, K. 17, 77, 122 Heraklit 66, 356, 399, 409, 433–434, 445, 468, 500–501 Herrmann, F.-W. v. 92, 174, 189, 208, 216, 364, 473, 484 Hofmannsthal, H. v. 260, 286 Hölderlin, F. 28, 43, 76, 350, 422–426, 428–435, 437, 440–443, 446, 456, 459, 473, 487, 494, 502, 504–505 Humboldt, W. v. 187–188, 245–246, 455 Husserl, E. 18, 20, 28, 33–37, 46, 49, 57, 91, 93, 113, 116, 122, 127–129, 132, 142, 151, 153, 166, 168, 185, 187–188, 197–205, 207, 215–216, 220–222, 226, 239, 263, 271–273, 276, 280, 293, 298, 310, 312, 353, 364, 382–383 Jaspers, K. 18, 33, 83, 196, 221, 368, 403, 406, 444 Jünger, E. 415, 439, 500 Kant, I. 20, 55, 65, 87, 111, 113, 142, 316, 334, 363–364, 369, 386 Kierkegaard, S. 20, 60, 87, 288, 292, 303, 314, 340–341, 368, 417 Kisiel, Th. 36, 57, 91, 381, 388 Klages, L. 444

Klemperer, V. 405, 407, 498 Kohn, H. 133, 142, 146, 224, 226, 260 Kolbenheyer, E. G. 412, 425 Kracauer, S. 236, 256–257, 260 Lafont, C. 182, 186, 188, 190, 198, 207, 219 Landauer, G. 260, 264 Leibniz, G. W. 363 Lévinas, E. 17–18, 50, 62, 78–79, 107, 115, 142, 145, 150–152, 165, 229– 230, 290–291, 303, 305, 334–339, 342, 351–352, 354–358, 385, 493, 504, 507 Lipps, Th. 116 Lotze, R. H. 271 Löwith, K. 18, 25, 87, 106, 115, 120– 123, 144, 147, 156–157, 211, 213, 233–234, 328, 335, 409 Luther, M. 251, 303 Marcel, G. 18, 149, 239 Mauthner, F. 260, 264 Meister Eckhart 433 Merker, B. 41, 76, 178, 310, 321 Merleau-Ponty, M. 50 Müller, M. 42 Nancy, J.-L. 313 Nemo, Ph. 335 Newton, I. 275 Nietzsche, F. 20, 60, 79, 133, 220, 433, 438, 442–448, 451, 475, 480, 486 Parmenides 247, 433–434, 445 Peperzak, A. 70, 230, 348, 507 Platon 38, 45, 75–76, 181, 234, 244, 271, 353–354, 358, 372, 406–407, 433–434, 446, 472, 499 Podewils, C. Graf v. 23 Pöggeler, O. 357, 423, 447, 473, 484, 491, 502, 504 Reichert, K. 250–251, 255, 257–258 Rentsch, Th. 23, 80, 127, 175, 385, 418 Richardson, W. J. 483

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Personen- und Sachregister Rickert, H. 271 Ricœur, P. 18, 20, 68, 321 Rilke, R. M. 109, 456 Rorty, R. 178 Rosenberg, A. 425 Rosenstock-Huessy, E. 17, 28, 61, 77, 145, 223, 226, 247–248, 250, 500 Rosenzweig, F. 17, 19, 28, 60, 66, 70, 77–78, 132, 144, 158, 223, 226, 247– 248, 250–258, 266, 327, 347–348, 498 Rousseau, J.-J. 187 Sapir, E. 249 Sartre, J.-P. 20, 109, 115, 226, 299, 303, 323–324, 332–333, 343 Saussure, F. de 188 Schaeder, G. 71, 346 Scheler, M. 59, 91, 116–117, 122, 239, 302 Schelling, F. W. J. 346 Scholem, G. 256–257, 345–346, 354 Schopenhauer, A. 443 Schrey, H.-H. 21, 86 Searle, J. R. 236 Serres, M. 234 Simmel, G. 83, 133, 302 Smith, P. C. 21, 72, 292, 326, 357, 503– 504 Smith, R. G. 71 Sophokles 427, 505 Spengler, O. 122, 425, 451 Abgrund/Ab-grund 44, 436, 507 Abwesenheit 81, 101, 109, 197, 263, 266, 351, 356, 364, 388, 497 Andere, der 17, 19, 70–71, 73, 75, 77, 79, 116–118, 121–122, 124–130, 145, 148–155, 157, 159, 164, 167– 168, 170, 192–193, 208–213, 215, 226, 229–234, 236–239, 241, 244– 246, 249, 258–259, 263–265, 279, 281–282, 284–285, 294, 299, 303, 306, 316, 318, 322–323, 325, 327– 328, 330–332, 334–341, 343, 352,

