»Aber ich will nicht in diese Welt gehören...« - Beiträge zu einem konvivialen Denken nach Ivan Illich 9783839449035

In einer Welt, in der eine Krise nach der nächsten verkündet wird, verlockt das Denken des Sozialphilosophen Ivan Illich

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German Pages 256 Year 2019

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»Aber ich will nicht in diese Welt gehören...« - Beiträge zu einem konvivialen Denken nach Ivan Illich
 9783839449035

Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeber – Wie es zu diesem Buch kam
Human Armageddon
Aber ich will nicht in diese Welt gehören... Fragmente zu Ivan Illich
vergehen:alles
Taedium Vitae oder die Mündung der Existenz
Te chanter / Dich loben
Freundschaft als christliche Berufung – Zur Kultivierung einer aisthetischen Ethik der „Umsonstigkeit“
Human Armageddon
Ich will nicht! Bloßstellungen eines vogelfreien Undichters
anfang:vertan
Ivan Illich and the Vernacular
dreiecksgeschichte
Die Wanderung weg... weit weg der Weg
Der dich schlägt / Celui qui te frappe
Die „Ver-Schattung“ der Hausarbeit
vom tisch zum fenster zur tür
Demenz und Entfremdung
Infinitive / Des infinitifs
Human Armageddon
DD-Day
Human Armageddon
Flüchtigkeit
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Marianne Gronemeyer, Reimer Gronemeyer, Charlotte Jurk, Marcus Jurk, Manuel Pensé (Hg.) »Aber ich will nicht in diese Welt gehören...« – Beiträge zu einem konvivialen Denken nach Ivan Illich

Einzelveröffentlichungen Kulturwissenschaften

Marianne Gronemeyer (Prof. Dr.) war Professorin für Erziehungswissenschaft an der Fachhochschule Wiesbaden. Reimer Gronemeyer (Prof. Dr. Dr.) ist Theologe und Soziologe an der Universität Gießen. Charlotte Jurk (Dr.) ist Sozialarbeiterin und Sozialwissenschaftlerin an der Hochschule Ludwigshafen. Marcus Jurk ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lektor. Manuel Pensé ist Sozialarbeiter und Do-it-yourself-Spezialist.

Marianne Gronemeyer, Reimer Gronemeyer, Charlotte Jurk, Marcus Jurk, Manuel Pensé (Hg.)

»Aber ich will nicht in diese Welt gehören...« – Beiträge zu einem konvivialen Denken nach Ivan Illich

Gefördert durch die Stiftung Convivial

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Selbstporträt von Ivan Illich, zur Verfügung gestellt durch Julian Pörksen Redaktion, Korrektorat, Lektorat & Satz: textfriseur.org Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4903-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4903-5 https://doi.org/10.14361/9783839449035 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Charlotte Jurk: Vorwort der Herausgeber – Wie es zu diesem Buch kam | 7 Hans-Michael Kirstein: Human Armageddon | 12 Andreas Krebs: Aber ich will nicht in diese Welt gehören... Fragmente zu Ivan Illich | 15 Erika Kronabitter: vergehen:alles | 35 Norbert Loacker: Taedium Vitae oder die Mündung der Existenz | 37 Willibald Feinig: Te chanter / Dich loben | 54 Isabella Bruckner: Freundschaft als christliche Berufung – Zur Kultivierung einer aisthetischen Ethik der „Umsonstigkeit“ | 63 Hans-Michael Kirstein: Human Armageddon | 82 Franz Schandl: Ich will nicht! Bloßstellungen eines vogelfreien Undichters | 85 Erika Kronabitter: anfang:vertan | 99 Christophe Kotanyi: Ivan Illich and the Vernacular | 101

Erika Kronabitter: dreiecksgeschichte | 135 Andreas Decker: Die Wanderung weg... weit weg der Weg | 137 Willibald Feinig: Der dich schlägt / Celui qui te frappe | 162 Claudia von Werlhof: Die „Ver-Schattung“ der Hausarbeit | 165 Erika Kronabitter: vom tisch zum fenster zur tür | 183 Annemarie Bauersfeld: Demenz und Entfremdung | 185 Willibald Feinig: Infinitive / Des infinitifs | 204 Hans-Michael Kirstein: Human Armageddon | 206 Wolfgang Mörth: DD-Day | 209 Hans-Michael Kirstein: Human Armageddon | 228 Julian Pörksen: Flüchtigkeit | 231 Autorinnen und Autoren | 253

Vorwort der Herausgeber Wie es zu diesem Buch kam Charlotte Jurk

Die vorliegende Textsammlung verdankt sich den Einsendungen zu einem Preisausschreiben, das die Stiftung Convivial Anfang 2018 auf den Weg gebracht hat. Ivan Illich, der vielleicht radikalste Kulturkritiker der neueren Zeit, ist geistiger Gründervater der Stiftung Convivial. Den meisten Mitgliedern des Stiftungsrats ist er persönlich bekannt, war ihnen Lehrer und Freund. Mit der Gründung der Stiftung im Jahr 2012 wollten wir einerseits dabei helfen, das Denken Ivan Illichs bewahren, andererseits Menschen dazu ermutigen, in seinem Geist weiter zu denken. Und das nicht nur im Sinne akademischen Nach-Denkens, sondern auch auf Gebieten des gemeinschaftlichen Zusammenseins oder des künstlerischen Ausdrucks. Am Wiesbadener Standort der Stiftung1 ist ein Illich-Archiv entstanden, das inzwischen einen Großteil des Werks beherbergt, darunter auch zahlreiche unveröffentlichte Texte. Ivan Illich verdanken wir eine geistige Freiheit, die das Heute nicht als alternativlose Folge wirtschaftlichen und sozialen „Fortschritts“ hinnimmt. Vielmehr können wir mit ihm lernen, gerade die zentralen Institutionen der Moderne – Schule, Gesundheitswesen, Transport – als fragwürdige Mythen der Befreiung zu entlarven. Fragwürdig deshalb, weil auf nahezu allen Gebieten das Gegenteil dessen verwirklicht wird, was propagandistisch behauptet wird. Die Schule verhindert Bildung, das Gesundheitswesen schadet der Gesundheit, und gesteigerte Mobilität bringt Stillstand. Als gläubiger Christ sieht Illich den tiefen Grund des zerstörerischen industriellen Zeitalters in der Verkehrung der „frohen Botschaft“. An die Stelle der Freiheit der persönlichen Zuwendung zum Anderen setzt die Kirche im Zuge ihrer Liaison mit der staatlichen Macht mehr und mehr auf eine Ordnung der Disziplinierung und

1 | convivial.de/ [letzter Zugriff am 17.6.2019].

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Kontrolle, legt den Grundstein für die Institutionen des modernen Staates. Die Menschen werden ihrer Zuständigkeit füreinander beraubt und in eine totale Abhängigkeit von versorgenden Institutionen gebracht. Das heutige „Zeitalter der Systeme“ hat die industrielle Epoche der Instrumente abgelöst. Der Mensch muss nicht mehr entmündigt werden, wie in den Zeiten der paternalistischen Institutionen – die Menschen kommen gar nicht mehr vor. Sie und ihre Körper lösen sich auf, geben sich den Erfordernissen hin und verschwinden als Einzigartigkeiten. „In einem System wird der Benutzer, der Anwender durch die Logik des Systems zu einem Teil des Systems.“ (Illich 2006: 229) Menschen sind Datenpunkte im sinn-losen Strom der Netze. Sollte heutiges Denken, Tun und Lassen nicht genau einen Ausweg aus der allumfassenden „Integration“ in diese Welt suchen? Wie können wir leben, abseits vom Zwang, überall und ständig „diagnostiziert, kuriert, erzogen, sozialisiert, informiert, unterhalten, garagiert, beraten, zertifiziert, gefördert oder beschützt zu werden, gemäß den Bedürfnissen die [uns] durch professionelle Wärter aufmontiert werden[?]“ (Illich 1988: 2) Müssen wir nicht der Gleichschaltung, der „Monokultur des Denkens“, entfliehen, um so etwas wie Freundschaft und Konvivialität überhaupt noch in den Blick zu bekommen? Wie können wir Worte finden für Aus- oder Abwege? Wie können wir die Zumutungen unserer Zeit ausdrücken? Solche Überlegungen waren Ausgangspunkt für die Ausschreibung des Preises. „Aber ich will nicht in diese Welt gehören. Ich will mich in ihr als Fremder, als Wanderer, als Außenseiter, als Besucher, als Gefangener fühlen. Ja, ich spreche von einem Vor-Urteil, also von einer Haltung, nein, nicht einer Haltung, meiner Haltung. Einem Grund, auf dem ich stehe, auf dem ich bestehe...“ (Illich 1999: o.A.)

Von diesem Zitat ausgehend, wollten wir „wissenschaftliche, ästhetische, literarische oder persönliche Beiträge, die Ivan Illichs kritische Perspektive aufnehmen und fortführen“, fördern. Von der Resonanz, die unsere Preisaufgabe fand, waren wir überrascht und erfreut, vor allem darüber, wie viele ganz verschiedene Zugänge gefunden wurden, um über die scheinbaren Paradoxien des Zitats nachzudenken. Manche der hier veröffentlichten Beiträge sind wissenschaftliche Essays (Andreas Krebs, Isabella Bruckner, Christophe Kotanyi, Claudia von Werlhof), andere beschäftigen sich erzählend mit dem (eigenen) ungewollt-gewollten Fremdsein (Franz Schandl, Norbert Loacker, Andreas Decker, Wolfgang Mörth, Julian Pörksen) oder berichten von der Absurdität des Zwangs dazu zu gehören (Bauersfeld).

Vorwort der Herausgeber | 9

Andreas Krebs (Preisträger) hat sich in seinem Essay ausdrücklich mit der Frage beschäftigt, was es wohl heißen soll, sich als Fremder in dieser Welt zu fühlen. Krebs geht dem Illich nach, der in seinen letzten Gesprächen mit David Caley über seinen christlichen Glauben spricht. „Als ‚wandernder Jude und christlicher Pilger‘ sieht Illich sich außerhalb jedes ethnos und auch außerhalb jeder Institution“, so Krebs. Was meint Illich mit der Verkehrung des Christentums, welcher Schrecken und welche Hoffnung sind damit verbunden? Norbert Loackers Erzählung „Taedium vitae oder die Mündung der Existenz“ kommentiert Loacker selbst: „Der Protagonist meiner Erzählung ist nicht lebensmüde und ausgebrannt – auch hier: im Gegenteil. Er hat sich mit Bedacht aus dem ‚alten Gleise‘ (Hölderlin) gehoben. Er riskiert intuitiv die Leere als interimistisches Nichts und Inbegriff des Abgelehnten und Verlassenen. Als eine Verarmung auf Zeit.“ Mit „Freundschaft als christliche Berufung“ setzt auch Isabella Bruckner (Sonderpreisträgerin) sich mit Illichs theologischem Verständnis auseinander. Sie fragt sich, was Illich mit „Umsonstigkeit“ meint und warum „Freundschaft“ gerade angesichts der Unentrinnbarkeit der Systemerfordernisse für Illich eine zentrale Rolle spielt. Eine Selbstbefragung eigener Art verfasst Franz Schandl. „Ich. Wer bin ich?“ Schandl schreibt, weil er nicht anders kann. Er spürt den Druck, sich behaupten zu müssen und will nicht. „Ich will nicht etwas sein, weil man etwas zu sein hat. Ich will nur sein.“ Was braucht Schreiben, dass es zum eigenen Schreiben wird? Möglicherweise auch um den Preis der Nicht-Zugehörigkeit. Christophe Kotanyis Aufsatz kommt über die Auseinandersetzung mit Illichs Begriffen der Allmende, der Muttersprache (das Vernakuläre), der Konvivialität und der Schattenarbeit zur kritischen Betrachtung einer Geschichte der Mathematik, die im späten 12. Jahrhundert die Null erfindet und im weiteren Gang die Unendlichkeit als Rechengröße einführt. Hier liegt für Kotanyi der Ursprung des verhängnisvollen „unendlichen Wachstums“. Die Null ist für Kotanyi „a secret weapon of capitalism“. So markiert die Null, ebenso wie die Erfindung der abstrakten Hochsprache, die Abkehr vom Konkreten, Sinnlichen, Angemessenen hin zu Entfremdung und Isolation. Eine persönliche Reflektion über seine Lehrer-Karriere im Licht der Lektüre von Illichs „Entschulung der Gesellschaft“ zeichnet Andreas Deckers Beitrag aus. Bei einer Wanderung im Sumpf spürt er den Zeilen Illichs nach, hier fühlt er sich als Welt-Fremder, räsoniert über die eigene Verlorenheit, über „Heimat“, über die Hölle des Konsums, sein Herkommen: „. . . er musste raus, weg von der Familie und der vertrauten, zu heimeligen Umgebung, in die Welt, die Welt entdecken, ein bekanntes Schema erfüllen. . . “ Antworten sucht er, findet aber umso mehr Fragen.

