Abhandlungen aus der Neueren Geschichte [1 ed.] 9783428560073, 9783428160075

Bei den vorliegenden Abhandlungen handelt es sich um posthum von Heinrich von Treitschke herausgegebene Vorträge und Sch

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Abhandlungen aus der Neueren Geschichte [1 ed.]
 9783428560073, 9783428160075

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Abhandlungen aus der Neueren Geschichte Von Max Duncker

Duncker & Humblot reprints

Abhandlungen aus der neueren Geschichte.

Abhandlungen aus der

Neueren Geschichte. Von

Max Duncker.

Leipzig. V e r l a g von Duncker & Humblot. 1887.

D a s Recht der Uebersetzung wird vorbehalten.

Vorwort Als Max Duncker vor elf Jahren die Sammlung „Aus der Zeit Friedrichs des Großen und Friedrich Wilhelms III." veröffentlichte, hegte er den Wunsch, dereinst auch noch andere seiner Abhandlungen zur neuen Geschichte ergänzt und gesammelt herauszugeben. Zahlreiche Randbemerkungen auf seinen Handexemplaren beweisen, wie unermüdlich er die alten Forschungen fortführte. Sein Tod hat diese Hoffnungen vereitelt. Die Wittwe, Frau Charlotte Duncker, mußte sich entschließen, aus den hinterlassenen^ da und dort zerstreuten Aufsätzen und Vorträgen nach meinem Rathe einige auszuwählen, welche entweder neue wissenschaftliche Ergebnisse darbieten oder auf den Charakter, den Bildungsgang, die Geschichtsauffassung des theueren Verstorbenen ein Helles Licht werfen. Lieber zu wenig zu geben als zu viel, ist in solchen Fällen ein Gebot der Pietät. Da jede Umarbeitung von fremder Hand unziemlich wäre, so erscheinen die Abhandlungen sämmtlich unverändert wieder. B e r l i n , 30. Mai 1887.

Heinrich von Treitschke.

Inhaltsverzeichnis. I. Feudalität und Aristokratie. Ein Vortrag, am 18. März 1868 zu Tübingen gehalten 11. Die Bildung der Coalition des Jahres 1756 gegen Preußen III. Preußen und England im siebenjährigen Kriege IV. Die Landung in England V. Die Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg VI. Graf Haugwitz und Freiherr von Hardenberg. Actenstücke zu den Denkwürdigkeiten des Fürsten von Hardenberg, Bd. V. VII. Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1809

Seite

1-- 48 49-- 75 76-- 1 0 9 110-- 1 4 3 144-- 1 9 2 193-- 2 6 3 264--295 296--341

VIII. Karl Mathy IX. Zum Jubelfeste des Fürsten Karl Anton von Hohenzollern. Aus der Nationalzeitung vom 21. October 1884 . . . . 342--349 X Johann Gustav Droysen 350—393

I.

Feudalität und Aristokratie. Ein Vortrag am 18. März 1858 zu Tübingen gehalten.

An der Spitze der Staaten, welche von den germanischen Stämmen gegründet waren, stand einst ein kriegerisches Königthum. Diese Könige hatten ihre Gesetze der Zustimmung aller freien Bauern zu unterwerfen. Sie regierten durch Oberste, welche sie den Kreisen ihrer Länder vorsetzten. Diese, die Grafen, beriefen die Bauern zur Kreisversammlung, d. h. zum Gericht und zur Verwaltung der Grafschaft und führten das Aufgebot der Bauern, die Landwehr der Kreise. Dieses einfache Staatswesen wurde durch eine kriegerische Aristokratie, welche sich über die Bauern erhob, durchbrochen und zerstört. Kriegslustige und ehrbegierige Leute hatten sich mit Domänengütern des Königs beleihen lassen und sich diesem dafür zu besonderer Treue, zu unbedingter Kriegsfolge verpflichtet. Mit großem Grundbesitz ausgestattet wurde diese neue stehende Armee bald mächtiger als ihr Kriegsherr. Karl der Große war eifrig bemüht, den Uebergriffen der kriegsdienstpflichtigen Lehensleute gegen die Krone wie gegen die Bauern in Frankreich und Deutschland entgegenzutreten. Seine Institutionen hielten ihre Fortschritte wohl eine ZeitD u n c k e r . Abhandl. a. d. n. Gesch.

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lang auf, — nur desto rascher kamen sie danach zum Ziele. Die Leute des Königs brachten das geliehene Königsgut in ihren erblichen Besitz. Die Aemter der Kreisobersten, an Lehensmannen vergeben, erfuhren dasselbe Schicksal: sie wurden dem Staate entfremdet, sie wurden Privateigenthum der damit belehnten Geschlechter. Durch deu Mißbrauch ihrer dem Staate entrissenen Amtsgewalt, des Heerund Gerichtsbanns über die Kreise des Landes zwangen die Grafengeschlechter die in denselben angesiedelten kleineren Lehensleute des Königs, die Ritter, aus dem Lehensverband des Königs in ihren eigenen Dienst, in den Lehensdienst der Grafen zu treten. Bereits hatte der Reiterdienst der Lehensmannen den Landwehrdienst der Bauern verdrängt. Wer nicht so großen Grundbesitz besaß, diesen Reiterdienst leisten zu können, wer nicht Aufnahme fand in die Lehensmannschaft eines Grafen, war rechtlos den Bedrückungen feiner ritterlichen Nachbarn, der Grafen selbst ausgesetzt. Der Staat konnte den Bauern keinen Schutz mehr gewähren, seitdem seine Beamten die Staatsgewalt an sich gebracht hatten und in ihren Familien vererbte«?. Die freien Bauern wurden herabgedrückt in die Schutzpflicht, in die Grundhörigkeit des ritterlichen Adels, sie wurden zusammengeworfen mit den angesiedelten Knechten der Ritterschaft. Es war eine geringe Hülfe für das Königthum, daß es die Vorsteher der Kirche, die Bischöfe mit Land und Leuten, mit Grafenrechten über diese ausstattete wie die weltlichen Barone, um ein Gegengewicht gegen diese zu gewinnen. Der Staat war dennoch in das Privateigenthum übergegangen; er bestand aus eiuer Anzahl weltlicher und geistlicher Lehensherrschaften. Nur deren Inhaber, die Barone, die Fürsten, standen noch im Verhältniß zur Krone. Die Ritterschaft gehörte den Baronen, die Bauern den ritterlichen Grundherren. Wohl hieß der König der oberste Lehensherr, wohl schwuren ihm die Barone den Eid der Lehenstreue, wohl versammelte er die Barone, um mit ihnen das Lehensgericht zn halten, um seine Unternehmungen mit ihnen zu besprechen, um ihre Unterstützung zu den selben zu erhalten. Aber der angebliche Staat der Treue ist thatsächlich der Staat der Untreue und des Verraths. Glaubt der

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Lehensmann, daß ihm der Lehensherr die Huld und den Schutz, welche der Lehensherr dem Lehensmann schuldet wie dieser jenem Treue und Kriegsdienst, nicht gewährt habe, so hält er den Lehensvertrag Seitens des Königs gebrochen und sich des Lehenseides entbunden. Die Mannen, die Rechte, die Gewalt des Staats waren das Eigenthum der Barone; ihnen gehörte die wirkliche Macht. S o stand es bei den Baronen, ob sie dem Könige dienen wollten oder nicht, ob sie für ihn oder gegen ihn kämpfen wollten. Das Königthum war durch die Barone, d. h. durch den hohen Adel, seiner Gewalt entkleidet worden, es war nichts mehr als ein Name. Seine Rechte waren wie die des Volkes, d. h. die der Bauern, an eine kriegerische Aristokratie übergegangen. D a s war der Lehensstaat, das war der Zustand Europa's im elften Jahrhundert. Es war die Folge einer Eroberung, daß E n g l a n d eine andere Bahn der Entwickelung einschlug. Auch in England war die ritterliche Aristokratie mächtig geworden. Aber sie hatte noch nicht alle Rechte des Königthums, noch nicht alle Rechte der Bauern in sich aufgesogen, als Wilhelm der Normann die Schlacht von Hastings gewann (1066). England lag zu seinen Füßen. Weder wollte noch konnte er seinem Ritterheere, welches die Aussicht reicher Bellte an Land und Leuten lim ihn gesammelt, den Lohn des Kampfes vorenthalten; aber das Heer mußte zu seiner Verfügung bleiben, wenn nicht jede Erhebung der Sachsen seinen Sieg rückgängig machen sollte. Er kannte die Zustände des Lehensstaats, die Ohnmacht der Krone in Frankreich; es fehlte ihm nicht an dein eigenthümlichen Organisationstalent der Normannen lind er hatte freies Feld vor sich. Das Feudalsystem, welches er in England einführte, war die Zurückführung desselben auf die Formen des alten kriegerischen Königthums. Sämmtliche Lehen, welche zu vergeben wareil, wurden gleich getheilt zwischen den Baronen und den Prälaten. Die Macht der Barone jenseit des Meeres beruhte auf dem Umfang ihrer Be sitzungen, auf der privaten Abhängigkeit, in welche sie die Ritter schast ihrer ehemaligen Amtsbezirke gebracht hatten. König Wilhelm machte die Baronien kleiner als ans dein Continent — sie bestanden.

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die kleinsten aus 80, die größten aus 700 Ritterlehen. Er bildete sie aus unzusammenhängenden Territorien, welche in verschiedenen Kreisen zerstreut lagen; die Baronie des Earl von Kornwall hatte 248 Ritterlehen in Kornwall, 196 in Dorkshire, 99 in Northamptonshire, 54 in Sussex.') Die Ritterschaft der Baronien hatte nicht blos dem Baron, sondern auch dem Könige den Eid der Lehenstreue zu schwören. Damit war der Baron außer Stande, seine Ritter wie auf dem Continent zur Fehde gegen den König aufzubieten. Die Macht der Barone auf dem Festland beruhte darauf, daß sie die Amtsbezirke des Staats zu ihren Herrschaften gemacht hatten. Wilhelm der Normann hielt die Amtsbezirke und die Baronien scharf von einander getrennt. Der Baron erhielt keine anderen Rechte als den Heerbann uud das Leheusgericht über die Ritter der Baronie, das niedere Gericht über seine Grundholden. Die alten Amtsbezirke des Landes, die Grafschaften, bestanden nebeil den Baronien fort. Wilhelm übergab die Verwaltung derselben besonderen Beamten, den Sheriffs. Mochte er Prälaten, Barone oder Ritter zu Sheriffs ernennen, er gab ihnen dieses Amt niemals zu Lehen. Ihre Besoldung bestand nicht in liegenden Gründen, sie waren ausschließlich auf die Sporteln des Gerichts, auf den dritten Pfennig der Büß- und Strafgelder angewiesen. Die Sheriffs waren aus Widerruf ernannte Beamte, Commissare des Königs. Damit sie niemals dieser Stellung vergäßen, hatten sie zwei Mal im Jahre vor den Schatzbeamten des Königs von den Einkünften der Domänen der Grafschaft Rechnung zu legen. Nicht die Barone, die Sheriffs waren die Gerichtsherren der Grafschaft. Sie waren es, welche alle freien Einfassen der Grafschaft zur Grafschaftsversammlung, zum Grafschaftsgericht beriefen. Vor diesem hatte der freie Bauer so gilt seinen Gerichtsstand wie der Baron lind der Ritter, ausgenommen die Lehensfälle. S o waren die Barone außer Stande, ihre Baronien zu geschlossenen Gerichtsbezirken umzubilden, so waren die Rittergüter außer Stande, ihre bäuerlichen Gutsnachbarn zu ') Lllis, iQtroäuction to vomesäax Look I, 456.

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ihren Unterthanen herabzudrücken und mit ihren Grundhörigen zu verschmelzen. Gegen den Baron fand der Ritter, gegen den Ritter der Bauer einen Beamten des Staats zu seinem Schutze bereit. Die Erhaltung des Grafschaftsgerichts d. h. der Gerichtsbarkeit des Königs, hat den Sieg der feudalen Aristokratie über das Königthum und über das Bauernthum in England verhindert. Die Unterwerfung aller Stände unter dasselbe Gericht hat das Gefühl einer gewissen rechtlichen Gleichheit unter den Ständen Englands begründet; es hat die Freiheit der Bauer« und das germanische Recht den Engländern gerettet. Es waren auf dem Festlande die Fehden der Barone gegeneinander, gegen das Königthum, welche die Ritterschaften der Ba ronien mit dem Baron durch gemeinsame Unternehmungen, durch gemeinsame Kriegsehre, durch gemeinsame Beute eug verbanden; es waren die festen Häuser der Ritter, von welchen aus die Bauern vergewaltigt wurden. I n England brach König Heinrich II. hundert Jahre nach Wilhelm dem Eroberer das Fehderecht der Barone und der Ritterschaft, indem er ihre Burgen niederwarf; niemand sollte eine Festung besitzen außer dem Könige. Er wagte es, die sächsische Bevölkerung, die Bauern wieder zu bewaffnen. Alle freien Eigenthümer der Grafschaft sollten fortan die Landwehr derselben bilden. Sie stand zur Verfügung des Sheriffs, der ihre Offiziere ernannte, um den Landfrieden gegen Ritter und Barone zu erzwingen. Die Bauern warm nur zum Dienst innerhalb der Grafschaft verpflichtet. Diese Landwehr konnte deshalb nicht wie die Landwehrordnung Karls des Großen die Bauern durch lange und entfernte Kriegs dienste ökonomisch ruiniren. Und während Heinrich die Banern bewaffnete, gestattete er der Ritterschaft den für sie wie für den König gleich unbequemen Lehensdienst (der Lehensmann war nur vierzig Tage im J a h r zu dienen gehalten) jenseit des Meeres in Frankreich und Irland durch Lehenpferdegelder, durch das Schildgeld (späterhin drei Pfund für das Ritterpferd) abzukaufen, beschränkte er den Zweikampf als Beweismittel vor dem Grafschaftsgericht. Seine Landwehr gab den Bauern mit den Waffen das Selbstgefühl

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wieder. Die Sheriffs hatten die freien Bauern davor bewahrt. Grundholden der Ritter zu werden, dafür waren sie von diesen selbst als eine unterworfene Bevölkerung desto willkürlicher und gewaltthätiger behandelt worden. Heinrich II. mies die Sheriffs an, auch in Klagefällen gegen Bauern nicht mehr selbständig den Spruch zu fällen, sondern auch hier Geschworene aus der Grasschaftsverfaimnlung zuzuziehen. Für die Berufung von den Graf schaftsgerichten gründete er einen netten ständigen Gerichtshof, die Baitk des Königs. Er stellte die Sheriffs unter eilte schärfere Controlle, indem er die Grafschaften jährlich durch Commissare, Beainte seiner Schatzkammer und Richter der Königsbank bereisen ließ. Während das Staatsleben des Continents aufgelöst war in die Fehden der Barone und Ritter, während in Frankreich die Kirche zn dem traurigen Nothbehelf des Gottesfriedens griff, besaß England am Ende des zwölften Jahrhunderts einen gesicherten Landfrieden, eilte feste über das ganze Land hingreisende Gerichtsgewalt des Staates, welche ihren Sprüchen Nachachtung zu erzwingen vermochte, bildeten sich aus den Gesetzen der Angelsachsen und den Gewohnheiten der Normannen die Anfänge eines Landrechts. Während der Continent keine Kriegsmacht kannte als die der Lehensmannen, besaß England neben derselben bereits wieder eine Armee von Bauern. Uebermächtig und gebietend waltete das Königthum in England, während es in Deutschland in den schwersten Kämpfen gegen die Fürsten nnd Herreit rang, während es in Frankreich der Schatten einer Oberherrschaft über einige vierzig Lehensherrschaften war. Der Angriff des Papstthums vernichtete die königliche Macht in Deutschland. Eben erst von den deutschen Herrschern wieder aufgerichtet, zahlte das Papstthum ihnen den Dank, indem es den Kaisern die Ernennung der Bischöfe bestritt. Die Ernennung ihrer Anhänger zur Verwaltung der geistlichen Lehensherrfchaften war das einzige Mittel der Reichsregierung, welches den Kaisem geblieben war. Um durchzudringen entbanden die Päpste die deutschen Barone von dem Lehenseide, gaben sie ihrer Untreue nicht blos

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einen Stützpunkt außer Landes, sondern auch die Rechtfertigung der unfehlbaren Autorität des höchsten Kirchenfürsten. I n Verbindung mit den deutschen Fürsten stellten die Päpste dem Kaiser den Gegenkaiser gegenüber, machten sie Deutschland zu einen: Wahlreich. Die unglückliche Politik der Hohenstaufen machte das Nebel unheilbar. Der Hauptzweck derselben wurde die Erwerbung eines Erblandes in Italien. Die Erreichung desselben mußten die Päpste verhindern, wennsiesich nicht selbst aufgeben wollte«? — sie waren Landesbischöfe der Hohenstaufen in Italien, wenn diesen die Befestigung in Neapel und Sizilien gelang. Nicht begnügt mit dem Kampse gegen die Uebermacht der deutschen Fürsten, gegen die Uebermacht des Papstes, hatten sich die Hohenstaufen auch mit den mächtigen Städten Oberitaliens überworfen. Durch Zerschlagung der großen Lehensherrschaften in kleinere, durch immer neue Vergebungen von Staatsrechten, Land und Leuten, durch die Ueberlieferung der deutschen Städte an die deutscheil Barone suchten die Hohenstaufen in Deutschland die Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke in Italien. Die einzige Hülfe, welche sie retten konnte, die Verbindung mit der Ritterschaft und mit den Städten Deutschlands verschmähten sie. Sie unterlagen im dreizehnten Jahrhundert der Coalition des Pabstthums, der deutschen Fürsten und der italienischen Städte, der Coalition der Kirche, der Aristokratie und der Demokratie jener Tage. Mit ihrem Falle war das Reich ausgelöst, welches sie an seine Spitze gestellt hatte. Es ist die Herrschaft über Italien, welche das deutsche Reich zu Grunde gerichtet hat. Für die englische Krone waren die Ansprüche des Papstthums von geringer Bedeutung. Weder waren die Könige Englands auf ihrer ferueu Insel dem Patrimonium des heiligen Petrus gefährlich, noch war es für die englische Krone von Werth, auf der Ernennung der Bischöfe zu bestehen. Die Institutionen, welche sie gegründet, sicherten ihnen auch bei der freien Wahl der Capitel die Lehenstrelie, die Kriegsfolge, die Lehenssteuern der Prälateil. Von Heinrich II. zu Clarendon versammelt (1164), bekannten sich die Prälaten Englands als Inhaber vom Könige verliehener Baronien,

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bekannten sie, daß sie für diese allen Lehenspflichten, daß sie der Gerichtsgewalt des Königs unterworfen seien. Das dreizehnte Jahrhundert sah neben der Auflösung des deutschen Reiches die Erhebung des Königthums in Frankreich, die Gründung der Verfassung in England. Während der Kampf gegen das Papstthum das deutsche Königthum vernichtete, kam die Krone in Frankreich d nrch das Papstthum empor. I m Dienste des Papstthums, welchem sie sich zur Verfügung stellt, erobert die Krone von Frankreich die ketzerischen Lehensherrschaften Südfrankreichs, erwirbt eine Nebenlinie derselben Neapel und Sicilien. An der Spitze der neuen Stadtgemeinden, welche eben aus den Baronien hervorwachsen, unterwirft die Krone von Frankreich die Lehensherrschaften im Norden und Osten des Landes. Das Königthum entreißt die Ritterschaften den Barouen, indem sie jenen den Lehenseid gegen die Krone ab nimmt, es schützt die Ritterschaften uud die Städte gegen die Barone, indem es in dem Parlament von Paris eine Gerichtsgewalt gründet, welche sich auf ein fremdes Recht stützt, dessen Grundsatz die absolute Gewalt der Fürsten war. Indeß die deutschen Barone das Reich theilten, lag der schwerste Druck aus ihren Standesgenossen in England. Die Strafgewalt, die Polizeigewalt, der Lehensverband waren für die Könige von England eine sehr reichlich fließende Quelle ihrer Einkünfte. Die Könige Englands machten die Pflichten der Lehenstreue mit einer Energie und in einem Umfange gegen die Vasalleil geltend, welche dem Continent völlig unbekannt waren. Nicht blos verweigerte Lehensfolge, jedes Mißverhalten des Lehensmannes gegen den König, jede Versäumniß wurde mit hohen Bußen geahndet. Der Lehens mann wurde oft ohne jeden Grund unter irgend einem Vorwande der Gnade des Königs verfallen erklärt und hatte sein verwirktes Lehen für eine beliebige, vom König normirte Summe wieder zu lösen i). Die Befitzveränderungs-Abgaben, die Lehenssteuern wurden hoch bemessen, und uicht blos in deu herkömmlichen Fällen (der !) Gneist, englisches Verfassungsrecht S , 31 ff.

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Gefangenschaft des Königs, des Ritterschlags des ältesten Sohnes, der Verheirathung der ältesten Tochter) erhoben. Die Obervormundschaft des Lehensherrn über minderjährige Lehenserben, die Verhei rathung der Erbtöchter wurden im fiskalischen Interesse in umfassendster Weise ausgebeutet. Nur in der Beschränkung der weiten und willkürlichen Lehenshoheit des Königs war Abhülfe zu erreichen. Die Barone von England mußten suchen zu erkämpfen, was ihren Standesgenossen auf dem Kontinent mit der Vollendung des Lehensstaates von selbst zugefallen war, eine in's Gewicht fallende Stimme im Rathe des Königs. Aber kein einzelner Baron hätte es wagen dürfen, dem Könige abzusagen, wie auf dem Festlande alle Tage geschah. Nur wenn die Barone ihre Macht vereinigten, nur wenn sie als geschlossene Körperschaft, von den Prälaten, welche die Lasten des Lehensverbandes ebenfalls schwer empfanden, unterstützt, gegen den König auftraten, konnten sie hoffen, gegen die starke Souveränität der Krone etwas auszurichten. Aber das Königthum hatte in England zu verhindern gewußt, daß die Ritterschaft den Baronen, die Bauern den Rittern zu eigen würden. Konnten Ritter und Bauern die Schwächung der Krone, ihrer eigenen Schutzwehr, zulassen ? Welche Zugeständnisse die Barone der Krone auch abzwangen, sie hatten keinen Bestand, wenn man die unteren Stände nicht in das Interesse zog und selbst an der Aufrechthaltung dieser Concessionen betheiligte. Indem die Barone Rechte gegen die Krone für sich in Anspruch nahmen, mußten sie sich zugleich der Ritter, jener sächsischen Bevölkerung annehmen, welche sie einst mit ihren Waffen unterworfen hatten. Es gelang ihnen, einem haltlosen Könige, welcher die Besitzungen England's jenseits des Canals verloren und eben sein Reich dem Pabste als Lehen übergeben hatte, dnrch eine rasche Erhebung die massna edarta abzuzwingen (1215). Sie bestimmte, daß der Baron für die Besitzveränderung nicht mehr als 190 Mark zahlen solle, aber auch der Ritter sollte fortan dem Baron nicht mehr als 190 Schilling Lehenware entrichten. Sie bestimmte, daß es dem Könige nicht zustehen solle, in andern, als in jenen drei herkömmlichen Fällen Lehenssteuern zu fordern. Aber

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die Barone versprachen, dies auch in Bezug auf ihre Ritterschaften zu halten; sie wenden der Ritterschaft dieselben Erleichterungen zu, welche sie selbst erringen. Will der König, statt die Barone und die Ritterschaft zur Kriegsfolge aufzubieten, die Schildgelder erheben, so soll der König diese mit den Baronen feststellen. Will der König außerordentliche Hülfsgelder erheben, so soll dies nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Barone geschehen. Aber die Barone sorgen nicht blos für sich und die Ritterschaft. Sie verfügen, daß die oft erkauften, oft bestätigten, und eben so oft mißachteten Freiheiten der Städte gehalten und die Bürger zu keinen andern als den herkömmlichen Diensten für Deich- und Brückenbauteil heraugezogen werden sollen'), daß die Stadt London keine Schätzung zahlen soll ohne die Zustimmung der Barone. Sie bestimmen zu Gunsten der Ballern, daß die alteu sächsischen Gesetze, d. h. die Grafschaftsverfafsung und das Grafschaftsgericht bestätigt werden, daß die Sheriffs von den freihaltenden Bauern keine Frohnden mit Wageil und Pferden fordern sollen, ohne sie zu bezahlen. Indem sie das Königthum nöthigen, auf seine willkürliche Strafgewalt gegen die Barone zu verzichten, verfügeil sie sür alle Einwohner des Reichs, daß Niemanden: das Recht beschränkt, verweigert oder verkauft werden soll, daß Niemand in England gestraft oder gebüßt werden soll, ohne Zuziehung seiller P ä r s und nach dem Gesetz des Landes. Sie bestimmen, daß die „gemeine Bank", d. h. der Gerichtshof, welcher sich von der Königsbank für Berufungen von den Grafschaftsgerichten für alle nicht peinlichen Fälle wie für die, bei welchen kein Jilteresse des Königs in Frage kam, abgezweigt hatte, der Person des Königs nicht mehr folgen, sondern an einem festgesetzten Orte seineil Sitz haben solle, damit er Jedermann zugänglich sei. Das Widerstandsrecht, welches sich die Barone ausbedingen, falls der König die Bestimmungen dieses Freibriefs Nicht halte, nehmen sie in Anspruch mit allen Corporationen, mit alleil Gemeinden des Reichs und sie verfügen, daß jedem Kirchspiel des Landes eine Abschrift dieses Vertrages zugefertigt werdeil soll. Gneist, a. a. O. S . 68.

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Die Krone von England war weit davon entfernt, sich einer durch Ueberraschung abgezwungenen Constitution willig fügen zu wollen. Ohne Zweifel wäre sie der Barone sehr bald und sehr vollständig wieder Herr geworden, wenn diese von dem eingeschlagenen Wege, nicht nur Rechte für sich, sondern zugleich für alle Unterthanen zu forder», abgewichen wären. Aber sie blieben an der Spitze der Interessen aller Stände. Nachdem sie in der ma-nia elmrtA für die Rechte der untern Stände Vorsorge getroffen, nahmen sie weiter deren selbständige Mitwirkung in Anspruch. Um die Ausführung der inaM«, ek-u-ta im Kampfe mit König Heinrich III. begriffen, war es der Führer der Barone, Graf Simon von Montsort, welcher am 20. Januar 1265 die Ritterschaften und die bedeutendsten Städte des Landes einlud, an der Versammlung der Barone Theil zu nehmen. Es galt den Versuch, eine ständische Regierung an der Stelle der königlichen zu gründen. Die Barone mußten der Krone die Gesammtheit der Unterthanen gegenüberstellen; nur in und mit dieser Gesammtheit hatten sie Aussicht durchzudringen. Die Krone vereitelte diesen Versuch durch Waffengewalt, durch die Schlacht von Evesham. Aber sie wäre außer Stande gewesen, diesen Sieg zu behaupten, wenn sie den Rittern und Bürgern entzog, was die Barone ihnen eben zugestanden hatten. Wie war es möglich, daß die Krone sich der drohenden Uebergriffe des Standes der Barone erwehrte, ohne die willige und thatkräftige Unterstützung ihrer alten Schutzbefohlenen und Verbündeten, der Ritter und Bürger? Die Verfassung verbot der Krone jede außerordentliche Besteuerung ohne Zustimmung der Barone. Sollte sich die Krone von den Bewilligungen dieses Standes ausschließlich abhängig machen? Konnten Ritter und Bürger nicht der Krone zugestehen, was die Barone verweigerten? Waren sie es nicht, welche des Schutzes der Krone gegen die Großen des Reichs bedurften? S o lud Eduard I. zu den hergebrachten Besprechungen des Königs mit den Baronen, zu den Parlamenten, welche die nmKua ekai-ta der Krone für alle außerordentlichen Steuerfälle vorgeschrieben, für die sie den

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Baronen das Recht der Zustimmung beigelegt hatte, auch die Ritterschaft und die Bürger, wenn er ihrer Geldbewilligungen, wenn er ihrer Unterstützung zu bedürfen glaubte; bald die Ritterschaft allein, bald die Städte allein, bald beide Stände auf einmal. Ohne Zweifel hatte die Krone ein noch stärkeres I n teresse, Ritter und Städte neben den Baronen zu ihrem Rathe zu laden, als diese selbst, nach dem einmal das Besteuerung«recht der Krone durch die Barone beschränkt war. Und wenn die Barone zunächst im eigenen Interesse in der Verfassung durchgesetzt hatten, daß Niemand ohne Zuziehung seiner P ä r s gerichtet werde, so hatte die Krone einen noch stärkern Antrieb, ihrerseits den untern Ständen einen unverkümmerten Schutz des Rechts zu gewähren. Es war König Eduard I., unter dessen Regierung das Geschwornengericht eine durchgeführte Jnstitutiou wurde. Wer einen ländlichen oder städtischen Grundbesitz von 40 Schilling Ertrag besaß, war zur Theilnahme an der Jury berechtigt. Alls diesen Wurzeln erwuchs die ständische Verfassung Englands. Die Bedürfnisse eines selten unterbrochenen, mit verschiedenem Glück geführten Krieges gegen Frankreich, machten die Krone von England im vierzehnten und in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts abhängig von den Bewilligungen, welche die Barone und Prälaten, die Ritter und Bürger zu gewähren für gnt fanden. Die fünfzigjährige Regierung Eduards III. (1327—1377) sah die Stände von England fünfzig Mal versammelt. Mit ihren GeldHülsen erwarben sie ihre Rechte; für Geld wurde die Freiheit Englands erkauft'). Die Versuche der Kroue, ohne Bewilligung der Stände Steuern zu erheben oder einmal bewilligte über den bestimmten Zeitraum hinaus zu erheben, gelangen doch auch so thatkräftigen Regenten wie Eduard I. nur für eineil Augenblick. Ihre Bewilligungen knüpfte« die Stände an die Bedingungen der Abhülfe der Beschwerden des Landes, der Einzelnen wie der Gesammtheit). Hallam, Europa im Mittelalter (deutsche Uebersetzung von v. Haleny 2. 461. — Hallam a. a. O. S . 300.

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Die Petitionen um Abhülfe von Rechtskränkungen kamen zahlreich aus allen Theilen des Landes, sobald das Parlament zusammentrat. König Richard II. erkannte iin Jahre 1382 an, „daß der Rath und die Zustimmung der Gemeinen zu der Erhebung von Steuern wie zu der Feststellung von Gesetzen und allen andern Dingen, welche den gemeinen Nutzen des Königreichs betrafen", eingeholt werden sollten'). Indem die Stände die Verwendung der zu bestimmten Zwecken bewilligten Gelder untersuchten, gelangten sie zu einer Controlle der Verwaltung des Landes. Indem sie den Zweck der Geldsorderungen der Krone prüften, kamen sie schon im vierzehnten Jahrhundert dazu, auch über Krieg und Frieden mitzusprechen^). Indem sie Beschwerden und Anklagen gegen diesen oder jenen Beamten des Königs erhoben, gelangten sie zu einem gewissen Einfluß auf die Besetzung der wichtigsten Aemter. Der Rath der Barone verurtheilte bereits in: Jahre 1321 zwei angesehene Beamte König Eduards II. zur Verbannung und im Jahre 1330 Roger Mortimer wegen Hochverraths zum Tode. Durch das Recht, in Person auf den Parlamenten zu erscheinen, durch ihren Rang und ihren Besitz bildeten die Barone die Spitze in der Ständeversammlung. Aber sie hielten die Gemeinschaft, die Solidarität mit den Rittern und Bürgern getreulich fest. Niemals machten die Barone einen Versuch, ihre hervorragende Stellung, ihren mächtigen Einfluß dazu zu benutzen, sich der Besteuerung, den gemeinen Lasten des Landes zu entziehen. Die Prälaten waren durch gleiches Interesse gegen die Uebermacht des Königthums eng mit den Baronen verbunden. Sie waren wie diese für die Verfassung eingetreten. Dem Widerstandsrecht der Barone gegen die Verletzung der maMg, edartA hatten die Prälaten um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts das Anathema, die ewige Verdammung gegen König Heinrich III. hinzugefügt, wenn er sie nicht halten würde. Dasselbe Motiv, welches Wilhelm den Eroberer bewogen hatte, die Baronien gleichmäßig zwischen Kriegsmännern und Prie-) Gneist a. a. O> S . 141. -

2) Hallam a. a. O. S . 317.

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stern zu theilen, dasselbe Motiv, welches die Könige zu der Berufung der Ritter und Bürger nebeu den Baronen bewogen hatte, veranlaßte die Könige, den Stand der Prälaten in starker Zahl zu den Parlamenten zu laden. Nicht blos die Bischöfe wurden eingeladen, sondern auch die Aebte und Prioren aller bedeutenderen Klöster, so daß die geistliche Aristokratie während des vierzehnten Jahrhunderts zahlreicher im Rath der Barone war, als die kriegerische^). Die Versuche der Krone, auch den Rittern und Bürgern ein Gegengewicht in der niederen Geistlichkeit gegenüber zu stellen, (jedes Dekanat sollte zwei Abgeordnete zur Ständeversammlung entsenden ^) scheiterten, obwohl sie mehrmals bis zum Ende des vierzehnten Jahrhunderts wiederholt wurden; die Vertretung des gesammten Standes blieb den Prälaten. Die Besitzungen der Kirche trugen die Lehenslasten, die Lasten der Grafschaften nicht anders als die Güter der Laien. Den außerordentlichen Geldhülfen an die Krone zu entgehen, machten die Prälaten wohl einmal einen Versuch. Sie bezogen sich darauf, ohne Genehmigung des Papstes dem Könige keine Steuern bewilligen zu dürfen (1297), aber sie wichen sogleich, als König Eduard I. drohte, alle Baronien der Kirche einzuziehen und Personen und Güter der Geistlichkeit außer dem Schutz seiner Richter zu erklären^). Die Eingriffe des Pabstthums in die Be setzung der kirchlichen Stellen, die Besteuerung der englischen Kirche zu Gunsten Roms drängte die Geistlichkeit unter den Schutz des Königs und der Stände, und diese nahmen ihrerseits immer die Partei des Staats gegen die Ausdehnung der geistlichen Gerichtsbarkeit wie gegen andere Prätensionen der Kirche auf Sonderrechte. Noch vor dem Schluß des dreizehnten Jahrhunderts konnten in England die Erwerbungen zur todten Hand beschränkt werden. Die Prälaten waren trotzdem gezwungen, mit den Baronen zu gehen, wenn sie dem Besteuerungsrecht und der Lehensherrlichkeit des Königs, wenn sie den Provisionen des Papstes nicht schutzlos verfallen wollten. ') Gneist, englisches Verfassungsrecht S , 177. — S , 421. — Pauli, Geschichte Englands 4, 111.

Hallam a. a, O.

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Die Bewilligungen der Stände erfolgten in der Weise, daß dieselben einzeln dem Könige einen gewisseil Theil des Werths ihrer fahrenden Habe zur Verfügung stellten. Es wird der Krone zugestanden, den dreißigsten, fünfzehnten, zwölften, elften, zehnten, achte», siebenten, ja sogar den fünften Pfennig von allem beweglichen Eigenthum des betreffenden Standes erhebe» zu lassen. Es ist Geld, Hausrath, Vieh, Vorräthe jeder Art, welche zu diesem Behufe abgeschätzt werden. I m Jahre 1295 bewilligten die Barone dem Könige den elften Pfennig, die Prälaten den zehnten, die Ritter den elften, die Städte den siebenten Pfennig. I n : Jahre 1305 bewilligten Barone, Prälaten und Ritter den dreißigsten, die Bürger den zwanzigsten Pfennig. I m Jahre 1333 bewilligten die Ritter den fünfzehnte», die Bürger den zehnten Pfennig. I m Jahre 1347 erhielt die Krone nur von den Baronen und Prälaten Geldhülfe, Ritter und Bürger versagten dieselbe'). Dasür bewilligten diese zwei Jahre darauf drei fünfzehnte Pfennige. I m Jahre 1360 be willigten die Barone und die Ritter wieder den dreißigsten, die Bürger deu zwanzigsten Pfennig. I m Jahre 1371 forderte die Krone eine bestimmte Summe: 100,000 Pfund. Die Prälaten übernahmen die Hälfte, obwohl auf den Antheil der Kirche nur der dritte Theil der aufzubringenden Steuer fallen konnte; die andere Hälfte wurde von den weltlichen Ständen übernommen"). Barone, Prälaten und Ritterschaft waren schwerer belastet als die übrige» Stände, da sie außer diesen Hülfsgeldern die Schildgelder zu zahleu oder ihre Kriegsdienste zu thuu hatten, da sie daneben den herkömmlichen Lehenssteuern und Lehenslasten unterlagen. Die Barone hatten den Zweck erreicht, um dessenwillen sie sich gegen König Johann bewaffnet hatten, eine einflußreiche Stellung im Rathe des Königs und die Freiheit von willkürlichen Lasten und willkürlicher Besteuerung. Sie waren im Laufe dieses Kampfes mit den Prälaten zu einem Stande, zu einer Körperschaft verwachsen. >) Hallam a. a. O. S . 297. II, 304.

Pauli a. a. O. 4, 353. — 2) Rot. parlium

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S i e wareil immer die Beisitzer, die Schöffe» des Königs in seinem Lehenshofe gewesen. An der Spitze der Stände setzten sie den Anspruch durch, selbständig das höchste Gericht des Landes, wenn auch unter dem Vorsitz eines königliche» Beamten, zu bilden, sie erreichten es nach langem Streit gegen die Krone unter König Heinrich IV. zu Ansang des fünfzehnte» Jahrhunderts, daß kein Baro» vor einem andern Gericht in Criminalfällen belangt werden könne, als vor dieser Versammlung seiner Standesgenossen'). Nicht die Baronien — die Amtsbezirke, die Grafschaften hielten in England die Ritterschaft in gesonderten Kreisen, in bestimmten Verbänden dem Staate gegenüber. Nicht nach den Baronien wurde sie zu den Ständen entboten, sondern nach den Kreisen des Landes. Die Wahl der beiden Abgeordneten der Grafschaft fand unter dem Vorsitze des Amtsdirectors, des Sheriffs, auf der Versammlung der Grafschaft Statt, an welcher wie an dem Gericht der Grafschaft die freien Bauern ebenso Antheil nahmeil wie die Ritter. S i e wurde wie jedes andere Geschäft der Grafschaft vorgenommeil. Es waren die Grafschaftsversammlungen, die Kreistage, auf welchen auch die Steuern umgelegt wurden. E s ist wahrscheinlich, daß die Bauern Anfangs an den Wahlen der abzuordnenden Ritter geringen Antheil nahmen. Aber die Ritter sollten auf den StändeVersammlungen nicht blos für sich sondern für die gesammte Grafschaft, von ihrem Eigen wie von dem der freihaltenden Bauern. Steuern bewilligen^). S o war es nicht wohl möglich und am wenigsten im Interesse der Krone, die freien Bauern voll den Wahlen feril zu halten. Schon im vierzehnten Jahrhundert, unter Eduard II. und Richard II. wird bestimmt, daß die gesammte Grafschaft, Rittergut und Bauerngut, die Kosteil der Vertretung der Grafschaft auf den Ständeversammlungen zu tragen habe (die Diäteil betrugen nach den Festsetzungen unter Eduard II. vier Schilling täglich für den Ritter, zwei Schilling für den Bürger), i) Gneist, englisches Verfassungsrecht S . 134, 1S2. — S . 216, 264.

Hallam, a. a. O.

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und Heinrich IV. spricht im Jahre 1406 ausdrücklich das Recht der Theilnahme der Bauern an den Wahlen aus. Zur Vermeidung tumultuarischer Wahlen bestimmt Heinrich VI. im Jahre 1430, daß nur diejenigen Bauern wahlberechtigt sein sollen, welche auch zum Geschwornendienst herangezogen werden können, d. h. diejenigen, deren Husen ein Einkommen von 40 Schilling jährlich abwarfen'). S o waren die Vertreter der Ritterschaft zugleich die Vertreter der Bauern der Grafschaften geworden. Die Abgeordneten der Grafschaften vertraten das ritterliche und bäuerliche Grundeigenthum derselben, welches unter einer und derselben Regel befaßt, welches einem und demselben Gesetz unterworfen war. König Heinrich II. hatte den Rittern den Abkauf des Lehensdienstes gegen Schildgeld gestattet. Die große Charte erlaubte der Ritterschaft, Theile der Rittergüter zu veräußern: doch dürfe diese DiSmembrirung nur so weit gehen, daß der Lehensdienst von dem Ueberreste noch geleistet werden könne. Eduard I. gestattete im Jahre 1290 unter Zustimmung der gesammten Ritterschaft des Reichs die Veräußerung jedes Ritterguts, unter der Bedingung, daß die Schildgelder desselben sortbezahlt würden. Seitdem war Jedermann in England in der Lage, kriegsdienstpflichtiges Grundeigenthum zu erwerben. Bereits Heinrich III. hatte von den Lehenserben verlangt, den Ritterschlag bei dem Könige einzuholen, um eine Einnahme von den Gebühren zn ziehen. Eduard II. verpflichtete im Jahre 1307 jedeu Grundeigeuthümer, der eiue jährliche Rente von zwanzig Pfund habe, den Ritterschlag einzuholen. Es war die Aufhebung der alten, die Kreirnng einer ganz neuen Ritterschaft. Diese war von nun an ein offener Stand, in welchen jeder größere Grundbesitzer nicht nur eintreten konnte, sondern auch eintreten mußte; sie war nichts mehr als die Klasse der größeren Grundbesitzer. ') Hallam a. a. O. S . 278. 394.

P a u l i 4, 679 hält dafür, daß die B a u e r n

schon vor und unter Eduard I. mitgewählt haben: vgl. S . 681. T u n c k e r , Abhandl. a. d. n. Gesch.

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Die Grafschaften klagten über die Mißbrauche und Nebergriffe, welche sich die Sheriffs, die Amtsdirectoren, zu Schulden kommen ließen. Diesen Klagen ein Ende zn machen, entzog Eduard III. im Jahre 1363 den Sheriffs den Vorsitz und die Leitung der Grafschastsgerichte. Das Gericht der Grafschaft sollte in Znknnft von Friedensrichtern gehalten werden, welche der König ans der Zahl der Ritter der Grafschaft und aus Nechtsgelehrten ernennen würde. Vor Ablauf des vierzehnten Jahrhunderts, im Jahre 1388, war das neue Institut vollständig geordnet^). Den Sheriffs blieb neben der Verwaltung der Grafschaft und der Einsetzung der Ortsbeainten, die Ernennung der Geschwornen und die Vollstreckung der Urtheile. Wie die Verwaltung des Reichs durch die Rechte der Stände be schränkt worden war, so war nun auch die Amtsgewalt der Sheriffs über die Grafschaften in engere Grenzen gewiesen. Die Einführung der Friedensrichter war eine Erweiterung der Befugnisse der Rittergutsbesitzer gegenüber der Verwaltung. Sie kam aber auch sehr wesentlich den Bauern zu Gute und zwar dem am schlechtesten gestellten Theil der Bauernschaft, den Gutsunterthanen der Barone und der Rittergutsbesitzer. Die Sheriffs hatten die freien Bauern davor geschützt, zu Gutsunterthanen ihrer ritterlichen Nachbarn herabgedrückt zu werden; seitdem die Barone das Schatzungsrecht der Krone über die Lehensmannschaft beschränkt hatten, nahmen sich die Könige auch der alten Gntsunterthanen des Adels an. Die Grundherrn sollten nun eben so wenig ein Recht haben, ihre Unterthanen willkührlich zu beschatzen und ihre Leistungen zu erhöhen, als die Könige die Vasallen beliebig beschatzen konnten. Die Sheriffs mußten darauf halten, daß die herkömmlichen Leistniigen der Gutsunterthanen nicht erhöht wurden. Zugleich beschränkte die Krone das Patrimonialgericht der Grundherren. Das Statut von Merton, unter Heinrich III. im Jahre 1237 erlassen, untersagt den Grundherrschaften, eigene Gefängnisse zu halten; ihre Gerichte konnten seither ihre Strafurtheile nur durch den Staat d. h. durch den ') Gneist a. a. O. S, 106.

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Sheriff vollstrecken. Unter derselben Regierung erging 1268 das Statut von Marlebridge, welches alle Streitigkeiten über Grund und Boden vor die Grafschaftsgerichte verwies und die Kompetenz der Patrimonialgerichte auf Prozesse unter vierzig Schilling Werth beschränkte. I m Jahre 1369 bestimmte König Eduard III., daß es den Gutsherrschaften nicht freistehe, einen Gutsunterthan seines Hofes zu entsetzen, falls er die herkömmlichen Dienste leiste'). Die Geldhülsen, welche die Barone, die Prälaten, die Ritter der Krone bewilligten, warm nicht Steuern, welche sie ihren Gutsunterthauen auflegten; es waren Vermögenssteuern, welche ihren eigenen Besitz und nur diesen trafen. Als die Stände den höher steigenden Geldforderungen der Krone gegenüber von diesem System abgingen, lind im Jahre 1379 dem ganzen Lande, d. h. allen Bewohnern desselben eine Klassen- und Kopssteuer auslegte», welche dem Baron 6—2 Psuud, den Altermännern der größeren Städte zwei Pfund, den Rittergutsbesitzern und Advocaten, so wie den Altermännern der kleineren Städte ein Pfund, den freien Bauern 6—3 Schillinge, den unfreien 6—1 Schilling, allen Dienstleuten, Arbeitern und Knechten ohne Ausnahme einen Groschen, d. h. 4 Pfennige, auf den Kopf auflegte, erregte dies große Unzufriedenheit unter den niederen Classen. Schon im folgenden Jahre wurde diese Auflage, und zwar in der Weise einer reinen Kopfsteuer wiederholt. Jedermann sollte einen Groschen zahlen; nur die hohe Geistlichkeit gab 20 Groschen, die niedere 3 Groschen für den Kopf. Da kamen die Gutsunterthanen, denen der Staat neben den Lasten für den Herrn, nun auch seine Steuern auflegen wollte, da kanien die untersten Schichten des Landes in die gewaltigste Bewegung. S i e erzwängen von König Richard das Zugeständniß, daß alle Leibeigenen frei, daß von keinem Acker Landes jährlich mehr als ein Groschen Zins dem Herrengut entrichtet werden sollte. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, die Zugeständnisse zurückgenommen; aber die Stände verließen den eben eingeschlagenen Weg der Besteuerung, um ihn nicht wieder zu be ') Hallam a. a. O, S . 217. 480. 4S1.

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treten. Die Lage der Gutsunterthanen wurde seit dieser Zeit wesentlich besser. Die gleich darauf (1386 und 1388) erfolgende Durchführung des Instituts der Friedensrichter vernichtete die noch übrige Gerichtsgewalt der Grundherren. Die Barone konnten bei der bereits vorhandenen Beschränkung derselben auf ein so armseliges Recht keinen Werth legen, und wozu sollte» die Ritter urtheilen lassen, da ihren Gerichten alle wichtigeren Sachen entzogen waren, da sie ihre Strafurtheile nicht selbst vollstrecken konnten, da jedermann von dem Patrimonialgei icht Berufung einlegen konnte an das Grafschaftsgericht. Sie waren außerdem für das Patrimonialgericht über die Gntshörigen durch das Friedensrichteramt, durch das Gericht über die gesammte Grafschaft entschädigt, welches ihnen eben beigelegt worden war. Mit dem allmähligen Erlöschen des Patrimonialgerichts im Laufe des fünfzehnten Jahrhunderts, verlor sich ein wesentlicher Unterschied der freien Bauern und der Gutsunterthanen. Beide Classen standen gleichmäßig uuter dem Grafschaftsgericht. König Eduard IV. hob dann die Stellung der Gutsunterthanen sehr wesentlich, als er ihnen ein festes Anrecht an ihren Höfen beilegte und ihnen die Klage gegen die Besitzentsetzung durch den Grundherrn bei den Grafschaftsgerichten gestattete'). Nach der Befestigung der Güter in den Händen der Gutsnnterthanen gab es nur noch eine geringe Trennung zwischen diesen und den freien Bauern. Die Dienste der ersteren verwandelten sich in Zinsen, ans Gutsunterthanen wurden Pächter. Schon an? Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ist die Gutsunterthänigkeit vom Boden England's verschwunden, wenn auch heute aus manchem Pachtgute Sterbefälle und andere Lasten, die ihren Ursprung in der Grundherrlichkeit haben, unabgelöst ruhen. Am Ende des sechzehnten Jahrhunderts giebt es in England keine Leibeigenen mehr^). Grade in dem Lande Europa's, in welchem der Adel seine Rechte mit den Waffen in der Hand, durch die Eroberung gegründet, war der Stand der freien Hallam a. a. O. S . 48l. —

Hallam a. a. O. S . 490.

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Bauern niemals untergegangen, waren die Gutsunterthanen am besten gestellt, sind sie am frühsten emancipirt worden. S o wenig als die Barone sind die Städte Englands jemals zu der selbstständigen Macht und Bedeutung gelangt, wie in Italien, Deutschland und Frankreich. Auch die Städte Englands haben nicht als einzelne Gemeinden, als Republiken, sondern nur als eine Gemeinschaft, als Stand Bedeutung. I n ähnlicher Weise wie aus deni Festlande erwuchsen die Städte in England aus Gemeinden, welche in der Schutzpflicht, d. h. in der Steuerpflicht eines Barons oder Bischofs, in der Steuerpflicht des Königs standen. Sie kauften ihrem Herrn das Schutzrecht, dann das Recht der Selbstverwaltung ab. Aber es war nicht nöthig, daß sich die Städte Englands in Festungen verwandelten, da hier weder die Sitze der Barone noch die der Ritter Festungen waren. Sie hatten in England nicht nöthig, bewaffnete Einungen unter einander abzuschließen, um die Straßen zu schützen, der Staat lind dessen Gerichte erhielten den Landfrieden. Die Bevölkerung Englands drängte sich nicht in dein Maaße in die Städte zusammen, wie auf dem Festlande, um sich der Grundherrlichkeit zu entziehen. Wohl entliefen auch hier Leib' eigene in das befreiende Weichbild'), aber es gab doch neben dem Adel überall freie Männer auf dem Lande in England. Die englischen Städe hatten nicht nöthig, ein besonderes bürgerliches Gericht auszubilden: die Bürger der Flecken waren so gut wie Ritter und Bauern Gerichtsmänner des Grafschastsgerichts, und der Staat besaß eine Gerichtsverfassung und ein Rechtsleben, welches die Gestaltung eines besonderen städtischen Rechts überflüssig machte. Der Zusammenhang der Bürger mit den Grafschaftsgerichten verhinderte die schroffe Trennung, welche Stadt und Land auf dem Festlande auseinander hielt, und die Gesetzgebung, welche vom König und den Ständen gemeinsam ausging, erstreckte sich gleichmäßig auf Stadt und Land. Niemals ist in England das Gewerbe von den Städten monopolisirt, der Betrieb desselben auf dem Lande beschränkt !) Hallam a. a. O. S . 485. 488.

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worden. England ließ weder das Monopol des Grundeigenthums für Adel und Kirche, noch das Monopol des Handwerks für die Bürger entstehen. Seitdem jeder größere Grundbesitzer den Ritterschlag einholen mußte, war es nicht mehr das ritterliche Leben, von welchem die Ehre und der Rang eines Mannes abhingen. Die Kluft zwischen den Waffen führenden und nicht Waffen führenden Ständen war überbrückt. Die Klassensteuer des Jahres 1379 stellt die Ritter, die Advokaten, die Altermänner der Städte auf eine Linie. Wenn sämmtliche größere Grundbesitzer den Rittertitel führten, so war kein Anlaß, die besser gestellten Klassen der Bürger von demselben auszuschließen. Seit den Zeiten Eduards IV. beginnt das städtische Patriciat den Titel Esquire zu führen wie das ländliche und unter Heinrich VII. wird ein Bürger von den Ständen der Ritter und Bürger zum Leiter ihrer Verhandlungen, zum Sprecher des Unterhauses gewählt. Unter Elisabeth heißen bereits alle angesehene Männer des Bürgerstandes Esquire'). Es war die besondere Steuerkraft der Städte, weshalb die Könige diejenigen Gemeinden, welche die Selbstverwaltung erlangt hatten, zahlreich zu den Ständeversammlungen beriefen. Eduard I. hatte im Jahre 1283 ein und zwanzig Städte zum Parlamente berufen, im Jahre 1295 berief er die Abgeordneten von hundert Städten. Einige von ihnen lehnten späterhin die Berufung ab, weil ihnen die Kosten für ihre beiden Abgeordneten zu schwer fielen. I m Verhältniß zu den Grafschaften blieben die Städte dennoch stark vertreten. Das Herkommen bestimmte allmählig diejenigen, welche zu den Ständeversammlungen eingeladen wurden; es waren 80 bis 90 2). Heute sind die Städte fast viermal stärker als die Grafschaften im Parlament vertreten. Trotz der stärkeren Vertretung der Bürger entschlossen sich die Ritter, auf den Ständeversammlungen mit den Bürgern zusammenzutreten. Die Barone saßen und stimmten aus persönlichem Recht; die Ritter wie die Bürger vertraten Korporationen. Sie fanden, daß ihre Interessen zusammengingen, daß Ritter >) Hallam a. a. O. S . 4VS. —

Hallam a. a. O. S . 402.

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lind Städte dieselben Beschwerden über die Verwaltung, daß beide dieselben Interessen in der Besteuerung hatten. Wenn dem Könige außer den Vermögenssteuern gestattet wurde, Zölle auf die Ausfuhr von Wolle und Häuten, auf die Einfuhr von Wein zu legen, so waren jene das Product der großen Güter (der Zoll traf den Producenten wie den Kaufmann), lind dieser war den Rittern nicht minder nothwendig als den Bürger». Man war stärker der Krone gegenüber, wenn Ritter und Bürger nur einen Stand bildeten. Die Ritterschaft England's verschmähte es im vierzehnten Jahrhundert nicht, was der Adel Frankreichs am Ende des achtzehnten hartnäckig verweigerte, zu gemeinsamer Berathung und Beschlußfassung mit den Krämern zusammenzutreten. Und in England im vierzehnten Jahrhundert handelte es sich um eine Minderzahl ritterlicher Abgeordneten, welche mit einer Mehrzahl von Bürgern zusammentraten, in Frankreich weigerte sich der Adel, in gleicher Zahl mit den Bürgern zusammenzutreten und nach Köpfen abzustimmen. Bis gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts machen die Grafschaften und die Städte noch ihre besonderen Geldbewilligungen, bis zu diesem Zeitpunkt finden sich noch abgesonderte Vota der Ritter und Städte, doch berathen die Abgeordneten der Grafschaften und Städte schon in den späteren Jahren Eduards III. gemeinsam und wählen gemeinsam einen Sprecher für die Leitung ihrer Verhandlungen'). S o waren den Baronen und Prälaten gegenüber Grafschaften und Städte ebenfalls zu einem Stande zusammengewachsen. Wie die alten Räthe der Krone, die Bischöfe und Barone, sind die neuen Räthe derselben, Ritter und Bürger, ebenfalls ein Körper geworden. I n dieser Gemeinschaft hatten sie das Recht der Steuerbewilligung, welches die Mklxnk elmrt-v nur den Baronen zubilligte, hatten sie das Recht der Zustimmung zu den Gesetzen und eine wirksame Kontrolle der Verwaltung errungen. Blieben alle Beschwerden gegen einen hohe» Beamten der Krone vergeblich, so erhoben die Gemeinen Mi'Iwii'.ent. !?. 322.

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Anklage gegen ihn bei deni Hause der Lords, welches sich zum höchsten Gerichtshofe des Landes emporgearbeitet hatte. Die erste Anklage dieser Art wurde von den Gemeinen im Jahre 1377 gegen Lord Latimer erhoben. Als König Richard II. im Jahre 1386 starke Geldhülfen verlangte, antworteten die Gemeine» mit der An klage gegen den Kanzler Michael de la Pole, einen Bürgersmann, den der König zum Grafen von Suffolk ernannt hatte, und gegen die Räthe der Krone. Der Kanzler wurde von den Lords zu Gesäugnißstrase verurtheilt. Seitdem drängten sich unter den Königen aus dem Hause Laucaster die Anklagen in rascher Folge. Ihre Reihe schließt mit der Verurtheilung des Grafen von Suffolk im Jahre 1450 zu fünfjähriger Verbannung. I n zwei große Körperschaften vereinigt, stehen die Unterthanen auf der Grundlage gleichen Rechts und gleicher Besteuerung der Krone gegenüber. Die Stände von England hatten gegen ein mächtiges Königthum eine einflußreiche uud dem Lande heilsame Stellung errungen, weil sie auf Sonder rechte zu verzichten verstanden hatten. Was England im dreizehnten Jahrhundert begründet, im vierzehnten und in der ersten Hälfte des fünfzehnten ausgebildet — die ständische Verfassung, wurde auch dem Continent zu Theil. Auch auf deni Festland weicht im vierzehnten Jahrhundert der Lehensstaat dem ständischen Staat. Aber es ist nicht die Uebermacht der Krone, gegen welche England in den ständischen Rechten einen Schutz gesucht hatte — auf dem Continent ist es die Bedürftige keit des Königthums, welche die ständische Verfassung schafft. Die Unternehmungen und Anordnungen der Könige des Festlandes hatten bisher von dem guten Willen der Barone abgehangen, welchen sie in den Besprechungen mit denselben (den Parlamenten) auf den Hoftagen zu erlangen gesucht hatten. Nun waren die Lehensherr schasten durchbrochen worden durch die Emancipation der städtischen Gemeinden; die Freiheit des genieinen Mannes war aus dem Schooße des Lehenswesens wiedergeboren worden - es gab neben der priesterlichen und kriegerischen Aristokratie wieder ein demokratisches Element und die Staaten umfaßten neben den weltlichen und geist

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lichen Lehensherrschaften Stadtgemeinden, welche das Jnteresie des Königthums gegen die willkürliche Gewalt, gegen das Fehdewesen, gegen die Uebermacht der Barone theilten. S o beriefen die Könige von Frankreich seit dem Anfang des vierzehnten Jahrhunderts neben den Prälaten und Baronen Abgeordnete der Städte, Abgeordnete der Ritterschaften aller Baronien zum Parlament, um Zustimmung zu ihren Anordnungen und Geldhülfen zu erlangen. Die Barone mußten in ihren Territorien den? Beispiel der Krone folge». Die Generalstünde gewinnen in diesem Jahrhundert in Frankreich rasch eine große Bedeutung, und es sind die Städte, welche die entscheid dende Stimme auf diesen Versammlungen in Anspruch nehmen und sühren. I n Deutschland kam den Kaisern nicht ein Mal der Gedanke, die Ritterschaften und die Städte, welche unter der Lehenshoheit der Barone, d. h. der Fürsten, standen, zu den Hostagen zu berufen, diesen das Gegengewicht der unteren Stände gegenüberzustellen und durch die gemeinsameil, das gesammte Reich umfassenden Interessen dieser Stände die Theilung des Reichs unter die Fürsten wiederaufzuheben. Mit jenen« Schwanken zwischen dem Größten und dem Kleinsten, mit jenem Ueberspringen von den hochfliegend sten Planen zu kleinmüthigem Verzichten, welches der schwerste Fehler des deutschen Charakters ist, entsagte das Kaiserthum, nachdem es eben die Herrschaft über das Festland zu gewinnen und das Papstthum sich zu unterwerfe« versucht hatte, der nationalen Bedeutung seiner Stellung, um die Reste seines Ansehens nach dem Beispiel der Fürsten zur Gründung eines größeren Fürstenstaats, einer Privatmacht, einer Hausmacht zu gebrauchen. Aber die Koalition des Papstthums und des Fürstenthnms hatte das Reich zum Wahlreich gemacht, und die Fürsten waren stark genug, jedes bedrohliche Wachsthum eiues Kaiserhauses auf diesem Wege zu hindern, indem sie das Reich einem andern Hause übertrugen. S o blieb es in Deutschland bei den Fürstentagen. Es war mehr schädlich als nützlich, daß die Fürsten sich auf diesen in zwei besondere Körper schieden, und die Zuziehung der Vertreter mehrerer Städte, welche sich

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von der Hoheit ihrer Lehensherrn vollständig emancipirt hatten, tonnte den Charakter des deutschen Reichstages als einer Versammlung factisch selbstständiger Landesherrn, factisch selbstständiger Staaten nicht verändern. Die ständische Verfassung vollzieht sich in Deutschland innerhalb der einzelnen Territorien. I n diesen erlangen die Geistlichkeit, die Ritter, die Städte Rechte den Fürsten gegenüber, welche nicht geringer sondern größer waren als die der Stände Englands. Nicht blos, daß sie das Recht der Steuerbewillignng unbestritten besaßen, sie nahmen vielfach durch besondere von ihnen constituirte Behörden am Gericht uud au der Verwaltung Theil, sie hatten nicht selten das Recht, Verträge mit dem Auslande zu verwerfen oder zu bestätigen, selbstständig zusammenzutreten und den Fürsten bewaffneten Widerstand entgegenzusetzen. Die Trennung der deutschen Territorien konnte dadurch mir schärfer gezogen werden. Seit dem Eude des fünfzehnten Jahrhunderts macht das Königthum des Festlandes, in Deutschland das Fürstenthnm, bedeutende Fortschritte den Berechtigungen der Stände gegenüber. Die Städte unterstützen das Königthum in seinen Bemühungen, den Landfrieden aufzurichten und aufrecht zu halten. Sie verzichten willig auf ihre Rechte der Krone gegenüber, wenn diese ihnen Ruhe, Ordnung und friedliches Recht im Lande schafft. Die Gerichtsgewalt, welche die Könige uud Fürsten zu diesem Behufe aufrichte«,, stützt sich auf ein fremdes Recht, das römische, welches in einem Beamtenstande, der sich an demselben bildet, den Königen einen mächtigen Bundesgenossen zur Seite stellt, die Eigenmacht der Barone uud Ritter zn brechen. Aber dieses neue Recht vernichtet auch die localen Freiheiten, die localen Selbstregierungen des Mittelalters, die demokratischen Elemente, welche der Lehensstaat, der ständische Staat in ihrem Schooße bewahrt hatten. Ist das Recht ein allgemeines, ein fertiges, so kann die locale Rechtsbildung, das Finden desselben im Schöffengericht nicht mehr stattfinden; ist das Recht ein fremdes und gelehrtes, so kann es von Rittern, Bürgern und Bauern uicht mehr gesprochen werden. Das Volksrecht unterliegt dem Juristen-

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recht. Das bis dahin selbstständige Gericht der Ritter, Bürger und Bauern, die locale Selbstverwaltung beginnt an einen Beamtenstand überzugehen. Wohl wahr, daß ein gewisses demokratisches Element in diesem Emporkommen des Beamtenstandes, in diesem Emporkommen des Verdienstes neben der Geburt, neben dem Privilegium liegt; aber dies Emporkommen geschah unter Bedingungen und diente einein Zwecke, welcher die partikulare» Selbstregierungen des Lehensstaates, des ständischen Staates zerreiben nnd die Ersetzung derselben im Sinne eines großen Gemeinwesens verhindern mußte. Die religiösen Kämpfe des sechszehnten und siebzehnten Jahrhunderts, so ernsthaft sie hier und da die fürstliche Macht erschüttern, enden dennoch mit einer wesentlichen Verstärkung derselben; sie breche» das Ansehen, die selbstständige Stellung der Prälaten, des geistliche» Standes, und geben den Fürsten in engerem oder weiterem Umfange die Verfügung über die Besitzungen, die Einkünfte, die Stellen und Rechte desselben. Nicht blos daß die Reformation den Fürsten, welche sich zu ihr bekennen, die Verfügung über die Kirche gewährt, auch auf der Gegenseite sieht sich das Papstthum genöthigt, auf die selbstständige Stellung der Bischöse, des geistlichen Standes, zu verzichte», um das Fürstenthum für die Aufrechthaltuug des katholischen Dogma zu gewinnen. Hüben wie drüben wird der geistliche Stand dem Landesherrn unterworfen. Selbst in Spanien muß der Pabst die Bischöfe bestätigen, welche der König ernennt. Statt des Papstthums herrscht das Fürstenthum kraft göttlicher Autorifation über den Staat wie über die Landeskirchen. Bald nach dem Ende der religiösen Kämpfe, bald nach dem Siege des Fürstenthums über den geistlichen Stand, in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts ist auch der Sieg des Königthums über die andern Stände, über Adel, Ritter und Städte entschieden, I n Frankreich machte es die Trennung der Generalstände in Geistlichkeit, Adel und Städte, die Abstimmung nach Ständen und innerhalb der Stände nach den vormaligen Lehensherrschaften,

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den Königen leichter, die Generalstände als die Renitenz der großen Adelsfamilien zu beseitigen. Mit starker Hand faßten sie die alten Lehensherrschaften, die sie in Provinzen verwandelt hatten, zusammen, bahnten sie durch ihre Intendanten der unbeschränkten Gewalt den Weg. Bei der durchgeführten Theilung des Reiches konnte sich in Deutschland diese Entwickelung nur innerhalb der einzelneil Territorien vollziehen. Auch hier war der geistliche Stand von den Fürsten abhängig geworden oder aus den Ständeversammlungen verschwunden. Die Ritter vertraten hier weder die Bauern noch wurden sie von ihnen gewählt. Die Stellern, welche die Ritter bewilligten, legten sie nicht sich sondern ihren Gutsunterthanen auf. Ebenso wenig kainen Städte lind Ritterschaften zu einem gemeinsamen Interesse. Jeder Stand benutzte seine Rechte, uin sich von Lasten für den Staat frei zu halten, um diese Lasten von sich ab ans den andern Stand zu wälzen. Aus ihren juristisch geschulten Beamtenstand gestützt, wurde es den Fürsten nicht allzuschwer, I n stitutionen über den Hausen zu werfen, die nur zur Aufrechthaltung egoistischer Interessen dem Ganzen gegenüber dienten. I n Frankreich hat der Sieg des Königthums über die Stände, über Adel lind Städte eine große Bedeutung, die Bedeutung der Herstellung der nationalen Einheit, der Vereinigung aller nationaleil Kräfte zu einer gewaltigen Staatsmacht. Diese Bedeutung fehlt dem Siege des Fürstenthums über die Stände in Deutschland. Es ist hier nicht viel mehr als die Gründung einer klein zugeschnittenen Tyrannei, die sich nur in den bevorzugten Territorien über die Ausbeutung des Ländchens für die Genüsse des Hofes zu einer Ordnung der Steuern, des Rechtes und des Kriegswesens im Sinne des Gemeinwohls erhob. Der Sieg des Fürstenthums vollendete die Zersplitterung Deutschlands, indem er jedem, auch dein kleinsten Fürsten den Betrieb einer selbstständigen auswärtigen Politik möglich machte. Die Einheit des Staats war in England nicht erst zu gründen, sie war von Wilhelm dem Eroberer gegründet. Es galt hier nicht mehr, die Gerichtsbarkeit des Staats auszurichten, sie bestand bereits seit Jahrhunderten in der Königsbank, in den Grafschaftsgerichten.

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Es bedürfte hier keines neue» Rechts, England besaß ein gemeines Recht. Es bedürfte hier keines neuen Beamtenstandes, keiner neuen Staatsverwaltung — sie bestanden von Altersher. Es bedurste keiner Brechung des Staudesegoismus. Die englischen Staude waren weder ein Aggregat von Provinzialständen noch die Summe des Widerspruchs der Standesinteresseu. Ritterschaft, Bürger und Bauern waren durch eine gemeinsame Vertretung verbunden. Und dennoch machte auch hier das Königthum im sechszehnten, im siebzehnten Jahrhundert große Fortschritte, und dennoch schien es auch hier, als sollten die Rechte der Stände der Macht des Thrones erliegen. I n dem langen und erbitterten Kampfe der Häuser Lancaster und Aork hatten die Beschlüsse der Stände endlich der Gewalt der Massen weichen müssen. Die Dauer des Krieges hatte die Macht der Barone und Ritter gebrochen, aber der Ueberrest hielt die kriegerischen Gewohnheiten fest, die er in dem französischen Kriege, die er im Bürgerkrieg wieder angenommen hatte. Heinrich VII. stellte den Laiidfrieden mit starker Hand wieder her. Er verbot Baronen und Rittern, bewaffnete Dienerschaft zu halten. Er übertrug einer Abtheilung des Staatsraths, der Sternkammer, eine außerordentliche Strafgewalt. I m Wege des inquisitorischen Prozesses sollte diese Behörde alle Majestätsverbrechen, allen Friedensbruch, alles Mißverhalten, alle „Disaffection" gegen den König ahnden. I m Sinne der fürstlichen Opposition gegen die selbstständige Stellung der Kirche zog Köuig Heinrich die Besetzung der Hälfte aller geistlichen Stellen an die Krone. Sein Nachfolger schritt auf dieser Bahn weiter. Er riß die englische Kirche von Rom los, um sie der Herrschaft der Krone vollständig zu unterwerfen. „Er ließ die Anhänger Luthers hängen und die des Papstes verbrennen." Erst nachdem er die Kirche säcularisirt und sich zum Papste derselben gemacht, änderte er auch das Dogma. Elisabeth führte die Reform des Dogma durch, und wie die Sternkammer alle Abweichungen von der guten Gesinnung gegen die Krone mit willkürlicher Strenge straste, so ahudete forthin der Oberkirchenrath, die hohe Kommission, durch königliche Ernennung besetzt, jede Abweichung von dem durch

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die Krone patentirtei? Glauben. Die neue Kirche lag zu den Füßen des Königthums, welches 'sie allein vor der Wiederkehr des Papstthums schützen konnte, sie predigte das göttliche Recht des Thrones, die absolute Gewalt des Thrones, den unbedingten leidenden Gehorsam gegen den Willen des Königs noch viel stärker als die Juristen und Theologen Deutschlands. Elisabeths Stellung war noch gebietender als die ihrer beiden Vorgänger. S i e tastete die Formen der Verfassung nicht an, aber sie dehnte daneben die Befugnisse der Verwaltung aus. S i e übte durch die Sheriffs Einfluß auf die Wahlen wie auf die Ernennung der Geschwornen und ließ diese durch die Sternkammer büßen, wenn ihre Wahrsprüche nicht genehm waren. S i e stellte neben die ordentlichen Gerichte außerordentliche Gerichte, und zwar nicht blos die Sternkammer und den Kircheurath, sie sendete auch Kommissare mit richterlicher Gewalt in die Grafschaften. Die beständigen Conspirationen der Katholiken rechtfertigten solche Maßregeln. Um den Bewilligungen des Parlaments zu entgehen, half sie sich mit gezwungenen Anleihen bei den Reichen, sie erließ Zolltarife auf eigene Hand uud verkaufte Handelsmonopole. Das Oberhaus war ein gefügiges Werkzeug der Krone geworden. Die Bischöfe wurden von der Krone ernannt, sie waren Beamte, Delegirte der Krone auf Widerruf. Unter Eduard IV. war die Hälfte des Adels als Anhänger des Hauses Lancaster geächtet worden. Ein Fünftel des gefammten Grund und Bodens soll dadurch iu die Hände der Krone gekommen sein'). Nach der Schlacht bei Bosworth waren nur 29 Lords übrig gewesen, Heinrich der Achte hatte ihre Zahl wieder auf 51 gebracht und die neue» Pärs mit confiscirtem Gruudeigenthum der Kirche ausgestattet. Die neuen Lücken, welche die Ausschließung der katholischen Lords machte, wurden durch neue Ernennungen Seitens der Krone ergänzt. Das Unterhaus sah mit Stolz, daß sich die Macht Spaniens an den hölzerneu Wällen Englands brach und wagte nur zuweilen in materiellen Fragen eine bescheidene Opposition. Die Einziehung des !) Gneist, engl. Verfafsungsrecht S . 157.