Stassen, M. 174–175, 181–182, 198, 207, 216, 219, 221, 225 Stein, E. 116, 364 Stirner, M. 287–288, 332, 340–341 Taylor, Ch. 178 Theunissen, M. 20–21, 28, 61, 75, 80, 86, 115, 121, 128, 142–143, 149– 150, 152, 158–159, 161, 164–165, 226, 229–231, 259, 263, 328, 381, 434, 498 Thomä, D. 22, 77, 81, 107, 304–306, 406, 410, 415, 420, 424, 440, 457, 477, 481, 483, 486 Tillich, P. 122 Tischner, J. 18, 115, 239–241, 338, 386 Trakl, G. 456 Troeltsch, E. 122 Tugendhat, E. 52, 92, 275, 277 Tylor, E. 249 Volkelt, J. 116, 122 Wagner, R. 256, 443 Wahl, J. 21 Waldenfels, B. 18, 46, 128, 151, 153, 163, 214, 230, 238, 335, 343 Williams, B. 283, 289 Windelband, W. 271 Yoon, S. 21 Yorck von Wartenburg, P. 360 355–356, 379, 385, 419, 452, 465, 470, 480, 489, 495, 507 Angst 34–35, 70, 79, 176, 214, 216– 217, 299, 303, 306–309, 312, 317– 318, 320, 322, 373–374, 427, 485 Ansprechen 88, 92, 178–179, 186, 188–190, 210, 229–232, 234, 238, 259, 336, 348, 372, 374, 496–497 Anwesenheit 38, 53, 81, 100–101, 104, 197, 201, 221, 263, 266, 371–373, 381–382, 388, 480, 497, 500 Anzeige 200–201, 204, 333 –, formale 57–58, 242

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Personen- und Sachregister Arbeit 107, 119, 193–194, 401, 403, 405–406, 410–411, 415, 417–418, 420–423, 438–440, 474 Aufbruch 76–81, 163, 265, 383, 425, 487, 490 Augenblick 139, 277, 314, 360, 368, 373–374, 376, 382, 388, 408, 411, 415, 429 Authentizität 250, 283, 289, 294, 323 Befindlichkeit 171–173, 175–176, 213–217, 296, 303, 306, 367, 369, 373 Besprechen 178, 180–181, 187, 213, 228–231, 238, 264, 289, 291, 325, 336 Bewusstseinsphänomenologie 18, 34, 200 Bewusstseinsphilosophie 19, 86, 216, 220 Chassidismus 225, 344–345 Dekonstruktion 174, 265, 324, 469 Destruktion 19, 39, 43, 55, 58, 143, 152, 174, 270, 301, 371, 409, 472 –, phänomenologische 50, 55, 90 Dialog 22, 68–69, 231–235, 243, 245, 253, 258–260, 262–264, 284, 289, 327, 336, 347, 466, 479, 497, 502 Dialogiker 17, 19, 28, 70, 82, 115, 121– 122, 145, 158, 496, 502 Dialogizität 74, 241, 243, 320, 325, 348, 352 Dialogphilosophie 17, 20–21, 28, 77, 131, 151, 225, 235, 238, 246, 290 Dichtung 28, 71, 108, 213, 225, 261, 407, 422–426, 428–433, 438, 440– 441, 447, 464, 474, 476 Differenz 42, 54, 113, 131, 218, 459, 463, 468, 470, 505, 507 –, ontologische 42, 45 Du, ewiges 63, 147, 155, 325–326, 334, 348–352, 357, 381, 503–504, 507