10 | Charlotte Jurk

Claudia von Werlhof setzt an Illichs Begriff der Schattenarbeit an, um ihn kritisch zu befragen. Schattenarbeit ist die Arbeit, die uns vom Industriesystem aufgezwungen wird, ohne dass sie bezahlt wird. All die unfertigen Industriegüter müssen von den Konsumierenden transportiert und aufgewertet werden, bevor sie nutzbar gemacht werden können. Schattenarbeit hält das System der Lohnarbeit am Leben. Klassisches Beispiel ist die Hausarbeit. Hier widerspricht von Werlhof, denn auch wenn kapitalistisches Wirtschaften die alte Subsistenz fast vollständig vernichtet habe, seien die marginalen Reste von Subsistenz gerade in der Hausarbeit zu finden. Ein Weiterdenken des Begriffs „Schattenarbeit“ sei von eminenter Wichtigkeit. Einen Einblick in den ganz normalen Wahnsinn gewährt der Bericht von Annemarie Bauersfeld. Sie muss sich in einer „Maßnahme“ des Jobcenters zurecht finden. Ihre Gruppe – vom Arbeitsmarkt „aussortierte“ Menschen – soll eine Ausbildung als „zusätzliche Betreuungskräfte“ für Menschen mit Demenz erhalten. „Validation“ und „Aktivierung“ werden den Teilnehmerinnen als „Lernziele“ präsentiert und Bauersfeld fragt sich, was das soll angesichts der Entwurzelung und Missachtung eines Lebens im Pflegeheim. Auch eine utopische Erzählung findet sich unter den Einsendungen: DD-Day von Wolfgang Mörth malt das Jahr 2044 aus – eine Welt, in der die Wachstumsideologie Vergangenheit ist; eine Welt, in der kooperatives Handeln und regionales Wirtschaften die Regel sind. In der Schule werden praktische landwirtschaftliche Techniken unterrichtet und für alle gibt es Grundeinkommen und selbstfahrende Autos. Keine perfekte Welt, aber eine andere. Julian Pörksen (Preisträger) preist die „weltfremden, unrealistischen und unproduktiven“ Gedankenspiele. Es werde zukünftig eine „äußerst interessante Frage sein, wie die Nutzlosigkeit bewertet werden wird[...]“. Protagonisten der Verweigerung sucht Pörksen in der Literatur von Dante über Dostojewski bis Rilke; insbesondere findet er eine Figur der „destituierenden Kraft“ bei Melvilles Bartleby am Werk: „Ich möchte lieber nicht.“ Pörksen spricht von Möglichkeiten, die sich gerade dann ergeben, wenn Absichtslosigkeit, Zufall und Ziellosigkeit herrschen. Er plädiert für die „Destabilisierung von Gewissheiten, eine zeitweise Aufhebung dessen, was als gegeben, starr und final erscheint.“ Einige Autoren ließen sich dankenswerterweise anregen, ihre Lyriktexte einzureichen; hier im Band haben wir Gedichte von Willibald Feinig und Erika Kronabitter aufgenommen. Feinigs Lyrik bewegt sich zwischen den Sprachen und schöpft genau daraus eine Ermunterung zu erkunden, was zwischen ihnen sichtbar wird. Kronabitters Gedichte sind inspiriert vom konzentrierten, schwebenden Nachspüren den eigenen Gefühlen. Die Grafiken wurden von Hans-Michael Kirstein eingesandt, seine Auseinandersetzung mit Illichs Werk.

Vorwort der Herausgeber | 11

Eine Fülle von Perspektiven zum In- oder Außer-der-Welt-Sein findet sich in den Beiträgen, die zusammen ein Bild ergeben: Ein Suchen, ein Tasten, eine Sehnsucht – angesichts verordneter Identifikation mit dem und gefühlter Verlorenheit im Gegebenen – ein kleines Wunder an Ausdrucksmöglichkeiten der Verweigerung von Zustimmung. Gedankt werden soll hier den Mitgliedern der Jury für die Preisverleihung: Andreas Heller, Franz Tutzer und Barbara Duden haben so gewissenhaft wie engagiert alle Texte gelesen und gewürdigt. Ohne ihre Unterstützung wäre der vorliegende Band nicht möglich gewesen. Das gilt in besonderem Maß für die Arbeit von Anne Zulauf, die mit ordnender Hand stets den Überblick behielt. Großer Dank an alle Autorinnen und Autoren dieses Bandes.

L ITERATUR Illich, Ivan (1988): The Educational enterprise in the Light of the Gospel, Vorlesungsmanuskript, http://www.davidtinapple.com/illich/1988_Educational.html [letzter Zugriff am 25.7.2019]. Illich, Ivan (1999):Vorlesungsnotizen, Bremen am 21. Januar 1999, einzusehen im Archiv der Stiftung Convivial im FRAGMENTE, Wiesbaden. Illich, Ivan (2006): In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley, München.

Hans-Michael Kirstein Human Armageddon

Aber ich will nicht in diese Welt gehören... Fragmente zu Ivan Illich Andreas Krebs „Aber ich will nicht in diese Welt gehören. Ich will mich in ihr als Fremder, als Wanderer, als Außenseiter, als Besucher, als Gefangener fühlen. Ja, ich spreche von einem Vor-Urteil, also von einer Haltung, nein, nicht einer Haltung, meiner Haltung. Einem Grund, auf dem ich stehe, auf dem ich bestehe...“ I VAN I LLICH

„I CH

WILL MICH IN IHR ALS

F REMDER

FÜHLEN ...“

Wie merkwürdig, sich in der Welt als Fremder fühlen zu wollen! Sehnen wir uns nicht nach Heimat? Aber was für ein Ort ist Heimat überhaupt? Wer sich dorthin aufmacht, wo er wirklich zu Hause wäre, kommt nirgendwo an. Ältere suchen Heimat oft an Orten ihrer Kindheit, wo sie Spuren einer Welt nachgehen, die voller Geschichten und Bedeutsamkeit erscheint. Doch auch diese Welt, halb aus Erinnerungen, halb aus Träumen gewoben, ist unwiederbringlich vergangen und eigentlich nie dagewesen. Heimat suchen und ahnen wir manchmal auch im Zusammensein mit geliebten Menschen, in geschenkter und empfangener Gastlichkeit, in achtsamer Begegnung mit der mehr als menschlichen Natur. Aber auch hier ist Heimat zu flüchtig, als dass sie uns je heimisch werden ließe. Wenn Heimat – mit Ernst Bloch – das ist, „worin sich weder der Mensch zur Welt noch aber auch die Welt zum Menschen verhalten als zu einem Fremden“ (Bloch 1959: 241), dann haben wir Heimat noch nicht. Denn „[n]icht nur wir, sondern die Welt selber ist noch nicht zu Hause“. (Bloch 1975: 60) Was aber heißt es dann, sich als Fremder fühlen zu wollen? Hat man denn überhaupt eine andere Wahl? Tatsächlich gibt es keine Entscheidung gegen das Fremd-

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sein, aber es gibt eine Entscheidung dagegen, das Fremdsein als solches anzunehmen. Wir möchten uns einrichten: Das Unbehaustsein der Welt soll uns gestohlen bleiben. Die Arbeits- und Konsumgesellschaft hat diesbezüglich ein verlockendes Angebot: Wer sich ihren Regeln unterwirft, kann sich zumindest eine Wohnung mit einigem Komfort, gemütlichem Nippes und elektronischer Unterhaltung leisten. Besser als nichts! Der größte Teil des Einkommens geht freilich dafür drauf. Die meisten sind, um es zu „verdienen“, die längste Zeit des Tages unterwegs. Währenddessen bleiben ihre Wohnungen verwaist: die Kinder in der Schule, die Erwachsenen im Job, die Alten wohlversorgt im „Heim“. Nur Künstler und andere Müßiggänger, rüstige Rentner oder Abgehängte sitzen inmitten dieser Leere fest. „Wohnungen sind heute Garagen“, bemerkt Ivan Illich, „in denen Arbeitskraft über Nacht untergestellt, bekocht, über Fernsehen informiert und beschlafen wird. Wohnungen entstehen nicht durchs Leben. In ihnen läßt sich unterkommen, nicht wohnen, im vollen Sinne. Wohnen heißt ja zu Deutsch auch leben. ‚Wo leben Sie?‘ werde ich oft gefragt. Dann muß ich traurig antworten: ‚Im Sinn, den die Sprache Ihrer Frage gibt, lebe ich gar nicht. Ich bin in Berlin polizeilich gemeldet, in Zehlendorf eingemietet, im Wissenschaftskolleg zu Berlin tätig, unterhalte meine Postadresse in Mexiko, aber nirgends lasse ich meine Spuren im Raum, nirgends bewohne ich die Welt“. (Illich, zit. nach Plepeli´c 2018) Warum wirken diese Sätze überraschend? Warum provozieren und irritieren sie? Sie überraschen, weil hier einer spricht, der sich weigert, sich auch noch von der eigenen Entfremdung entfremden zu lassen. Er will ein Fremder sein, weil dieses Wollen jenes winzige Stück Freiheit behauptet, in dem das „Garnicht“ heimatlichen Lebens, das „Nirgends“ eigener Spuren im Raum wenigstens noch zu fühlen und beim Namen zu nennen ist. Zugleich sind die Sätze provokant, weil sie nicht zulassen, dass solches Fremdsein in einer philosophischen Attitüde aufgeht, die man folgenlos goutieren und mit unverbindlichem Applaus bedenken kann. Sie beschreiben das Befremdliche, das uns umgibt, so erfahrungsgesättigt, so genau und schmerzhaft, dass man sich dazu verhalten muss. Hier spricht ein Fremder, der sich gerade nicht der Welt verweigert. Er hat sich vielmehr der Welt so vorbehaltlos ausgesetzt, dass ihre Heimatlosigkeit mit der eigenen identisch wurde. Schließlich aber irritieren die Sätze auch, weil sie keine greifbaren „Alternativen“ aufzeigen. Zwar hat Illich, wie er im Anschluss an die zitierten Worte sagt, unter den Kreuzberger Hausbesetzern eine Ahnung anderer Lebensmöglichkeiten ausgemacht: Nirgends stehe er so mächtig im Raum wie viele von ihnen, „für die wenigstens auf kurze Zeit das Wohnen und Leben zusammenfallen. Nirgends bin ich gesund genug, um so die Welt zu bewohnen“. (ebd.) Doch spricht Illich hier vor allem von den eigenen Grenzen; er tritt gerade nicht als Experte auf, der die Hausbesetzer zu Exem-