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Kirchenguts hatte eine Masse von neuen Eigenthümern und neuen Interessen geschaffen, die Reformation entsprach dem Streben des englischen Volks, und England stand unter Elisabeth an der Spitze der protestantischen Kräfte Europa's. Das Auftreten der religiösen Bewegung hatte den bisherigen Gang der Dinge in England vollständig unterbrocheil und ganz neue Konstellationen zu Wege gebracht. Sie hatte den geistlichen Stand vollständiger als in irgend einem andern Lande zur Verfügung der Krone gestellt, sie hatte den Tndors gestattet, in Vertretung der nationalen Interessen eine Dictatur der Reform, eine fast ununlschränkte Gewalt des Thrones aufzurichten. Die Stuarts hatten die Absicht, den Sieg der Krone zu vollenden. Es war dazu nichts weiter nöthig, als noch die ständischen Formen über den Haufen zu werfen. Die Aufgabe wäre kräftigen Regenten kaum zu schwer geworden, wenn man nur die nationalen Tendenzen energisch vertrat und Englands Stellung an der Spitze der protestantischen Interessen behauptete. Die Stuarts schlugen den entgegengesetzten Weg ein. Sie gabeil die Unterstützung der Protestanten in Frankreich, in den Niederlanden, in Deutschland auf, um eine Verbindung mit den katholischen Mächten, mit Spanien und Frankreich, zu suchen. Nach dem Vorbilde dieser Staaten hielten Jakob I. und Karl I. eine katholisirende Richtung der Kirche für unerläßlich, um die absolute Gewalt des Thrones zu sichern. Karl erklärte das Parlament für eine berathende Behörde, von deren Wohlverhalten es abhänge, ob sie fortbestehen werde oder nicht. Er regierte zehn Jahre hindurch ohne Parlament, er erhob unbewilligte Steuern. Lord Strafford sagte: „Sie gewöhnen sich in einigen Jahren." Aber es war nicht blos ein Angriff auf die politische, es war ein Ailgriff auf die religiöse Freiheit des Landes, ein Angriff aus die nationale Vertretung wie ans das nationale Bekenntniß, welchen die Stuarts unternommen hatten. Um die religiöse Freiheit, das nationale Bekenntniß zu retten, erinnerte sich England seiner ständischen Rechte. Die Opposition des Unterhauses erwachte gegen J a kob I., um gegen das Bündmß Englands mit den katholischen Mächten

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zu protestiren. Lord Strafford hatte den Widerstand des Parlaments überwältigt, als die kirchlichen Reformen des Erzbischofs Land, die Herstellung der katholischen Liturgie, der Formen der katholischen Kirche, den bereits überwundenen Ständen neue Kraft gaben und die Revolution entzündeten. Nicht an dem Angriff auf die ständischen Rechte, an dem Angriff auf das nationale Bekenntniß scheiterten die Stnarts. Der Reformation von oben herab war in England eine Reformation von unten her, dein reformirenden Thron war ein reformirendes Volk entgegengetreten. Hatte die Krone im Interesse der Oberhoheit des Staats über die Kirche reformirt, die Gemüther des Volks waren von der neuen Lehre entzündet worden. Den Ueberresten des Katholicismus setzten die P u r i t a n e r die Reinheit des neuen Glaubens entgegen, der Suprematie des Königs die Selbstregierung der Kirche, den Bischöfen das allgemeine Priesterthum, der Hoftheologie die Bibel, deu neununddreißig Artikeln das gläubige Gemüth, dein Oberkirchenrath die eigene Ueberzeugung. Sie hatten die Tyrannei Elisabeths willig, ja freudigen Herzens ertragen, so lange England gegen Spanien, gegen den Katholicismus im Kampfe stand — jetzt war die Krone zum Katholicismus übergetreten, jetzt trieb sie die anglikanische Kirche selbst in das Lager des Pnritanismus hinüber. Die ständischen Rechte wurden hervorgesucht und benutzt, um die Synodalverfassung der englischen Kirche durchzusetzen. Es war nicht das Parlament, nicht die presbyterianische Partei, welche den Sieg davontrug. Die Radikalen, die Erleuchteten des Herrn hatten im Laufe dieses Kampfes ihren Fanatismus disciplinirt. Das Schwert in der einen, die Bibel in der andern Hand warfen sie zuerst den König, dann das Parlament nieder, und richteten eine pietistische Militärdiktatur, die Dictatur der Conventiket in England aus. Die schwere Wucht ihrer Waffen und ihre finstere Strenge bahnten einer Reaction den Weg, welche das Königthum und den Anglikanismus stärker als znvor wieder herstellte, welche Karl II.

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in den Stand zu setzen schien, das Mißlingen seines Vaters aus zugleichen und den Absolutismus in Englaud zu derselben Zeit aufzurichten, als Ludwig XIV. iu Frankreich den letzten Widerstand des Adels und des Parlaments, die deutscheu Fürsten das letzte Widerstreben der deutscheu Stände brachen. D a s religiöse Feuer war ausgebrannt, die anglikanische Kirche sürchtete den Presbyte rianismus, den Judependentisinns mehr als den Katholicismus. E s gelang Karl II. in der That, die richterliche Gewalt uiiter die Krone zu beugen, die städtischen Korporationen zu brechen, alle widerstrebende!? Elemente aus den Beamtuugeu der Krone, der Grafschaften und der Kirche auszuscheiden, ohne die Formen der Versassung zu verletzen. Aber schon hatte der Rücksall in die Politik Karls I., die geheime und die offene Allianz mit Ludwig XIV. die reactionäre Stiinmung des Landes erschüttert, als. der Uebertritt Jakobs II. zum Katholicismus die schlafende Opposition der Stände wieder erweckte. Der unoerholene Angriff auf das nationale Bekenntniß nöthigte endlich zu offenem Widerstande. Es war die religiöse Frage, welche das Köuigthum unter den Tudors erhoben, unter den Stuarts gestürzt hatte. Nicht die absolute Gewalt des Thrones, wie auf dem Festlande, die Rechte der Stände gingen in England siegreich aus den religiösen Kämpfen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts hervor. Der Vertrag, welchen die Stände mit Wilhelm von Oranien schlössen, stellte nicht blos den Protestantismus souderu auch die Rechte der Staude unwiderruflich fest (1688). Sorgsältiger als diese sicherte er die Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, die Rechte der Korporationen, der Grafschaften und der Städte, die Rechte ver Person und des Eigeuthums vor willkürlichen Eingriffen. Die Verwaltung des Landes durch die Grafschaften ersparte England einen gelehrten Beamtenstand, welcher auf dem Festlande in der Gewalt der Kroue seine eigene Gewalt gründete. Die einzige stehende Armee, welche England gekannt hatte, war die revolutionäre Armee Eromwells. D a s Andenken an diese war den Anhängern des gestürzten Königshanses, den Torys, noch verhaßter als den D u n c k e r , A b h a n d l . a. d. n. Gesch.

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Anhänger» der neuen Dynastie, den Whigs. Trotz der Kriege, welche das achtzehnte Jahrhundert erfüllten, machte die insulare Lage eine starke Armee für England minder nothwendig als für die Staateu des Continents. Unbekannt mit den eigenthümlichen Verhältnissen des Landes waren die Kurfürsten von Hannover genöthigt, die Regierung den einheimischen Ministern in weitein Umfange zu überlassen. Die eigentlich royalistische Partei des Landes, die Männer der anglikanischen Kirche, die Mehrheit der Ritterschaft, welche einst für Karl I. zu Pferde gestiegen war, leugnete das Recht Wilhelms, das Recht des Hauses Hannover auf den Thron ; sie hielt an der Legitimität, an dem Hause Stuart fest, sie war jakobitisch. S o war die neue Dynastie genöthigt, sich auf die liberale Partei, die Whigs, zu stützen. Aber diese Partei hatte bereits unter Karl II., unter Jakob II. die Rechte der Stände vertheidigt. Wie ans den Rechtstitel des Hauses Hannover, hielt sie auf die Rechte des Parlaments. Wenn die neue Dynastie den Thron behauptet« wollte, war sie genöthigt, die Rechte der Stände in vollem Umfange anzuerkennen. Fast sechszig Jahre hindurch ununterbrochen an der Spitze der Verwaltung, befestigten die Ministerien der Whigpartei die Rechte des Parlaments. Sie legten das entscheidende Gewicht in das Unterhaus. Nachdem Walpole im Jahre 1716 durch die Einführung der siebenjährigen Dauer des Parlaments diesem eine stärkere Stellung sowol gegen die wählenden Klassen als gegen das Oberhaus und die Krone gegeben, war es möglich, die ständische Verfassung zur parlamentarischen Regierung hinüberzuführen. Von der Regierung ausgeschlossen, im beständigen Verdacht der Confpiration gegen die neue Dynastie, mußten die Torys auf die Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, auf den Rechtsschutz der Personen und des Eigenthums den Whigministern gegenüber halten. Sie vertheidigten damit ihre persönliche Sicherheit. Sie durften die Bedeutung und den Einfluß des Parlaments nicht schmälern lassen; ihre eigene Bedeutung, ihre Hoffnungen, ihr Sieg beruhte auf ihrer Stellung im Parlament. Die Lage der Dinge zwang die Torys, die Principien der Whigs als Wehr und

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Waffen anzunehmen, zwang sie, sich selbst zu einer parlamentarischen Partei umzubilden. Als dann die Schlacht bei Knlloden (1745) die letzten Hoffnungen der Jakobiten vernichtet hatte, als die gesammte Masse der Torys aus jakobitischen in hannoversche Torys verwandelt war, als die bisherige Opposition damit regierungsfähig geworden war und regierte, da begingen die Torys wohl starke Fehler in der auswärtigen Politik, da zwangen sie thöricht genug die Nachkommen der alten Puritaner jenseit des Oceans zum Abfall von England, aber sie hüteten sich wohl, bei aller Ehrfurcht, mit welcher sie die Rechte der Krone betonten, die Macht derselben auf Kosten der Rechte der Stände, der parlamentarischen Regierung auszudehnen. Sie hätten dadurch ihre eigene Stellung geschwächt, sie hätten sich selbst als politische und parlamentarische Partei vernichtet. Es handelte sich aber auch nicht mehr um Ausdehnung der ständischen Rechte, welche die Krone nicht in Frage stellte. I n den Fragen der practischen Politik, in der Förderung der Interessen des Landes hatten die Parteien fortan zu wetteifern, sie hatten darum zu ringen, wer dem Lande die besten Dienste leistete, wer von ihnen dadurch bei den Wahlen den Sieg davontragen würde. Die Torys wurden aus der royalistisch-absolutistischen eine conservative Partei, welche für die bestehende Verfassung, die bestehenden Zustände eintrat, welche Gewicht legte auf die Rechte der anglikanischen Kirche, gegenüber den Katholiken nnd den Dissenters, welche ihrer Znsammensetzung aus der Mehrzahl der Landgentry gemäß die Interessen des Grundeigenthums vertrat, während die Whigs — sie bestanden aus den Familien des großen Adels, der städtischen Gentry und der Minderzahl der Landgentry — die Interessen der städtischen Bevölkerung, des Handels und der Gewerbe, den Fortschritt und die Reform im Interesse der unteren Klassen zu vertreten begannen. Kein Staat Europa's hat in den letzten dreißig Jahren so tiefgreifende Reformen seines inneren Lebens vollzogen als England, nnd heute wollen beide Parteien Parteien der Reform sein. Es war der Adel, welcher regierte, welcher das Oberhaus bil-

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dete, welcher die meisten Sitze des Unterhauses einnahm, welcher durch seine Abstimmungen Ministerien stürzte und erhob, welcher durch diese Stellung im Unterhause über eiue Menge von Stellen dcr Kirche, über eine große Anzahl subalterner Plätze in der Verwaltung verfügte. Aber dieser Adel uahiu eine eigenthümliche Stellung ein. Gesetzliche Vorzüge besaßen nur die Mitglieder des Oberhauses; wenn nicht die Nachkommen, so doch die Stellvertreter der Barone Wilhelm's des Eroberers. Es giebt im Oberhause von England heute nur noch vierzehn Pärssamilien, deren Ahnen als P ä r s von England bereits das zwölfte, dreizehnte, vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert gesehen haben; die Pärie von ebenso vielen anderen Familien stammt aus dem sechszehnten Jahrhundert. Vierundfünfzig P ä r s datiren ihre Würde aus den Zeiten der S t u a r t s ; die Mehrzahl der Mitglieder des Oberhauses hat ihre Würde erst im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert empfangen. Von den alten Grundherrfchaften der Barone sind nur noch zwei übrig; alle andern sind durch Confiscationen, Veräußerungen, Theilungen, Vererbungen aus weibliche Nachkommen zu Grunde gegangen i). Es war die Berufung der Krone, welche das Recht zum erblichen Sitze iin Oberhause verlieh, es war die Ernennung der Krone, welche bereits seit dem Ende des vierzehnte» Jahrhunderts, vor allem seit den Zeiten der Tndors und seit dem Ausang des achtzehnten Jahrhunderts das Oberhaus constituirte. Auch die Titel der alten Baronien sind großen Theils untergegangen, nur ist das Herkommen geblieben, dem Titel des Barons einen Ortsnamen hinzuzufügen. Die Krone war dadurch in der Lage, jedes alisgezeichnete Verdienst um das Land durch einen Sitz im Oberhause zu belohnen uud das Alter der Institution durch das Blut der Gegenwart neu zn beleben. Auf der Erblichkeit, dem sichern Besitz von großem Vermögen und socialem Ansehen, auf der Tradition politischer Beschäftigung und Erfahrung, auf der Erinnerung wichtiger Dienste beruht die Bedeutung des Oberhauses. E s vertritt neben der Krone die dauern')

öurke, pseiÄZs II 694. Gneist, Adel und Ritterschaft S. 75.

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den Interessen, die ständige Politik des Landes, es stellt den aus der Majorität des Unterhauses hervorgegangenen Verwaltungen eine andere Mehrheit entgegen, welche nicht aus der Wahl des Volks, aus der Meinung und Stimmung des Tages hervorgegangen ist. Es ist der oberste Wächter des Rechts, die letzte richterliche Instanz. Selbst im Besitz von bedeutendem Vermögen, giebt es den besitzenden Klassen die Gewähr, daß die aus den Wahlen des Volks hervorgegangene Macht des Unterhauses weder zu vorübergehenden Parteizwecken noch zur Ausbeutung der besitzenden Klasse» selbst gebraucht werden könne. Seine vollkomme» nnabhäugige Stellung macht das Oberhaus geeignet, bei etwaigen Conflicten zwischen der Krone und dem Unterhause eine moralisch mächtige und unparteiische Entscheidung zu geben und auf diese Weise den Gang des Staatslebcns zu reguliren. Die Vorrechte der Lords sind mit dem Sitze im Oberhanse, dem peinlichen Gerichtsstande vor demselben, dem Schutz vor Ver Haftung erschöpft. Die Ausschließlichkeit der Standesheirath, welche deu Adel des Festlandes seit dein vierzehnten Jahrhundert zu einer Kaste gemacht hat, ist niemals in England Sitte geworden. Die Söhne des P ä r s sind Gemeine bis der älteste in die Würde des Vaters eintritt. Die Güter der Nobility haben keine Vorrechte vor dem Bauergut. Sie besitzen weder Patrimonialgerichte noch gutsherrliche Polizei. Sie tragen dieselbe Steuerlast wie jedes andere Gut, sie werden vererbt wie jedes andere Gut. Nach gemeiner Sitte und Herkommen in England hat der Erstgeborene ein Vorrecht auf den Grund und Boden, wenn nicht anders im Testamente verfügt ist. Jeder Bauer hat dasselbe Recht durch Substitution über sein Erbe zu verfügen wie der P ä r von England. Mit den Pärs, mit der Nobility schließt der Adel von Eng land; das Gesetz kennt mir die P ä r s als einen bevorrechteten Stand. Die Ritterschaft hat einen gewissen gesellschaftlichen Rang, das Recht des Vortritts, aber keinerlei Vorrechte anderer Art. Wie die Grundherrschaften der Barone sind die Rittergüter zu Grunde ge gangen. Die Schildgelder der Rittergüter waren im fünfzehnten

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und sechszehnten Jahrhundert mit den allgemeinen Steuern der (Grafschaft verschmolzen worden. Danach waren es gerade die reactionären Fürsten Karl I. und Karl II., welche die letzten Reste des Lehensverbandes sprengten. Karl I. entband die Besitzer der Landgüter voil zwanzig Pfund Einkommen von der Einholung des Ritterschlages und Karl II. belohnte die Kavaliere, welche bei Marstoninoor und Worcester gefochten hatten dadurch, daß er die Besitzveränderungsabgaben, das Heimfallrecht aufgab und damit die Ritterlehen jedein anderen Grundbesitz vollkommen gleich und dem Inhaber zu sreier Verfügung im Leben und für den Todesfall stellte. Der Name der Ritterschaft, der Gentry, bedeutet nichts als den Stand der größeren Grundbesitzer. Aber Name, Ansehen und Rang der Gentry sind nicht auf diese Klasse beschränkt. Wir sahen, wie im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert der Titel Esqnire auch auf das städtische Patriciat überging; er ist seitdem auf allen solid gestellteil städtischen Besitz allsgedehnt worden. Die Doctoren des Rechts führten bereits im Mittelalter den Rittertitel nicht minder als die der Theologie. Weder den großen Betrieb von Handel uud Gewerbe noch die Intelligenz schließt die englische Gentry ans. Die Grenzen der Gentry verlieren sich nach unten hin; jeder selbstständig sitnirte Mann von anständiger Beschäftigung gehört ihr an, jeder hat die Möglichkeit vor sich, bis zur Spitze der Gentry, znr wirklich bevorrechteten Nobility emporzukommen. Der englische Adel bestand dem,lach und besteht aus den natürlichen Elementen, welche überall einen Adel constitnirt haben und constitniren werden: aus dein hervorragendeil Besitz, aus hervorragender Intelligenz, aus hervorragendem Verdienst. Das Aufsteigen in denselben von unten her, das Zurückkehren der jüngeren Söhne der Nobility in die Stellung der Gentry erhielt den natürlichen Kreislauf des Blutes in der Nation, und bewahrte den Adel Englands vor dem kastenartigen Erstarreil, dem jede geschlossene, jede bevorrechtete Korporation früher oder später verfällt und verfallen muß. S o die sociale Stellung des englischen Adels. Seine politische

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Stellung, seine politische Macht erwarb und behauptete er, weil er nicht Sonderrechte, Vortheile suchte auf Kosten der übrigen Stände, sondern Lasten und Pflichten übernahm zu Gunsten der übrigen Stände, weil er die Gesellschaft nicht ausbeuten, sondern vertreten und führen wollte, weil er in den Dienst des Landes, in den Dienst des Volkes trat und diesen Dienst ohne anderen Entgelt leistete, als den des dadurch erworbenen Ansehens, des dadurch gewonnenen politischen Einflusses. Es waren die größeren Grundbesitzer es war die Landgentry, welche sich vorzugsweise mit den öffentlichen Interessen beschäftigte. Der Umfang und die Art ihres Vermögens setzte sie dazu am besten in den Stand. Wie sie es verschmähte, sich durch Exemtionen und Vorrechte in der Besteuerung vor den anderen Klassen zu bereichern — sie trug die größere Hälfte der gemeinen Lasten, der Stenern der Grafschaften; ihr Antheil an den Kreislasten beträgt heute gegeu 30 Millionen Thaler') — so verzichtete sie, sich mit der Wirthschaft ihrer Güter, mit der Vermehrung ihrer Habe zu beschäftigen. Indem sie ihre Ländereien verpachtete nnd von der Rente lebte, hatte sie Muße dein Staate zu dienen. Sie verlangte nicht aus Geburtsrecht oder aus dem Rechte ihres Grundeigenthums zu regieren. Zu dem Amte der Lordlieutenants (seit Eduard VI. und Elisabeth die Vorsteher der Grafschaften), der Sheriffs, der Friedensrichter, der Milizofficiere der Grafschaften d. h. zur Verwaltung und zu Gericht der Grafschaften konnte man nur durch die Ernennung der Krone, zu den Sitzen im Parlament nur durch die Wahl des Volkes gelangen. Das Vertrauen der Wähler mußte verdient sein und verdient werdeil. Es galt hier wie dort einen sehr mühevollen Dienst. Das Amt der Friedensrichter, in welchem Polizeiverwaltung und Gericht der Grasschaften zusammenlaufen, erfordert die Kenntniß des Rechts, und wie jeder Beamte in England für seine Amtshandlungen dem Richter unterworfen ist, ist auch der untere Richter dem oberen für seine Urtheile verantwortlich lind mit seinem Vermögen regreß') Gneist, enql. Verfassungsrecht S . 631.

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pflichtig. Aber die Landgentni war durch das Friedensrichteramt in beständiger Berührung mit den untern Volksklassen, durch ihren ererbten Besitz war sie den Wählern der Grafschaften uud Flecken viel besser bekannt als die städtische Geiitry der beweglicheren Bevölkerung der Städte, und es gab keinen Zwiespalt zwischen Bauergut und Rittergut. Der englische Adel regierte, weil er sich dem Dienste des Landes widmete, weil er seine bessere Vermögenslage benutzte, diesen Dienst zu leisten, weil er nichts voraus hatte nnd voraushaben wollte als diesen Dienst. Man sah ihn neidlos an der Spitze, weil man ihn selbst dahingestellt hatte, weil er ans gleichem Rechtsboden mit den übrigen Ständen stand. Er ersetzte dem Lande zum großen Theil einen bezahlten Beamtenstand. Diese Summe von freiwilligen Diensten, welche vermögende nnd unabhängige Männer statt bezahlter Beamten dein Gemeinwesen leisteten, war nicht blos der Stolz des Adels, sondern auch der des Volks. Auch auf de>u Festlande war der Adel der erste Stand, aber er war es nicht im Dienste, sonder» aus Kosten der übrigen Stände. I n der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts hatten die Kronen des Festlandes die ständischen Rechte beseitigt. Aber sie hatten den Adel für den Verlust dieser Rechte sehr reichlich entschädigt. Die Leitung der neuen Staatsverwaltung, der neuen Armeeil, alle einträglichen Stellen des neuen Staats, die Pfründen der Kirche sind dem Adel vorbehalten; nur daß es der König ist, dem die Vertheiluug derselben zusteht, durch dessen Gunst sie gewonnen werden. Aber es ist nicht blos dies. Die Vorrechte des Adels gegen das Bürgerthnm, seine feudalen Rechte gegen das Bauernthnm sind ihm nicht mir erhalten; es wird ihm gestattet, dieselben noch weiter nnd noch lncrativer auszudehnen. Bereits durch die Einführung des römischen Rechts in die Stellung des Colonats herabgedrückt, wird die Lage der Bauern dadurch immer trauriger lind rechtloser. Der neue absolute Staat bedürfte großer Mittel für das Heer nnd die Verwaltung, für den Hof und die Gnadengelder des Adels. Alle diese neuen Lasten wurden auf die

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Schultern der Bürger und Bauern gewälzt. Der Adel und dessen Güter blieben steuerfrei, obwohl die Gegenleistung des Adels sür dieses Privilegium, die Uebernahme des Kriegsdienstes an Stelle der übrigen Stände, nicht mehr bestand. Die Bauer» hatten sür die Abhängigkeit, in welcher sie sich befanden, für die Lasten, welche sie trugen, ehedem den Schlitz der Herren und Freiheit vom Kriegs dienst genösse». Sie blieben den feudale» Lasten unterworfen, obwohl sie selbst jetzt das Heer bilden mußten. Neben den verstärkten f e u d a l e n Lasten f ü r die H e r r e n hatten sie die Steuern des neue» Staats, hatten sie dessen Wegefrohnden, Militärfrohnden und Jagdfrohnden zu tragen. Das Königthum theilte mit dem Adel die Früchte der neuen Vollgewalt. Mit dem Adel und der hohen Geistlichkeit eng verbunden, steht das Fürstenthum über den Bürgern und Banern, welchen jede Betheiligung am Staat, am Gericht und an der Gemeinde entzogen ist, welche ausschließlich zum Tragen der Laste» des Staats bestimmt sind. Der Adel leitete nicht blos durch die Gunst des Königthums das neue Staatswesen; er beutete es auch zu seinem Vortheil aus. Diese Lage zu ertragen war unmöglich. Nachdem das Fürstenthum sich von den Banden des feudale» Staats, von der Vormacht des Adels und des geistlichen Standes befreit hatte, soweit dieselben seiner Hoheit im Wege standen, mußte» auch die Bürger und Bauern versuchen, sich von der Vormacht des Adels, von den feudale» Lasten, welche die Krone für sie hatte bestehen lassen, zu emancipiren. Sobald das seiner localen Regierung und Bedeutung beraubte, bei Seite geschobene und mißachtete Bürgerthum so weit in intellektueller Bildung vorgeschritten war, daß es die Führung der Bauern übernehmen konnte, mußte der Krieg der Stände auf dem Festlande zum Nusbruch kommen, wenn nicht umsichtige und thatkräftige Fürsten die Lage der Bürger nnd Bauern verbesserten. Es ist der Krieg der Stände, der Bürger und Bauern gegen den Adel, welcher den Anstoß nicht blos, sondern den gesammten Kern der politischen Kämpfe ausmacht, welche die Staaten des Festlandes seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts bewege». Es handelte

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sich nicht und handelt sich heute nicht um Angriffe auf die Throne, um den Sturz der Throne, es handelte sich um Aufhebung der Lehenslasten, um gleiche Vertheilung der Staatslasten, um den gleichen Anspruch Aller auf die Aemter des Staats, um das gemeine Recht aller Stände gegenüber den Sonderrechte» des Adels. England konnte von diesen Kämpfen nicht ergriffe», es kouute kaum von ihnen berührt werden, weil ihm der Stoff derselbe» fehlte, weil die gefammte Entwickelung seiner Verfassung nicht auf dein Privilegium und deu Sonderrechten des Adels, „sondern auf den? gleichen Recht, auf der Harmonie der Stände begründet war')." Seine Revolution war kein Kampf der Stände gegen einander gewesen, souderu der Kamps einer religiös-politischen Doctriu gegen die andere. I m laugeu Parlamente hatten Lords gesessen wie im Parlamente zu Oxford. Der Kampf der Stände mußte auf dem Festlande in dem Staate zum Ausbruch kommen, er mußte da am erbittertsten geführt werde», wo die feudalen Lasten am schwersten, die Staatslasten am uugemessensten den Bürgern und Bauern aufgelegt waren, wo statt der Leistungen des Adels für den Staat die Ausbeutung der unteren Stände zu Gunsten des Adels am weitesten getrieben war, in Frank reich. Nahm die Krone von Frankreich beim Ausbruch des Kampfes, wie sie mußte, ihre Stellung an der Spitze der Bürger und Bauer», des dritten Standes, so konnte sie, nach den Worten Mirabeau's, im Mai 1789 den zweiten Act der dänischen Revolution von 1660 ausführen, d. h. sie war in der Lage, sich von den Bürgern und Baliern eine vollkommen absolute Gewalt übertragen zu lassen, sobald sie die Grundherrlichkeit aufhob und das gleiche Recht aller Stäilde dem Staate gegenüber proclamirte; Ludwig XVI. hatte vollkommen in der Hand, zu erreichen, was der erste lind der dritte Napoleon erreicht haben, die absolute Gewalt der Krone über die gleichgestellten Stände Frankreichs. Er zog es vor, für den Adel und den Klerus g e g e n die Bürger und Bauern einzutreten. S o ') Gneist, Adel und Ritterschaft S . 36.

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wurde diesen eine Richtung aufgezwungen, welche ihnen bis dahin fremd war. S i e waren genöthigt, politische Rechte, Antheil an der Regierung zu verlangen, um die Gleichstellung der Stände mich ohne und gegen das Königthum durchführen zu können. Mitten in diesen Bemühungen gelang es einem Haufen Idealisten und einer Bande von Verbrechern, den Streit künstlich zu erhitzen und den Thron als den Verbündeten des Adels zu stürzen. Dieser falsche Weg, in welchen die Emancipation der Bürger und Bauern durch die Fehler der Krone wie durch deu Ehrgeiz der Demagogeil in Frankreich gedrängt wurde, ist für den Kontinent von der traurigsten Bedeutung geworden. Die berechtigten Forderungen der Bürger und Bauern waren durch die Excesse, durch die Gräuel und die Verbrechen der Revolution auf lange hinaus comvromittirt. Es gelang dem Adel des Festlandes, die Throne zu überreden, daß das Streben des Bürger- und Bauernthums nicht gegen das Privilegium, sondern gegen die Kronen selbst gerichtet sei, es gelang ihnen, alle Versuche dieser Emancipation als Attentate gegen den Thron zu brandmarken, es gelang ihnen, die Erhaltung ihrer Feudalrechte mit der Erhaltung der Throne zu identincireu. Es gelang ihnen, durch die Fiction, daß der Adel die einzige Stütze der Throne sei, jene Coalition zwischen Adel und Königthum wiederherzustellen, welche in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts bestand. Ueber diesen Vorspiegelungen eines Adels, welcher den Berns der Krone ausschließlich dariu erblickte, ihm die Bauern unterthänig und in Ordnung zu halte», der nur unter dieser Bedingung royalistisch war — wenn aber nicht, nicht — vergaßen die Fürsten Europa's, daß ihnen einst das Bürgerthum zum Siege über den Adel verholsen, vergaßen sie, daß ihre erste nnd stolzeste Aufgabe und die bewährte Bedingung ihrer Macht die ist, die unteren Stände gegeil die oberen, die Schwachen gegen die Mächtigen zu schützen; sie vergaßen, die Pflichten für die große Gemeinschaft, welche sie vertrete» und regieren, für Alle nach gleichein Verhältniß zu bemessen. Sie haben dadurch die unteren Stände gezwungen, immer wieder nach Antheil an der Regierung zu streben.

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um mit den Sonderrechten des Adels fertig werden zu können. Nicht blos Karl X. von Frankreich hat in der Stunde der Gefahr empfunden, welche Stütze die Bevorzugung des Adels zu gewähren vermag. Es ist nicht wünschenswert!), daß der Kampf der Stände in Deutschland ende, wie er in Frankreich geendet hat, mit der Gleichheit und mit der Unfreiheit, mit der Vernichtung des Adels, mit der büreaukratisch erzwungenen Einheit und Gleichheit der Stände, d. h. mit der gleichen Bevormundung Aller durch den omnipotenten Polizeistaat. Dieses Ende ist der Anfang neuer Kämpfe. Der Polizeistaat ist den Kronen wie den Völkern gleich unheilvoll und gefährlich. Die ceutralisirte Verwaltung ist eine ohne Zweifel sehr bequeme Maschine, aber sie ist eine Maschine. Sie ist außer Stande, den Kronen im Moment der Gefahr einen irgend haltbaren Stützpnnkt zu gewähren. J e mehr der Beamte nichts ist als ei» Theil der Maschine, um so gleichgültiger ist es ihm, wer das Räderwerk dirigirt; er fuuctiouirt unter dem einen Maschinenmeister so gut wie unter dem andern. Die Beamten Frankreichs sind ohne den Versuch eines Widerstandes von der Direction Karls X. unter die Ludwig Philipps, von der Ludwig Philipps unter die der Republik, von der der Republik unter die Leitung Ludwig Napoleons übergegangen. Was nicht selbst steht, ist keine Stütze. Der Polizeistaat Frankreichs ist heute bereits in die Militairdictatur zurück gegangen, aus welcher er hervorgegangen ist. Andererseits gewöhnt der Polizeistaat die Unterthanen, nichts von sich, sondern alles vom Staate zu verlangen. J e nach der Lage der Zeiten erdrückt er alles öffentliche Interesse, allen Gemeinsinn in den Bürgern, statt ihn zu beleben, oder er treibt das öffentliche Interesse in die gefährlichsten Bahnen. Der Druck, der im Polizeistaate auf allen Stünden lastet, führt mit Nothwendigkeit dazu, für diesen Druck durch Autheil an der Regierung, durch Geueralstände, durch eine Ceutralvertretuug Entschädigung zu suchen. Der Polizeistaat drängt unabweislich zur Repräsentativverfassung, aber er macht sie zugleich unmöglich. Einer Executivgewalt gegenüber, deren Verwaltnngsbesngnisse unbeschränkt

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sind, welche sich auf eine starke Armee stützt, welche über ein Heer absolut abhängiger Beamten gebietet, welche den Bürger in seinein Broderwerb von ihren Concessionen abhängig macht, kann eine Centralvertretung nicht anders als entweder ohnmächtig oder agressiv sein. Die Verfafsungsversuche, welche Frankreich auf diesem Boden geinacht hat, sind gescheitert nnd inußten scheitern, weil jede Bedingung des Gelingens sehlte. I n England sind die Schranken, welche die Stände einst der Machtsülle der königlichen Beamten gezogen haben, anch Schranken geblieben gegen die ans dem Unterhanse hervorgehenden Minister. Wie nach oben an der Krone und am Oberhanse, findet die Centralverwaltung nach unten hin feste Kreise, in welche sie nicht einzugreisen vermag. Die Kreise des Landes nnd die Städte verwalten sich selbst. Nicht einmal die Bestätigung der von den Städten gewählten Bürgermeister nnd Altermänner steht der Regierung zu. Das Recht jeder Corporation wie das jedes einzelneu Bürgers steht unter dem Schutze der richterlichen Gewalt, welche auf die selbstständigen Corporationen der Advocaten gestützt und aus diesen hervorgehend, völlig unabhängig gestellt ist. Jedem Einzelnen, wie jeder Corporation steht das Recht zu, gegen Anordnungen der Polizei und Verwaltung Klage bei der Königsbank zu erheben, welche die Verwaltuug durch Strasmandate gegen die ausführenden Beamten in dem Kreise ihrer Competenz hält. Versagen die Corporationen der Städte, der Grasschaften, der Kirche der Centralgewalt den Gehorsam, so besitzt auch diese kein anderes Zwangsrecht gegen die Corporationen, als die Klage bei der Königsbank. Ans die Armee, die Kirche und die Schule vermag die Centralregierung nur einen geringen Einfluß zu üben. Die Oificierstelleu werden von den besitzenden Klassen, für Mitglieder ihrer Familien durch Kauf erworben, das Avancement hängt von dem selbstständigen Generalkommando ab. Wohl steht der Centralverwaltung die Ernennung der Bischöfe, die Vergebung vou einer Anzahl geistlicher Stellen und Pfarrämter zu. Aber die Besetzung der Pfarrstellen liegt zur Hälfte in den Händen der Bischöfe und Capitel, zur auderu Hälfte in den Händen der

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.größeren Grundbesitzer, und die Dissenters bilden etwa ein Dritttheil der gesammten kirchlichen Gemeinden. Die Universitäten sind selbstständige Corporationen, in welche die Regierung nicht einzugreifen vermag. Zwei Dritttheile der Schulen bestehen auch heute noch durch Privatmittel. Die Regierung übt wohl eine gewisse Aufsicht, aber keine Leitung des Schulwesens'). Endlich verfügt die Centralregierung auch nicht einmal unbedingt über die Verwaltungsbeamte». Es sind nur etwa sechszig Aemter, welche mit dein Ministerium wechseln, lind auch von diesen sind noch einige Sinekuren, andere Hofämter. Es wäre ebenso unverständig wie unmöglich, alle Institutionen uud mit ihnen alle Mißbräuche Englands nachzuahmen, um eine heilsame Vertretung zu erreichen; aber es ist nothwendig, eine andere Grundlage für dieselbe zu besitzen als den Polizeistaat. Was die Gnnst der Geschichte England gewährt hat, die glückliche Coincidenz der nationalen, religiösen und politischen Entwicklungskrisen, diese Gnnst ist Deutschland versagt worden. Was die Geschichte versagt hat, durch einen Act des freien Entschlusses zu ersetze», den Kampf der Stände anders und besser zu enden als in Frankreich, liegt in erster Linie in der Hand des deutschen Adels. Kein Einsichtiger bezweifelt, wie große und heilsame Dienste der unabhängige Grundbesitz — besitzlose Titel sind ohne politischen Werth — dem Gemeinwesen zu leisten im Stande ist, wie fest die Stütze ist, welche er den Verfassungen zu geben vermag. Der große Grundbesitz ist in Deutschland im Verlaufe eines mehr als fünfzigjährigen Kampfes mit vieler Schonung behandelt worden, und das deutsche Volk ist frei von dem Neide der Franzosen gegen hervorragende Stellungen. Aber der große Grundbesitz muß darauf verzichte», durch die Gunst der Kronen Vortheile auf Kosten der andern Stände behaupten zu wollen. Er muß aufhören, die Kronen zu compromittiren, wenn er ihnen eine wirkliche Stütze sein will. Er muß mehr thun als destillireu und sabriciren, wenn er mehr sein will als ein privilegirter !) Gneist, engl. Verfassungsrecht S . 565.

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Bürgerstand. Er muß es verstehen, armselige Privatrechte aufzu geben, wenn er eine angesehene öffentliche Stellung gewinnen will. Es handelt sich für ihn darum, eine gehässige Situation zu verlassen, um eine geachtete und wohlthätige dafür einzunehmen, schwächliche Stützpunkte aufzugeben, um starke dafür zu erlangen. Man muß auf Sonderrechte verzichten, um das Recht Aller vertreten zu können. Man muß verzichten, Konstabler einer Bauerngemeinde zu sein und einen Knecht zu prügeln, wenn man die Gemeinen des Reichs führen will. Unser Adel muß endlich begreifen, daß das natürliche Uebergewicht des großen Grundbesitzers über den kleine», des Gebildeten über den minder Gebildeten, des weiteren Horizonts über den engeren erst dann beginnt, wenn es keinen Streit über Rechte und Pflichten zwischen dem großen und kleinen Grundbesitz mehr giebt. Mau muß darauf verzichten, ein kleiner Herr zu sein, man muß verzichten privatim zu regieren, um das sociale Ueber gewicht, welches der größere Besitz giebt, auf das öffentliche Leben übertragen zu können. Den alten Satz alles Rechts: ohne Pflichten keine Rechte, kann Niemand umstoßen. Der große Grundbesitz muß bereit sein, die größten Lasten für den S t a a t zu übernehmen, wenn er die geachtetste Stelle in demselben einnehmen will. Wir haben keinen Grund, Frankreich um seine politische Lage zu beneide», wir haben keinen Grund, alle Institutionen Englands vortrefflich zu finden. Es sind gute Grundlagen gesunder politischer Organisation in Deutschland erhalten oder wiederbelebt worden. Unsere Verwaltung besteht aus Elementen, mit welchen weder die englische noch die französische an sittlicher Tüchtigkeit einen Vergleich aushält. Die Wirksamkeit unserer Beamten wird um so wohlthätiger sei», je weiter ihre Organisation sich von der der französischen P r ä fectur entfernt, je größerer Spielraum der richterlichen Gewalt gestattet wird, die Verwaltung innerhalb der Schranken ihres Rechts zu halten. Unser Bauernstand ist glücklicher Weise nicht wie der Englands durch das Uebergewicht des großen Grundbesitzes in seiner Mehrzahl in Pächter verwandelt worden, unser Bürgerstand ist im Besitz größerer Bildung und größerer politischer Befähigung als der

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englische Bürgerstand. Unsere Bürger und Bauer» besitzen größere Neigung, größere Tüchtigkeit und eine größere Hingebung für die Verwaltung ihrer Gemeinden als die Bürger und Bauern Englands. Der große Grundbesitz hat diejenige sociale Stellung, er kann die Muße und Unabhängigkeit haben, welche die dauernde Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten fordert. Der Versuch, die deutschen Verfassungen im neunzehnten Jahrhundert zu seudalisiren, den Büralismus zum Werkzeuge des Feudalismus zu inachen, würde, wenn er gelingen könnte, die Lage Frankreichs vor der Revolution, die Lage des Jahres 1789 wiederholen. Vertauscht der große Grundbesitz nicht ernsthaft die feudale Stellung mit der kommunalen, so wird ihm kein vorübergehender Erfolg das Schicksal ersparen, bei Seite geschoben zu werden.

II.

Du Mdung der Coalitmn des Jahres 1756 gegen Preußens

Es sind heute sünfundneunzig Jahre, daß der Minister Graf H e r t z b e r g , Curator und Mitglied unserer Akademie, hier an dieser Stelle, am ersten Friedrichstage nach dem Tode des großen Königs, die Thaten dieser ruhmreichen Regierung in gedrängtem Ueberblick ins Gedächtniß rief. Zu den schwersten Tagen F r i e d richs, zur Entschlußfassung des Jahres 1756 gelangt, sagte der Minister: „Auf g e h e i m e und w a h r s c h e i n l i c h e Nachrichten gestützt, glaubte der König im Juni dieses Jahres, daß der Moment gekommen sei, in dem die Höfe von Wien, Petersburg und Dresden den Plan, welchen sie vereinbart, auszuführen und ihn zu Anfang des Jahres 1757 anzugreifen gedächten. Es steht fest, daß diese Pläne bestanden; aber da sie nur e v e n t u e l l e waren und der B e d i n g u n g unterlagen, daß der K ö n i g V e r a n l a s s u n g zu einein Kriege gäbe, wird es stets problematisch bleiben, ob diese i) A u s den Sitzungsberichten der konigl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin. (Gelesen am 26. J a n u a r 1882.) T u n c k e r . A b h a n d l . a. d. n. Gesch.

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Pläne jemals ausgeführt worden sein würden, und ob die größere Gefahr d i e gewesen ist, ihre Verwirklichung zu e r w a r t e n , oder derselben z u v o r z u k o m m e n . " Das Urtheil des Mannes, der den Dingen so nahe gestanden hat, aus dessen Feder die Staatsschrift hervorgegangen ist, die die Waffenerhebung des Königs rechtfertigte, der seit dem Jahre 1763 neben dem Grafen F i n k e n s t e i n Leiter des auswärtigeu Departe inents war, fällt schwer in die Wagschale. Dennoch sind wir heut in der Lage, seine Auffassung widerlegen zu können. Vollständiger als die Fragmente der gegnerischen Absichten, die dem Grafen Hertzberg vorlagen, sind uns heute Beschlüsse und Maßnahmen der Gegner zugänglich. Wenn auch bei Weitem noch nicht vollständig, genügen die vorliegenden Urkunden, mit unumstößlicher Sicherheit festzustellen, daß die Entwürfe, welche Graf Hertzberg als e v e n t u e l l e und p r o b l e m a t i s c h e bezeichnet, höchst c o n c l u d e n t e r , u n w i d e r r u f l i c h s t e r Art waren, daß der König schärfer und richtiger gesehen hat als sein sollst so wohl unterrichteter Minister. Diesen Beweis zu erbringeil, folge ich dem Vorgange des Grafen Hertzberg in der Ueberschau der Vorallssetzungen jener Krisis. Der Versuch König F r i e d r i c h W i l h e l m s I., seine Anrechte auf Jülich und Berg, auf Ostfriesland im Bunde mit Oesterreich, wenigstens für Berg, zur Geltung zu bringen, hatte mit der bittersten Enttäuschung geendet. Nach redlichster Erfüllung der Pflichten, die er gegen Oesterreich übernommen, sah sich Friedrich Wilhelm dem Einverständniß der vier Großmächte, Oesterreich, Frankreich, Holland und England, gegenüber, ihm die Erbfolge in Jülich und Berg zu untersagen. Oesterreich wollte keinen Zuwachs Preußens und keiil protestantisches Regiment am Rhein, Frankreich keine stärkere Macht am Niederrhein, die ihm hier den Uebergang verlegen konnte, England, d. h. Kur-Braunschweig, kein Uebergewicht KurBrandenburgs zwischen Elbe und Rhein, Holland keinen starken Nachbar und keine Handelsconcurrenz in Emden. Nicht unglücklich, aber doch erfolglos endete der Anlauf, mit dem König Friedrich II.

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seine Regierung begann: den eben ausbrechenden maritimen Conflict zwischen Spanien und England, welchem Frankreich unmöglich fern bleiben konnte, dahin zu verwerthen, ohne Oesterreich in den Besitz von Jülich und Berg zu gelangen. Friedrich bot seine Allianz gleichzeitig in London und Paris dem, der ihm zu Jülich und Berg hülfe. König Georg II. hielt sich der Allianz Oesterreichs und des deutschen Bundes so sicher, glaubte so sicher, daß Preußen sich dieser Gemeinschaft nicht zu entziehen vermöge, daß es ihm nicht in den Sinn kam, Preußen dafür einen unerwünschten Preis zu zahlen. Frankreich beharrte dabei, eine stärkere Machtbildung am Niederrhein nicht zuzulassen. Ueberzeugt, gegen das Interesse F r a n k r e i c h s und der S e e mächte am N i e d e r r h e i n nicht durchdringen zu können, wandte Friedrich, als Kaiser Karl VI. endete, den Blick nach Osten. Auch hier standen Preußen Erbansprüche zu. Aber auch hier traf man aus mehr als Eine Macht, man traf auf Oesterreich und Rußland. Oesterreich und Rußland waren durch gemeinsames Interesse gegen die Pforte, die, beiden noch ernsthaft gefährlich, von beiden geineinsam bekriegt worden war, verbunden; gemeinsam hatten sie den Kurfürsten von Sachsen der Republik Polen zum Könige gegeben; ihr Interesse konnte auch zur Verhinderung einer stärkeren Machtbildung im Nordosten Deutschlands, die Rußland den Weg nach Westen sperrte, zusammentreffen. Diese Gemeinschaft schwächte der Tod der Kaiserin Anna, der wenige Tage nach dem Ableben Karls VI. eintrat. Die Regierung Rußlands ging in die Hand einer österreichisch gesinnten aber schwach basirten Regentschaft über. Gleichzeitig war England durch den Seekrieg gegen Spanien in Anspruch genominen, Frankreich im Begriff, in diesen gezogen zu werden. Schwerlich kehrte ein Moment solcher Gunst wieder. Selbstständig ging Friedrich vor. Erst nach der Schlacht bei Mollwitz schloß er mit Frankreich (am 5. Juni 1741) nicht einen Offensiv-, sondern einen Defensivtractat auf 15 Jahre. Indem er in diesem auf den Erbanfall von Jülich und Berg verzichtete, übernahm Frankreich als Gegengewährung, 4*

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ihn auch in den Erwerbungen zu schützen, die er in Schlesien machen werde. Um die große Allianz, das alte System von 1689, welches im Psälzer Kriege Ludwig XIV. zurückgeworfen, iin spanischen Successionskriege Frankreichs Kraft erschöpft hatte, d. h. die Allianz der Seemächte, Englands und Hollands, mit Oesterreich und dem deutschen Reiche herzustellen, um Oesterreich gegen Frankreich frei zu machen, vermittelte England den Frieden zwischen Oesterreich und Preußen. Friedrichs Rücktritt gab den Waffen Oesterreichs und Englands volles Uebergewicht, nicht nur in Böhmen, nicht nur am Mittelrhein. Der deutsche Kaiser Karl VII. wurde aus seinem Erblande getrieben, die Stände Baierns huldigten der Königin von Ungarn, und die Armeen Oesterreichs überschritten den Rhein. Solche Erfolge, die seine junge Erwerbung in Frage stellten, zu hemmen, erhob Friedrich die Waffen zum zweiten Male. Aber er traf jetzt nicht nur auf Oesterreich und die Seemächte, er traf auch auf S a c h s e n , welches im Breslaner Frieden leer ausgegangen, zu Oesterreich hinübertrat, er f a n d R u ß l a n d u n t e r den Gegnern. Die Regentschaft für den vierten Iwan war von Peters des Großen Tochter Elisabeth gestürzt worden (December 1741). Alis Oesterreich hatte sich die Regentschaft gestützt, die neue Kaiserin mußte sich gegen deren Anhänger auf F r a n k r e i c h und P r e u ß e n stützen. Sie trat in vertraute Beziehungen zu König Friedrich; sie verlangte für die Verheirathung ihres Thronfolgers Friedrichs Vorschlag und »ahm ihn an; es war ihr Gedanke uud ihr Betrieb, daß Friedrichs Schwester Ulrike dem Thronfolger von Schweden vermählt wurde. Die Hinneigung feiner Kaiserin zu Preußen und Frankreich theilte der Vicekanzler Alexei Bestnschew nicht; er hielt an dem alten System der Verbindung Rußlands mit Oesterreich und E n g l a n d . Der Gesandte Frankreichs in Petersburg, la Chetardie, versuchte ihu zu stürzen, um Rußland schärfer gegen Oesterreich

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zu stellen, Rußlands Kräfte für Frankreich gegen Oesterreich verfügbar zu machen. Bestuschew wußte sich in den Besitz der Korrespondenz la Chetardie's zu setzen. Die Kaiserin ließ sich überzeugen, la Chetardie wurde über die Grenze gebracht (Juni 1745). Dieser Bruch mit F r a n k r e i c h zog den Bruch mit P r e u ß e n nach sich. Elisabeth fand auf einmal, daß es ihre Pflicht sei, den König von Polen, Kurfürsten von Sachsen in seinem Erblande zu schützen: sie e r k l ä r t e die U e b e r s c h r e i t u n g der sächsischen G r e n z e durch p r e u ß i s c h e T r u p p e n f ü r K r i e g s f a l l . Der Friede von Dresden ließ es nicht dazu kommen. Friedrich hatte die Gefahr, in der er sich befunden, in vollem Umfange erkannt. Dem Ueberbringer eines Schreibens Ludwigs XV., d'Arget, der ihn zurückhalten wollte, seinen Frieden mit Oesterreich zu schließen, der ihn aufforderte, nach so glänzenden Erfolgen weiter zu gehen, der Friedensstifter Europa's zu werden, antwortete er: ich werde fortan keine Katze mehr angreifen, es sei denn zu meiner Vertheidigung. S o lange der Krieg zwischen Oesterreich-England und Frankreich weiter ging, die Gegner ungefähr im Gleichgewichte blieben, hatte Friedrich nichts zu fürchten. Er hielt sich streng neutral, freundlich mit England, freundlich mit Frankreich, unzugänglich allen Bemühungen von dieser wie von jener Seite, ihn für Frankreich oder für Oesterreich in Bewegung zu bringen. Mit dem Friedensschluß vou Aachen (7. November 1748) änderte sich die Lage vollständig. Elisabeth hatte die Mißstimmung nicht überwunden, im Herbste des Jahres 1745 zu spät gekommen zu sein. S i e beharrte in feindseligster Haltung gegen Preußen. Noch begieriger trachtete ihr Kanzler nach auswärtigem Krieg. Was hatte Rußland von solchem zu besorgen? Konnte man nicht stets ungestraft ausfallen; wer wollte Rußland in seinen Grenzen aufsuchen? — Dazu brauchte man Geld uud die Seemächte waren bereit, die Rüstung zu zahlen, um Preußen in Zaum zu halten. Man mußte Sachsen gegen Preußen schützen, damit hielt man Rußlands Einfluß iu Polen aufrecht uud zugleich

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Preußens Emporkommen wirksam zurück. S o geschah es, daß Sach sens Interesse in Petersburg die nachdrücklichste Vertretung fand, daß Sachsen hier in eigenthümlichster Art eiuznwirkeu vermochte. Der Kanzler war trag lind ungewandt mit der Feder — der sächsische Resident Funcke wurde sein Concipist. Die Truppen, mit welchen Elisabeth im Herbste 1745 Preußen anzufallen gedacht hatte, blieben in Livland bei einander. Mit Oesterreich war im Frühling 1746 (22. Mai,2. Juni) abgeschlossen worden: nicht n u r , wenn Friedrich Oesterreich angreifen sollte, sondern auch, wenn er P o l e n oder R u ß l a n d angreift, ist der Friede von Dresden hinfällig, t r i t t O e s t e r r e i c h i n sein Recht auf S c h l e s i e n u n d Glatz zurück. Den kriegslustigeil Demonstrationen Rußlands an seinen Gren zen hatte Friedrich im Juni 1747 einen Defensivvertrag mit Schweden entgegengestellt. Es war aus die Erhaltung der Ruhe im Norden abgesehen; ausdrücklich war stipulirt, daß F r a n k r e i c h wie R u ß l a n d zum Beitritt eingeladen würden. Bestllschew hegte entgegengesetzte Pläne. Gleich nach dem Aachener Friedeil war es seine Absicht, durch einen Allgriff auf Schweden Friedrich zum Kriege gegen Rußland zu bringen; der Krieg P r e u ß e n s gegen R u ß l a n d war auch der Krieg gegen Oesterreich, stellte diesem die Wiedergewinnung Schlesiens in Aussicht. England und Dänemark sollten mitwirken. Nicht nur die Thronfolge in Schweden sollte geändert werden; um Oesterreich vorwärts zu bringen, stellte Elisabeth auch die Thronfolge Karls von Lothringen, des Bruders des Kaisers Franz, in Polen in Aussicht. Au Oesterreich e r g i n g d i e F r a g e , ob es R u ß l a n d s A n g r i f f a u f S c h w e d e n a l s c a s u m s o e d e r i s e r k e n n e und u n t e r stützen w e r d e ? (April 1749). Man hatte sich in Wien zu eutscheiden. Wie selbstverständlich das Verlangen war, verlorene Gebiete wieder zu nehmen, wie sehr Maria Theresia der Wiedergewinn Schlesiens am Herzen lag, sie fand es höchst gewagt, sich augenblicklich in einen neueu Krieg zu stürzen; ihre Lande müßten Ruhe habeil sich zu erholen, die Armee

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lind die Finanzen müßten »ach den Entwürfen, die bereits gefaßt waren, auf einen besseren Fuß gebracht werden. Sie forderte die Gutachten ihrer Staatsmänner. Das Votum des Unterhändlers des Aachener Friedens, des Grasen Kannitz, ging dahin: P r e u ß e n s N i e d e r w e r f u n g m u ß d a s v o r n e h m s t e Z i e l der österreichischen P o l i t i k sein. Die alten Alliirten, die Seemächte werden dazu niemals allsreichende Hülse bieten. Wohl sei Georg II., wohl seien die hannoverschen Minister von hinreichender Abneigung gegen Preußen beseelt; aber das protestantische Volk Englands werde niemals in die Vernichtung des Königs von Preußen willigen. Zur Bewältigung desselben reichten auch die verbundenen Kräfte Oesterreichs und Rußlands nicht aus. Erst wenn, unter Festhaltnng der Allianz mit Rußland, die Unterstützung F r a n k r e i c h s Friedrich entzogen, erst wenn auch F r a n k r e i c h s Allianz gewonnen sei, wenn wenigstens Frankreich die Kosten übernähme, sei an Bewältigung Friedrichs zu denken. Es gebe Mittel nnd Wege, sich mit Frankreich zu stelleil. Mit der Ausführung dieses Plans müsse man so bald als möglich vorgehen; wenn dann weiter andere Staaten durch Aussicht ans Erwerb preußischer Laudestheile dem Angriff auf Preußen sich gesellten, sei an dem Erfolge nicht zu zweifeln. Ohne Sicherheit des Erfolges sei der Krieg gegen Preußen nicht zu beginnen (25. April 1749). Man sieht, die v o r h a n d e n e feste V e r b i n d u n g i m Osten m i t R u ß l a n d bildet die Basis, von welcher aus der Versuch gemacht werden soll, Oesterreichs System auch im Westen zu ändern und hier Frankreich an die Stelle Englands treten zu lassen. Die Beschlüsse der Staatsconferenz fielen dahin aus, vorerst defensiv zu verfahren, die Verbindung mit den Seemächten demgemäß festzuhalten. Den beabsichtigteil Angriff Rußlands auf Schweden bezeichnete Kaunitz als inopportun, der Angriff müsse direct auf Preußen gerichtet werden. Auch der Hofkanzler Ulfeld war der Meinung, daß Rußland in Schweden leicht stärkeren Widerstand als es erwarte finden und seine Kräfte hier verbrauchen könne. Rußland sollte demnach zurückgehalten, das Verhältniß mit ihm jedoch unter allen Umständen fest-

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gehalteil, England, Holland und Sachsen zum Beitritt zuin Petersburger Bündniß vom Frühjahr 1746 bestimmt, vor allein aber England vermocht werden, für die Bereithaltung einer gewissen Truppenzahl an den Grenzen Preußens Rußland Subsidien zu bewilligen. Das Verständniß mit F r a n k r e i c h anzubahnen, ging G r a f K a u n i t z selbst als Gesandter Maria Theresia's imOctober 1750 an den Hof Ludwigs XV. Man war in Wie» im Grunde sehr unzufrieden mit den alten Alliirten. E n g l a n d habe die Noth Oesterreichs benutzt, ihm Schlesien für den König von Preußen, Finale, Anghiera und das Novarefe für den König von Sardinien abzupressen. Hinter dem Rücken Oesterreichs hätten die Seemächte die Präliminarien des Aachener Friedens mit Frankreich vereinbart. D e r G e d a n k e der V e r s t ä n d i g u n g m i t dem b i s h e r i g e n G e g n e r , m i t F r a n k reich, w a r nicht neu. Der polnische Successionskrieg hatte im Jahre 1735 mit dem Einverständniß Frankreichs und Oesterreichs, dem sogenannten Bunde der katholischeil Mächte, geendet. I m Vertrauen auf dieses Einverständniß hatte Maria Theresia im Herbste 1740 König Friedrichs Forderungen und Anerbietungen zurückgewiesen. Ein J a h r darauf hatte sie ihren vertrauteil Secretair Koch abgesandt, mit Frankreich ans der Grundlage flandrischer Abtretungen abzuschließen. Nach den Schlachten von Hohensriedberg und Soor hatte Graf Harrach Befehl, nach Dresden zu geheil, um dort nicht m i t F r i e d r i c h , sondern mit dem Gesandten Frankreichs, Vaugrenand, Frieden zu schließen. Die Schlacht von Kesselsdorf kreuzte diese Absicht. Danach war im Jahre 1746 die Tochter Augusts III. von Sachsen-Polen Maria Josepha die Gemahlin des Dauphiil geworden; man meinte französischer Seits, Sachsen dadurch dein österreichischen System zu entziehen, und auf die Seite Frank reichs zu stellen. Seitdem ließ Maria Theresia durch den Gesandten Kur-Sachsens in Paris, Grasen Loss, über einen Sonderfrieden verhandeln, Präliminarartikel vereinbareil; lind nicht minder versuchte Graf Kaunitz während der Verhandlung des Aachener Friedens, selbst durch Zugeständnisse in Italien und Belgien zu einem

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S o n d e r f r i e d e n m i t F r a n k r e i c h zu koimnen. Freilich blieb damals der Liebe Mühe vergebens. Nicht O e s t e r r e i c h , nur E n g l a n d konnte Frankreich die verlorenen Kolonien zurückstellen. Wer wollte erstaunen, daß nun nach dem F r i e d e n wieder aufgenommen wurde, was w ä h r e n d des K r i e g e s mißlungen war? Der Besitz der Niederlande, die Oesterreich aus dem spanischen Erbe zugefallen, war in Wien von vornherein nicht erwünscht gewesen. Es waren die beiden Seemächte, die durch die Uebergabe derselben an Oesterreich, Oesterreich auf die Wacht gegen Frankreich gestellt hatten. Oesterreich in den 'Niederlanden sollte England davor bewahren, Antwerpen in den Händen Frankreichs zu sehen, Hollands Sicherheit gewährleisten, die Brücke zwischen England und Oesterreich schlagen und den Kitt der Allianz bilden. Das waren Englands Interessen. I n Wien fand man, daß man diese Lande unter lästigen Bedingungen besitze. Man war verpflichtet, die Barrisreplätze gegen Frankreich zu unterhalten, den Holländern für ihre Besatzungen in denselben jährlich mehr als eine Million Gulden zu zahlen. Dazu war der Handel Belgiens zu Gunsten des holländischen vertragsmäßig unterbunden, die Scheide zu Glinsten Hollands geschlosseil. Man dachte frühzeitig in Wien daran, sich dieses lästigen Besitzes zu entäußern; schon im Reichsfrieden voll Baden hatte man sich den eventuellen Austausch des Landes vorbehalten. Jetzt war beschlossen, nicht länger gegen Frankreich Schildwacht zu steheil, sich dieses aufgezwungenen Gegensatzes gegen Frankreich zu entledigen. Die Vorbedingung war, die holländischen Besatzungen aus dem Lande zu bringen. Kannitz hatte die Erwähnung des Barriöretractates im Aachener Frieden zu umgehen verstanden; unter seiner Direktion ging man an's Werk, sich demselben vollständig zu entziehen. Man ließ die Festungen verfallen; man zahlte den Holländern die Befatzungsgelder nicht; man änderte den Zolltarif zu Ungunsten Hollands und Englands; man ließ die lauten Klagen der Seemächte unberücksichtigt; man zeigte Frankreich, daß man ihm hier fortan keine Barrivre ziehe. Die Annäherung an Frankreich positiv einzuleiten, empfing

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Maria Theresia den Gesandte» Frankreichs, der nach dein Aachener Frieden wieder in Wien erschien, mit dem Ausdruck des Bedauerns, daß ihr Abgesandter im Herbste des Jahres 1741 zu spät gekommen sei, um Oesterreich und Frankreich auszusöhnen; daraus sei alles Uuheil entstanden; sie betheuerte ihm und seinen Nachfolgern ihre friedlichsten Gesinnungen, sie thue Alles, um Rußland zurückzuhalten — und für den Augenblick sprach sie die Wahrheit - nur der König von Preußen sei es, der durch seinen Ehrgeiz und seine Umtriebe immer wieder Unruhe errege und Oesterreich stets mit Krieg bedrohe. Der Beitritt Englands zum Petersburger Vertrage (er wurde 1751 vollzogen) sei nicht ihr Werk, sondern das Werk B e s t u sch e ws, und wenn die Frage der römischen Königswahl das Deutsche Reich bewege, nicht sie, England habe dieselbe aufgeworfein auch hierin war sie nicht unwahr. Rücksichten auf Frankreich hielten Oesterreich zurück. I n Paris sagte Kaunitz den Ministern König Ludwigs: was Frankreich denn im letzten Kriege in sieben Feldzügen gewonnen habe: nur die Kleinen, Brandenburg und Savoyen hätten beim Hader der großen Staaten gewonnen. Die Großen würden klüger handeln, sich gegenseitig zu unterstützen. Das Emporwachsen Preußens gebe dem Protestantismus ein bedrohliches Uebergewicht, dem nur das Eiuverständniß der katholischen Biächte Schranken setzen könne. Die Unterstützung, die Oesterreich von den Seemächten im letzten Kriege erfahren, sei im Grunde mehr Preußeu als Oesterreich zu Gute gekommen; aber auch Frankreich habe keinen Grund, sich der Unterstützung Preußens zu rühmen, drei Mal seien Frankreichs I n teressen von Friedrich preisgegeben worden. Kaunitz meinte: den Waffenstillstand von Klein-Schnellendors, den Frieden von BreSlau und den Friedeil von Dresden. Wenn Kaunitz in Paris keine Fortschritte machte, so war das die Schnld gerade des Alliirten Oesterreichs, auf den es sein System basirt hatte, die Schuld R u ß l a n d s . Bestuschew hörte nicht auf, Schwede» zu bedrohen, um den Verbündeten Schwedens, P r e u ß e u , zum Angriff anf Rußland zu nöthigen. I n Paris

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war man der Meinung, daß es den fundamentalsten Interessen Frankreichs widerspreche, Schweden fallen, unter den Einfluß, in die Abhängigkeit von Rußland kommen zu lassen. Von den drei Stützpunkten Frankreichs im Osten, von der Pforte, Polen und Schweden, sei Polen durch den Frieden von Wien verloreil; Schweden müsse demnach um so nachdrücklicher gegen Rußland gehalten werden, — und man vermochte Schweden nicht anders als durch Preußen gegen Rußland zu halten. S o führten die Bedrohungen Schwedens durch Rußland ein engeres und näheres Einverständniß zwischen Frankreich und Preußen herbei als irgend zuvor bestanden hatte. Dänemark wurde diesem Einverständniß durch die Besorgniß, Rußland könne zu erdrückendem Uebergewicht im Norden gelangen, gewonnen. Die Pforte erklärte, sie werde einem Angriffe Rußlands auf Schweden, ihren alten Attiirten gegen Rußland, nicht unthätig zusehe». Friedrich sah sich an der Spitze einer großen Verbindung, in einer Stellung, in welcher er den Kräften Oesterreichs und Rußlands mehr als gewachsen gegenüberstand. Kaunitz verzweiselte, mit seinem Systeme vorwärts zu kommen. Es sei für jetzt wenigstens auch nicht die leiseste Hoffnung vorhanden, Frankreich von Preußen trennen zn können, schrieb er im M a i 1751: dem Entschlnsse der Kaiserin müsse er demnach anheimstellen, ob an dem Plane, der vor zwei Jahren als Richtschnur des politischen Systems angenommen worden sei, festzuhalten, ob derselbe aufzugeben sei. Werde Oesterreich dnrch Rußland in den Krieg gegen Schweden gezogen, so sei es von zwei Seiten (von der Pforte und von Frankreich) bedroht; wie könne man sich mit der Hoffnung schmeicheln, nach einer dritten Seite hin ein verlorenes Land wieder zu erobern ? Zur Befestigung der eigenen Sicherheit bleibe nur die Aussöhnung mit Preußen übrig. Diese sei möglich. König Friedrich liege die Sicherheit seiner schlesischen Erwerbung am meisten am Herzen. Er könne dieses Ziel am sichersten durch Oesterreich erreichen und sei klug genug, diesen Weg zu betreten, sobald er ihm geöffnet werde. Kaunitz wußte demnach sehr gut, daß Friedrich

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nicht an Krieg und neue Erwerbungen, noch weniger daran denke, Oesterreich zu überfallen Der Urheber des „großen Desseins" verzweifelte an dessen Durchführbarkeit, Maria Theresia nicht. Sie befahl, an dem Plane des Frühjahrs 1749 festzuhalten. Die Ausdauer schien Frucht zu tragen. Da man in Paris keine Fortschritte machte, suchte man den Weg nach Paris über Madrid. Es gelang, mit den bourbonischen Höfen Italiens und Spaniens in Verbindung zu treten; der Vertrag von Aranjuez zwischen Spanien, Parma und Oesterreich (am 14. April 1752 abgeschlossen) gewährte Oesterreich für den Kriegsfall höchst erwünschte Sicherheit, in seinen italienischen Landen nicht wiederum wie im Successionskriege angegriffen zu werden. Als Kaunitz im April des Jahres 1753 nach Wien zurückgerufen wurde, die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten in seine Hand zu nehmen, hatte er, trotz eifrigster Hülfe Sachsens, in Paris doch nicht viel mehr erreicht als eine günstigere Gesinnung König Ludwigs und ein vertrautes Verhältniß zur Marquise von Pompadour; durch sie wußte er, daß Ludwig XV. persönlich dem König von Preußen ungünstig gestimmt, daß er in seinem Herzen nicht abgeneigt sei, dem Bunde mit Oesterreich den Vorzug zu geben. Dem S t a a t s k a n z l e r Kaunitz schien jedoch noch weniger als dem G e s a n d t e n die Ausführung der großen Absicht beschieden zu sein. Herannahende Conflicte drohten Oesterreich vielmehr schärfer gegen Frankreich zu stellen als jemals. Differenzen zwischen Sachsen und Preußen, zwischen England-Hannover und Preußen, jene über die Befriedigung preußischer Besitzer sächsischer Stellerscheine, diese über den Ersatz der Schädigungen, welche die neutrale preußische Flagge von englischen Kreuzeru 1746, 1747 und 1748 erfahren, über die Belehnung mit Ostfriesland, nahm einen acnteren Charakter an. Der Kaiserin Elisabeth, — seit acht Jahren demonstrirte sie unablässig an den Grenzen Preußens — war damit endlich der langersehnte Moment der Action gegen Preußen gekommen: sie war

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entschlossen, für Sachsen und Hannover einzutreten. Am 15. Mai 1753 forderte sie in Person die Vota ihrer Staatsmänner: ob es dem russischen Reiche convenire, daß Preußen sich noch mehr vergrößere, mit welchen Mitteln und in welcher Weise den Bundesgenossen (auch Sachsen war inzwischen dem Petersburger Vertrage von 1746 beigetreten) Beistand zu leisten sei. „Sie gestehe, daß sie mit einem so ruhestörerischen Nachbar wie Preußen einen Krieg zu haben wünsche." Das Conseil beschloß: Preußen sei aus seinen f r ü h e r e n m ä ß i g e n S t a n d z u r ü c k z u f ü h r e n , es sei sofort ein bedeutendes Corps zusammenzuziehen; sobald man der Mitwirkung Oesterreichs und Sachsens sicher sei, könne man nicht nur, wenn Hannover angegriffen werde, eine Diversion in Ostpreußen machen, sondern auch ohne solchen Anlaß Preußen den Krieg erklären und diesen beginnen. Die Truppen in Livland wurden auf 60,000 Bkann gebracht. Die verstärkte Rüstung Rußlands, seine drohende Sprache verstärkte die alte Gegenwirkung. Frankreich erklärte, wenn Rußland 60,000 Mann gegen Preußen ausstelle, werde es seinerseits 60,000 Mann an der Grenze der Niederlande versammeln. Wiederum standeil Preußen und Frankreich fest bei einander. — Kaunitz war iil Gefahr, das Gegentheil seines Programms sich verwirklichen zu sehen. Er that Alles, den „lobenswerthen Kriegseifer Rußlands" zu zügeln. Es gelang ihm nicht ohne Mühe. Nur dazu mußte nach seiner Meinung die Situation verwerthet werdeil, England zu bestimmen, wenigstens 60,000, noch besser 150,000 Russen in Sold zu nehmen. Dies zu erreichen, ließ er es in London an eindringlichen Vorstellungen nicht fehlen. Es war eine Verwickeluug jenseits des Oceans, welche diese Spannungen löste und dem Grafen Kaunitz die Aussicht eröffnete, das Programm von 1749 endlich in's Werk zu setzen. Die Grenzen des englischen und französischen Besitzes in Nordamerika waren im Aachener Frieden der Regnlirung durch Commissarien vorbehalten worden. Diese hatten sich nicht einigen können. Französischer Seits

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war man darauf bedacht, Kanada und Luisiana in Verbindung zu bringen; längs der Seen am oberen Ohio, am Missisippi eine Kette von Forts aufzurichten. Die englischen Colonisten wären dadurch gehindert worden, sich weiter nach Westeil hin auszudehnen, auf das Land diesseits der Alleghanies beschränkt worden. Das englische Ministerium gab den Gouverneuren der westlichen Kolonien Weisung, die Anlage französischer Forts in streitigen Gebieten nöthigen Falls mit Gewalt zu hindern. I m Frühjahr 1754 (28. Mai) kam es zu den ersten Feindseligkeiten zwischen virginischen Milizen lind französischen Abtheilungen auf den großen Wiesen am oberen Ohio. England und Frankreich verhandelten über einen Ausgleich, begannen aber zugleich zu rüsten. Friedrich zweifelte im Frühjahr 1755 kauin noch daran, daß man von Rüstung zu Rüstung und damit zum Kriege kommen werde. Er wünsche nichts dringender, schreibt er am 1. März 1755 seinem Gesandten in London, als den Ausgleich, damit der Friede Europa wenigstens noch für einige Zeit gewahrt bleibe, aber er fürchte das Gegentheil. Er begehrte dann zu wissen, ob England seine festländischen Alliirten gegen Frankreich aufbieten werde. Der Gesandte erwiderte: das Ministerilim Englands sei eineni Ausgleiche geneigt, das englische Volk dränge zum Kriege, lind der Gesandte Oesterreichs ermuntere dazu. Die Ausdehnung des Krieges der Westinächte ans das Festland war in keiner Weise geboten. Die Seemächte England und Holland hatten dem Kriege Oesterreichs und Frankreichs um die polnische Königswahl (1733—1735) thatlos zugesehen. Die deutschen Mächte konnten ebenso ruhige Zuschauer des ausbrechenden Seekrieges bleiben. Für Frankreich war es ein entschiedener Vortheil, wenn es, unbeschäftigt auf dem Festlande, seine gesammte Kraft auf den Seekrieg zu verwenden in der Lage blieb; England konnte durch einen gleichzeitigen Landkrieg doch mir in zweiter Linie, in den Niederlanden, iil Holland uild Hannover getroffen werden. Nachmals zu Neisse im Jahre 1769 gaben sich Friedrich und Joseph das Wort, in dem Kriege der Westmächte, dessen Ansbruch damals erwartet

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wurde (Frankreich hatte eben Corsika occupirt), einander nicht anzugreifen. I n dein fünfjährigen großen und schweren Seekriege, den Frankreich und Spanien gegen England führten, um England an der Wiederunterwerfung seiner Colonien in Nordamerika zu hindern, sind Preußen wie Oesterreich Zuschauer geblieben. Sie hätten es auch in dem Kriege der Westmächte bleiben können, der im Frühjahr 1756 zum Ausbruch kam. Graf Kaunitz hatte es anders beschlossen. Hatte der im Jahre 1740 eben beginnende Seekrieg der Westmächte es Friedrich erleichtert, sich zu erheben, der Wiederausbruch desselben sollte ihn stürzen. Die Ausdehnung des Krieges auf das Festland gab Kaunitz die Wahl, für England oder für Frankreich einzutreten, Frankreich von einem neue«? Kriege mit Oesterreich zu entlasten, ihm Oesterreichs Allianz zu bieten. Die Neutralität, so sagte Kaunitz seiner Kaiserin, würde uns die alten Freunde rauben und neue nicht erwerbe». Bleiben wir in der Allianz mit England, so werden wir von Frankreich angegriffen, wir erschöpfen die Kräfte des Staates vergebens. Welchen Kriegspreis hätten wir in diesem Bunde zu hoffen — der einzige, den wir brauchen, ist Preußen, und gerade den gewähren uns die Seemächte niemals. Aber noch war der Krieg nicht ausgebrochen. I h n zum Ausbruch zu bringen, ihn aus das Festland hinüber zu ziehen, ermunterte Kaunitz England zum Kriege, deutete er in London an, daß Oesterreich seinem alten Alliirten treu zur Seite stehen werde. Oesterreich sei bereit, 50,000 Mann in die Niederlande zu schicken, wenn England die Kosten tragen wolle, es sei dringlich, daß England sich endlich entschließe, die langen Verhandlungen über die Nußland zu gewährenden Subsidien schleunigst zu Ende zu bringen (März, April 1755). England ist außer Stande, so rechnete Kaunitz nach seinen eigenen Worten, Belgien und Hannover ohne Bundesgenossen gegen Frankreich und Preußen zu vertheidigen. Entziehen wir England unsere Allianz, so muß es einen andern Alliirten suchen. Es findet keinen außer Preußen. I n diesem Augenblick würde Frankreich

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Englands Platz bei uns einnehmen. Besitzer der Niederlande, haben wir das Mittel, Frankreich zu gewinnen, selbst wenn sein eigenes Interesse es nicht aus unsere Seite triebe. Seine Absicht ging zunächst dahin, England vorzuhalten: wir können wenig oder nichts für die Niederlande thun, da wir den Angriff Preußens zu befahren haben (er war vom Gegentheil überzeugt), um dadurch England zu nöthigen, die russische Armee in Sold zu nehmen, d. h. Rußland Geldmittel für die Rüstung zur Verfügung zu stellen, und weiterhin, die Allianz Preußens zu suchen. Wir brechen mit England nicht, bis wir Frankreich haben. Frankreich zahlt nur, wenn und solange es sieht, daß wir England haben können. „Ich habe bisher an der Allianz mit England festgehalten, aber mein Benehmen Frankreich gegenüber so eingerichtet, daß wenn Zeiten und Umstände eintreten sollten, die eine große Entscheidung anrathen, die Annäherung möglich ist." Höchst vorsichtig, höchst gedeckt und höchst consequent ging Kaunitz au die Ausführung des Systemwechsels. Wie er gerathen, sendete England gleich im April S i r Charles Hanbury Williams nach Petersburg, um die russische Armee in Sold zu nehmen und das russische Cabinet zn überzeugen, daß Rußland eine asiatische Macht bleiben werde, wenn es Preußen nicht niederhalte. Die Truppen deutscher Fürsten in Sold zu nehmen, begab sich König Georg II. selbst nach Hannover. Man war bereit, hier wie dort die Börse sehr weit zu öffnen. Für die Vertheidigung der Niederlande war ja nach Kaunitz' Zusage sicher auf Oesterreich zu zählen. England fand, daß Oesterreich nun wohl selbst beklagen werde, auf alle Vorstellungen wegen der Barriere nicht früher gehört zu haben : der Streit mit Holland müsse rasch beendet, die Festungen müssen hergestellt, mit ausreichenden Besatzungen versehen, sür die Sicherheit Hollands müsse gesorgt werde». Man erstaunte in London sehr bald über die Saumseligkeit Oesterreichs, man begriff dessen Zögern und Unthätigkeit nicht. Seine Truppen iu deu Niederlanden, einschließlich Luxemburgs, zählten kaum 14000 Mann. Kaunitz deducirte ausführlich, welche Kosten die Barrwre Oesterreich vernr-

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sacht habe und bezog sich darauf, daß das Centrum der Monarchie nicht wohl entblößt werden könne, da man sich hier auf einen Angriff Preußens gefaßt halten müsse. Dies Hinausziehen zu enden, welches man sich englischerseits durch den Hintergedanken Oesterreichs, sehr hohe Snbsidien zu ziehen, erklärte, verlangte Graf Holderneß endlich ziemlich gebieterisch in Wien, daß wenigstens 30,000 Mann unverzüglich nach den Niederlanden in Marsch gesetzt würden; die Wehrlosigkeit derselben lade Frankreich zur Invasion ein (I. Juni 1755). Gerade darau war dem Grafen Kaunitz gelegen. Er wollte Frankreich zeigen, daß er Belgien nicht zu vertheidigen gedenke. Als die dringliche Forderung einlief, fand Kaunitz, daß Englands Absichten lediglich daraus gerichtet seien, Oesterreich gegen Preußen wehrlos zu machen und in den Krieg gegen Frankreich zu verwickeln. Eine starke Besetzung der Niederlaiide, so erwiderte er am 21. Juni, würde Frankreich zum Angriff auf dieselben provociren. England f o r d e r e , unterlasse aber anzugeben, was es selbst zu leisten gedenke. Während nichts für die Sicherheit Oesterreichs dringender sei als der Abschluß des englisch-russischeu Vertrages, während diese Sicherung Oesterreichs durch die russische Arinee Oesterreich allem iu die Lage setzen könne, Truppen in die Niederlande zu sendeu, markte England in Petersburg um Pfunde (Beftufchew forderte für den Frieden 120,000 Pfund, für den Krieg 500,000 Pfuud jährlich). Mau wolle mit der Wahrheit nicht zurückhalte», daß die Niederlande Oesterreich im Frieden nichts einbrächten, dagegen die Monarchie in alle Kriege verwickelten. Sollten sie verloren gehen, so sei das ein Verlust, den Oesterreich verschmerzen könne. Dennoch sei man bereit 10—12,000 Mann nach den Niederlanden marschiren zu lassen, wenn England die evuclitic» sine qua uou erfülle, 20,000 Mann dorthin zu senden, die dort gleichzeitig mit der österreichischen Verstärkung einträfen, und weiter der englischrussische Vertrag geschlossen sei. Ton und Forderungen des Schriftstückes überraschten den Vertreter Englands in Wien, Lord Keith. Anf seine Frage, auf welchen Grundlagen man sich würde einigen Tuncker. Abhandl. a. d. n. Gesch.