Eigenwesen/Eigen-wesen 140–141, 145, 157, 163–169, 222, 227–228, 297, 375, 385, 490–491, 495 Einfühlung 116–117, 147, 150 Entschlossenheit 160, 295, 297–298, 302, 307, 319–320, 322–325, 328, 334, 344, 359, 366–368, 373–374, 383, 399, 406, 413–414, 416–417, 424–425, 448, 477, 482 Entzug 44–45, 49, 51, 58, 80, 263, 358, 472, 476 Erde 104, 347, 408–409, 427, 431–432, 437–439, 447, 459, 474 Erinnerung 74–75, 77, 379, 472, 480 –, metaphysische 44, 74, 389, 472 –, seinsgeschichtliche 472 Freigabe 98, 113–114, 129, 164, 296, 328 Freiheit 44, 112, 114, 160, 220, 231, 293, 306, 322, 347, 390 Fremde, das 17, 45–46, 76, 79, 110– 111, 116, 124, 151, 153, 163–164, 194, 213, 265–266, 356, 469–470, 494–495, 497–498, 502 Fremde, der 110, 116, 127 Fremde, die 77, 467, 487 Fürsorge 118–119, 126, 312, 322, 328 Gemeinschaft 148, 154–156, 237, 261, 313, 407, 410, 414, 416, 429, 436, 479 Gerede 174, 191–196, 212, 215–218, 231–233, 258–259, 268–269, 276– 279, 295–296, 315, 374, 399–400, 483 Geschichte 38, 224, 254, 354, 371, 402, 406–407, 413, 419, 430, 432, 434– 435, 439, 442, 445–447, 486, 506 Geschichtlichkeit 79, 105, 190, 253, 302, 360, 403, 409, 413–417, 425, 429, 431 Gespräch 27, 68–71, 75, 134, 208, 211, 213, 231–237, 241–242, 244, 246, 254, 258, 262, 264, 266, 269, 283– 284, 286, 288, 290–291, 294, 330, 333, 336, 350, 379, 398, 401, 426–

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Personen- und Sachregister 427, 463–466, 468, 470, 480, 490, 496–497, 502, 507 Gewalt 427–428, 434–436, 469, 500, 505 Gewissen/Gewissensruf 28, 169, 295– 298, 309, 313–322, 325–329, 333– 334, 501 Glaube 63–64, 68, 289, 350, 412 Gott 42, 63–64, 66, 87–89, 91, 198, 224, 239, 248, 252–253, 327, 341, 345–346, 348, 350–352, 354, 356– 357, 417, 433, 440, 443, 446, 462, 499, 502, 504 Götter 423, 430–433, 446, 502, 504 Grund 35, 41–44, 46–48, 52–53, 72, 74, 99, 102, 117, 123, 140–141, 302, 307, 318–319, 326, 383–384, 414, 427, 429, 436, 484, 507 Grundwort 65, 136–137, 141–143, 160, 164, 223–224, 247–248, 259, 284–285, 348–349, 359 Handeln 97, 246, 280, 317, 320, 342, 401, 406, 409, 420, 427, 430, 448– 449, 451, 454, 490 Heimkehr 76, 78, 163, 166–167, 221, 321, 329, 383, 385, 487, 506–508 Hermeneutik 41, 76, 235, 254, 266, 356 –, der Faktizität 34, 82, 89 –, des Daseins 37, 58, 183–184 –, des faktischen Daseins 90 –, des faktischen Lebens 35 –, des Selbst 68 Herrschaft 159, 165, 167, 191–192, 295, 407, 411, 413, 419, 434, 439, 446, 460, 490 Hören 193, 211–214, 252–253, 315, 317, 320–321, 354–356, 358, 423, 461–462, 466, 469, 471, 485, 489– 490, 499–500, 506 Ich-Du-Begegnung/-Beziehung 21, 121–122, 124, 129, 144, 146–147, 149, 153, 155–156, 227, 231, 262, 326, 333, 351, 375–376, 495, 504, 507

Ich-Es-Relation/-Beziehung/-Verhältnis 137, 141, 163, 228, 326 Intentionalität 93, 99, 142–143, 161, 165–166, 170, 231, 272, 308, 365 Kampf 234, 403, 407, 414, 427 Kehre 24, 28, 36, 44, 50, 389, 391, 395, 473, 475, 481, 483–485, 501 Kommunikation 174, 196, 200, 202, 210, 212, 218, 224, 229, 237, 243, 461 Kunst 28, 88, 100, 103, 108–109, 111, 116, 147, 330, 348–349, 396, 425, 427, 435, 437, 440–441, 443, 464, 474, 491 Lebenswelt 84–86, 89, 108, 218 Leib/Leiblichkeit 18, 94, 100, 107–108, 111, 116, 128, 130, 160, 201, 253, 299, 412–413, 445, 474 Lichtung 173, 354, 453, 482 Logik 37, 56, 132, 143, 174, 180–181, 184, 202–203, 206, 246, 311, 398, 400, 402, 454 Macht 46, 81, 112, 125, 163, 167, 192, 214, 241, 304–305, 336, 356, 409, 414–415, 419, 422, 426, 428, 430, 432–433, 438, 442, 461, 463, 474– 475, 507 Man, das 93, 125–126, 149, 156, 168– 169, 191–192, 215–216, 231, 233, 268, 275–276, 277, 292, 295, 297, 300–303, 306, 308–309, 314–317, 319, 326, 506 Maske 126, 155, 157 Metaphysik 28, 86, 193, 219, 338–339, 357, 388, 395–397, 423, 444–446, 455, 467, 500 –, der Präsenz 199, 201, 372, 378, 380, 382–384 Monolog 200, 233, 242, 462–463, 477, 480, 497, 501 Mystik 89, 133, 260, 262, 345–346, 350