Fragmente zu Ivan Illich | 17

peln einer wie auch immer gearteten Idee erhebt. Präzision und Konkretion der Kritik verbindet Illich mit der Weigerung, im Stil des Sachverständigen einen Maßnahmenkatalog zu unterbreiten oder in der Rolle des Agitators Imperative vorzutragen. Einer Art Programmatik noch am nächsten kommt Illich in Vorträgen zu Beginn der 1970er Jahre, aus denen das Buch „Selbstbegrenzung“ hervorgegangen ist. Hier definiert er den berühmt gewordenen Begriff „Konvivialität“ als „individuelle Freiheit, die sich in persönlicher Interdependenz verwirklicht“ (Illich 1998: 28) und skizziert Möglichkeiten, die „Ausgewogenheit des Lebens“ (ebd.: 128) wiederherzustellen. Doch zur Neuauflage 1998 schreibt er dazu: Die Hoffnung, das Industriezeitalter zu verabschieden, sei „blauäugiger Optimismus“ (ebd.: 7) gewesen. Doch ist es nicht nur desillusionierte Vorsicht, die Illich immer konsequenter auf die Benennung von „Alternativen“ verzichten lässt. In dieser Zurückhaltung liegt auch eine Freisetzung der von ihm Angesprochenen. Er verharrt vor ihnen – an die er appelliert, gegen alle Zurichtung das Befremdliche wieder als befremdend zu erinnern, zu spüren, zu erkennen – noch einmal in letzter, respektvoller Fremdheit. Was immer die Hörer und Leser solcher Sätze damit tun: Ihre Worte sollen ihnen nicht schon wieder aus dem Mund, ihre Taten ihnen nicht schon wieder aus der Hand genommen werden. Diese respektvolle Fremdheit ist es, von der Adorno sagt, sie sei gegen Entfremdung das einzige „Gegengift“ (Adorno 1997: 105).

D ER „WANDERER “ Der in so vieler Hinsicht fremde Ivan Illich – er bezeichnet sich auch als „Wanderer“. Das tut er zweifellos in vollem Bewusstsein des Anachronismus, der damit verbunden ist. Denn ein Wanderer geht – was heute kaum noch üblich ist – zu Fuß. „Sich zu Fuß fortzubewegen“, schreibt Jean Robert, „ist nicht das Überwinden von Entfernungen. Es ist die körperliche Erfahrung der vertrauten Distanz zwischen einzigartigen Orten und Momenten. Die Erzählungen des Wanderers verstärken und übertreiben manchmal die befremdlichen Besonderheiten der fernen Regionen, in die er sich gewagt hat. Pilger hatten ihre beachtlichsten Abenteuer an den entlegensten Orten, die sie besucht hatten, als ob die Intensität ihrer Erfahrungen mit der zurückgelegten Entfernung zugenommen hätte. Wandern ist keine körperlose Bewegung, die eine abstrakte Distanz auf eine abstrakte Zeit bezieht.“ (Robert 2018, Übers. A. K.)

Das Wandern, wie es hier beschrieben wird, gibt es in der heutigen Welt ebenso wenig wie den Ort, an dem man in vollem Sinne „leben“ könnte. Nicht nur haben Autobahn,

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Hochgeschwindigkeitszug und Flugzeug jede konkrete Entfernung zunichte gemacht; das im Internet zu sich selbst gekommene mediale System hat uns virtuell schon immer – endgültig körperlos geworden – zu jeder Zeit an jeden Ort zugleich versetzt. Am Ende jeder noch so langen Reise bleibt uns nur das Wiedererkennen schon bekannter Bilder. Nichts als Bilder schon gesehener Bilder bringen wir dann auch von der Urlaubsfahrt nach Hause – keinen Traum vom verborgenen Paradies, kein Schauermärchen, in dem das Irritierende des Andersartigen in grausige Szenen übersetzt wird, kein buntes Seemannsgarn, das aus Erlebtem und Erfundenem den Faden eines Selbst-Seins spinnt, das sich in Anbetracht des Unvorhergesehenen bewährt hat. So unmöglich wie ein Zuhause in der Unbewohnbarkeit ist auch die Flucht aus dem Nicht-mehr-wandern-Können. Wer einmal abseits der „Erholungsgebiete“ und touristischen „Wanderwege“, ohne Smartphone und Fahrzeug, eine längere Strecke zu Fuß unternommen, sich in Gewerbegebieten verirrt, an Schnellstraßen sein Leben riskiert hat und schließlich den Weg an der unüberwindlichen Autobahn beenden musste, der weiß, wie unbegehbar der uns umgebende Raum durch „Mobilität“ geworden ist. Die Welt jenseits der Bilder von Bildern ist längst verwüstet. Schon vor Jahrzehnten beschrieb Helga M. Nowak diese Erfahrung in ihrem Gedicht „der kommt nicht an“ (Novak 2008: 158): der kommt nicht an Autobahnen schneiden den Weg ab sie tauchen unter befriedete Flüsse die sie bei besserer Gelegenheit überbrücken sie sind keine Alleen der unterwegs Tunnel befühlt Hängebrücken Igel und Pfauenaugen zählt Sternbilder ausmacht und Urstromtäler der kommt zu spät der Scherben aufliest und Nägel der jeden Findling signiert jede Eiche der den Konvoi vorbeifahren lässt der kommt zu spät der zu Fuß geht sich seitwärts in die Büsche schlägt gerät unter die Stare den Weißdorn die Katzenpfoten der kommt nicht an

Fragmente zu Ivan Illich | 19

„[D]er zu Fuß geht“, kommt „zu spät“ – auch wenn er einen Tunnel befühlt, statt ihn zu befahren; auch wenn er versucht, die großen Formationen von Himmel und Erde („Sternbilder“, „Urstromtäler“) noch auszumachen; auch wenn er den feinen Spuren nachgeht, die Steine, Pflanzen und Tiere hinterlassen. Allemal kommt er „zu spät“ aus Sicht des Konvois, der in Hochgeschwindigkeit vorüberrauscht; der Fußgänger hat vor ihm keine Chance, muss zurückweichen, sich seitwärts in die Büsche schlagen. Er landet im Abseits, unter Staren, Weißdorn, Katzenpfoten. – Verliert sich dort sein Weg? Am Ziel jedenfalls, wenn es eines gab, kommt er nicht an. Wenn Illich sich mit einem „Wanderer“ vergleicht, dann wohl mit solch einem Wanderer nach dem Ende des Wanderns. Das Ziel, auf das der Fortschrittskonvoi zurast, ist ihm keines: Wachstum und Konsum erzeugen die „Knappheit“, die sie zu beseitigen behaupten; Schule verstellt den Zugang zur Welt; Medizin macht krank, Verkehr immobil.1 Zunehmend gilt Illichs Interesse Spuren einer Vergangenheit, in deren „Spiegel“ (Illich 1992: 10) ihm die radikale Andersartigkeit der heutigen Zeit fassbar und beschreibbar wird. Er will die Aufmerksamkeit schärfen für jene verstreuten „Reste“ (Schwartz 2002) von Gemeinsinn, nicht-institutionellen Praktiken, Subsistenz, Mündlichkeit, Proportionalität, in denen die Möglichkeit aufscheint, sich „das, was da ist“ (Duden 2018), das Gegebene, als Gabe anzuverwandeln – und es als zutiefst Versehrtes zugleich in seiner Schönheit zu entdecken und zu feiern. Wer mit vollem Ernst solchen Spuren, solchen Resten nachgeht, kommt von den Straßen ab, die zu Reputation und Publikumserfolgen führen. Illich schlägt sich in die Büsche, wählt das Abseits. Er kommt zu spät, er kommt nicht an. . .

D ER „AUSSENSEITER “ In einem Interview mit dem kanadischen Radiojournalisten David Cayley hat Ivan Illich den Vergleich mit dem „Wanderer“ variiert und sich einen „wandernde[n] Juden und christliche[n] Pilger“ (Illich 2006: 173) genannt. Damit spielt er auf seine doppelte Identität als Jude und römisch-katholischer Priester an, die ihn sowohl im Judentum als auch im Katholizismus, erst recht aber im säkularen Umfeld, in dem er sich als Intellektueller bewegt, zum Außenseiter macht. Erstaunlich ist: Illich spricht davon im Kontext der Frage, was für ihn Freundschaft heiße. (vgl. dazu Bruckner 2017) Er erinnert an den griechischen Begriff philia und verweist auf Platos „Sym-

1 | Eine Einführung in das radikale und überaus vielseitige Denken Ivan Illichs gibt Thierry Paquot (2017).

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posium“, in dem Erkenntnissuche, Eros und rauschhaftes Feiern zusammenkommen, setzt dann aber fort: „Für mich kann Freundschaft niemals das Gleiche bedeuten wir für Plato. In der griechischen Stadt verstand man unter Tugend das angemessene Benehmen. Tugend war das ethos, oder die Ethik, die zu einem bestimmten ethnos oder Volk passte. Und eine solche Tugend war die Grundlage der Freundschaft [. . . ] Als wandernder Jude und christlicher Pilger war dies nicht meine Bestimmung. Mir war es nicht möglich, Freundschaft als etwas zu suchen, das aus einem Ort und den dort herrschenden Praktiken hervorgeht.“ (Illich 2006: 172f.)

Welcher Zusammenhang verbindet Illichs Judentum, seinen christlichen Glauben und die Unmöglichkeit, Freundschaft in Verbindung mit einem bestimmten Ort zu suchen? Man kommt dem Zusammenhang näher, wenn man einen biblischen Text betrachtet, auf den Illich in Gesprächen immer wieder zurückkommt: das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter.2 Ausgangspunkt des Gleichnisses ist eine Frage, die ein Thoragelehrter im Disput an Jesus richtet: „Wer ist mein Nächster? Wem schulde ich Solidarität?“ – Auf den ersten Blick scheint diese Frage leicht beantwortbar, denn der „Nächste“ ist das Mitglied meiner Familie, mein Nachbar, der Angehörige meines Volkes. Ihnen fühlt sich ein Mensch der Antike primär verpflichtet – das ist die Verbindung von ethos und ethnos, von der Illich spricht. Allerdings gibt es in der Hebräischen Bibel eine Tendenz, diese Verpflichtung gegenüber den „Nächsten“ auf „Fremde“ auszuweiten; denn, so heißt es in einem zentralen Text der Thora, „auch ihr seid Fremde gewesen in Ägypten“ (Lev 19,34). Tatsächlich ist den Erzählungen, durch die Israel sich als Volk begreift, das eigene Fremdsein eingeschrieben: Der Stammvater Abraham kommt aus Ur in Mesopotamien, die von Gott versprochene Heimat liegt zunächst in der Ferne; Mose und Aaron, die Israel aus Ägypten durch die Wüste führen, betreten das gelobte Land nie; und die mit ihm verbundene Verheißungen – Gerechtigkeit, Friede, Milch und Honig – bleiben unerfüllt. Die Zugehörigkeit zu einem Ort und einer Gruppe ist für Israel stets etwas Instabiles, Vorläufiges – Versprechen, Hoffnung, Zuversicht, aber nichts, woran man sich festhalten könnte. Wenn Illich sich als „wandernden Juden“ bezeichnet, dann identifiziert er sich mit dieser Tradition – für die sich nicht einfach von selbst versteht, wo der eigene Ort, was die gemeinsame Praxis, wer eigentlich der „Nächste“ ist. Wenn nun der Gesprächspartner Jesu auf einen Riss hindeutet, den die Thora durch die Verbindung von ethos und ethnos verlaufen lässt, so sprengt Jesu radikale

2 | Vgl. zum Folgenden Guggenberger 2007.