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können, antwortete Kaunitz: „wenn man den König von Preußen angreift" (24. Juni); d. h.: die Bedingung unserer Verbindung mit Euch ist, daß I h r mit uns in den Vernichtungskrieg gegen Preußen geht. „Die Antwort Englands auf unsere Erklärung," so sagte Kaunitz seiner Kaiserin (27. Juni), „wird Klarheit darüber geben, auf welche Seite sich Oesterreich zu stellen hat." Kaunitz kannte diese Antwort im Voraus. Als S i r Charles in Petersburg am 9. August den Soldvertrag mit Rußland gezeichnet, Graf Holderneß am 12. August in Hannover die Aufforderung an den Vertreter Oesterreichs, Colloredo, gerichtet: Oesterreich möge die Erklärung abgeben, daß es nicht daran denke, Krieg gegen Preußen zu beginnen, der in diesen: Augenblick nicht zeitgemäß wäre — war der Moment der Entscheidung gekommen. Während Kaunitz im Frühjahr in London das Felier geschürt, hatte er Frankreich der friedlichsten Gesinnungen Oesterreichs versichern und dessen dringenden Wunsch, zur Ausgleichung des Conflictes mit England beizutragen, ausdrücken lassen. Jetzt, am 19. August, sagte er seiner Kaiserin: „Preußen muß über den Haufen geworfen werden, wenn das ErzHaus aufrecht bleiben soll." Die „Gelassenheit", d. h. die friedliche Haltung, des Königs von Preußen habe bereits Mißtrauen in Paris erweckt, dies müsse sich steigern, da es iin Interesse der preußischen Politik liege, sich vom Kriege fern zu halten. Diese Complication der Umstände werde nie wieder eintreten. Demgemäß seien nunmehr die gesainmten Niederlande Frankreich anzubieten, Luxemburg für Frankreich, das übrige Gebiet für den Schwiegersohn Ludwigs XV., den Gemahl seiner Lieblingstochter, Philipp von Parma, sobald Oesterreich wieder im Besitz von Schlesien und Glatz sei; d. h. man war bereit, ein bei weitem reicheres Gebiet aufzugeben, um ein ärmeres, aber im Zusammenhange des Staates liegendes Gebiet wieder zu gewinnen. Mau könne ferner dem Könige von Frankreich zusagen, zur Erfüllung seines Wunsches, den Prinzen Conti auf den polnischen Thron zu erheben, nach Kräften mitzuwirken. Dagegen sei nur zu verlangen, daß Frankreich aus die Allianz mit Preußen verzichte

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und zu den Kosteil der Ausführung des Planes beitrage (d. h. England in Petersburg ersetze). Den Bundesgenossen Frankreichs müßten Landerwerbungen aus Kosten Preußens zugebilligt werden, dessen Gebiet „auf deu U m f a n g v o r dem 3 0 j ä h r i g e n K r i e g e zu r e d u c i r e u sei." Rußland müsse dahin disponirt werden, daß es im nächsten Frühjahr (1756) mit 80,000 Mann in Preußen einfalle. England gegenüber bleibe man inzwischen dadurch gedeckt, daß, so lange Oesterreich durch einen Einfall Preußens in seinem Herzen bedroht sei, Unterstützung in den Niederlanden zu gewähren nicht anssührbar sei. Am 21. August 1755 ging das große Angebot (es sollte im tiefsten Geheimniß der Marquise oder dem Prinzen Conti anvertraut werden), von einem Schreiben des Grafen Kaunitz an die Marquise begleitet, an Kaunitz' Nachfolger in Paris, den Grasen Starhemberg, ab; er sollte betonen, daß Preußen im Begriffe sei, sein Bündniß mit Frankreich einem Bündniß mit England zum Opfer zu bringen. „Die Vorsehung", so schreibt Kaunitz dem Grafen Starhemberg, „hat Sie dazu ausersehen, das Werk glorreich zu vollenden, wozu sich mir selbst während meines Aufenthaltes in Paris gar kein Anlaß bieten wollte." König Ludwig XV. war von vorn herein bereit, auf die Allianz mit Oesterreich einzugeheil. Er übertrug die Unterhandlung dem Freunde der Marquise, dem Abbs Bernis, unter Ausschluß seiner Minister, „deren Vorurtheil gegen den Wiener Hof er kenne". Bernis sagt uns: „einige der Vorschläge Oesterreichs waren geeignet, das weiche und väterliche Herz des Königs für seine Kinder und Enkel zu rühren." Starhemberg wußte ihren Werth zu erhöhen. Lehne Frankreich ab, so sei das der Krieg, den Oesterreich gegen Frankreich zu führen niemals in besserer Lage gewesen: von Rußland und England unterstützt, im Einvernehmen mit Spanien und dadurch in Italien gesichert. Als Bernis dem König einige schüchterne Bedenken über die Folgen einer so fundainentalen Wandlung des politischen Systems äußerte, erwiderte Ludwig: „Ihr seid wie die Andereil der Königin von Ungarn Feind. Die Allianz mit Oesterreich sei

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der Wunsch seines Lebens, das einzige Mittel, die katholische Religion aufrecht zu halten." Wenigstens nicht blind gedachte Bernis zuzugreifen. Man müsse darüber klar sein, ob die Annäherung an Frankreich nicht etwa nur deshalb versucht würde, Preußen und Frankreich einander zu entfremden oder England zu bewegen, für die Unterstützung, die ihm Oesterreich gewähren solle, höheren Preis zu zahlen. Demgemäß wurde die Geneigtheit Frankreichs ausgesprochen, in Allianz mit der Kaiserin zu treten, ohne die Allianz mit Preußen, gegen dessen Bundestreue nicht der leiseste Verdacht vorliege, aufzugeben. I n geschicktestem Schachzuge ließ Kaunitz das Angebot der Niederlande zurückziehen —, wie er selbst sagte, die Wirkung des Anerbietens zu mehren, und erklären: unter diesen Umständen bleibe Oesterreich nur übrig, sich mit S p a n i e n und anderen Mächten, d. h. den bonrbonischen Höfen Italiens, gegen den zu verbinden, der zuerst den Frieden von Aachen breche. Er bewies damit, daß Oesterreichs ernste Absicht dahin gehe, nicht aus Englands Seite zu stehen. Das Verlangen Frankreichs nach Verdeutlichung dieser Proposition erwiderte Kaunitz mit der Forderung des Verzichts Frankreichs auf die preußische Allianz. Nunmehr schlng Frankreich vor: Oesterreich und Frankreich garantiren sich gegenseitig ihre Besitzungen; mit Ausschluß Englands werden alle übrigen Mächte zum Beitritt eingeladen; Frankreich behält sich den Angriff anf Hannover vor. Seinen bisherigen Bundesgenossen, Preußen, konnte Frankreich doch nicht fallen lassen, bevor Oesterreich seinen bisherigen Bundesgenossen, England, ebenmäßig auch formell aufgegeben hatte. S o weit waren Oesterreich und Frankreich, als die Wendung Friedrich's, die Kaunitz vorzeitig in Paris denuncirt hatte, thatsächlich eintrat. Das Verhalten Oesterreichs bezüglich der Niederlande, seine Erklärung vom 21. J u n i , jenes Gespräch zwischen Keith und Kaunitz, die Zurückziehung der österreichischen Geschütze aus den Barriere-Plätzen überzeugteil endlich Georg II. und seine Minister, daß Oesterreich zwar den Krieg, aber nicht gegen F r a n k reich, sondern gegen P r e u ß e n wolle. Hatte man demnach aus

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den alten Alliirten nicht mehr zu rechnen, wie sollte man die Niederlande, Holland, welches in Folge der Haltung Oesterreichs nur noch Neutralität ersehnte, Hannover decken, wenn es zum Landkriege kam? Man war auf die hannoverschen Truppe», aus die Hessen, auf die Russe», die man gemiethet, angewiesen. Unter solchen Umständen war es geboten, auf den Landkrieg zu verzichten, sich auf die Defensive in diesem zu beschränken, wenn er nicht zu vermeideu war: die Sicherheit für Hannover auf anderem Wege zu suchen. War es denn wirklich so gewiß, daß Preußen Hannover angreifen werde? Bestand wirklich volle Solidarität zwischen Preußen und Frankreich? War es denn anssichtslos, den Frieden auf dem Festlande zu erhalten, wenn man sich mit Preußen verständigte, aussichtslos, Schutz für Hannover zu finden, wenn man ihn in Berlin suchte ? Herzog Karl von Braunfchweig übernahm, König Friedrich zu sondiren, ob er geneigt fein möchte, das Feuer des Krieges von Hannover und Preußeu fern zu halten (11. August 1755). König Friedrich hatte die Aufforderung Frankreichs, Hannover zu attakiren, im Frühjahr (6. Mai) sehr bestimmt abgelehnt ' sein Bündniß mit Frankreich sei defensiver Natur. Aber der Zusage, welche England suchte, wich er aus; er rieth zum Allsgleich mit Frankreich unter Vermittelung der beiderseitigen Verbündeten. Als England solchen nicht mehr für möglich erklärte, war er bereit, seinerseits zu erklären, Hannover nicht anzngreifen; Frankreich vom Angriff auf Hannover abzuhalteil, dazu trug er vorerst Bedenken, sich zu verpflichten (13. October). Seinen Vertreter in London wies er an, den Ministern dort hinzuwerfen: erfolge der Einmarsch russischer Truppen in Deutschland, so sei er wohl oder übel zum Kriege genöthigt (14. October). Daraufhin wurde hier dem Gesandten der Wortlaut des südlich abgeschlossenen englisch-russischen Vertrags unter der Versicherung mitgetheilt, daß derselbe nicht gegen Preußen gerichtet, daß er nur eine Vorsichtsmaßregel sei, daß die zur Verfügung Englands gestellte russische Armee nicht marschiren werde, wenn Hannover nicht bedroht, der Friede auf dem Festlande erhalten

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bleibe. König Friedrich sei in der Lage, ihn in Deutschland zu erhalten, wie ihn Spainen in Italien wahre. Aus Petersburg kam in denselben Tagen zuverlässige Kunde, die Beschlüsse des 15. Mai 1753 seien dort in der Conseilsitzuug am 7. October wieder aufgenommen worden; es sei beschlossen worden, die „Fnndameutalmarime", d. h. die Niederwerfung Preußens festzuhalten : Preußen wird ohne Discnssion angegriffen, wenn Friedrich eine» Alliirten Rußlands angreift, oder von einein Alliirten Rußlands angegriffen wird. Zu Riga, Mitau lind Liban sind für 100,000 Mann Magazine zu etabliren. Friedrich hatte seinen Entschluß zu fassen. Weder Rußland noch Oesterreich vermochte er irgend einen Dienst zu bieten, der Rußlands Kriegseifer, Oesterreichs Vergeltungseifer entwaffnen konnte: er konnte nichts, als Frankreich oder England seine Waffenhülse bieten. Frankreich forderte die Occupation Hannovers. Er sah Rußland k r i e g s b e r e i t , durch Englands Geldhttlse k r i e g s f e r t i g , sich auf ihn zu stürzen. Oesterreich folgte; es folgten jedenfalls Hannover und Hessen, es folgten die deutschen Staaten, die der vereinigte Einfluß Englands und Oesterreichs gegen ihn in Action setzen würde. Das waren die gewaltigen Kräfte, die er auf sich ziehen sollte. Es war der Vernichtungskrieg, in den Frankreich ihn zu schicken trachtete, ohne daß er auf dessen Hülfe in höherem Maße als iu den Jahren 1744 und 1745 zu zählen gehabt haben würde; wie damals hätte Frankreich seinen Krieg in den Niederlanden geführt. Von der anderen Seite wurde vorerst nicht einmal seine Wasfenhülfe sondern die Einnahme einer Position gefordert, die die Erhaltung des Friedens möglich erscheinen ließ. Rußland war entschlossen lind bereit, ihn anzufallen. Aber England erbot sich, die Russen zurückzuhalten. Geschah dies, so hielt auch Oesterreich wohl das Schwert in der Scheide. Friedrich schwankte nicht. Mit eigener Hand entwarf er am 7. December die Jnstruction für seinen Gesandten in London, einen Neutralitätsvertrag mit England zu schließen: England und Prenßen verpflichten sich, fremden Truppen

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den Einmarsch in Deutschland nicht zu gestatten. Ersteres soll seinen Bundsgenossen Rußland, er werde seinen Bundsgenossen Frankreich zurückhalten. Am 23. December ließ er in Paris erklären, daß er auf Englands Vorschlag mit diesem über Aufrechthaltung der Neutralität in Unterhandlung getreten sei, und am 3. Januar 1756: „der von Rußland und Oesterreich gegen ihn beabsichtigte Angriff nöthigt ihn, die Vorschläge Englands auzunehmen." Die Convention wurde am 16. Jannar zu Westminster gezeichnet. König Friedrich glaubte mit diesem Schritte den Frieden zu erhalten. Es war vielleicht möglich, nebeil dem Vertrage von Westminster den Defensivvertrag mit Frankreich festzuhalten. Er erklärte sich bereit, diesen, der am 5. Juni ablief, zu erneuern. Weder thatsächlich noch rechtlich stand die Convention von Westminster mit demselben in Widerspruch. I n Widerspruch nur mit der Absicht Frankreichs, England in Hannover zu treffen; und dem Anspruch, den Frankreich etwa machen konnte, daß Preußen mit i h m gehe, begegnete der König mit der Frage, ob es in Frankreichs Interesse liege, feinen Verbündeten vernichtet zu sehen. Warum wollt ihr nicht, sagte Friedrich dem Herzog von Nivernais, einen Neutralitätsvertrag mit Oesterreich schließen? Den Ministern Frankreichs schien der Entschluß Friedrichs in der bedrohten Lage, in der er sich befinde, nicht befremdlich; König Ludwig und die Marquise sahen die Dinge anders. War die Politik König Ludwigs v o r Westminster bereit, die Allianz mit Preußen aufzugeben — der Vertrag von Westminster, der Frankreich den Einfall in Hannover verlegte, diese mauvais« eonäuite, dieser Abfall, dieser Verrath Friedrichs wurde seinen Gegnern in Paris das Mittel, Frankreich in den Angriffskrieg gegen Preußen zu bringen. Starhemberg erneuerte das Angebot Belgiens; es wurde am 7. Februar als Basis der Unterhandlung angenommen. Am 10. April begann Frankreich den Krieg gegen England, am I. Mai war der Defensivvertrag zwischen Oesterreich und Frankreich gezeichnet. Die VerHand-

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lung über die geheime Offensivallianz rückte bis Mitte August dahin vor, daß Frankreichs Zusage feststand, Oesterreich zwölf Millionen Gulden zu den Kriegskosten zu zahlen und 30,000 Mann zum Kriege gegen Friedrich zu stellen. Nach Petersburg hatte Kaunitz im März Kunde seiner Verhandlungen mit Frankreich gegeben. Das Conseil beschloß am 25. März: der Krieg gegen Preußen ist mit 80,000 Mann alsbald zu beginnen. Mau war demnach hier in der Lage, die Erklärung, welche der Vertreter Oesterreichs, Esterhazy, am 10. April forderte: ob Rußland die Operationen zu beginnen und den Airgriff, deu Oesterreich mit 80,000 Mann auf Preußen machen werde, mit 60 bis 70,000 Mann zu unterstützen bereit sei, unverzüglich zustimmend abzugeben. Elisabeth sügte hinzu: der Krieg müsse so lange fortgesetzt werden, bis Rußland im Besitze Ostpreußens, Oesterreich im Besitze von Schlesien uud Glatz sei. Sobald die Operationen begonnen, würden Sachsen und Schweden zur Cooperation einzuladen sein; Sachsen wäre das Herzogthum Magdeburg, Schweden Pommern zuzusichern. Bestuschew bemerkte, die bereitsteheudeu Truppen betrügen 110,000 Mann in erster, 20,000 Mann in zweiter Linie; Preußen werde zugleich zu Wasser lind zu Lande angegriffen werden. Esterhazy meinte, die russische Armee werde sicher iin August vorgehen können (22. April). Kaunitz erwiderte: da die Unterhandlung über die Offensive Frankreichs gegen Preußen noch schwebe, müsse der allgemeine Angriff, so schmerzlich der Zeitverlust sei, bis zum nächsten Frühjahr verschoben werden. Friedrich kam seinen Gegnern zuvor: auf den Bericht feiues Gesandten in Paris, daß Maria Theresia ganz'Belgien angeboten, wenn Frankreichs Hülfe sie in den Besitz Schlesiens setze, aus die sichere Kunde von Petersburg, daß der Krieg gegen ihn beschlossen, daß Rußland mit 120,000, Oesterreich mit 80,000 Mann gegen ihn auftreten werde, der Beginn des Krieges jedoch auf das nächste Frühjahr verschoben sei, zog er das Schwert. Das kleinere Uebel, sagte er, als Angreifer zu erscheinen, ist dem größeren vorzuziehen, meinen

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Feindeil Zeit zu lassen, vollständig vorbereitet mit vereinigten Kräften über mich herzufallen. Am 29. Anglist überschritten die preußischen Truppen die sächsische Grenze. Nicht eventuelle Verpflichtungen problematischer Ausführung, wie Graf Hertzberg meinte, höchst p o s i t i v e Verpflichtungen bestanden gegen Friedrich, als er die Waffen ergriff. Der Krieg gegen ihn war von Rußland und Oesterreich fest beschlossen; das Eiilgeständniß der Gegner liegt heut offeil vor, daß Preußen im Frühjahr 1756 angegriffen werden sollte; nur um des Erfolges sicherer zu sein, hatte man den Angriff aus das folgende Frühjahr verschoben. Nicht Maria Theresia, nicht Kaunitz waren es, die den Krieg gegen Friedrich in erster Linie heraufbeschworen haben; Oesterreich wußte mir zu gut, daß seine Kraft nicht ausreiche, Schlesien wieder zu gewinnen. Es war die Feindseligkeit Rußlands, die von England mehr als zehn Jahre hindurch genährte und von England bezahlte Feindseligkeit Rußlands, welcher der Löwenantheil am Ausbruche des siebenjährigen Krieges gehört. Rußland hat den Knoten geschürzt. Seine Feindseligkeit gegen Preußen gab Oesterreich den festen Stützpunkt, der ihm erlaubte, die große Coalition zu bilden, sich von den Seemächten loszusagen und Frankreich im gegebenen Momente zu sich hinüber zu ziehen; eine Aufgabe, die ihm durch die Stellung Sachsens in Petersburg und in Paris, das hier wie dort, wie in Wien Sicherheit gegen Preußen suchte, wesentlich erleichtert wordeil ist. Ohue den Kriegseifer Rußlauds, das keinen Verlust von Preuße» zu reviudiciren hatte, das Preußen vernichten wollte, während sein Staatsinteresse ihm gebot, Oesterreich und Preußen im Gleichgewicht zu halten; ohne den Wiederausbruch des Seekrieges zwischen deil Westmächten, ohne den Umstand, daß im Herzen Deutschlands ein deutsches Gebiet in fremder Hand lag, in welchem Frankreich England treffen konnte, wäre Kaunitz außer Stande gewesen, die große Eoalitiou gegen Preußen zn Stande zu bringen. Es war

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Hannover, um welches sich die Fäden der Gegenstrebungen so fest verschlangen, daß sie nur durch das Schwert zu lösen waren. I n dem Kaunitz Frankreich nicht nur Belgien sondern auch den Angriff auf Hannover bot, gelang es ihm, Frankreich voll und ganz zu gewinnen. Hannover in Englands Hand hat den Ausbruch des siebenjährigen Krieges und fünfzig Jahre später den Allsbruch des Krieges von 1806 veranlaßt. Hätte Friedrich geirrt, so hätte er a u s F r i e d e n s l i e b e g e i r r t , so hätte er darin geirrt, daß er den Frieden aus dem Festlande noch erhalten zu können glaubte, als er nicht mehr zu erhalten war. Wohl hat er anscheinend falsch gerechnet, wenn er möglich hielt, sich mit Frankreich und England verhalten zu können, wenn er meinte, durch England die Action Rußlands lind mit dieser auch die Action Oesterreichs zurückzuhalten. Das Gewicht Englands iil Petersburg hat er — hierüber durch England selbst viel länger als billig getäuscht — ü b e r s c h ä t z t , den selbstständigen Kriegseifer, die eigenen Machtmittel Rußlands hat er unterschätzt. Daß ihn der Vertrag vom 16. Januar gegen Frankreich stellen werde, war ihm von vorn herein klar — aber auch hier täuschte ihn die Voraussetzung, daß F r a n k r e i c h sein fundamentales Staatsinteresse wenig stens niemals s o w e i t verkennen könne, mit seiner gesammten Streitmacht für die Vernichtung Preußens, d. h. für Oesterreichs Herrschaft über Deutschland einzutreten. Diese Rechnungsfehler hat Friedrich sich selbst vorgeworfen. Aber in der gegebenen Lage war nicht anders zu rechnen als er gerechnet hat, war ein besserer Entschluß nicht zu fassen als der, den er faßte. Die sichere Empfindung der Ausschlag gebenden Kräfte hat ihn richtig geleitet und seine Entscheidung hoch über den falschen Ansatz secundärer Factoren hinausgehoben. Von dem Augenblick seiner Thronbesteigung an hatte er in seinem Herzen der Allianz mit England den Vorzug vor der mit Frankreich gegeben. Er hatte sie nicht haben können. Indem er jetzt die nationale Richtung ergriff, in der ihm Englands hannoversches

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Interesse begegnete, trat er in die Solidarität der p r o t e s t a n t i schen. der g e r m a n i s c h e n Tendenzen, verwandelte er die V e r t h e i d i g u n g P r e u ß e n s in die Vertheidigung D e u t s c h l a n d s . I n diesem Kampfe gegen das Ausland, gegen das deutsche Reich selbst, hat er das deutsche Selbstgefühl geweckt, hat er seinem Staate den forthin unveräußerlichen nationalen Charakter gegeben, ihm den Stempel seiner Zukunft aufgeprägt, und ihn durch sieben blutige Jahre der Mission geweiht, die Kaiser Wilhelm in unseren Tagen glorreich vollendete.

III.

Dreußen und E n g l a n d im siebmMrrgen Kriege^.

Wäre die wohlvorbereitete Coalition zwischen Frankreich, Oesterreich und Italien im Sommer des Jahres 1870 Thatsache geworden, sie hätte ein anderes Preußen und Deutschland sich gegenüber gefunden als das Bündniß Oesterreichs, Frankreichs und Rußlands in den Jahren 1756 und 1757. Der Untergang des damaligen Preußens schien mit der Bildung dieser Coalition entschieden. Wie konnten die knappen Mittel dieses S t a a t s , dessen Anßenlande in Ost nnd West zudem nicht vertheidigungsfähig waren, dessen Kern auf 2090 Geviertmeilen nicht eine halbe Million waffenfähiger Männer zählte, den drei Großmächten des Festlandes die Wage halten? Auch mir Eine der verbündeten Mächte zum Frieden zu zwingen, reichten diese Kräfte nicht aus; und was konnte den nächsten Gegner, Oesterreich, bestimmen Frieden zu schließen, mochten seine Armeen noch so oft geschlagen werden, so lange Frankreich und Rußland ihm ihre Streitkräfte zur Verfügung stellten. Auch die überlegenste Feldherrnkuust, die ausdauerndste Tapferkeit der Truppen, das beständigste Kriegsglück — welches Friedrich keineswegs zu Theil wurde — konnten, so schien es, den Widerstand nur verlängern, i) Aus dem 55. Bande (1885) der Preußischen Jahrbücher.

Preußen und England im siebenjährigen Kriege.

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das Unterliegen höchstens aufhalten, das durch die Erschöpfung der Staatskraft etwas früher oder später herbeigeführt werden mußte. Das Gegentheil erfolgte. Frankreich, Rußland und Oesterreich waren früher erschöpft als Preußen. Der Mann, welcher das Bündniß Frankreichs init Oesterreich abgeschlossen, Graf Bernis, fand schon am Schlüsse des zweiten Feldzuges, daß die Anstrengungen des nunmehrigen See- und Landkrieges die Kräfte Frankreichs überstiegen. Aber König Ludwig erklärte: „daß er den letzten Heller und den letzten Mann daran setze, den Krieg auf das Aeußerste fortzuführen"'). Auch die russischen Minister wurden im nächsten Herbst (1759) bedenklich, obwohl ihre Kaiserin den Grafen Esterhazy angewiesen, der Kaiserin Königin zu melden: sie werde ihren letzten Rubel und ihren letzten Mann opfern, die vollständige Vernichtung (1'g.ii6anti88eiiiollt total) des Königs von Preußen zu erreichen^). I m Laufe von zwei Jahren waren über 100,000 Rekruten ansgehoben, 60 Millionen Rubel aufgewandt worden^). Und wiederum ein Jahr später (am 30. December 1760) setzte Graf Kaunitz seiner Kaiserin auseinander: „Frankreichs Hülfsquellen seien zweifellos erschöpft, aber auch die Finanzen Oesterreichs. Für den bevorstehenden Feldzug (1761) hoffe man allerdings noch Rath schaffen zu können, für eine spätere Zukunft aber werde solches nicht mehr der Fall und dann der Zeitpunkt erschienen sein, in welchem man sich dem Gesetze des Feindes unterwerfen müsse. Denn nach der Meinung der Generalität dürfe man sich nicht schmeicheln, im künftigen Feldzuge größere Vortheile als in dein vergangenen zu erreicheil und entscheidende Erfolge zu erringen, so daß alle Kosten und Gefahren vergeblich sein würden^)." Daun selbst erklärte dann (15. Februar 1761), das Commando nur unter der Bedingung weiter zu führen, daß ihm nicht zugeinuthet werde, Eroberungen zu machen, und Erz1) Starhembergs Bericht, Paris, 11. October 17S8. 2) Choiseuls Bericht, Wien, 3. Oktober 68. 2) Am 13. Sept. S7, S. Nov. S8, 18. Sept. S9. Esterhazy's Berichte Petersburg, September, October 59, J a n u a r 6V. Arneth, Maria Theresia und der 7jährige Krieg 2, 208 ff.

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Preußen und England im siebenjährigen Kriege.

Herzog Joseph schrieb seiner Mutter: „Wenn wir den König von Preußen, wie es den Anschein hat, nicht zwingen können, Sachsen aufzugeben, da 500,000 Man» seit fünf Jahren vergeblich daran arbeiten, auf welchen Frieden dürfen wir hoffen? Der vortheilhafteste wird ohne Zweifel der sein, der ihn in den Grenzen hält, die er vor diesem Kriege inne hatte. Wer wird uns in Zukunft vor den Insulten dieses ebenso furchtbaren als unversöhnlichen Feindes schützen? Vordem war man von der Ueberlegenheit der heute verbundenen Mächte, Frankreichs, Rußlands, Schwedens, des Reiches, Oesterreichs, so überzeugt, daß sie nur zu drohen hätten, ohne das Schwert zu ziehen, um sich Genugthuung von ihren Nachbarn zu verschaffen. Heute hat der König von Prenßen ganz Europa gezeigt, worau er selbst nicht geglaubt hat, daß er nicht nur im Stande ist, ihrer vereinigten Kraft zu widerstehen, sondern sogar sie zu zwingen, einen nachtheiligen Frieden zu suchen! S o sind wir denn von dein Gutdünken des Königs von Preußen und der Türken abhängig. Was könnten wir z. B. thun, wenn wir diese im Juni in Buda hätten (3. April 1761)?"') Man hatte in Wien zu besorgen, daß es Friedrichs ausdauernden Bemühungen gelinge, die Pforte in Bewegung zu bringen. I m Herbste 1761 zwang die trotz der starken Subsidien Frankreichs wachsende Finanznoth — Oesterreich hat 130 Millionen Livres Beihülfe zum Kriege von Frankreich bezogen — die Armee um 20,000 Mann zu reducireu. S o ist es geschehen, daß nachdem zuerst England Preußen, darnach Rußland Oesterreich verlassen hatte, Oesterreich die Friedensunterhandlung durch den sächsischen Hof beantragte, daß Friedrich in der Lage war, auf den Stand vor dem Kriege Frieden zu schließen. Das Problem dieses Ausgangs zu erklären, sind wunderliche Behauptungen aufgestellt worden. I n seiner Geschichte des siebenjährigen Krieges hat Stuhr die Meinung verfochten: Frankreich und Nußland hätten gar nicht die Absicht gehabt, Friedrich ernsthaft zu schädigen, „ein Geheimniß, das nicht ausgesprochen werden durste, ') Arneth, Maria Theresia und Joseph I, 2, 3.

Preußen und England im siebenjährigen Kriege.

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so lange Ludwig XV. und Friedrich II. lebten". Diese Auffassung wird durch die schon dainals bekannten, ja die von Stuhr selbst mitgetheilten Documente alisreichend widerlegt. Arneth sieht den wesentlichen Grund, der Preußen zu solchem Widerstande befähigt, in der Mittheilung der russisch-österreichischen Operationspläne an König Friedrich durch den Großfürsten Peter oder dessen Secretär Wolkow. Emphatisch ruft Arneth aus; „das gräßliche Schicksal, das Zar Peter III. bald nach seiner Thronbesteigung erreichte, war nichts als die verdiente Strafe für dessen früher begangenen Vaterlandsverrath')." Arneths Beweis besteht in einer von Hörensagen dem Gesandten Oesterreichs in Petersburg, Mercy, bekannt gewordenen Aeußerung Peters. I n der That hat Friedrich II. weder vom Großfürsten noch von Katharina während der Dauer des Krieges, iveder direct noch indirect, weder von Wolkow noch von sonst Jemand vertrauliche Mittheilungen irgend welcher Art aus Petersburg empfangen. Alles was der König an intimen Nachrichten von dort erhielt, besteht in wenigen Mittheilungen der Vertreter Englands, Williams' und Keiths, an Mitchell, wenig erheblichen Inhalts. Sie betreffen Aeußerungen des Großfürsten und der Großfürstin aus dein December 56 und Januar 57, die entschiedene Mißbilligung der Kriegspolitik gegen Preußen bekunden, und den Sturz Bestuchews; den Schluß bildet eine Anzeige Keiths vom 3. März 61, daß die Dispositionen des Hofes nichts weniger als friedlich seien, der Feldzug mit der Belagerung Kolbergs eröffnet werden würde. Verrath gegen Rußland ist von russischer Seite allein durch General Tottleben in dem Feldzuge des Jahres 1761 begangen worden, den dieser damit motivirte, daß ihm die wiederholt erbetene Entlassung verweigert worden sei. Ueber das, was ihin von den Absichten der russischen Heeresleitung bekannt war, hat er dem Könige vier oder fünf Mittheilungen zugehen lassen. Auf den Gang dieses Feldzuges eingreifende Wirkung zu üben, waren dieselben um so weniger allsreichend, als ihnen der König nicht vollständig traute. Eine dritte i) Arneth, Maria Theresia und der 7jährige Krieg 2, 235. 464.

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Ansicht behauptet: der Beistand Englands sei es gewesen, der den König in den Stand gesetzt habe, der großen Coalition zu widerstehen. Die Bedeutung und den Werth dieses Bündnisses, seinen sehr besonderen Charakter, der meist vollständig übersehen wird, zu präcisiren und festzustellen, versuchen die folgenden Beinerkungen. Ich schicke voraus, daß die preußisch-englische Allianz von 1756 verschiedene Phasen durchlaufen, daß sie sich aufsteigend und absinkend entwickelt hat. Nach sehr schwachen, unsicheren, ja sogar höchst hemmenden Ansängen hat sie eine Periode wirksamer Kraft besessen, um schließlich in Gegnerschaft umzuschlagen. Auch in der Periode ihrer Blüthe und Wirksamkeit hat sie Friedrich den Dienst nicht geleistet, auf den es ihm vornehmlich ankam, auch in der Periode ihrer Kraftentfaltung ist der Verbündete Preußens nur der Feind des Einen der Feinde Preußens, d. h. Frankreichs, nicht auch der Feind Rußlands und Oesterreichs gewesen. England beharrte im Frieden mit Oesterreich und Rußland. Aengstlich bemüht, sich diesen hier wie dort zu wahren, ist ihm dies trotz des Bündnisses mit Preußen gelungen. I m Januar 1756 hatte Friedrich zu Westminster mit England abgeschlossen. Seine vornehmste Absicht war, dadurch den Frieden zu bewahren, zu verhindern, daß die von England im September 1755 gegen ihn gemietheten 80,000 Russen nicht in Action gegen Preußen träten. Die Wendung des Königs zu England entschied nicht nur deu Entschluß Frankreichs, dem Angriffskriege gegen Preußen beizutreten, sondern führte auch zu dem sonderbaren Ergebniß, daß gegen Kurbrandenburg, weil es sich mit England verbunden, allen fremden Truppen die Ueberschreituug der deutscheu Grenzen mit vereinigten Kräften zu wehren, von Kaisers- und Reichswegen Erecution beschlossen und in's Werk gesetzt wurdeI n Kenntniß des Vertrags von Versailles beeilte sich Friedrich, seinem Verbündeten jenseits des Canales deutlich zu machen: das alte politische System Europa's sei gefallen: es handle sich darum, ein neues System des Gleichgewichtes aufzurichten. „Dem nenen

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Triumvirate" — das war sein Lieblingsausdruck für die Allianz Frankreichs, Oesterreichs und Rußlands — muß eine Koalition entgegengestellt werden; der Gewalt dieser Dictatur gegenüber müssen nachhaltige Kräfte zur Vertheidigung gesammelt werden. „Die Generalstaaten, Eure alten und treuen Genossen, so sagt er den Ministern Englands, müssen unsere vereinten Bemühungen für die Gegencoalition gewinnen. Der Uebergang Oesterreichs zu Frankreich hat ihnen die Barriere, ihren Schutz gegen Frankreich entzogen — sie gehören uns, wenn wir ihnen diesen Schutz gewähren. Das Bttndniß der katholischen Großmächte bedroht überall den Protestantismus, die deutschen Fürsten sind in ihrer Libertät gefährdet und somit der Gegencoalition geneigt. Aus ihre» Truppen, mit denen der Holländer, kann eine Armee von 80,000 Mann gebildet werden, welche die vereinigten Niederlande, welche Norddeutschland und Hannover gegen Frankreich deckt: sie wird nicht theurer zu stehen kommen als die 80,000 Russen, die I h r gegen mich gemiethet. Sardinien ist Euch verpflichtet, die Allianz Oesterreichs und Frankreichs bedroht Sardinien. Bringt Karl Emannel auch nur zu Rüstungen, so ist Oesterreich nicht im Stande, seine Truppen aus Mailand, Frankreich nicht, die seinigen aus der Provence und der Dauphins zu ziehen. Noch stärker bedroht die Allianz der Kaiserhöfe von Wien und Petersburg die Pforte, eine Bedrohung, die durch den Uebertritt ihres alten Bundesgenossen, Frankreichs, zu den Kaiserhöfen zu ernster Gefahr gesteigert wird. Den Divan zum Entschluß zu bringen, wird mein Agent in Constantinopel nicht ausreichen ; aber Euer Gesandter macht Regen und Sonnenschein am Bosporus." S o gedachte Friedrich, der Coalition der drei Großmächte nicht nur Preußen und England sondern auch die norddeutschen Fürsten, Dänemark, die vereinigten Niederlande, Sardinien und die Pforte verbündet entgegenzustellen. Himmelweit war man in England von solchen Gedanken entfernt. Die Nöthigung, Schutz für Hannover gegen Frankreich, den Oesterreich versagte, zu gewinnen, hatte Englands Wendung zu T u n c k e r , Abhandl. a. d. n. Gesch.

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Preußen herbeigeführt. Der gesuchte Schutz war mit dem Westminstervertrage erlangt. Hierüber hinauszugehen war man nicht gemeint. Wie oft und wie ernst Friedrich den Lenkern Englands zurufen mochte: „Hütet Euch, dem Schatten des alten Systemes nachzulaufen, I h r werdet nur Wolken umarmeil!" — man klammerte sich in London krampfhaft an den Gedanken, daß es trotz Allem gelingen werde, Rußland zurückzuhalten, von Oesterreich loszureißen; und als man selbst nicht mehr daran glauben konnte, gab man sich Friedrich gegenüber wenigstens den Schein, daran zu glauben. Wohl gelang es englischem und preußischem Golde, Bestuchew zu gewinnen: nur sein Sturz ward damit erreicht, nur um so fester und nachdrücklicher hielt die Kaiserin Elisabeth, hielten die Schuivalows und Woronzow den Gedanken fest, den England ihnen eingeprägt: „Peter habe Schweden vergebens niedergeworfen, Rußland werde eine asiatische Macht bleiben, wenn es eine neue Macht an seinen Grenzen entstehen lasse, die ihm den Weg nach Westen sperre und seinen Einfluß in Polen paralysire." Der Krieg gegen Frankreich ging nicht glücklich für England weder in Nordamerika, noch in Ostindien, noch im Mittelmeer. Man fürchtete im Sommer 1756 eine Landung der Franzosen in England, man zog die hannöverschen und die hessischen Truppeil hinüber; iin Mittelmeer ging Minorka verloren, in Amerika die Forts Oswego und Ontario, in Ostindien Ealcutta und Fort William. Statt mit Preußen an der Bildung einer Gegencoalition zu arbeiten, während Frankreich Kurköln, Kurpfalz, Baiern und Württemberg, Mecklenburg und Schweden in Sold nahm, haderte man mit den Generalstaaten über das Recht der neutralen Flagge, hütete man sich höchlichst, die Pforte gegen die beiden Kaiserhöfe zu treiben. Weder mit Rußland noch mit Oesterreich wollte man sich überwerfen, vielmehr sollte Rußland immer noch gewonnen werden, sollte der Wiener Hof einen großen Dienst leisten. S o that England das Gegentheil alles dessen, wozu der König rieth und bot zugleich Alles auf, Friedrich abzuhalten, seinen Gegnern zuvorzukommen, bevor er von der vereinten Macht aller seiner Gegner getroffen würde.

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Die Rücksicht auf England, welche Friedrich seinen Einmarsch in Sachsen um zwei Monate verzögern ließ'), brachte ihn um die wesentlichste Frucht seines ersten Feldzuges. Diese Zögerung gab dem Könige von Polen Zeit, seine Truppen in dem festen Lager von Pirna zusammenzuziehen; ihr zäher Widerstand bis zum Spätherbst 1756 hinderte den König, Oesterreich noch in diesem Jahre ernstlich zu schädigen. Während Friedrich bei Lowositz focht (October 1756), unternahm König Georg, Hannover eine andere Deckung zu geben als durch die Waffen. Bei dem Gegner des verbündeten Preußens, bei Oesterreich, hoffte er aus der Zeit des vormaligen Bündnisses noch so viel Geneigtheit zu finden, um durch Oesterreichs Verwendung Frankreich zu bewegen, Hannover aus dem Spiele zu lassen, „während der in Deutschland entstandenen Kriegsunruhen" Kurbraunschweig Neutralität zu gewähren. Wie vertrug sich das mit dem Vertrage von Westminster, der England verpflichtete, den Franzosen den Eintritt nicht nur in Hannover, sondern auch in Preußen, in die deutschen Grenzen mit den Waffen zu wehren? Man hatte Friedrich bestimmt, Frankreich den Weg nach Hannover zu verlegen und dadurch mit Frankreich zu brechen, man hatte ihm dadurch den Angriff der Franzosen zugezogen, und beschloß nun trotzdem, uicht nur ihn im Stich zu lassen, sondern ihm damit auch die übrigen norddeutschen Fürsten zu entziehen! Wohl war der Vertrag eben Hannovers wegen geschloffen, wohl war er im Namen des Königs von England, Kurfürsten von Braunschweig-Lüneburg geschlossen — aber nur die englischen Minister hatten gezeichnet, und wenn die Unterscheidung zweckdienlich war, warum sollte man sie nicht machen ? Freilich hielt man für gut, in Berlin nichts davon zu sagen. Kaunitz war außerordentlich erfreut : das Zugeständniß der Neutralität Hannovers hätte Preußens Bündniß mit England zerrissen; damit wurde Preußen vollständig isolirt; die norddeutschen Fürsten folgten zweifellos dem Vorgang Hannovers. Demgemäß eröffnete Kaunitz i) Der König an Mitchell 19. August 1756.

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König Georg die besten Aussichten. Nur erwies es sich schwierig, Frankreich auf diesen Standpunkt hinüberzuführen. Zum Verzicht darauf, England in Hannover zu treffen, war selbst die Regierung Ludwigs XV. nicht zu bringen. Die Vereinbarung, welche Kaunitz nach langen Verhandlungen in Paris im Februar 1757 im Namen Oesterreichs nnd Frankreichs König Georg II. vorlegen konnte, enthielt doch nicht viel weniger als die vollständige Auslieferung Hannovers an Frankreich. Selbstverständlich waren, während diese Verhandlungen schwebten, Friedrichs Vorschläge: der in Regensburg am 17. Januar 1757 erfolgte«, Annahme des Antrages Oesterreichs auf Reichsexecution gegen Kurbrandenburg, die Abberufung der Minderheit und deren Zusammentritt zu einem Gegenbunde folgen zu lassen; ferner, auf die zu erwartende Erklärung der Reichsacht gegen Preußen mit weiter greifenden Maßnahmen zu antworten, in London abgelehnt worden (Januar-Februar 1757). Hannover den Franzosen auf die Bedingungen jener Vereinbarung zu überantworten, konnte sich König Georg doch nicht entschließen. Schweren Herzens und äußerst langsam, wie oft Friedrich auch mahnte, daß auf diese Weise wie Minorka auch Hannover verloren gehen würde'), machte König Georg im Frühjahr 1757 Anstalt, eine „Observations-Armee" zum Schutze Hannovers aufzustellen. S i e war nicht sehr ernsthaft gemeint, der wesentliche Zweck war demonstrativer Art: sie sollte für bessere Bedingungen der Neutralität in die Wagschale fallen. Friedrichs Rath, diese Armee eine Flankenstellung zwischen Wesel und Lippstadt nehmen zu lassen, den Franzosen am Rhein zuvorzukommen, Kurköln seine Parteinahme für Frankreich zu vergelten^), wurde selbstverständlich nicht befolgt, dagegen erhielt der Befehlshaber, der Herzog von Cnmberland, der vierte Sohn des Königs, weitgehende Vollmachten für eine Vereinbarung mit den Führern der französischen Armee. General Schmettau, welchen Friedrich zur Beschleunigung der Rüstungen Hannovers '1 Friedrich an Mitchell 10. Januar, 27. Januar S7. 2) Friedrich an Mitchell, Dresden, 13. Februar 67.

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dorthin sandte, konnte dein Könige nur berichten: sie würden lässig und langsam betrieben, nm einen Vorwand zu haben, sich zur Neutralität zwingen zu lassen'). Friedrich erkannte, daß es nicht auf erichhafte Kriegführung abgesehen sei; er ries seine Truppen zurück, sie nicht in nutzloses Verderben zu verwickeln. Die Nachrichten aus Amerika blieben ungünstig. Schon im Frühjahr meinte der Herzog von Newcastle: es werde nichts übrig bleiben, als sich die Friedensbedingungen von Frankreich dictiren zu lassen. Nun kam die Kunde von Kollin; Friedrich galt in London für verloren. Der Herzog von Cnmberland, welcher den Feind hinter der Weser erwartete, behielt in dem Treffen bei Hastenbeck die Oberhand (26. Juli) — trotzdem ging er zurück, aber nicht auf Hannover, Braunschweig und Magdeburg, wie er mußte, wenn er wirklich fechten wollte, sondern nach Stade, um seine Armee aus dein Spiele zu bringen und den Franzosen den Weg an die Elbe zu öffnen. Er erhielt den Besehl, seines Vaters auf jede Bedingung mit dem Herzog von Richelieu abzuschließen. Cumberlands Agent, der nach Wien eilte, um Kaunitz' geneigte Intervention bei dem Herzog von Richelieu zu Guusteu des diesem angetragenen Waffenstillstandes zu erflehen, wurde in Berlin angehalten; das hannoversche Ministerium erklärte dann hier: Der Kurfürst sei im Begriff, einen Separatfrieden einzugehe», um das Kurfürstenthum zu retten; Hannover stehe nicht in Allianz mit Preußen. S o eilfertig war man, das sinkende Schiff zu verlassei,. Aber nicht allein Knrbraunschweig gab Hannover und Preußen, auch England gab nicht nur Friedrich, es gab auch seine eigene Sache verloren. Noch bevor die Kunde vom Falle des Fort William Henry, der letzten Position Englands am Georgsee (9. August) eingetroffen, kamen die Minister wie der geheime Rath zu der Ueberzeugung, daß man Frankreich um Frieden bitten, sich denselben vorschreiben lassen müsset, wenn es nicht gelinge, die Unterstützung der 1) König Friedrich an König Georg, Dresden, 11. März 57. 2) Lord Chesterfield an Mr. Dayrolles: I k e kivK of ?iu88ia 18 no>v, I fear, kors äe eomdat, Hannover in tde saine Situation vvitk Aaxon^, tke

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spanischen Flotte, Spanien für England zu gewinnen. Man sah wohl, daß Spanien nicht wohlfeilen Kaufs zu haben sein werde: nicht nur allen Beschwerden Spaniens wegen der Hondurasbai und der Mosquitoküste solle willfahrt werden — England bot die Rückstellung Gibraltars als Preis des Bündnisses. I n der Weisung, durch welche Pitt dein Vertreter Englands in Madrid S i r Benjamin Keene diesen „einstimmig gefaßten Beschluß" mittheilt, befiehlt er ihm, das große Angebot dringlichst geltend zu machen, schildert er ihm die Lage, in der sich England „in der gegenwärtigen heftigen und gefährlichen Krisis" befinde: „das System Europa's ist über den Hausen geworfen, Niedersachsen in den Händen Frankreichs, das deutsche Reich besteht nicht mehr, die Häfen der Niederlande sind verrathen (Frankreich hatte mit Zustimmung Oesterreichs Ostende und Nieuport besetzt), der Barriere Tractat ist ein leerer Schall, Minorka und damit das Mittelmeer ist verloren, Amerika steht auf dein Spiele"^). Das traurige Bild der erlittenen Unfälle und des Unheils, das weiter in Aussicht stehe, näher auszuführen, sei nicht erforderlich. Es handle sich darum, ob Mittel gefunden werden könnten, der grausamen Nothwendigkeit zu entgehen, sich den: Gesetz des Siegers zu unterwerfeil (23. Aug.). Kaum minder nachdrücklich betonte Pitt die bedrängte Lage Englands im Unterhaus?: „Alle Strom- und Seegebiete Amerika's sind verloreil. Wir habeil kein Boot mehr aus diesen Gewässern, jedes Thor steht Frankreich offen. " I n Madrid wurde Gibraltar angeboten, in Wien bat König Georg demüthig um Frieden für seine deutschen Lande: „er sei bereit, die Observations-Armee aufzulösen, und hege die Hoffnung, daß sich die Kaiserin Maria Theresia der früher empfangenen Wohlthaten ihres ältesten und besten Freundes erinnern werde". Dem König Friedrich schrieb er am 16. August: „Der Feind ist Herr des größten Theiles meiner Staaten. Von Ew. Majestät habe ich are Meters w äc> tlie)' please in America. VVe aie no lon^er a nativn. I never so äreaciiul a prospeet. i) Okatkam ^orre8p. 1. 248 8 ^ . Mitchells Berichte von: 16. August und 23. September 57.

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keine Hülfe zu hoffen und bin außer Stande, solche zu gewähren; Ew. Majestät wird selbst urtheilen, daß mir nichts übrig bleibt, als zu versuchen, wenn es noch Zeit ist, meine treuen Verbündeten (Braunschweig und Hessen-Kassel) und meine armen Unterthanen aus der schrecklichen Knechtschaft und Unterdrückung zu befreien, in welcher sie sich durch die ungerechte Wuth Frankreichs und die unwürdige Undankbarkeit des Hauses Oesterreich befinden." Friedrich antwortete! „Ich habe Cleve und die Mark, Ostfriesland und Minden verloren, ich habe immer erklärt, daß ich beträchtliche Hülfe zu leisten außer Stande wäre, wenn die Invasion der Russen nicht zu hindern sei. Ich habe Unfälle erfahren, aber ich werde mich nie überzeugen, daß es ein Grund ist, seinen Alliirten zu verlassen, weil er Unglück hatte" (Lager bei Dresden 30. Aug.). Wenige Tage darauf wurde die Convention zur Sistirung der Feindseligkeiten zwischen Hannover und Frankreich zu Kloster Zeven von den Herzogen von Cumberlaud und Richelieu gezeichnet (8. September). König Georg zeigte deren Abschluß dem Könige an. „Nicht Mangel au Theilnahme an der Lage eines Verbündeten, welcher im Unglück ist, hat mich den Entschluß fassen lassen, zu welchem ich mich gezwungen sehe. Außer Stande, als Kurfürst Ew. Majestät Hülfe zu leisten, kann Ihnen meine vollständige Vernichtung keinerlei Vortheil bringen. Dagegen kann Ew. Majestät versichert sein, daß man von Seiten Englands alles, was menschenmöglich ist, thun wird, Sie aufrecht zu halten und zu unterstützen." (20. Sept.) Graf Holdernefse hatte eben dem Könige Subsidien geboten, die er mehrfach bereits im Juni 1756 zurückgewiesen. Die Schlacht von Roßbach brachte eine heilsame Wendung. England erstaunte, daß der König trotz Kollin, trotz Jägerndorf, trotz der österreichischen Armee vor Breslau, nicht verloren sei. Die Convention von Kloster Zeven verfügte nicht nur die Auflösung der Observations-Armee, sondern ließ Frankreich auch im Besitz der occupirten Gebiete „bis zur definitiven Aussöhnung beider Souveraine". Die französische Armee fuhr demnach fort, ihre Verpflegung aus Hannover zu ziehen und trieb zugleich eine Contri-

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bution von 5 Millionen Livres (ebenso viel war den westlichen Landschafteil Preußens auferlegt worden) ein. König Georg mußte sich überzeugen, daß selbst die Auslieferung seiner hannoverschen Lande an die Franzosen sie vor der härtesten Auspressung durch den Gegner nicht schütze. Aus Ostindien kam gute Kunde, Oberst Clive, „dieser vom Himmel gefallene General", wie Pitt ihn nennt, hatte nicht nur Calcutta wiedergewonnen, er hatte den Franzosen Tschandranagara entrissen und in den Tagen der Schlacht von Kollin (am 20. Juni) deren Bundesgenossen, den Nabob von Bengalen, Seradsch-i-Daula, bei Palasi aufs Haupt geschlagen. Man faßte Muth in England. König Georg zerriß die Convention von Kloster Zeveu, nachdem Friedrich sich unter dem 16. October bereit erklärt hatte, Lehwaldts Corps im Winter zur Befreiung Hannovers vorrücken zu lassen'), und erbat von Friedrich einen Führer für die bei Stade an die Elbe gedrängten Reste der hannöversch-braunschweigisch-hessischen Armee. Erst von diesem Augenblicke an, zwei Jahre nach ihrem Abschlüsse, vom December 1757 ab, ist die englische Allianz für Preußen wirksam geworden. Wie stark sich Pitt vordem dem Eintreten Englands für die Interessen Hannovers widersetzt hatte, jetzt, nachdem Spanien das Angebot Gibraltars stolz zurückgewiesen, erkannte er, daß Frankreichs Kräfte von der See und von Amerika durch den deutschen Krieg abgezogen werden müßten; er sah des Weiteren, daß diese Ablenkung zum Siege jenseit des atlantischen Meeres führen könne, daß auch für diesen Fall Hannover behauptet werden müsse, damit nicht wiederum Eroberungen jenseit des Meeres zurückgegeben werden müßteil, um Hannover wiederzuerlangen, wie Belgiens Herausgabe von Frankreich im Aachener Frieden durch solche Rückstellungen erkauft worden war. Es ist P i t t s Verdieilst, diese Gesichtspunkte im Winter 1757/58 scharf erfaßt und fest gehalten zu haben, sein Verdienst, durch seinen starken Willen und seine

') Friedrich an Georg, Leipzig, 16. October 1757.

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wuchtige Art den Streitkräften Englands ihnen zuvor unbekannte Impulse gegebeil zu haben. Eine weitere Convention (11. April 1758) regelte das Verhältniß Preußens und Englands im wesentlichen dahin, daß Friede und Waffenstillstand ohne gegenseitiges Einverständniß und ausdrückliche Einbeziehung des anderen Theiles nicht geschlossen werden dürften. Der König von England verpflichtete sich, dem Könige von Preußen die Summe von vier Millionen Thalern auf dessen Requisition zahlen zu lassen. Weiter sagte der König von England, aber nicht in Vertragsform sondern mittels Declaration zu, in Deutschland eine Armee von 50,000 Mann auf Kosten Großbritanniens zu unterhalten, welche er als Kurfürst mit 5000 Mann verstärken würde ^). Außerdem werde England eine Erklärung erlassen, welche Europa überzeugen werde, daß Prenßen und England dieselben Freunde und Feinde hätten. Wer wollte die Dienste verkennen oder unterschätzen, die dem Vertheidigungskriege Friedrichs jene nunmehr active Armee geleistet, der Friedrich nur eineu der Aufgabe gewachseneil Führer geben, die er nur durch wenige tausend Mann verstärken konnte, und von Zeit zu Zeit durch Demonstrationeil und Streifzüge seines rechten Flügels von Sachsen nach Thüringen hin zu unterstützen im Stande war. Aber die beim Vertrage zugesagte Erklärung, welche Europa überzeugeu sollte, daß England und Preußen gemeinsame Freunde und Feinde hätten, ist niemals erfolgt; England hat vielmehr seinen Frieden mit Oesterreich wie mit Rußland strikte aufrecht erhalten und jede Maßnahme vermieden, die in Petersburg oder in Wien übel empfunden werden konnte. Zwar mußte der Vertreter Englands aus Wien abberufen werden, nachdem Kaunitz auf wiederholtes Drängen Frankreichs seine Gesandten aus London abgerufen; jedem weiteren Schritte gegen Oesterreich hat sich England auch unter Pitts unumschränkter Leitung sorgsam versagt. Als Prinz Ferdinand im Frühjahr 1758 in glücklichem Anlaufe die französische Der bei Koch, Reoueil ckes traites 2, 29, mit dem Datum vom 11. J a nuar 1758 gedruckte Vertrag ist nie geschlossen worden.

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Armee des Niederrheins über den Rhein zurückgeworfen und den Grafen Clermont bei Crefeld geschlagen (23. Juni), lag Belgien offen vor ihm. Nicht mehr als fünf Bataillone österreichischer Truppen waren hier zurückgelassen worden. Die Occupation Belgiens bot in der Scheldemündung eine kürzere und ungleich wirksamere Verbindung mit England als die bisherige über Emden, verlegte den Krieg definitiv jenseits des Rheines, sicherte durch den damit erwachsenden Schutz Holland gegen Frankreich und führte auf diesem Wege die Generalstaaten in das preußisch-englische Bündniß. S o stark König Friedrich darauf drang, so großen Werth er auf diese Besetzung legte, welche das Band zwischen Oesterreich und Frankreich lösen, den Preis, um den Frankreich erkauft sei, hinfällig machen würde (26. März 58), Ferdinand erhielt von London die Weisung, sich jedes Acts von Feindseligkeit gegen österreichisches Gebiet zu enthalten; England befinde sich nicht im Kriege mit Oesterreich. Auch zu einer Verstärkung der niederdeutschen Armee, welche König Friedrich seit dem December 1757 unaufhörlich befürwortet hatte, welche Ferdinand begehrte um sich jenseit des Rheins behaupten zu können, entschloß sich Pitt erst nach längerem Bedenken. Endlich sandte er 4000 Mann nach Emden: „Wären sie vierzehn Tage früher gekommen", schreibt Ferdinand, „so hätte ich nicht nöthig gehabt, über den Rhein zurückzugehen." I m Frühjahr 1759 war es den Bemühungen des Agenten Friedrichs zu Constantinopel, des Herrn von Rexin, gelungen, die Pforte zur Erklärung ihrer Bereitschaft zum Bündniß mit Preußen zu bringen; der Großvezier stellte die Bedingung, England müsse der dritte im Bunde sein. Friedrich legte in den stärksten Ausdrücken die Nothwendigkeit dieser Diversion dar: daß er bislang habe widerstehen können, sei ein Wunder; sei England nicht in der Lage, in diesem Jahre den Frieden herbeizuführen, so sei die osmanische Allianz unerläßlich. Pitt lehnte dennoch ab: die englische Nation würde ein Bündniß mit der Pforte mißbilligen, die katholischen Höfe von Spanien und Neapel Anstoß daran nehmen. Friedrich erwiderte, Englands Antheil an dem Bündnisse könne ge-

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heun bleibeil und, falls das Geheimniß nicht bewahrt würde, dem dortigen Gesandten Überschreitung seiner Vollmachten Schuld gegeben werden. Pitt wollte nicht weiter gehen, als der Pforte gegenüber die guten Dienste Englands in Aussicht zu stellen, „daß die Verpflichtungen, welche Preußen in dem mit der Pforte zu schließenden Vertrage übernehme, vollständig erfüllt werden würden ^). Das sei das Aeußerste was geschehen könne; nur gerechte Schätzung Friedrichs habe England so weit zu führen vermocht." Auch diese Zusage ist nicht erfüllt worden^). Rexin berichtet am 11. April 1760: „Seit Beginn der Verhandlung hat mich hier der Gesandte Englands mehr gehindert als die Gesandten Oesterreichs, Rußlands und Frankreichs. Er kreuzt mich auch heute und hält die Pforte zurück." Es handelte sich nur noch um einen Abschluß zwischen Preußen und der Psorte ohne England. S o hat England Preußen die gewichtigste Hülse nicht nur vorenthalten sondern auch vereitelt. Das Waffenglück im Seekriege hatte sich init dein Momente der festeren Einigung Englands init Preußen auf der Stelle zu Gunsten Englands gewendet. Cap Breton und Louisburg, die entscheidende Position zwischen Neufundland und Canada, Fort Duquesne, das heutige Pittsburg, Senegal und Gorea wurden den Franzosen 1758 entrissen; im folgenden Jahre die Forts an den Seen, Triconderoga, Erownpoint, Niagara; General Wolfe erstürmte die Abrahamshöhen über Quebec, die Stadt capitulirte am 18. September 1759. Canada war in den Händen Englands, in Westindien gingen Guadeloupe, S t . Barth6l6mi, Maria Galante Frankreich verloren, in Ostindien behaupteten die Engländer Madras gegen den Angriff Lally Tolendals, der Sieg bei Wandewasch trug ihnen den Besitz des Karnatik ein, und das große Unternehmen Choiseuls, welches alle diese Verluste ausgleichen sollte, die Landung in England, das Vorbild des napoleonischen Uebergangsversuchs, mißlang !) Mitchell an Holdernesse, 20. Mai und 24. Juni 1759. 168p. 1, 410. 2) Friedrich an Knyphausen: 25. Februar 1760.

Okatkam Oor-

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vollständig. Alle noch vorhandenen Kriegsschiffe Frankreichs sollteil zusammenstoßen, die Flotte von Toulon sollte sich mit der Flotte von Brest vereinigen, die englischen Geschwader wegfegen, eine Landarmee von 50,000 Mann nach England hinübersetzen, während eine zweite von 20,000 Mann nach Schottland übergeführt würde. Die Flotte von Toulon kam ebenso glücklich durch die Straße von Gibraltar wie Villeneuve im März des Jahres 1805. Aber in der Bucht von Lagos beim Cap S t . Vincent wurde sie von der den Hafen von Toulon beobachtenden englischen Flotte Boscawens ereilt und vernichtet. Die Flotte von Brest lief im November, als die Herbststürme die Flotte des Admiral Hawke von der Brester Rhede zurückgeworfen, aus, wurde aber in der Bucht von Quiberon von diesen: angegriffen und entscheidend geschlagen. Frankreich besaß, nachdem es ^7 Linienschiffe nnd AI Fregatten verloren, keine Flotte mehr, welche der englischen auf der See zn begegnen vermochte. „ I n Amerika", sagte Choisenl, „werden wir bald uur noch Domingo besitzen." Hätten die Leiter Frankreichs auch nur den dritten Theil der 130 Millionen Livres, welche Oesterreich theils als Subsidien, theils als Ersatz des stipnlirten Hülfscorps von 230,00 Mann gezahlt worden sind, oder den Halbscheid der mehr als 20 Millionen Livres, welche Schweden für seine Kriegsdienste gegen Preußen von Frankreich erhielt, mit dem Halbscheid der Summen, welche Knrcöln, Knrbaiern, Kurpfalz und Würtemberg für die Truppen erhielten, welche sie gegen Friedrich stellten, auf Frankreichs Flotte, hätten sie den zehnten Mann der 120,000, mit welchen Ludwig in den Jahren 1758 und 1759 in Deutschland käinpfte, für die Vertheidigung in Amerika und Ostindien verwendet — Canada, Westindien und Ostindien wären gegen die englischen Angriffe behauptet worden. „Seine Verluste jenseit des Meeres", sagt König Friedrich mit Recht, „verdankt Frankreich seiner Einmischung in den deutschen Krieg, der es nichts anging." Aber selbst die schmerzlichsten Erfahrungen belehrten die Männer, welche in jenen Tagen an der Spitze Frankreichs standen, nicht. Der Uebergang nach England war mißlungen, der Seekrieg unmöglich, nun

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sollteil Eroberungen in Deutschland England zur Rückstellung der gewonnenen Kolonien zwingen: die in Deutschland kämpfenden Armeen wurden auf 290 Bataillone und 200 Schwadronen, d. h. auf 150—160,000 Mann gebracht. Von vornherein hatte Friedrich als das wirksamste Mittel, Rußland von der Überschreitung der deutschen, der preußischen Grenzen abzuhalten, die Entsendung eines englischen Geschwaders in die Ostsee bezeichnet: er hatte hinzugefügt, daß er die der Flotte Englands andern Orts gestellteil großen Aufgaben nicht verkenne; aber für ihn sei die Möglichkeit, sich mit 20,000 Mann an der Vertheidigung des Rheins zu betheiligeu, von solcher Entsendung abhängig. Georg ertheilte positiv die Zusage; als aber dann Schweden der Coalition gegen Preußen beitrat, der Anmarsch der Russen gegen Ostpreußen erfolgte, war deren Erfüllung „zum Schutze der preußischen Küsten gegen Verheerungeil durch die feindlichen Galeeren" wiederholt nachgesucht worden: auch wenige Schiffe, selbst nur als Demoilstratiou, würden den Reichsrath Schwedens abhalten, die Armee nach Stralsund überzusetzen, die schwedische und russische Flotte von Plünderungen und der Blokade der preußischen Häfen zurückhaltenVersprechungen erfolgten, die nicht gehalten wurden. Endlich hatte man dann auf Friedrichs Instanz versucht, ob Worte an Stelle der That in Petersburg Wirkung haben möchten: „Falls die Kaiserin fortfahre, preußische Häfen zu blokiren und Truppen uach den preußischen Staaten zu beordern, werde sich König Georg in Folge seines Vertrages mit Preußen genöthigt sehen, den freien Handel im baltischen Meere durch eine Flotte zu decken (16. Juni 1757)." Rußland erwiderte, die Erscheinung englischer Kriegsschiffe in der Ostsee werde mit der Kriegserklärung Rußlands an England beantwortet werden. Bei Vereinbarung des Vertrages vom 11. April 1758 hatte der König die Aufnahme eines Artikels, der England verpflichte 6—8 Linienschiffe und einige Fregatten in die Ostsee zu senden, wiederum vergebens verlangt. Pitt erklärte, England müsse ') Friedrich an Mitchell 27. Januar, 1L. Februar, 21. Februar. 7. März, 31. März, 4. April, 19. April, 18. Mai, 11. Juni, 8. Juli, 16. Oktober -57.