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Personen- und Sachregister Nähe 46, 51, 76, 81, 101–102, 107, 119, 124, 141, 151–154, 194, 197, 206–207, 212, 215, 221, 230, 254, 261, 283, 293, 321, 335, 351, 379, 381, 451, 453, 456–457, 460, 466, 481, 485, 492, 496 Name 209, 239–240, 350, 457, 497 Nationalsozialismus 156, 403–404, 407–408, 418, 423–424, 438–440, 447 Natur 40, 91, 100, 103–106, 108, 111– 113, 118, 147, 348–349, 371, 397, 402, 410, 437–438, 442, 474, 491– 492 Nihilismus 444, 446 Offenbarung 253, 266, 327, 342, 346, 354, 357, 425, 435 Öffentlichkeit 95, 125–126, 150, 191, 276, 278, 309, 322, 361–362 Ökonomie 101–102 –, des Daseins 102, 115, 126–127, 219, 296, 308 –, des In-Seins 100, 116 Ontologie 36, 38, 52, 55, 79, 87, 181, 324, 338, 357, 371–372, 382, 386– 387, 493, 504 Ordnung/Ordnungssystem/-schema 58, 95, 100, 102–104, 106, 109, 111, 116, 137–140, 143, 149, 162, 165, 219, 223, 228, 235, 238, 247–248, 259, 309, 360, 375–378, 380, 437, 460, 490 Person/Personalität 63, 86–91, 121, 132, 144, 153, 155–160, 163–164, 167, 169, 171, 209, 212, 222, 230, 232, 236, 240, 242, 246–249, 258, 262–263, 283–285, 287, 289–291, 293–294, 297, 324–325, 332, 338– 341, 343, 347, 383–385, 419, 489– 490, 493, 495, 504 Phänomenologie 18, 21, 33, 35–37, 45–51, 56, 59, 73, 114, 149, 158, 174, 185, 198, 216, 271–272, 355, 472– 473

Psychoanalyse 39, 76, 133, 140, 284, 328 Raum/Räumlichkeit 101–102, 107, 111, 113, 118, 124, 138–139, 143, 145, 148, 153, 204, 238–240, 247, 307, 375–376, 389, 430, 482, 492, 499, 507 Religion 68, 74, 260–261, 338, 348, 350 Rhetorik 183–184, 196, 202, 207, 212, 233, 278, 306, 405 Schuld/Schuldigsein 309, 317–319, 324–327, 485 Schweigen 196, 258–262, 264, 295, 330–331, 357, 398–400, 466, 476, 490 Sehen/Sehenlassen 42, 49–51, 72, 110, 173, 179, 185–186, 188, 194, 199, 220, 266, 272, 278, 354–358, 385, 444, 451, 453, 473, 489, 499 Seinsfrage 22, 35–46, 51–52, 55–56, 58, 74–76, 78–79, 90, 92, 363, 390, 472, 484 Seinsgeschichte 447, 454, 477–479, 501, 503 Seinsverlassenheit/-vergessenheit 38, 435, 504, 506 Seinsverständnis 41, 43–44, 51–52, 58, 73, 171, 371, 387, 435, 481–482 Selbstbewusstsein 86, 88, 137, 157, 170, 267, 294, 310, 505 Selbstdurchsichtigkeit/-erkenntnis 41, 43–44, 72, 169, 247, 277, 295, 323, 339 Situation 85, 88, 132, 149, 191, 202, 215, 230, 242–244, 249–250, 253, 278–279, 285, 291, 319, 331, 333– 334, 340, 342–343, 368, 374 Solipsismus 123, 128, 151, 312, 462, 494 Sorge 34, 84, 93, 118, 125–126, 168, 189, 192, 194, 217, 296, 312, 315, 317, 319, 323, 359, 384, 415 Sprachdenken 24, 70, 88, 190, 216, 225–226, 229, 247–248, 250–251,