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Antwort – welche die Form einer scheinbar einfachen Geschichte, eines sogenannten „Gleichnisses“ hat – die Verbindung zwischen diesen beiden Sphären endgültig auf: „Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter die Räuber. Diese zogen ihn aus, schlugen ihn, gingen weg und ließen ihn liegen – halb tot. Zufällig aber kam ein Priester jenen Weg hinab, und als er ihn sah, ging er weg. Ebenso aber kam auch ein Levit, der an den Ort gelangte, und als er sah, ging er weg. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm, sah und wurde in den Eingeweiden ergriffen; und er ging hin und verband seine Wunden und goss Öl und Wein darauf; und er setzte ihn auf sein Tier und führte ihn in ein Wirtshaus und sorgte für ihn. Und am folgenden Morgen zog er zwei Denare heraus und gab sie dem Wirt und sagte: ‚Sorge für ihn! Und was du noch dazu verwenden wirst, werde ich dir bezahlen, wenn ich zurückkomme.‘ Was meinst du, welcher von den dreien ist der Nächste dieses Menschen geworden, der unter die Räuber gefallen war?“ Er [der Thoragelehrte] sagte: „Der ihm Barmherzigkeit erwiesen hat.“ Jesus antwortete ihm: „So mache auch du dich auf und handle entsprechend!“ (Lk 33-27)3

Das Opfer des Überfalls, vermutlich ein Jude, erscheint in der Geschichte als bloßer „Mensch“ (anthropos), seiner Kleider, seiner Kraft, jeder Stellung und Zugehörigkeit beraubt: als nackte, kaum noch lebende Kreatur. Ganz anders Priester und Levit: Sie sind „jemand“, einflussreiche Männer, Mitglieder des Kultpersonals am Jerusalemer Tempel. Warum sie den geschundenen „Menschen“ sehen und doch weitergehen, bleibt offen: Weil sie ihn nicht als Angehörigen des eigenen Volkes erkennen, dem sie helfen müssten? Weil sie besonderen Vorschriften unterliegen und sich an einem womöglich Toten nicht verunreinigen wollen? Weil sie gleichgültig sind? Die Leerstellen des knappen Textes lassen viele Deutungen zu. – Die Kontrastfigur zu Priester und Levit ist der Samariter, der von Juden, in ähnlicher Schärfe wie heute die Palästinenser (Illich 2006: 74f.), als Feind gesehen wird. Der Samariter „sieht“ nicht nur, sondern wird „in den Eingeweiden ergriffen“ (splagchnizomai): Das Leid des Anderen wühlt sein Innerstes auf. Unwillkürlich führt er die damals übliche Wundversorgung durch. Diese spontane Hilfsbereitschaft steht erneut in Kontrast zum gewerblichen Wirtshaus (pandocheion), wo der Samariter den Verwundeten unterbringt. Anständige Reisende hatten ein Netzwerk von Angehörigen und Freunden, auf deren Gastfreundschaft sie zählen konnten, die selbstverständlich unentgeltlich war. In gewerblichen Wirtshäusern hingegen sammelten sich Herumtreiber, die solch ein Netzwerk nicht besaßen; vom weiblichen Bedienungspersonal erwarteten sie zudem die Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche. (Zimmermann 2007: 545) An solch einen verrufenen

3 | Ich gebe hier eine modifizierte Übersetzung nach Ruben Zimmermann an (2007: 538).

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Ort – am Rand der Gesellschaft – wird der „Mensch“ gebracht, und der Samariter, der weiß, dass mit Gastlichkeit hier nicht zu rechnen ist, zahlt nicht nur für Unterkunft und Verpflegung des Verwundeten; um ihn wirklich sicher zu wissen, kündigt er an wiederzukommen und stellt eine zweite Rate in Aussicht. So skizziert die Geschichte mit äußerster Lakonie eine Gesellschaft, die „oben“ wie „unten“ gleichermaßen unbarmherzig ist, wobei man vom Wirt immerhin annehmen kann, dass er für sein Geld das Nötige tun wird. Allein der Samariter lässt sich – jenseits aller Verpflichtungen und gegen jede Erwartung – von der Not des „Menschen“ bewegen. Hierin liegt eine erste Überraschung der Antwort Jesu: Ausgerechnet der Samariter wird zum Beispiel einer rückhaltlosen Zugewandtheit, die sich frei über Kategorien des „Nächsten“ und „Fremden“ hinwegsetzt und sich einfach von der Menschlichkeit des Anderen in Anspruch nehmen lässt. Eine zweite Überraschung liegt in der Umkehrung der Ausgangsfrage: „Wer ist dem Menschen zum Nächsten geworden?“ Zielte die Frage des Thoragelehrten aus der Perspektive des aktiv Handelnden auf das Objekt möglicher Zuwendung, wird nun aus Perspektive des passiv Ausgelieferten gefragt, gegenüber wem er zum Subjekt des Nächster-Seins geworden ist. Damit weist Jesus zugleich die Stoßrichtung der Ausgangsfrage zurück: Wer gegenüber wem zum Nächsten wird, ist durch keine Kategorie bestimmbar und aus keiner Regel ableitbar. Dass den Samariter das Leid des „Menschen“ in den Eingeweiden packt, ist ein Widerfahrnis, das er annimmt und bejaht, indem er daraus Taten der Nächstenliebe folgen lässt; die wiederum ergehen am halbtoten „Menschen“, ohne dass dieser irgendetwas tun könnte – bis es dann an ihm ist, dies Widerfahrnis zu bejahen und den Samariter als Nächsten anzunehmen. Warum ist dieses Gleichnis für Illich so wichtig? Er meint, dass mit der Offenheit für ein unwillkürliches Berührt-Werden durch den Anderen – das, Grenzen und Pflichten durchbrechend, zur Voraussetzung einer Freiheit wird, sich dann vom Berührt-worden-Sein auch bestimmen zu lassen – eine gänzlich neue Art von menschlicher Beziehung auftritt: „In der Antike setzt gastfreundliches Benehmen oder eine uneingeschränkte Verpflichtung in meinen Handlungen dem Anderen gegenüber eine Begrenzung voraus, die um jene gezogen ist, gegenüber denen ich mich derart benehmen kann. [. . . ] Jesus belehrt die Pharisäer, dass die Beziehung, deretwillen er gekommen war, um sie ihnen als die menschlichste zu verkünden, keine Beziehung ist, die erwartet, verlangt oder geschuldet wird. Sie kann nur zwischen zwei Menschen frei geschaffen werden, und dies kann nicht geschehen, wenn mich nicht etwas durch den Anderen, vom Anderen, in seiner leibhaftigen Gegenwart berührt“. (Illich 2006: 75)

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Als „wandernder Jude und christlicher Pilger“ sieht Illich sich außerhalb jedes ethnos und auch außerhalb jeder Institution. Seine Position ist marginal. Freundschaft ist ihm einzig möglich in jenem Frei-Raum, den Jesus – gerade vom Marginalen, von den Rändern her – jenseits aller Pflichten und Begrenzungen eröffnet hat. Illich bewundert den sozialen Aktivismus der von Dorothy Day gegründeten Catholic Workers. Für sich selbst aber sieht er im Lebensrückblick eine andere Berufung: „Meine Aufgabe war es, Wege zu erkunden, auf denen das Leben des Intellekts, das gemeinsame, disziplinierte und methodische Streben nach einer klaren Sicht – man könnte sagen: Philosophie im Sinne der Liebe zur Wahrheit – so gelebt werden kann, dass sich daraus die Gelegenheit eröffnet, dass die philia sich entzündet und gedeiht. [. . . ] Ich wollte sehen, ob es möglich ist, anlässlich und mittels gemeinsamen Studiums wahrhafte und beständige Bindungen zu schaffen. Auch wollte ich zeigen, wie die Suche nach Wahrheit nicht im Vorlesungssaal, sondern auf einzigartige Weise um einen Esstisch herum oder über einem Glas Wein betrieben werden kann. Falls der Ausdruck ‚Suche nach Wahrheit‘ die Leute lächeln lässt und sie denken, dass ich einer Alten Welt angehöre – sei’s drum.“ (ebd.: 174)

D ER „B ESUCHER “ Ivan Illich spricht von sich nicht nur als „Wanderer“ und „Pilger“, sondern auch als „Besucher“ und „Gefangener“ dieser Welt. Das sind zwei gegensätzliche Bilder: Der Besucher kann wieder gehen, der Gefangene aber ist seiner Freiheit beraubt. Wie sehr sich Illich in der säkular-intellektuellen und akademischen Welt, in der er sich seit den 1970er Jahren bewegt, als „Besucher“ begreift – als ob er nur vorübergehend dort zu tun hätte –, zeigt sich nicht zuletzt an seinem Schweigen über seinen Glauben und die innersten spirituellen Beweggründe seines Tuns. So zugewandt, mutig und scharfzüngig er seine radikale Zeitkritik vertritt – über sein Christentum verliert er jahrzehntelang, zumindest öffentlich, kaum ein Wort. Erst gegen Lebensende, in den schon zitierten Interviews mit David Cayley, bringt er seine theologischen Überzeugungen zur Sprache. Wie hat man dieses Schweigen zu deuten? Der Schlüssel dazu könnte sich in einem Text aus der Zeit finden lassen, in der Illich noch als Priester und Ausbilder US-amerikanischer Missionare tätig war. (Illich 1996)4 Das ebenso kurze wie eindrucksvolle Stück apophatischer Theologie trägt den Titel „Die Beredsamkeit des Schweigens“.

4 | Zur Debatte über Illichs Schweigen siehe u.a. Harch (2015) sowie Cayley (2015).