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sich noch immer die Abseildung eines Geschwaders in die Ostsee versagen, ein kleines zu senden sei uuuütz und gefährlich, ein großes nicht zu entbehren. Nun erfolgte die über jede Hoffnung glückliche Wendung des Seekrieges für England; nach den Schlachten bei Lagos und Quiberon war auch ein großes Geschwader für die Ostsee verfügbar. Nach P i t t ' s eigenen Worten war gegen die Reste der französischen Seemacht fortan nur noch die Hälfte der englischen Flotte erforderlich. S o wurden preußischer Seits iin Frühjahr 1760 erneute Aufforderungen an England gerichtet, nunmehr den früher ertheilten Zusagen gemäß ein Geschwader in die Ostsee zu entsenden'). Von Wiederholung der Belagerung Colbergs wäre, falls diese Demonstration erfolgte, nicht inehr die Rede gewesen, und welche Folgen dadurch für die schwedische und russische Kriegführung eintreten mußten, liegt auf der flachen Hand. S o nachdrücklich Friedrich die Forderung stellen und betonen ließ, Pitt beharrte auch jetzt auf der entschiedensten Ablehnung: England werde sich dadurch in Feindschaft nicht nur mit Rußland sondern auch mit Dänemark und Schweden verwickeln, Schweden werde dem Andringen Frankreichs nachgeben und Landungen in Schottland unternehmen. Der wahre Grund war ein anderer. Wohl hatte Rußland bereits mit Schweden Verständigung getroffen (20. März 1759), fremde Kriegsschiffe von der Ostsee fern zu halten, und war bemüht, Dänemarks Beitritt zu erlangen, der in der That in diesem Frühjahr erfolgte (7. März 1760). Aber in dem vollen Zuge des Sieges, iil welchem England damals war, hatte es solche Verwickelungen nicht zu schenen; es hat sie in ungleich gefährdeterer Lage und völlig ifolirt (1801) sogar aufzusuchen nicht Anstand genommen. Pitt fürchtete, daß die Abfendung des Ostseegeschwaders der Krieg mit Rußland sein werde, er wagte nicht den für Englands Kaufleute gewinnreichen Ostseehandel, der damals eine noch größere Bedeutung hatte als heute, zu stören; Holdernesse hatte dem Könige schon im '> Friedrich an Änyphausen 22. März, II. und 14. April 1760.

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Juli 1757 erklärt: „Wir müssen den Krieg als Kaufleute führen, von dem Handel hängt unser Reichthum ab." Des guten Willens der Börse, der Handelsherren glaubte Pitt für seine Kriegsanleihen nicht entbehren zu können; auch Rückwirkungen auf Haltung und Zusammensetzung der Mehrheit des Unterhauses mochte er von Störung des Ostseehaiidels besorgen. Thatsache ist, daß er gerade damals in ganz entgegengesetzter Richtung in Petersburg beschäftigt war. Der zwischen Rußland und England im Jahre 1734 geschlossene Handelsvertrag lief 1760 ab. Man bemühte sich um die Verlängerung desselben. Die Erklärung Elisabeths, der Vertrag solle in Kraft bleiben, höhere Zölle sollten von englischer Einfuhr nicht erhoben werden, bis ein neuer Vertrag vereinbart sei, wurde erlangt. I n welchem Maße die Interessen des Ostseehandels die Politik Englands beherrschen, beweist das analoge Verhalten des jüngeren Pitt dreißig Jahre später. I m Bündniß mit England hatte König Friedrich Wilhelm II. Oesterreich zu Reichenbach gezwungen, vom Kriege gegen die Pforte abzustehen, Belgrad zurückzugeben; als er sich in gleicher Absicht im Frühjahr 1791 gegen Rußland wendete, verlangte er der getroffenen Vereinbarung gemäß die Mitwirkung einer englischen Flotte zur Belagerung von Riga; schließlich nur als Demonstration. Auch diese wurde verweigert. S o ist es geschehen, daß die wirksamste Hülfe, welche England hätte gewähren können, die Zurückhaltung der russischen und schwedischen Armeen, Preußen auch in der Zeit, da England ausreichende Streitkräfte zur Verfügung standen, auch in den schwersten Momenten des Krieges, nach Kay, Kunersdorf uud Maxen, nicht zu Theil geworden ist. Welche Fluth von Jammer und Verheerungen wäre Preußeu dadurch erspart worden! Und doch war Niemand mehr als Pitt von dem Dieuste durchdruugen, welchen die preußische Allianz England leistete. Als am 13. November 1761 im Unterhause der Antrag gestellt wurde, die englischen Truppen aus Deutschland abzurufen, sagte er: „England verdankt seine Erfolge in Amerika der Ableitung der Kräfte Frankreichs durch den Krieg in

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Deutschland; weitere Erfolge sind von derselben Ursache abhängig. Diese Wahrheit ist so handgreiflich, daß, wenn auch das ganze Haus anderer Meinung sein sollte, ich nichtsdestoweniger auf der meinigen bestehen und meinen Ruhm darein setzen werde, diese im Hause und außer dem Hause zu b e k e n n e n " U n d noch bestimmter wiederholte er am 9. December 1762: „Amerika ist in Deutschland erobert worden." D5- Inschrift auf feinem Denkmal in der Guildhall aber hebt hervor, daß „er England nicht nur durch die Waffen, sondern auch durch den Handel groß gemacht, den er zuerst mit dem Kriege zu verbinden und durch den Krieg zur Blüthe zu bringen verstanden". Das war das Bündniß Englands und Preußens in der Zeit feiner Kraft und Blüthe. Einen ganz anderen Charakter nahm dasselbe mit Pitts Rücktritt an. Der Herzog von Choiseul, welcher an Stelle des Grafen Vernis getreten war. hatte die Verluste des Seekriegs durch die Landung in England aufzuwiegen gehofft, danach im Jahre 1760 durch große Waffenerfolge in Deutschland. Wiederum vergeblich. Seine Hoffnung stand nun auf dem in Spanien eingetretenen Thronwechsel. Ferdinand's VI. jüngerer Bruder Karl hatte nach dessen Ableben den Thron Neapels mit dem von Spanien vertauscht. Choiseul spannte die letzten Hülfsmittel Frankreichs an (ein lit äe Msties zwang dein Parlamente die Registriruug einer dritten Vingtwme ab), um noch eine Campagne zu bestehen, welche mit Hülfe der Vermittelung Spaniens den Frieden herbeiführen, oder aber Spanien, falls England dessen Mediation scheitern lasse, an der Seite Frankreichs in den Krieg bringen sollte. Pitt war der Meinung, daß England den Krieg mit Spanien, welcher nach der gebieterischen Art, in welcher König Karl in die Mediation eintrat, schwerlich zu vermeiden sei^), entschlossen aufzunehmen habe. Eine günstigere Lage, ihn zn führen, werde für England nie wiederkehre!?, ein Moment, in welchem ') Knyphausens Bericht vom 17. November 1761. 2) Friedrich an Knyphausen 22. März 1761.

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Frankreichs Flotte nicht mehr existire, mithin die gesammte Flotte Englands gegen die spanische verfügbar sei. I m Ministerium überstimmt, nahm Pitt am 5. October 1761 seine Entlassung. Was Pitt vorausgesehen, geschah: die Kriegserklärung Spaniens erfolgte am 25. December. Earl Bute, der Erzieher des jungen König Georgs III., dem die Leitung zufiel, erbat trotz der glänzenden Erfolge Englands den Frieden bei dem Herzoge von Choiseul. Die Kriegserklärung Spaniens hatte er nicht abgewartet, um dem Könige von Preußen eröffnen zu lassen: „Es sei Zeit, an den Frieden zu denken; welche Opfer er für den Frieden zu bringen beabsichtige, möge er angeben; bevor England hierüber Gewißheit habe, könne die Erneuerung des Vertrages vom 11. April 1758 für das Jahr 1762 nicht stattfinden." Es lag ihm daran, der Bestimmung dieses Vertrages, welche jeden Separatfrieden ohne Preußen ausschloß, entledigt zu sein, und der Herzog von Bedsort erklärte den Vertretern Preußeiis in London, daß England, durch Spanien bedrängt, in der Lage sein werde, sich aus Deutschland zurückziehen zu müssen (5. Januar 1762). Indeß verwarf das Unterhaus den Antrag Bedfords, den Krieg in Deutschland aufzugeben, am 5. Februar. Weil Englands Minister Friedeil mit Frankreich wollten, sollte Preußeu Friede» schließe», um England seinen Friedensschluß zu erleichtern, einen nachtheiligen Frieden schließen, lind England dadurch die Brücke zur Herstellung der alten Allianz mit Oesterreich bauen. Nicht nur offen kündigte der Bundesgenosse dein Bundesgenossen, dem Bnndesvertrage entgegen, an: er habe keine Hülfe mehr zu erwarten, vielmehr sei er verpflichtet, dem Frieden Opfer zu bringen. Hinter dem Rücken des Königs gingen Bute und Genossen viel weiter: bis zu dem perfidesten Verrathe des Verbündeten Englands. Gleichzeitig mit der an Friedrich gerichteten Aufforderung, einen verlustvollen Frieden bei Strafe des Subsidienverlustes und Abberufung der britischen Truppen zu schließen, ließ Bute dem Gesandten Oesterreichs im Haag, dem Baron Reischach, eröffnen: „Das englische Ministerium habe zwar beschlossen, den Krieg auf D u n c k e r , Abhandlungen a. d. n. Gesch.

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dem Festlande noch ein Jahr fortzuführen (Bute wußte bereits, daß das sofortige Aufgeben des deutschen Krieges im Unterhause nicht durchgehen werde), die bisherige Convention mit dem Könige von Preußen sei jedoch nicht erneuert worden. Man habe ihn aufgefordert, mit Oesterreich, so gut er könne, Frieden zu schließen, doch vermuthe man, daß er sich diesem Vorschlage nicht fügen werde, obwohl er sich in höchst ungünstiger Lnge befinde und seine eigenen Unterthanen wider ihn seien, wie er sich denn auch in der That gegen die gesunde Vernunft und ganz unsinnig betrage. Ob das englische Ministerium nicht der Hoffnung Raum geben dürfe, daß der österreichische Hof zum alten System wieder zurückkehren werde; England werde nichts dawider haben, daß der König von Preußen ganz Schlesien der Kaiserin-Königin zurückstelle')." England forderte hiermit, unter Bloslegung der unglücklichen Lage Friedrichs, Oesterreich auf, dem Verbündeten Englands den Rest zu geben; England erklärt, es werde ihn nicht weiter unterstützen: auf dieser Grundlage soll das alte System, selbstverständlich auf Kosten Preußens, erneuert werden; Reischach unterließ nicht, diese interessante Mittheilung sofort nach Wien zu melden (26. Januar 1762). Mitten in dieser Verhandlung begriffen, wurde Bute durch die Nachricht von dem am 5. Januar erfolgten Tode der Kaiserin Elisabeth erschreckt; die Thronbesteigung des Großfürsten Peter, dessen Neigungen für Friedrich kein Geheimniß waren, konnte dem Könige von Preußen zu Gute kommen. Dem Verbündeten Englands solche Erleichterung zu entreißen, machte sich Bute sofort an's Werk. Persönlich eröffnete er am 6. Februar 1762 dem Vertreter Rußlands in London, dem Fürsten Galitzin: das glückliche Ereigniß der Thronbesteigung des Kaisers gebe dem Könige von England die passendste Veranlassung, die freundschaftlichen Verhältnisse zu Rußland zu pflegen und weiter auszudehnen. Nur von Kaiser Peter hänge es ab, Europa den Frieden zu geben, insbesondere hinsichtlich des Königs von Preußen. Er (Graf Bute) könne sich nicht !) Reischachs Bericht, bei Arneth, Maria Theresia und der siebenjährige Krieg 2, 289.

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vorstellen, daß Kaiser Peter den König von Preußen seinen natürlichen Verbündeten vorziehen und dessen Wohlergehen höher achten werde als das des Wiener Hofes. S o lebhast der englische Hof nach dem Frieden verlange, so könne er doch nicht wünschen, daß der Kaiser seine Truppen zurückziehe, welche gegen den König von Preußen im Felde ständen. Der Rückzug derselben könne den Frieden nicht beschleunigen, sondern werde den Krieg in die Länge ziehen, da der König von Preußen, falls Rußland zurücktrete, denselben gegen die Kaiserin-Königin noch lange fortzusetzen im Stande sei. Mr. Wroughton, der im Sinne dieser Eröffnungen instruirt sei, werde noch diesen Abend nach Petersburg abreisen, die freundschaftlichen Beziehungen Englands zum russischen Reiche zu befestigen. Der britische Hof trachte danach, den König von Preußen vor dem gänzlichen Ruin zu retten. Dieser könne sich nicht schmeicheln, den Frieden zu erlangen, ohne ihn auf seine Kosten zu erkaufen, ohne ansehnliche Gebiete seiner Staaten abzutreten. Dieser hier anerkannten Wahrheit gemäß habe er (Graf Bute) bereits vor sechs Wochen König Friedrich wissen lassen, daß das britische Ministerium den Krieg nicht S r . preußischen Majestät zu Gefallen verewigen könne. Man habe hierauf keine Antwort erhalten und erwarte auch keine vernünftige'). Bute kannte die Loyalität des Gesandten Englands in Petersburg, Keith, zu gilt, um anzunehmen, daß er sich so perfider Anträge und Insinuationen gegen den Bundesgenossen Englands mit dem erforderlichen Nachdrucke entledigen werde; darum hatte er zu einer besonderen Mission gegriffen und mit dieser den Generalconsul Englands in Petersburg, der sich gerade in London befand, betraut. Wroughton rühmte sich, das Vertrauen der ersten Kammerfrau der neuen Kaiserin zu besitzen^). Seinen Auftrag, Rußlands Beharren im Kriege gegen Preußen in Petersburg durchzusetzen, wurde er mit einer recht ansehnlichen Geldsumme, mit nicht weniger als 109,000 1) Bericht Galitzins am 6. Februar 1762, Geh. St.-Archiv. 2) Bericht Hellens vom 20. Februar 1762.

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Pfund ausgerüstet'). Zu Bestuchews Bestechung, um Rußland vom Kriege gegen Preußen zurückzuhalten, war im Herbst 1756 nicht die Hälfte dieses Betrages aufgewendet worden. Der Versuch mißlang vollständig, was Bute nicht abhielt, ihn nach Peters Ermordung bei Katharina zu wiederholen ^). Die unvernünftige Antwort, die Bute aus seine an Friedrich gerichtete Aufforderung, welche Opsen- der König dem Frieden zu bringen gedenke, nach seiner Aeußerung Galitzin gegenüber erwartete, erfolgte unter dem 22. Januar 1762. Es bedürfe nur noch, fagte Friedrich König Georg III. einiger Ausdauer und Festigkeit um zu einem guten Frieden zu gelangen. Die Kriegserklärung Spaniens scheine ihm bei der großen Ueberlegenheit der britischen Flotte, die über die spanische ebenso triumphiren werde wie über die französische, ein Vortheil, kein Nachtheil für England. Seinen Vertretern in London hatte er bereits am 17. Januar geschrieben.- ob denn in England niemand erwäge, daß wenn man ihn unterliegen lasse, der Schlag auf England zurückfallen, daß England dann von Frankreich nur den ungünstigsten Frieden oder aber den Frieden überhaupt nicht erlangen werde. I n späteren Mittheilungen betonte der König: nicht über Hals und Kopf Frieden schließen zu können, er befinde sich nicht in der Lage ihn erkaufen zu müssen; in den Verträge» von 1742, 1745, 1746, 1756 habe ihm England alle seine Besitzungen garantirt: wie könne man ihm jetzt auf ein Mal Abtretungen znmuthen wollen. Weitere Mittheilungen vergewisserten Bute, daß der König aus Subfidien verzichte, auch wenn sie angeboten würden (8. Februar, 7. März, 23. April). Bute erwiderte, der König dürfe sich nicht wundern, wenn seine Verbündeten sich seiner Hartnäckigkeit nicht fügten. Hatte Bute unmittelbar nach der Kriegserklärung Spaniens in P a r i s um Frieden gebeten, indem er den Herzog von Ehoiseul wissen ließ, daß diese Kriegserklärung seine friedfertigen Absichten >) Raumer, Beiträge S, 492. 2) Friedrich an Knyphausen, Leipzig IS. December, Meißen 18. December 1762.

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nicht geändert, so zwang ihn die Zurückhaltung Choiseuls, diese Bitte nachdrücklicher mittelst förmlichen Antrages auf Eröffnung der Friedensunterhandlung zwischen England und Frankreich, unter Betheuerung seiner Hochachtung vor dem edlen und hochherzigen Charakter König Ludwigs XV., zu wiederholen (8. April 1762). Es war der Sieger, der den Besiegten um Frieden bat, der den Besiegten durch diese Friedensgesuche nicht nur aufforderte, sondern in die Lage setzte und berechtigte, möglichst viel von seinen verlorenen Kolonien zurückzufordern. Das waren Dinge, die Bute seinen: Lande gegenüber zu verantworten hatte, Preußen gegenüber fällt ihm die Sonderverhandlung ohne Zustimmung und Mitwirkung Preußens zur Last, und der noch schwerere Vorwurf des Zugeständnisses, das er gleich bei Eröffnung der Unterhandlung machte: er gab zu, daß die von Frankreich occupirten preußischen Territorien in Frankreichs Hand blieben oder österreichischen Truppen übergeben würden Nicht so rasch als Bute wünschte, kamen, trotz aller Zugeständnisse von seiner Seite, die Unterhandlungen zum Ziel; Choiseul war nicht gemeint, die Interessen seiner Verbündeten, Spaniens und Oesterreichs, in gleicher Weise zu opfern wie Bute die Interessen Preußens. Mit dieser Verzögerung des Abschlusses wuchs Bute's Sorge, daß inzwischen von den Streitkräften Englands oder Preußens Erfolge errungen würden, die ihm unmöglich machten, zum Separatfrieden ohne Preußen zu gelangen, die Zugeständnisse eintreten zu lassen, auf denen Frankreich bestand. S o geschah es, daß Bute bei dem Feinde Hülfe suchte, mit dem England Krieg führte. Er tritt mit dem leitenden Minister Frankreichs in geheimen Briefwechsel, er verhehlt diesem seinen Ingrimm gegen Preußen nicht, er erörtert mit ihm die Mittel, die Opposition des englischen Parlaments zu zügeln; er ermahnt Choiseul zu standhaftem Ausharren im Kriege; er gesteht ihm, daß er es nicht wagen dürfe, dem Prinzen Ferdinand Einstellung der Feindseligkeiten zu befehlen, die englischen Starhembergs Berichte, Paris L. Aug., 16. Sept., 3. Oktober 1762.

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Truppen aus Deutschland abzuberufen oder ihnen Enthaltung zu gebieten, aus Besorgniß, daß König Friedrich und durch diesen die Opposition dies erfahre; er beklagt die Erfolge der Waffen Englands ; er wünscht, daß die Heeresmacht Englands geschlagen werde — er trieb es so weit, daß die Befehlshaber der französischen Armee in Deutschland ihre Befehle, wie sie den Krieg gegen die deutschenglische Armee zu führen hätten, von dem leitenden Minister Englands auf dem Wege über Paris erhielten. Prinz Ferdinand schlug am 24. Juni 1762 die französischen Marschälle d'Estrses und Soubise bei Wilhelmsthal; die Armee trat hierauf den Rückzug auf Frankfurt a. M. an. Bute hatte darauf gerechnet, daß Hessen in Frankreichs Händen bleiben werde, um gegen dessen Herausgabe Frankreich einige Kolonien zurückstellen zu könneil. Die Kunde von der Niederlage und dem Rückzüge des Feindes versetzte ihn in Kummer und Zorn. Er schüttete diese» Choiseul aus: „wenn die französische Armee dem Prinzen Ferdinand nicht kräftig widerstehe, sei er außer Stande, der Opposition „der preußischen Partei in England", wie er sich ausdrückt, Stand zn halten. Hierauf hin ergingen aus Paris die gemessensten Befehle an Soubise und d'Estrses, die Stellungen au der Werra und Fnlda zu behaupten und dafür erforderlichen Falles sowohl die Armee des Oberrheins als auch die des Niederrheins — sie hatten den Feldzug mit 150,000 Mann eröffnet — bis auf den letzten Mann zu opfern; so lange es eine französische Armee in Deutschland gebe, könne der König nicht dulden, daß sie über den Rhein zurückgehe; sei die gegenwärtige Armee vernichtet, so werde es Zeit sein an die Bildung einer neuen zu denken (11. Juli 1762). I n eiuem erklärenden Briefe an Soubise sagt Choiseul: Bute sei ebenso überrascht wie erzürnt über die Affaire am 24. und wüthend über den König von Preußen, der Ferdinand zum Angriffe getrieben habe. Er ermahnt uns „5, nous opposer viKoureusemsnt au ?ii»ev ?eräinaiul, pour hu« lui (Lute) nv soit pas 6eias6 par parti prussien." „Es wäre absurd", so fährt Choiseul fort, „die Gebiete durch Waffengewalt einzubüßen, zu deren Zurückstellung wir

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uns in einem Artikel der Präliminarien verbindlich machen. Sie begreifen die Kritik und die Vorwürfe, welche der König von Preu ßen dem englischen Ministerium machen würde, als Compensation (für zurückzugebende Kolonien) anzunehmen, was wir bereits verloren. Unterliegen wir nun auch in einer Schlacht, so werden wir doch nicht gleich alle vernichtet sein; gewinnen wir sie, so retten wir das englische Ministerium, mit dem zufrieden zu sein wir Grund haben, vor den preußischen Anklagen^). S o peremptorische von London selbst ausgehende Befehle hielten den Rückzug der französischen Armeen auf, brachten sie aber nicht zu namhaften Leistungen; vielmehr traf Prinz Ferdinand den rechteil Flügel der französischen Armee, das sächsische, im Solde Frankreichs stehende Corps, am 24. Juli recht empfindlich am Lntternberge- Da die Unterhandlung inzwischen vorgeschritten war, der Abschluß der Präliminarien gesichert schien, gestattete Choiseul unter dem 6. August den Rückmarsch auf Frankfurt, während gleichzeitig Blite seinerseits, selbstverständlich ohne Wissen des Prinzen Ferdinand, den Befehlshaber der englischen Truppen, Lord Granby anwies, die Feindseligkeiten unter der Hand einzustellen. Die Marschälle waren zufrieden, die Armee ohne erhebliche Verluste nach Frankfurt zurückzubringen. Aber noch einmal wechselte die Scene. Die Antriebe, welche Pitt der englischen Flotte, der Kriegführung gegeben, wirkten über seine Amtsführung hinaus. Es zeigte sich, wie richtig er uud König Friedrich gesehen, daß England den Krieg gegen Spanien nach Vernichtung der französischen Flotte nicht zu scheuen habe. Die englischen Geschwader nahmen den Franzosen nicht nur Martinique, sie schlugen Spanien die schwerste Wunde. Die Perle seiner Kolonien, Havannah, erlag am 12. August dem Angriff der englischen Flotte. Noch bevor die Stadt mit ihren immensen Reichthümern gefallen, verkündete das Gerücht in den letzten Tagen des Stuhr, siebenjähriger Krieg 2, 407. 408. Starhembergs Berichte. Paris IS., 24. Juli 1762. Avis Gelin bei Schlosser, Geschichte des 13. Jahrhunderts 2, 403.

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August bereits dieses Ereigniß'). Bute war nach Choiseuls Meinung in Folge dieses mächtigen Schlages, den Englands Flotte Spanien versetzt, nicht im Stande, die vereinbarten Präliminarien im Parlament durchzusetzen, wenn ihm Englands Feinde nicht zu Hülse kämen, wenn dort nicht Verluste in Deutschland gegen den Gewinn Havannahs in die Wagschale fielen. Bute selbst wird auch Choiseul schreibt hier wiederum die Hand im Spiele gehabt haben an den Marschall d'Eströes (12. September): Prinz Ferdinand habe nach London gemeldet, er werde die Franzosen noch im Laufe dieses Monates über den Rhein werfen; der Feldzug dürfe in keinem Falle mit der Zurücktreibung der französischen Armee über den Rhein enden. D'Eströes müsse sofort mit dem größtmöglichen Nachdrucke operiren, wenigstens bis zur Eder wieder vorgehen, um dadurch zugleich die Besatzungen der eingeschlossenen Plätze Marburg, ZiegenHain und Kassel zu befreien. Werde Ferdinand gezwungen, Hessen zu räumen, so vermindere sich dadurch der Widerstand den die Gutgesinnten in England finden. Das Gefecht an der Brücker Mühle hemmte den erneuten Vormarsch der französischen Armee, und die Kapitulation der französischen Besatzung Kassels endete einen Feldzug, von dem Prinz Ferdinand sagte: „ich habe in diesem mit Freunden und Feinden gerungen^)." Die Präliminarien des Friedens zwischen Frankreich und England, welche die Ausnahme Spaniens, auf die Frankreich bestand, verzögerte, endlich zum Abschluß zu bringen, begab sich der Herzog von Bedsord Mitte September 1762 nach Paris. Er wiederholte die schon früher von Lord Egremont abgegebene Erklärung, wenn Frankreich Oesterreich weiterhin Subsidien zahle, so werde der König von England Preußen gegenüber das Gleiche thun, „obwohl er dazu durch keinen Vertrag verbunden sei". Man wußte in London sehr bestimmt, daß Friedrich keine Subsidien mehr annehmen werde; diese Erklärung war lediglich zur Deckung der Opposition gegenüber '> Friedrich an Knyphausen 3. Sept. 1762. ") v. Bernhard!, Friedrich der Große als Feldherr, 2, 628. Friedrich an Knyphausen, Bogendorf ?. Oktober 1762.

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bestimmt. Ueber deren Tragweite keinen Zweifel zu lassen, sagte Bedford dem Herzoge von Choiseul: „Ich bin nicht hierher gekommen, die Sache des Königs von Preußen zu sichren, ich würde mich dazu nicht hergegeben haben')." Die Zurücksührung der französischen Armee aus Deutschland, die Räumung der hier von dieser occupirten Territorien, die Festhaltung freier Schifffahrt auf dem Missisippi waren die Punkte, welche Bute für unabweislich erklärte, den Friedensvertrag im Parlamente durchzubringen; seinen Kopf würde er auf das Spiel setzen, sagte er dem Herzoge von Nivernois, wenn er davon abginge^). Demgemäß verfügten die Präliminarien die Restitution aller Länder des Kurfürsten von Hannover, des Landgrafen von Hessen, des Herzogs von Braunschweig und des Grafen von Lippe, welche von französischen Truppen besetzt wären oder besetzt sein würden (Artikel XII). Für Preußen lautete die betreffende Bestimmung anders: nicht die Restitution, nur die Räumuug der von Frankreich besetzten preußischen Gebietstheile schreibt der betreffende Artikel vor. Er lalltet: „Nach der Ratifikation der Präliminarien wird Frankreich, sobald dies geschehen kann, die Plätze von Cleve, Wesel und Geldern, überhaupt alle Länder des Königs von Preußen r ä u m e n " (Artikel XIII). Der Hintergedanke war, dieselben Oesterreich auf diesem Wege in die Hände zu spielen. Als Choiseul äußerte, der Kaiserin-Königin werde die rasche Besetzung wegen der Entfernung ihrer Truppen schwer fallen, entgegnete Bedford, „sie braucht ja uur Reichstruppeu hineinzuwerfen". Nicht minder perfide war der Schluß dieses Artikels zwar nicht gefaßt, aber gemeint: „Die britische und die französische Armee," heißt es, „werden das gesammte deutsche Reich verlassen und in die Staaten ihrer Souveräne zurückkehreil; zugleich verpflichten sich Frankreich und England und versprechen, ihren Verbündeten, welche in dem gegenwärtigen Kriege verwickelt bleiben, keine Hülfe irgend welcher Art zu gewähren." Aber an demselben Tage, an welchem diese 1) Bericht Starhembergs, Paris 16. September 1762. 2) Oeuvres postk. äu Oue e, si je no suis pas kntwiemeut ras«»!« clu cöts clu M i n (August 1804). Er hatte dafür gesorgt und sorgte dafür, hier nicht ruhig zu sein. Wenn er mit dem Ausbruche des Krieges gegen England den Frieden mit dein deutschen Reiche brach und Hannover occnpirte, so mag man das dadurch gerechtfertigt finden, daß er England zunächst nicht anders zu treffen wußte, während Frankreich aus das schwerste getroffen wurde; so mochte er auf die Ohnmacht des heiligen römischen Reichs und die Schwäche der derzeitigen Politik Preußens zähleil; er konnte sich schwerlich verbergen, daß er durch diese Occupatiou, durch die Ver-

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nichtung des deutschen Seehandels, durch die Mißhandlungen Bremens, Hamburgs und Lübecks Preußen in eine Lage dränge, die es früher oder später zum Alliirten Englands, zum Gegner Frankreichs machen mußte. Der Vertrag Frankreichs und Rußlands vom 11. October 1801 verpflichtete Napoleon, den König von Sardinien für den Verlust Piemonts zu entschädigen, das Königreich Neapel nicht anzutasten. Mit dem Ausbruch des Krieges gegen England ließ Bonaparte nicht nur Ancona im Kirchenstaate besetzen, er ließ S t . Cyr mit 18,000 Mann in Neapel einbrechen. „Ich w i l l E u r e S t a a t e n nicht n e h m e n " , sagte er dem Vertreter Neapels, „es g e n ü g t m i r , d a ß sie m e i n e n A b s i c h t e n gegen E n g l a n d dienstb a r sind." Neapel hatte nicht n»r die Occupation zu dulden; es hatte die Besatzungsarinee auf seine Kosten zu unterhalten. Die Ergreifung des Herzogs von Enghie» durch französische Truppeil auf deutschem Gebiet nahmen das Reich, Oesterreich und Preußen stillduldend hin; den Protest, den Alexander von Rußland als Garant des Teschener Friedens einlegte, erwiderte Napoleon gerade in dem Augenblick, als die Ausführung des Uebergangs für den Herbst 1804 angeordnet wurde, m i t e i n e r t ö d t l i c h e n B e l e i d i g u n g d e s r u s s i s c h e n K a i s e r s u n t e r dem H i n z u f ü g e n , d a ß R u ß l a n d den K r i e g h a b e n könne, w e n n es i h n w o l l e ; die letzten r u s s i s c h e n C a m p a g n e n w ä r e n nicht dazu a n g e t h a n , i h n d e n s e l b e n f ü r c h t e n zu l a s s e n , — mit der Abberufung seines Gesandten aus Petersburg. Und als dann Rußland die Frage stellte, ob Napoleon die Verpflichtungen des Vertrages von 1801 zu erfüllen gedenke, erfolgte ein so schroffes, durch ueue Insulten gewürztes „Nein", daß auch der russische Geschäftsträger aus Paris abgerufen wurde (August 1804). Gleichzeitig forderte Napoleon vou Oesterreich die Anerkennung des Kaisertitels nicht nur in bestimmter Frist, sondern auch an bestimmten: O r t ; sie müsse ihm b i n n e n d r e i Wochen u u d z w a r in Aachen d. h. in der alten Krönungsstadt der deutschen Kaiser übergeben werden, im anderen Falle werde er seinen Gesandten aus Wien ab-

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rufen und diese Abberufung werde andere Folgen haben als der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Rußland, 300,000 Mann ständen bereit (3. August 1804). Die Bemühungen Alexanders, mit Preußen und Oesterreich zum Einvernehmen gegen Frankreich zu gelangen, die zu den Defensivverträgen vom 24. Mai und 6. November 1804 führten, die Unterhandlungen, welche Kaiser Alexander hierauf in London einleitete, blieben Napoleon schwerlich ganz verborge»?. Jedenfalls machte ihm Pitt hierüber im Januar 1805 eiue belehrende Mittheilung. Napoleon hatte es für angemessen erachtet, den Schritt, den er nach Aufrichtung des Consulats England gegenüber gethan, nach seiner Kaiserkrönung zu wiederholen. I n einem an König Georg gerichteten Schreiben gab er sehr vag formulirten Wünschen für Herstellung des Friedens Ausdruck. Pitt erwiderte: König Georg vermöge nicht in Verhandlungen einzutreten, bevor er sich mit den Mächten des Festlandes, mit denen er in vertraulicher Verbindung stehe, verständigt habe, insbesondere mit dem Kaiser von Rußland. Diese Erwiderung ging merklich über die Linie der Wahrheit hinaus; eins aber zeigte sie deutlich, daß England Aussicht habe, auf dem Festlande Bundesgenossen zu gewinnen; und wenn Napoleon hierüber noch etwa in Ungewißheit geblieben wäre, die Forderung, die Pitt im folgenden Monat (Februar 1805) ins Unterhaus brachte: Bewilligung von nicht weniger als 5',2 Millioneil Pfund zu geheimen Zwecken, mußte seine letzten Zweifel zerstreuen. Es war um die Zeit, da Napoleon den letzten Operationsplan für seine Flotten feststellte, die Befehle zur Ausführung desselben ertheilte, daß er diese Gewißheit erhielt. War er definitiv entschlossen, den Uebergang auf jede Gefahr hin auszuführen, so mußte er jetzt wenigstens auf dem Festlande innehalten. Er wußte sehr gut, daß Oesterreich damals kaum weniger friedfertig gestimmt war als Preußen, daß Alexanders Drängen in Wien ungeneigtes Ohr fand. Er war sehr sicher, sein Unternehmen gegen England ungestört ausführen zu können, w e n n er Oesterreich nicht w e i t e r p r o v o c i r t e , u n d g e r a d e in d i e s e m M o m e n t t h a t er d e n D u n c k e r , Abhandl. a. d. n. Gesch.

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S c h r i t t , d e r w e n n i r g e n d e i n e r O e f t e r r e i c h in d i e W a f f e n b r i n g e n m u ß t e . I n dem Augenblick, da er Villeneuve und Ganteaume die Befehle zum Auslaufen gab, brach er offen den Frieden von Lüueville, der die Unabhängigkeit der cisalpinischen Republik feststellte, erklärte er die Verwandlung derselben in das Königreich Italien und die Vereinigung des Königreichs Italien mit Frankreich. Die Consulta in Mailand hatte den betreffenden Antrag stellen müssen. Wie oft, wie erbittert, in wie langen Kriegen hatten seit den Tagen Karls des Fünften Oesterreich und Frankreich um den vorwaltenden Einfluß in Italien gerungen; jetzt sollte Oesterreich nicht nur Oberitalien und Frankreich in Einer Hand sehen; mit dem Namen des Königreichs Italien war ausgesprochen, daß Frankreichs Gewalt über ganz Italien ausgedehnt werden solle; damit war auch der Besitz Veuetieus, das der Friede von Lllneville Oesterreich gelassen, in Frage gestellt lind bedroht. Napoleon ging weiter. Während er die Vereinigung seiner Flotten im Canal erwartete, begab er sich nach Italien, um sich die Eisenkrone der Lombarden aufs Haupt zu setzen. Von der Klausel der Vereinigung beider Kronen für die Dauer des Krieges gegen England, unter welcher dieselbe zuerst angekündigt worden, war nicht mehr die Rede (28. Mai). Dem Abgesandten Neapels, der Glückwünsche zur Krönung brachte, dem Prinzen Cardito, erwiderte er, daß er der Königin von Neapel (der Tante des Kaisers Franz) nicht soviel Land lassen werde, um ihr Grab zu bauen; und als ob dies nicht genüge, erging ein Rundschreiben an alle Vertreter Frankreichs: Falls sich die Königin von Neapel nicht bessere, werde das englische Schiff auf der Rhede sie nicht retten. Die französisch-italienischen Truppen wurden in zwei Lagern zusammengezogen, 30,000 Mann bei Alessandria, eben so viel hart an der Grenze Oesterreichs am User der Etsch bei dem getheilten Verona, das damals links der Etsch Oesterreich, rechts der Etsch Frankreich gehörte. Jene führten in Napoleons Gegenwart die Schlacht bei Marengo auf, diese wiederholten die Schlacht bei Castiglione, durch welche er im August 1796 den ersten Entsatzversuch Mantua's ab-

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gewiesen hatte. Dem General Vincent, der ihn Seitens Oesterreichs all der Grenze Venetiens zu begrüßen abgeordnet war, sagte er: man spreche von einer Coalition zwischen Oesterreich und Rußland; er fürchte den Krieg nicht nud verstehe denselben zu führeil. S o zwang er nach Rußland auch Oesterreich in das Lager Englands hinüber. Nicht minder bezeichnend ist die Zurückweisung aller Vermittelungsversuche und die Art, iu der dies gerade in dem entscheidenden Moment geschah. Kaiser Alexander beabsichtigte eine Ausgleichung zwischen Frankreich und England mittelst Abordnung eines besonderen Unterhändlers; Nowosiltzow war für diese Mission ausersehen. Der König von Preußen erbat auf Alexanders Veranlassung die für diesen erforderlichen Pässe. Wollte Napoleon Frist zu ungestörter Ausführung des Ueberganges gewinnen, so lag nichts näher, als die angebotene Verhandlung anzunehmen. Napoleon wies dieselbe zurück, indem er sie vertagte: da die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Rußland abgebrochen seien, könne Rußland die Stellung eines Mediators nicht beanspruchen: auch wenn er hierüber hinweg sähe, sei ein Erfolg von dieser Unterhandlung doch nicht zu erwarten; er wolle den Abgeordneten Alexanders zwar empfangen, jedoch erst Ende J u l i iu Paris. Die dies Schreiben an Friedrich Wilhelm III. begleitende Note sprach deutlicher: K a i s e r A l e x a n d e r sei v o n E n g l a n d v e r f ü h r t ; es sei dem G o l d e E n g l a n d s nicht schwer g e w o r d e n , d i e s e n c o r r u m p i r t e n Hof zu bestechen; es w e r d e f r ü h e r o d e r s p ä t e r z u m K r i e g e k o m m e « , F r a n k r e i c h sei d a r a u f v o r b e r e i t e t ) S i e beruht überdies, so viel ich sehe, vornehmlich auf den Zeilen Lasorests an Diiroc vom 4. Februar 1806, die die Memoiren I, 449. 450 geben. Diese Zuschrift war einer Sendung Lasorests an Talleyrand angeschlossen, welche Hardenberg am S. Februar 1806 öffnen, am 6. nach Paris abgehen ließ. 2) Hardenberg an Hangwitz 1-5, November: geh. Staatsarchiv.

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getroffen'), am 24. November Großfürst Constantin mit 8500 Mann Garden 2). Den ersten Nachrichten von einer verlorenen Schlacht, die am 7. December in Berlin eintrafen, folgte am 8. ein Bericht des Grafen Haugwitz, den er am 2. December von Wien abgesendet. Jene sagten doch nicht so „unbestimmt", wie die Memoiren wollen, daß das Centrum der Verbündeten durchbrochen worden sei, der linke Flügel ins Wasser getrieben werde, der Rückzug gehe aus Goeding, nach Ungarn; in Olmütz sei der Befehl eingetroffen, den Belagerungszustand zu erklären und die Familie des Kaisers Franz nach Teschen zu flüchten^). Haugwitz meldete, daß er Napoleon am 28. November zu Brünn gesprochen, nachdem Graf Stadion ihn eben verlassen habe; ein Wort von den Bedingungen des Vertrages würde genügt haben, den Kaiser der Franzosen Frieden mit Oesterreich schließen zu lassen, um sich dann sogleich auf Preußen zu stürzen. Er habe erreicht, daß Napoleon auf den Gedanken der Mediation eingegangen sei unter der Bedingung, daß seine Garnison in Hameln (außer dieser etwa 3000 Mann starken Besatzung stand kein Franzose mehr in Hannover) nicht ausgehungert werde und Preußen einen Angriff der russische» und englischen Truppen von Hannover aus uicht zulasse. Er (Haugwitz) habe dies zugestände». Die Memoiren (1, 357 ff.) geben die Beschlüsse, welche die vom Könige berufene Conferenz — neben Hardenberg der Herzog von Braunschweig, Möllendorf, Schulenburg, Köckeritz — am 9. December über die nunmehr innezuhaltende Richtung gefaßt hat: Preußen bleibt dem Vertrage vom 3. November treu, die preußische Arinee marschirt links ab nach Böhmen, der noch nicht hinlänglich festgestellte gemeinsame Operationsplan muß endlich definitiv concertirt werden, die von Haugwitz zugestandenen Bedingungen können 1) Hardenberg an Goltz 29. November; geh. Staatsarchiv. 2) I. e. x. 193. 3) Kleist an Hardenberg 7. December. Hardenberg an Goltz 9. December 1805; geh. Staatsarchiv.

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nicht erfüllt werden ^). Die Betheiligung Preußens am Kriege war entschieden, sobald die preußische Armee den Boden Oesterreichs betrat. Der König schrieb dem Kaiser Alexander: mit tiefem Schmerze habe er die ersten Nachrichten über die Tage des zweiten und dritten December empfangen. Die ersten Berichte von Haugwitz seien eingetroffen, Alexander werde selbst empfinden, wie er (der König) die Forderungen, welche Napoleon gestellt, habe aufnehmen müssen. Der letzte Versuch müsse jetzt bei ihm gemacht werden durch eine offene und klare Erklärung der äußersten Bedingungen, auf welche man zurückgehen könne. Der Graf Stadion sei bei Napoleon, ein Umstand, den der Vertrag nicht vorgesehen habe. Er (der König) könne nicht fürchten, daß Kaiser Franz seine Interessen von denen Rußlands und Preußens trennen wolle; somit könne sich die Erscheinung seines Ministers nur auf den Artikel des Vertrags beziehen, der Oesterreich das Recht gebe, für den Umfang der gemeinsamen Propositionen Nachlaß eintreten zu lassen. Ueber diese Punkte müsse Haugwitz vom Kaiser Alexander Jnstructionen empfangen, er bitte deshalb, daß Alexander sich mit Kaiser Franz verständige, damit Haugwitz unverzüglich instruirt werde, mit dem Grasen Stadion die entscheidende Discussion zu eröffnen. „Inzwischen hemmt nichts die Bewegungen meiner Truppen nach Böhmen. Der Oberst Phull (Generalquartiermeister der Armee) wird Ihnen hierüber Rechenschaft geben." Er (der König) sende diesen ab, um das militärische Concert zu regeln, das nach dem Vertrage eintreten müsse, wenn nach vier Wochen die Unterhandlung ohne Erfolg geblieben sei (10. December). An demselben Tage schrieb Friedrich Wilhelm an Kaiser Franz: „Der Kaiser von Rußland wird Ihnen mittheilen, was ich ihm gemeldet. Haugwitz habe ich auf die Jnstruction verwiesen, welche Stadion empfangen haben wird. Vielleicht glaubt Ew. Majestät, daß unsere Forderungen im gegenwärtigen Augenblick auf die engsten Grenzen, welche Ehre und Sicherheit gestatten, zu !) Vgl. Alopeus Bericht vom 28. November (10. December) bei 1. e. x. 311.

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beschränken sind und ohne Zweifel haben Sie Stadion in d i e s e r Ueberzeugung in das französische Hauptquartier geschickt. Nach den Directionen dieses Ministers wird der meinige nunmehr seine Schritte zu regeln haben. Ich habe ihm diese Weisung ertheilt und zugleich gebührende Antwort auf den insidiösen Vorschlag gegeben, mit dem Bonaparte die Unterhandlung eröffnet hat. Demnach ersuche ich Sie, den Grafen Stadion unverzüglich in den Stand zu setzen, mit seinem Collegen vorzugehen und bitte Sie zu glauben, daß wenn ich vergeblich versucht habe, gemäßigt und vorsichtig zu verfahren, ich meine Verpflichtungen mit Kraft und Loyalität zu erfüllen wissen werde')." Mit diesen Schreiben machte sich Oberst Phull am 1l. December auf den Weg ins Hauptquartier der Verbündeten. Haugwitz wurde in demselben Sinne unter dem 11. December mittelst Befehls des Königs angewiesen. Mit Bedauern (avee xsine) habe der König aus seinem Bericht vom 2. December gesehen, daß er in den ersteil Unterhaltungen mit Napoleon und Talleyrand die Frage noch nicht einmal gestellt habe. Die Friedensbedingungen müßten nun endlich vorgelegt werden. Die Annahme, daß Oesterreich durch die Sendung Stadions einen Separatfrieden beabsichtige, sei unzulässig. Haugwitz' Jnstruction sei in dem Vertrage vom 3. November enthalten, „dem ich treu bleiben will und muß." Weitere Anweisung werde ihm von den beiden Kaisern ertheilt werden, denen der König geschrieben habe. „Die Armeen des Herzogs von Braunschweig und des Fürsten Hohenlohe, deren Commando ich selbst übernehmen werde, rücken in Böhmen ein und werden dort zwischen dem 3. und 12. Januar vereinigt sein. Sie sehen hiernach, wie viel darauf ankommt, daß ich baldmöglichst wisse, woran ich mich bezüglich Ihrer Negotiationen zu halten habe, da ineine Verpflichtungen und meine eigene Sicherheit den Beginn der Operationen nach diesem Termin unerläßlich machen, wenn meine Propositionen nicht angenommen und ich nicht zeitig genug benachrichtigt wäre 2)." Geh. Staatsarchiv. Vgl. Hardenberg an Goltz 13. December; daselbst. 2) Geh. Staatsarchiv.

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Man beharrte somit auch nach Austerlitz in der eingeschlagenen Richtung, ja man ging sogar in dieser durch den Befehl an die Armeen, in Böhmen einzurücken, einen guten Schritt weiter. Der König hatte diesen Erlaß gezeichnet, als am 11. December Abends Nachrichten von dem zu Austerlitz am 6. December geschlossenen Waffenstillstand, von der Trennung Oesterreichs von Rußland, von dem Rückzüge der Russen in bestimmten Etappen durch Ungarn eintrafen i). Hardenberg rief Phull zurück, ließ die Weisung an Haugwitz nicht abgehen und ersetzte sie durch folgende von ihm selbst concipirte Cabinetsordre vom 12. December: „Der Courier mit der Antwort auf Ihre Berichte vom 2. December sollte eben abgehen, als die wichtige Nachricht vom Abschluß des Waffenstillstandes und der Eröffnung der Friedensunterhandlung zwischen Oesterreich und Frankreich ohne Ihre Theilnahme hier eintraf. Ich bin ohne Nachricht von Seiten der beiden Kaiser und meine Maßregeln müssen sich nach den Umständen richten. Seit Ihrer Abreise von hier sind Veränderungen in der politischen Lage nicht eingetreten, mit England ist nicht abgeschlossen. Ich baue auf Ihren erleuchteten Eifer und Ihren Patriotismus^)." Das hieß nun doch nichts Anderes als Haugwitz die Entscheidung darüber, was nach dem Eintritt dieser allerdings fundamentalen Veränderung der Sachlage zu thun sei, vollständig anheimstellen. Die Niemoiren übergehen diese Ordre gänzlich. Dem General Stutterheim, der mit dem Ersuchen des Kaisers Franz um Intervention am 15. December, wie dem Fürsten Dolgoruki, der am 16. December in Berlin eintraf, hielt der König vor: „warum man wenige Tage bevor der für Napoleons Antwort bestimmte Termin abgelaufen, zum Schlagen vorgegangen, warum man ohne ihn (den König) zu fragen, Waffenstillstand geschlossen, und einen Waffenstillstand, der ihm die Möglichkeit nehme, seine Truppen in Oesterreich einrücken zu lassen; die Befehle zum Einmarsch in Böhmen waren gegeben^)." Oesterreich hatte in der ') Hardenberg an Goltz 13. December; geh. Staatsarchiv. 2) Geh. Staatsarchiv. 2) Dkmilsvski I. c!. p. 311.

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That auf das Bündniß mit Rußland verzichtet, jener Stillstand schrieb den Rückzug der russischen Armee auf bestimmten Straßen und in bestimmten Tagemärschen durch Ungarn vor, und Artikel 6 desselben setzte fest, daß „während der Dauer des Stillstands keine fremde Armee den Boden Oesterreichs betreten dürfe". Die Memoiren geben zu verstehen, daß Hardenberg auch nach diesem Stillstande an dem Vertrage vom 3. November festzuhalten gemeint gewesen sei. Schon jene Ordre vom 12. December beweist das Gegentheil. Am 19. December schrieb er Haugwitz nach Wien: Stutterheim sei abgewiesen, da man sich jetzt zu nichts verpflichten dürfe und es wünschenswerth sei, den Krieg zu vermeiden, wenn es mit Ehre und Sicherheit geschehen könne. Und zwei Tage darauf antwortete er dem Vertreter Rußlands, Alopeus, auf dessen Frage: ob Preußen, falls die Friedensverhandlung zwischen Oesterreich und Frankreich nicht zum Ziele führe, den essus koeäeris auf Grund des Vertrags vom 3. November als eingetreten anerkenne: „Der Vertrag von Potsdam sei nur ein eventueller gewesen und die Verpflichtungen desselben bedürften nach dem was eingetreten wäre, zum wenigsten großer Modifikationen" (1, 380). Trotz Austerlitz, trotz der Trennung Oesterreichs von Rußland, trotz des Waffenstillstandes war man in Berlin keineswegs in ungünstiger Lage. Was Preußen vor Allem brauchte, die Entfernung der Franzosen aus Hannover, war eingetreteil. Eine höchst günstige Verkettung der Umstände hatte den schweren Fehler des Frühjahrs 1803 beseitigt. Es war zunächst nur nöthig, sich im Besitz Hannovers, im Besitz Norddeutschlands zu behaupten, das Weitere Napoleon zu überlassen. Man war gerüstet, die Armee stand mit den Sachsen und Hessen an den Südgrenzen des Staats bereit. Alexander wies die Corps von Tolstoi und Bennigsen, von denen Tolstoi an der Weser, Bennigsen in Schlesien stand, zusammen 65,000 Mann, an die Befehle des Königs von Preußen. Dazu kamen noch 24,000 Engländer lind einige Tausend Schweden: genug, man war, wenn auch die Erndte sehr schlecht ausgefallen war und die Verpflegung Schwierigkeiten machte, in guter Verfassung und gewährte auch in

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dieser Stellung der Unterhandlung Oesterreichs über den Frieden einen unverächtlichen Stützpunkt. Dem Angriff Napoleons konnte man mit gegen 300,000 Mann begegnen. Diese Position wurde in der That auf Hardenbergs Antrag (1, 375) eingenommen. Aber er beging leider hier wieder genau denselben Fehler, den er bei der Einleitung der Action Preußens im October begangen. S o wenig er damals ohne Umweg auf das Ziel losging, so unterließ er es auch jetzt, Napoleon entschlossen die Stirn zu zeigen. Gab es eine einfachere Stellung und eine günstigere Lage als, wohlgerttstet wie man war und Rußland hinter sich, Napoleon zu sagen: du beherrschest Süddeutschland und hast Oesterreich besiegt, Norddeutschland schützen wir; bereit, im Frieden mit dir zu leben, wenn du auf jeden Uebergriff nach Norddeutschland und auf Hannover verzichtest. I m andern Fall findest du uns entschlossen, unser Machtgebiet zu vertheidigen. — Die Memoiren zeigen, daß Hardenberg die Bedeutung der Rüstung, in welcher sich Preußen befand, nicht verkannte. Dennoch verwerthete er dies Gewicht in schwächlichster Weise. Wohl sagte er dem Vertreter Englands in der Note vom 22. December: Der König werde den Versuch der Reoccupation Hannovers durch französische Truppen als eine feindselige Maßnahme ansehen (I, 382), aber in der Note, welche er am 19. December dem Vertreter Frankreichs übergeben hatte, war diese Absicht nur auf das Leiseste und Verhüllteste angedeutet. Der König nehme nunmehr die Bedingungen an, so heißt es in dieser Note, welche Napoleon von Haugwitz als Voraussetzung der Annahme der Mediation Preußens gefordert habe (Nichtzulassung eines Angriffs von Hannover aus auf Holland, Verproviantirung Hamelns), vorausgesetzt daß auch Napoleon sich verpflichte, keine Truppen zwischen Rhein und Main nach Norddeutschland zu schicken und während der Verhandlung nichts gegen Hannover zu unternehmen. „Die Sicherheit Preußens würde aufhören, wenn so zu sagen das Kriegstheater in das Herz seiner Provinzen verlegt würde, sie wäre beständig bedroht, wenn französische Truppen in das Kurfürstenthum zurückkehrten. Der König wünsche aufrichtig, Alles zu beseitigen, was irgend welche

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Kollision zwischen Frankreich und Preußen herbeiführen könne, er würde gern zu einem Arrangement mit dem Kaiser Napoleon über die Erhaltung der Ruhe in Norddeutschland und über die Besetzung Hannovers durch preußische Truppen bis zum Frieden die Hand bieten und sich eifrig bemühen, den Frieden für Europa herzustellen. Ob die Umstände seine Mediation zwischen Frankreich und Oesterreich noch zuließen, wisse er nicht, aber er würde sie bereitwillig eintreten lassen, wenn sie noch von einigem Nutzen sein könne." — Rußland ist abhängig von Frankreich, Deutschland aus den Knieen vor Napoleon und Oesterreich durch Drohungen paralysirt". Steins Rücktritt war kein Systemwechsel. War es sein Gedanke gewesen, Volk und Armee bereit zu machen, beim Ausbruche des ersten Conflikts zwischen Rußland und Frankreich, zwischen Oesterreich und Frankreich die Waffen ergreifen zu können — seine Nachfolger theilten ihn. Als Oesterreich die Rüstungen, die es im Anglist eingestellt, im Spätherbst wieder aufnahm, führte Goltz dem Könige, der eben im Begriff war, einer dringenden Einladung. Kaiser Alexanders nach Petersburg zu folgen, in einem wohlmotivirten Votum, dein sich Dohna, Altenstein und Scharnhorst anschlössen, aus: Preußen müsse sich entweder in die Anne Napoleons werfeil oder die letzten Mittel zusammenraffen, um sich Oesterreich

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anzuschließen, das wahrscheinlich zuerst die Waffen erheben werde. Ohne Kenntniß der Absichten Oesterreichs sei Preußens System nicht festzustellen; eine geheime Mission nach Wien daher unaufschieblich, während es die Aufgabe des Königs selbst sein werde, in Petersburg Rußlands Unterstützung, wenigstens dessen Zustimmung zu dem Wege zu gewinnen, den Preußen einzuschlagen gedenke (24. December). Der König hatte bereits angeordnet, daß Scharnhorst ihm nach Petersburg folge; die Sendung uach Wien übertrug er dem Major Heinrich Goltz. Dem Kaiser Franz schrieb er zu Goltz' Beglaubigung am Tage vor der Abreise: tausend Gründe riethen ihm, die Residenz nach Berlin zu legen. Aber durch die französischen Besatzungen der Oderfestungen von der Hauptmasse des Staats getrennt, werde er sich dort in kritischer Lage befinden. Oesterreichs Beziehungen zu Napoleon, die unvermeidlich auf Preußen zurückwirken würden, seien ihm unbekannt, er bitte deshalb um rechtzeitige Mittheilung der Entschlüsse des Kaisers: „damit ich Frau und Kinder in Sicherheit bringen und Maßregeln treffen kann, die unseren gemeinsamen Interessen entsprechen" (26. December). Manche Enttäuschung hatte Kaiser Alexander dem Könige seit den Tagen von Tilsit bereitet; die unvermuthetste erfuhr er jetzt in Petersburg. Aus dem Munde Alexanders vernahm er, was zu Erfurt unterschrieben worden. „Weit entfernt, für Oesterreich die Waffen ergreifen oder auch nur neutral bleiben zu können, so sagte Alexander, sei er im Gegentheil verbunden, mit 150,000 Mann für Frankreich ins Feld zu ziehen, wenn Oesterreich der angreifende Theil sei." Die Voraussetzungen, von denen man in Königsberg ausgegangen, die Hoffnungen, mit denen man sich getragen, waren hinfällig; der vordem so eifrige Vorkämpfer der Unabhängigkeit Europa's hatte sich als Genosse und Helfer der Unterdrückung enthüllt. Den vereinten Kräften Rußlands und Frankreichs war Oesterreich, auch mit Preußen, nicht gewachsen. Bei solcher Lage könne es sich nur um Erhaltung des Friedens handeln, meinte der

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König. Oesterreich werde nicht vorgehen, wenn ihm vor Napoleons Angriff Sicherheit geboten werde. I n einem Defensivbündniß Rußlands, Oesterreichs und Preußens werde es diese unzweifelhaft finden. Der König führte diesen Vorschlag in einem Memoire weiter aus. Er hoffte, Alexander werde sich auf diesem Wege allmälig von der Allianz mit Frankreich abziehen lassen. Alexander wies den Gedanken nicht geradehin zurück: „er werde eine wechselseitige Garantie des Territorialbestandes zwischen Rußland, Frankreich und Oesterreich vorschlagen und halte sich versichert, daß Napoleon hierauf eingehe". Dem Könige selbst rieth er zur baldigen Verlegung der Residenz nach Berlin, die Napoleon verlangt hatte, zum engsten Anschluß an Frankreich. Der König erwiderte, daß in Berlin seine Entschlüsse nicht frei sein würden. Seinen Vertretern in Petersburg, Schladen und Schüler, ließ der König bei der Verabschiedung zu Opolje die Weisung zurück: „da die Dispositionen und die Anschauungsweise Alexanders nicht zu hoffen gestatteten, daß er mit Oesterreich gemeinsame Sache machen werde, hätten sie keine Anstrengungen zu unterlassen, den Kaiser wenigstens zu einer rein defensiven Allianz zwischen Rußland, Oesterreich und Preußen zu bewegen". I n Wien war schon im December beschlossen worden, aggressiv gegen Frankreich vorzugehen. Oesterreichs damaliger Vertreter in Paris, Graf Metternich, hatte sich durch Confidenzen Talleyrands, die ihm dieser auf Befehl zuflüsterte, um Oesterreich zum Angriffskriege zu verleiten: Napoleon könne nicht mehr auf Frankreich zählen, der Krieg in Spanien nehme alle Kräfte in Anspruch, vergeblich habe sich Napoleon zu Erfurt um Alexander bemüht — vollständig täuschen lassen. Kaiser Franz selbst theilte dem Major Goltz den Entschluß anzugreifen mit, nur der Zeitpunkt sei noch unbestimmt (19. Januar). Erzherzog Karl ließ ihm mittheilen: die Hanptarmee werde aus Böhmen vorbrechen, zwischen Frank!) Die betreffenden Denkschriften Metternichs bei Beer, Zehn Jahre S . 516 ff.

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furt und Krossen gesammelt, würden die preußisch»? Truppen sich dem rechten Flügel anschließen können; ein besonderes Corps unter Erzherzog Ferdinand werde die Aufregung Galiziens im Zaum halten und Oesterreich im Rücken gegen die Armee des Herzogthums Warschau decken, die Mitwirkung preußischer Truppen von Ostpreußen her diese Aufgabe jedenfalls erleichtern'). Noch auf der Rückreise von Petersburg hatte der König dem Fürsten Schwarzenberg, der ihm begegnend nach Petersburg ging, um Rußlands Cooperation zu erwirken — es war zu Pungern — mitgetheilt: „ihm sei dort leider die sicherste Ueberzeugung geworden, daß Oesterreich, im Fall es Angreifer sei, darauf zu rechnen habe, Rußlands Streikräfte gegen sich im Felde zu sehen. I m Namen der guten Sache müsse er Kaiser Franz zu bedenken geben, daß jeder übereilte Schritt unfehlbar und unabänderlich den Ruin Europa's herbeiführen werde ^)." I m Besitz der Berichte des Major Goltz und einer Aufforderung des Wiener Cabinets, sich ihm anzuschließen, ließ der König dieselbe Warnung in Königsberg dem 2) Die Angaben bei Beer (Zehn J a h r e S . 557) bedürfen der Berichtigung. Major Goltz konnte am 6. J a n u a r dem Erzherzog Karl nicht die Reinschrift einer Convention übergeben; er ist am 1. J a n u a r von Königsberg abgereist und in der Nacht vom 13. zum 14. J a n u a r in Wien angekommen. E r hat den Erzherzog Karl zwar gleich nach seiner Ankunft aufgesucht, jedoch diesem von seiner Mission, die nach der vorliegenden Jnstruction nur auf Erkundung des S t a n d e s der Rüstungen und der Absichten Oesterreichs: ob sein Entschluß bereits gefaßt, ob es aggressiv vorgehen oder sich defensiv halten wolle, gerichtet war, nichts verrathen. Erst drei Wochen nach seiner Audienz beim Kaiser, die am 19. J a n u a r stattfand, in der Nacht vom 5. zum 6. Februar theilten ihm Mayer und Grünne die Grundzüge des Operationsplans mit. Nur Eine Zusammenkunft mit diesen hat nach Goltz Bericht stattgefunden. Zum Abschluß einer Convention war er weder instruirt noch bevollmächtigt. Auch sein Schlußbericht erwähnt mit keiner Silbe einer Convention. Am 7. J a n u a r hatte ihm der Minister noch die Weisung nachgesendet: „in Wien nichts zu thun, was die künftigen Entschlüsse der K ö n i g s compromittiren könnte." Des M i n i s t e r s Meinung ging in diesen Tagen allerdings dahin, daß es zweckmäßig sei, Preußens Absicht, f ü r den Kriegsfall mit Oesterreich zu gehen, zu verstehen zu geben. 2) Bericht Schwarzenbergs, Petersburg, 15. J a n u a r 1809, im H a u s - u n d Staatsarchiv zu Wien.

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dortigen Geschäftsträger Oesterreichs wiederholen. Napoleon habe neue Erfolge in Spanien davon getragen und sei stärker als je. Der Kampf, den Oesterreich unternehmen wolle, sei voraussichtlich der letzte und für die Unabhängigkeit der noch vorhandenen Staaten entscheidend; er dürfe nicht unter ungünstigen Aussichten eröffnet werden. Wenn der König die Beziehungen Rußlands und Frankreichs richtig kenne, müsse Rußland Frankreich assistiren, falls Oesterreich angreife. Lasse sich Oesterreich dagegen angreifen, dann würde ihm Rußland wohl zur Seite stehen, da Alexander doch einen Angriff Napoleons auf Oesterreich und Preußen nicht dulden werde. Oesterreich möge demnach die Vermittlung Rußlands anrufen, während Rußland, Oesterreich und Preußen zugleich ein Desensivbündniß schlössen, das einen festen Damm gegen Frankreich bilden werde. Der König könne nur unter dem Schleier des Geheimnisses seinen Entschluß fassen, wenn von der Elbe her (hier stand die bereits auf 90,000 Mann verstärkte Armee Davonsts) nicht eine neue Occupation erfolgen solle, bevor die Truppen zur Abwehr gesammelt werden könnten. Goltz stellte dem Könige vor: weder Oesterreich noch Frankreich würde sich zurückhalten lassen, auch nicht durch die Jnterposition Rußlands; es müsse Entschluß gefaßt und Vorsorge für den Kriegsfall getroffen werden. Der Finanzminister, Altenstein, erklärte, die für die Contributionsraten erforderlichen Summen höchstens noch für den nächsten Termin aufbringen zu können; es sei unmöglich, dem Lande den letzten Heller abzupressen, um Napoleon Geld zur Bekämpfung Oesterreichs zu liefern; die letzten Mittel müßten in muthiger Erhebung für den Befreiungskampf verwendet werden. Scharnhorst meinte, die Armee in vier bis sechs Wochen auf 70,000 Mann bringen zu können. Der Mannschaften war man sicher, aber Napoleon und seine große Armee hatten dafür gesorgt, daß an Pserden, Waffen und Munition der größte Mangel herrschte. Nachdrücklichst hatte Napoleon eingeschärft, dafür zu sorgen, daß keine Flinte, kein Pulverkorn, keine Ausrüstungsmittel in Preußen zurückblieben. Der Pnlvervorrath war so schwer zu ersetzen, daß

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die schlesische Artillerie ihre Schießübung nicht halten konnte. Die Berathungen nach der Rückkehr des Königs führten zu den Beschlüssen : die angeknüpfte Unterhandlung mit Oesterreich fortzusetzen, um sich dessen Assistenz zu sichern, die Action des Hülfscorps gegen Oesterreich nicht eintreten zu lassen, und alle Streitmittel zu organisiren, um für jeden Fall bereit zu sein. Deutlich lassen die Erwägungen, die der König in diesen Tagen niedergeschrieben hat, seine Auffassung der Lage erkennen. „Die Gründe für den Beitritt Preußens zur Sache Oesterreichs sind an sich nicht füglich zu widerlegen; dennoch bleibt der Entschluß bei der dermaligen Erschöpfung Preußens, der entgegengesetztesten Politik Rußlands und dem geringen Vertrauen, welches leider die Anführer der gegen Napoleon aufzustellenden Kriegsmacht einflößen, sehr gewagt. Bevor er gefaßt wird, muß Preußen sich vorsehen, daß sein Eintritt unter Umständen erfolge, die einige Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang gewähren. Diese wären vorhanden, wenn Oesterreich zuvor mit seiner Hauptmacht einige bedeutende Fortschritte gemacht, Erzherzog Ferdinand das Herzogthum Warschau, dem man wohl eine constitutionelle Verfassung zugestehen könnte, erobert habe, ein detachirtes Corps von etwa 40,000 Mann bis Cassel vorgedrungen wäre, um den Beitritt des nördlichen Deutschlands zu begünstigen und Preußen die Rüstung zu erleichtern. Man müßte ferner sicher sein, daß voll Seiten Englands Landungen in Norddeutschland erfolgten, daß es Subsidien, Waffen und Munition herbeischaffen werde, um nicht aberinals wie im letzten Feldzuge leer auszugehen. Fielen diese Unterstützungen weg, so würde der Zutritt Preußens wenn nicht unmöglich, doch von so geringer Bedeutung für den günstigen Erfolg bleiben, daß die Gefahr Preußens mit dem Vortheil für das Ganze schwerlich ins Gleichgewicht zu bringeil sein würde. Bis dahin, daß wir auf das Bestimmteste versichert sind, was von Seiten Englands zu erwarten ist, muß sich auch die Politik Rußlands hinlänglich ausgesprochen haben, um dessen fernere Maßregeln beurtheilen zu können. Dann erst kann Preußen seine Rolle übernehmen; dann aber ist auch Alles auszu-

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biete», mit möglichster Kraftanstrengung aufzutreten. Der Einheit wegen ist es nöthig, die preußischen Truppen unter österreichischen Befehl zu stellen. Erreicht Oesterreich jene Erfolge nicht, so bleibt Preußen bei seiner Entblößung an Mitteln nichts übrig, als sich ruhig zu halten und das Weitere zu erwarten. Damit im schlimmsten Fall dieser Ausweg offen bleibt, müssen wir uns vorsehen, keine compromittirenden Schritte zu thu», bis der entscheidende Moment gekommen sein wird. Bis zu diesem großen Augenblick haben wir uns lediglich mit Vorbereitungen zu beschäftigen, die für Vorsichtsmaßregeln wegen der Nähe des Kriegstheaters oder für Vorbereitungen, unsern Verpflichtungen gegen Frankreich genügen zu können, auszugeben sein werden." I n diesem Sinn wurde die Note beantwortet, welche der Geschäftsträger Oesterreichs am 8. März übergab. Sie stellte den Ausbruch des Kriegs in nahe Aussicht, erklärte die Bereitschaft Oesterreichs, Preußen für den Fall aktiver Cooperation die Restitution der polnischen und überelbischen Provinzen zu garantiren und sprach das Verlangen nach Feststellung des ModuK der Cooperation Preußens aus, deren Grundzüge zugleich angedeutet wurden. Die Erwiderung lautete: Die Verpflichtungen Rußlands gegen Frankreich seien dem Könige nicht bekannt gewesen, als Major Goltz nach Wien gesendet wurde. Der König beharre in der Meinung, den Ausbruch des Kriegs als ein Unglück für Europa und für Deutschland zu betrachten. Der König habe den Kaiser Alexander aufgefordert, den Versuch der Ausgleichung zwischen Oesterreich und Frankreich zu übernehmen und habe den Glauben au dessen Erfolg noch nicht völlig aufgegeben. Wenn Oesterreich jedoch den Krieg nicht vermeiden könne, möge es sich wenigstens defensiv halten. S c h o n jetzt einen Entschluß zu fassen, erlaubten dem Könige seine Verpflichtungen gegen Frankreich und Rußland nicht (13. März). Napoleon hatte weder am Ebro noch am Duero, weder in Burgos noch in Madrid Preußen aus dem Auge verloren. Seit dem August des Jahres 1808 stand sein Entschluß sest, den Krieg gegen Oesterreich bis dahin zu vertagen, daß der eben in Anda-

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lusien und an der Mündung des Tajo verdunkelte Glanz seil,er Waffen dort wieder hergestellt sei, d. h. bis zum nächsten Frühjahr. Bereits in Erfurt traf er Vorsorge, daß Oesterreich dann der Angreifer sei. Daß sich in diesem Kampfe Preußen trotz Allein Oesterreich anschließen könne, zog er in Rechnung. Von Arcmda aus gab er Ende November seinem Kriegsminister Weisung, die aus den preußischen Festungen weggeführten, in Magdeburg gesammelten Geschütze über Hamburg nach Frankreich schaffen zu lassen. Nur so viel solle neben dem Geschütz des Platzes selbst zurückbleiben, um hier für Stettin und Küstrin, Falls diese verloren gingen, Belagerungsparks bilden zu können. Sollte jedock Magdeburg ebenfalls verloren gehen, so dürsten nur dessen Geschütze dem Gegner in die Hände fallen i). Seinein Gesandten S t . Marsan, den er Ende Januar 1809 nach Berlin schickte, befahl er, auf der Stelle wieder abzureisen, Falls Stein noch in Preußen sei, andern Falls in Berlin zu bleiben (um die Rückkehr des Königs dorthin zu erzwingen), und scharf darüber zu wachen, daß die Armee nicht verstärkt werde; die Verstärkung sei Kriegsfall. Der König beharrte darauf, nicht nach Berlin zu gehen. Das Verbleiben des Königs jenseits der Weichsel zu decken und seine Stelle den Gesandten der Mächte gegenüber in Berlin zu vertreten, mußte endlich Ende März der Minister des Auswärtigen dort postirt werden. Zu seiner Instruktion für die dornigen Verhandlungen, die ihn erwarteten, legte er dem Könige einige Fragen vor und erbat schriftliche Beantwortung. „Was thun wir, wenn das Hülfscorps und die Contributionsraten gefordert werden?" Wir suchen Zeit zu gewinnen, um uns etwas in Verfassung zu setzen. „Was thun wir, wenn Napoleon, unter dem Vorwand, uns gegen Oesterreich zu vertheidigen, die Marken besetzen läßt und Einräumung der schlesischen Festungen fordert?" Die Festlingen sind kräftig zu vertheidigen, die Truppen werden aus den Weisung vom 28. November 1808 und danach vom 25. Februar 28. März und 5. April 1809; Lorr. Xap.