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Personen- und Sachregister 263, 266, 336, 344, 346, 382, 392, 399, 402, 455 Spur 198, 204, 294, 317, 332, 351, 504–505 Stimme 71, 213–215, 217, 252–253, 258, 262, 265, 284, 321, 323, 329, 354, 356, 466, 472, 502, 505 –, des Gewissens 313, 316, 321 –, phänomenologische 214–215 Subjekt-Objekt-Schema/-Verhältnis 19, 64, 90, 94, 132, 141, 145, 163, 187, 292, 378 Subjektdenken 81, 143, 395, 442, 469, 492 Subjektivität 18, 20, 22, 27, 81–82, 100, 140, 143, 145, 157–158, 160– 162, 167, 170, 222, 285, 294, 335, 338, 353, 359, 376, 384, 395–396, 416, 442–443, 455, 475, 481–482, 491, 493–494, 499, 503 –, transzendentale 80, 166, 228 Technik 166, 396, 424, 435, 437–440, 442, 446, 448, 450–451, 456, 460, 478 Tod 53, 70, 156, 296, 298–311, 313– 314, 318, 326, 365, 414, 416–417, 429, 479 –, Gottes 433, 443, 446 Treue 64, 266, 288–290, 292–294, 325 Übersetzen/Über-setzen 62, 66, 69, 77, 258, 266, 467–469, 480, 498 Urteil 48, 177, 180–181, 184–185, 188, 190, 203, 269–274, 276, 278, 280, 288, 342 Verantwortung/Ver-antwortung 28, 63, 227, 290, 295, 297, 314, 320, 323–325, 330–335, 337–345, 380, 417, 478–479, 501, 503 Verfallen 85, 124–125, 217, 295–297, 317, 369–370, 373–374, 422 Vernunft 48, 80, 176, 334, 341, 343, 434, 442 Verstehen 21, 40, 44, 52, 83, 124, 143, 150, 171–173, 175–179, 181–182,

185, 188–189, 193–194, 208–209, 212, 214, 216–217, 219, 221–222, 230, 235, 242, 244, 264, 271, 273– 274, 277, 296, 374, 381–382, 387– 388, 391, 397, 428, 472, 484 –, durchschnittliches 215, 308 –, eigentliches 74, 365 –, gegenseitiges 237, 384, 465 –, uneigentliches 74, 317, 367 –, ursprüngliches 177, 195, 206, 208, 268 Volk 140, 402, 405–406, 410–418, 420, 423, 429–432, 435–436, 469–470, 479 Wahl 246, 314–315, 319, 343 Wahrhaftigkeit 28, 268–269, 279, 283–284, 288–289, 292–293, 324, 340 Wahrheit 28, 191, 234, 257, 268–284, 286–295, 311, 319, 323–324, 327, 340–341, 357, 382, 389, 409, 424– 425, 427, 437, 440, 447, 453–454, 469, 476, 481, 486, 506 Weltanschauung 33–34, 72, 176, 407, 438 Weltlichkeit 80, 89, 94–96, 98–99, 101–102, 104–105, 109, 113–115, 137, 149, 165, 170, 198, 205, 218– 219, 303, 307–308, 362, 506 Wille 316, 377, 411, 418 –, zur Macht 439, 444–445, 448 Wissenschaft 33–34, 39, 59, 66, 72, 87, 240, 244, 261, 311, 387, 390, 400, 410, 436–437 Zeichen 68, 98, 106, 196–201, 203– 207, 216, 221–222, 261, 330, 333, 342–343, 350–351, 381, 449, 451, 457–459, 476 Zeit 28, 45, 54, 70, 138–139, 143, 145, 252, 301, 340, 359–365, 368– 371, 373–379, 381, 383–387, 389, 395, 414–415, 429, 480–482, 484 Zeitlichkeit 28, 36, 54, 56, 70, 73–76, 79, 90, 138, 146, 166, 184, 241, 247,

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Personen- und Sachregister 359–370, 373–378, 384–389, 415– 417, 421, 428, 481–483 Zeuge 68, 75, 399, 426, 434, 447, 489 Zwischen, das 161–164, 168–170, 223, 227, 231, 235, 246, 254, 262, 266, 285, 290, 294, 337, 350, 354, 386,

459–460, 462, 494, 498, 500, 502, 505, 507 Zwischenmenschliche, das 21, 123, 148, 151, 155–156, 227, 231, 285– 286, 288, 330, 332, 341, 479, 493

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