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In diesem Text beginnt Illich zunächst mit der Beobachtung, dass „von Mensch zu Mensch durch und im Schweigen viel mehr vermittelt wird als durch Worte. Aus Schweigen werden Wörter und Sätze gebildet, die viel bedeutungsvoller sind als Laute. Die bedeutungsvollen Pausen zwischen Tönen und Aussagen werden leuchtende Punkte in einem Nichts – gleich Elektronen im Atom oder Planeten im Sonnensystem“. (Illich 1996: 91) Es sei ein Problem vieler Missionare, die in spanischsprachige Armenviertel gehen, dass sie zwar die Grammatik der fremden Sprache, aber nicht die „Grammatik des Schweigens“ beherrschten: „Die Gabe, die uns ein Volk durch das Lehren seiner Sprache schenkt, ist mehr eine Gabe des Rhythmus‘, der Tonart und der Feinheiten ihrer Schweigeordnung als ihrer Klangordnung. Es ist eine intime Gabe, für die wir dem Volk, das uns seine Sprache anvertraut hat, Rechenschaft schulden. Eine Sprache, von der ich nur die Wörter und nicht die Pausen kenne, ist eine ständige Beleidigung“. (ebd.: 92) Gerade die perfekt gelernte Fremdsprache wird, wenn sie allein der Rede dient, zum vollkommensten und perfidesten Ausdruck imperialer Arroganz. Illich wünscht sich Missionare, die mit den Menschen nicht nur sprechen, sondern vor allem auch – nach den Regeln dieser Menschen, gemäß ihrer „Grammatik“ – schweigen können. Davon ausgehend entfaltet Illich im Weiteren eine „Ordnung des Schweigens“ (ebd.) in vier Abschnitten, durch die er im menschlichen Schweigen, dessen Bedeutung er eben aufgezeigt hat, zum Göttlichen vorzudringen sucht. An erster Stelle steht das „Schweigen des ausschließlich Zuhörenden, durch welches die Mitteilung des andern ‚er in uns’ wird, das Schweigen tiefer Teilnahme“. (ebd.) An zweiter Stelle kommt das Schweigen, „welches den Menschen in sich selber verschließt, damit er das Wort für andere vorbereiten kann. Es ist das Schweigen des Abstimmens; das Schweigen, in welchem wir den richtigen Augenblick erwarten, damit das Wort in die Welt geboren werde“. (ebd.: 94) An dritter Stelle gibt es „das Schweigen jenseits der Wörter“: „Es ist das Schweigen, welches alles gesagt hat, weil es nichts mehr zu sagen gibt. Dies ist das Schweigen jenseits eines endgültigen Ja und eines endgültigen Nein. Dies ist das Schweigen der Liebe jenseits der Wörter oder das Schweigen des Nein für immer, das Schweigen von Himmel und Hölle“. (ebd.: 95) Und schließlich gibt es noch ein viertes Schweigen, das Schweigen des christlichen „Todesmysteriums“, welches das – dann doch nicht endgültige – Schweigen von Himmel und Hölle noch einmal durchkreuzt. „Es ist das geheimnisvolle Schweigen, durch welches der Herr in das Schweigen der Hölle hinabfahren konnte, die von Frustrierung freie Hinnahme eines Lebens, nutzlos und für Judas vergeudet, ein Schweigen frei gewollter Ohnmacht, durch welche die Welt gerettet wurde“. Am Ende sei es dieses „Schweigen, welches ihr Missionare in dieser spanischen Umwelt zu erlangen sucht, [. . . ] das Schweigen jenseits von Verirrung und Fragen“. (ebd.: 97)

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Ich nehme an, dass sich Illich später in seinem säkularen Wirkungskreis ebenso verhalten hat, wie er es einst den jungen Missionaren ans Herz legte. So wie er diese von dem abzubringen suchte, worauf sie bei ihm vorbereitet werden sollten (Hartch 2015), verzichtet auch Illich nun auf eine christlich geprägte Sprache, die den Menschen, an die er sich wendet, unverständlich wäre. Ihre Sprache ist eben eine andere, und Illich, der Besucher, lässt sich ein auf die Feinheiten ihrer Klang- und Schweigeordnung. Schweigend hört er zu und bringt aus dem Schweigen hervor, was ihm die Situation, das Problem, das Gespräch zu sagen geben. Ob er ebenso in der Liebe schweigt – und in der Trennung? Jedenfalls will er, so möchte ich vermuten, auch in der Rolle des kritischen Intellektuellen in jenem letzten, abgründigen Schweigen wurzeln, in dem die Liebe sich sogar in die Lieblosigkeit hinein entäußert. Wenn diese Vermutung stimmt, dann hat Illich seinen Glauben nicht verschwiegen. Er hat ihm, schweigend, genau den Ausdruck gegeben, der seiner Lage angemessen schien.

D ER „G EFANGENE “ Gleichwohl ist es ein Glück, dass sich Ivan Illich schließlich doch dazu bewegen lässt, über den tiefsten Grund seiner Hoffnung und seiner Verzweiflung Rechenschaft abzulegen. David Cayley kann in Illichs letzten Jahren Interviews führen,5 in denen sich dieser als faszinierender und kühner Theologe offenbart.6 Auffällig – und für den theologischen Mainstream im besten Sinn be-fremdend – ist der ausgeprägt apokalyptische Zug seiner Denk- und Glaubenshaltung(Palaver 2007; 2010; Susin 2017). Mit Jesus, so Illich, ist jene von Grund auf neue Möglichkeit freier, unmittelbarer Beziehung zwischen Menschen in die Welt gekommen, die das Samariter-Gleichnis in Szene setzt. Doch sobald diese Möglichkeit geschaffen ist, kann sie auch verweigert und verneint werden – und diese Verweigerung, diesen Verrat bezeichnet Illich als „Sünde“. Damit meint er etwas weitaus Erschreckenderes als das Zuwiderhandeln gegen einen ethos. Letzterer ist ein Konglomerat von Pflichten innerhalb des ethnos, und wo man diese verletzt, weigert man sich, einen Anderen als „ethnisch“

5 | Die Radiosendungen, die Cayley aus den Gesprächen gestaltet hat – das Transkript ist erschienen als Illich 2005, die Übersetzung als Illich 2006 (In den Flüssen) – können auf http:// www.davidcayley.com/podcasts/2014/12/11/the-corruption-of-christianity [letzter Zugriff am 25.6.2019] angehört werden. 6 | Illich weist freilich die Experten-Bezeichnung „Theologe“ für sich zurück. (Illich 2006: 88) Ich gebrauche den Begriff hier in allgemeinerem Sinn: Wer immer von seinem Glauben, seiner Hoffnung Rechenschaft gibt (vgl. 1 Petr 3,15), betreibt Theologie.

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zugehörig zu behandeln. Jesus hingegen schafft die Möglichkeit, sich dem Anderen als bloßem Menschen zu verpflichten. Wer dann aber diese Beziehung bricht, verweigert dem Anderen nicht weniger als eben dieses Menschsein. Wo also der ethische Verstoß lediglich verneint, dass der Andere „dazugehört“, negiert die Sünde dessen ganze Existenz. So werden wir ohne die Grenzen und den Schutz des ethnos frei – und zugleich in beispielloser Weise voneinander abhängig. „Ich glaube, Sünde ist etwas, das als Entscheidungsmöglichkeit des Menschen [. . . ] nicht existierte, bevor Christus uns die Freiheit schenkte, uns gegenseitig als Personen zu sehen, die dazu aufgerufen sind, wie er zu sein. Indem er diese neue Möglichkeit des Liebens schuf, die neue Art und Weise, einander zu begegnen, diese radikale Narrheit [. . . ], wurde auch eine neue Form des Verrats möglich. Deine Würde hängt nun von mir ab und sie bleibt solange nur eine Möglichkeit, bis ich sie in unserer Begegnung verwirkliche. Diese Ablehnung deiner Würde – das ist Sünde“. (Illich 2006: 87) Aus der Gefährdung der durch Jesus eröffneten Freiheit entsteht das Verlangen, sie durch Regeln einzuhegen und mit Garantien zu versehen; beides macht gewaltige kollektive Anstrengungen erforderlich. Auf der einen Seite bemüht man sich um die Bewältigung der Sünde: Man will ihr das Bedrohliche nehmen, indem man sie in kleinste Bestandteile zerlegt, im Zuge der Beichtpraxis immer wieder reflektiert, zunehmend juridisch kodifiziert, schließlich kriminalisiert und dann auch mit staatlichen Mitteln systematisch verfolgt. So erschafft die Kirche ein ausgefeiltes System der Disziplinierung und Selbstkontrolle – und bereitet damit nicht nur der modernen Disziplinargesellschaft den Weg, die durch Überwachen und Strafen funktioniert (Foucault 2008), sondern auch der „postmodernen“ Kontrollgesellschaft, in der das Subjekt als Unternehmer und Optimierer seiner selbst die eigene Unterwerfung auf die Spitze treibt (Deleuze 1993). Auf der anderen Seite versucht man so etwas wie eine Bewältigung der Liebe: Wie hält man einem moralischen Anspruch stand, der durch keine Zugehörigkeit mehr eingeschränkt ist? Wie kann man schlechthin allen Menschen helfen, die der Hilfe bedürfen? Wie gehe ich damit um, dass ich, sobald die Grenzen des ethos-ethnos-Zusammenhangs gefallen sind, unweigerlich an die eigenen Grenzen stoße – die ganz die meinen und nur mir zuzuschreiben sind? Die Kirche antwortet darauf, indem sie entlastende und effektive Institutionen aufbaut: Armenhäuser, Krankenhäuser, Schulhäuser und Arbeitshäuser. Aus ihnen gehen wiederum zentrale Institutionen der Moderne hervor: Soziale Versorgung, das Gesundheits- und Bildungssystem, die Fabrik. Diese neuen Institutionen folgen freilich ihren eigenen Gesetzen. Ging es ursprünglich darum, einen Menschen, wer auch immer er sei, in konkreter, leibhafter Begegnung als Menschen zu erkennen, ihm in der Not zu helfen und seine Freude zu teilen, wird nunmehr seine Bedürftigkeit versorgt, seine Krankheit behandelt, seine

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Unwissenheit beschult, sein Tatendrang in Arbeit kanalisiert – und das umso effektiver, je mehr man beginnt, von seinem Menschsein abzusehen. Dabei verliert der versorgte Arme die Mittel und die Fähigkeit zur Subsistenz; der behandelte Kranke vergisst die Notwendigkeit, seinen Leib als verwundbar und endlich anzunehmen; der Beschulte verlernt das Lernen; der Arbeiter verliert die Spontaneität des schöpferischen Tuns; und der gigantische ökonomische Apparat, der all diese „Fortschritte“ am Laufen hält, zieht derweil eine Spur der Verwüstung nach sich.7 So verkehrt sich die Freiheit zu unbedingter Menschlichkeit in Entmenschlichung. Eben die Institutionen, die in der „Nachfolge Jesu“ entstehen und sich heute bis in die letzten Flecken der Erde ausgebreitet haben, pervertieren seine Botschaft ins Gegenteil. Die Moderne ist für Illich eine Folge des Evangeliums: Doch kommt weder das Evangelium in der Moderne zu sich selbst, noch stellt sie seine säkulare Überwindung dar. Die Moderne ist ein Verrat am Evangelium, der sich als seine Erfüllung ausgibt. Was einer alle Grenzen überschreitenden Hinwendung zum Anderen dienen sollte, wird zu einer alle Grenzen überschreitenden Katastrophe. Corruptio optimi pessima: Aus der Verderbnis des Besten entsteht das Schlimmste. Bestimmte Ausdrucksformen dieses Paradoxes hat Illich andernorts als „Kontraproduktivität“ bezeichnet. Beispiele dafür sind „[s]ozialer Zeitverlust durch die Beschleunigung des Verkehrs, strukturell iatrogene (kränkende, krankmachende) Medizin, sozial-verdummende Zwangserziehung, ein Nachrichtenwesen, dessen Informationsflut Bedeutungen untergräbt und Sinn überschwemmt, wachsende Abhängigkeit, die durch Bewusstmachung zementiert wird. [. . . ] Diese Art von Zweckwidrigkeit verweigert der Mehrzahl von Klienten eines modernen Produktionssystems (Schule/Medizin/ Verkehrssystem) genau jene Vorteile, um derentwillen die entsprechende Institution ausgedacht, verwirklicht und finanziert wurde.“ (Illich 1995a: 135; vgl. auch Illich 1995b: 14) So spricht Illich als Soziologe oder Historiker. Als Theologe nennt er die Kraft, die durch eine beispiellose Freiheit zum Guten entfesselt wurde und diese in ein noch nie dagewesenes Böses verdreht, den „Antichristen“. Er bezieht sich dabei auf eine dunkle Stelle im Zweiten Thessalonicherbrief (2 Thess 2,7), wo von einem „Geheimnis des Bösen“ die Rede ist, das man traditionell mit dem endzeitlichen Gegenspieler Christi in Verbindung bringt. Dieser „Antichrist“ zeichnet sich gegenüber anderen Formen des Bösen dadurch aus, dass er dem Christus selbst zum Verwechseln ähnlich sieht. Der Antichrist, so Illich, predigt „allgemeine Verantwortung [. . . ], globale Wahrnehmung, ergebene Hinnahme von Belehrung,

7 | Wie sehr das insbesondere, aber keineswegs nur für die heutige Industriegesellschaft gilt, erschließt sich bei der Lektüre von Fabian Scheidlers (2015) „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“.