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Marken zurückgenommen. „Sollen wir Alles der Verbindung mit Rußland und den erzwungenm Verpflichtungen gegen Frankreich opfern?" Wir müssen uns in den Stand setzen, allen Fällen zu begegnm, und so lange wir es nicht sind , keine Unbedachtsamkeiten begehen. „Wäre nicht das Rathsamste, die Dringlichkeit der Gefahr in Petersburg geltend zu machen und den Entschluß zu fassen, den gerechte Abwehr und die höchsten Interessen des Staats gebieten?" Es kann dort Einleitung in diesem Sinne unter dem Vorbehalt getroffen werden, diesen Entschluß zu nehmen, indem man die Dinge kommen läßt. Schon jetzt positive I n struktionen für die Zukunft zu geben ist unmöglich. I n Wien glaubte man, sich in militärisch höchst überlegener Position zu befinden; Napoleon habe die Mittel nicht, zugleich in Spanien und Deutschland zu kämpfen, man zog sogar in Zweifel, daß er diesseit des Rheins Stand halten werde Die Kriegser klärung war täglich zu erwarten, als höchst unvermuthet König Gustav IV. von Schweden wegen seines hartnäckigen Widerstandes gegen das französische System, der Schweden in den Krieg mit Frankreich, Rußland und Dänemark gebracht hatte, vom Throne gestoßen wurde (13. März). Sein Nachfolger knüpfte auf der Stelle Unterhandlungen mit Frankreich und Rußland an, uin Schweden den Frieden mit diesem wie mit jenem zu geben. „Nachdem wir wissen", so notirt der König, „daß Schweden durch die Regierungsveränderung auch seine Politik verändert hat und also binnen Kurzem der Friede dieses Reichs mit Frankreich und Rußland zu Stande kommen wird, hat die ganze Lage der Dinge auch für uns eine andere Wendung bekommen. Denn entweder zieht Rußland seine Truppen nach dem Friedensschluß aus Finnland zurück und unterstützt die Pläne Oesterreichs gegen Frankreich durch eine namhafte Macht oder es hält sein Verhältniß zu Frankreich

!) Finkensteins 6. April 1809.

Berichte

vom 5., 11., 15.,

D u n c k e r , Avhandl. a. d. n. Gesch.

18.

und 29. März und 1Z

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fest. Dann wird der Sund gänzlich gesperrt, die Kommunikatioir zwischen England und den preußischen Häsen hierdurch unmöglich» gemacht und alle Ressourcen, die Preußen im Fall des Beitritts zu Oesterreich von England zu erwarten hat, und deren es durchaus bedarf, bleiben aus. Rußland verstärkt durch die Truppen, die in Finnland gefochten haben, die drei bis vier Divisionen, die jetzt schon zwischen Brezc-Litewski und Wilna stehen und ist von diesem Augenblick an im Stande, eine sehr kräftige Diversion zu Gunsten Frankreichs auszuführen. Hätte sich Preußen nun zu früh entschlossen, mit Oesterreich gemeinschaftliche Sache zu machen, so käme es in die schrecklichste Verlegenheit, da es den Russen unter dieser Voraussetzung nicht schwer werden würde, ganz Ostpreußen zu erobern und noch weiter vorzudringen, wenn sie wollen." Der König folgert aus diesen Vordersätzen, daß Preußen sehr behutsam zu Werke gehen müsse, um nicht die Freundschaft Rußlands auch noch zu verscherzen, „deren Verlust uns theuer zu stehen kommen könnte". Es sei zu bedauern, daß Oesterreich so leichtsinnig zu Werke gegangen, ohne die Absichten Rußlands gehörig erforscht zu haben und wenn nicht auf dessen Unterstützung, doch wenigstens auf dessen Neutralität zählen zu können, und daß es sich auf eine bedeutende Anstrengung Preußens Rechnung gemacht, ohne darüber die mindeste Gewißheit zu haben. Die unüberlegten Beschlüsse Oesterreichs würden durch einen ebenso übereilten Schritt Preußens nicht gebessert werden, wenngleich die Rückwirkung der ersteren auf Preußen nicht in Abrede zu stellen sei. Preußen müsse sich also fürs Erste ruhig halten. Trotz dieses Ergebnisses seiner Erwägungen traf der König doch zugleich Einleitung für den anderen Fall, indem er den Kaiser Alexander am 24. März durch ein Schreiben um die Zusage ersuchte: „die Unabhängigkeit und I n tegrität Preußens vertheidigen zu helfen, Falls Preußen seine Verpflichtungen gegen Frankreich nicht zu erfüllen vermöge oder Frankreich den Versuch einer Reokkupation mache." Alexander war gerade beschäftigt, mit dem Herzog von Vicenza den Kriegsplan gegen Oesterreich zu vereinbaren — Napoleon wünschte, daß die russische Armee über Warschau und Breslau auf

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Dresden vorgehe, um Preußen jede Bewegung unmöglich zu machen' > — als Major Schöler, der von dieser Verhandlung keine Ahnung hatte, ihm am 12. April das Schreiben des Königs überreichte. Nachdem Alexander gelesen, sagte er Schöler: „Ich kann den König durch Erregung falscher Hoffnungen nicht täuschen. Ich muß daher bestimmt erklären, daß ich durch die Lage, in der ich mich nun einmal befinde, durchaus an strenge Erfüllung aller bestehenden Verträge gebunden bin. Giebt Preußen durch Nichterfüllung seiner Verpflichtungen Frankreich Anlaß zu unangenehmen Maßregeln, so kann ich deshalb Rußland nicht in Krieg verwickeln, so bestimmt ich, wenn Frankreich ohne Grund gegen Preußen vorginge, den König aus allen Kräften unterstützen würde." „Der Kaiser giebt Ew. Majestät den Streichen des unversöhnlichen Feindes aussichtlos preis"; in diese Worte faßt Schladen die Bedeutung der Erklärung des Kaisers zusammen. Der Krieg hatte seit zwei Tagen begonnen, als Alexander dieselbe abgab. I n Berlin von der schwellenden Erregung und von dem Gesandten Oesterreichs, Wessenberg, gedrängt, beschwor Goltz in einer ununterbrochenen Reihe dringendster Berichte den König, zu den Waffen zu greifen. Der Friede zwischen Rußland-Frankreich und Schweden kam vorerst nicht zu Stande, eine starke englische Flotte erschien in der Ostsee, die Sperrung des Sundes war nicht mehr zu besorgen; aus London wurde gemeldet, daß eine ansehnliche englische Truppenzahl vor Ende Mai in der Weser oder in der Elbe ausgeschifft sein werde. Mit dem siebenten österreichischen Corps überschritt Erzherzog Ferdinand die Pilitza, warf die Armee des Herzogthums auf Warschau zurück, welches ihm drei Tage darauf die Thore öffnete, und meldete dem Könige am 22. April, daß er Befehl habe, das Herzogthum Warschau Preußen zu übergeben, sobald sich der König bewogen finde, gemeinsame Sache mit Oesterreich zu machen. !) Caulaincourt wiederholte am 16. April dem Kaiser Alexander diesen Vorschlag; LiZnon kiZtoirs cle Trance 8, 181. 244. 18*

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Jene Bedingungen, die der König für den Eintritt Preußeiis vorgezeichnet, schienen sich zu erfüllen. War auch kein österreichisches Corps nach Norddeutschland detachirt — die Verlegung des Kriegstheaters von Böhmen an die Donau hatte auch die starke Armee Davousts dorthin gezogen; Napoleon hatte an der Elbe nur noch über die Contingente Sachsens und Westphalens, über eine holländische und eine dänische Division zu verfügen. Der Augenblick des Entschlusses war gekommen. „Die Hauptfrage war so wichtig, daß ich ihre Entscheidung nicht überstürzen wollte, so schreibt der König Goltz am 3V. April. Da dieser Entschluß die wichtigsten Interessen der Monarchie betrifft, habe ich für angemessen erachtet, die Prinzen, meine Brüder, von Allem unterrichten zu lassen, um sie in den Stand zu setzen, ihre Meinung in voller Sachkunde abzugeben." Dem Erzherzog Ferdinand habe er ablehnend geantwortet; Goltz möge Wessenberg die Unmöglichkeit vorstellen, anders zu erwidern, bevor die Hauptfrage definitiv entschieden sei. Die Annahme Warschau's wäre die Deklaration des Bündnisses mit Oesterreich gewesen. Seinem Gesandten in Paris gab der König jedoch an demselben Tage Weisung, dort zu erklären, die Contribution könne nicht weiter gezahlt werden, zunächst müsse Frist, späterhin Erleichterungen gewährt werden. Obgleich nun die Kriegserklärung Rußlands gegen Oesterreich wirklich erfolgte, obgleich die Hauptbedingung des Königs, Erfolge der Oesterreicher gegen Napoleon, nicht nur nicht in Erfüllung ging, vielmehr, „die Campagne der fünf Tage" der großen österreichischen Armee bei Thann und Abensberg, bei Landshut und Eckmühl die schwersten Verluste eintrug (19.—24. April), Erzherzog Carl nur mit Mühe das linke Donauufer gewann und sich zu einem Rückzüge gezwungen sah, der Wien dem Gegner preisgab — der König beharrte auf dem Wege, den er am 30. April eingeschlagen. Die Unfälle der großen österreichischen Armee waren in Königsberg bekam,t und der Bericht über den Losbruch Schills war in der Hand des Königs, als er am 9. Mai seinem Minister in Berlin schrieb: „Mein Entschluß ist gefaßt; und ich eröffne Euch, daß er mit Eurem

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Antrage im Wesentlichen übereinstimmt. Ich mache Euch für das Geheimniß verantwortlich und glaube, Euch den besten Beweis meines Vertrauens zu geben, indem ich Euch hierdurch autorisire, zur Dämpfung der dortigen brausenden Stimmung, welche die oberen Militär- und Civilbehörden theils sogar durch pflichtwidrige Theilnahme befördert haben, die vorzüglichsten Urheber oder Lenker dieser überspannten Stimmung durch vorsichtige Winke über die Entwickelung der Hauptsache selbst oder durch Andere zu beruhigen." Goltz könne sich dazu des Präsidenten Grüner, des Major Gaudi oder wer ihm sonst vertrauenswürdig erscheine, bedienen'). Wenige 5) Bei Ranke (Hardenberg 4, 185) ist zuerst der Erlaß des Königs über Schills Insubordination und die in Folge derselben ergriffenen Maßregeln von demselben Tage angeführt, welchen Goltz S t . Marsan vorzeigen sollte. Wenn dann die Absicht des vertraulichen Schreibens durch eine Vermuthung festgestellt wird, so bedürfte es deren nicht, da die oben angeführten Eingangsworte desselben: Mein Entschluß ist gefaßt u. f. w. keinen Zweifel über S i n n und Bedeutung dieser Weisung gestattet. Ebenso unnöthig und noch unhaltbarer ist die folgende Vermuthung ( S . 183. 184): der König sei durch zwei zusammentreffende Nachrichten zum Entschluß zu Oesterreich zu treten bestimmt worden. Die erste soll in Hinterbringung einer Aeußerung Napoleons bestehen. Napoleon soll Berthier auf die Nachricht von Schills Losbruch geschrieben haben: ?atienee mo» eker k e r t k i e r ! I^ai88e2 i n o i 8 e u 1 e m e n t 1e t e m p 8 ä s ü i n r a v e e 1e8 ^ . u t r i e d i e n 8 .

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yue laedement exeeute8. Diese Herzenserleichterung, welche man in der ^'orreLponäanee Napoleon vergeblich suchen würde, soll Napoleon zwischen dem 5. und 10. Mai, d. h. in den Tagen, wo ihn die erste Nachricht über Schill erreichen konnte, abgefaßt haben, d. h. in Tagen, wo er Berthier, den er übrigens in keinem Schreiben eker Berthier angeredet hat, ganz andere Dinge dringlichster Art zu befehlen hatte. Von diesem Briefe soll S t . Marsan Copie erhalten haben und von dieser Copie will ein Spion Abschrift genommen haben und diese Abschrift hat den Entschluß des Königs zur Hälfte bestimmt. Der König hatte die Contribution am 30. April in Paris aufgekündigt, und am 9. Mai, wie oben gesagt, Goltz geschrieben: „Mein Entschluß ist gefaßt." Schill ist am 28. April aus Berlin marschirt und v o r dem 9. Mai sollte diese angebliche Abschrift dieses angeblichen Briefes Napoleons bereits in Königsberg gewesen sein? Zur Feststellung der thatsächlichen Auffassung Napoleons von

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Tage nach Eingang dieses Schreibens brachte der Erbprinz von Oranien dem Minister von Königsberg die Weisung, mit Wessenberg abzuschließen und zwar in der Form, daß er mit diesem eine Note vereinbare, in welcher Oesterreich Preußen die Restitution der alten Provinzen mit einer guten Grenze zusage. Für den Fall eines nachtheiligen Friedens müßten die Verluste nach Verhältniß des gegenwärtigen Gebietsumfanges getragen werden und Preußen eine Existenz behalten, Falls Oesterreich solche behielte. Um die Polen von Napoleon abzubringen^), möge Oesterreich seine Zustimmung dazu aussprechen, daß das Herzogthum als unabhängiger Staat constituirt werde, dagegen werde Preußen etwa acht Wochen nach Annahme der Note mit allen seinen Streitmitteln in den Krieg eintreten. „Sie wissen, welche gewichtigen Motive mich bei Ihrer Abreise nach Berlin abhielten, einen entscheidenden Beschluß zu sassen. Sagen S i e Wessenberg, daß ich dem Kaiser von Oesterreich nicht zum Kriege gerathen, dessen Erfolg mir auch da schon zweifelhaft schien, als Spanien Frankreich noch größere Verlegenheiten bereitete. dem Ereigniß Schill in jenen Tagen sind Spionennachrichten entbehrlich; sie liegt in den Weisungen an Jerome und Clarke vom 13., 19., 20. und 28. Mai deutlich genug vor. O'est dien x>eu äe ekose que 1a ?russe, schreibt er beruhigend Clarke. I n Königsberg bedürfte man über seine Gesinnung und Absichten neuer Aufklärung nicht. Nicht viel besser steht es mit der anderen bestimmenden Nachricht. Es handelt sich um einen Bericht Schladens vom 2. Mai, der am 12. Mai nach Königsberg gelangte, in welchem Schladen auf Schwarzenbergs Autorität hin mittheilt, daß Alexander gegen Oesterreich nur demonstriren werde, auch wenn seine Truppen in Oesterreich einrückten. Ob sich die Sache so verhielt, oder Schwarzenberg nur Schladen und durch ihn den König über Rußland beruhigen wollte, ist hier unerheblich (Schladen kommt am 26. Mai hierauf zurück und mindert seine Anzeige auf das herab was man bei Beer, Zehn Jahre S . 351 liest; vergleiche S . 399. 400). Der Beschluß des Königs war gefaßt, ehe Schladens Bericht vom 2. Mai in seiner Hand war. Er legte kein Gewicht auf denselben, wie seine eigenhändige Bemerkung über die „geheimen Nachrichten" — sie wird oben im Text erwähnt — zeigt. i) Die Polen, nicht die „Freischaaren der Polen" wie Ranke Hardenberg 4, 187 sagt, von Napoleon abzuziehen. D a s Herzogthum besaß bei Eröffnung des Krieges eine stattliche Armee von 25,000 Mann; die Abtheilungen ungerechnet, die sie zur Besatzung von Danzig und Stettin abgegeben hatte.

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Ungleich größer schieil mir die Gefahr für Oesterreich, seitdem ich die Bande kennen lernte, die Rußland an Frankreich fesseln. Vom ersten Augenblick sah ich für Preußen die Möglichkeit der Theilnahme nur dann, wenn Rußland dieselbe Partei nahm oder wenigstens neutral blieb. Seit gestern (13. Mai) weiß ich, daß Rußland sich erklärt hat und den Krieg gegen Oesterreich eröffnet. Sind die geheimen Nachrichten über dessen Nachdruck wahr, so wäre ich über die Folgen außer Sorge. Aber Rußland wird eine so unbestimmte Rolle nur sehr kurze Zeit spielen können, ohne sich zu compromittiren; es wird sich demnach für die eine oder die andere Partei ganz entscheiden müssen. Mich von Rußlands Seite ferner zu sichern ist das Ziel, das ich mit Eifer verfolge." Es sei zu bedauern, daß es Oesterreich nicht gelungen, durch Successe Frankreichs Aufmerksamkeit von Preußen abzuziehen, daß Napoleon nicht durch Forderung des Hülfscorps Vorwand zu Zusammenziehungen gegeben habe; um so mehr müsse sich der König die größte Geheimhaltung der Unterhandlung bedingen. Goltz müsse geltend machen, daß Oesterreich Jahre auf seine Rüstung verwendet habe, indeß Preußen durch alle Arten der Bedrückung erschöpft und desorganisirt worden sei; bei dem Maße, in welchem Geldmittel, Pferde und Waffen fehlten, in welchem dazu Danzig und die Oderfestungen jede Rüstungsmaßregel erschwerten, sei es um so weniger möglich gewesen, die Rüstung schnell nachzuholen. „Sobald die Note vereinbart ist, werde ich Dohna mit der nöthigen Vollmacht an Kaiser Franz abschicken, sie anzunehmen und deren Ausführung in meinem Namen zu versprechen. Nicht nur die Rüstung, auch die Vorstellungen, die ich in Petersburg mache, lassen mich mit meinem Eintreten noch zurückhalteil. Unter Voraussetzung der Sicherung von Seiten Rußlands, der Ausdauer Oesterreichs und der Vollendung der Rüstung Preußens bin ich zur Theilnahme am Kriege Oesterreichs fest entschlossen und kann ich nach meiner Denkart bei der kurzen Aussetzung meiner Hülfe um so weniger eine Weigerung beabsichtigen, als ich Frankreichs Absichteil gegen Preußen keime."

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Der Prinz von Oranien war beauftragt, dem Kaiser Franz sofort persönlich von dem Entschluß des. Königs und den Bedingungen, von welchen dessen Ausführung abhängig sei, vorläufige Mittheilung zu machen und eine Vereinbarung über den Operationsplan einzuleiten'). Der Oberstlieutenant Roedlich wurde an den Erzherzog Ferdinand abgesandt, die Ueberlassung von Waffen und Munition zu erwirken und daneben imHerzogthum an solchen aufzukaufen soviel er könne. Seine Instruktion lautete: „Sie werden dem Erzherzog in meinem Namen erklären, daß ich an dem Kriege Oesterreichs Theil nehmen werde, sobald meine Vorbereitungen beendet und meine Armee im Stande sein wird zu agiren^). Oberst Gneisenau, der sich zur Untersuchung stattgehabter Bauerntumulte in Schlesien befand (er sollte dabei zugleich die schlesischen Festungen und die Arbeiten am verschanzten Lager bei Glatz inspiciren und Major Knesebeck, der sich wechselnd in Prag und in Glatz aufhielt, wurden schleunigst nach Königsberg zurückgerufen. Schon am 9. Mai hatte der König Goltz angewiesen, den früheren Gesandten in London, Jacobi-Klöst, von seinem Gute bei Leipzig zur Reise nach Preußen zu veranlassen, den Agenten in London durch einen anderen zu ersetzen; etwa durch Graf Lehndorf. Vom Könige aufgefordert, hatte der Prinz von Oranien noch von Königsberg aus Mittheilung vom Entschlüsse des Königs nach London gelangen lassen und das dringende Bedürfniß an Waffen und Munition gel-

i) Oranien an den König 1. August 1809; g. St.-A. -> Jnstruction für Roedlich. Erzherzog Ferdinand an den König 7. J u n i ; g. St.-A. 5) Pertz, Gneisenau 1, SV3. Die Staffette des Königs traf Gneisenau am 18. Mai bei Jordansmühle. Gneisenau ist Inspecteur der Ingenieure und sämmtlicher Festungen. Am 28. April schreibt er aus Glatz nach Wien an den Grafen Hardenberg, er möge bewirken, daß Oesterreich und England eine deutsche Legion für den Fall bildeten, daß Preußen sich nicht am Kriege betheiligte, damit er und seine Gesinnungsgenossen wenigstens die verlorene militärische Ehre Preußens herstellten; er habe gute Verbindungen in der Armee auch in Thüringen, die Legion wird sich dem rechten Flügel der österreichischen Armee anschließen.

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tend gemacht'). Goltz beauftragte den vormaligen Gesandten Hannovers in Berlin, Ompteda, mit der Mission nach London ; Ompteda ging am 26. Mai dorthin ab ^). Die Vereinbarung jener Note traf auf höchst unerwartete Schwierigkeiten. Wiederholt hatte Goltz dem Könige berichtet, er würde in zwei bis drei Tagen mit Wessenberg abschließen können^ jetzt fand sich, daß Wessenberg zum Abschluß ohne Instruktion und Vollmacht war. Er beeilte sich, solche einzuholen. Stadion meinte nach den Eröffnungen des Prinzen von Oranien keines Vertrags mit Preußen zu bedürfen. Er befahl Wessenberg, sich nicht mit diplomatischen Formalitäten aufzuhalten, vielmehr zu erklären, datz jede weitere Verhandlung von der augenblicklichen Vereinigung der preußischen Streitkräfte mit denen Oesterreichs abhängig sei. Der Entschluß des Königs sei ja gefaßt, die Bedingungen desselben seien durch einfache Versicherung darüber zu erledigen, daß Oesterreich ausharren werde und das Princip der Restitution festhalte. Diese Versicherung möge Wessenberg ertheilen und zur Beruhigung des Königs hinzufügen: Oesterreich sei bereit, Preußen auch gegen Rußland zu vertheidigen. I n der Absicht, den Vertrag zu beseitigen^ sendete Stadion gleichzeitig den Oberst Steigentesch von einem Adjutanten und einem Secretär begleitet über Goltz hinweg nach Königsberg. Steigentesch war angewiesen, sich dort nicht mit der Frage zu beschäftigen, ob Preußen in den Krieg eintrete, sondern lediglich mit Feststellung des Operationsplans. Der König suchte, wie es in der Instruktion an Goltz heißt, Sicherung von der Seite Rußlands d. h. er wollte Gewißheit darüber haben, daß ihn Alexander nicht angriffe, wenn er die Waffe» gegen Frankreich erhebe. Es erschien dies um so unumgänglicher, als von der russischen Armee, die, in Oesterreich einzurücken bestimmt, gegen Lublin und den San in Marsch gesetzt war — Alexander hatte Napoleon versprochen, daß seine Truppen am 13. Mai die ') Oranien an den König 1. August; g. St.-A. 2) Ompteda politischer Nachlaß, 1, 416. 4L9.

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Grenzen Oesterreichs überschritten haben würden — der rechte Flügel, eine Division und ein Cavalleriecorps 16—18,000 Mann, bei Bialystock stehen blieb. Sollte dieser den Entschluß Preußens zurückhalten, war er eventuell zum Einmarsch in Ostpreußen bestimmt? Der König schrieb — noch bevor der Prinz von Oranien Königsberg verließ — dem Kaiser Alexander: Oesterreichs Fall werde nicht zu hindern sein, wenn Rußland sich nicht entschließe, für Oesterreich einzutreten, wenn Preußen unthätig bleibe, statt seine Kraft gegen Frankreich zusammenzuraffen. „Ich lege das größte Gewicht darauf, mit Ihnen verbunden zu bleiben. Aber die Umstände können mich zwingen, Sie einen Augenblick zu verlassen. Ich kann meine Verpflichtungen gegen Frankreich nicht erfüllen; ich kann mein Volk und meine Armee nicht länger zurückhalten; meine alten Provinzen erwarten ungeduldig das Zeichen, ihr Joch zu brechen. Gewähren S i e mir die Bitte, die ich wiederholt an Sie richte, daß Sie, welchen extremen Entschluß mich auch die Umstände zu fassen zwingen, Ihre Freundschaft mir bewahren, daß R u ß l a n d nicht P r e u ß e n s G e g n e r s e i n w i r d , wenn Preußen sich genöthigt sieht, sich mit Oesterreich zu verbinden (12. Mai')." Alexander antwortete auf der Stelle: „Ich spreche mit der Offenheit, die Sie an mir kennen, die meine aufrichtige Freundschaft in einem so kritischen Moment mir zur Pflicht macht. Alle meine Anstrengungen waren darauf gerichtet, Oesterreich von einem Entschluß zurückzuhalten, der es, wie ich voraus gesehen, an den Rand des Abgrundes geführt hat. Der Eröffnung des Krieges sind unmittelbar nur zu unglückliche Resultate für Oesterreich gefolgt. Eben als ich das volle Bild dieser Calamität Ihnen zu zeichnen fertig war, erhielt ich diesen Morgen I h r Schreiben vom 12. Mai. Ich habe bei dessen Lesung gezittert; ich scheue mich nicht, dies zu gestehen. Es handelt sich um die gewissesten Gefahren für Ihre Monarchie; ich !) Bei Ranke (Hardenberg 4, 181) trägt dies Schreiben das Datum des 30. April. Dieser Irrthu m beruht auf dem russischen Datum, das Alexander demselben in seiner Antwort zutheilt.

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sehe die unglücklichsten Folgen des Beschlusses voraus, den Sie fassen zu müssen glauben. I n einem Augenblick, in welchem Oesterreich bis in seine Grundfesten erschüttert ist, wollen Sie Sich seinen Niederlagen verbinden. Ich gestatte mir, Ihnen die Frage zu stellen: Kann Ihre Hülfe rechtzeitig kommen? Genügt sie, Oesterreich zu retten? Was mich betrifft, so bin ich vom Gegentheil überzeugt, wie davon, daß Sie Selbst Ihren Untergang entscheiden, und mir jedes Mittel rauben, ihn zu hindern. Ich nehme Gott zum Zeugen, daß kein Interesse als das Ihrer Erhaltung mir diktirt, was ich Ihnen sage. Alles, was die Verlegenheit Napoleons vermehrt, was seine Streitkräfte weiter verbraucht, ohne Rußland zu compromittiren, könnte in den Augen Vieler in Rußlands Interesse gelegen erscheinen; der Uebertritt Preußens zum System Oesterreichs würde sicherlich diesem Zweck dienen. Aber, Sire, ich bin nicht Egoist genug, nm die Dinge so anzusehen, und meine ausrichtige Anhänglichkeit an Sie kann sich dazu nicht verstehen. Ew. Majestät Selbst zweifelt nicht an Oesterreichs Fall, wenn ich mich nicht entschlösse, Oesterreich aufrecht zu halten. Aber selbst abgesehen von der unveräußerlichen Verpflichtung Rußlands, seine Verbindlichkeiten gegen Frankreich zu erfüllen, auch m e i n Eintreten würde eben so wenig Oesterreich retten. Welches Resultat haben wir erreicht, als ich Ihnen nach Ihren Unfällen mit meiner ganzen Streitkraft zu Hülfe kam? Hat nicht das überlegene Talent Napoleons über unsere vereinten Anstrengungen den Sieg davon getragen? Diese Superiorität, der absolute Mangel guter Generale, die ihm entgegen gestellt werden könnten, wird zu wenig in Anschlag gebracht; daher alle diese Unfälle, die sich in diesem Augenblick für Oesterreich wiederholen. Meine Pflichten gegen mein Land, Sire, sind heilig; ich kann dasselbe nicht einem gewissen Unheil weihen; demnach bin ich fest entschlossen, das System, das ich angenommen, festzuhalten. Nichts wird mich erschüttern. Die Erregung der Geister ist eiu Führer, der ins Verderben leitet; er hat die Leiden Oesterreichs verschuldet. Gestatten Sie einem wahren Freunde, der Sie von Grund seiner Seele liebt, Sie zu beschwöre», in Ihrer Weisheit

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die ganze Tiefe des Abgrundes zu ermessen, der sich unter Ihren Füßen öffnet. Ich sehe Preußens Untergang an den Entschluß gekettet, den Ew. Majestät mir anzeigt. Rußland wird nicht entfernt dazu mitwirken, aber er wird sich dennoch vollziehen. Das ist es, was meine Anhänglichkeit für Sie mich zu sagen zwingt. Ew. Majestät ist Herr und Richter Ihrer Handlungen. Sie werden den Entschluß fassen, den I h r e Interessen Ihnen vorschreiben/' Diese mit geschicktestem Nachdruck abgesaßte Abmahnung, Preußen nicht nutzlos für Oesterreich zu opfern, vom Adjutanten des Kaisers Oberst Gorgoly überreicht (26. Mai), konnte nicht ohne Eindruck aus den König bleibest. Dieser wurde verstärkt durch „mündliche Nachträge" welche Major Schüler im Auftrage des Kaisers am 2. J u n i überbrachte'). Wohl war die Erklärung erreicht, daß Alexander nicht gegen Preußen Krieg führen werde; aber statt der Beruhigung, welche der König gesucht hatte, enthielt sie das Gegentheil. Es stand nun fest, daß Alexander selbst dann thatlos, daß er selbst dann im Einverständnis mit Frankreich bleiben werde, wenn Napoleon seine Herrschaft bis zur Weichsel aufrichte, und Schladen zweifelte bald nicht mehr daran, daß Alexander auch an der Beraubung Oesterreichs Theil nehmen werde. Für Preußen gab es demnach im Fall des Mißerfolges nirgend eine Anlehnung mehr. Die Kunde der Schlacht von Aspern konnte diesen Eindrücken kaum ein vorübergehendes Gegengewicht halten, da der Erfolg völlig unbenutzt blieb, der Erzherzog vielmehr Napoleon alle Zeit ließ, sich ungestört zu verstärken, seine Armeen aus Italien wie aus Dalmatien an sich zu ziehen. Auch Gneisenau besorgte, daß die Früchte dieses Sieges sich in Nichts auflösen würden^). Jene große englicheLan-

') Auf den Inhalt dieser „mündlichen Nachträge" läßt sich nur aus einer späteren Unterredung Schülers mit dem Kaiser Alexander schließen. Als Schöler zurückblickend dem Kaiser sagte: seine niederschlagenden Erklärungen hätten den König zurückgehalten, erwiderte dieser: „Ich muß Euch von Eurem Verderben zurückhalten." Schölers Bericht vom 19. October 1809; g. St.-A. 2) Gneisenau am 10. Juni bei Pertz 1, 513.

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dung war nicht nur ausgeblieben, man erhielt sichere Nachricht, daß die für diese bestimmte Truppenmacht eine andere Bestimmung als die deutsche Küste erhalten habe. Nicht ermuthigender waren Goltz' Berichte von den Schwierigkeiten, auf welche seine Unterhandlung treffe, und jene Zusage, welche Wessenberg auf Stadions Weisung ertheilte: „Oesterreich werde Preußen auch gegen den Angriff Rußlands vertheidigen", erfolgte gerade in dem Augenblicke, in welchen: Erzherzog Ferdinand vor der Armee und der Insurrektion der Polen und dem Anmarsch der Russen hinter den Dunajez zurückweichen mußte. Der König hatte das strikteste Geheimniß bis zu seinem Eintritt in den Krieg verlangt und man sendete ihm offen eine Aufsehen erregende Mission. Die Absicht, ihn durch dieselbe zum Eintritt zu zwingen, durchschaute er auf der Stelle. Alle Voraussetzungen und Bedingungen, die er sich Ende Febniar für den Anschluß an Oesterreich vorgezeichnet, waren eine nach der anderen hinfällig geworden. War er trotzdem in den letzten Apriltagen zum Entschluß des Beitritts gelangt — nach der Stellung, die Alexander ihm gegenüber genommen, glaubte er jetzt, seit den ersten J u n i tagen, vorerst wieder zurückhalten zu müssen. Sollte Preußen bei der nunmehr obwaltenden Lage, ohne Anlehnung außer an Oesterreich zu den Waffen greifen, so mußte nach seiner Ansicht wenigstens feststehen, daß Oesterreich einen zuverlässigen Stützpunkt zu gewähren vermöge. Oberst Steigentesch traf am 15. J u n i in Königsberg ein. Nagler, der ihn freundlich aufnahm und die Zurückhaltung des Königs sowohl Goltz als dem Obersten selbst gegenüber beklagte'), bemerkt dennoch dem Minister, daß sein Auftreten und seine Formen rücksichtslos (skms w6llaß«illeiits) gewesen ^). Wessenberg theilte Goltz mit, Steigenteschs Meldungen liefen darauf hinaus, daß der König

!) Nagler an Goltz 16. Juni: „Wir vermeiden hier alle definitiven Schritte"; g. St.-A. Beer, Zehn Jahre S . 394. 2) Nagler an Goltz 26. September; g. St.-A.

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«och immer die Nachricht von einer entscheidenden Schlacht erwarte^). Auf das Schreiben des Kaisers Franz vom ti. Juni, welches Steigentesch überbracht hatte, antwortete der König am 18. J u n i : „Seine Dispositionen, welche der Prinz von Oranien mitgetheilt (der Kaiser hatte auf dessen Eröffnungen Bezug genommen) seien unverändert. Der Kaiser aber möge zugleich die schwierige Lage berücksichtigen, in welcher er sich befinde. Die Vorsicht, zu welcher diese nöthige, habe die schleunige Zurücksendung des Baron Steigentesch veranlaßt; er glaube, das Weitere seinem Minister in Berlin überlassen zu müssen." Dem Obersten selbst sagte der König nach dessen Bericht: „Mein Entschluß am Kriege Theil zu zu nehmen, steht fest. Trotz der Besorgniß, die ich haben könnte, von Oesterreich verlassen zu werden, bin ich dazu bereit. Aber der Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Meine Rüstung ist nicht vollendet. Ich vermag nur nach und nach mich zu verstärken; erst dann kann meine Mitwirkung von Nutzen sein. Bald werden wir vereinigt sein können. Gewinnen Sie noch eine Schlacht und wir sind es." Auf der Rückreise in Berlin theilte Oberst Steigentesch, wie bekannt, dem hier residirenden Gesandten des Königs Jerome, Herrn von Linden, Abschrift des Schreibens des Kaisers Franz, das er dem Könige überbracht hatte, so wie jener Instruktion Stadions an Wessenberg mit und referirte ihm wortgetreu die Unterredungen, die er mit dem Könige und der Königin gehabt. Der Bericht Lindens war wenige Tage danach in der Hand Napoleons. Die Kunde von der nächsten Schlacht meldete in Königsberg keinen Sieg für Oesterreich: Erzherzog Johann war am 14. J u n i mit den Truppen, die er aus Italien zurückgeführt und mit der ungarischen Insurrektion vereinigt hatte, bei Raab empfindlich geschlagen und über die Donau zurückgeworfen worden. Der König konnte sich nur in der Anschauung bestärkt finden, die er Steigentesch ausgesprochen: nur dann Alles aufs Spiel setzen zu dürfen. ') Wessenberg an Goltz 2S. Juni; g. St.-A.

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wenn Oesterreich selbst zu stehen vermöge. „Vor dem Ausbruche des Krieges", so notirte er sich am 24. Juni, „wurde allgemein angenommen, Oesterreich habe ausreichende Kraft, Frankreich zu bestehen. Jetzt kommt alles auf den Ausgang der nächsten Schlacht an. Siegt die Hauptmacht Oesterreichs, wird Napoleon zum Rückschreiten gezwungen, so ist der Beweis da, daß Oesterreich Kraft zur Fortführung des großen Kampfes besitzt. Nur in diesem Falle darf sich Preußen Oesterreich anschließen; denn nur in diesem kann unsere Diversion in Norddeutschland einigen Erfolg haben. Selbst dieser bleibt problematisch und ungewiß, so lange Rußland sein System nicht ändert. Auch bei einem Siege Oesterreichs ist das Spiel äußerst gewagt, weil die Mittel jeder Art so sehr beschränkt sind, und mehr noch als die physischen die geistigen (d. h. die Mittel der Führung), die denen der Gegner nicht die Waage halten können. Nie wird aus ein Nachgeben Napoleons, so lange er lebt, zu rechnen sein; sein Genie und die ihm geläufige Anwendung, aller Mittel werden den auf ihn eindringenden Gefahren stets zu trotzen wissen. Erklärten wir uns v o r der nächsten Schlacht und Oesterreichs Hauptmacht unterläge, so käine Preußen jedenfalls zu spät, um helfen zu können und nur zeitig genug, mit Oesterreich unterzugehen. Man sage nicht, Preußens Untergang sei gewiß, wenn Oesterreich überwunden ist; es giebt doch noch manche Umstände, welche völlige Vernichtung nicht so leicht besorgen lassen. Könnten wir dem Unglück, daß Napoleon die Marken und die Küsten wieder besetzte, oder Schlesien und die Provinzen bis zur Oder forderte, bei unserer Schwäche nicht entgehen, ließe uns Rußland hierbei wider Treu und Glauben und wider alle Wahrscheinlichkeit im Stich, so wäre das Unheil groß; aber wäre es größer, als wenn wir uns unbesonnen zu früh erklärten und Oesterreich unterläge? Wir hätten dann sicher auf keine Unterstützung Nußlandszu rechnen und wären Frankreich ganz ifolirt gegenüber, das dann unsere politische Existenz vernichten würde. Jede auch noch so kleine politische Existenz ist dennoch immer besser als keine. Die Zeit kann günstige Veränderungen bringen. Aber jede Hoffnung

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auf die Zukunft erlischt, wenn Preußen aus der Reihe der Staaten verschwindet, was wahrscheinlich der Fall sein würde, wenn es zu früh Alles aufs Spiel setzte." Das Ministerium hatte eben unter Hinweis auf Oesterreichs Widerstandskraft und die Stimmung der Bevölkerungen jenseits der Elbe unverweilten Eintritt in den Krieg beantragt, als die Kunde von Wagram eintraf (15. Juli). Der König notirt die Gegeiigründe: „Die Gründe des Ministeriums für den schleunige», den nitiven Beitritt zur Sache Oesterreichs sind wiederholt vorgetragen und alletdings von großem Gewicht. Freilich sind mehrere Voraussetzungen nicht unumstößlich, aber es bleibt dennoch so viel gewiß, 5>aß Preußens Existenz mit dem gänzlichen Fall Oesterreichs sehr ungewiß wird. Alle bisherigen Voraussetzungen sind sämmtlich unerfüllt geblieben, ja selbst die Besorgnisse derer, die nicht viel Günstiges nach der Lage der Dinge erwarten zu dürfen glaubten, sind übertroffen worden. Besonderes Vertrauen darf man hiernach aus ähnliche Erwartungen nicht setzen. Frankreich hat abermals über Oesterreich gesiegt und zwar auf einem Punkte, der unstreitig i>er günstigste war, den Oesterreich wählen konnte. Was ist hiernach von Oesterreichs Widerstandskraft zu halten, berechtigt sie zu großen Erwartungen? — wahrlich nicht. Ist dies Ergebniß geeignet, großen Enthusiasmus für die Sache Oesterreichs, für die Be freiung Deutschlands und Preußens hervorzurufen? — wahrlich nicht. Ist das Vorrücken der Russen bis auf wenige Meilen vor Krakau, die völlige Räumung nicht nur des Herzogthums Warschau sondern auch fast ganz West- und Ostgaliziens Seitens der Oesterreicher geeignet, Hoffnung auf günstige Wendung des Krieges zu erwecken? Könnte Preußen hoffen, mit seiner geringen Macht eine große Bewegung zu Gunsten der guten Sache in Norddeutschland hervorzubringen, jetzt, da Alles was geschehen, nur dazu wirken kann, Muth und Hoffnung niederzudrücken? Preußen war unter gewissen Voraussetzungen zur Theilnahme am Kriege bereit und ist es noch. Wer aber wollte unter den jetzigen Umständen mit kaltem Blute dazu rathen? Durch den Feldzug von 1806 haben wir uns um die

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Möglichkeit gebracht, mit 200,000 Mann aufzutreten. Könnte Preußen das noch, so ließe sich wohl Etwas wagen. Jetzt aber und da das Hauptkriegstheater sich den Grenzen Schlesiens nähert, wollten wir im Norden Deutschlands operiren? " Dieser erste Eindruck der Kunde von Wagram wich doch bald wieder anderen Erwägungen. Weitere Nachrichten zeigten, daß die österreichische Armee zwar eine Schlacht verloren aber doch keine Niederlage erlitten hätte, und die Kunde, daß Napoleon, statt über Znaym hinaus zu verfolgen, Waffenstillstand gewährt habe, die am 20. Juli eintraf, schien zu beweisen, daß auch seine Armee schweren Verlust erfahren habe. Hatte Oesterreich den Waffenstillstand gesucht, um seine Armee zu ordnen und zu verstärken, um Preußen Zum Beitritt Zeit zu gewähren, oder sollte der Stillstand zum Frieden führen? Der König beschloß die Zusammenziehung der Armee in Uebungslagern, die Abordnung des Obersten Knesebeck an den Kaiser Franz. Seine Instruktion schrieb diesem vor: zu ermitteln, ob die österreichische Armee noch im Stande sei, mit Erfolg zu kämpfen, ob eine Friedensverhandlung angeknüpft oder Oesterreich entschlossen sei, weiter zu kämpfen. Sei die österreichische Armee streitfähig und der Kaiser Franz gewillt, den Krieg kräftig weiter fortzuführen, so habe Knesebeck auf die möglichst günstigen Bedingungen, die für Preußen zu erlangen seien, abzuschließen und dessen volle Cooperation vom ersten September, wenn ein späterer Termin nicht ohne große Nachtheile zu verabreden sei, zu stipuliren (23. Juli). Bei Vollziehung der Instruktion fügte der König die Worte hinzu: „Sollte bei Ankunft des Obersten der Wiederausbruch der Feindseligkeiten bereits beschlossen sein, so hat er sich über den bestimmten Beitritt Preußens noch nicht positiv einzulassen." I n dem Beglanbigungsschreiben sagte der König nur: I n Verfolg der Negotiationen, die zwischen Wessenberg und Goltz stattgefunden, sende er seinen Adjutanten Knesebeck, der sein ganzes Vertrauen habe, ins Hauptquartier des Kaisers. Gleichzeitig wurde Major Schöler nach Petersburg zurückgesendet, einen letzten Versuch auf Alexander zu machen. Dem Könige schien es unmöglich, daß dieser auch jetzt D u n c k e r , Abhandl. a, d, n, G-sch,

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noch die Augen verschließen, zum völligen Verderbeil Oesterreichshelfen könne. I n beredte» Worten führte er dem Kaiser aus^ Oesterreich habe wohl nur Waffenstillstand geschlosseil, um den übrigen Mächten Zeit zu geben, sich zu erklären. Die Ausdauer, welche Oesterreich bisher gezeigt, gewährleiste noch größere Beharrlichkeit, wenn es unterstützt werde. Das Gewicht seiner Streitkräfte werde nicht ausreichen, die Dinge zu wenden, während der Entschluß Alexanders allein genüge, die Polen zur Ruhe zu bringen nnd damit Preußen Freiheit zu geben, seine Streitkräfte nach Westen hin zu entfalten. „Wenn Rußland, Oesterreich und Preußen vereinigt und entschlossen sind, in ihren Anstrengungen fortzufahren, so scheint mir, daß sie mit den Unterstützungen, die England lind Spanien in Aussicht stellen, schließlich dahin gelangen müssen, Napoleon, selbst lvenn ihin das Waffenglück bis zu Ende treu bliebe, zu einem Frieden zu nöthigen, der Deutschlands Freiheit sicherte. Ueber die effektive Stärke der Streitkräfte Preußens werde Schöler Auskunft geben (24. Juli ^)." Die Stelle, welche Ranke als Meinung des Königs (Hardenberg 4, 191) a n f ü h r t : „Meine Unterthanen können den Verlust ihres Idols, des Kriegsruhms nicht verschmerzen u. s. w." drückt diese in keiner Weise aus, vielmehr verhält es sich damit wie folgt. Schöler erhielt auf den Vorschlag, den er selbst am 17. J u l i dem Könige gemacht hatte, zwei Briefe, einen, dessen Auszug im.Text gegeben ist, und einen zweiten, der für den Fall dienen sollte, daß es zum Frieden käme; Alexander sollte diesen zweiten dann dem Herzog von Vicenza mittheilen; seine Form und Fassung war darauf berechnet, die in Preußen getroffenen militärischen Maßregeln und die Sistirung der Contributionszahlungen zu decken. Der zweite Brief ist von der Hand eines Kanzlisten geschrieben und nur vom Könige unterzeichnet. E r motivirt die Rüstungen damit: daß die Feinde Frankreichs ihr Kriegstheater an den Grenzen Preußens etabliren, daß Preußen wenigstens im Stande sein müsse, die Insulten und Uebergriffe der Polen zurückzuweisen, daß eine Landung der Engländer zu erwarten sei. Als Motiv, daß der König nicht stärkere Maßregeln gegen Excesse (Schill) getroffen, dient dann im System dieser Ausreden der von Ranke citirte Satz. Der andere Brief ist eigenhändig und beginnt mit den Worten: „E. M. ersieht aus anliegendem Brief die Lage in der ich mich befinde. Aber ich kann mich nicht enthalten, I h n e n m e i n e w a h r e A u f f a s s u n g auseinander zu setzen. Ich thue es in dem gegenwärtigen ?0stsei'pt., das ich Eure Majestät bitte zu vernichten."

Friedrich Wilhelm III. im Jahre 18VS.

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Die große englische Expedition war in den letzten Tagen des Juli unter Segel gegangen, sie scheiterte bald kläglichst unter den Mauern Antwerpens. I n Petersburg überzeugte Schüler gleich die erste Audienz beim Kaiser (1. August), daß dieser unerschütterlich an Frankreich festhalte. Knesebeck fand den Erzherzog Karl nicht mehr an der Spitze der Arinee vielmehr einen Kriegsrath als Oberbefehlshaber, und Stadion nicht mehr in Funktion, die Meinungen in den leitenden Kreisen höchst schwankend und getheilt. Das Schreiben des Königs hatte er übergeben, aber es erfolgte keine weitere Verhandlung als daß ihm sehr begreiflicher Weise der Wunsch ausgesprochen wurde, die preußische Armee baldmöglichst an der Grenze Schlesiens versammelt zu sehen. Knesebeck befürwortete diesen Wunsch aus das Lebhafteste. Der König war der Meinung, zwar die Uebungslager fortbestehen zu lassen, zunächst jedoch nicht hierüber hinaus zu gehen. „Das Weitere kann mir stattfinden, wenn ich positiv weiß, daß die Feindseligkeiten wieder aufgenommen werden." Knesebeck und Finkenstein gäben übereinstimmend zu, daß Oesterreich auf seine großen Ziele verzichtet habe. „Wäre der Kaiser zur Fortsetzung des Kriegs entschlossen, er hätte mein Schreiben längst beantwortet. Aus seinem Schweigen folgere ich, daß er geneigt ist, Frieden zu schließen. Fänden die destruktiveil Absichteil Napoleons gegen Preußen (Bubna hatte Knesebeck von solchen Aeußerungen Napoleons gegen ihn gesprocheil und Knesebeck unter dem 23. August davon berichtet) Bestätigung, so könnte mich diese nur in dem Entschlüsse bestärken, den Untergang so theuer als es möglich sein wird zu verkaufen (I. u. 8. Sept.)." „Was ich verfprochen habe, werde ich halten. Wenn aber Oesterreich auf Preußens Accession nicht den Werth legt, den wir darauf legen, oder Frieden schließt, so würden wir zu meinem System zurückkehren, welches uns gestattet, uns den Gegnern Napoleons anzuschließen, wenn sie Erfolge haben oder aber zu erwarten, ob Napoleon uns zum Kampfe auf Leben und Tod zwingt, indem er die Contribution nach dein Vertrage oder die Disposition über die Armee fordert, oder die Monarchie dismembriren will oder Miene macht, feine Truppen 19*

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Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1809.

wieder in unsern Provinzen zu etabliren." „Oesterreich hat ohne Zweifel Ton und Haltung geändert", schreibt Nagler Knesebeck. „Die Verzögerung Ihrer Unterhandlung, das geringe Gewicht, das Oesterreich auf dieselbe zu legen scheint, das kalte Schweigen des Kaisers, der doch an Alexander geschrieben, hat hier Unzufriedenheit erregt')." I n der That hatte Knesebeck große Mühe, Stadion, der die Wahrnehmung der Geschäfte auf Wunsch des Kaisers, jedoch ohne Votum, am 5. Sept. wieder übernommen hatte, zu bewegen, überhaupt mit ihm in Verhandlung zu treten. Stadion war zunächst wieder der Meinung, daß nur eine Militärconvention zu schließen sei (4. August, 6. September); und als er dann Knesebecks Beharrlichkeit nachgegeben, über einen politischen Vertrag zu unterhandeln, als er endlich mit ihm am 19. September „in die Materie eintrat", fand sich, daß die Ansichten über die Herstellung und die künftige Stellung Preußens in Deutschland weit aus' einander lagen. Schon am 25. September mußte Knesebeck melden, daß der Friede so gut wie geschlossen sei^). Der König schrieb ihm: „Der Ausgang hat meine Besorgnisse gerechtfertigt und wird Euch überzeugt haben, wie sehr ich Grund hatte, den Vorschlag der Truppenzusammeuziehung nicht zu genehmigen." Doch waren Vorsichtsmaßregeln bereits Mitte Angnst angeordnet worden. Die im verschanzten Lager bei Glatz versammelten Truppen sollten verstärkt, die Festungen aufs Aeußerste vertheidigt, die Compagnien der Infanterie auf 300, die der Artillerie auf 200 Mann gebracht werden. Graf Götzen war zum Oberbefehlshaber Schlesiens ernannt, Grawert und Lestocq sowie die Civilbehörden der Provinz ihm untergeordnet worden. Wer beklagte nicht, daß es den Kräften Preußens, Nord deutschlands damals versagt geblieben ist, mit den Landwehren Oesterreichs, mit den Tyrolern um die Besreiuug des deutsche«

') 26. September, g. St.-A. 2) Knesebecks Berichte vom 8., 14. und 25. September.

Friedrich Wilhelm l l l . im J a h r e I8VS.

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Landes zu ringen! Aber niemand vermag zu sagen, ob ein rückhaltloses Einsetzen Preußens eine günstigere Wendung des Kampfes herbeigeführt oder mit härterer Unterwerfung geendet hätte. Nur so weit gestatten die Kriegsart Napoleons und seine Weisungen') zu sehen, daß er im Norden hätte geschehen lassen, was zunächst nicht zu hindern war, bis er Oesterreich niedergeworfen, um dann auch dort abzurechnen. Fällt dagegen die moralische Kraft ins Gewicht, welche die Erhebung Norddeutschlands Oesterreich zugebracht hätte, — darin irrte der König nicht, daß er seine Streitmittel niedriger anschlug als der glühende Eifer, der zum Befreiungskampfe drängte. Hat es doch nachmals unter ungleich günstigeren Bedingungen mehr als drei Monate bedurft, um nur mit einigen vierzigtausend Mann in erster Linie fechten zu können und mehr als sechs Monate, um die Landwehr vollständig zu bewaffnen und zu organisiren, d. h. die volle Wehrkraft des Landes zur Aktion zu bringen. Und wenn Friedrich Wilhelm sicheren Erfolg nur von der Verbindung Oesterreichs, Preußens und Rußlands hoffte, so hat es in der That auch dann noch der vollen Anspannung ihrer vereinigten Kräfte bedurft, die Macht des ersten Napoleon zu werfen, als diese bereits hart getroffen war. Wie schwer es der jede Illusion abweisenden, das volle Gewicht der Verantwortlichkeit stets empfindenden Natur Friedrich Wilhelms war, zu wagnißvollen Entschlüssen zu gelangen — das Gefühl ungenügender Kraft, die Scheu vor dem Wagniß waren überwunden, als Alexander hemmend eintrat. „ I h r habt mir den Krieg machen wollen", sagte Napoleon dem Oberst Krusemark, der nach dem Friedensschluß nach Paris gesendet wurde, dessen Absichten gegen Preußen zu erforschen. „Daß I h r es nicht gethan.

i) Die Weisungen an den König von Sachsen (19. April), an Jerome (13. Mai), an Clarke und Kellermann, an Bernadotte (21. 22. J u n i ) und viele ähnliche gaben die eventuelle Räumung Norddeutschlands zu, nur die Verbindung im Donauthal soll freigehalten und sür die Vertheidigung von Mainz und Wesel Sorge getragen werden.

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Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1809.

ist nicht Euer Verdienst; es wäre der Gipfel des Wahnsinns gewesen, mir den Krieg zu machen, die Russen im Rücken." Alexander war ebensowenig der e r z w u n g e n e Alliirte Napoleons, für den er sich seit Titsit beständig dem Könige gegeben hatte, als der vom Zauber Napoleons G e b l e n d e t e , wie die französischen Darstellungen ihn zeichne!?. Wohl war er nicht ohne einigen Zwang der damaligen Lage, nicht ohne Besorgniß und Mißtrauen in das Einverständniß mit Frankreich getreten; aber nachdem die Ereignisse diese Wendung einmal herbeigeführt, war er entschlossen, sie für die nächsten Interessen Rußlands, unbekümmert um die Lage Europas, zu verwerthen; — das Einverständniß sollte ihm Finnland sammt der Moldau und Wallachei eintragen. Sorgfältig verbarg er dem Könige die lange Unterhandlung, die er mit Napoleon führte, der s e i n e Zustimmung zur Erwerbung der Donaulandevon Alexanders Zustimmung zur Abreißung Schlesiens von Preußen abhängig machte. Er ließ den Vertrag von Paris zu; er drang in Erfurt auf dessen Ratifikation, weil ihm daran lag, Preußen im französischen System zu halten; und lud den König nicht ohne Einverständniß Napoleons nach Petersburg, auch seine Gesinnung für dies System zu gewinnen. Alexander ist es, der durch Erfurt, durch sein Einschreiten gegen Oesterreich und durch den Druck, den er aus den König übte, verhindert hat, daß sich im Herbst 1808, im Sommer 1809 die deutschen Kräfte v e r e i n t gegen Napoleon erhoben. Um den Preis der Moldau und Wallachei, den er dann doch nicht davon trug, hat er Napoleon gestattet, sich, wie an der Elbe und Weichsel, so auch an der Oder fest zu etabliren, sich wie durch Preußen auch durch das niedergeworfene und bekehrte Oesterreich an die Grenzen Rußlands vorzuschieben. I m November 1809 sprach Alexander noch höchst befriedigt von den Erfolgen seines Verhaltens Napoleon gegenüber und empfahl dasselbe dem Könige zu endlicher Nachahmung'); drei Monate später mußte er sich auf den Angriff Napoleons im nächsten Frühjahr gefaßt machen. ') Schülers Bericht vom 13. November; g. St>-A.

Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1803.

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Die Politik Preußens im Jahr 1809 war die des Königs -allein. Die Prinzen, alle Minister, Beyine und Nagler, alle Generale und Adjutanten, Blücher wie Tauentzien, Chazot wie Bülow, Scharnhorst wie Knesebeck, Gneisenau wie Borstell waren voll Eifers für den Krieg. Der König wußte wohl, was er an dieser „guten Partei", wie er sie nannte, besaßt); „wenn ich nicht höhere Pflichten hätte", sagte er Steigentesch, „ich dächte wie sie". I m Gefühl dieser Pflichten hielt er daran fest, den faktischeil Eintritt in den Krieg von einiger Aussicht auf Erfolg abhängig zu machen. Damit war man denn thatsächlich über einen mittleren Weg nicht hinausgekommen. Man war Oesterreich weit genug entgegen gegangen, um mit ihin in gutem Einvernehmen bleiben zu können und hatte Rußland seiner Verpflichtungen gegen Preußen nicht entbunden. Das jedoch war sür die Zukunft. I m Augenblick galt es, a l l e i n gegen Napoleon zu vertreten, was man gethan und unterlassen hatte. Als Davoust mit 50,000 Mann an der Elbe Stellung nahm, Napoleon die Contribution sainmt Rückständen oder Schlesien forderte, schien die Stunde des letzten Kampfes oder schmählichster Unterwerfung gekommen zu sein. Das Ministerium rieth wiederholt und einstimmig zur Session Schlesiens. Der König rief Hardenberg. Wenn der König gemeint hatte, das Verhältniß zu Nußland werde Napoleon einige Zurückhaltung gegen Preußen auslegen, so traf das — wenn auch in entgegengesetztem Sinn — zu: Napoleons Absicht, die er bereits zu Tilsit gefaßt hatte und mit der Zeichnung des Friedens zu Schönbrunn aufnahm, seine Herrschaft mit der Unterwerfung Rußlands zu krönen, hielt ihn ab, Preußen anzufallen, damit Alexander das Ziel nicht gewahre, bevor seine großeil Vorbereitungen beendet wären und seine Armee an der Weichsel bereit stände. Die Art, in der Alexander den Krieg von 1812 bestand und fortführte, hat seine damaligen Fehler ausgeglichen. i) Clausewitz Briefe 1, 356.

VIII.

Karl

Wathy.')

I n der Eingangshalle des deutschen Reichstagsgebäudes zu Berlin hebt sich zwischen den Bildern von Arndt und Stein, von Uhland und W. v. Humboldt aus rundem Rahmen ein Profil hervor, dessen mächtig ausgewölbte S t i r n , dessen vordringendes Auge und ruhig geschlossene Lippen sicheres Urtheil, Entschiedenheit des Willens und beharrliche Kraft ausdrücken: es ist das Portrait Karl Mathy's. Mit gutem Rechte ist er an dieser Stelle den Männern beigesellt worden, welche die Vorarbeit für die heutige Gestaltung Deutschlands gethan, welche so geduldig, mit so warmem Herzen und so kaltem Kopfe gearbeitet haben, daß der Bau, dessen Ausführung im gegebenen Moment der glücklichsten Vereinigung von Macht und Staatsweisheit gelungen ist, auf dem Fundamente nationaler Ueberzeugung ruht und dadurch die Bürgschaft unzerstörbarer Dauer besitzt. Am Lyceum zu Mannheim lehrte in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts Arnold Mathy Mathematik und Lateinisch. Mühsam hatte dieser feste Mann sich Beruf und Lebensstellung erworben. Von schwachem Körper und guten Geistesanlagen war er von seinem Vater, einem wackeren Landmann, der Jesuiteilschule zu Boppard übergeben worden. Eifrig lernend, die Reinheit seines Lebens wahrend, arbeitete er sich durch die Schule, i) A u s : von Weech, Badische Biographieen.

Karl Mathy.

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durch die Universität, wurde Doctor der Theologie und bekleidete während mehrerer Jahre mit glänzendem Erfolg das katholische Pfarramt zu Mannheim. Die großen Schöpfungen unserer erwachenden Literatur, die Philosophie Kants hatten ihm unter schweren inneren Kämpfen Erkenntniß und Gewissen gestaltet. Als er sich überzeugen mußte, daß die katholische Kirche jede Gemeinschaft mit der Strömung des deutschen Geistes schroff zurückwies, wurde er Protestant. Er erhielt die Professur am Lyceum zu Mannheim und gründete, nun in seinem ü2. Jahre, einen Hausstand. Karl wurde ihm am 17. März 1807 geboren; er war der älteste von sieben Kindern, fünf Söhnen und zwei Töchtern. Der Knabe empfing den mathematischen Kopf, die Besonnenheit des Urtheils, den freudigen Lerntrieb, die Neigung zu scharfer Kritik und launiger Satyre als väterliches Erbtheil. Auch das schon früh in ihm lebendige Gefühl der Verantwortlichkeit, die freie und unbedingte Unterordnung unter das Gebot der Pflicht möchte der Leitung seiner jungen Jahre durch einen den Schwankungen des Lebens längst entrückten, in der herbstlichen Klarheit der höheren Mannesjahre stehenden Vater zuzuschreiben sein. Früher als andere Kinder verstand Karl das Sorgen und Entbehren der Eltern für den kinderreichen Hausstand, früh verstand er ihre großmüthige Freigebigkeit an Bedrängte, theilte er ihr warmes Interesse für das Vaterland. Daß er neben so ernsten Eindrücken der sorglosen Freuden des Knabenalters nicht ganz entbehrte, dankte er seinem liebevoll aufgeschlossenen Herzen, seinem brüderlichen Gefühl für die kleineren Geschwister, seinem regen Sinn für die Natur und seiner phantasievollen Empfänglichkeit für Sage und Geschichte. Seinen Altersgenossen an Lerneifer und Fassungskraft überlegen^ hervorragend im Uebersetzen und Erklären der griechischen und römischen Classiker, absolvirte Karl Mathy das Lyceum zu Mannheim. Den Mitschülern war er ein guter und hülfreicher Kamerad, die Schwächeren förderte er brüderlich, die Uebungen im Turnen und Schwimmen half er leiten, den Lehrern gegenüber war er von pietätvoller Haltung, wenn sittliche und geistige Ueberlegenheit ihm impo-

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nirte; wo Schwäche oder Dünkel Anspruch auf Achtung erhob, lehnte sein Stolz sich auf und machte sich frühzeitig in scharfer Ironie Luft. I m Herbste 1824 bezog er die Universität Heidelberg. Der lebenbige Sinn für das deutsche Vaterland, dessen freiheitliche Gestaltung, Erstarkung und Einigung das Ideal seines jungen Herzens war, stellte ihn den Landsmannschafte», die den Particnlarisinus zn vertreten schienen, entgegen und führte ihn, wie die Abneigung gegen Renommisterei und hochfahrendes Wesen, in die Gemeinschaft der Träger des schwarz-roth-goldenen Bandes, der Burschenschaften. Ernst und schweigsam in seiner Haltung, in der Kleidung studentischem Schmuck und bunten Abzeichen abhold, war er doch bei Wein und patriotischem Gesang kein Spielverderber; sein liederreiches Gedächtniß, seine gnte Stimme kamen dabei zu Statten. Seine großmüthig angelegte Natur bewährte sich auch auf der Universität. Nach oben gerüstet, trat er nach unten mild und schonend ans. Bis zur Aufopferung hingebend, wo es den Schutz der Schwächeren, das Wohl der Freunde galt, wies er schneidend zurück, was ihn als Anmaßung berührte: seine Abfertigungen waren gefürchtet, auch die, welche er mit dem Schläger ertheilte. Erst ein Semester lag hinter ihm, als er den Vater verlor; er ermöglichte die Fortsetzung des Studiums durch Ertheilung von Privatunterricht, uud der Achtzehnjährige vermochte bereits, der Mutter und den jüngeren Geschwistern ein treuer Berather zu sein. — S o eifrig der juuge Student lernte, so gern er uneigennützig sein Wissen mittheilte, er mochte sich nicht für den Lehrberuf entscheiden. Mindestens eben so stark als das Interesse an der Wissenschaft war in ihm der Drang, zu helfen, daß der Staat sich jenen Idealen gemäß gestalte, daß die Kräfte der Bürger für das öffentliche Leben entbunden würden, der Wohlstand durch ungehemmte Bewegung des Verkehrs gehoben werde: er entschloß sich Staatsbeamter zu werde». Seine Studien umfaßten Staats- uud Privatrecht uebst allen Zweigen der staatswirthschaftlichen Arbeit: Landwirthschaft, Nationalökonomie, Technologie, Finanz- und Handelswissenschaft. Wie die Vorträge, tue er hörte, pflegte er auch den Inhalt seiner Lectüre durch schrift-

Karl Math,).

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liche Aufzeichnungen zu sixiren. Frühzeitig strebte er nach Präcision der Auffassung. Der Curfus auf der Universität war beendigt; der Weg in das Beamtenthum lag vor ihm. Es war nicht Abneigung Hegen den Vorbereitungsdienst, nicht Zaudern vor der Aufgabe, sich init den untergeordnetsten Details der Verwaltung zu beschäftigen, beschränkten oder herrischen Vorgesetzten sich zu fügen, was ihn zurückhielt: — nie hat er vorher oder nachher in seinein Leben verschmäht, bescheidene Arbeit zu thun, wo ein Zweck es er heischte, der ihm mehr galt als sein Behagen oder sein Stolz; — ein Anderes trat ihm in den Weg. Unsere an den Griechen, an Homer, den Tragikern und Platon geschulte Jugend war ergriffen von dem Freiheitskampf der Griechen gegen die osmanische Tyrannei. Der Zauber der Hinterlassenschaft der Hellenen, Freiheitsdrang und Empfindung von dem Rechte der Nationen, sich ans sich selbst zu bestimmen, wirkten gleichmäßig auf die Gemüther. Von diesem Zuge ergriffen, faßte Mathy still den Entschluß, sich der Sache der Griechen zu weihen, besonnen und energisch traf er seine Vorbereitungen. Die Geldmittel, deren er bedürfte, bis er iu die Dienste des philhellenischen Coinitö zu Paris treten konnte, gewann er durch eifrige Ertheilung von Privatunterricht in Heidelberg. Am 13. Mai 1828 war er iu Paris. Erst hier vernahm er von den Leitern dieses Comits selbst, daß die griechische Frage definitiv in die Hände der Diplomatie übergegangen sei. S o war hier keine Aussicht, an der Gründung und Gliederung eines Gemeinwesens aus freiheitlichem Geiste, aus dem selbsteigenen Geiste der Nation theilnehmen zu können. Die Mutter wünschte dringend seine Heimkehr; sie sprach die Besorgniß aus, man werde seinen Schritt als eine Flucht vor der Staatsprüfung auffassen. Mit erschöpfter Kasse aber frischem Muthe trat er die Heimreise zu Fuß an. I n den drei Monaten zu Paris hatte er Manches gelernt. Mit dein Leben der Nation, im Staat wie im Hause, im Theater und auf der Straße, hatte er sich bekannt gemacht; die Uebungen des Militärs, die Sammlungen der großen Hauptstadt hatte sein lernbegieriges Auge studirt; die Sprache, deren er schon mächtig war, war ihm

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vertrauter geworden; und wie kalt seine deutsche Sittenstrenge die Verlockungen der Pariser Gelegenheit von sich gewiesen hatte, mit seinem Verständniß, mit menschenfreundlichem Humor war er in die Art der Nachbarn eingedrungen. Es war der erste Umweg in Mathy's Leben gewesen; er war so wenig vergeblich geblieben wie die späteren Umwege dieses Lebensganges. I n die Heimath zurückgekehrt, meldete er sich unverzüglich zur Staatsprüfung und ging als „sehr gut befähigt" aus derselben hervor. I n der That besaß er alle Eigenschaften, welche für den Dienst des Staats tüchtig machen. Bei außerordentlicher, durch Uebung gesteigerter Arbeitskraft, bei guter Kenntniß des Heimathlandes und seines Verkehrs, bei lebhaftem Interesse für die ineinandergreifenden Thätigkeiten, durch welche Cultur und Wohlstand gefördert werden, würde ihm nicht schwer geworden sein, raschen Schrittes zu den höheren Stufen des Beamtenthums aufzusteigen, in das er im Jahre 1829 als Cameralprakticant eintrat. Die rasche und tüchtige Art, in der er die laufenden Aufgaben erledigte, eine im Auftrage der Regierung verfaßte statistische Darstellung des Flächengehalts des Großherzogthums Baden, eine selbständige Abhandlung über die Einführung einer Vermögenssteuer machten auf ihn aufmerksam. Dazu kam, daß das Versassungsleben in Baden unter der Einwirkung der Julirevolution einen anscheinend verheißungsvollen Aufschwung nahm. Die Regierung kam den Forderungen der Liberalen unter dem Ministerium Winter versöhnlich und willig entgegen. Mathy durfte unter solchen Verhältnissen hoffen, auch als Beamter Spielraum für feine auf volle Durchführung der Verfassung von 1818 und auf wirthschaftliche Reformen gerichteten Ueberzeugungen zu finden. Sein Geschick führte ihn anders. Er stand im drei und zwanzigsten Jahr, als er die Schwester seines liebsten Studiengenossen, Valentin Stromeiers, kennen lernte. Anna glich dein Bruder und Mathy's Wahl war entschieden, als er sie zum ersten Male erblickte. Er war nicht der Mann, der in geduldiger Sehnsucht nach einer auskömmlichen Lage die Jugendblüthe der Liebe vertrauert hätte. Vom Prakticantengehalte allein war der Hausstand nicht zu

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bestreiken, er wurde daneben Publicist, um seinen Herd bauen zu können. Nie hat eine Ehe Menschenherzen in Freude und Weh fester verbundeil. Bei der Verschiedenheit der Anlage, wie sie zwischen dem echten Mann und der echten Frau stattfinden soll, war die naiv gescheute Frau dem kenntnißreichen, wohlgeschulten Manne gleich an Größe und Energie des Wollens, an Sicherheit und Unbedingtheit des sittlichen Urtheils, an Liebe zum Vaterlande und an Opfermuth für die großen Interessen der Menschheit; wo die Kraft des Einen an die Kraft des Anderen stieß, erwuchs Bereicherung aus dem Bedürfniß, einander gerecht zu werden; in voller Freiheit, wie starke und wahrhaftige Menschen sie bedürfen und einander gewähren, entfaltete Jeder an der Seite des Anderen, was in sein Wesen gelegt war. Freude des Einen am Anderen, dieser bleibende Ausdruck einer tiesgegrttndeten Liebe, war die Lebenslust ihrer Ehe, geleitete sie in Verbannung und Noth und gewann stets auf's Neue die Oberhand, wenn auch so schwere Schickungen verhängt wurden, daß Jahre hindurch selbst diese Freude in Leid, in gegenseitiges Mitleiden, sich verkehren mußte. Wie mächtig in jenen Jahren, in Folge des Anstoßes der Julirevolution wie der Niederhaltung des öffentlichen Geistes in Deutschland, die französischen Formen des Liberalismus die deutschen Gemüther ergriffen und beherrschten, Mathy's durch tüchtige Sachkenntniß genährter Sinn übersah die Kraft der historischen Bildungen im sittlichen und politischen Leben nicht. Schon als junger Mann Phrasen und Agitationen revolutionärer Art abhold, ist er niemals den Lehren des Radikalismus verfallen; so glänzend die Erfolge der Revolution anscheinend waren, so sehr ihn selbst das lebhafte uud anmuthige Wesen der Franzosen ansprach, er täuschte sich niemals über die bedrohliche Stellung Frankreichs zu Deutschland. Nicht in großen Worten und hochgespannten Forderungen sah er das Heil; nach seiner Ueberzeugung konnte nur mannhafter Kampf mit gesetzlichen Mitteln zur Selbstregierung reif machen. I n diesem nüchtern praktischeil Sinn faßte er die einzelnen Aufgaben der Gesetzgebung und Verwaltung ins Auge; aus diesen Gesichtspunkte» war seiue Schrift

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über die Einführung einer Vermögenssteuer in Baden hervorgegangen, welche auf genauer Detailkenntniß, sorgsamer Veranschlagung des Ertrages, einsichtiger Erwägung der Erhebungsmittel beruhte und die Mitwirkung der Commune verlangte, welche sich nachmals überall unentbehrlich erwiesen hat. I n demselben Sinn waren die Correspondenzen aus dem Abgeordnetenhause gehalten, die er damals der Augsburger Allgemeinen Zeitung zugehen ließ, seine nationalökonomischen Artikel für das Staatslencon von Rotteck und Welcker. I n demselben Sinn schwieg er auf dem angeblichen Feste der Wiedergeburt Deutschlands zu Hambach (Mai 1832), während die Zeitung, welche er unter dem Titel „der Zeitgeist" zu derselben Zeit gründete, durch Gediegenheit des Inhalts von den zahlreichen suddeutschen Zeitungen sich unterschied, die nur von der politischen Erregung jener Jahre lebten. Wie lebhaft in Süddeutschland die Sympathieen für Frankreich, die Antipathieen gegen Preußen waren, welches im Buude mit Oesterreich zu Repressivmaßregeln drängte, Mathy's unbefangener Blick hatte in dem Gesüge des preußischen Staats schon damals den Einigungspunkt Deutschlands erkannt. S o einsam er mit dieser Einsicht unter seinen süddeutsche,: Parteigenossen stand, er ließ sich dadurch nicht abhalten, seine „Betrachtungen über den Beitritt Badens zum deutschen Zollverein (1834)" zu veröffentlichen. Nach sorgfältiger und sachkundiger Gegenüberstellung erklärte er den Anschluß für wünfchenswerth. Wie besonnen sich Mathy hielt, seinen Ausführungen fehlte es nicht an Schärfe. Seine politische Richtung, seine politische Bethätigung derselben mußten ihn in Conflict mit der bei der Regierung vorherrschenden Richtung bringen. Dieser Conflict sollte Mathy's äußerem Leben Stetigkeit, zusagende Berufsstellung und gesicherte Vermögenslage vorenthalten. Aber um den Preis dieser Entbehrungen errang er die Festigung seines Wesens im innersten Kern. Er hatte sein Haus auf eine heiße uud dauernde Liebe gegründet; er wußte sich die Freiheit zu wahren, sein Thun und Lassen jeder Zeit so zu gestalten, daß es der volle Ausdruck seiner Ueberzeugung war. Wenige Wochen nachdem der

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„ Zeitgeist" ins Lebeil getreten war, wurde durch Bundesbeschluß die Censur wieder eingeführt. Wie geduldig und erfinderisch er sortarbeitete — nach zwei Jahren erschien ihm die Fortführung deK Blattes unmöglich. Nachdem er abgelehnt hatte, seine Feder in den Dienst der Regierung zu stellen, wurde ihm sein Amt entzogen. Er hätte sein Haus, dessen Gedeihen ihn für die Plagen der politischen Arbeit entschädigte, durch staatswissenschaftliche Arbeiten, die ihn nach dem Eingehen der Zeitung ausschließlich beschäftigten, wohl zu erhalte» vermocht; aber sein Eifer, den Gesinnungsgenossen hülfreich zu sein, schärfte den Conflict. Keine Rücksicht auf seine Person vermochte ihn abzuhalten, politischen Flüchtlingen, die sich an ihn wendeten, Beistand zu leisten; unter persönlicher Gefahr hatte er Einigen über die Grenzen geholfen. Schon im Mai 1833 waren bei einein der Verfolgten Briefe gefunden worden, die ihn als Nothhelfer verriethen. Als schon der Tag seiner Hochzeit anberaumt war, war er verhastet, jedoch nach vier Wochen wieder freigelassen worden. Nun aber beantragte im Frühjahr 1835 die Mainzer Eentral-Eommission bei der badischen Regierung seine Verhaftung; wohlmeinende Beamte riethen ihm, einige Zeit außer Landes zu gehen. Er selbst war es müde, unter dieser Bedrohung seiner Freiheit zu leben; auch seine Frau, welche ihrer zweiten Entbindung entgegen ging, wollte ihn lieber frei in der Ferne, als der Freiheit beraubt in der Nähe wissen. S o beschloß er, in die Schweiz zu gehen; die Seinen sollten ihm folgen, sobald er dort Beschäftigung und Verdienst gefunden. Mathy wandte sich zunächst nach Bern und schloß sich hier den Landsleuten an, welche, flüchtig wie er, hier bereits eine geordnete Thätigkeit gefunden hatten. Er begann Unterricht zu ertheilen im Englischen an Deutsche, und im Deutschen ail flüchtige Italiener, von denen Rusfini ihm näher befreundet wurde. Nicht um schweizerische Politik zu machen, war er in die Schweiz gekommen; aber nach seiner ganzen Art konnte er nicht unterlasse», sich über die Schweizer Zustände eingehend zu unterrichten: für Rau's Archiv schrieb er eine Abhandlung über die Berner Finanzen und beschäftigte sich mit einer Untersuchung über

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die Ablösung der Zehnten im Kanton Bern, die späterhin mit einem Preise gekrönt worden ist. Mitten unter den politischeil Flüchtlingen, nicht nur aus allen Theilen Deutschlands sondern auch aus Frankreich und Italien, hielt er sich fern von ihrem Treiben, von ihren phantastischen Hoffnungen und leeren Plänen. Er verweigerte entschieden, in einen Geheimbund zu treten; aber er wies die Gemeinschaft mit den deutschen Flüchtlinge», deren Loos er theilte, nicht zurück; er übernahm die Verwaltung der Unterstützungskasse der Flüchtlinge und gab einen nicht kleinen Theil des Ertrags seiner Arbeiten dahin, um denen zu helfen, welche sich selbst nicht zu helfen wußten. Es war eine eigene Fügung, daß gerade der unter den deutschen Flüchtlingen, welcher dem revolutionären Wesen in seinem Innern am abgeneigtesten war, mit dem Manne in Verbindung kam, dessen Revolutionsplane nicht bloß auf sein Vaterland gerichtet waren, sondern auf eine Umwälzung ganz Europa's hinausgingen. Der italienische Flüchtling Usiglio hatte Mazzini auf die Arbeitskraft Mathy's aufmerksam geinacht; Mazzini beabsichtigte, in der Schweiz eine Zeitung zu gründen, welche, in deutscher und französischer Sprache erscheinend, die Jugend Europa's sür den internationalen Volksstaat heranbilden sollte. Mathy sollte die Uebertragung der Artikel in's Deutsche übernehmen. S o weit es sich um die politische Anregung, um die Kritik der bestehenden Zustände, um die Gelteudmachung liberaler Grundsätze handelte, konnte Mathy auf den Vorschlag eingehen. Von dem, was Mazzini neben der Zeitung betrieb und von den Fäden, die er, von wechselndem Verstecke aus, nach Italien, Frankreich, ja nach England hinüberspann, wußte Mathy nichts, wollte er nichts wissen. Die Zeitung („ls Luisse") gab eine wohlunterrichtete kritische Revue der auswärtigen Verhältnisse, wie sie bis dahin kein schweizerisches Blatt zu bieten vermocht hatte; für die Angelegenheiten der Schweiz nahm sie den Standpunkt des Gefammtinterefses gegenüber der Kantonal Politik; in Ton und Kampfweise hielt sie sich gemäßigt. Es gehörte Mathy's unermüdliche Thätigkeit, Umsicht und Energie dazu, das Unternehmen in Gang zu halten. Er mußte für die mangeln-

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den Artikel eintreten, neben der Uebersetzung zugleich die Redaction besorgen, zwischen dem Geranten und Redacteur das nöthigste Einvernehmen herstellen und öfter für die momentanen materiellen Bedürfnisse aufkommen. Sobald Mathy durch seine Stellung an dieser Zeitung eine bescheidene Sicherung seiner Existenz gewonnen hatte, rief er die Seinen zu sich; am 16. Juni 1835 traf er an der Grenze zu Bafel mit der Gattin zusammen, die ihm den Erstgeborenen und den kleinen Karl, den er noch nicht kannte, zuführte. Selbst Mathy's starke aber leidenschaftliche Natur war dem Zusammenbrechen nahe in dem Augenblicke, wo auf die schwerste Entbehrung diese Wiedervereinigung folgen follte. Er hatte ein freundliches Obdach für die Seinen gefunden, und die Terrasse seines Gartens zu Biel gewährte einen Blick aus die Berner Hochberge. Die Eindrücke dieser großen Natur erquickten ihn, das rüstige Gebühren des Schweizervolkes in altherkömmlicher Tracht und männlichem Spiele gewahrte er gern; das Einkommen mehrte er durch stellvertretenden mathematischen Unterricht am Gymnasium und literarische Arbeiten, die freilich oft die Nacht in Anspruch nahmen; Freunde und Bedürftige genossen die Gastfreundschaft des Hauses. Am Jahrestage der Uebersiedelung der Seinen gedenkt Mathy's Tagebuch mit dankbarer Zufriedenheit dieser an Freude, Liebe und Arbeit reichen Zeit. Aris der Thätigkeit, die er sich rasch errungen, wurde Mathy durch ein politisches Unwetter jählings hinausgeworfen. Die Großmächte Europa's waren nicht gemeint, von der Schweiz sich Unruhen und Aufregungen in ihre Gebiete verbreiten zu lassen; der Herd der europäischen Revolutionen sollte endlich zerstört werden; die Ausweisung der Flüchtlinge wurde bei der Tagsatzung gebieterisch verlangt. Das Treiben der Flüchtlinge war den Schweizern bereits zur Last geworden, als Mathy herüber gekommen war; der conservativen Partei, welche in den maßgebenden Kantonen das Ruder hielt, waren die liberalen Grundsätze, welche die Flüchtlinge in der Schweiz verbreiteten, verhaßt und besorglich; D u n c k e r , A b h a n d l . a. d. n. Gesch.

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sie kam den Forderungeil der Großmächte nur zu bereitwillig entgegen. Mathy's Verhalten in der Schweiz war unverhohlen und tadellos, sein Wirken in der Zeitung bot zu keiner Beschwerde Anlaß, die Beziehung zu Mazzini, mit dem er zu Grenchen und Solothurn einige Unterredungen gehabt, war für Mathy in keiner Weise compromittirend, da er weder Mazzini's Geheimbunde noch einer anderen Verbindung der Flüchtlinge angehörte. Dennoch wurde er am 11. J u l i 1836 mit dem Geranten und dem Redacteur der Luisse verhaftet und nach Bern geführt. Erst sechs Tage später wurde er vernommen. Obgleich das Verhör nichts ergab, hielt man ihn in Haft. Frau Mathy, krank durch den Schrecken, eilte trotzdem nach Bern. Ihren Vorstellungen bei dem Altschultheißen gelang es zwar, die Freilassung zu bewirken, aber die Ausweisung Mathy's wurde verfügt, nur ein Aufschub derselben um fünf Wochen war zu erlangen. I n dieser Lage war die Rückkehr nach Baden Mathy's erster Gedanke; aber er erhielt sichere Kunde, daß er dort für sehr gravirt gelte. Wo fand sich ein Ausweg? Nach England zu gehen, Frau und Kind zu verlassen, konnte er sich nicht entschließen. I n der Unruhe und Noth jener Wochen mußte er dazu fort und fort durch schriftstellerische Arbeiten, durch Uebersetzungen, die Subsistenzmittel für die Seinen schaffen. Er versuchte, der Unruhe dieser Tage durch Vertiefung in Hegels Logik ein Gegengewicht zu geben, als zu allem Anderen Frau Mathy, in Folge einer zu frühen Entbindung, tödtlich erkrankte. Es richtete seinen sinkenden Muth auf, daß sie unter seiner Pflege genas. Lebhaft ergriff er die Aussicht, welche Aarauer Freunde ihm eröffneten, durch Erlangung einer Lehrerstelle am Gymnasium zu Aarau sein Bleiben in der Schweiz zu sichern, das Bürgerrecht dieses Kantons zu erwerben. Dazu war zunächst die Ablegung der Lehrerprüfung erforderlich. Mit eifrigstem Fleiß las er die altdeutschen Dichter, studirte er mittelhochdeutsche Grammatik, während der Polizeidirector von Schmiehl auf ihn fahndete. Es gelang Mathy, die Seinen nach Grenchen im Kanton Solothurn zu flüchten und im Dunkel der Nacht nach Aarau zurück zu gelangen. Hier war das Regierungs-

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gebäude, in welchem das Examen stattfand, sein Asyl; er hielt die Probelectionen am 2. Mai 1837, während Polizeiwachen das Haus umstellt hatten, und der „für jede Stelle an einer höheren Schule vorzüglich befähigt" erkannte Candidat des Lehramts mußte nach der Prüfung durch ein Hintergebäude geflüchtet werden. Die erwartete Stelle wurde ihm nicht zu Theil. Aber er erreichte, daß sein Name im October 1837 von der Liste der Auszuweisenden gestrichen wurde. Mit befreiter Brust vollendete er jetzt jene Abhandlung über die Ablösung des Zehnten im Kanton Bern, und als im Frühjahr des folgenden Jahres zu Grenchen eine Districtsschule errichtet wurde, schlug ihn die Gemeinde, obwohl sie katholisch war, zum Lehrer an derselben vor. Am 13. März 1838 erhielt er die Bestallung. Fast zwei Jahre hindurch war Mathy ruhelos umhergehetzt worden, er wußte es zu schätzen, daß er nun wieder ein Obdach und einen festen Erwerb erlangt hatte, wenn auch das Dach des Lehrers („Güggi's Stöckli") ein undichtes Balkenhäuschen war, die Naturalien, die zur Besoldung gehörten, mühsam einzuheimsen waren und für die Auszahlung der 800 Schweizerfranken baaren Gehalts die Vermittlung der Regierung zuweilen in Anspruch genommen werden mußte. Es war eine Fortbildungsschule, nach heutiger Bezeichnung, an welcher Mathy wirkte. Das Gegenstreben des katholischen Pfarrers gegen den protestantischen Fremdling wußte er bald zu überwinden. Es war seine Aufgabe, an einer wilden und kräftigen Dorfjugend und in einer Gemeinde, welche den Lehrer als ihren Schreiber zu betrachten gewohnt war, neue Kultur zu schaffen. Mathy achtete und liebte im Schüler den Menschen, er verstand dem sittlichen Urtheil, dem Bildungstrieb zu freier Entfaltung zu helfen. Die innere Aneignung, das Wachsen des Menschen durch das Lernen, nicht ein bestimmtes Pensum des Wissens dem Schüler beizubringen: das waren seine pädagogischen Gesichtspunkte. Es gelang ihm, die Herzen der Schüler zu gewinnen, der Gemeinde Achtung für die Schule, Freude an ihrer Förderung einzuflößen und in der Gemeinde felbst durch anspruchslose sittliche Ueberlegenheit

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eine wirksame und angesehene Stellung zu gewinnen. Die Liebe, die ausdauernde Anhänglichkeit der Schüler lohnte Mathy's dreijährige erziehende Arbeit im Gebirgsdorfe. Der Präsident des Raths von Solothurn, Johann Munzinger, suchte Mathy durch einen seinen Gaben entsprechenden Wirkungskreis dauernd an die Schweiz zu fesseln. Aber in Baden war die Untersuchung gegen Mathy endlich zu Eude gekommen. Er war freigesprochen; die Gesinnungsgenossen wollten ihn als Mitkämpfer im Landtage haben und die Redaction einer in Karlsruhe zu gründenden größeren Zeitung wurde ihm angetragen. Die Rückkehr in die Heimath war immer sein Wunsch geblieben: er konnte und wollte sich einer Thätigkeit nicht versagen, welche ihm Einwirkung auf die öffentlichen Angelegenheiten seines Landes in Aussicht stellte. — Nicht erst in der Abschiedsstunde von Grenchen fühlte Mathy, was er aufgab, indem er das durch Arbeit und Erfolg ihm heimathlich gewordene Gebirgsland verließ. I n der eisigen Winterfrühe des Scheidemorgeus stand das gesammte Dorf in Festkleidern am Wege, den Gatten Lebewohl zu sagen. Der Kleine Rath von Solothurn sagte in dem Entlassungszeugniß: „Ihr Eifer (für die Schule) war um so dankenswerther, als Sie, zu einer größereu Laufbahn befähigt, einen Ehrenpuukt darein setzten, Sich ungetheilt auch einem kleineu Wirkungskreise hinzugeben." Damit ist Mathy's Art, nicht bloß als Schulmeister von Grenchen, sondern allen Aufgaben seines wechselvollen Lebens gegenüber bezeichnet. Nach fünfjähriger Abwesenheit war Mathy wieder in Baden (1840). Die Heimath zeigte ihm leider kein freundliches Angesicht. Ein naher Freund, dann die Mutter wurden ihm entrissen; im September erkrankten Mathy's Kinder, das Jüngste, eine Tochter, war ihm in Aarau geboren worden. Der ältere der beiden Söhne starb nach mehrwöchentlichein Leiden, wenige Tage später die Tochter. Für den Knaben, der ihnen geblieben war, für einander vermochten die Gatten wohl weiter zu leben, aber die Freudigkeit war aus ihren Herzen gewichen. Auch der Verleger der ueu zu gründenden Zeitung starb, bevor Mathy's Verhältniß

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zu derselben vertragsmäßig geregelt war. Die Freunde hatten ihn nicht gerufen, lim Triumphe sondern um Mühen mit ihnen zu theilen, deren Last Mathy zum guten Theil zufallen sollte. Die „Nationalzeitung" in Gang zu setzen erforderte erhebliche Anstrengungen. Die äußeren Verhältnisse waren in Folge des Ablebens des Verlegers unsicher und Mathy ließ deßhalb im Jahre 1842 die Landtagszeitung an ihre Stelle treten: es lag ihm daran, dem Lande ein treues Bild der Kammerthätigkeit zu geben, demselben bestimmte Einsicht in die Thätigkeit seiner Vertreter, in die Kampfspiele der liberalen Opposition zu gewähren, um so den Antheil des Landes an den parlamentarischen Kämpfen, das Vertrauen auf seine Vertreter zu steigern. Es war die Wirkung dieses Blattes, der klaren und präcisen, von Mathy selbst verfaßten Kammerberichte desselben, die Mathy's Wahl zur Kammer im Mai 1842 herbeiführten. Er hielt daneben an der publicistifchen Thätigkeit fest. Außer der Redaction der Landtagszeitung verfaßte er die Kammerberichte für das Mannheimer Journal, politische und volkswirthschaftliche Aufsätze für Weils Revue und die Vaterländischen Hefte. Sein Bericht über die badische Verfassungsfeier des Jahres 1843 ist ein charakteristisches Monument der politischen Situation jener Tage. Gleich nach seinem Eintritts in die Kammer war Mathy in die Budgetcommission gewählt worden. Seine Stellung im Hause war von vorn herein eine bedeutende und eingreifende, wenn er selbst auch nur in wichtigen Fragen in die Debatte eintrat; seine besten Gedanken durch die Freunde geltend gemacht zu hören, war ihm genehmer als selbst zu sprechen. Nicht mit rednerischem Schwung liebte er zu glänzen; eingehende Sachkenntniß, resumirende, einleuchtende Gegeneinanderstellung der Argumente, zwingende Schlußfolgerungen waren die Mittel seiner parlamentarischen Erfolge, deren Gewicht durch schlichte Gediegenheit der persönlichen Haltung erhöht wurde. Er unterschied sich von den namhaftesten Führern der parlamentarischen Opposition jener Jahre wesentlich dadurch, daß er es verschmähte, vergebliche Erregungen hervorzu-

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rufen; er wollte praktisch auf die Gesetzgebung und die Verwaltung, einwirken; er sah deutlich, daß nicht sowohl die badische Regierung verfassungsmäßige Zugeständnisse weigerte, die Censur engherzig handhabte und der Nachgiebigkeit auf dem einen Gebiete Repressionen auf anderen folgen ließ, daß vielmehr der von Oesterreich und Preußen geleitete Bundestag der badischen Regierung die Hand zwang. Bei den Debatten über den Militäretat hob Mathy hervor, daß Baden nur einen Theil der Kriegsmacht des deutschen Bundes bilde, daß die Politik des Bundestages keine Garantie für die Verwendung der Truppen zur Stärkung der Stellung Deutschlands bilde. „Man klagt über den Aufwand für das Militär", sagte er bei einer späteren Veranlassung; „aber er ist nicht sowohl zu hoch aus dem Grunde, weil er an sich zu hoch ist, sondern zu hoch für das, was damit erreicht wird." I n dem lebhaften Kampf zwischen dein System des Schutzzolles uud des Freihandels, der in jenen Jahren geführt wurde, hatte Mathy bereits vor seiner Auswanderung nach der Schweiz durch jene Schrift über den Anschluß Badens an den Zollverein Stellung genommen. Man verlangte in Baden nach höherem Zoll auf Baumwollengarne; Mathy verwarf einen mäßigen Schutz für lebensfähige Jndnstrieen, wie der Zollverein ihn gewährte, nicht; aber er prophezeihte der Baumwolleuindustrie kein natürliches Gedeihen, bevor der Zollverein nicht die Mündungen seiner Ströme und seiner Küsten besitze und eine deutsche Handelsflotte, von einer deutschen Kriegsmarine geschützt, den Rohstoff aus den Erzeugungsländern hole. Am eindringlichsten trieb er die badische Negierung, sich vom Drucke des Bundestages in der Frage der Presse zu emancipiren; seinen Antrag auf Preßfreiheit, den er im November 1843 stellte, motivirte er durch eine Geschichte der Censur in Baden: in seiner praktischen Weise zeigte er, wie sehr auch die Entwickelung des wirthschaftlichen Lebens, des materiellen Wohlstandes durch die Fesselung des freien Austausches der Meinungen niedergehalten werde; er meinte, daß selbst der Sundzoll, die Belastung der Rheinmündungen, die russische Grenzsperre einer freien Presse gegenüber nicht würde bestehen können. Als die Kam-

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mer im Jahre 1845 die Debatte über die Preßfreiheit erneute, gab er eine der satyrischen Ausführungen, welche seine Gegner am meisten fürchteten, in der Schilderung des Mustercensors. Die deutsch-katholische Bewegung interefsirte ihn; sie erschien ihm erwünscht für den Staat, Unabhängigkeit von Rom zu documentiren, erwünscht als der Weg zu einer möglichen religiösen Einigung der deutschen Nation, erwünscht, um der Freiheit der Gewissen willen. Den Jahren der vordringenden liberalen Bewegung in Deutschland gehörte Mathy's parlamentarische Wirksamkeit in Baden an. Er verkannte nicht, wie die Erregung sich hob und steigerte, er nahm vor Allem darauf Bedacht, die Richtung auf die nationale Einigung festzuhalten und zu accentuiren und setzte daneben eifrig seine Hebel an, reale Fortschritte des Landes als Abschlagszahlungen für die zurückgehaltenen politischen Concessionen zu erwirken. Während er es Welcker überließ, die Wiener Conserenzbeschlüsse „dem Gottesgericht der öffentlichen Meinung" zu übergeben, verlangte er nachdrücklich die Einführung der Vermögenssteuer, die Gründung einer badischen Bank, die Verbindung des Mains und des Neckars, die Eisenbahn vom Neckar nach Basel. Als die Noth des Jahres 1847 — die Kornpreise waren zu unerhörter Höhe gestiegen — sich auch in der Stockung der Fabrikthätigkeit fühlbar machte, als die drei größten Fabriken Badens daran waren, ihre Arbeiten einzustellen, unterstützte Mathy den Antrag der Regierung, diese Fabriken durch Staatsmittel in den Stand zu setzen, fortzuarbeiten, und dadurch Tausende von Arbeitern vor der größten Noth zu wahren. Die republikanisch-socialistische Fraction, welche sich unter der Führung Heckers, Struve's, Ficklers und Brentano's in der Kammer gebildet hatte, bekämpfte den Antrag der Regierung als eine Schädigung der kleineren Producenten und der Arbeiter selbst. Mathy konnte nicht umhin, den Leichtsinn und die frivole Taktik der socialistischen Agitation zu geißeln; aber er hielt nach wie vor darauf, die liberalen Fraktionen zusammen zu halten: ein Bemühen, von welchem auch die „Rundschau" — eine Zeitschrift, welche er vom October 1846 bis zu Ende des Jahres 1347 redigirte, Zeugniß ablegt.

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Sein Ziel hatte er weiter gesteckt; nicht bloß innerhalb Badens sollten die liberalen Fractionen zusammenwirken: der Liberalismus Nord- und Süddeutschlands sollte, sich gegenseitig ergänzend und corrigirend, zusammenwirkm. Es war wesentlich Mathy's Verdienst, daß die „Deutsche Zeitung" im J u l i 1847 iu's Leben trat. Das Zusammentreten der bewährtesten politischen Charaktere, der staatswissenschaftlichen Eapacitäten aus dem deutschen Norden und Süden, das Zusammenwirken der Dahlmann uud Beseler, der Waitz und Droysen mit den Mathy und Basiermann, Gervinus nnd Häusser sollte den vorwärts drängenden Elementen eine feste, praktische Richtung auf erreichbare Ziele geben. Jahre angeregter und anregender Thätigkeit verlebte Mathy nun in Mannheim oder, wenn die Kammer versammelt war, in Karlsruhe; er fühlte, daß er an seinem Platze stand und der lebhaste Antheil ganz Deutschlands an dem politischen Kampfe, den die badische Opposition führte, erweckte Aussicht, endlich zum Ziele zu gelangeil. Dazu gesellte sich für ihn die Hoffnung, eine gesicherte bürgerlichen Existenz zu erreichen. Friedrich Bafsermaun, der sich ihm innig anschloß, hatte ihm vorgeschlagen, mit ihm gemeinsam ein Verlagsgeschäft in Mannheim zu gründen. Wiederum fiel ihm die Hauptlast der Arbeit zu; es war nicht seine Art, bei gemeinsamen Aufgaben mit seiner Zeit und Kraft zu geizen. Sorgfältig und geduldig prüfte er die Manufcripte, welche eingingen. Der Erfolg des Geschäftes entsprach trotzdem den Erwartungen nicht. Nicht Alles erwies sich lucrativ, was als inhaltlich werthvoll oder politisch nützlich aus diesem Verlage hervorging; der Ertrag des Geschäfts reichte nicht viel weiter als zur Verzinsung des Anlagecapitals, welches nicht Mathy's Eigenthum war. Für seine Arbeit fiel ihm nur eine so geringe Vergütung zu, daß er daneben auf literarischen Erwerb angewiesen blieb. Erholung von seiner angestrengten Thätigkeit fand Mathy in dem Freundeskreise der sich um sein Haus sammelte. Bassermann, Soiron, Malsch, Buhl, Berthold Auerbach schlössen sich ihm eng an, nnd die Freude, ihren

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Mann so erfolgreich wirken und von den Besten anerkannt zu sehe», richtete auch Frau Mathy's Lebensmuth wieder auf. Der Zusammentritt des vereinigten Landtags in Preußen, seine loyale aber entschiedene Haltung hatte der deutschen Bewegung neue Impulse gegeben; es wurde immer deutlicher, daß große politische Wandlungen bevorstanden. I m Herbst des Jahres 1847 versammelte sich in Heppenheim ein Kreis liberaler Männer aus Preußen und Süddeutschland, um sich über einen Weg zu verständigen, auf welchem die nationale Einigung zu erreichen sein möchte. Mathy's praktische Ansicht gelangte zur Anerkennung; er war der Meinung, daß die Grundlage bereits im Zollverein vorhanden sei; er umfasse nur rein deutsche Staaten, besitze einen Nerwaltungsapparat, vereinige die materiellen Interessen der Nation und biete die Möglichkeit, eine nationale Vertretung den mit Preußen verbundenen Negierungen gegenüber zu stellen. Aber die wachsende politische Erregung Frankreichs trieb auch in Deutschland die Wogen höher; eine raschere Entwickelung schien unvermeidlich, und Mathy einigte sich mit den Freunden in der Ansicht, für die Herstellung der nationalen Einheit an das vorhandene Organ, den Bundestag, anzuknüpfen. Er sprach in der Kammer sür Bassermanns Antrag auf Einführung der Vertretung der Nation am deutschen Bunde. Es war wenige Tage vor der Februarrevolution. Louis Philipp fiel, die Republik wurde in Frankreich proclamirt; in Deutschland riß die lange zurückgehaltene Bewegung alle Dämme durch, die Regierungen lagen am Boden. Mathy wußte, was die Revolution von 1789 Frankreich gebracht und was sie Frankreich gekostet; er wußte, daß es ein Anderes sei, in einem Einheitsstaate Revolution zu machen, ein Anderes in einer Vielheit von Staaten. Er wußte, daß wenn es auch möglich wäre, den Süden Deutschlands in den Republikanismus zu treiben, der Norden sich desto fester auf seine alten Lebensformen zurückziehen würde. Die radicalen Elemente der liberalen Partei waren entfesselt; er hielt sie nicht stark genug, ganz Deutschland fortzureißen, und er sah kein Heil in ihrem Siege. Er wollte festhalten und durchsetze»,

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was er bisher erstrebt, den constitutionellen und den nationalen S t a a t , nicht mehr und nicht weniger. Die Negierungen sollteil zu aufrichtigen Concessionen in diesem Sinne genöthigt, der Radikalismus sollte gebändigt, der gesetzlose Exceß sollte der Nation erspart werden. Als Mitglied des Gemeinderaths von Mannheim präsidirte er am 27. Februar 1848 einer Volksversammlung, welche eine Petition um Preßfreiheit, Schwurgericht und deutsches Parlament beschloß. Als diese Petition aber von einem Volkshaufen, welcher am 1. März in die Sitzung der 2. Kammer drang, von Hecker übernommen und deren sofortige Verhandlung unter dem Jubel der Galerien von ihm beantragt wurde, erhob sich Mathy. Kühl verwies er auf die Geschäftsordnung, welche die Vorberathung jeder Petition durch die Abtheilung vorschrieb. Es machte ihn nicht irr, daß er allein blieb. Doch unterließ er nicht, seinen Standpunkt zugleich fest zu bezeichnen, indem er noch in derselben Sitzung der Regierung deutlich machte, daß es auch den gemäßigten Liberalen mit ihren Forderungen Ernst sei, während Brentano ihn dem Volkshaufen draußen als Verräther der Volkswünsche denuncirte. Die Regierung hatte die Zügel fallen lassen: die Agitation hatte freies Spiel, sie fand im Süden Badens bereitesten Boden. Der Bitte, welche die Regierung an die Abgeordneten richtete, in ihren Wahlkreisen für die Herstellung der Ordnung einzutreten, versagten sich die meisten. I n Mathy's Wahlbezirk, im Seekreise, wo Fickler eifrig agitirt hatte, war bereits am 13. März die Republik proklamirt worden; Mathy machte sich auf der Stelle auf; in stürmischen Volksversammlungen zu Stockach und Konstanz wies er energisch darauf hin, daß das Verlangen nach Republik, die Erklärung der Republik nichts sei als die Lostrennung von der Gesammtheit Deutschlands. Die Disciplin der badischen Truppen war gelockert ; in Straßburg sammelte Herwegh eine Freischaar zum Einbruch in Baden. Als die badische Regierung nun Bundestruppen in's Land rief, erhoben sich die Hecker und Brentano, deren Aufstandspläne sich hierdurch gekreuzt fanden, mit Freiheit strömenden Declama-

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tionen gegen „die fremden Truppen". „Hat man je in Frankreich gehört, daß Soldaten aus der Bretagne an der Garonne und der Rhone Fremde genannt worden wären?" fragte Mathy ihm entgegen; die gesetzliche Ordnung müsse aufrecht erhalten werden, am meisten von denen, welche die Republik wollten. Er citirte die Worte seines Freundes, des Landammann Munzinger von SoloHnrn.- „Wir Repttb/Mner dürfen nicht die /ei/ef/e Ver/eHnng des Gesetzes dulden; das Gesetz ist unser Palladium, das müssen wir rein und unversehrt halten, sonst sind wir verloren". Wäre die Regierung mit gleicher Entschiedenheit vorgegangen, wäre in den Beamten Entschluß und Thatkraft gewesen, der Aufstand wäre dem Lande erspart geblieben. Mathy versuchte zu thun, was der Einzelne vermochte; auf eigene Verantwortung ließ er Fickler verhaften, als dieser im Begriff stand, die vorbereitete republikanische Erhebung im Seekreis zum Ausbruch zu bringen. Empörte Volkshaufen drangen in Mathy's Haus. Kaltblütig trat er unter die Menge, die ihm überrascht Raum gab; vom Balkon des Rathhauses herab erklärte er ihnen ruhig und bestimmt, was er gethan und warum er es gethan. Für den Augenblick dankten ihm enthusiastische Zurufe. Die Partei der Revolution vergab und vergaß aber nicht, was er ihr gethan; ihre Presse strömte von Schmähungen über; er wurde mit Drohungen überhäuft. Dem Mißtrauensvotum seiner Wähler antwortete er: „Wenn Sie mich tadeln, daß ich als Bürger gethan habe, was nur der Polizei zukommt, so reinigen Sie Sich durch Ihre Vorwürfe vollständig von dem Verdacht, Republikaner zu sein. Denn wer glaubt, daß nur die Polizei sich um das Wohl und Wehe des Ganzen zu kümmern hat, daß der Bürger sich nicht damit befassen soll, selbst in solchen Augenblicken nicht, wo er allein großes Unheil verhindern kann, wer so denkt, ist gewiß kein Republikaner, sondern nur reif für den Polizeistaat." Er hatte die Kraft des Aufstandes schwächen, er hatte ihn nicht verhindern können. Seine Unterdrückung kostete Deutschland einen seiner bedeutendsten Männer: Friedrich von Gagern. Von der unmittelbaren Gefahr befreit, suchte sich die badische

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Regierung durch einen liberalen Namen zu stützen, Mathy wurde aufgefordert in das Ministerium zu treten. Er meinte, daß sein Eintreten nach dem, was er gethan, die Zahl der Gegner der Regierung eher vermehren als vermindern werde; er glaubte, in dein ungleich zusammengesetzten Ministerium keinen entscheidenden Einfluß gewinnen und an Stelle der Nathlosigkeit kaum eine entscheidende Richtung zur Geltung bringen zu können; aber er meinte doch, der dringenden Lage und dem Wunsche seiner Freunde sich nicht versagen zu dürfen. Die nächste Wirkling seines Eintritts war der Befehl an alle Beamten, sich auf ihre Posten zurück zu begeben, das Verbot der Volksausschüsse, welche in einzelnen Bezirken die Regierung an sich gerissen, die Verhängung des Belagerungszustandes über Mannheim. Wie schwer und ausreibend dieser Kampf im eigenen Lande war, Mathy hatte darüber die nationale Frage keinen Augenblick außer Acht gelassen; mit Soiron, Bassermann, Welcker, Römer, Heinrich von Gagern, Hansemann hatte er am 5. März zu Heidelberg ein Programm für die deutsche Verfassung entworfen. Zur Vorberathung derselben sollte das Zusammentreten eines Vorparlaments veranlaßt und die Regierungen bestimmt werdeil, den Bundestag durch Vertrauensmänner zu verstärken und damit in feinem Personalbestande umzuwandeln. Dieser neue Bundestag sollte dann die Vertretung Gesammtdeutschlands in regelmäßiger Wahl berufen, die definitive Verfassung Deutschlands mit dieser feststellen. Der Antrag Bassermanns vom 20. Februar, die Beschlüsse dieser Versammlung zn Heidelberg, haben der Bewegung von 1848 den Weg gewiesen und die Ziele gegeben. Die Heidelberger Resolutionen sind in der heute geltenden Verfassung des deutschen Reichs wieder zu erkennen. Man sieht deutlich, wie sehr ihren Urhebern daran gelegen war, in die gesetzlichen Bahnen, in ein Zusammengehen mit den Regierungen zurückzu lenken. Das Vorparlament trat am 4. April zusammen. Es gelang der gemäßigten Partei, unter Gagerns und Soirons Führung, die Absichteil der Revolutionspartei zn vereiteln, zu verhindern.

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daß das Vorparlament seine Aufgabe: die Vorbereitung einer allgemeinen nationalen Vertretung nicht überschritt. Zur Wahrung der Volksrechte setzte das Vorparlament einen Ausschuß von 50 Männern nieder, der bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung fungiren sollte. Mathy war unter ihnen: unter Soirons tapferer und fester Leitung hielt der Fünfzigerausschuß dem Drängen einer starken Minorität gegenüber eine gemäßigte Richtung fest. Mathy befürwortete den Wunsch der preußische«? Regierung, die Eröffnung des deutschen Parlaments vom 1. auf den 18. Mai zu verschieben, wie er überhaupt auf festes Zusammengehen mit dem monarchisch gesinnten Norden hielt. Mit Schleiden wurde er nach Berlin entsendet, um die Räumung Schleswigs von den Dänen, dessen Einverleibung in den deutschen Bund, die Bewaffnung der Herzogthümer zu betreiben. Die Wahlen zum deutschen Parlament waren namentlich im Norden auf Männer gefallen, welche sich in den letzten Jahrzehnten der damals wenig lohnenden freiwilligen Beschäftigung mit dein Staat unterzogen und deßhalb Zurücksetzung und Verfolgung erfahren hatten. Es waren in langem Kampfe erprobte und darum gereifte und gemäßigte Männer. Aber keiner von ihnen konnte weniger verblendet sein über die Schwierigkeit der Aufgabe, welche das Parlament zu lösen hatte, über die ephemere Kraft der revolutionären Bewegung als Mathy. Ueber die Stellung, welche er in Frankfurt eingenommen, hat Mathy sich selbst in einem Schreiben an seinen alten Wahlbezirk, den Seekreis, ausgesprochen. Er geht davon aus, daß selbst im Verein der Regierungen und einer starken Vertretung das Zustandekommen einer Verfassung für Deutschland außerordentlich schwer, daß ohne das Zusammenwirken der Regierungen und der Nationalvertretung die Lösung unmöglich war und sei. Darum habe er sich bemüht, das Centralorgan, welches in Frankfurt vorhanden war, den Bundestag, zu erhalten. Nachdem man ihn umgestürzt, habe er dahin gewirkt, daß aus den Bevollmächtigten der einzelnen Staaten bei der provisorischen Centralgewalt eine Vertretung der Einzelstaaten gebildet werden möchte. Sein Bemüheil

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sei vergebens geblieben. Seitdem habe er keine Hoffnung mehr gehabt, daß eine Versassung durchgeführt und Ein Deutschland aus dem Staatenverein gebildet werden könne. Am 24. J u n i 1848 warnte er unter dem Toben der Galerien vor der Verwechselung der künstlich gesteigerten revolutionären Trunkenheit der Massen mit nachhaltigem patriotischen Feuer, warnte er vor Ueberschätzung der Macht des Parlaments. „Ich kann nicht sage», daß wir zu Allem berechtigt sind, da uns doch der Kreis unserer Rechte vorgezeichnet ist, und da außer uns in Deutschland noch Staaten bestehen, welche auch ihre Rechtssphäre haben, welche unnöthiger Weise zu verletzen weder die Selbstherrlichkeit, noch die Freiheit, noch die gewöhnliche Klugheit erlaubt. Wir wollen nicht mit dem beginnen, was für den schlimmste» Fall unser Entschluß sein müßte; noch berechtigt uns nichts, zu dem Aeußersteu zu schreiten, noch haben wir Hoffnung, daß eine große Mehrheit unter den deutschen Regierungen für die Einsetzung einer einstweiligen Gewalt sich bilde, eine Mehrheit deren Beschlüsse, wenn auch nicht den Wünschen aller Einzelnen, so doch dem Gesammtinteresse der Nation entsprächen". Unverrückt hielt er an der Ueberzeugung fest, daß die historischen Bildungen nicht an Einem Tage ihre Kraft verlören, daß ein Staatenverein unmöglich zur Einheit znsammenzubilden sei ohne eine gesicherte Vertretung der Einzelstaaten gegenüber der Vertretung des gesammten Volkes. Der Bundestag folgte damals völlig der Nationalversammlung; man sollte ihn beibehalten, meinte Mathy, bis zur Bildung einer besseren Staatenvertretung. Mathy's Anficht unterlag Gagerns „kühnem Griff". Die provisorische Eentralgewalt unter dem Erzherzog Johann wurde ohne Befragen und Mitwirkung der Regierungen gebildet. Mathy war nicht der Mann, sich zu isoliren, seine Mitwirkung zu versagen, weil der Weg, den er für den richtigen hielt, nicht eingeschlagen worden war: in den Grundsätzen fühlte er sich solidarisch verbunden mit den Gagern und Dahlmann, mit den Beseler und Waitz, mit den Mevissen und Beckerath, mit den Soiron, mit der

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Partei der National-Versammlung, welche das rechte Centrum derselben bildete, wenn er auch oftmals in den practischen Maßnahmen abweichender Meinung war. Seine Selbstverleugnung für die Sache ging so weit, daß er sogar bereit war, der Centralgewalt, die er nicht gewollt hatte, als Minister zu dienen, so sehr er gewünscht hätte, da er nun einmal badischer Minister war, als solcher neben der parlamentarischen Thätigkeit fortwirken zu können. Er war zum Reichs-Finanzminister designirt und ließ sich deshalb von seinem badischen Staatsamt entbinden. Als sich dann fand, daß es wünschenswerth sei, einen Preußen in das neue Reichsministerium zu bringen und unter den Abgeordneten Preußens nur Beckerath für solche Stellung und auch dieser nur für die Finanzen geeignet erschien, trat Mathy sofort zurück, um sich mit der Stellung des UnterStaatssecretairs, d. h. des eigentlichen Arbeiters im Reichsfinanzministerium, zu begnügen. — Was er vorausgesehen, trat in vollem Umfange ein: der Mangel der Vertretung der einzelnen Regierungen wirkte hemmend auf den guten Willen zur Leistung der Matricularumlagen, aus welche die Centralgewalt ausschließlich angewiesen war. Mathy war in steter Sorge, der zur Ebbe neigenden Kasse die nöthigsten Zuflüsse zuzuführen. Bei weitem wichtiger als diese amtliche Thätigkeit war seine Theilnahme an den Berathungen der Reichsminister, an den Verhandlungen der Partei, welcher er angehörte, deren Zahl und Bedeutung sich mit der wachsenden Schwierigkeit der Lage steigerte. I n der Debatte der Versammlung über den Reichshaushalt konnte der Unterstaatssecretair der Finanzen nicht schweigen; er hob hervor, daß.der Werth des Budgetrechts weniger in der Möglichkeit liege, Abstreichungen zu machen, als in dem Anlaß, den die Positionen des Budgets darböten, die gesammte Verwaltung nachdrücklich zu controlliren. Auf die sssesseÄ taxe» in England hinweisend, verlangt er die Theilung des Budgets in ein ordentliches und außerordentliches. I n der Debatte über das Wahlgesetz machte er in der Versammlung geltend, daß das Wahlrecht von der Wahlbefähigung abhängig sein müsse, daß der Zweck

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jedes guten Wahlgesetzes dahin gehen müsse, daß in der Vertretung alle politischen Meinungen und alle gesellschaftlichen Bedürfnisse in demselben Verhältnisse repräsentirt seien, in welchem sie im Volke selbst beständen: ebensowenig ein Vorrecht für den Besitz der Mehrzahl als für den Besitz des Vermögens, beweglichen oder unbeweglichen, dürfe das Wahlgesetz ertheilen. Damit die Wahl eine wirklich freie sei, dürften nur Solche wählen, welche iin Stande seien, den Zweck der Wahl zu erkennen und die Person zu beurtheilen, für welche sie stimmen. Liegt der Zweck, für welchen gewählt wird, und die Person, welche im Vorschlag ist, dem Kreise der Einzelnen fern, so ist der Spielraum für die Irreleitung der Massen gegebeil. Er will demnach entweder die indirecte Wahl oder die Einführung des Wahlcensus, als des bei directer Wahl allein durchführbaren Kriteriums für die Selbständigkeit der Wähler. Das allgemeine Wahlrecht ohne jeden Census sichere die Freiheit nicht, sondern sichre zum Despotismus. Zum letzten Male hat Mathy am 25. April 1849 in der National-Versammlung das Wort ergriffen. Die Verfassung war festgestellt, die Uebertragung der Centralgewalt an den König von Preußen war ausgesprochen, aber der König von Preußen hatte abgelehnt. Die linke Seite der Versammlung, welche die Verfassung Schritt vor Schritt bekämpfte und in Verbindung mit den Großdeutschen und Ultramontanen Alles daran gesetzt hatte, sie unannehmbar zu macheu, schrieb jetzt die Durchführung der Reichs-Verfaffung, nachdemsiedurch Preußens Ablehnung unmöglich geworden war, auf ihre Fahne. Begierig ergriff sie den Hebel, den Friedrich Wilhelm IV. ihr in die Hand gedrückt, um die Revolution zn erneuern. Oesterreich stand zur Seite; es wollte nur einem Bundesstaat angehören, in welchem es die erste Stelle einnahm; Baiern, Hannover, Sachsen und Württemberg sahen sich gern durch die Ablehnung Preußens dem Geschicke überhoben, sich die Fesseln der Reichsverfassung anlegen zu müssen. Was blieb in dieser Lage der Partei zu thun übrig, welche die Verfassung wahrhaftig und wirklich, nicht die Revolution gewollt? Sollte sie, die mit der Reichs-

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Verfassung die Revolution zu schließen gedacht hatte, sie nun mit derselben wieder entzünden? sie war auf den wenig verheißungsvollen Weg zurückgeworfen, durch moralische Einwirkungen auf die Regierungen, durch das Mittel der Agitation in gesetzlichen Schranken die Annahme der Reichsverfassung dennoch durchzusetzen. Einige Hoffnung bot noch immer, daß 28 deutsche Regierungen, d. h. alle deutschen Staaten außer den vier Königreicheil, sich zur Annahme der Reichsverfassung bereit erklärt hatten. Mathy rief der Versammlung an jenem Tage zu: „Bleiben wir fest bei der Verfassung, wenden wir zur Durchführung derselben die richtigen, dem Widerstand entsprechenden Mittel zu rechter Zeit an, nicht solche, die außer allem Verhältniß zum Zwecke stehen und der Erreichung desselben nur schaden oder das Gegentheil herbeiführen können. Dann zweifle ich nicht, dann wird die deutsche Nation ihre Einigung in der Verfassung finden und auf dem Grund derselben ihre Freiheit erlangen". Er wollte nicht, daß die gesetzliche Ordnung, daß die Verfassung verletzt werde, um sie in's Leben zu rufen. Die Linke wollte nicht hören, in den Massen überwog das Gefühl der Erbitterung, der getäuschten Hoffnung, die Lage und die Stimmung des Volks ließ die Mahnungen des Centrums zur Vertretung der Reichsverfassung innerhalb der Schranken des Gesetzes verhallen. Von Neuem gab Baden das Zeichen zum Ausstände, die Pfalz, Leipzig und Dresden folgten. Die Aufstände gaben den Regierungen das Recht der Abwehr, der Reichsverweser ernannte ein Ministerium, welches im Gegensatz zur Reichsverfassung stand. Machtlos stand die liberal-nationale Partei zwischen der Revolution und der Reaction. Es war ein tiefer Schmerz, so lange und so angestrengt vergebens gerungen zu haben. Aber in der beschlossenen Verfassung war doch das ausgeführte Programm der nationalen Einigung gegeben; konnte man sie praktisch im Augenblick nicht durchführen, das Band der Zukunft, das Ziel der Nation war dennoch articulirt und festgestellt. Diese Feststellung durfte man nicht verdunkeln, nicht alteriren lassen. Deßhalb durfte die gemäßigte Partei nicht in der Versammlung bleiben, innerhalb welcher D u n c k e r , Abhandl. a. d. n. Gesch.

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sie bei dieser Lage der Dinge entweder der Reaction oder der Revolution dienstbar geworden sein ivürde. Mit seinen Freunden trat Mathy am 20. Mai 1849 aus der Versammlung. Es war die einfache Consequenz der Politik, welche die gemäßigte Partei in der Paulskirche befolgt hatte, daß dieselbe in Gotha dem Versuche, den Preußen mit dem Dreikönigsbündniß machte, die nationale Einigung auf anderen» Wege zu erreichen, ihre bedingte Zustimmung gab. Hatte man Alles daran gesetzt, die Excesse der Revolution zu verhindern, so mußte man nun auch, als die Niederwerfung jener Aufstünde den Regierungen ihr altes Selbstgefühl wiedergab, versuchen, dm Exceß der Reaction, die einfache Rückkehr zu deu alten Zuständen zu verhindern. Die Versammlung zu Gotha (in den letzten Tagen des Juni 1849) einigte sich nach erregten Debatten zu der Erklärung, daß auch der von Preußen betretene Weg zu dem ersehnten Ziele der Einigung der Ration führen könne. Es bekümmerte Mathy wenig, dem Radikalismus eine Thorheit und der Reaction ein Aergerniß zu sein, dm Namen des „Gothaers" als Bezeichnung ohnmächtiger Accommodation zu tragen. Er wußte wohl, daß der Patriotismus auch verlange, um der Zukunft des Vaterlandes willen, Verkennung und Undank auf sich zu nehmen. Nicht wesentlich anders als in Gotha lag die Aufgabe für die gemäßigte Partei, als aus den Ruf Preußens am 2V. März 1350 das Parlament zu Erfurt zusammentrat, um der Verfassung des Dreikönigsbündnisses, welche die Verfassung der National-Versammlung ersetzen sollte, die Zustimmung zu geben oder zu weigern. Baiern und Sachsen hatten sich bereits zurückgezogen, Hannover schwankte, mir auf jene Regierungen, die bereits die Verfassung der Nationalversammlung anerkannt hatten, war sicher zu rechnen. Am unsichersten erschien die Haltung Preußens selbst; es lag zu Tage, daß die Politik des Herren von Radowitz mächtige Gegner am Hofe zu Berlin hatte. Die constitutionell-nationale Partei bildete die Mehrheit der Erfurter Versammlung; sie durfte dem Uebelwollen jener Regierungen, dem Schwanken Preußens keinen Vorwand geben, von dem gemachten Angebot, dem vorgelegten Verfassungsentwurs, zurück-

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zutreten. Welche Einwendungen gegen den Verfassungsvorschlag zu machen waren, man mußte annehmen und damit die Regierungen binden; man mußte die wünschenswerthen Abänderungen bezeichnen, ohne diese Aenderungen zur Bedingung der Annahme zu machen. Mathy war in den vorberathenden Ausschuß gewählt, er sah scharf, woraus es ankam und fand eine gute Fassung für die Verbindung der beiden entscheidenden Gesichtspunkte. Die Mehrheit des Ausschusses war seineni Vorschlage geneigt. Während der Verhandlungen der Versammlung wurde die Unsicherheit der preußischen Regierung immer deutlicher, man mußte rasch zum Schlüsse kommen. Die Annahme der Verfassung im Ganzen erlangte in der von Patow'schen Formulirung der Mathy'schen Vorschläge am 18. April im Volkshause und dann auch im Staatenhause starke Majorität. Mit andern Gegnern als in Frankfurt hatte Mathy in Erfurt sich zu messen. Hatte er in Frankfurt gegen das Uebermaß des Budgetrechts und der Ausdehnung des Wahlrechts gesprochen, so hob er hier hervor, daß das Recht der Ausgabebewilligung und der Controle ein ausgedehntes und ernsthaftes sein müsse, daß der Reichsregierung, dem Fürstenrath, den Wahlmodus zu bestimmen, nicht überlassen werden könne. Als die Erfurter Versammlung auseinander ging, war die Hoffnung nicht groß, daß die preußische Regierung das Verfassungswerk dem Widerspruch der Königreiche und dem Widerspruch Oesterreichs gegenüber durchführen werde. Hatte Mathy schon auf einer Reise, die er im October 1849 nach Bremen gemacht, gefunden, daß die Nation doch vorwärts gekommen sei im gegenseitigen Kennen der Bevölkerungstheile, wie im Erkennen der Bedingungen und Hindernisse der Einigung, so gab Erfurt seinen deutschen Hoffnungen einen noch kräftigeren Trost; er hatte hier Gesinnungsgenossen aus dem deutschen Norden, von ganz anderen Boraussetzungen und Standpunkten ausgehend, Persönlichkeiten von ganz anderen! socialen und individuellen Stoff gefunden, die Bodelschwingh, Dyhrn, Saucken, Heinrich Arnim, welche dennoch für die Frage der Einigung feurig und unverhohlen eintraten. Dieß gab ihm Gewähr, daß auch das alte büreaukratisch-aristokratische Preußen 21*

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früher oder später der nationalen Politik gewonnen werden würde. Selbst Olmütz konnte ihn hierin nicht irre machen, obwohl dieses Aufgeben der deutschen Politik Seitens der preußischen Regierung auch für Mathy's persönliche Thätigkeit eine Wendung herbeiführte. Er hatte nach dem Scheitern der Paulskirche Alles daran gesetzt, das Organ der gemäßigten Partei, die von ihm begründete „Deutsche Zeitung" zu erhalten. Die Aufgabe war schwierig, das Scheitern der Versammlung hatte den Muth der Meisten gebrochen, die Theilnahme der Mitarbeiter ließ nach. Er deckte die Ausfälle der Einnahmen durch unentgeltliche Mitarbeit als Correspondent, durch Vertretung des Redacteurs, durch Herbeischaffung von Actienzeichnungen, durch Verhandlungen mit den wechselnden Verlegern. Ueber anderthalb Jahre hindurch fristete er allein der Zeitung das Leben. Als aber Herr von Manteuffel zu Olmütz capitulirt hatte, hatte das Organ in Mathy's Augen keinen Werth mehr; es hatte die nationale Politik Preußens bis zum letzten Augenblick unterstützt; nachdem Preußen selbst diese aufgegeben, hätte das Blatt gegen Preußen Opposition machen müssen, d. h. gegen den Staat, der nach Mathy's Meinung trotz Allem die einzige Hoffnung der deutschen Partei blieb. Nach seinein Austritt aus der Nationalversammlung war Mathy in das badische Ministerium zurückgetreten, am 26. Mai 1849 war ihm das Präsidium des Finanzministeriums übertragen worden. Aber wenige Tage darauf, als Mieroslawski's Schaaren durch die preußischen Truppen niedergeworfen und deren Reste über die schweizer Grenze getrieben waren, wurde Mathy mit allen seinen Collegen des s. g. Märzministeriums der Geschäfte enthoben. Das Ministerium der Reaction Klüber-Marschall übernahm die Geschäfte. Von seinem Sitz in der II. Kammer aus erhob Mathy seine Stimme, den Uebertritt Badens zu Oesterreich zu hindern, zur Treue und zum Festhalten an der Union zu ermähnen. Als Vorsitzender der Budgetcommission gelang es ihm, Maßregeln zur Annahme zu bringen, welche den durch die Wirren der letzten Jahre schwer zerrüttete« Finanzen des badischen Staats zu Hülfe

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kamen. Er stand fast allein, die Vertretung war unter dem Eindruck der Niederlage des Aufstandes gewählt worden. Drei Jahre hindurch hatte Mathy muthig und ausharrend wie kaum ein Anderer gegen Revolution und Reaction für die nationale Einigung gestritten und gearbeitet. Das Ziel war nicht erreicht, aber seine private Existenz war darüber zu Grunde gegangen. Als er Unterstaatssecretair im Reichsministerium wurde, hatte er sein Gehalt als badischer Staatsrath zurückgewiesen. Als er am 3. J u n i 1849 von der Leitung des Finanzministeriums entbunden wurde, erklärte er, der gedrückten Finanzlage des Landes wegen auf Dispositionsgehalt keinen Anspruch zu erheben. Bei der Entlassung war die weitere Verwendung im Staatsdienst vorbehalten worden. Als solche bis zum März 1853 nicht eingetreten war, und mit dem April d. I . , das heißt mit dem Ablauf des fünften Jahres seit seinem ersten Eintritt in das Ministerium, nach badischem Gesetz der Anspruch auf Ruhegehalt in Wirksamkeit kam, erinnerte er hieran. Am 29. März 1853 erwiderte ihm das Ministerium, es betrachte ihn nicht als zur Disposition gestellt, sondern als entlassen; zur Wiederanstellung liege jetzt lind in nächster Zeit keine Veranlassung vor. Nur für den Monat Mai 1849 erfolgte eine Gehaltsnachzahlung. Das war der Dank des Staats, den er mit persönlichster Aufopferung gegen die Revolution vertheidigt hatte. Seit dem Herbst 1850 hatte Mathy seinen Wohnsitz wieder in Mannheim. Seine Ersparnisse hatten die drei Kampfesjahre aufgezehrt; er war auf den Ertrag der Buchhandlung angewiesen; aber obwohl die Leitung jetzt, bei Bassermanns Erkrankung, noch ausschließlicher als früher auf ihm lag, trug ihm dieselbe kaum so viel ein, als einem ausführenden Beamten des Geschäfts zugekommen sein würde. Auch diese Einnahme versiegte, als Wassermann, durch sein Nervenleiden entmuthigt und verdüstert, im April 1854 darauf drang, das Geschäft zu schließen, sein Capital zurückzuziehen. Wiederum sah sich Mathy wesentlich auf publicistischen Erwerb zurückgeworfen, wiederum correfpondirte er für das Mannheimer Journal, die Weserzeitung, das Bremer Han

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delsblatt, die Grenzboten, und veröffentlichte unter dem Titel „Vaterländische Hefte" größere Arbeiten zur Geschichte der deutschen Einigung und über die Beziehungen der Groß- und Kleinstaaten Deutschlands zum Kriege, den die Westmächte gegen Rußland begonnen hatten. Beide Abhandlungm erregten Aufmerksamkeit durch die Wohluuterrichtetheit und den weiten politischen Blick, die sie auszeichneten. Die Sorge um den Erwerb lag um so schwerer auf Mathy, als seit dem Frühjahr 1852 der ihm gebliebme Sohn an einem Brustleiden erkrankt war, dessen Pflege und Heilung wiederholten Aufenthalt im Süden, in Hyöres und Palermo, nöthig machte. Der Vater mußte nach gesicherterem und lohnenderem Broderwerb aussehen. Unter den Freunden, mit welchen ihn die parlamentarischen Kämpfe in Verbindung gebracht hatten, befanden sich die Chefs großer Handlungshäuser in Köln, Bremen und Berlin. S i e hatten ihn als Kenner des Finanzwesens und als eminente Arbeitskraft schätzen gelernt. S o erhielt er im Herbst 1854 von Hermann von Beckerath und Mevissen eine Einladung, nach Köln zu kommen, um für den Schaffhaufenfchen Bankverein Gutachten über verschiedene industrielle Projecte auszuarbeiten. Mathy trat im Sommer 1854 aus der Buchhandlung und folgte der Aufforderung Beckeraths. Die Freunde in Köln hofften die Concession zur Gründung einer Bank in Köln zu erlangen, bei welcher sich eine definitive Stellung für Mathy ergeben haben würde. Während mit der Regierung über diese Concession verhandelt wurde, forderte ihu Hansemann auf, nach Berlin überzusiedeln. Er hatte Mathy auf jener Versammlung zu Heppenheim kennen gelernt; bereits im Jahre 1848, während des kurzen Ministeriums Hansemanns, hatte er versucht, Mathy nach Berlin zu ziehen, um ihn an seiner Seite zu beschäftigen. Jetzt wünschte er, daß Mathy ihn in der Leitung der Discontogesellschast, die er zu Berlin gegründet, und bei deren Erweiterung zu einem großen Bankverein mit seiner Kenntniß des Geschäftslebens und der Verkehrsverhältnisse unterstütze. Mathy hatte immer Gewicht darauf gelegt, daß die Geineinschaft der

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materiellen Interessen der Nation ihrer Einigung zu Hülfe kommen müsse. Der großartige Aufschwung des industriellen und mercantilen Lebens, welcher nach dem Erlöschen der Revolution eingetreten war, brachte Nord und Süd, Küste und Binnenland einander näher und machte sie in ihrem Gedeihen von einander abhängig. Es hatte Werth und Reiz für Mathy, von einem großen Mittelpunkte aus das Schaffen des Handels und der Industrie, die Macht der Einzelnen und der Gesellschaftsgruppen auf diesem Gebiete zu beobachten, die Wechselwirkung der staatlichen und gesellschaftlichen Factoren durchschauen zu können. Hansemann gehörte zu den weitgreisendsten Unternehmern, seine Verbindungen reichten nach Paris und Petersburg, nach Florenz und London. Mathy's ausgebreitete Kenntniß des europäischen Markts und der Verkehrsgesetze erschienen Hansemann um so werthvoller, als er dessen Blick frei wußte von der Beunruhigung und Trübung, welche lebhaftes Interesse an eigenem Gewinn herbeizuführen pflegt. Anfang März 1855 war Mathy in Berlin. Die schwersten Bedrängnisse sollten diesem neuen Lebensabschnitte nicht fehlen. Bereits im J u n i 1855 erkrankte der Sohn, der in Heidelberg die Universität bezogen hatte, auf's Neue. Die kaum gegründete Häuslichkeit wurde inmitten der lärmenden Großstadt zur Pflegestätte für den schwer leidenden Sohn. Vergebens hatte der Vater den Kranken im Winter von 1852 zu 1853 nach Hyöres geleitet, vergebens war derselbe im Winter von 1853 zu 1854 in Palermo gewesen. Karl war in Zügen und Anlagen beiden Eltern verwandt; klar und treu blickte er aus den großen Augen des Vaters, dessen skeptisches Lächeln zu gutmüthigem Humor gemildert um seine Lippen schwebte. Sein Urtheil war gesund, für den Unterricht hatte Mathy selbst auf das Beste gesorgt, unter der Leitung des Vaters hatte sich Karl zeitig den großen Interessen des Vaterlandes zugewendet; ehrerbietig und offen stand er den Eltern gegenüber, der größte Schmerz seines Krankenlagers war ihm der Kummer, den es den Eltern bereitete. Ein J a h r nach der Uebersiedeluug, im März 1856 trugen Mathy und seine Frau ihr

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letztes Kind zu Grabe. Es war die härteste der Prüfungen, die Mathy bestanden hat. Daß er sie bestand, zeigt, in welcher Tiefedie Wurzeln seiner Kraft lagen. Er war auch körperlich erschüttert: aber sein Entschluß wankte keinen Augenblick, der Gattin, welche sich ihm zu erhalten gelobt hatte, das Leben noch lieb zu machen. Der alte Humor bekam freilich einen Anslug von herber Ironie, es war ihm wie ein Hohn des Schicksals, daß ihm nun die Mittel geboten waren, ein vermögender Mann zu werde», nachdem der Grund aufgehört hatte, um dessen willen es ihm hätte wünschenswerth sein können. Mathy hatte das Statut für die von Hansemann geplante Erweiterung der Discontogesellschast ausgearbeitet; sie sollte durch dasselbe zum Ausgangspunkt und zur Stütze für kleinere Banken in möglichst vielen Gebieten Deutschlands werden. Der Verwaltungsrath nahm das Statut nach einigen Veränderungen einstimmig an, und es bewährte sich trefflich in der Erfahrung. Mathy's Operationen für die Gesellschaft waren glücklich, feine Ermittelungen, sein Rath, seine Ausführungen erwiesen sich stets nützlich; seine Bedeutung als Finanzmann wurde warm anerkannt. Aber für ihn gestaltete sich die Stellung nicht befriedigend. Es lag dies nicht allein in der Kälte, mit welcher Mathy auf die Börsenwelt und das Gewinnfieber herab sah; die Befugnisse der Direction waren nicht genug abgegrenzt, um persönlichen Uebergriffen zu wehren; er vermochte nicht, Operationen zu hindern und Personen fern zu halten, welche seinem sittlichen Gefühl mißbehagten; die Fügsamkeit des Verwaltungsrathes und der Direction gegen Hansemann und seinen damals noch wenig erfahrenen Sohn schien ihm nicht würdig. Gegen Ende des Jahres 1857 sagte er dem Verwaltungsrath der Gothaer Privatbank zu, die Direction dieses Instituts zu übernehmen; um Neujahr 1858 übersiedelte er dorthin. Die Trennung von Hansemann war freundschaftlich, das Scheiden von dessen Familie, die in innigem Verkehr mit den beiden Gatten gestanden, schmerzlich. Die Einfachheit und Klarheit der Geschäftsverhältnisse, in

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welche Mathy zu Gotha eintrat, die Uebersehbarkeit und Gleichmäßigkeit des Betriebs stand in wohlthuendem Gegensatz zu der rastlosen Ausbreitung des Geschäftsgebietes der Discontogesellschast, zu dem hastigen Wettlauf der Interessen, welche dort für die mannigfaltigsten und gewagtesten Spekulationen Unterstützung suchten. Es gelang Mathy bald, die Beziehungen der Bank nach allen Seiten zu sichern. Die schöne Lage von Gotha Ailgesichts des blauen Höhenzuges der Thüringer Berge, die geräumige Wohnung in einer Villa der gärtenreichen Vorstadt, iir welcher der vielgewanderte Hausstand behaglichere Unterkunft fand als die früheren Anfiedlungen gewährt hatten, der Freundeskreis, der sich hier um Mathy enger schloß, als es gleiche Anziehung in der Großstadt erlaubt hätte, das Vertrauen, welches dem bewährten Patrioten entgegen kain, die Achtung, welche dem Wort und Rath der Gatten gezollt wurde, die für sich Wünsche und Hoffnungen nicht mehr hegten, aber desto wärmer für das Wohl der Freunde empfanden — das Alles machte die Zeit, welche Mathy in Gotha verlebte, zu einem ruhigen Idyll nach kampferfüllten Jahren. Das durchlebte Leid war nicht vergessen und nicht verschmerzt; aber die freundlicheren und friedvolleren Augenblicke wurden dankbar genossen. Von hohem Werth war es für Mathy, daß Gustav Freytag in unmittelbarer Nähe von Gotha seinen Sommersitz hatte; die herzliche Beziehung, die hier zwischen beiden Männern eintrat, hat durch das Lebensbild Mathy's von Freytags Meisterhand für die weitesten Kreise bleibende Frucht getragen. Gegen Ende des Jahres 1859 durfte Mathy seine Aufgabe bei der Gothaer Bank als beendet betrachten; er gab die Direktion derselben auf, um die Leitung der Leipziger Creditgesellschaft zu übernehmen. Dies Institut befand sich in kritischer Lage, es bedürfte eines unbefangen eintretenden Mannes, einer umsichtigen und energischen Leitung. Das hatte Mathy's Entschluß bestimmt. Es sagte seinem klaren und erfinderischen Kops zu, verwickelter« Finanzsragen zu behandeln und unklare Verhältnisse zu entwirren. Er setzte es durch, daß die Gesellschaft illusorischen

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Besitztümern entsagte, industrielle Unternehmungen, welche sich nicht übersehen oder genau controlliren ließen, aufgab, daß das Actiencapital reducirt wurde. S o wurde bald sicherer Boden gewonnen und das Institut durch Pünktlichkeit und Thätigkeit zu gutem Gedeihen gebracht. Die Beamten der Gesellschaft, denen Mathy das Muster regelmäßiger Geschäftsthätigkeit war, ahnten schwerlich, daß ihr Vorgesetzter mit dem besseren Theil seines Wesens außerhalb des Kreises der Aufgaben lebte, die sie von ihm glücklich ge fördert sahen. Seit dem Beginn der Regentschaft in Preußen waren die Hoffnungen der konstitutionellen und nationalen Partei neu erwacht. Der Versuch, Preußen mit einem liberalen Ministerium zu regieren, scheiterte an der Kurzsichtigkeit der liberalen Partei in Preußen selbst, welche sich der unerläßlichen Reorganisation der Armee hartnäckig widersetzte. Mathy folgte den Ereignissen in Preußen mit gespanntester Aufmerksamkeit. I n dem Freundeskreise, der sich allabendlich zusammenfand, dein sogmannten Preußen club, schaffte seine von Voreingenommenheit und Doktrinarismus freie Würdigung der lebenskräftigen Elemente in den verschiedenen Parteien seiner Auffassung auch bei den Gegnern Gewicht. Während der Militairconflict Preußen in Ausregung hielt, hatte sich in Mathy's Heimath eine bedeutsame Wendung vollzogen. Großherzog Friedrich, welcher 1852 die Regentschaft angetreten und 1856 die volle Regierung übernommen hatte, war von der Ueberzeugung durchdrungen, daß die konstitutionellen und nationalen Forderungen des deutschen Volkes berechtigt seien und zur Durchführung gebracht werden müßten. Freilich konnte er zunächst nur für verfassungsmäßiges Regiment in Baden sorgen; aber indem er im Anfang des Jahres 1862 dem Freiherren Franz von Roggenbach das Ministerium des Auswärtigen übertrug, zeigte er damit deutlich, daß Badens Einfluß innerhalb des Bundes im Sinne der nationalen Einigung verwendet werden solle. Dazu erschien Mathy's Mitwirkung höchst erwünscht; Roggenbach kannte ihn als Charakter, als Politiker und als Finanzmann. Dem Herzen des Großherzogs

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war es eine Genugthuung, Mathy den Rücktritt in den badischen Staatsdienst anbieten zu können; es geschah in der Form des Er bietens der Reactivirung: die Direktion der Hof-Domainenkammer und die Stelle eines Vorsitzenden Rathes im Finanzministerium wurde ihm angetragen. Daß Mathy als Helfer und Ordner in Baden begehrt wurde, daß er zurückgerufen wurde in die alte Heimath, weil dieser Staat nun den Ideen gewonnen war, deren Vertretung den ergrauten Mann in der Jugend um die Heimath, in den Mannesjahren um Amt und Brod gebracht, das war der rechte Abschluß dieses in edler Arbeit vollbrachten Lebens. Zu Ende des Jahres 1862 sahen Mathy und seine Frau in der Herrenstraße zu Karlsruhe nun das kleine Haus wieder, in dessen engen: Oberstock das vielgeprüfte Paar dreißig Jahre zuvor, nur der eigenen Kraft und der gegenseitigen Liebe vertrauend, den Hausstand begonnen hatte. Kraft und Liebe hatten sich bewährt und waren in allen Prüfungen gewachsen. Hatte die Schickung, was sie Theuerstes gewährt, wieder hinweggenommen, der Verlust hatte keine Oede gelassen: in der Erinnerung an die verlorenen Kinder waren die betrübten Eltern um so inniger verbunden geblieben. Mathy's Wirken im Rath des Großherzogs war getragen von der vollen Uebereinstimmung, in welcher er sich mit Roggenbach in den politischen Zielen und in der Sinnesweife befand, wurde unterstützt durch Mathy's genaue Bekanntschaft mit allen Verhältnissen und Thatsachen seines Verwaltungsbereichs, Das Wohlgefühl der Thätigkeit in einem ihm entsprechenden Wirkungskreise erhöhte seine Arbeitskraft, seine Leitung war folgerichtig und fest, und er übte eine belebeude Wirkung mich auf die Thätigkeit seiner Beamten, denen er freie Bewegung auf eigene Verantwortlichkeit in ihrem Kreise zu gewähren verstand. I m Januar 1864 schied Mathy aus dem Finanzministerium und der Direktion der Domainenkammer, um die Leitung des Handelsministeriums zu übernehmen. Die Dotation der Versuchsanstalt für Landwirthe und die Errichtung der Gewerbehalle fällt in die Zeit seiner Verwaltung. I n Verkehrserleichterungen und

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Verkehrsvermehrung hatte er stets sichere Mittel zur Erhöhung des Wohlstandes gesehen. Er erleichterte und vermehrte den Postverkehr, erweiterte die telegraphischen Verbindungen und betrieb den Ausbau der Eisenbahnen mit besonderem Eiser. Nicht nur badische Binnenbahnen sondern auch Verbindungsbahnen, auf der einen Seite nach Württemberg, auf der andern Seite nach der Pfalz hinüber, rief seine Verwaltung in's Leben; auch die Rheinbrücken bei Maxau und Mannheim, die nicht ohne schwierige Verhandlungen mit der baierischen Regierung zu Stande kamen, waren sein Werk. Mit väterlichem Wohlgefühl gewahrte er das Gedeihen im Bereich seiner sorglichen Thätigkeit: einen wohlgehaltenen Vicinalweg, einen in gute Stoffe gekleideten Landmann, ein stattliches Wirthshaus im Dorfe sah er mit Freude. — Baden besaß noch keine eigene Bank; der Geldverkehr des Landes stand in Abhängigkeit von der Frankfurter Börse. Als nun im Juni 1864 ein Verein angesehener badischer Handelsfirmen die Concession znr Gründung einer Bank verlangte, war er bereit, die Concession zu ertheilen, nach Maßgabe eines Statuts jedoch, welches er aus Grund seiner Erfahrungen an der Spitze der norddeutschen Geldinstitute über die Art und den Betrieb von Actiennnternehmungen gemacht hatte. Das Statut faud in der zweiten Kammer eine Opposition, die von einflußreichen Kreisen Mannheims unterstützt wurde, und fiel mit 30 gegen 20 Stimmen. Aber trotzdem blieb die Anregung nicht unfruchtbar und wenige Jahre später wurde auf den von Mathy gewallten Grundlagen eine Bank errichtet. I m Sommer 1863 hatte sich dem Ministerium Roggenbach auch zu unmittelbarer Einwirkung auf die deutsche Frage Anlaß geboten: Oesterreich versuchte durch den improvisirten Fürstentag zu Frankfnrt a. M. die Leitung Deutschlands an sich zu reißen; Badens Widerspruch half Preußen wesentlich, den Ueberfall abzuweisen. I m Herbst desselben Jahres vertrat Mathy die badische Regierung auf den Conserenzen zu Berlin, auf denen eine nicht minder bedeutsame Frage, die Erneuerung des Zollvereins, verhandelt wurde. Baiern, Württemberg, das Großherzogthum Hessen

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machten die Erneuerung von Bedingungen abhängig, welche Oesterreich den Eintritt in den Zollverein ermöglichen sollten. Mathy sorgte seines Theils dafür, daß der Tarif vor den Principienfragen zur Verhandlung kam, um durch jenen über diese hinweg zu kommen. Die Verhandlungen führten nicht zum Abschlüsse. Erst im nächsten Jahre, als Preußen es aus die Sprengung des Zollvereins ankommen ließ, fügten sich die widerstrebenden Regierungen. Mit lebhaftem Antheil begleitete Mathy die Erfolge der Politik Bismarcks in den Elbherzogthümern. Er hatte nichts dagegen, daß die Bundestruppen aus denselben entfernt wurden; er fand die Bedingungen völlig gerechtfertigt, welche Preußen für seine zukünftige Stellung in den Herzogthümern Oesterreich gegenüber geltend machte. Um so schmerzlicher war es für ihn, daß gerade im Moment der steigenden Spannung zwischen Oesterreich und Preußen der Freiherr von Roggenbach ans dem Ministerium trat. Mathy beklagte diesen Verlust nicht blos aus politischen sondern eben so sehr aus persönlichen Gründen: von Roggenbach hatte seine ganze Freundschaft gewonnen; doch wußte er die individuellen Motive des Scheidenden zu würdigen. Der Frühling des Jahres 1866 brachte den Ausbruch des Conflictes zwischen Oesterreich und Preußen. Hier wie dort wurde ge rüstet. Die Fortschrittspartei nicht blos, auch ein ansehnlicher Theil der altliberalen Partei in Preußen, die überwiegende Meinung des eigenen Landes, durch deu langen Hader über die Armee verbittert, stand gegen Bismarck, und die Declamationen der großdeutsche» Presse über den „Bruderkrieg" fanden auch in Preußen nur zu bereitwilliges Gehör. Baiern und Württemberg, Hannover und Sachsen waren glücklich, daß Oesterreich genöthigt war, zu ihnen zurückzukehren, daß es ihrer Unterstützung gegen Preußen bedürfte. I m Süden, wo die österreichischen Sympathie»? in den Bevölkerungen überwogen, war die Stimmung um so heftiger gegen Preußen, als man dort jetzt die Reaction im Siege, das Junkerthum und den Militarismus an der Spitze zu sehen glaubte. Dazu kam, daß man hier in deu Ministerien wie im Volke seit den

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Tagen von Olmütz an das Uebergewicht der österreichischen Waffen glaubte, den Sieg Oesterreichs für unzweifelhaft hielt. Die Verwirrung in Deutschland war heillos, das deutsche Volk, die Mehrzahl des preußischen nicht ausgeschlossen, nahm gegen sich selbst Partei. Auch in Baden ertönte der Mahnruf gegen den Bruderkrieg, auch hier überwog die Meinung für Oesterreich, unterstützt durch althergebrachte Beziehungen des Adels zum Wiener Hofe, unterstützt durch den Einfluß des Klerus in den katholischen Landestheilen. Roggenbachs Nachfolger enthüllte sich als Parteigänger Oesterreichs; der Vorsitzende des Ministeriums, die Mitglieder desselben schwankten. Mathy allein blieb unbeirrt. Keinen Augenblick war er darüber in Zweifel, daß Baden in keinem Fall Partei gegen Preußen ergreifen dürfe. Den Antrag, den Preußen am 14. April auf Einberufung des deutschen Parlaments am Bundestage einbrachte, begrüßte er allein mit wenigen Freunden mit lebhafter Freude. Ein langwieriger Kampf im Schooße des Ministeriums begann. Herr v. Edelsheim betrieb den Anschluß an Baiern und Württemberg ; Mathy widersprach. Seine Ansicht ging dahin, sich in neutraler Haltung für den Anschluß an Preußen bereit zu machen, die Truppen sollten kriegsfertig gerüstet, concentrirt, aber im Lande behalten werdeil; dem 8. Bundescorps dürfe die badische Division nicht angeschlossen werdeil. Die persönliche Ansicht des Großherzogs war für Mathy. Den Vorstellungen von Edelsheims, der Mehrheit seiner Minister gegenüber, daß Baden nicht isolirt bleiben könne, daß es sich den Mittelstaaten anschließen müsse, entgegnete der Großherzog, daß er nicht gegen Preußen gehen wolle. Die Mittelstaaten waren auf Baierns Veranlassung in Augsburg zusaminengetreten, der leitende Minister Baierns schien eine Vermittelung der Mittelstaaten zwischen Oesterreich und Preußen herbeiführen zu wollen. I n den ersten Tagen des Mai wurden die Jnstructionen für den Vertreter Badens in Augsburg — es war Herr von Edelsheim selbst — in Mathy's Sinn dahin sormulirt: daß Badens Neutralität bestimmt festzuhalten sei, daß mail sich nicht in's österreichische Lager hinüber drängen lassen dürfe.