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statt etwas selbst zu erkunden, und Beratung durch Institutionen“. Aber die schöne Maskerade bröckelt. Illich geht davon aus, dass er Zeuge einer „apokalyptischen“ Zeit ist – einer Zeit, in der „das Verborgene zutage tritt“. Die Verheerungen der Moderne hätten ein solches Ausmaß und solch eine Zuspitzung erfahren, dass das wahre Gesicht des Antichristen bald für alle sichtbar werden müsse. „Ich behaupte“, so Illich, „dass das mysterium iniquitatis ausgebrütet ist. Ich weiß zu viel von Kirchengeschichte [von den vielen verfehlten Ankündigungen der Endzeit], um zu sagen, dass es nun seine Schale aufbricht, aber ich wage zu sagen, dass es jetzt deutlicher gegenwärtig ist als je zuvor. Deshalb ist es völlig falsch, mir die Vorstellung zuzuschreiben, wir hätten es mit einer nach-christlichen Ära zu tun. Im Gegenteil, ich glaube, dass es sich heute paradoxerweise um die am offensichtlichsten christliche Epoche handelt, die möglicherweise dem Ende der Welt recht nahe ist“. (Illich 2006: 195) Zwei prominente Denker haben in jüngerer Zeit Illichs Apokalyptik aufgenommen: Charles Taylor und Giorgio Agamben. Taylor findet in Illich einen Zeugen für den Grundgedanken seines Werks „Ein säkulares Zeitalter“ (2007): dass die säkulare Moderne mit all ihren Ambivalenzen und Pathologien aus dem Christentum selbst, als seine Fortentwicklung und Entstellung, hervorgegangen sei. 8 Am Ende kommt Taylor allerdings zu einem dünnen Fazit: „Normen, sogar die besten Normen, können zu idolatrischen Fallen werden, die uns zu Komplizenschaft mit Gewalt verführen. Illich kann uns daran gemahnen, uns nicht ganz der Norm zu verschreiben, auch nicht der besten Norm eines friedliebenden, egalitären Liberalismus.“ (Taylor 2007: 743. Übers. A. K.) So wird aus Illichs beißender Apokalyptik bekömmliche Kost! Giorgio Agamben hingegen betont vehement, dass es in der Auseinandersetzung zwischen Christus und Anti-Christus „um ein Drama oder einen Kampf“ geht, „in dem sich sehr konkrete geschichtliche Kräfte gegenüberstehen“ (Agamben 2015: 54, zum Bezug auf Illich ebd.: 22) und was am Ende zutage treten werde, das sei nicht weniger als „die Unwirksamkeit des Gesetzes und die Illegitimität jeder Macht“ (ebd.: 52). Mit Recht wirft Agamben der Mainstream-Theologie vor, die eschatologische und apokalyptische Tradition des Christentums entzeitlicht, stillgestellt, ontologisiert zu haben. Er selbst jedoch ist von dieser Tendenz nicht frei: Er meint, dass jener „Entscheidungskampf“ in der Geschichte „unablässig ausgefochten“ (ebd.: 57) werde. Unablässig? Ist nicht auch dieses „unablässig“ eine heimliche Entzeitlichung? Ein echter Kampf dauert nicht „unablässig“ an, er kann auch verloren werden. Und vielleicht ist er das schon. Auch das könnte Illich mit dem „Ende der Welt“ im Blick

8 | Siehe dazu Lehmann 2011, Gregory/Hunt-Hendrix 2014.

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haben. Wenn die Geschichte wirklich ein „Drama“ ist, dann gibt es die – schreckliche – Möglichkeit, dass der Christus, der Messias, scheitert. Schon in „Die Beredsamkeit des Schweigens“ spricht Illich mit Blick auf den Verräter Judas, „den Er liebte, aber nicht retten konnte“, von einem „höchsten Paradoxon [...] der Fleischwerdung, die für die Erlösung wenigstens eines persönlichen Freundes nutzlos war“. (Illich 1996: 97) Was nun, wenn der „Verrat“ als „Verkehrung der besonderen Freiheit, die das Evangelium brachte“ (Illich 2006: 86), die Oberhand gewinnt? Nur wer diese Möglichkeit in Betracht zieht,9 kann wie Illich solche Sätze sagen: „Je mehr du dir erlaubst, das Böse, das du siehst, als Böses einer neuen, geheimnisvollen Art zu begreifen, desto stärker wird die Versuchung – ich kann nicht umhin, es auszusprechen, ich kann nicht fortfahren, ohne es auszusprechen –, die Inkarnation Gottes zu verfluchen.“ (ebd.: 86). Hier spricht Illich nicht als „Besucher“, sondern als „Gefangener“ einer Welt, aus der es kein Entrinnen gibt.

D ER „G RUND

AUF DEM ICH STEHE , AUF DEM ICH BESTEHE “

Was kann man nach all dem über Ivan Illichs „Haltung“ sagen? Nicht wenige meinen, Illich sei ein Reaktionär. Sie kommen darauf, weil er den Verlust „ethnischer“ Lebensformen betrauern kann; ihrer Fähigkeit zu Subsistenz und Selbstbeschränkung, ihrer Vernakularität, ihres Sinns für Proportion. Dann ist Illich in Versuchung, „die Inkarnation Gottes zu verfluchen“. So lese ich auch „Genus“, Illichs umstrittenstes Buch. Darin stellt er im vormodernen Geschlechterverhältnis Beispiele „asymmetrischer“ (Illich 1995a: 12) – oder besser: „dissymmetrischer“ (Illich 2006: 224) – Komplementaritäten zwischen Frau und Mann heraus, durch die ihnen jeweils Räume, Handlungen, Welt-Wahrnehmungen zugeschrieben wurden, die sich gegenseitig begrenzten und zugleich aufeinander angewiesen waren. Demgegenüber sieht Illich die Durchsetzung des modernen Sexus – des „Geschlechts“ als eines sekundären Merkmals von Individuen – eng mit dem Übergang zur entgrenzten kapitalistischen Wachstumsökonomie verbunden. Diese habe einzig dadurch entstehen können, dass „der ‚Mensch‘ als individuell, possessiv und in Bezug auf das materielle Überleben geschlechtslos – als raffgieriges ökonomische Neutrum – betrachtet wurde.“ (Illich 1995a: 122) In dieser Reduktion auf den zugehörigkeits- und geschlechtlosen homo

9 | Ausdrücklich tut dies Sergio Quinzio (1996), den Illich (der ihm nie persönlich begegnet ist) als „meinen Sergio Quinzio“ bezeichnet (Illich 2006: 230).

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oeconomicus begegnen wir wieder einer pervertierten Form des Evangeliums – das denen, die in Christus sind, verheißt: „nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht männlich und weiblich“ (Gal 3,28). Wer „Genus“ liest, kann beizeiten den Eindruck haben, dass Illich angesichts jener Pervertierung das Evangelium selbst – das alle Begrenzungen, auch die des Genus, durchbricht10 – „verfluchen“ möchte. Dennoch – wo Illich von einer Wiedergewinnung der „Kunst des Lebens“ spricht, kann er wohl kaum den – ohnehin müßigen – Versuch im Sinn haben, untergegangene Verhältnisse zu restaurieren. Wenn seine Gesellschaftskritik, seine Apokalyptik praktische Folgen haben kann, dann muss es hierbei um eine Neuentdeckung „konvivialer“ Lebensweisen gehen: um die Suche nach neuen Formen der Komplementarität, nach einem neuen Sinn für Proportion, nach neuen Praktiken der Selbstbegrenzung – hier und heute, inmitten dieser beschädigten Welt, freundschaftlich, in radikaler Freiheit. Der „Anspruch auf Leben-Können“ setzt, wie Illich schreibt, „die Offenheit für Überraschung voraus“. (Illich 1995a: 123) Der Grund, auf dem Illich steht, ist also nicht die Vergangenheit, aber auch nicht die Zukunft, mit deren „Schatten“ (ebd.) in Gestalt von Spekulationen und Rezepten er nichts zu tun haben will. Gleichwohl ist sein „Vor-Urteil“ kein solches der Hoffnungslosigkeit. Gegen alle Evidenz hält er daran fest, dass Beheimatung in dieser Welt, dass ein Nachhausekommen der Welt selber möglich sei. Zum Abschluss seiner Interviews stellt Cayley die Frage: „Welche Praktiken, welche Haltungen sind notwendig, um mit Glauben in einer Welt zu leben, die selbst eine Perversion des Glaubens ist?“ (Illich 2006: 251) Illich findet darauf folgende Antwort: „Um unser Hauptbild, unseren leitenden topos, den Samariter, wieder aufzugreifen: der Samariter handelt, weil sein Tun gut ist, nicht weil dieser Mann gerettet oder nicht gerettet werden kann, nicht weil dieser Mann medizinische Hilfe benötigt oder Essen braucht, sondern weil er – einmal angenommen, ich sei der Samariter – mich braucht. Was die Gegenwart des verprügelten Juden im Bauch des Samariters hervorruft, ist eine Antwort, die nicht zweckgerichtet ist, sondern umsonst und gut. Und ich behaupte, dass die Wiedergewinnung dieser Möglichkeit die eigentliche Frage ist, um die er hier geht – nämlich die Möglichkeit, dass ein schönes und gutes Leben vor allem ein Leben der Umsonstigkeit ist, und dass Umsonstigkeit etwas ist, das erst aus mir fließen kann, wenn es durch dich eröffnet und herausgefordert wird.“ (ebd.: 253)

Mir scheint, es ist dieses von ihm selbst erfundenen Wort „Umsonstigkeit“, mit dem Ivan Illich auf das verweist, worin er sein Dasein gründet, wofür er lebt, worauf er be-steht. In der alten Sprache der Theologie nennt man es „Gnade“.

10 | Siehe dazu Ward 2006.