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daß jeder S t a a t für sich rüsten solle. Wenn es Mathy gelang, die badische Politik in den nächsten Wochen in dieser Bahn zu halten, so mußte er doch schon am 30. Mai in sein Tagebuch zeichnen: „die Mittelstaaten drängen uns und wir lassen uns drängen"; und wenige Tage darauf: „So verschieden die Ansichten im Ministerium sind, das Zusammengehen mit den Mittelstaaten wird von Allen für unerläßlich gehalten." Als der Antrag, den Oesterreich gegen Preußen am Bundestage eingebracht hatte, am 13. J u n i mit 9 gegen 5 Stimmen angenommen wurde, hatte der badifche Gesandte sich noch, seiner Instruktion gemäß, der Abstimmung enthalten. Aber drei Tage darauf wurde unter dein Drucke der wachsenden Aufregung des Landes, dem Lärm und dem zügellosen Gebahren der einberufenen Urlauber, im Ministerium beschlossen: den Bundestagsgesandten zu instruiren, mit Baiern zu stimmen, daß dem von Preußen bedrohten Sachsen Hülfe gewährt und Oesterreich unk Baiern mit dieser beauftragt würden. Der Vorsitzende des Staatsministeriums wünschte, daß dem preußischen Gesandten die Pässe zugeschickt würden. Die badische Division sollte zum 8. Bundescorps stoßen. „Wir stehen auf der unrechten Seite", schrieb Mathy am folgenden Tage in sein Tagebuch, „für das Faule (Habsburg, Welf) gegen das Frische. Der Ausgang wird es lehren." Am 30. Juni verlangte er seine Entlassung; der Großherzog, gegeil seine Neigung und Ueberzeugung durch den Druck der Lage gezwungen, ertheilte sie ihm schweren Herzens, und sprach ihm seinen Dank für die geleisteten Dienste und die Hoffnung aus, diese später wieder in Anspruch nehmen zu können. Auf die Frage des Großherzogs, ob Mathy nicht noch einen Wunsch habe, antwortete dieser: nur den Einen, daß der Großherzog für jede gute Thätigkeit, auch ohne Amt, auf ihn rechnen möge. Sofort begann Mathy feine altgewohnte journalistische Arbeit wieder; seine Correspondenzen flogen nach allen Seiten. Die ersten Nachrichten preußischer Erfolge hatten sein nie wankendes Vertrauen freudig belebt. Die Entscheidung erfolgte rasch. Auf allen Punkten wurden die österreichischen und die Bundestruppen geschlagen; die Preußen

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standen in Frankfurt, vor Würzburg, vor Wien. Mathy wurde schon am 27. Juli wieder in's Ministerium zurückberufen. Er machte zur Bedingung: Trennung von den Mittelstaaten, Abberufung des Bundestagsgesandten, Zurückberufung der Truppen, Personalveränderungen im Ministerium, Herstellung der Disciplin in der Civilverwaltung wie im Militair. Diese Bedingungen wurden nicht nur angenommen, Mathy wurde mit der Bildung des neuen Ministeriums beauftragt und Präsident desselben. Den Frieden mit Preußen brachte er rasch zum Abschluß; das zur Zahlung der Contribution von sechs Millionen Gulden erforderliche Capital lieferte die Berliner Discontogefellfchaft; bereits am 6. September war die Contribution bezahlt. Schwieriger fand er, die Kammer zu den Steuererhöhungen zu bewegen, welche die Beschaffung der Mittel für die unvermeidlich bevorstehende Reorganisation und Neubewaffnung der badischen Division nöthig machte. Die Abgeordneten waren bereit, Anlehen auf Anlehen zu bewilligen, nur keine Steuern, „um nicht unpopulär zu werden". Mathy sah hierin eine üble Mißwirthschaft, mußte sich aber dem fast einstimmigen Kammervotum gegenüber begnügen, seine Ansicht und die Grundsätze seiner Finanzleitung deutlich ausgesprochen zu haben. Seine Auseinandersetzung war nicht nur an die Kammer gerichtet, sie sollte zugleich den Börsen Deutschlands begreiflich machen, daß eine solide Finanzwirthschaft in Baden sein festes Ziel bleibe. Der Haltung Frankreichs, der Schwierigkeit, einen Staat von dem Umfange Baierns, mit dem man soeben Krieg geführt, in den Bundesstaat unter Preußens Führung einzureihen, gegenüber, hatte sich Graf Bismarck begnügt, die neue Staatsbildung Deutschlands nur bis zur Mainlinie zu erstrecken. Mathy's Augenmerk war vom ersten Augenblick an dahin gerichtet, zur Vollendung des Werkes beizutragen, Badens Eintritt in den sich nunmehr bildenden norddeutschen Blind vorzubereiten und herbeizuführen, das Ziel seiner Jugendwünsche und seiner Mannesarbeit in der Einigung Gefammt-Deutschlands ueben Oesterreich zu erreichen. Die Mittel, die er in's Auge faßte, wareil praktisch wie immer. Zunächst sollten die Heeres-

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Einrichtungen Badens denen Preußens, die nunmehr die des norddeutschen Bundes wurden, vollkommen gleich gestellt werden in Bewaffnung und Organisation; die badischen Osficiere und Unterosficiere sollten auf den preußischen Lehranstalten ausgebildet werden. Badens Lage war die bedrohteste, Niemand im Lande konnte begründeten Widerspruch erheben, wenn diese Einrichtungen rasch und voll durchgeführt wurden. Weiter sollten dann, wie er einst schon zu Heppenheim ausgesprochen, die materiellen Interessen die Brücke zur Einigung mit dem Nordbund bilden. Es war ihm erwünscht, daß Preußm auch den südmainischen Theil des Großherzogthums Hessen in das Post- und Telegraphengebiet des norddeutschen Blindes zog, die Bundespost erreichte damit die Grenzen Badens: man konnte somit durch einen besonderen Vertrag die Post des norddeutschen Bundes auch über Baden, d. h. bis zum Bodensee und zur Schweizer Grenze ausdehnen. War der Süden nicht im norddeutschen Bunde, er war mit diesem doch durch die geheimen Verträge gegen Frankreich verbunden, und der alte Zollverein umfaßte die süddeutschen Staaten nicht minder als die norddeutschen. Dieser mußte nun den neuen Verhältnissen gemäß reorganisirt und in dem Sinne reorganisirt werden, daß er die Grundlage auch der politischen Einigung des Südens mit dem Norden bildete, daß es nur noch eines leisen Ueberganges bedürfte für den vollen Eintritt des deutschen Südens in den norddeutschen Bund. I n diesem Sinne ging das Ministerium Mathy an's Werk. Es erreichte zunächst in Berlin die Überlassung von 16,000 Zündnadelgewehren an die badische Division, den Zutritt der badischen Officiere zu den preußischen Lehranstalten; es bestimmte den Großherzog, zwei preußische Officiere zur Leitung des Generalstabs und zum Commando eines Infanterieregiments zu berufen. Als der Großherzog den Entwurf zur Militairconvention mit Preußen genehmigt hatte, bemerkt Mathy's Tagebuch: „ich bin mit diesem Tage zufrieden." Die Kammern nahmen im September 1867 nach einigen Schwierigkeiten das Wehrgesetz des norddeutschen Bundes mit der dreijährigen Dienstzeit und die Mehrbelastung an, welche Duncker, Abhandl. a. d. n. Gesch.

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die Regelung des badischen Militairwesens in voller Consormität mit dem preußischen nothwendig machte. Dieser Punkt seines Programms war erreicht, und was Mathy hier geschaffen, hat im Jahre 1870 die besten Früchte getragen. Mit nicht minderem Eifer betrieb er die Zollvereinsfrage. Er ließ in Berlin geltend machen, daß die Aufhebung des Salzmonopols und dessen Ersetzung durch eine Salzsteuer im Gebiete des Zollvereins, die Preußen vorgeschlagen hatte, nur bei einer neuen Regelung der Zollvereinsverfassung durchgeführt werden könne; eine Denkschrift, die er dorthin mittheilte, wie die neue Verfassung des Zollvereins zu gestalten sein werde, fand volle Anerkennung. Es war ihm eine große Genugthuung, als Graf Bismarck in Stuttgart und München erklären ließ, daß der Zollverein nur mit den deutschen Staaten fortgesetzt werden würde, welche in den zu bildenden Zollbundesrath, in das zu bildende Zollparlament einzutreten bereit wären. Ende Juni 1867 ging Mathy selbst zu der Eonserenz nach Berlin, welche den Zollvertmg auf diesen Grundlagen mit den süddeutschen Staaten vereinbaren sollte. Der Vertrag wurde gezeichnet, Bevollmächtigte der süddeutschen Staateil traten für die Zoll- und Steuerfragen dem Bundesrath des norddeutschen Bundes bei, Vertreter der süddeutschen Staaten wurden für dieselben Fragen Mitglieder des norddeutschen Parlaments; die Ueberbrückung des Mains hatte einen großen Schritt vorwärts gethan. Mathy erreichte zugleich bei seiner Anwesenheit in Berlin, daß eine Postconserenz zwischen dem norddeutschen Bunde und den süddeutschen Staaten beschlossen wurde und alsbald zusammentrat. Seinem Programm gemäß hielt Mathy in der auswärtigen Politik darauf, daß Baden mit der Politik des norddeutschen Bundes solidarisch erschien. Bei der Pariser Weltausstellung im Sommer 1867 ließ er es sich angelegen sein, daß die Ausstellungsobjecte Süddentschlands denen des norddeutschen Bundes angeschlossen wurden. Als Frankreich die Aufforderung zur Beschickung einer Conferenz über die Römische Frage er-

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Karl Mathy.

gehen ließ, war Badens Antwort, daß es nur im Einverständniß mit Preußen handeln werde. Als im März des Jahres 1867 der Krieg mit Frankreich wegen der Luxemburger Frage drohte und Graf Bismarck den süddeutschen Regierungen eröffnete, daß die Behauptung Luxemburgs nicht im preußischen, aber vielleicht im nationalen Interesse Deutschlands liege, daß er zu wissen wünsche, ob die süddeutschen Regierungen eventuell bereit seien, den Krieg in Gemeinschaft mit dein norddeutschen Bunde aufzunehmen, war Badens Antwort: man möge diese Frage nach München richten. Und dem Staatsministerium sagte Mathy: Baden müsse so handeln, als ob der Krieg gewiß sei; ohne Aufsehen zu erregen, müßten die Urlauber einberufen, müsse Rastatt armirt und proviantirt, müßten die nöthigen finanziellen Vorbereitungen getroffen werden. Er hatte dafür gesorgt, daß sechs Millionen in den Kassen vorräthig waren, er traf in der Stille Veranstaltung, daß ein neues Anlehen sofort abgeschlossen werden konnte. Weitergehende Anträge auf Berufung der Kammern, auf sofortige Mobilmachung, Pferdeankäufe in Ungarn, wies er zurück: „wir dürfen kein Auffehen erregen, das den Krieg herbeiführen könnte; wir müssen ohne die Kammern auf eigene Verantwortung handeln; aber wir müssen im Stande sein, die Thermopylen Deutschlands, Rastatt, zu halten; wenn uns nur der Leonidas nicht fehlt!" Obwohl es feine persönliche Meinung war, daß es besser sei, den Krieg jetzt als später zu führen: „werde in der Luxemburger Frage nachgegeben, so werde Frankreich nur neue Begehren stellen" — fo hielt er sich discret innerhalb der Schranken, in welche er Baden bei einer Kriegsfrage von solcher Tragweite gewiesen erachtete. Die großen politischen Fragen hinderten ihn nicht, regelmäßig und emsig die Geschäfte des Finanz- und Handelsministeriums zu versehen. Es gelang ihm, die Finanzen in trefflichem Stand zu halten; die nöthigen Anlehen waren glücklich abgeschlossen, Badens Credit war an den Börsen der beste. Seine alte Vorsorge für Wege und Eisenbahnen blieb lebendig, die Odenwaldbahn wurde beendet, die Schwarzwaldbahn begonnen, zu Mannheim und Constanz wurden 22"

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ansehnliche Bauten ausgeführt. Die Flößerei auf der Kinzig wurde durch einen Vertrag mit Württemberg geregelt, eine neue Bauordnung, eine neue Straßenordnung wurde erlassen, eine neue Gebührentaxe für die Advocaten, ein neues Diätenreglement für die Beamten wurden festgestellt, die Gehalte der Elementarlehrer wurden auf das Minimum von 350 fl. erhöht, die Zulassung von Frauen im Post- und Telegraphendienst und an Eisenbahn-Einnahmestellen wurde eingeführt. Baden war völlig zum Eintritt in den norddeutschen Bund vorbereitet; denselben vollzogen zusehen, war Mathy nicht beschieden. I n Berlin wußte man, wie sehr Baden danach strebte, aber man wollte Frankreich keinen Vorwand geben, und es wurde für förderlicher erachtet, durch Baden auf Baiern und Württemberg zu wirke», als Baden vereinzelt aufzunehmen. Wiederholt wurde von Berlin darauf hiugewiesen, daß Baden mit Baiern und Württemberg Verständigung über die Bedingungen zum Eintritt in den norddeutschen Bund, zu dem Baiern eine Initiative versucht hatte, treffen möge. Baden trat in Verhandlungen mit Baiern und Württemberg ein, sie führten jedoch nur zu militairischen Verabredungen, denen Mathy's Jnstructionen den nationalen Charakter wahrten. Diese Verabredungen haben im Jahre 1870 die rasche Aufstellung der süddeutschen Truppen ermöglicht. Sobald Mathy sich überzeugt hatte, daß man in Berlin zwar den sofortigen und vereinzelten Eintritt Badens in den norddeutschen Bund nicht wolle, das nationale Ziel aber in: Auge behielt, ließ er, obwohl er die Meinung, daß Badens Eintritt Württemberg und Baiern zurückhaltender machen werde, nicht theilte, obwohl seine Forderungen in den Kammern viel bereiteres Gehör gefunden hätten, wenn er die Aufnahme in den norddeutschen Bund in nahe Aussicht stellen konnte und obwohl dieser Eintritt sein sehnlichster Wunsch war, es sich persönlich angelegen sein, die vordringende Ungeduld, die Besorgnisse, die Preußens Zurückhaltung erweckte, zu beruhigen und zu zerstreuen. „Wir müssen selbstthätig sein, wir müssen gut regieren, wir müssen zum Eintritt fertig sein", das war die Sprache seiner resignirten Pflichttreue.

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Nach jenem Abschluß des Zollvertrages in Berlin fühlte er in der Heimath, daß eine Erkältung, welche er von der Reise mitgebracht und welche nach Monaten noch nicht überwunden war, seine Kräfte tiefer angreise. Seinem Tagebuch vertraute er im August: daß Kopf und Herz müde seien. Eine Erholungsreise erfrischte ihn vorübergehend; aber schon im December stellte sich Fieber ein. I m Januar schien das allgemeiner gewordene Leiden sich noch ein? mal zu mindern, bald jedoch traten die üblen Symptome in verstärktem Maaße auf. I n der Nacht vom 2. zum 3. Februar 1868 endete sein Leben ; seine Hand hielt die der treuen Gefährtin fest umfaßt, sein Blick war auf sie gerichtet bis sein Auge brach. Seinem Scheiden fehlte keines der Zeichen, durch welche ein Land, ein Fürstenhaus, ein Freundeskreis ausdrücken, daß sie die Bedeutung des Mannes fühlen, der ihnen genommen wird. Wenn es als eine tragische Fügung erscheinen kann, daß Mathy das Jahr 1870, daß er die Erfüllung seiner letzten patriotischen Wünsche nicht erlebte, mit Wahrheit kann ausgesprochen werden, daß seine Leitung Badens wesentlich dazu beigetragen hat, den Calcül Frankreichs zu kreuzen, und die rasche Einigung der deutschen Kräfte, das heißt die Vorbedingung der deutschen Siege herbeizuführen.

IX.

Zum Jubelfest des

Fürsten M r l Anton bon Hohenzollern.^ Am heutigen Tage feiert ein deutscher Fürst die fünfzigjährige Dauer eines glücklichen Ehebundes. Nicht die Seltenheit eines Festes dieser Art, nicht die hohen und höchsten Stellungen, welche Sprossen dieses Bundes einnehmen, nicht die nahen Bande allein, die den Fürsten Karl Anton von Hohenzollern mit unserem Herrscherhause verknüpfen, wenden dieser Feier die Theilnahme weiter Kreise zu: vor Allein lenken Achtung vor dem Charakter des Fürsten und die Bedeutung seiner Verdienste die Blicke des deutschen Volkes am 21. Oktober nach der alten Burg an den Ursprüngen der Donau, nach Sigmaringen. Es war der Zug seines deutschen Sinnes, der den Fürsten unmittelbar nachdem er die Regierung seines Landes angetreten, zu Gunsten Preußens auf sein Fürstenthum verzichten ließ; der Stammesvetter von Hechingen folgte dem Vorgange. S o gewann Preußen die Stellung im Südwesten Deutschlands zurück, die ihm der Verlust Anspachs entzogen, so vermochte es wiederum mitten in Schwaben Fuß zu fassen. Bis zum Dezember des Jahres 1849 reichen die Fäden zurück, die Preußen und Würtemberg seitdem >) A u s der National-Zeitung vom 21. Oktober 1384.

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enger und enger verbunden haben. Seine damals in voller Frische blühende Manneskraft stellte Fürst Karl Anton seinem neuen Vaterlande zur Verfügung. Er nahm es ernsthaft mit deM Militärischen Beruf, dm er an Stelle seines Fürstenthums erwählt. I m Dienste aufrückend, kam er durch das Kommando der vierzehnten Division in nähe Beziehungen zu dem Prinzen von Preußen, die bald zum aufrichtigsten Freundschaftsbunde führten. Das unbedingte Vertrauen, das der Prinz zur Einsicht und Ergebenheit des Fürsten gewonnen, bewogen ihn, gleich nach Uebernahme der Regentschaft den Fürsten aufzufordern, den Vorsitz in dem neugebildeten Ministerium zu übernehmen. Der Fürst folgte dieser Aufforderung nicht leichten Herzens; aber es erschien ihm als eine Pflicht gegen das Haus Hohenzollern wie gegen sein neues Vaterland, sich diesem Rufe nicht zu versagen. Von geringerem Vertrauen auf seine Kraft und sein Vermögen, als er es hegen durfte, erachtete er die Schwierigkeiten der neuen Aufgabe um so größer. Frühzeitig liberalen Anschauungen zugewandt, durchdrungen von der Berechtigung der Forderungen der Nation auf feste Einigung ihrer Glieder, überzeugt, daß diese uur auf der Basis gleichförmiger Organisation Preußens und der übrigen deutschen Staaten erreicht werden könne, fand er seine Kunde der inneren Verhältnisse Preußens nicht ausreichend, und nicht gering schlug er den Widerstand an, den die Tradition des Staates, die geschlossene, zähe Weise seines Beamtenthums der Umbildung zu den Formen eines aufrichtigen Konstitutionalismus entgegenstellen könne und werde. Und doch lagen nach des Fürsten Auffassung hier die „moralischen Eroberungen", die der Prinz-Regent Preußen zugedacht hatte. Wenn auch nicht zuversichtlich, ging er doch guten Muthes ans Werk. Mit wie selbstloser Hingebung, mit welcher Unermüdlichkeit vom frühesten Morgen bis zum späten Abend der Fürst sich den Pflichten seines neuen Amtes widmete, wissen nur die, welche ihm in jenen Tagen näher standen. Dem Fürsten lag es ob, die Zustimmung des Regenten zu den Maßnahmen des Ministeriums herbeizuführen, die nicht immer leicht zu erreichen war, und in

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demselben Maße schwerer erreicht wurde, in dem sich die Vertretung von der Führung des Ministeriums emanzipirte und dasselbe zu. drängen begann, während höchsten Ortes die Besorgniß wach wurde, die Bindungen des Staats möchten zu weit gelockert, dessen Aktion und damit seine Macht zu stark gehemmt werden; die Minister könnten durch die Haltung, die sie zuvor in der Opposition gegen das Ministerium Westphalen-Manteuffel eingenommen, genöthigt sein, weiter nachzugeben, als dem Regenten, danach dein Könige Wilhelm, die zu erhaltenden Grundlagen des Staates zuzulassen schienen. Aber nicht nur hier hatte der Fürst zu sorgen und zu vermitteln. An Differenzen und Schwierigkeiten im Schooße des Ministeriums fehlte es nicht, indeß andererseits die Ungeduld der Vertretung stieg und ungestüm nach durchgreifenderen Maßregeln rief. Wie viele Anstöße hier und dort in geduldigster und glücklichster Weise beruhigend, begütigend, vermittelnd aus dem Wege zu räumen, ist dem Fürsten gelungen und wäre ihm weiter gelungen, ohne die schwere Komplikation, welche mit der Anrede des Kaisers Napoleon an den Vertreter Oesterreichs in Paris, mit dem Neujahrstage des Jahres 1859 eingetreten war. Geheime Eröffnungen hatte Kaiser Napoleon bald danach (im Februar dieses Jahres) dem Fürsten Hohenzollern durch den Marchese Pepoli zugehen lassen. Der Kaiser sei im Begriff, den nationalen Wünschen Italiens Rechnung zu tragen, Oesterreich ein stärkeres Gegengewicht im Süden der Alpen zu geben, dem Königreich Sardinien zu einem Gebiete von zehn bis zwölf Millionen Bevölkerung zu helfen. Sardiniens Verstärkung Oesterreich gegenüber könne Preußen nur erwünscht sein. Auch Preußen selbst bedürfe nach der Auffassung des Kaisers der Verstärkung seiner Stellung in Deutschland. Einer Vergrößerung Preußens nach Norden hin (offenbar war Schleswig-Holstein gemeint) werde Frankreich nicht nur nicht entgegentreten, sondern solche zu fördern sich angelegen sein lassen. Die Absichten waren deutlich: Preußen zurückzuhalten, gegen Oesterreich zu stellen, um danach Kompensationen für Frankreich am Rhein zu fordern. Sich weder hierdurch verlocken, noch weniger aber Preußen durch den Bundestag, wie Oesterreich nach-

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drttcklichst versuchte, in den Krieg gegen Frankreich treiben zu lassen^ war des Fürsten Meinung. Preußen mußte die Beschäftigung, Oesterreichs in Italien, die Besorgniß Süddeutschlands vor Frankreich und dessen Erregung gegen Frankreich benutzen, sich durch den Vormarsch an den Rhein an die Spitze Deutschlands stellen, und je nach dem Gange des Krieges in Italien die Haltung eines bewaffneten Vermittlers einnehmen. Die Mobilmachung der Armee erfolgte; sie war im Marsch an den Rhein, als ein unvorhergesehenes Ereigniß eintrat, der plötzliche Abschluß des Friedens von Villasranca. Der Verzicht Napoleons auf das feierlich verkündete Programm: „Italien bis zur Adria", der Verzicht Oesterreichs nach einer nicht unrühmlich verlorenen Schlacht, die keine Niederlage war, im Besitz des von langer Hand vorbereiteten, so hoch gerühmten Festungsvierecks, auf die Fortsetzung des Krieges, dessen Chancen erst jetzt vollkommen auf feiner Seite lagen, ließ, verbunden mit der Abweisung jener Eröffnungen des Marchese Pepoli, hinter dem Frieden die Verständigung Oesterreichs und Frankreichs gegen Preußen besorgen. Preußen stand völlig allein. Rußland, das in Frankreichs Angriff auf Oesterreich die Vollstreckung der Vergeltung für Oesterreichs feindselige Haltung im Krimkriege sah, hatte seinen Einfluß in Berlin vergebens aufgeboten, Preußen von jeder Aktion^ die Oesterreichs Position erleichtern könnte, zurückzuhalten. Man mußte in Berlin auf bedrohliche Komplikationen, auf Angriffe gefaßt und im Stande sein, dieselben mit den Kräften Preußens allein abzuweisen. Die Ersatztruppen waren bei der Mobilmachung sormirt worden; sie mußten unter Waffen bleiben; sie gewährten die Möglichkeit, der preußischen Armee einen Achtung gebietenden Bestand zu sichern, die Reorganisation derselben, die der PrinzRegent längst als unerläßlich erkannt, ins Leben zu rufen, ohne die Streitbarkeit der Armee, die jeden Augenblick in Anspruch genommen werden konnte, zu gefährden. Fürst Hohenzollern theilte diese Anschauung und hat dazu beigetragen, die schweren Bedenken des Finanzministers zu beseitigen. Die Aufforderung zu einer

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Zusammenkunft in Baden, die Kaiser Napoleon Anfang Juni 1869 an den Regenten richtete, bewies und der Verlauf derselben bestätigte, daß die Besorgniß eines französisch-österreichischen Einverständnisses vorerst noch nicht dringend zu nehmen sei. Die Bewegung in Italien war weit über die Absichten Napoleons hinausgegangen. Er hatte sie nicht zu hindern vermocht, fand aber nun das in der Abtretung Savoyens und Nizza's stipulirte Gegengewicht nicht mehr ausreichend. I h m lag daran, die Erklärung abzugeben, daß die eingeleitete Vermehrung seiner Armee nicht gegen Preußen gerichtet sei. Wohl habe ihn der Marsch der preußischen Armee an den Rhein zum Frieden von Villafranca genöthigt: er sei, so sagte er in Baden dem Fürsten von Hohenzollern, der dein Regenten bei dieser Zusammenkunft zur Seite stand, in jenem Augenblicke nicht im Stande gewesen, den preußischen Streitkräften mehr als 80,000 Rekruten entgegen zu stellen. Das habe er sich zur Warnung dienen lassen und sei demnach beschäftigt, seine Armee ansehnlich zu verstärken: aber keineswegs feindselige Gesinnungen gegen Preußen bewegte» ihn dazu; er finde, daß Preußen seine Stellung im Norde» zu verstärken haben werde. Es war die verhülltere Wiederholung der Anerbietungen des vorigen Jahres: Preußen könne Frankreichs Unterstützung haben, offenbar mit demselben Hintergedanken und unter Verstärkung des Accents, der für den anderen Fall auf die Erhöhung der französischen Macht gelegt wurde. Um so weniger durfte man in Preußen von der in Angriff genommenen Verstärkung der eigenen Armee abgehe,,. Den deutschen Königen, die in der Besorgniß, es könne sich in Baden, nach den Vorgängen von Plomhitzres, um die Begründung des Einverständnisses zwischen Preußen und Frankreich zu ihren Ungunsten und auf ihre Kosten handeln, herbeigeeilt waren, gab der Regent nach der Abreise des Kaisers am 18. Juni die Versicherung, daß er nicht darauf ausgehe, das internationale Band, das die deutschen Staaten i» der Bundesverfassung zusammenhalte, zu zerreißen; aber innerhalb des Bundes seien Vereinbarlingen zu treffeil, welche den Bedürfnissen der Nation entsprächen und die Wehrkraft Deutschlands stärkten.

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Das Ministerium des Fürsten Hohenzollern ist an der Frage der Reorganisation des Heeres, die jene Komplikation in vollem Umfange und unverzüglich vorzunehmen gezwungen hatte, gescheitert, gescheitert an den Niederlagen, die die eigene Partei des Ministeriums demselben von der Annahme des Hagenschen Antrages an in steigendem Maße beibrachte. Diesen Ausgang abzuwenden, war der Fürst um so weniger im Stande, je vergeblicher seine Anstrengungen blieben, das auswärtige Amt zu einer der italienischen Einheit günstigeren Haltung, zu größerer Energie in der hessischen und der schleswig-holsteinischen Frage zu bewegen. Deutschland und Preußen zu dienen, hat der Fürst auch nach seinem Rücktritt nicht aufgehört. Als sein zweiter, dritter und vierter Sohn, die Prinzen Karl, Anton und Friedrich, im Frühjahr 1866 im Begriff standen, mit der preußischeil Arinee, in deren Reihen sie dienten, gegen Oesterreich und den deutschen Bund ins Feld zu ziehen, erging höchst unerwartet an den Prinzen Karl der Ruf, den Thron der Moldan und Wallachei zu besteigen. Es war kein geringes Opfer, das dem Vaterherzen des Fürsten abgefordert wurde; er am wenigsten täuschte sich über die Gefahren, die seinen Sohn in der ihm angetragenen Stellung von allen Seiten her umringen würden; aber es konnte doch für Deutschland von hohem Werthe sein, wenn es gelang, an der unteren Donau eine» Staat aufzurichten, der deren Mündungen dem deutschen Handel freihielt und Rußlands Festsetzung in diesen Gebieten zu erschwere» oder abzuwehren im Stande wäre. Nicht lange nachdem Prinz Karl einer durch recht dunkle Wolken verhüllten Zukunft entgegenzugehen, den Vater verlasse», ereilte diesen die Kunde: sein dritter Sohn Anton sei, an der Spitze seiner Kompagnie auf dem Schlachtfelde von Königgrätz kühn vordringend, von vier Gewehrkugeln getroffen worden. Die Todeskunde folgte in kurzer Frist. Dem Könige Dom Pedro V. von Portugal vermählt, war die älteste Tochter des Fürsten dort nach kurzer Ehe in der Blüthe der Jahre von der Bräuue hinweggerafft worden; als der Fürst jetzt (1867) seine zweite Tochter dem Grafen Philipp von Flandern,

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dem Erben des belgischen Thrones, vermählte, gereichte ihm der Gedanke zur Genugthuung, daß eine deutsche Frau aus dem Hause Hohenzollern dereinst auf dein Throne Belgiens den Beziehungen zwischen Belgien und Deutschland zu Nutz und Frommen gereichen könne. Schwerer war der Entschluß, vor den sich der Fürst im Frühjahr 1870 gestellt sah, als der Ministerrath zu Madrid den Beschluß faßte, den Cortes vorzuschlagen, den ältesten Sohn, den Erbprinzen Leopold, auf den Thron Spaniens zu berufen. Auch jetzt machte Fürst Karl Anton seine Entscheidung ausschließlich von der Voraussetzung abhängig, daß die deutschen Interessen durch eine Bereitwilligkeitserklärung zur Annahme nicht nur nicht geschädigt, sondern gefördert würden. Mit welcher Hast das Auftauchen dieser Frage von Seiten Frankreichs ergriffen wurde, mittelst einer nicht das deutsche Volk, nur das Haus Hohenzollern angehenden Angelegenheit zum Krieg gegen Preußen zu gelangen, lebt in Aller Gedächtniß; die Eingeweihten werde»! nie vergessen, mit welcher Loyalität und Korrektheit nach allen Seiten hin Fürst Karl in jenen kritischen Tagen gehandelt hat. Während im Westen Frankreich niedergeworfen, das deutsche Kaiserthum vor den Thoren von Paris wieder aufgerichtet wurde, arbeitete der zweite Sohn des Fürsten, vom Rathe und den Mitteln des Vaters unterstützt, in Mitten einer Bevölkerung, die in den Jahrhunderten osmanischer Oberhoheit unter der Verwaltung verschlagener Phanarioten in deu unteren Schichten zu Boden gedrückt oder verwildert, in ihren Spitzen nicht ohne Verbildung durch oberflächliche Kultur und von leidenschaftlicher Parteiung zerrissen war, geduldig und unablässig mit einer in so jungen Jahren seltenen Besonnenheit und Umsicht, Halt zu gewinnen, die Grundlagen eines geordneten Staatswesens zu legen; trotz der schwersten Hinderungen in? Innern und von Außen mit gutem Erfolg. Auch daß er mit Recht das Hauptgewicht auf die Leitung der Armee gesetzt, bewährte sich bald. An der Seite des russischen Heeres bestand die junge rumänische Armee nicht nur ihre Probe; entscheidende Erfolge gehörten ihr. S o vermochte Fürst Karl eine

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unabhängige Haltung auch der russische» Heeresleitung gegenüber zu behaupten, und wenn es heute Deutschlands Vermittelung gelungen ist, die sich an der unteren Donau kreuzenden Interessen Oesterreichs und Rußlands ins Gleichgewicht zu setzen, so gehört die Aufrichtung und Stabilirung des Königreichs Rumänien zu den wesentlichsten Voraussetzungen und Grundlagen dieser Verständigung. S o Großes nach mehr als einer Seite hin anzubahnen und einzuleiten, war dem Fürsten Karl Anton beschieden. Die anspruchslose, sich selbst zurückstellende Weise, in welcher Deutschland so hervorragende Dienste geleistet wurden, erhöht deren Werth. Die Willenskraft, die Geduld, ja die unverkümmerte Freudigkeit des Herzens, mit welcher der Fürst die schwere körperliche Behinderung, die ihn seit zehn Jahren hemmt, ertragen hat und trägt, konnten Achtung und Sympathie nur vermehren. Von schlichtem, stets zu helfen bereitem, mildem und freundlichem Sinn, von leutseligstein Wesen zählt der Fürst zu den verehrungswerthesten und verehrtesten Häuptern im deutschen Reich. Nicht zu seinen geringsteil Verdiensten gehört das Vorbild eines einfachen, reinen und schönen Familienlebens, das er in seinem Hause dem deutschen Volke gegeben. Mit lebhaftem und dankbarem Antheil begleitet die Nation das Fest, das dein Fürsten im vierundsiebenzigsten Lebensjahr an der Seite seiner edlen und gemüthvollen Gemahlin, umgeben von seinen Kindern und Enkeln, zu feiern vergönnt ist; sie erblickt in demselben mit stolzer Freude die Krönung der echtdeutschen Tugenden, die dieses Haus geballt und behütet haben.

X.

Johann Gustab Konsens Ziicht ohne harte Entbehrungeil und Anstrengungen hatte Johann Christoph Droyfen, der Sohn eines Schuhmachers zu Treptow an der Rega, erreicht, in den Jahren 1792—1794 dem Studium der Theologie in Halle obliegen zu können. Danach Hauslehrer der Söhue des Herrn von Platen aus Gurtitz erhielt er auf Verwendung des Professor Koepke im Jahre 1803 die Stelle des Feldpredigers bei dem in seiner Vaterstadt garnisonirendeil Regiment Baillodz-Kürassiere. Das Tractament betrug 204 Thlr., die Nebencompetenzen, das Honorar für den Unterricht der Junker eingerechnet, wurden auf zwei- bis dreihundert Thaler veranschlagt. Dem Chef des Regiments, dem Generalmajor von Baillodz, „seinem Wohlthäter, dem Gründer seines Glückes, dem Gott lohnen wolle, was er an ihm und den Seinigen gethan", ist sein Feldprediger alle Zeit in treuer Dankbarkeit ergeben geblieben. I m Herbst des Jahres 1804 führte Christoph Droysen die Tochter des Eisenkrämers Kasten heim. Entrissen ihn die Ereignisse des nächsten Jahres, der Ausmarsch seines Regiments auf fünf, sechs Monate dem neugegründeten Herde, die Katastrophe Preußens im Herbst 1806 drohte, denselben zu zertrümmern. Droysen war mit dem Depot des Regiments, 120 Pferde, in Treptow zurückgeblieben; bei der Annäherung des Feindes wurde ') Aus dem 54. Bande (1884) der Preußischen Jahrbücher.

Johann Gustav Droysen.

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das Depot in die Festung Kolberg gezogen. Kolberg hielt sich, aber das Regiment wurde mit dem Frieden aufgelöst. „Warum wollte ich klagen", schreibt Droysen, „da Hunderttausende mit mir von demselben Loose getroffen sind!" Er war bereit, jede Entbehrung zu tragen. Seine Frau war mit ihm entschlossen, aus Aufwartung zu verzichten, den Haushalt selbst zu besorgen. „Das Holz- und Wassertragen wollte ich übernehmen; eine Schule dachte ich in Treptow zu errichten, durch diesen und anderen Unterricht den Unterhalt zu erwerben", heißt es in seinen Tagebuchaufzeichnungen. Aus der Schule Niemeyers und Ribbecks, war Droysen ein Theolog entschieden rationalistischer Richtung; nicht dogmatisch gefaßt aber kräftig und lebendig tritt seine Frömmigkeit in allen Lagen hervor. Religion und Tugend fallen ihm zusammen; ein tüchtiger und edler Mann zu sein, durch Beispiel und Lehre zur Tugend zu erziehen, zu helfen und zu nützen in thätigen» Wirken und thätiger Liebe, das erstrebt er mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit, unablässiger Pflichttreue, in innigstem Verkehr mit seinem Gott, in nie wankendem Vertrauen auf dessen Vorsehung und Führung, in beständigem, täglichem Gebet. Sein Haus, die treue Liebe seiner Frau, die Kinder, die sie ihm gab, waren die Summe seines Glückes; wenig bekümmert um Hab uud Gut, fleht er um Erhaltung von Weib und Kind, um Kraft zur Erfüllung seiner Pflichten. Seine Lage gestaltete sich günstiger, als er fürchten mußte. Das baare Tractament wurde ihm weiter gezahlt. Die preußische!» Truppen, welche von Königsberg nach Rügen übergeführt worden waren, um von hier aus unter dem Commando des General Blücher im Rücken der französischen Armee zu operiren und Kolberg zu entsetzen — beim Vorgehen war ihnen zu Anklam die Kunde vom Abschluß des Friedens gekommen —, wurden in Cantonnemeuts zwischen der Divenow und der Persante verlegt und mit den Vertheidigern Kolbergs vereinigt. Blücher nahm sein Hauptquartier zu Treptow. Dem Feldprediger Droysen fielen die Funktionen des Garnisonpredigers zu. Seine Kanzelreden und seine

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Johann Gustav Droysen.

Wirksamkeit fanden bei dem General und seinem Stäbe Würdigung. Blücher richtete die Bitte an den König, dem „Droyse" Anwartschaft auf die zur Erledigung stehende Superintendentur in Pasewalk zu verleihen: „ich habe — so sagt er dem Könige — den Droyse von einer sehr vortheilhaften Seite kennen gelernt und nicht ollein ich, auch alle seine früheren Vorgesetzten sind ihm das Zeugniß eines vortrefflichen, moralisch guten Menschen, eines vorzüglichen Kanzelredners und ausgezeichnet verdienten, sehr fleißigen Schullehrers schuldig, weshalb ich es wage, meine Bitte mit der seinigen zu vereinigen, deren Erfüllung ich mich von Euer Königl. Majestät um so gewisser schmeicheln zu dürfen glaube, als der Droyse die Stimmung der Bürgerschaft zu Pasewalk schon für sich hat, in seiner gegenwärtigen sehr bedürftigen Lage und einer zahlreichen Familie den dringendsten Nahrungssorgen ausgesetzt ist und -Eure Königl. Majestät die Feldprediger der aufgelösten Regimenter bei Wiederbesetzung erledigter Pfarrstellen vorzugsweise zu berücksichtigen allergnädigst beschlossen haben." Vierzehn Tage bevor Blücher diese Worte an den König gerichtet, am 6. Juli 1808, war dem Feldprediger zu seinen beiden Töchtern ein Sohn, Johann Gustav, geboren worden. Blüchers Bitte ging nicht in Erfüllung. Der Druck der Nahrungssorgen, der auf Droysen lag, milderte sich jedoch dadurch, daß die Officiere des Stabes und der Garnison, deren Familien hierher übersiedelten, ihre Söhne dem Feldprediger zum Unterricht oder in Pension gaben, dem nun zugleich die Prüfung der Fähndriche kommissarisch übertragen wurde. Freilich wurde die Arbeitslast dadurch so groß, daß er zweifelte, ob seine Kräfte ihr auch nur zwei Jahre hindurch gewachsen bleiben würden. Es war die Zeit, da die Erhebung der Spanier Hoffnungeil erweckte, da Stein die Erhebung Preußens an der Seite Oesterreichs vorbereitete, die Tage, in denen zu Königsberg der Tugendbund gestiftet und in dem gesammten Umfange des noch von der großen Armee Napoleons besetzten Rumpfes Preußens organifirt wurde. Den Zweigverein für Treptow gründete Rittmeister Eisen-

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hart, Droysen befand sich unter den Mitglieder«?, für die Zeit seiner Abwesenheit übertrug ihm der Gründer die Correspondenz mit Königsberg, die dahin an den geheimen Kriegsrath Ribbentrop zu richten sei. Dieser Übertragung folgte (18. August 1808) mittelst einer von Grolman, Velhagen und Krug gezeichneten Zuschrift das Kommissorium für den Treptower Zweigverein Seitens des Staminvereins zu Königsberg. Droysen lehnte dankbar ab. Sich mittelst Reverses zu verpflichten, widerstrebte ihm wie die Censur, die über die Mitglieder ausgeübt werden sollte, „da doch von vornherein nur zuverlässige Männer aufgenommen werden dürften"; einem Geistlichen zieme geheime Wirksamkeit nicht, welche seiner öffentlichen nur Eintrag thun könne; beim vollsten Einverständniß mit den Grundsätzen und den Zwecken des Vereins, könne er somit das Kommissorium nicht übernehmen. Jene Überlastung mit Geschäften bewog Droysen, seine gedeihliche Wirksamkeit in Treptow aufzugeben, um im Herbste des Jahres 1812 die Stelle des Diakonus, d. h. des zweiten Predigers in Greiffenhagen zu übernehmen. Die größere Muße, die er hier erwartete, sollte er nicht finden. Mit dem Frühling kam der Befreiungskampf : Greiffenhagen, zwei Meilen von Stettin und Damm, die in den Händen der französischen Besatzung waren, befand sich in ausgesetztester Lage, fast täglich von Ausfällen bedroht. Eifrig war Droysen bemüht, für Verpflegung der preußischen Truppen, welche, zuerst unter General Tauenzien, Stettin umschlossen hielten, durch freiwillige Gaben zu sorgen. I m Predigerhause wurden die von allen Seiteil her gespendeten Vorräthe gesammelt, Woche aus Woche für 600 bis 1000 Mann täglich in der Pfarrküche gekocht. Wenige werden mit so gespanntem Blicke, so bewegtem Gemüthe aber auch mit so festem Gottvertrauen, daß die gute Sache endlich siegen müsse, dem Gange des Krieges gefolgt sein wie der Diakonus von Greiffenhagen: „Die Landwehr und der Landsturm", schreibt er nach Lützen und Bautzen, „müssen Alles wieder gut wachen; Napoleon wird unser Volk so wenig besiegen, wie er SpaD u n c k e r , Abhandl. a. d. n. Gesch.

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Johann Gustav Droysen.

wen, Tirol und Rußland bezwungen hat; wer Alles zu verlieren bereit ist, ist unüberwindlich." I n diesem Sinne hatte er am 13. April zu den Landwehrleuten des Kreises bei deren Vereidigung gesprochen, in diesem Sinne sprach er am 2. Juni zum Landsturin des Kreises, zu dessen Prediger er ernannt war. Die Kunde vom Abschluß des Waffenstillstandes erfüllte ihn mit Schrecken: man giebt Napoleon Zeit, seine Armee herzustellen und zu verstärken, die Friedensverhandlungen zn Prag werden den Fürsten die Kronen, den Völkern ihre Freiheit kosten! Wie gern ließ er sich dann durch die Ereignisse, die dein Stillstande folgten, widerlegen; wie jauchzte sein Herz bei der Kunde von Großbeeren, der Katzbach, Kulm nnd Dennewitz, von Leipzig. Endlich darf er am 11. April 1814 aufzeichnen: „Heute Abends 8 Uhr kam die Nachricht: unsere Truppen sind in Paris. Das war der herrlichste Beschluß unseres Osterfestes. Gustav sprang an meiner Hand unter dem Kanonendonner vor Freude. Er wird den heutigen Abend nie vergessen!" I n den schwersten und bedrängtesten Lagen waren dem wackeren Prediger sein Weib, seine Kinder unversiegliche Quellen des Trostes und der Freude gewesen. Seines Gustavs Lebendigkeit, Fröhlichkeit und Muthwillen, seine Unterwürfigkeit und Fügsamkeit aufs Wort, seine besorgte und eifrige Bereitwilligkeit, wieder gut zu machen, wenn er einen Tadel erfahren, lobt der Vater schon in den ersten Lebensjahren des Knaben. Es erfreut ihn, wie eifrig er im Spiel ist, wie er auf die Wache läuft, sich die Gewehre zeigen läßt, zu Haus dann die Griffe nachmacht, wie er das Bildwerk im Hause ansieht und kennen lernt, wie rasch seine Fortschritte in der Schule sind. „Er ist unsere Freude vom Morgen bis zum Abend; feurig und zugleich mild, ein vielversprechendes Kind körperlich und geistig. Er strebt nach Klarheit, hat Wißbegier für Alles, und da er auch ein gutes Gedächtniß hat, wird er viel lernen können. An Ausdauer, Beharrlichkeit, Ordnungsliebe fehlt es ihm nicht, er deklamirt mit gutem Ausdruck und überrascht uus durch Geistesfunken. Er ist keinen Augenblick müßig, er spielt entweder

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oder ist ernsthaft beschäftigt." Von dem siebenjährigen Knaben erzählt der Vater, daß er Heißhunger nach Geschichte und Geographie habe, daß er ihn gefragt, ob es auch Hügel und Berge in Mesopotamien gebe oder nur fruchtbare Ebenen, daß er sich Bücher und Atlas vor sein Bett lege, um gleich Morgens beim Erwachen wieder lesen zu können. I m Sommer des Jahres 1814 trat Droysen in seiner Vaterstadt die Stelle des ersten Predigers und Superintendenten an, zu der er im Frühling dieses Jahres, nachdem er das Colloquinm für die Superintendentur in Stettin bestanden hatte, berufen war. Freudig kehrte er zu der alten Stätte seiner Wirksamkeit zurück; ..mein Herz war froh und voller Zuversicht". Aber die Einkünfte zeigten sich geringer als er erwartet hatte, und neben ausgedehnter geistlicher Thätigkeit nahmen ihn die Kirchenvisitationen seiner Diöcese, die Prüfung der Kirchenrechnnngen in Anspruch, der unbefriedigende Zustand der Mehrzahl der Schulen machte ihm Sorge und Mühe. Seine Gesundheit waukte, ein Bluthusten stellte sich ein; er snhr fort zu predigen und fand dann, daß er sich an den Sonntagen wenn er gepredigt, Communion gehalten, getauft und copulirt, dennoch immer am besten befinde. Die Regierung zu Köslin beantragte seine Ernennung zum Konsistorialrath bei ihrer Abtheilung für Kirchen und Schulen. Er konnte sich nicht entschließen, das Amt anzunehmen, obwohl ihm dasselbe eine bei weitem mäßigere und seine Lungen viel weniger anstrengende Aufgabe in Aussicht stellte: „Wir haben hier so viele Liebe nnd Freundschaft." Und doch war ihm der Gedanke, daß er früh abberufen werden könne, längst nicht mehr fremd und kehrte jetzt mit der Steigerung seiner Krankheit häufig genug wieder: wer würde sich dann der Seinigen annehmen? Aber immer wieder getröstete er sich seines Glaubens, daß Gott es wohl mit ihnen machen werde. Am 9. April 1816 wurde ihm noch eine Tochter geboren, am 30. April erlag er seinen Leiden. Nur bis in sein achtes Jahr war Johann Gustav unter der 23*

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Führung seines trefflicheil Vaters. Aber der fromme Sinn desselben, seine gewissenhafte Berufserfüllung, seine patriotische Hingebung, die Bereitschaft, Enttäuschung, Entbehrung und Verluste nach Gottes Willen zu tragen, die treue und herzliche Liebe zwischen Eltern und Kindern waren die Luft dieses echt protestantischen Pfarrhauses und ließen dessen Charakter dauern, auch als das Haupt ihm entrissen war. I n allen Lagen und Leiden war die Mutter die umsichtige und treue Gefährtin des Mannes gewesen. J e ungünstiger die äußeren Bedingungen waren, unter denen sie das Erziehungswerk des Mannes fortsetzen mußte, um so geeigneter war sie dafür durch feste Haltung, und die Kinder haben ihr wohl mit um so treuerem Bemühen ihre Aufgabe erleichtert, als sie des Vaters Sinn in ihr achteten, als ihnen nicht entging, wie hart sie mit Sorgen zu ringen hatte. S o ist der Geist des Vaterhauses in Johann Gustav mächtig geworden. Die Wittwe sah sich mit ihren fünf Kindern (zwei Töchter waren früh gestorben) auf das Gnadenjahr, die Fortbenutzung einer Wohnung im Predigerhause, auf die geringe Hinterlassenschaft ihres Mannes, Mobiliar und Baarschaft im Werthe von 1200 Thalern, und das von ihr eingebrachte Vermögen von gleicher Höhe angewiesen. Sie stickte, nähte und flocht Fußdecken aus Tuchborten, und die Anhänglichkeit der Gemeinde an ihren verstorbenen Prediger trug allerlei Zuwendungen von Lebensmitteln an Brod und Fleisch, Butter und Eiern ein. Als die Weihnacht kam und die Mutter den Kindern nur den Baum anzuzünden vermochte, sagte Gustav seinen Geschwistern in kindlich männlicher Gutherzigkeit: „wir wollen uns freuen so viel wir nur können, blos um den Weihnachtsbanm, damit Mutter nicht traurig wird." Seit dem 2. Oktober 1815 — er hatte den Tag kaum erwarten können — besuchte er die große Stadtschule, die der Kantor Lorenz leitete. S o unverkennbar seiue raschen Fortschritte seinen Beruf zu den Studien mit jedem weiteren Jahre hervortreten ließen, so unbedingt schien die Lage der Familie jeden Gedanken daran auszuschließen. Der

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Hofrath Abraham Droysen zu Greifswald hatte mittelst Legates an die Universität Greifswald vom 26. Februar 1756 den Betrag von 3000 Thalern zu dem Behufe gestiftet, daß von den 150 Thlr. Zinsen dieses Kapitals je 50 Thaler an zwei Studirende dieser Universität von seiner und seiner Frau Verwandtschaft und Namen, die übrigen 50 Thaler an zwei Wittwen aus seiner und seiner Frau Verwandtschaft jährlich gezahlt werden sollten. Die Superintendentin Droysen bat um die Gewährung des Wittwenstipendiums, dessen Bewilligung dann auch wohl das Stipendium für einen stndirenden Sohn zur Folge gehabt haben würde; der Bürgerworthalter Droysen zu Greifswald unterstützte das Gesuch sehr lebhaft. Der Rector und das Oonoilium aeaÄsinieuin bemerkten, daß der Vater des verstorbenen Superintendenten und ebenso der Superintendent selbst srüherhin Droyse genannt worden seien und hielten, obwohl der wechselnde Gebrauch beider Formen vielfach nachgewiesen wurde, hieran fest. Der Beweis, daß der Verstorbene zur Familie des Stifters gehört habe, konnte nicht ausreichend erbracht werden. S o ging auch diese Aussicht und mit ihr, wie es schien, jede Hoffnung verloren, Gustav die akademische Laufbahn öffnen zu können. Da kam unerwartet Hülfe von anderer Seite her. Einer der Studiengenossen des Vaters in Halle hatte im Frühjahr 1814 den Gedanken gefaßt, eine Zukammenknnft der Pommern, die in den Jahren von 1792—1796 in Halle studirt hatten, zu veranstalten. Darüber befragt hatte der Vater Droysen dahin votirt, daß solche Zusammenkunft einen Zweck und zwar einen patriotischen Zweck haben müsse, etwa den der Stiftung einer Unterstützungskasse für bedürftige Wittwen und Waisen im Felde gefallener Krieger. Seine Frau meinte, die Studiengenossen sollten lieber zunächst eine Stiftung für ihre eigenen Hinterlassenen gründen, die mittellos zurückblieben; der Superintendent fand dann selbst diesen Gedanken, „der auf die Vormundschaft, Förderung und Leitung der Kinder ausgedehnt werden könne", glücklich. Die Zusammenkunft war damals nicht zu Stande gekommen; erst im Jahr 1820 gelang es

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dem Amtsrath Krause auf Kolbatz, die alten Genossen zu vereinigeil. Als nun beim Mahle auch des Heimgegangenen gedacht wurde, der hellte dem Kreise der alten Freunde fehlte, rief der Stadtgerichtsdirektor Misch voll Treptow den zwölfjährigen Gustav, den er ohne Wissen der Andern mit zur Stelle gebracht hatte, und hob ihn mit den Worten auf den Tisch: hier sei das Vermächtniß, das der geschiedene Freund hinterlassen, für welches zu sorgen nun ihnen zugefallen sei. Auf der Stelle beschlossen die Versammelten 300 Thaler zusammenzuschießen, die dem Sohne des Freundes den Weg zu den Studien öffnen und erleichtern sollten. S o geschah es, daß Gustav im Oktober 1820 dem Gymnasium zu Stettin übergeben werden konnte. Es lebten hier Freunde des Vaters, die ihm in ihren Wohnungen Unterkunft, andere die ihm freieil Tisch zu gewähren bereit waren; den weiteren Unterhalt sollte er sich, sobald er etwas weiter vorgeschritten, selbst durch Unterricht an jüngere Schüler verdieilen. Mit jenen 300 Thalern sollte Hans gehalten werden, sie sollten zumeist für die Stndentenjahre refervirt werden. Er fand zuerst im Hause von Winterfeldt, danach im Hanse des Hoffiscal Krause Ausnahme. Kaum vierzehnjährig mußte er beginnen, gegen kümmerlichen Entgelt Unterricht zu geben; dabei war die körperliche Pflege äußerst beschränkt — das Schmalz, das ihm die Mutter von Zeit zu Zeit für sein Brod zuschickte, mußte zur Ernährung der Studirlampe verwendet werdeil. Am schwersten fiel ihm die Zersplitterung seiner Zeit durch das „ewige Schulmeistern". Die Sommer-Ferien wareil goldene Tage für ihn, sie sahen ihn stets im Mutterhause. Mit dem Marktboote fuhr er über den Dammschen See nach Gollnow und wanderte von da die sieben Meilen durch den dichten Wald nach Treptow. Trotz seiner störenden Nebenpflichten kam er vorwärts; noch nicht sechszehn Jahr alt saß er in Prima und brachte es hier bald zum ^ilmus omnium. Dann kam die Prüfung zur Universität. S i e endigte mit der bittersten Enttäuschung, mit dem herbsten Schmerz für Johann Gustav Droysen. Wie hätte der priirms »minum nicht sicher

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darauf zählen sollen, mit dem Zeugniß unbedingter Reife entlasse!? zu werden, das ihm zudem für Ermöglichung und Erleichterung seines akademischen Studiums nöthiger war als jedem anderen; — seine Lehrer gaben ihm das Zeugniß freundlichster Gefälligkeit Hegen seine Mitschüler, musterhafter Ordnungsliebe und Bescheidenheit gegen die Vorgesetzten, lebendigster Aufmerksamkeit, angestrengtesten und glücklichsten häuslichen Fleißes; seine Kenntnisse in den alten Sprachen, in der Mathematik, im Französischen und im deutschen Stil seien so befriedigend, „daß ihm das Zeugniß unbedingter Reife würde haben ertheilt werden können, wenn es ihm gelungen wäre, in der Geschichte und im Hebräischen das vorgeschriebene Maß vollständig zu erfüllen." „Bei seinem ernsten, wissenschaftlichen Streben läßt sich indeß mit Zuverlässigkeit hoffen, daß er auch in diesen Fächern mehr als das Gewöhnliche zu leisten wissen werde"; Stettin am 10. März 1826. Mühe und Fleiß schienen vergebens aufgewendet, die Großmnth der Freunde seines Vaters übel belohnt, alle Hoffnungeil geknickt und versunken. I n wilder Verzweiflung stürzte der Abiturient hinab an die Oder. Aber Sinn und Art seines Vaterhauses hatten feste Wurzeln in seinem Herzen. Krampfhaft biß er sich auf die Lippen. Der Sieg war errungen. „Und dennoch" war das Wort, an dem er sich wieder aufrichtete. War ihm der frohe Einzug in die Pforten der Akademie verbittert, der Weg erschwert, er wollte seinen Lehrern zeigen, daß sie ihn unterschätzt, den Freunden seines Vaters, daß sie sich nicht in ihm geirrt. Er ging nach Berlin, wo das Haus des Freundes seines Vaters, des nunmehrigen Direktors des grauen Klosters, Koepke, einige Anlehnung in Aussicht stellte. Als Studiosus der Philosophie und Philologie ließ er sich einschreiben, das Honorar für die Vorlesungen wurde ihm fast durchweg gestundet. I n raschestem Laufe wollte er, mußte er die Zeit des akademischen Studiums durchmessen, schleunigst in den Stand kommen, seinen Unterhalt sich selbst zu schaffen, für Mutter und Geschwister zu sorgen. Von innen wie von außen getrieben, durchstürmte er die ge-

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öffneten Bahnen, die weiten Gebiete, die sich kaum empfänglichere«? Blicken aufgethan haben. Er hörte Lange's Erklärung des Homer und Aeschylos, Lachmann und Bernhardt, Heinrich Ritters Geschichte der Philosophie, Hotho's Aesthetik, Stuhrs Mythologie uni> Philosophie der Geschichte, Carl Ritters Ethnographie und Geographie, Willens Mittelalter, Eduard Gans' neueste Geschichte, englisches Recht und Staatsrecht, endlich Sanskrit bei Bopp; in jedem Semester aber besuchte er die Vorlesungen Böckhs undHegels. Nach dreijährigem Studium legte er das Oberlehrerexamen ab, noch im Jahre 1829 trat er als Lehrer am grauen Kloster ein. Die Tendenzen, welche damals die Wissenschaft, welche die Universität Berlin, in jenen Tagen deren hervorragendste Stätte in Deutschland, beherrschten, zielten auf lebendiges Verständniß desklassische!? Geistes, auf Erwerbung seiner Hinterlassenschaft zu eigenem Besitz, auf die Erkenntniß des Erbes unserer Vorfahren, unseres eignen ursprünglichen Genius in Sage und Poesie, daneben auf zusammenfassende Betrachtung des Weltganzen, auf eine konstruktive Philosophie, die zu den letzten Gründen vordringend, aus diesen abzuleiten unternahm, was Natur und Geschichte boten. Zugleich mit dieser wissenschaftlichen Gährnng und productiven Regeneration war aus langem Winterschlafe, nach dem harten Drucke der Fremdherrschaft, die deutsche Kunst in Bild, in Plastik und Architektur wieder erwacht, und den großen Werken unserer klassischen Literatur schien eiue sinnige Nachblüthe, vielleicht eine neue Blüthe im Liede, in den freieren Formen der romantischen Poesie beschieden zu sein. Mitten in diese Fülle der Gesichte gestellt, von lebendigster Empfänglichkeit, voil beweglichster Reflexion, offensten Auges für Anmuth und Schönheit der Bildkunst, von poetischer Anlage und Begabung — wie hätte der junge Student sich nicht allseitig angeregt lind ergriffen fühleil sollen? Wie hätte er sich dem Glauben entziehen mögen, der die Luft der Hörfääle erfüllte, daß das Baui> zu erfassen sei, „das die Welt im Innersten zusammenhält!" Aber er war doch zn originalen, zu wenig formalistischen Geistes, um

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sich den Dogmen der herrschenden Philosophie einfach zu ergeben, die klare und mächtige Lebensfülle, die aus den Schöpfungen des hellenischen Geistes sprach, behauptete den ersten Platz. Droysen^ Sinn für Eigenart und Charakter, seine gesammte Anlage mußte ihn zu lebendigem Ergreifen der Vergangenheit, zum Eindringen in deren Zusammenhang, zur Vergegenwärtigung der Ueberlieferung d. h. znr Erforschung und Darstellung, nicht zur Construktion der Geschichte führen. Die Dichtung der Hellenen ergriff ihn noch früher als ihre Geschichte und hielt ihn zunächst fest. Die mächtige aber schwere und dunkele Poesie des Aeschylos fesselte ihn gleich in seinem ersten Semester. Bereits in den ersten Herbstferien seiner Studentenzeit wie während der folgenden arbeitete er — der ersehnteste Gast im Mutterhause — an der Enträthselnng des Aeschylos. I n der Erinnerung seiner jüngeren Geschwister lebt, wie er hier Morgens nach dem frugalsten Frühstück seine Pfeife gestopft und mit den Wortei? „Heissa, nun gehts an die Arbeit", sich in der Mitte des kleinen Zimmers, an dessen einem Fenster die Mutter spann, während am anderen die Schwestern nähten uud stickten, an den Tisch gesetzt und den Aeschylos vorgenommen hat. Fand er, daß ihm eine Stelle gelungen, so wurde sie wohl vorgelesen. Sehr bald nach Vollendung seiner Studien wagte er, kühn genug, mit einer Uebersetzung hervorzutreten. Er hätte sie nicht so früh drucken lassen, wenn er des Honorars nicht bedurft, vornehmlich um die Kosten der Doctor-Promotion zu decken. Das Erstlingswerk widmete er dankbar „den Freunden seines Vaters". Es war der Versuch einer Nachbildung, eine Nachdichtung mehr als eine Uebersetzung. Intensives Eindringen in den S i n n des Originals, Gefühl und Takt für die Absichten des Dichters, verständnißvolle Aneignung, poetische Gestaltungskraft werden diesem ersten Wurfe Droysens gewiß nicht abgesprochen werden können. Zudem zeugt der Erfolg für den glücklichen Zug, der diese Übertragung beherrschte; sie hat ihren Platz behauptet. Auch für das erste Thema historischer Darstellung hat sich Droysen nicht ent-

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schieden, ohne dessen poetische Anziehungskraft zu empfinden. Es war Hegels große Conception, die klassischen und die romantischen Epochen, die Zeiten unbewußten Schaffens und die Perioden der wachen Reflexion zusammenzufassen, aus den Abwandelungen zunächst dieser Momente den Begriff des historischen Processes abzuleiten: das größte und bedeutendste Ergebniß seiner Philosophie. Zugleich hatte er danu gelehrt, daß gewisse Kiilturmomente, neu durchbrechende Phasen der Entwickelung sich in großen Individuen concentriren, von solchen vertreten, in's Leben gerufeil werden. Droyfens ebenso sehr auf zusammenfassende Anschauung des idealen Gehaltes der Vergangenheit wie auf Verständniß individueller Charaktere gerichtete Aulage setzte ihn in den Stand, jene Lehren zu verwerthen, so fern auch, wie erwähnt, seiner lebensvollen Anschauungsweise die aphoristische Constrnction der Geschichte war und blieb. Bei seinem Zuge zu deu Geschicken und Thaten der Hellenen konnte er am wenigsten die gewaltige Strömung verkennen, welche mit dem Ableben der griechischen Freiheit, mit der Concentration der hellenischen Kräfte in der makedonischen Macht, mit der Ueberwältigung des Orients durch hellenisches Wesen eintrat. Und die neue Cultur, die diese Wendung hervorrief, die aus der Verschmelzung der hellenischen und der morgenländischen Art erwuchs, dieser weltgeschichtliche Fortschritt wurde von Einem Manne, wenn nicht vollbracht, doch herbeigeführt, der jugendlich heranstürmend, mit gewitterschwerer Frühlingsgewalt die Hellenen zu Herren des Orients machte. Auf dieser nach den kühnsten und größten Thaten früh hinweggerafften Heldengestalt lag der Zauber der Poesie. Er stand am Schlüsse einer früheren, am Anfang einer neuen Welt. Dazu floß die Ueberlieferung für Alexanders Thaten nicht ganz spärlich; sie mußte ausreichende Grundlagen für die historische Darstellung bieten. S o machte sich Droysen, den die Arbeiten für das Oberlehrerexamen und die Doctordiffertation in diese Zeiten geführt hatten, daran, die Geschichte Alexanders von Makedonien zu schreiben. Wie rasch es ihm gelang, sich des gefammten Umfangs der

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Quellen zu bemächtigeil, deren Gehalt zur Darstellung zu gestalten — leicht hat er sich seine Aufgabe nicht gemacht. Zunächst eroberte er für deren Lösung ein neues Gebiet: Englische Reisende hatten eben die Jnduslande und das Pendschab erforscht, die Gebiete Ostirans betreten, das Euphratland durchzogen; Droysen versicherte sich emsig dieser neuen Kunde, Ausschluß über die Züge Alexanders in jenen Gebieten zu gewinnen, was ihm für wesentliche Punkte gelaug. Der eigentlich kritischen Schule gehörte Droysen weder durch seine Anlage noch durch den Gang seiner Studien an: von Niebuhr wesentlich dahin beeinflußt, nach lebendiger Anschauung der Bedingungen und des Organismus des Staatslebens zu trachten, war er zwar der Kritik der Quellen nicht aus dem Wege gegangen; den vorwiegenden Accent hatte er auf die Thatsachen und deren Verständniß gelegt. S o kam es, daß Droysens historisches Erstlingswerk nicht ohne Anfechtung blieb. Nicht nur Philologen strengster Observanz fanden dies und jenes Detail zu tadeln, auch die Gesammtaiisfassilng wurde lebhaft bestritten. Alexander erschien zu güustig gestellt, zu hell gezeichnet, sein großer Gegner in Hellas höchst ungerecht beurtheilt, mißwollend verkleinert. Mit dein besten Grunde konnte Droysen erwideru: die Hellenen hatten die nationale Einheit gesucht aber uicht gefunden, weder Athen noch Sparta noch Theben hatten sie herzustellen vermocht, ihre verbrauchten Kräfte mußten eiuer unverbrauchten Stammeskrast weichen, die zu leisten wußte, was bisher vergeblich versticht worden; welches andere Ergebniß würde der Sieg des Demosthenes, Athens und seiner Verbündeten gehabt haben als die Fortdauer der elenden Zustände in Hellas, der traurigen Abhängigkeit der zwiespältigen Kantone von dein selbst altersschwachen Reiche der Perser und den Machtsprüchen von Snsa? Daß vormaliger Glanz, berechtigtes Selbstgefühl, selbständiges Leben, immerhin Kantonleben, nicht freiwillig aufgegeben wird; die Bedeutung des Rechts und der Pflicht, für die Tradition seiiies Staates und dessen Behauptung einzutreten, und wenn nicht zu siegen, mit Ehren zu fallen, trat begreiflich dem jungen Historiker,

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der von dem besseren Rechte des Fortschritts, der Culturentwickelung erfüllt war, in den Hintergrund. Durch die Habilitation an der Berliner Universität, die neue Lehrthätigkeit an der Universität neben der alten am Kloster und eine schwierige Arbeit anderer Art unterbrochen, folgten dem Alexander die Geschichten der Diadochen und Epigonen Alexanders, die Geschichte des Hellenismus (1836. 1842). Die Aufgabe war ungleich undankbarer, die Tradition außerordentlich lückenhaft und zerrissen, die führenden Männer waren nicht geeignet Antheil zu gewinnen, die Bildungen, die sie in's Leben riefen, schwankend und wenig erfreulich ; es war eine neue westöstliche Cultur ohne ethische Stützen und Grundlagen, Gewaltherrschaften, wesentlich durch Machtmittel getragen. Diesen Reichen das Verständniß ihrer Entstehung, den neuen „Staatsindividualitäten" die Bedingungen ihres Bestandes abzugewinnen, die Reaction des Morgenlandes gegen die neuen Territorialherrscher fremder Abkunft in den Ursprüngen zu erkennen — das Wort dieser Räthsel zu finden, hat Droysen gereizt nnd zu dieser mühseligen Arbeit getrieben. Die deutsche Wissenschaft verdankt ihm Wort und Begriff des Hellenismus, dessen Gehalt und Bedeutung für das wirthschaftliche, für das religiöse und wissenschaftliche Lebe» jener Zeiten er allseitig klar zu stellen sich bemühte. Mehr als vierzig Jahre danach war ihm beschieden, zu dieser Arbeit seiner Jugend zurückzukehren. Er hat sie, nunmehr unter dein Titel „Geschichte des Hellenismus" zusammengefaßt, nicht neugeschrieben, aber er hat sie fast in jedem Satze nachgeprüft und verbessert. Die schneidende Schärfe des Urtheils, wie sie die Geltendmachung neuer Auffassungen den älteren gegenüber bedingt, wurde gemildert, die kritischen Unterlagen wurden erheblich erweitert und durch sehr eingehende chronologische Forschungen ergänzt; die in jenen vier Jahrzehnten so überraschend gesteigerte Kunde des alten Orients, nicht minder die reichen Erträge der inzwischen aufgedeckten griechischen Inschriften dieser Periode wie die Ergebnisse der Münzfunde jener Lande sind auf das eingehendste im Texte wie in einer stattlichen Zahl von Beilagen verwerthet.