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Zimmermann, Ruben (2007): Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter). Lk 10, 30-35, in: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh.

vergehen:alles vergehen ist alles wächst im vergehen. wächst die frucht, das gras, die blumen. wachsen und wachsen dem verblühen entgegen: wächst das blühen dem verblühen entgegen. liegt eine stille im vergehen. kraft wie ein schrei. wünsche vergehen. wachsen zuerst wie berge und täler hochtürme und gross, grösser und grösser ein aufbau, aufbausch, ein nicht mehr zu halten um dann zu vergehen, wie eine welle zu ebben nach flut ein flachen abflachen am strand mit gespreizten beinen in die jahre gekommen ein wippen im knie mitochondrien knicken jahre in zahlen entfärben das laub, dein haar schwache glut bewegung vermag kein entkoppeln ein wenig geneigt: schimmernder rücken ist möglich du springst ist möglich nach rechts nach vor nach zurück oder links alles ist möglich im spiel oder machst du schon ernst ist möglich du nimmst abschied sagst: jetzt! Erika Kronabitter

Taedium Vitae oder die Mündung der Existenz Norbert Loacker Onus animi deponendum est: non ante tibi ullus placebit locus. S ENECA

Blum, jenseits der Zielmarke seiner Karriere, hat seine Frau und die Geliebte verlassen, wie eine einzige Person, er empfindet es so in der Stille seines Autos. Die ersten Stunden fuhren sie beide noch auf dem Rücksitz mit, nirgends abzusetzen, jede in ihrer Ecke, später sogar zusammenrückend, fast wie Schwestern, jetzt zwischen den Bergen nur noch ein einziges Phantom, das Blum loswerden möchte, ohne Andenken und Suchbild, nichts, vor dem er geradestehen müsste. Er kurvt die Bernardino-Kehren talwärts, einen leichten Tessiner Nachmittag um sich herum, der Rücksitz jetzt endlich leer, der Zöllner in Chiasso winkt ihn durch. Hinter den altertümlichen Tunnels über Como beginnt er, eine Gewohnheit von früher, die Namen auf den Ortsschildern laut vor sich hin zu lesen. Er kommt in die Lombardei, hält sich vor Mailand südlich, denkt an Rom als Ziel, bei Parma verlässt er, um den ersten italienischen Abend zu begehen, die Autobahn, Rom kann warten. Er tankt den Wagen und fährt stadteinwärts, folgt Hotelweisern über den Parmadamm, durch die Gewölbe der Pilotta hinaus auf die Via Garibaldi. Letzte Schilder zum Hotel Torino, Dreistern, versteckt in der Enge gegenüber dem Teatro Regio, Neuland in Abendgelb. An der Rezeption des Torino eine Signora, betagt, Würde und Wärme des Hauses, sie hat noch ein letztes Zimmer für ihn, im zweiten Stock. Es liegt über dem Eingang, eher eine Zelle, wenig Licht von draußen, bodenlange Vorhänge, Tapeten in hellem Ocker, aus einem unsichtbaren Füllhorn mit Phantasieblumen überschüttet, das Kopfende des Doppelbetts Messingrohr. Blum zieht sich aus, duscht in der klammen Kabine, über sich das strapazierte Rattern eines Ventilators, legt sich erfrischt auf den Bettüberwurf, aus der Tiefe des

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Borgo erklingen Zurufe und Grüße, er schlummert ein, am Ende eines ersten solchen Tages, mit unerklärlich gutem Gewissen. Eine Stunde später erwacht er vom Bimmeln einer Fahrradglocke unter seinem Fenster und vom Hunger, er möchte zu den Leuten hinaus, der Abend ist noch hell, durch den Borgo bewegen sich viel mehr Menschen als bei seiner Ankunft. Die Signora sitzt noch immer an ihrem Platz, auf den offenen Seiten ihres Gästebuchs sieht Blum ein Nagellackfläschchen. Er fragt nach einem Restaurant, La Filoma, sagt sie, leicht zu finden, die nächste Straße hinter der Via Cavour, halbwegs zum Battistero, nicht zu verfehlen, sie wird anrufen. Es ist ein milder Abend, ein blassblauer Himmel, in der Cavour drängen sich die jungen Leute von Parma, Blum flaniert zur Piazza Garibaldi hinauf, nimmt Gesichter, Körper, Stimmen, starke Gesten wahr, ganze Beete von Handys, bestellt unter dem Rathausturm einen Campari, lässt seine Finger von den Oliven über die Chips zu den gewürfelten Tramezzinis wandern und holt mit einem Espressolöffel Erdnüsse aus einer versilberten Schale. So ist das hier, wird ihm bewusst, jeden Abend, der warm genug ist. Am Kiosk vor San Pietro, unter den stechenden Blicken von Padre Pio und den Nimm-michs der Pin-ups, erwirbt er einen Stadtführer, zwei Tage, drei Tage hier bleiben, meint er, fürs erste, wozu etwas überstürzen, und dann nach Rom, oder wohin immer. Im La Filoma heißt man ihn willkommen, das Torino hat sich gemeldet, ein Glas Prosecco zum Einstand und Zeit für die Atmosphäre, man geht davon aus, dass er sich umsehen möchte, in Ruhe einfühlen. Es ist noch früh, er wird sich bald anpassen, erst an einem Tisch in der Ecke gegenüber sitzen andere Gäste auf den schwarz lackierten Thonetstühlen. Gedeckt ist schweres Silber auf altrosa Damast, man ist von hohen ockerglänzenden Wänden umgeben, darauf große Spiegel in Goldrahmen, leichte weiße Vorhänge bewegen sich vor halboffenen Palazzofenstern, aus versteckten Lautsprechern erklingen, Gespräche und Geräusche bürgerlich untermalend, Rigoletto, La Traviata, Nabucco. Zwischen den Fenstern hängt das Porträt der habsburgischen Herzogin Maria Luigia. Blum ist, meint er, diesem dynastisch langen Gesicht schon einmal begegnet, im Schaufenster eines Antiquariats, in der Cavour oder auf dem Weg hierher, er wird versuchen, später etwas über sie herauszufinden, den Stadtführer will er hier nicht bemühen. Vielleicht, ohne das Drumherum der Maler und Schneider, eine ganz passabel schöne Frau, jedenfalls ziemlich kokette Augen, für ein allerherzoglichstes Porträt, attraktive Rundungen und eine noble Vorliebe für Organdy auf der weißen Haut. Blum lebt, ohne einen drängenden Gedanken an die verstreichende Zeit, in Parma. Im Filoma mag man ihn längst, am meisten Teresa, Buona sera, dazu Lächeln tief aus

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den Augen und Extras aus Herzensgüte. Rom ist aufgegeben, im Hotel fragt man nicht mehr nach seiner Abreise, die Signora rechnet in Abständen ab und gewährt schon Ermäßigung. Blum begegnet Teresa nach Dienstschluss, es ist kurz vor Mitternacht, die große Piazza Garibaldi ist menschenleer. Nach dem Essen geht er jedes Mal lange durch die Stadt, zum Abschluss immer über die Piazza. Teresa kommt die Via Repubblica herauf, geht am hellen Sockel des Denkmals vorbei auf die Kolonnaden der Via Mazzini zu, außerhalb des Lokals ist sie klein wie eine Zwölfjährige zwischen Kirche, Banken und Palästen. Blum hält sich, albern, wie er gleich darauf findet, in Deckung, schleicht die weißen Fiat-Taxis entlang, nutzt den großen Kiosk vor San Pietro. An der Mündung der Via Mazzini taucht er dann doch in Teresas Nähe auf, Teresa, todmüde, freut sich, sie hat ihn, natürlich, nicht kommen sehen, hier, sagt sie einfach, gar nicht vermutet, ich wohne drüben in Oltretorrente, erklärt sie ihm, bei meiner Schwester. Sie lässt sich begleiten, in den leeren Kolonnaden hallen die Schritte, halbwegs zum Fluss beginnt die Straße gegen den Damm anzusteigen. Von der Uferstraße herunter biegt ein Bus in die Mazzini, an der Kreuzung vor dem Ponte di Mezzo blinken die gelben Lichter der Ampeln. Wie lange er in Parma bleiben wird? Geschäftlich, privat? Wie lange arbeitet Teresa schon im La Filoma? Gefällt ihr die Arbeit? Blum, anderntags, entsinnt sich nur ungenau des Gesprächs. Von der Brücke aus sieht man die Silhouette der Uferhäuser von Parmas Westen über dem breiten Flussbett. Auf der Höhe der Brücke hält Blum an, Teresa, zu müde für Förmliches, legt ihm die Hand auf die Schulter, küsst ihn auf die Wange, geht dann die lange Neigung der Brücke hinunter, er kehrt um, so war das gemeint, er kennt Oltretorrente nicht. So spät ist kein Mensch mehr auf der breiten Treppe zum Ghiaiamarkt hinunter, Blum nimmt Stufe um Stufe. Heruntergelassene Rollos überall vor den Kiosken, die Läden an der Flussseite schwer vergittert, die schmalen Gänge durch die Kioske säuberlich geräumt, in der offenen Zwischenhalle Müllcontainer und Harasse in großen Stapeln, hungrige Katzen streifen suchend dazwischen und lecken Wasser unter den tropfenden Hydranten, der Umriss der Pilotta schwebt, dunstig und stofflos, über dem Norden des Markts. *** Im Anblick des berühmten Doms, meistens am frühen Vormittag, hockt Blum auf den glattgesessenen steinernen Wandbänken an der Riesenfront des bischöflichen Pa-

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lasts, mit rundem Rücken, vor den Füssen bis hinüber zu den Domstufen das Quadrat von holprigem Kopfsteinpflaster, Fußgänger und Radfahrer, beobachtet er, halten sich jenseits der Wasserrinnen an die glatteren Ränder. Der Granit der Palastbänke hat Nachtkälte gespeichert, sie dringt ihm langsam durch die Kleider, er hält trotzdem aus, den Hintern auf bischöflichem Stein, den Blick auf dem blassen Fünfeck von Santa Maria Assunta, er lässt sich frieren, als ob ihn das weiterbringen könnte, irgendwie, über fünfzehn, sechzehn ungenaue Stunden, sein Warten auf Teresa, und nichts Bestimmtes danach, Teresas kleiner Kuss, unsicher in seiner Erinnerung, von Oltretorrente herüber weht Morgenwind und dreht die dünnen Rauchfahnen von den Kaminen der umliegenden Häuser und Palazzi behutsam nach Westen. Im Rücken den nachtkalten Palast, vor Blum den ins Frühlicht gereckten Campanile, malt er sich das bedrückende Innere von Türmen aus, steile Treppen, klobige Böden, Vogelkot, Zugluft durch die Lichtluken. Daneben, wenige Schritte, liegt das Hauptportal in der flachen Fassade, Säulen, Bögen, Nischen, Balustraden, himmelfahrtsleicht, dreistöckig, bis unter den Giebel, Einlass in den liegenden Leib der Assunta, weibliches Tor zum Himmel, alles Nennenswerte, findet Blum fröstelnd, wartet hinter Toren, alles Erlebenswerte, Türme, folgert er im Aufstehen, die Hände wärmend auf dem Hintern, sind ein Rückfall ins Versteifte und Männliche. Die Turmuhr, tiefliegend auf dem untersten Gesimse, hat Blum eine Stunde abgenommen, er geht vom Platz, dankbar. *** Blum schlendert über die vormittägliche Piazza Garibaldi, im ansteckend matten Takt der Rentner, die sich von Stehenbleiben zu Stehenbleiben schleppen, um immer wieder von vorne so ohn- wie wortmächtig und mit garibaldischen Gesten die weiten Welten der Obstpreise, Sportresultate, Parteibeschlüsse und Mädchenkörper zu erörtern, und Blum stellt sich vor, wie abgrunddunkle Häuser in den Quartieren weitab von Dom, Battistero und der Santa Maria della Steccata ihre zum Bücken niederen Gehtüren geöffnet haben, um ihre Statisten auf die Piazza zu entsenden und dort das Elfuhr-Palaver von Parma zu spielen. Er fühlt, wie niemand ihn braucht, um an den in die Höhe schießenden Gewölben der Meinungen und den Luftkuppeln der Urteile mitzubauen, die hier Tag für Tag als Kulissenstadt neu errichtet und dann, wenn das Mittagessen ruft, wieder dem Zerfall überlassen werden. Vor der Bar neben San Pedro sind die Tischchen frei, auf der Terrasse über der schmalen Straße sitzen jugendliche Touristen beim Cappuccino, ein wenig abseits davon eine hübsche junge Mutter neben dem sperrigen Buggy, von dem aus ihr Baby