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Zwischen der Geschichte Alexanders und der Geschichte der Diadochen liegt eine der eigenartigsten Schöpfungen Droysens, seine Uebersetzung des Aristophanes. Diese lebensvollen, von dem unmittelbaren Hauche actueller Zustände, Ereignisse und Stimmungen durchwehten Bilder des attischen Treibens, die derbe Keckheit ihres Humors, die Dreistigkeit der Karikatur übten nicht minderen Reiz auf ihn als die hohen prophetischen Worte des Aeschylos. Selbst heiterer Anlage und Natur, nicht ohne witzige, neckische Ader, auch derberem Scherze nicht prüde abgeneigt, poetischer gestimmt in jene» Jahren als in späterer Zeit, wurde er durch die Gegenwärtigkeit dieser Vergangenheit zum Versuche der Nachbildung gereizt. Zunächst wollte er dem Kreise seiner Freunde beweisen, daß eine verständnißvolle Nachdichtung möglich sei. Diese Versuche und Proben führten weiter; zum Verständniß des Dichters gehörte nicht allein Verständniß des Wesens und der Tendenzen der attische«: Komödie Sinn für Humor und Tact für das Gebahren der Komik: auch genaue Kunde der attischen Institutionen, der poetischen und literarischen Situationen, der Personell, deren Spiegel- und Zerrbild Aristophanes zeichnet. Droysen war unermüdlich, sie von allen Seiten her zusammenzutragen. Wohl ist die Freiheit und Kühnheit seiner Nachdichtung angefochten worden. Man kann in der That darüber streiten, ob Droysen im Eifer, durch die Uebersetzung denselben Eindruck, den der Dichter beabsichtigt hat zu geben, sich nicht hier und da zu weit vom Originale entfernt hat, man mag es tadeln, griechische Dialecte, die der Dichter seinem Publikum vorführt, durch deutsche Dialecte, die eine gewisse Analogie zeigen, wiederzugeben, — man wird weder die poetische Kraft der Parabafen noch die glückliche» Treffer im Dialog Droysen abstreiten, man ivird nicht leugnen können, daß Droysens Uebersetzung den Aristophanes den Deutschen gegeben hat, wie uns durch Voß' Uebersetzung die homerischen Gesänge erschlossen worden sind. Der Preis eil,er meisterhaften, wenn nicht genialen Nachdichtung ist dieser Arbeit zuzuerkennen. Der erste Band der Uebersetzung ist 1835, der zweite und dritte sind in den beiden folgenden Jahren erschienen.

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Auch dieses Werk hat Droysen, in zweiter, dritter und vierter Revision unter Benutzung aller zur Seite gehenden Forschungen vervollkommnen können. Noch bevor Aristophanes' Komödien erschienen, war im Frühling des Jahres 1835 Droysen zum außerordentlichen Professor für alte Geschichte und klassische Philologie an der Universität Berlin ernannt worden. Jedoch bemerkt das Ernennungsdecret ausdrücklich, daß „ihm weder jetzt ein Gehalt bewilligt werden noch ein solches auch nur in entfernte Aussicht gestellt werden könne". Demnach mußte die Lehrthätigkeit am grauen Kloster beibehalten, die überaus angestrengte Arbeitskraft weiter gespannt werden. Es handelte sich um zwanzig Lehrstunden am Gymnasium mit den dazu nöthigen Vorbereitungen und Correcturen, um zehn Vortragsstunden an der Universität und den für diese erforderlichen Ausarbeitungen, daneben wollten Aristophanes und der Hellenismus gefördert sein. Mitten in diesem Lernen und Lehren, Forschen und Schaffen gründete Droysen sein Haus. Die in stattlicher und anmuthvoller Schönheit erblühte Tochter des Buchhändlers entHeim hatte sein Herz gewonnen; sein Lehrergehalt am Gymnasium war auf 800 Thaler gestiegen, den Mehrbedarf des jungeu Hauses sollten das Honorar der Vorlesungen, das Honorar jener Publikationen decken. I m Mai des Jahres 1836 führte er seine Braut heim. Zwei Jahre darauf wurde ihm ein Sohn, im Juli 1839 eine Tochter geboren. Seine Frau war ohue eigenes Vermögen, den Zuhörern mußten die Honorare große» Theils gestundet werden, der Ertrag des Aristophanes, des ersten Bandes der Diadochen blieb hinter den Erwartungen zurück; leichtere literarische Arbeiten mußten neben allen anderen Leistungen zu Hülfe genommen werden. Die hingebende Liebe seiner jungen Frau, die Freuden des glücklich erblühenden Hauses hielten ihn reichlich schadlos. Und neben diesen führte ein Kreis von Freunden, dem er den lebendigsten Impuls gab, auch ihm die vielseitigste Anregung zu. Lengerich, Moritz Veit, Eduard Bendemann, Felix Mendelssohn standen in demselben voran. Mit der Poesie verkehrte Droysen nicht mir als Uebersetzer; den poetischen

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Versuchen Moritz Veits war er nicht fremd, für mehrere Lieder Mendelssohns „ohne Worte" hat er, vom Komponisten selbst gebeten, seinen Tönen die Zunge zu lösen, recht glückliche Verse gefunden; und nicht nur fröhlich stimmenden Familienereignissen, auch ernster Gemüthsbewegung wußte er poetischen Ausdruck zu geben. Seinem feinen musikalischen Ohr, seinem sinnigen Verständniß für die Musik gaben die Kompositionen seines jungen Freundes Nahrung; die Musiknbende nnd Ausführungen im Hause Mendelssohn gewährteil ihm, nach schwerem Tagewerk, so edle und gehaltvolle Erquickung, wie Droysen sie auch in den Stunden des Ausruhens bedürfte, um Erholung zu finden. An Bach, den Mendelssohn eben in diesen Jahren wieder an's Licht brachte, an Beethovens Symphonieen, an Mozarts Opern und Schuberts Liedern hatte er unerschöpfliche Freude. Den Formen der Plastik und Architektur, den Leistungen des Malers brachte Droysen ein gutes Auge und feines Gefühl entgegen. Seine eigene Begabung für die Zeichnung mit S t i f t und Kreide war nicht gering, auch in Farben hat er sich nicht ohne Glück copirend versucht. Eduard Bendemanns aufstrebendes Talent, dessen ernstes Trachten nach großem und würdigem Ausdruck war Droysen bemüht, aus Gegenstände der preußischen Geschichte und des Zeitalters der Reformation zu lenken. Bendemanns hochgespannter, von Cornelius beeinflußter Idealismus konnte diesen Weg nicht nehmen. Als ihm späterhin die Ausschmückung der Festräume des Dresdener Schlosses übertragen wurde, unterstützte ihn Droysen in der Auswahl der Vorwürfe für diese großen Compositionen, namentlich derer, welche die Sagen und den Himmel der Griechen zu veranschaulichen bestimmt waren, in lehrreichster Weise. Zu den diese Wandgemälde wiedergebenden Radirungen hat Droysen Erläuterungen geschrieben: lichtvolle und feinsinnige Andeutungen über das Wesen der Kunst und der Künste, über den geistigen Culturgehalt der griechischen Mythologie. S o voll und reich dies Leben war, so gewaltig absorbirte es alle Kräfte; Droysen fühlte, daß er diesen Anstrengungen nicht lange mehr gewachsen sein würde, er begann ernstlich zu sorgen.

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daß seine wissenschaftlichen Leistungen unter dem Nachlassen seiner Spannkraft leiden könnten, daß seine Gesundheit nicht vorhalten würde. Wenn er sich nur von der Schule zu befreien, der Universität und der Geschichte ausschließlich zu leben in die Lage käme — das war sein heißester Wunsch. Da traf im Herbst 1839 von Kiel her die Aufforderung ein, die ordentliche Professur der Geschichte daselbst gegen ein Gehalt von 1200 Thalern zu übernehmen. Die Erfüllung war da und doch zögerte Droysen, den rettenden Ausweg zu betreten. Er fühlte sich so fest mit Preußen verwachsen; es fiel ihm sehr schwer sich loszureißen. Dem Minister Altenstein verhehlte er diese Stimmung nicht: er verlange keine ordentliche Professur wie die dort gebotene, er sei zufrieden und bleibe gern, wenn er nicht länger genöthigt sei, sich aufzureiben, wenn ihm das Aequivalent seines Lehrergehalts am Kloster gewährt werde, um sich in Zukunft der Universität und seinen wissenschaftlichen Arbeiten ausschließlich widmen zu können. Der Minister sprach „sein aufrichtiges Bedauern aus, auf Droysens verdienstliche Wirksamkeit an der Berliner Universität verzichten zu müssen, da er eine Besoldung, welche Droysen zur Niederlegung seiner Lehrstelle am Berliner Gymnasium in den Stand setze, weder jetzt gewähren, noch in nahe und sichere Aussicht nehmen könne". Auf eine erneute Vorstellung Droysens, wie hart es ihm sei, Preußen den Rücken zu kehren, erwiderte der Minister, das Höchste, was er in diesem Augenblick zu seinen Gunsten zu bewirken hoffen dürfe, sei der Antrag beim Könige auf die Gewährung einer Besoldung aus allgemeinen Fonds von 300 Thalern jährlich (12. Nov.). Droysen mußte ziehen. Er erhielt unter dem 17. März 1840 seine Entlassung „unter dankbarer Anerkennung seiner bisherigen gewissenhaften und erfolgreichen Dienstführung". Es war ein neuer Boden, den Droysen mit sorgenfreier Brust betrat; das Gefühl, ungehemmt den Studien und den Studirenden sich widmen zu können, die frische Luft, die ihn anwehte, erquickte und erhob ihn. Offenen Sinnes und rückhaltlosen Vertrauens trat er in den Kreis seiner neuen Kollegen. Mit nicht wenigen derselben

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wie Justus Olshausen, I a h n , Madai, Dorner, Falk, Hegewisch, Ravit, Waitz, der 1842 nach Kiel gerufen wurde, verbanden ihn bald nahe Beziehungen, Allen war er durch entgegenkommende Freundlichkeit lieb und werth, keine Dissonanz hat sein Verhältniß zu den Lehrern der Hochschule unterbrochen oder getrübt. Droysens Aufgabe war, die Geschichte in ihrem ganzen Umfange vorzutragen. Hatte er in Berlin die Geschichte Alexanders, die Geschichte der Diadochen, alte Geschichte und alte Geographie, über Aristophanes, die attische Komödie, die attischen Redner, die Dramatik der Griechen gelesen, in Kiel ging er sofort im zweiten Semester (Winter 1840/41) auf das Mittelalter, dann auf die neue und neueste Geschichte über; die deutsche Geschichte und die Geschichte der Freiheitskriege folgten; neben diesen Hauptcollegien behielten dramatische und prosaische Literatur der Griechen, die attischen Redner ihren Platz. Dem neuen Felde seiner Studien (das Mittelalter durfte er nach Waitz' Berufung diesem überlassen) verdankt die Geschichte der Freiheitskriege, die er im Jahre 1846 erscheinen ließ, den Ursprung. Es ist auch hier der große Zusammenhang der historischen Strömungen und Wandelungen, die Abfolge der Tendenzen, welche das Völkerleben beherrschen, denen Droysen nachgegangen ist, die er in ihrem Wesen und Kern zu verstehen versucht und vermocht hat. Mit jugendlichem Feuer, in raschen kräftigen Zügen entwirft er das Bild der Umgestaltungen, die Staatsleben lind Staatensystem seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis zum Wiener Congreß hin erfahren haben. Er zuerst erfaßte die Bewegung, die sich damals gegen die absolute Monarchie wie gegen die Aristokratie, auch die anglikanische Aristokratie, gegen die Irrationalitäten des historisch Gewordenen erhob, als eine allgemeine, durchgreifende, wenn auch in verschiedenen Formen auftretende. Die gleiche Tendenz der fürstlichen Reformen im Sinn des Gemeinwohls, in der besonnenen Art des Friedericianismus wie in der doctrinären des josephinischen Imperialismus, und deren Coincidenz mit den von unten herauf drängenden Strömungen wußte er zuerst nachzuweisen und auf die beide vorbereitende Geistesarbeit zurückzuführen. Wie zutreffend Duncker. Abhandl. a. d. n. Gesch.

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gelang ihm, den Quell der Bewegung zu erkennen und, ungeblendet von jeder Absicht, von dem richtig erfaßten Kern aus deren Berechtigung, deren Ziele klar zu stellen und zu begrenzen. Der Staat, der dem Volke verloren gegangen ist, soll wieder des Volkes werden, die Mitarbeit am Staate soll dem Volke wieder zu Theil werden. Den Begriff des S t a a t s faßt Droysen als die sittliche Gemeinschaft seiner Glieder, der diese sich hinzugeben haben, um sich gestärkt aus ihr zurückzuempsangen; die Verwirklichung dieser Staatsordnung ist das wahre Ziel der Freiheitskriege. Weit ab von landläufiger Theorie und doktrinärer Schablone sieht er in der Umwandlung Preußens durch die Reformen Steins die Grundlagen der positiven Gestaltung, die dem Staatsleben zu Theil werden muß, sieht er in dem Vorkampfe des in dieser Form erneuten Preußens gegen Frankreichs Obmacht, in dem Siege des regenerirten Fridericianismus über den Napoleonismus zugleich den Krystallisationspunkt der nationalen Einigung Deutschlands, der die Bewegung der Freiheitskriege nicht minder als der sittlichen Ordnung des S t a a t s auf nationaler Grundlage zustrebt. Unter den Ersten hat Droysen seinem Volke diesen Weg gezeigt. Wie viel seitdem die von Droysen so heiß ersehnte Oeffnung der deutschen Archive in den Einzelheiten dieses Werkes zu berichtigen gestattet, die Grundzüge, die leitenden Gedanken desselben stehen noch heute vollkommen aufrecht. I n der festen preußischen Tradition des Vaterhauses aufgewachsen, von den Wellenschlägen der Erhebung gegen Frankreich in frühen Jahren berührt, war Droysen mit seiner Verpflanzung nach Kiel auch ein Deutscher geworden. Bei voller Anerkennung der Leistungen des preußischen Beamtenthnms hatte er niemals Hehl gehabt, daß es den zurückgehaltenen Antheil des Volkes an der Lösung der Staatsaufgaben nicht zu übertragen noch zu ersetzen vermöge. Die Täuschung der Hoffnungen auf freieren Raum für diesen, die mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. erwacht waren, berührte ihn schmerzlich. I n Kiel sah er sich in eine andere, in eine national deutsche Aufgabe versetzt, in die der Vertheidigung der Herzogthümer gegen Dänemark. Lebhaft empfand er die Bedeutung dieser Lande und den Werth seiner Bevölkerung für Deutsch-

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land; er fühlte sich gedrungen, in deren eben beginnenden Freiheitskrieg einzutreten; seinen Lehren hatte er die That schon vorausgeschickt. Die Herzogthümer befanden sich seit 1460 mit Dänemark in Personalunion; nach dem Verlust Norwegens hatte man dänischer Seits begonnen, dies staatsrechtliche Verhältniß auf administrativem Wege zu verwischen, um sich für jene Einbuße an Staatsmacht an den Herzogtümern zu entschädigen; das dänische Volk begann, die Herzogthümer als dänische Provinzen zu betrachten. Die Herzogthümer besannen sich auf ihr gutes Recht, von Kiel aus wurde den Verdunkelungen desselben in schlagenden Ausführungen entgegengetreten. Es waren die dänischen Stände, die das Zeichen zum Ausbruch des offenen Kampfes gaben. Zu Roeskild im Jahre 1844 versammelt, beschlossen sie mit 65 gegen E i n e dissentirende Stimme, den Antrag an den König: „mittelst feierlicher Erklärung feststellen zu wollen, daß das eigentliche Dänemark mit SchleswigHolstein und Lauenburg ein einziges ungetheiltes Reich bilde und untheilbar nach den Bestimmungen des Königsgesetzes vererbt werde." I m Königsgesetz von 1660 hatten die dänischen Stände den Königen Dänemarks für jetzt und die Zukunft die absolute Souveränität übertragen und zugleich bestimmt, daß für den Fall des Aussterbens des Mannesstammes Friedrichs III. die Krone auf die weibliche Nachkommenschaft übergehen solle. I n den deutschen Herzogtümern konnte nach deutschem Fürstenrecht und der besonderen Successionsordnung für beide Herzogthümer uur der Mannesstamm erben. Dem Beschlusse der Roeskilder Stände antwortete ein Schrei der Entrüstung in den Herzogthümern. Droysen gab diesem Zorn in einer mannhaft gefaßten Adresse Ausdruck, welche zunächst in Kiel, dann weiter und weiter mit Unterschriften bedeckt.wurde. Die Provinzialstände sowohl die Schleswigs, als die Holsteins, begegneten dein Roeskilder Antrage, indem sie entgegengesetzte Anträge an den König richteten. Die Krone hatte sich, so lange König Friedrich VI. lebte, außerhalb des Kampfes gehalten, weder für die dänischen noch die deutschen Lande Partei genommen; mit dem Regierungsantritt 24»

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Christians VIII. setzte auch hier eine Wendung ein, seine Absichten traten allmählich deutlicher hervor, den Bestand des Gesammtstaates und die cognatische Erbfolge zu sichern. Eine Kommission von Sachverständigen, die er berief, gab ihr Gutachten in diesem Sinne in dem „Kommissionsbedenken" ab; auf Grund desselben erklärte König Christian dann in dem offenen Briefe vom 8. Juli 1846: für Schleswig gelte die Erbfolge der lex rexia von 1660; im Uebrigen solle die Selbstständigkeit Schleswigs, sollten die den Herzogthümern sonst zuständigen Rechte nicht geschmälert werden. Die Bevölkerung der Herzogthümer wahrte das gemeinsame Erbrecht, ihre unauflösliche Verbindung mittelst der Erklärung von Neumünster; die Agnaten protestirten; der Bundestag erklärte, deren Rechte schützen zu wollen; neun Professoren von Kiel, Droysen unter ihnen, übernahmen die wissenschaftliche Widerlegung des Kommissionsbedenkens — wesentliche Stücke derselben gehören Droysens Feder—, veröffentlichten diese trotz Königlichen Verbots unter dem Titel „Staats- und Erbrecht des Herzogthums Schleswig". Mit den Uebrigen hatte sich Droysen in den hierauf erfolgenden Verweis zu theilen. Die durch wiederholte Landestheilungen zwischen der königlichen und der älteren Gottorsschen Linie verdunkelten Rechtsverhältnisse der Herzogthümer vollends klar zu stellen, unternahm Droysen mit einem jüngeren Mitarbeiter, der sich zuvor in seinen historischen Uebungen hervorgethan hatte, dem nunmehrigen Advokaten Karl Samwer. Das Ergebniß der gemeinsamen Arbeit, in welcher Droysen die historischen, Samwer die staatsrechtlichen Ausführungen angehören, war das alle einschlagenden Beziehungen und Fragen in unwiderlegbarer Begründung umfassende Werk: „Aktenmäßige Geschichte der dänischen Politik", welches im Jahre 1850 ans Licht trat. Schwerwiegende Ereignisse hatten inzwischen die Krisis rascher herbeigeführt, als irgend zu erwarten gewesen war. König Christian endete am 20. Januar 1848. Sein Nachfolger Friedrich VII. eröffnete seine Regierung mit dem Patent vom 28. Januar, nach welchem Dänemark mit den Herzogthümern durch eine constitutionelle Verfassung zum Einheitsstaate verbunden wurde. Die constitutionellen

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Rechte und Freiheiten wurden den Herzogtümern als Preis für den Verzicht auf ihre alten Rechte geboten. Droysen gab der Empfindung und Gesinnung der Herzogthümer auf der Stelle, schon am 5. Februar 1848, in den nachdrücklichsten und beredtesten Worten Ausdruck. Seine Flugschrift „Die gemeinsame Verfassung für Schleswig-Holstein und Dänemark", ist ein feierlicher Protest, der mit dem Satze schließt: die Herzogthümer dürfen Dänemark nicht für Deutschland eintauschen, dessen eine große Zukunft wartet. I n ergreifender und zugleich schlichter, in männlich offener und zugleich gehaltener Sprache, frei von Pathos und Rhetorik, ernst und eindringlich, warmen deutschen Gefühls und doch ohne verletzendes Wort gegen den König und die Dänen, ist dieser rasche Wurf Droysens ein Muster ernster politischer Kundgebung und Erörterung, das heute noch aufmerksam gelesen zu werden verdient. Die Dänen übernahmen das Weitere. Am 28. März zogen 15,000 Kopenhagener von Orla Lehmann geführt vor das Schloß: die Herzogthümer seien in Aufruhr, der König möge sich ohne Verzug mit Männern umgeben, die das Vertrauen des Volks besäßen, d. h. mit solchen, welche mindestens die Einverleibung Schleswigs (für Holstein hatte man mit dem deutschen Bunde zu rechnen) um jeden Preis durchzuführen entschlossen seien. Dieser Revolution antworteten die Beamten aus den Herzogtümern in Kopenhagen mit Niederlegung ihrer Stellen, die Herzogthümer selbst mit Errichtung einer provisorischen Regierung, welche die Verwaltung im Namen des KönigsHerzog führen werde, bis der König die Freiheit seiner Entschließungen wieder erlangt haben würde. Der eifrige Verfechter der Landesrechte, Droysen, wurde von der provisorischen Regierung nach Frankfurt gesandt, den Bundestag zu ihrer Anerkennung zu bestimmm, als Vertreter des Herzogt u m s Holstein unter den Siebzehn seinen Platz zu nehmen, welche den siebzehn Stimmen des engeren Rathes des Bundes einiges Vertrauen des deutschen Volkes zuwenden sollten. Am 6. April 1848 war Droysen in Frankfurt a./M. Da die tumultuarifche Versammlung des Vorparlaments den Bundestag nicht sprengte,

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die Republik nicht ausrief, war ihm auf der Stelle klar, daß: Deutschland die Wege der französischen Revolution erspart bleiben würden, aber ebenso klar, daß von Frankfurt aus eine constituirende Wirkung schwerlich zu üben sein werde. Sein Programm stand fest: er sprach es gleich in diesen Tagen aus: „Preußen ist bereits Deutschland in der Skizze: seine neue Verfassung darf es nicht individuell abschließen, es muß sich in Deutschland eingliedern, seine Eingliederung in Deutschland muß durch seine große und gesunde Machtorganisation, sein Heer und sein Finanzwesen den Rahmen für das Ganze bieten. Den Hohenzollern gebührt die Stelle, die seit den Hohenstausen frei geblieben ist." Nach seiner Meinung sollten nicht die Siebzehn, die Bundesversammlung sollte den Entwurf der deutschen Verfassung feststellen, dieser dann dem deutschen Parlament vorgelegt, mit diesem vereinbart werden. Wie eifrig er in diesen Wochen der Vorbereitung für das Parlament, in den Tagen des Vorparlaments, für die Regelung der Stellung SchleswigHolsteins zu dem neuen Deutschland, für den Verfassungsentwurf der Siebzehn arbeitete, davon geben seine „Beiträge zur neuesten deutschen Geschichte", die er im Herbste des Jahres 1849 veröffentlichte, gewichtiges Zeugniß. Mit gleicher Unermüdlichkeit und Unverdrossenheit wirkte er während der gesammten Dauer der constituirenden Reichsversammlung. Dem Verfassungsausschusse, dem er mit Dahlmann, Waitz, Beseler angehörte, lag nicht nur die Feststellung der sogenannten Grundrechte ob, für deren Formulirung Droysen sich in geringerem Maße interessirte, die wesentliche Aufgabe der Kommission erblickte er darin: die richtige Formel für ein gesundes Verhältniß der Einzelstaaten zur Centralgewalt zu finden, eine Aufgabe, die jetzt zum ersten Male ernsthaft ins Auge gefaßt und angegriffen werden mußte. Ihre Lösung ist dem historischen S i n n , dem politischen und staatsrechtlichen Takte Dahlmanns, Beselers, Waitz' und Droysens trotz partikularistischen wie radikalen Widerspruchs in allen erheblichen Punkten glücklich gelungen. Protokollführer des Verfassungsausschusses, hat Droysen nach dem Scheitern der Versammlung, um eine so werthvolle

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und wegweisende Vorarbeit für die künftige Gestaltung Deutschlands nicht untergehen zu lassen, die Niederschläge dieser Berathungen des Verfassungsausschusses, die Motivirung seiner Beschlüsse in den Protokollen drucken lassen. Neben correkter Feststellung der Grenzen zwischen Reichsgewalt und Staatsgewalt lag Droysen die Regelung des Verhältnisses des neu zu gründenden Bundesstaates zu Oesterreich vornehmlich am Herzen. Mit vollstem Rechte sah er hierin den Grundstein für die Neugestaltung Deutschlands. Schon am 6. April 1848 hatte er ausgesprochen: entweder muß Oesterreich zu dem alten Föderalismus zurückkehren, seine deutschen Lande von den übrigen trennen, oder auf Antheil an dem neuen Deutschland verzichten. Unaufhörlich drang er darauf, diese Frage bestimmt sormulirt Oesterreich vorzulegen. Endlich faßte der Verfassungsausschuß die entscheidenden Beschlüsse: „Kein Theil des deutschen Reiches darf mit nichtdeutschen Ländern zu Einem Staate vereinigt sein. Hat ein deutsches Land mit einem »ichtdeutschen Lande dasselbe Staatsoberhaupt, so ist das Verhältniß zwischen beiden Ländern nach den Grundsätzen der reinen Personalunion zu ordnen." Droysen war kein Parlamentsredner. Es widerstrebte ihm, die Accente zu brauchen, die auf eine erregte Menge wirken, und sein empfindlich geartetes Gemüth war den Gewaltstößen leidenschaftlicher Debatten kaum gewachsen. Um so unermüdlicher wirkte er in den Ausschüssen, im Kreise seiner Partei, des rechten Centrums, im persönlichen Verkehr mit Mitgliedern aller Parteien: jeden Standpunkt vermochte er zu verstehen, auf jeden in gewandtester Weise einzugehen, um überall Verständniß für die entscheidenden Fragen und Aufgaben zu wecken. Unter der schmählichen Mißachtung, die die Mehrheit der Versammlung bis in die Herbsttage des Jahres 48 Preußen gegenüber an den Tag legte, hat er mehr als irgend ein Anderer gelitten, die Krisen, welche die Bewegung in Deutschland durchlief, welche die Versammlung zu bestehen hatte, zogen ihn in fieberhafte Mitleidenschaft und ließen ihn nur den spärlichsten Schlaf finden. Aber sein klarer Verstand, sein Heller Blick, seine sichere Empfindung für die praktischen Möglichkeiten

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blieben unbeirrt. Niemals war er auch nur einen Augenblick, auch in den schwersten Alternativen, wie in der Frage über Annahme oder Ablehnung des einseitig von Preußen zu Malmoe geschlossenen Waffenstillstandes, zweifelhaft, auf welche Seite er zu treten habe, auf welcher der reale Schwerpunkt liege. Beim Herannahen der Entscheidung der Oberhauptsfrage quälte ihn vor Anderen die Ungewißheit über die Aufnahme, welche die Entscheidung für Preußen in Berlin finden würde: er verdoppelte seine Thätigkeit persönlicher Bearbeitung der Mitglieder, er eilte selbst nach Berlin, das Terrain hier zu sondiren. Nachdem die Ablehnung König Friedrich Wilhelms IV. erfolgt war, nachdem dann auch die Erklärung der 28 Mittel- und Kleinstaaten keine Aendemng dieser Haltung in Berlin herbeiführte, stimmte Droysen nachdrücklich für den Austritt des rechten Centrums: ohne Preußen gebe es kein Deutschland, auf revolutionärem Wege gegen Preußen vorzugehen oder dazu zu rathen könne keine andere Folge haben, als dessen Regierung vollends in Rußlands und Oesterreichs Arme zu treiben. Sehr entschieden erklärte er sich gegen die Zusammenkunft der erbkaiserlichen Partei in Gotha. Das Unberufene dieses Schrittes widerstrebte ihm. Preußen habe verschmäht, die Wege der Reichsversammlung zu betreten, aus seine Hand das Dreikönigsbündniß geschlossen, nun sei es an ihm seine Sache durchzuführen, auch der eifrigste Patriot sei nicht verpflichtet, unter jeder Bedingung zu fechten. Wenn Die, welche in Gotha zusammentraten, mit ihrer Erklärung Preußen auf dem Wege des Dreikönigsbündnisses fest zu halten gedachten: ihm schien dringender, den Staatslenkern in Berlin zu zeigen, was für Preußen und die Monarchie auf dein Spiele stehe, wenn sie sich nicht zur That aufrafften. I n einem Flugblatte „Preußen und das System der Großmächte" führte er, während die Republik in Baden gebot, Süd- und Mitteldeutschland gährten, mit scharfen Strichen aus: die deutsche Frage sei Machtfrage und zwar die Machtfrage für Preußen; die Beseitigung der Ohnmacht, die der westfälische Friede auf Deutschland gelegt, zu der der Wiener Congreß Deutschland vemrtheilt, sei die Aufgabe und deren Lösung zugleich Sicherung des monarchischen Prinzips.

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Das Geschick der Herzogtümer nahm unmittelbar darauf seine ganze Sorge in Anspruch. Dem Ablaufe jenes Stillstandes von Malmoe waren die Treffen von Eckernförde, Kolding und Fridericia, der Vormarsch der deutschen Truppen bis nach Aarhus gefolgt; ein zweiter Waffenstillstand, unter englischer Vermittelung am 10. Juli 1849 zwischen Preußen und Dänemark geschloffen, beendete den erneuten Kampf; er stellte Nordschleswig unter die gemeinsame Verwaltung Dänemarks, Preußens und Englands. Mit dem Stillstande zugleich waren Präliminarien des Friedens gezeichnet worden, welche zwar die Unabhängigkeit Schleswigs von Dänemark, damit aber zugleich Schleswigs Trennung von Holstein, den engeren Anschluß Holsteins an Deutschland feststellten. I n einem an den vormaligen Vertreter Holsteins am Bundestage, den Baron Pechlin, gerichteten Sendschreiben (Herbst 1849) wies Droysen nach, daß diese Friedensbasis für die Herzogthümer schlechthin unannehmbar, für Dänemark selbst unvortheilhast sei, daß deren Durchführung die Ruhe Europa's früher oder später gefährden müsse. Rastlos arbeitete er weiter in der Presse, Preußen an die einmal übernommenen Pflichten zu erinnern, die öffentliche Meinung in Deutschland über die Unausführbarkeit dieser von England diktirten Friedensgrundlagen aufzuklären. Die Unterhandlungen, welche die Statthalterschaft vor Ablauf des Waffenstillstandes direkt in Kopenhagen eröffnete, führten zu keinem Ergebniß. Als im März des nächsten Jahres die von Preußen berufene Vertretung des engeren deutschen Bundes zu Erfurt zusammenkam, ging Droysen hierher, nicht auf ein Mandat hin — der Eintritt Holsteins in den engeren Bund war ja nicht vorgesehen —, um sich über die Aussichten für Preußens Beständigkeit und Energie in der Durchführung des engeren Bundes zu vergewissern. Von Preußens Haltung in der Hauptfrage hing auch das Geschick der Herzogthümer ab. Wie einsichtig, maßvoll und rasch die Versammlung ihre Aufgabe löste, für Preußens Entschlossenheit vermochte er geringen, in Wahrheit gar keinen Trost nach Kiel heimzubringen. Die Herzogthümer waren Dänemark gegenüber auf ihre eigenen Kräfte angewiesen und eine unglückliche Wahl hatte

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den Theoretiker Willisen an die Spitze ihrer Armee gestellt. Die Schlacht von Jdstedt ging verloren und Willisens ferneres Verhalten, sein ausgesprochener Wille, sich auf Rendsburg und die Vertheidigung Holsteins zu beschränken, schloffen jede Hoffnung auf eine Wendung des Waffenglückes aus. Eine starke russische Flotte legte sich vor die Kieler Bucht. Jeden Augenblick war das Einschreiten der Großmächte, ihre Intervention zu Gunsten Dänemarks zu erwarten. I n diesen trüben Tagen der Ablehnung der Kaiserkrone, der Mattherzigkeit der Unionspolitik, der Preisgebung der Herzogthüiner, ohnmächtiger Haltung Preußens, ist Droysen der tapfere Gedanke gekommen, Preußens Volk und Heer, vor Allem seine leitenden Männer an die alte Energie zu erinnern, die den S t a a t vordem gegründet und aus den schwersten Katastrophen wieder aufgerichtet; an einem leuchtenden Beispiel dienstlicher wie patriotischer, mit jener Selbstständigkeit, die allein zu retten vermag, verbundener Pflichttreue, wollte er die Kräfte zeigen, an welche Preußen von Neuem zu appelliren habe, um sein altes Selbst nicht zu verlieren. Gerade in den Tagen, wo Preußen zu Olmütz das Gewehr vor Oesterreich streckte, die Unionsverfassung unter schwächlichen! Vorbehalt, die Herzogthttmer vollständig fallen ließ, vollendete Droysen die Handschrift zum ersten Bande seines Aork. Es war ein mustergiltiges Lebensbild, das Droysen mit diesem Werke schuf, ein Vorbild biographischer Darstellung. I n markiger Kraft treten die Charakterzüge des Helden hervor; die Zeichnung des Hintergrundes, von dem sie sich abheben, der Lagen, die die Aktion des Helden bedingen, ist knapp und doch von scharfer Deutlichkeit. Der Realismus und die Wahrhaftigkeit der gesammten Darstellung verschmähen, dem Helden beizulegen, was ihm nicht zukommt, seine Züge zu verschönern; indem diese vielmehr in ihrer ganzen Einseitigkeit, Schärfe und Schroffheit heraustreten, kommt die Wucht und die Berechtigung der Motive, welche seine Entschlüsse bestimmen, um so ausdrucksvoller zur Geltung. Aorks Leben ist mehr als eine schriftstellerische Leistung. Die patriotische Absicht, in der es entworfen und geschrieben war, wurde

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erreicht. Die Triebkräfte, welche es beleben sollte, hat es belebt. Die deutsche Armee empfand und empfindet noch heut dankbar, daß ihr in dem eisernen Helden des Muthes, der Treue, des besonnensten, kaltblütigsten Wagens der Kern ihres Wesens, ihrer moralischen Kraft vergegenwärtigt worden ist, und die bürgerlichen Kreise, denen langer Nichtgebrauch und halber Gebrauch der Waffen Vertrauen und Glauben an die Armee verdunkelt hatten, haben unter dem Eindrucke dieses Buches begonnen, achtungsvoller von der I n stitution zu denken, welche Preußens Fürsten zum Heile Deutschlands geschaffen haben. Mit der Auslieferung der Herzogthümer an Dänemark war das Verbleiben eines ihrer eifrigsten Vorkämpfer an der Kieler Hochschule unvereinbar. Dankbar begrüßte Droysen den Ruf, der ihm Zuflucht und eine neue Stätte der Wirksamkeit in Jena bot. Glückliche Jahre freien und freudigen Schaffens, die Zeit des jugendfrischen nationalen Aufschwungs hatte Droysen in Kiel erlebt. Danach waren die Tage schmerzlichen Scheiterns, traurigen Unterliegens gekommen; auch seinem Hause waren hier Helles Licht und tiefe Schatten befchieden worden. Die schöne, sinnige, edle Frau, die er in früher Jugendliebe erkoren, die er mit Innigkeit, mit dem Feuer seines männlichen Herzens umfaßte, an deren Seite er volles Glück gefunden, war ihm entrissen worden. Zwei Jahre darauf (im Juli 1849) hatte er seinen Kindern die Pflege der Mutter, seinem verwaisten Herde eine Haussrau wiedergegeben. Art und Sinn ihres Gatten auch in den feinsten Zügen zu verstehen, zuvorkommend zu errathen, seine volle Kraft seinen Forschungen und Arbeiten frei zu halten, den Knaben zu wehren und die Mädchen zu lehren, sich selbst in bescheidener Frauenweise zurückzuhalten und doch den lebhaftesten Antheil an den Studien des Mannes zu nehmen — darin hätte keine andere Frau Emma Michaelis, nunmehr Emma Droysen, übertreffen können. I n Jena richtete Droysen sein Augenmerk von vorn herein daraus, dem historischen Studium solidere Grundlagen zu schaffen. Bei dem größeren Kreise der Studirenden, der ihn hier umgab.

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hatte er Aussicht, was er in Kiel begonnen, dauernd und mit Erfolg ins Werk zu richten: Vorbereitung und Einführung in die historische Forschung mittels regelmäßiger historischer Uebungen. Seinen Vorlesungen sollte dadurch kein Eintrag geschehen, denen aber, welche tiefer einzudringen gedachten, der Weg geöffnet und gewiesen werden. Den Vorlesungen über alte, neuere und neueste Geschichte, — die neuere Geschichte umfaßte die Zeit von der Reformation bis zur Revolution — über die Geschichte des Revolutionszeitalters und die Geschichte von 1815 bis auf die Gegenwart — fügte er Collegien über Preußische Geschichte, über Encyklopaedie und Methodologie der historischen Wissenschaften hinzu. I n dem historischen Seminar, das er gründete, wurden Gegenstände der alten Geschichte von dm homerischen Gedichten bis zum Aristophanes, bis zum Hennakopidenproceß und zum lamischen Kriege hin behandelt, Fragen aus der Geschichte des Mittelalters, insbesondere aber aus dem fünfzehnten Jahrhundert, dann aus dein Zeitalter der Reformation bis in das siebzehnte Jahrhundert hinein erörtert; aus der neueren Geschichte wurden die agrarischen Zustände Frankreichs vor dem Ausbruche der Revolution in eingehender und anregender Weise untersucht. Wenn Droysens Beziehungen zu den College« in Jena nicht zu der Innigkeit und Wärme gediehen, die sie unter begünstigenden Verhältnissen so rasch in Kiel gewonnen hatten, — die Universität Jena hat ihm einen höchst dankbaren Boden geboten und seine Arbeit hier hat gute Früchte getragm. Seine Vorlesungen wirkten anziehend über den Kreis der Studirenden hinaus, aus der stattlichen Zahl der Theilnehmer an seinem Seminar sind tüchtige Archivare und Historiker hervorgegangen. Hier in Jena hat Droysen mit dem Beginn seiner Vorlesungen über preußische Geschichte den Gedanken zu dem Werke gefaßt, das fortan, vom Jahre 1852 ab, seine vornehmste Lebensarbeit werden sollte, den Gedanken zu seiner Geschichte des preußischen Staats. Er entsprang derselben Quelle, welche der Biographie Dorks den Ursprung gegeben. Der preußische S t a a t schien seine Aufgabe vergessen zu haben. Diese dem preußi-

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schen Volke und dessen Leitern im Spiegel seiner Geschichte vorzuhalten, das war der Gedanke, der Droysen zur Uebernahme dieser gewaltigen Aufgabe getrieben hat. Die Tradition, in der er aufgewachsen war, das lebendige Preußenthum seines Herzens, die Ueberzeugung des politischen Mannes und die Ergebnisse seiner historischen Anschauung und Forschung hatten gleichmäßigen Antheil an diesem Entschluß. Er wußte wohl, daß dem Historiker seiner Begabung andere Vorwürfe zur Wahl standen, die mit unvergleichlich geringerem Kraftaufwands die Wissenschaft fördern und ihrem Verfasser Ehren eintragen mochten; er kannte keinen, dessen eindringliche Durchführung Preußen und Deutschland bessere Frucht tragen könne. Die Aufgabe war riesenhaft, denn nicht in der Weise eines raschen Ueberblicks unter Betonung der Hauptmomente, nicht als eine Tendenzschrift, in der der Zweck die Fassung und Färbung der Theile von vornherein festgestellt hat, nicht durch Verwerthung und Zusammenfassung des geläufigen Materials, der vorhandenen Ergebnisse sollte sie gelöst werden — eine Entwickelung von sieben Jahrhunderten sollte sowohl in ihren Grundlagen als in ihrem Aufbau, in allen ihren Wandlungen und Umgestaltungen aus den Quellen erforscht und nach deren Zeugniß und nur «ach diesem dargestellt werden. Nichts sollte in sie hineingetrageil werden, aus ihren genuinen Urkunden sollte die Geschichte Preußens erstehen; die Standpunkte, die Tendenzen, welche die maßgebenden Personen beherrscht, die Strömungen, welche sie getrieben, sollteil durch ihre eigenen Thaten und Worte in ihren Motiveil ans Licht treten. Nur das E i n e stand Droysen von vorn herein fest: gelang es, die rastlose Arbeit zur Anschauung zu bringen, welche die Hohenzollern unter Wiederaufnahme der Tendenzen der Askanier vor und nach dem Zeitalter der Reformation gethan, so mußte der damit gegebene Eindruck überzeugen, daß dies Fürstenthum, daß der von ihm geschulte Theil des deutschen Volkes den Kern des deutschen Staates zu bilden bestimmt und gerüstet sei, daß hier und hier allein der Punkt gegeben sei, von dem aus das Landesfürstenthum sich zum Reichsfürstenthum zu erweitern und zu ergänzen habe. „Forschend die Geschichte

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Preußens zu verstehe»", so hat er selbst seine Aufgabe formnlirt. Er verbarg sich den kaum zu bewältigenden Umfang derselben nicht. Um die Lösung möglicher zu machen, beschloß er, sich auf die Geschichte der preußischen Politik d. h. auf die der Organisation des Staats und seiner Beziehungen nach Außen zu beschränken. Seine rastlose Arbeit erreichte, daß die beiden ersten Bände, die die Geschichte Brandenburgs bis zur Reformationszeit führen, 1855 und 1857 erscheinen konnten. Nach seiner eingehenden Darstellung der Verfassung der Marken, der Bedeutung der Okkupationen östlich der Elbe, des Charakters dieser Koloniallande, welchen weiterhin die Schilderungen der analogen Verhältnisse Ostpreußens und Schlesiens folgen sollten, erhellt sofort, wie Droysen seine Aufgabe gefaßt hat; er führt den Leser mitten in die Kämpfe der Reichspolitik, in die Parteiung der großen Koncilien, in die Hussitenkriege und die von Osten her dem deutschen Reich drohenden Gefahren. Die Hohenzollern des fünfzehnten Jahrhunderts sind reichstreu, sie arbeiten für das Reich und für die Besserung seiner Verfassung. An dem Scheitern der Kirchenresorm, der Reichsreforinen, die die Kurfürsteneinigung und das Reichsregiment von 1427, die Kreisordnung von 1438 vergebens versuchten —, Kurfürst Friedrich I. hatte sich in loyalster und hingebendster Weise an diesen betheiligt — ; an dem Zurückgreisen der Reichsstände von den Luxemburgern auf das österreichische Herzoghaus für die Kaiserwürde; an dem Scheitern der späteren, auf das gleiche Ziel in der zweiten Hälfte des fünfzehnten und in den ersten Decennien des sechszehnten Jahrhunderts gerichteten Reformversuche zeigt Droysen, daß auf dem Wege der Reichsverfassung Besserung der Reichsregierung, nationale Einigung nicht zu erreichen standen. I n die Reformversuche des fünfzehnten Jahrhunderts ist Droysen so tief eingedrungen, daß seine Ergebnisse der deutschen Rechts- und Reichsgeschichte hier zu wesentlicher Förderung gereicht haben. Die Schilderung der Herstellung der Ordnung, welche die ersten Hohenzollern den tief zerrütteten Marken brachten, des verständigen, auf die Sammlung von Machtmitteln bedachten Waltens Albrechts

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Achilles, das Droysen zuerst aus archivalischen Quellen in das richtige Licht stellte, die Zeichnung der Stellung der Hohenzollern im fünfzehnten Jahrhundert, dem Reiche dienend und des Reiches Marken schützend, geben diesen beiden Bänden Schwerpunkt und Abschluß. I m Sommer 1859 nach Berlin berufen, betrat Droysen die Stätte wieder, von welcher er sich vor zwanzig Jahren so schwer losgerissen, er betrat sie um so freudiger, als seine Berufung mit einer verheißungsvollen Wendung der preußischen Staatsleitung zusammenfiel und er nun den echtesten Quellen der preußischen Geschichte nahe kam. I n der vollen Kraft des Lebens, in ernsten und schweren politischen Kämpfen geschult, in Forschung und Lehre zur Vollreife seiner Gaben und seines Wissens gelangt, gedachte er hier auszuführen, was er in Jena begonnen. Die historischen Uebungen setzte er ununterbrochen fort, die alte Geschichte trat nunmehr in denselben in den Hintergrund: es waren Untersuchungen und Erörterungen aus der Geschichte des fünfzehnten Jahrhunderts, an denen er in Berlin die Seminaristen zu schulen begann, stätig fortschreitend, ging er gründlich, sehr allmählich zum sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert über, — die allgemeinen politischen Fragen blieben neben den speciellen nicht unerörtert — vom siebzehnten endlich zum achtzehnten Jahrhundert; die Aufgaben des letzten Semesters erreichen die Mitte desselben. Den Kreis seiner Vorlesungen, den er in Jena festgestellt, erweiterte er dahin, daß er bie alte Geschichte in zwei Vorlesungen zerlegte, in die des alten Orients und des klassischen Alterthums; daß er die neuere Geschichte ebenfalls in zwei Theile ordnete: zuerst wurde das Resormationsalter bis zum Schluß des dreißigjährigen Krieges vorgetragen, dem dann eine besondere Vorlesung über die zwischen dem westfälischen Frieden und dem Ausbruch der Revolution liegende Periode folgte. Neben diesen Vorträgen der großen Geschichtsabschnitte las er regelmäßig preußische Geschichte, Methodologie und Encyclopaedie der Geschichte, zuweilen Quellenkunde der neueren Geschichte; in jedem Semester hielt er neben dem Seminar zwei Privatvorlesungen. Er erachtete, daß die Universitäten nicht aus-

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schließlich der Wissenschaft zu diene«, daß sie nicht minder dem Staate für dessen Dienst tüchtige Beamte und Lehrer zu bilden hätten; den Letzteren müßten die großen Zusammenhänge, die bewegenden Kräfte der Geschichte, die materiellen Bedingungen und Hemmungen der historischen Aktion vorgeführt werden, damit sie dieser ihrer Kunde dann entnehmen könnten, was dem Fassungsvermögen der Schüler entspreche. Seine weitere Lebensarbeit hatte er sich in der Fortführung der Geschichte der preußischen Politik gestellt. Die ersten Bände waren die Vorrede. Er hatte mit ihnen das Ergebniß gewonnen, daß alle Bemühungen der Hohenzollern um die Reform des Staats und der Kirche im fünfzehnten Jahrhundert vergeblich geblieben, daß auf diesem Wege kein Heil zu finden war. Das sechszehnte Jahrhundert durfte er rascher durchschreiten. Die Politik der Joachim ließ Brandenburg in der Vertretung des Evangeliums weit hinter dem sächsischen, dem hessischen, dem pfälzischen Hause zurück. Gleichsam um sich für dieses Zurückstehen schadlos zu halten, gab Droysen die Bedeutung der großen Bewegung der Reformation in scharfen Umrissen, die Gestalt ihres gewaltigen Urhebers in markiger lebensvoller Charakterisirung und betonte die glückliche Wendung lebhaft, welche Johann Sigismund endlich der Politik seines Hauses dadurch giebt, daß er der Erstarrung des orthodoxen Lutherthums gegenüber zum Calvinismus hinübertritt, daß er am Rhein und in Ostpreußen Fuß faßt und der wachsenden Macht der Stände Einhalt thut. Die Geschichte der Neugründung Brandenburgs, die Gründung der Staatsmacht Brandenburg-Preußen, d. h. die Regierung des Großen Kurfürsten, konnte Droysen nun hier in Berlin vollständig aus den Quellen d. h. aus den Akten des geheimen Staatsarchivs, des Düsseldorfer und Königsberger Archivs bearbeiten. Die Geschichte der preußischen Politik unter dem Großen Kurfürsten ist unverständlich ohne die der europäischen Politik seiner Zeit. Die kaum zu bewältigende Aufgabe, aus der fast unabsehbaren Masse des breitesten Aktenmaterials selbst die volle Kunde der Situationen und Abwandlungen, die entscheidenden

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Motive herauszulösen, führte Droysen in den ersten fünf Jahren seines Berliner Aufenthaltes zum Ziele; und noch bevor er dies erreicht, hatte er zu bewirken gewußt, daß auf Veranlassung des Kronprinzen die bedeutsameren der Aktenstücke, die er schon durchmustert, dem Drucke übergeben wurden, um dies überreiche Material, das durch die bezüglichen Urkunden der Archive von Paris, Stockholm, im Haag und Wien vervollständigt werden sollte, der Forschung zugänglich und seinen Nachfolgern auf diese Weise die Arbeit leichter zu machen. Diese Publikation, welche er selbst mit Duncker und von Mörner, an dessen Stelle danach Paul Hassel und Holtze traten, leitete, gelangte bis zum Jahr 1884 zu zehn starken Bänden. Unwiderlegbar konnte Droysen in der Geschichte des Kurfürsteil Friedrich Wilhelm einleuchtend machen, daß die deutsche Nation rettungslos dem Untergange, d. h. der Theilung zwischen Frankreich und Oesterreich, den Niederlanden, Dänemark, Schweden und Polen verfallen wäre ohne die Neugründung Brandenburg-Preußens, daß der Besiegelung des Unterganges des alten Reichs im Frieden zu Münster der Anfang des neuen Reichs auf dem Fuße gefolgt ist. Dieser Anfang, der erste Halt auf dem Wege des Verderbens, war damit gewonnen, daß ein Staatsverband erstand, der das Evangelium in Deutschland aus eigner Kraft zu schützen vermochte, der dazu gelangte, Schweden und Polen abzuweisen und zurückzuwerfen, Frankreichs Vordringen im Verein mit den Niederlanden und Oesterreich Halt zu gebieten. Diesem Gegensatze England zu gewinnen, darauf zielten die letzten Anstrengungen und Gedanken Friedrich Wilhelms. Und in wie heißer Arbeit und mühseligster Ausdauer waren diese Erfolge im Reiche und gegen das Ausland erreicht, in wie schwerem Kampfe war die Begründung einer Armee und einer geordneten Finanz, einer Centralgewalt über die Territorien, die den jungen Staat bildeten, war die Parität der Confessionen der hartnäckigen Renitenz der Stände abgerungen worden! Gestalt und Thaten des Nachfolgers des großen Kurfürsten D u n c k e r , Abhandl. a. d. n. Gesch.

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gewannen Droysen kein lebhafteres Interesse ab. Was für Kunst und Wissenschaft unter dieser Negierung geschah, fiel nicht in seine Aufgabe. D a s Jntrignenspiel am Hofe widerte ihn an, der Dienst für Oesterreich um die Erwerbung der Krone war seinem preußischen Herzen kränkend. Nach Droysens Meinung wäre richtig gewesen, daß Preußen sich damals von den westlichen Dingen möglichst fern hielt, um im Nordosten, im nordischen Kriege seine Stellung zu nehmen und seinen Vortheil zu suchen, wenn er auch nicht verkannte, daß der Widerstand gegen Ludwig XIV. und die Universalmonarchie doch von nationaler Bedeutung, daß die Festigkeit und Schulung, welche die preußische Armee in diesem Kriege erhielt, von erheblichem Gewinn für den Staat war. Mit vollerem Antheil des Herzens hat Droysen die Geschichte des Nachfolgers, die Geschichte Friedrich Wilhelms I. den Quellen abgewonnen, aus den Nebeln der Ueberlieferung gelöst. Er zuerst ist dem Gründer der preußischen Verwaltung gerecht geworden, dem Gründer der preußischen Zucht, der den störrigen Adel in den Dienst des Staats gestellt, der die Aristokratie des Dienstes zur führenden Klasse des S t a a t s gemacht und durch sein persönliches Verhältniß zur Armee dieser die unerschütterliche Grundlage gegeben hat, auf der sie heute noch ruht; der den Bauern schützte, für prompte Justiz sorgte und ein Wirthschaftssystem erfand, in dem jedem Stande sein Wirkungskreis für das Gemeinwohl zugewiesen wurde. D a ß der gesunde S i n n , der einfache Verstand, der diesen König zu „seiner Verfassung" führte, auch den Zielen und der Zurückhaltung seiner auswärtigen Politik — trotz mancher Täuschung und manchen Mißgriffs — nicht fehlten, hat Droysen zuerst erwiesen; in dem vielbesprochenen Verhältniß von Vater und S o h n das Licht und den Schatten gerechter vertheilt zu habe», ist ebenfalls Droyfens Verdienst. Die drei folgenden Bände, welche die Geschichte der preußischen Politik vom Jahre 1740 bis zum Jahre 1748 führen, haben Anfechtung erfahre». Fand man bereits die Charakteristik der Regierung Friedrich Wilhelms I. zu breit, fo wurde dieser Tadel

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nun noch lauter. Weshalb alle Ansätze, die nicht zum Ziele führen, alle Wechsel der politischen Lage, alle Situationen, die sich zur Krisis zuzuspitzen drohen, vorführen; wie kaun der Verfasser — so scheine es doch fast durchweg — der preußischen Politik immer Recht geben, sie immer auf dem besten Wege finden, den Gegner niemals; verträgt sich solche Einseitigkeit mit der Objektivität des historischen Urtheils, und darf denn das preußische Staatsarchiv allein Quelle und Unterlage sein, bedürfen dessen Akten nicht der Correctur und Ergänzung durch die gegnerischen Archive ? Droysen hätte hierauf geantwortet: die Herstellung der Geschichte Preußens aus den Staatsakten übersteigt schier Kraft und Lebensdauer eines Mannes — wie hätte ich auch noch die der Gegner erforschen sollen? Hätte ich diese aber auch benutzen können — ich hätte mich dessen enthalten. Ich schreibe die Geschichte der preußischen, nicht der europäischen Politik und sitze nicht auf dein höchsten Richterstuhl. Meine Aufgabe ist, die preußische Politik vou dem Standpunkte derer aus zu zeige», die sie führten, deren Auffassung der Lagen und deren Motive kenntlich zu machen. Und wenn ich die Gefahren, die sich zusammenziehen und wieder zerstreuen, die Anstrengungen die nicht zum Ziele führten, nicht bei Seite lege, so geschieht es, weil ich zu zeigen habe, wie unablässige Hindernisse von allen Seiten die preußische Politik umdrängten, wie zahlreich die Gegner waren, wie unermüdlich geschäftig ihr Haß, wie stark und unverantwortlich ihre Mittel; — mit einein Worte die harte Arbeit, welche in Preußen geleistet worden, mit der gesammten Friktion, die sie zu überwinden hatte, soll zu ihrem Rechte und ihrer Wirkung kommen; und wenn dieser Anblick vielen nicht erhebend oder wenig pikant erscheinen mag, wenigstens denen darf er nicht erspart bleibe«?, die sich nach mir mit preußischer Geschichte beschäftigen. Wenn man Droysens Talent historischer Darstellung in diesen letzten Bänden der preußischen Politik nicht auf der Höhe finden will, so muß man erwägen, daß es hier vorerst galt, Schätze zu ergraben, die Polirung derselben mußte ausgesetzt bleibe»; und 25»

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wenn er auf eindrucksvollere Charakteristik der Personeil und Tendenzen verzichtet hat, so ist es geschehen, um ihren Werken und Thaten selbst das Wort zu lassen. Man hat ferner in diesen Bänden leitende Ideen vermißt. Wer über eine solche Fülle von Gesichtspunkten, solchen Reichthum an zutreffenden Anschauungen, über eine Beweglichkeit der Reflexion gebot, wie Droysen sie in seinem viel zu wenig beachteten Grundriß der Historik niedergelegt hat, dem konnten Ideen auch in der Darstellung der preußischen Geschichte nicht fehlen, wenn er für richtig hielt, solche in den Vordergrund zu stellen. Aber seine preußische Politik sollte keine abgerundete historische Darstellung sein, sie sollte viel mehr Fundgrube als Kunstwerk sein. Ungeachtet dieser dominirenden Tendenz lassen die einleitenden Ueberblicke der Gesammtlagen, der Zustände des deutscheil Reichs, der Bewegungeil der Reformation leitende Ideen keineswegs vermissen, noch weiliger die Charakteristik der neuen Tendenzen, der geistigen Strömungen, der wirthschaftlichen Bewegungen im Beginn der Regierung Friedrichs II. Andere haben wohl gemeint, daß die historische Kritik bei Droysen nicht zu vollem Rechte gekommen sei. Gewiß hat in Droysens ersten historischen Arbeiten der Trieb der Reproduktion, der Gestaltung überwogen. Aber in seiner Anlage war der Scharfsinn nicht weniger vertreten als die Phantasie. Verwickelte Fragen reizten ihn eher, als daß er ihnen aus dem Wege gegangen wäre. Seine Untersuchungen über den Proceß der Hermakopiden, über die Zeit der Nemeen, die Quellen der Geschichte Alexanders, die Armee Alexanders, über das Münzwesen Athens und die Münzen des ersten Dionysios, seine maßgebende Abhandlung über die Strategen Athens, die zuerst die Bedeutung des Strategenamtes klar stellte, sind mit musterhafter Strenge und Sauberkeit geführt. Durchschlagender noch, ja hier und da bahnbrechend ist der Ertrag seiner kritischen Arbeiten für die Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts: es genügt, an die Abhandlung zur Kritik Pufendorfs, über die Schlacht von Warschau, über das Testament des großeil Kurfürsten, über das Stralendorff'sche Gutachten, über die Memoiren der Markgräfin von Baireuth

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und die Memoiren von Pöllnitz, über die Wiener Allianz von 1719, den Nymphenburger Vertrag von 1741 und die Schlacht von Chotusitz zu erinnern. Droysen war zum Lehrer geboren und hatte von früh auf diesen Beruf geübt. Wie auf dem Katheder, so wirkte er ununterbrochen, mit und ohne Absicht anregend und fördemd im Verkehr mit der Jugend, im Verkehr mit den Seinen, im Freundeskreise. Nicht nur die Lebendigkeit und feste Bestimmtheit seiner Geistesart begünstigte seine pädagogische Arbeit. Seine straffe, elastische Haltung, die ihm bis in späte Jahre eigen blieb, seine Züge, welche die Spannung des Willens verriethen, wenn sie nicht durch ein freundliches, zuweilen schelmisches Lächeln sich belebten, sein eindringender Blick imponirte der Jugend und weckte zugleich ihre Sympathie. Sie empfand etwas von der sorglichen Liebe, die er für sie im Herzen trug, sie empfand, daß er ihren Sinn und Blick emporhob, daß nur solide Tüchtigkeit gewiß war, seine Anerkennung und sein Lob zu finden. Noch heut wisse» seine vormaligen Schüler des grauen Klosters von diesen Eindrücken seiner Lehrstunden zu erzählen. Seine Vorträge im Colleg waren weder pedantisch steif noch auf rednerischen Erfolg gestellt. Es waren Mittheilungen des Eingeweihten an die Einzuweihenden, denen sachliche Accente Nachdruck gaben, deren Wirkung durch die Herrschaft des Lehrers über das Gebiet des Vortrags, durch den gehobenen Ernst der Ueberzeugung verstärkt wurde. I n seinem Seminar war er freundlich beurtheilend bemüht, redliches Streben zu ermuthigen, die besondere Begabung zu erkennen und auf den ihr gemäßen Weg zu bringen, das Urtheil herauszulocken. Diese Samstag-Abende wirkten so anregend und erregend auf die Theilnehmer derselben, daß sie, nachdem die Diskussion meist von sechs bis zehn Uhr gewährt, noch stundenlang in der Nacht bei einander blieben, die Eindrücke, welche sie empfangen hatten, mit einander auszutauschen, die Winke und Andeutungen, die ihnen geworden, sich klar zu machen und zu verarbeiten. S o freundlich und nachsichtig er bedacht war, schlummernde Kräfte zu wecken, so streng und scharf konnte er in den

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Prüfungen sein, wo es ihm galt, die kommenden Generationen vor unsicher und falsch gerichteten Lehrern zu bewahren. Ueber hundert Semester hindurch hat Droysen mit nie erkaltendem Feuer seine Vorlesungen gehalten. Die letzten Ferien, die er erlebt hat, verwendete er auf die Vorbereitung zum nächsten Semester: die Reihe war an das Zeitalter der Reformation gekommen; die Angriffe^ welche Jansen gegen Luthers Leben und Lehrei? gerichtet, die Karrikatur, die dieser gezeichnet, wollte er Strich fiir Strich widerlegen^ die Differenz Luthers und Zwingli's über die Abendmahlslehre aus den Quellen erörtern. Seit der Berufung nach Berlin hat Droysen an der Politik des Tages sich nicht mehr in eingehender Weise betheiligt, wie lebhaften Antheil er an der Wendung nahm, die mit der Regentschaft eintrat, wie gespannt und sorgenvoll er die Kämpfe um die Durchführung der Armeereorganisation, in seinen Augen eine f ü r die Zukunft Preußens und Deutschlands entscheidende Frage, begleitete. Danach war ihm beschieden, nicht nur die Erfüllung dessen, wofür er in Kiel so eifrig gefochten, den Wiedergewiim Schleswig-Holsteins für Deutschland, sondern auch den Traun» seiner Jugend, das Ziel der Arbeit seiner Mannesjahre, die Krönung seiner auf Preußen gerichteten Hoffnungen, die Wiedergeburt Deutschlands zn erleben. Mit welcher nie versiegenden Freude sah er den Schlußakt seiner Geschichte der preußischen Politik sich vorweg vollziehen! I n die Praxis eingegriffen hat Droysen nur noch in Fragen, die seine Stellung als akademischer Lehrer näher berührten, gesprochen hat er in solchen nur, wenn er amtlich veranlaßt war, nicht für das Publikum, nur für die Akten: über die Stellung der Gymnasien und Realschulen, die Zulassung der Schüler der letzteren zum akademischen Studium, die Wege der Vorbereitung für den Lehrerstand. Die Behauptung, Droysen habe nach seiner Uebersiedelung nach Berlin einen Ministerposten erstrebt, beruht auf freier Erfindung und vollster Unkenntniß von Droyfens Sinn und Charakter. Niemand trachtete weniger nach äußeren Ehren. Die Ernennung

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Zum Historiographen des Hauses Brandenburg war ihm willkommen, weil sie die Anerkennung und Bezeichnung einer Thatsache aussprach. Die ihm gebotene Verleihung des Charakters eines geheimeil Re-gierungsrathes lehnte er ab. Schlicht und genügsam in allen seinen Bedürfnissen, hielt er auch in seinem Hause, in seiner Umgebung auf Einfachheit und Bescheidenheit. Seine durchaus auf die Sache, auf strikte Pflichterfüllung gerichtete Art, die feste Zucht, in der er sein weiches und erregbares Gemüth hielt, die maßvolle Haltung, die seinen Zorn über Eitelkeit, Thorheit und Verkehrtheit nie anders als in ruhigen Worten merkbar werden ließ, hat den wirksamsten Einfluß auf seine Umgebung und auf seine Schüler geübt und ihnen ein unvergeßliches Vorbild hinterlassen. I m August des Jahres 1881 wurde ihm nach langer, qualvoller Krankheit seine Frau entrissen. Mit ihr war die natürliche Fröhlichkeit seines Herzens dahin. Für die Vereinsamung des Hauses konnten ihm selbst die theils entfernten, theils durch die eigene Häuslichkeit gebundenen Kinder vollen Ersatz nicht bieten. Es fehlten seitdem die Momente des Aufathmens von der Arbeit, die, wie kurz er sie zu bemessen pflegte, ihn» doch jedes Mal wurden, wenn er aus der Werkstatt in das Zimmer seiner Frau trat. Einsam war er dennoch nicht. Stattlich waren die Hänser beider Söhne, beider Töchter erblüht, sein Blick erquickte sich an dem Spiel der jüngeren, an dem Gedeihen der älteren Enkel. Er verstand ihre Art und Anlage und war ein sorgsamer Berather für ihre Erziehung. Seine Söhne waren vordem seine Zuhörer gewesen, — jetzt sah er auch den ältesten Enkel unter diesen. Es war ein Leben aus einem Stahl und aus einem Gliß, das er geführt hat. Aus der festen Tradition des Vaterhauses und harter Jugend emporgewachsen, ist er den Gütern, die Motten lind Rost nicht fressen, stets zugewendet gebliebeil. Wie er Staat und Geschichte als die Umbildung des natürlich Gegebenen durch die ethischen Kräfte des Menschen, die Phasen der Geschichte als sittliche Gestaltungen faßte und diese Auffassung siegreich gegeil die Umdeutung, die Verflachnng des ethischen Processes zum Fortschritt

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der nützlichen Erfindungen und des wachsenden Geldeinkommens der Mehrzahl, gegen Buckle und Genossen vertheidigte — in so fester ethischer Fassung hat er selbst sein Leben geführt. Von reger Empfindung und Hellem Verstehen, hat er mitgelebt, was die wissenschaftliche, die politische Bewegung dieses Jahrhunderts hervorgebracht, hat er sich selbst seinen reichlichen Theil der Mitarbeit daran zugemessen. Aber unbeirrt von persönlichen Interessen, von Erfolg oder Mißerfolg ist er geschlossen seines Weges gegangen. Mit der vierten Auflage seines ersten Werkes, mit der Sichtung und Besserung der Uebersetzung des Aeschylos beschäftigt, von seiner Vorlesung über das Reformationszeitalter erfüllt, hatte er unlängst die Geschichte der preußischen Politik bis zum Ausbruch des siebenjährigen Krieges in der Handschrist geführt — die unter seiner Mitwirkung publicirte politische Correspondenz Friedrichs II. war bis zu demselben Punkt gebracht — als am 29. Mai die Reihe, den Vortrag in der Akadeinie zu halten, an ihn kam. I m Laufe des Winters war er einer Frage, die ihn schon früher beschäftigt, nachgegangen. König Friedrich II. hatte im Januar 1753 „drei Briefe an das Publikum" als Carnevalsfcherz auch in den Berliner Zeitungen veröffentlichen lassen. Es kam darauf an, die unter der Maske des Scherzes versteckte Absicht dieser Publikation zu ermitteln. Obwohl Droysen sich an jenem Tage schwach und angegriffen fühlte, unterließ er nicht, die geistvolle und scharfsinnige Untersuchung, die er hierüber angestellt, selbst vorzutragen; er that es mit der ihm eigenen Lebendigkeit, mit gehaltenem, nachdrücklichem Accent. Nach Ablauf der Pfingstferien riethen die Aerzte dringend ab, die Vorlesungen wieder aufzunehmen. Wie sein kranker Vater an den anstrengenden Sonntagen sich immer am wohlsten befand, so behauptete auch er, während des Vortrages sei ihm stets am besten zu Muth. Er wollte durchaus nicht weiche». Mit dem Könige, dessen Geschichte er schrieb, schien er zu meiueu: es ist nicht nöthig, daß ich lebe, aber es ist nöthig, daß ich meine Pflicht thue. Endlich gab er nach: „für dieses Semester." Acht Tage darauf war er nicht mehr.

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Seinen Ausgang hatte er seit Monaten und länger im Auge -gehabt. Vertraute Mittheilungen und Rathschläge an die Seineu, der Ausdruck treuer Sorge und väterlicher Liebe für Kinder und Enkel, die Feierabendstimmung, die ihn in dem stillen, blühenden Garten seiner ältesten Tochter in den Pfingsttagen erfüllte, gaben davon Zeugniß. Der fromme Sinn des Vaterhauses hat ihn durch sein Leben geleitet, und das Gottvertrauen, in welchem er durch die schwersten Tage geschritten, hat nicht nur in seiner Vorschrift, daß der neunzigste Psalm bei seiner Bestattung gelesen werden solle, Ausdruck gefunden. I n einem nach der Weise des Ambro sianischen Lobgesanges gedichteten Liede findet sich seine Zuversicht der Heimkehr in das Reich des Friedens und der Klarheit ausgesprochen, die Hoffnung, hier die Seinen wieder zu finden; er schließt mit den Worten: Fleisch und Gebein Senket in Grabesnacht ein; Ich leb' in sonnigen Weiten!

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