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mit Ikonenaugen den tief vorbei fliegenden Tauben nachfiebert, als sähe es lauter Engel. Eine Art Lebensfriede liegt zwischen den Gebäuden der Piazza, eine fotogene Würde aus verschiedenen Epochen, als sei auf einmal und unerwartet der Vorhang über vielen Stücken, darunter auch etlichen langweiligen, enttäuschenden und bösartigen, gefallen. Und Blum findet, von der Piazzastimmung eingehüllt, sein Hiersein wäre etwas weniger grundsätzlich, wenn er ein Zeichen gäbe, ein noch so schwaches, seiner Tochter Lisa zum Beispiel, eine Postkarte wäre schon genug, sodass, was immer jetzt noch folgen würde, nicht so heraus käme wie ein Kurzschluss, der sich hätte vermeiden lassen. Am Kiosk vor der Bar dreht Blum, zwischen Pin-ups und Padre Pio, alles im Plural von Sünde und Sanctus, das Karussell mit den Parmakarten. Lisa war noch nie in Parma. Und eine neue Seite an ihm – Ach, dieser Dad! – braucht sie nicht zu entdecken. Il Duomo Santa Maria Assunta e il Battistero di Parma. Kein goldenes Abendlicht darüber, nur einige Leute davor, auf den Domstufen sitzend, kreuzhohl auf dem Fahrrad zum rechten Bildrand unterwegs, hinter dem man früher oder später zur Repubblica käme und über sie auf die Piazza Garibaldi, die Zeiger der Turmuhr auf zehn, Kaffee und Dolce bei Cocconi, Prosecco auf der Piazza, keine Saluti di Parma, die Biefmarke fürs Ausland. Marco, seit gestern ein alter Bekannter, hat Blum von der Theke aus kommen sehen. Ein Kopfheben und Lächeln für den werdenden Stammgast. Buon giorno, vernehmlich, weil hier jeder gern jeden vernimmt. Dann sind seine Hände über dem Tresen wieder bei der Sache. Auf Blum wartet, als er eintritt, schon der Martini, dahinter der Teller mit den klein gewürfelten Panini. Come va, Signore Blum, tutto bene, Marco. So liebt man in Parma die Welt, alles in Ordnung. Über den Rest reden die Rentner. Die Karte verkehrt herum ans Martiniglas gelehnt, die schöne Marke vom Kiosk, als ob sie für sich allein schon die gute Nachricht sei, im Kopf Liebe Lisa, ich sitze hier... Am Kiosk die Halbtotenmaske des Großen Sterbenden, Maria – „totus tuus“ – hat ihn vermutlich unheilig im Stich gelassen, ihr Assunta-Matronat abgetreten an etliche Barbies in Sichtpackungen und eine Maria Luigia in Postergrösse, ein Ikonostas, der niemanden zum Beten bringt, die Litaneien leiern Berlusconi, Eros Ramazotti und die Gazetta dello Sport. Liebe Lisa, die Leere der Karte dehnt sich wie der sauber gefegte Boden unter den Tischen von San Pedro, Liebe Lisa, ich... Auf der Rückseite der Dom, der Campanile, das Baptisterium, keine Ahnung, wie ich da durch käme, ohne im Himmel zu landen wie ein Padre und ein Papst. Liebe Lisa, es bleibt bei diesem einen kleinen

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verklingenden Stabreim, über Parmas Dächer und Ebenen zurück nach Hause. An der Kartenkante ist kein Durchkommen für irgendetwas, weder gute noch schlechte Gründe, kein Waswärewenn. Mir geht es gut und Herzliche Grüße, die Leere der Zeilen davor, aber wenn schon der Absender damit nichts anfangen kann, oder damit erst anfängt, ein Zeichen geben, Liebe Lisa, oval ist die Olive auf dem Sticker zwischen meinen Fingern, glatt, glänzend und so grün, wie nur eine Olive grün sein kann, ich hätte gern mehr gewusst, aber wo war es genau, als ich den ersten Schritt ins Leere machte? Die Postkarte, leer, ans Martiniglas gelehnt, trägt einen Text, den niemand sieht, keine Adresse, kein Absender, kein Wort, Leere um eine süße Briefmarke zu Ehren des Parmigianino. Ein Stückchen Brot fällt Blum aus der Hand, eine Taube aus den nahen Gesimsen von San Pedro landet, trippelt ihm über den Gehsteig vor die Füße und pickt danach, ein, zwei Versuche, es wäre etwas für den Kleinen in seinem Buggy neben Mamas Beinen gewesen. Aber ihm sind vielleicht die Engel näher. *** Blum frühstückt in einer Bar am oberen Ende der Via Cavour, zwischen Leuten, die er sich nach und nach einprägt, sie bestellen hier jeden Morgen Espresso oder Cappuccino, nehmen sich aus den Vitrinen Brioche oder Schinkenbrötchen, lesen im Stehen oder an den Tischchen unter der Spiegelwand in großen, dünnseitigen, lachsrosa Zeitungen. Manche, ein Carabiniere neulich, kommen nur einmal, fallen auf, bleiben Blum im Gedächtnis. Der junge Mann stand unweit der Tür, exakt und konzentriert, fünfundzwanzig höchstens, seine Kappe auf dem blank gewischten Marmortresen, einen Ellbogen zeremoniell aufgestützt, in der Hand die Espressotasse. Er rauchte, warf von Zeit zu Zeit einen Blick zu den Spiegeln, kurz, ernst, besorgt, er war schön, auf mediterran, mittelgroß, unruhig, seine Zigarette verglühte unter wenigen heftigen Zügen, den Kaffee nahm er bitter und in einem einzigen Schluck, bei geschlossenen Augen, weich und akkurat setzte er die Tasse ab, erstickte dann im Sandbehälter seine Zigarette, die Berührung mit dem Sand, das sah man, ekelte ihn. Aus der Hosentasche beförderte er schließlich das nötige Kleingeld auf den Tresen, setzte die Kappe auf, schob sie, mit Blick auf die Spiegel, in die Schräge und grüßte dann lässig militärisch, es galt allen Anwesenden. Schnell und unauffällig maß er Blum von Kopf bis Fuß, er hatte bemerkt, wie er ihn beobachtet hatte, vor der Tür verhielt er einen Augenblick und wandte sich dann mit einem Ruck nach rechts, in Richtung Piazza Garibaldi, seinem exakten Alltag zu.

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Die Via Cavour am Morgen, dunkle Nässebahnen der Straßenreinigung vermitteln Kühle, Frische, Sauberkeit, Einheimische passieren sie auf dem Weg zur Arbeit, zu gehobener oder doch interessanter Stellung, korrekt und elegant, mit bürgerlichem Ernst. Wer hier sein Geschäft hat, greift, schön wie aus dem Journal, selbst zu Besen, Lappen, Wasserkübel und reinigt den Vorplatz und die großen Scheiben der Schaufenster. Vor den Banken, dem Buchladen, dem Feinkostgeschäft, der Bar Italia, der Apotheke, der Eisdiele ist das nicht anders. Santa Lucia, barock, hält die kleinen Schwingtüren im Hauptportal offen, dunkel gekleidete Frauen gehen aus und ein, Jahre auf dem Rücken, Taschen in den Händen. Es drängt kein Verkehr durch die Cavour, nur Radfahrer nutzen sie, Damen, Herren, ohne Sport und Eile, gepflegt, unerschütterlich. Blum, zögernd vor seiner Bar, steht vor einem zerdehnten, ungenauen Tag, was tun, bis es wieder Zeit für Teresa ist, fünfzehn, sechzehn Stunden. *** Colorno, mit dem Bus eine Stunde aus der Stadt, über Land, Richtung Mantua, Gegend zwischen Autobahn und Po. Die ältesten Gutshöfe sind ausgestorben, ziegelrote Wracks, die schnurgeraden Zufahrtswege gibt es noch, die schönen Tore zur alten Landstraße, die schwarzen Zypressen, dazwischen die toten, gleichfalls ziegelroten Kirchen, vom Himmel verlassen, die Friedhöfe hinter hohen Mauern. Die Fruchtbarkeit verausgabt sich für neue Herren, die Straße entlang reihen sich Containerhallen und Rollplätze für Lastwagen, im Vorbeifahren sucht Blum mit den Augen nach Pfirsichspalieren und Melonenfurchen, freut sich an den klingenden Wegweisern nach abgelegenen Dörfern. Blum verlässt in Colorno den Bus, ein Denkmal für gefallene Soldaten ragt über geparkte Autos, sendet Namen um Namen in das erinnerungslose Licht von heute, die Mantuastraße biegt nach rechts. Nur wenige Schritte vor Blum liegt der Hauptplatz, dahinter ein Stück Schlossfassade, es ist Markt, eine Uhr schlägt elf, ein ernster italienischer Landmarkt, um eins, wie üblich, wird der Abbruch beginnen. Der Platz im parmagelben Widerschein der restaurierten Schlossfassade, unter Schirmen und Camiondächern das Sortiment ganzer Geschäfte. Zum Schlosstor führt die Gasse der Kleiderhändler, auf ihren Tischen stapelweise Hemden, Jeans, Strickjacken, Arbeitsmonturen, Socken, Unterwäsche, Strumpfhosen, die besten Stücke vom Gestänge baumelnd, dicht bei dicht und nach Größen sortiert. Die Schuhhändler lauern neben Halden offener Schachteln, rufen Preise zu, helfen beim Suchen. Vor den Bürgerhäusern sind die Gemüse- und Obstbauern aufgefahren, Harasse, offene Säcke, verbeulte Schalen auf Klapptischen, altmodische Standwaagen mit riesigen Zeiger-

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blättern und ausladenden Schalen, was zu schwer für sie ist, heben die Männer an die Haken altertümlicher Federwaagen. Die besten Plätze an der Straße belegen die lackweißen Kioske für Geflügel, Fische, Parmesan, Langhiranoschinken, Honig, Nüsse, Pistazien, Kastanien, Gewürze, Brot, und, in Packungen von Gold und Silber, Lavazza, die alleinregierende Kaffeesorte, ganz draußen, vor der Parmabrücke, glänzen bergweise die Küchen- und Gartengeräte. Blum trinkt, alles betrachtend, einen Kaffee, Entspannung in Colorno, auf den gebleichten Spaghettistühlen vor dem Arkadencafé sitzen Rentner, die älteren mit verformten Händen auf billigen Stockgriffen, den Blick teilnahmslos auf den ewig gleichen Vorgängen, die jüngeren gestikulierend und laut, alle sparsam mit ihrem Kaffee oder Wein, falls sie sich einen leisten. Und jenseits von allem dieses enorme Schloss, diese farnesische Raumstation, isoliert durch seine überhebliche Aura. Mit diesem Schloss haben die Colorneser nichts zu tun, zum Erwachen in Colorno, denkt Blum, gehört jeden Morgen die Verwunderung darüber, dass es noch da ist, mit dem riesigen Rücken zum Fluss, ohne Interesse für ein Landstädtchen an der Parma, mit seiner ganzen abgestandenen Herzoglichkeit dem vernutzten Park zugewandt, dem rauchigen Horizont über dem nahen Po, woher vielleicht für die ehrgeizige Maria Luigia seinerzeit die Inspirationen kamen. Auch Blums Gesicht im parmagelben Widerschein, verfremdet, wie die Gesichter der Rentner auf den Spaghettistühlen, uneinheimisch sie alle, Zuschauer wie er. Das Schlossportal, dunkel, die Passage zum Hof, die Palmetten und Voluten des Giebels, es wird Mittag, einschläfernde Sonne auf dem trägen Zentrum von Colorno, die Rentner fangen an zu verschwinden, einer nach dem anderen. Maria Luigia, altes Mädchen, ein leise geweintes Memento mori aus dem englischen Garten – ob du ab und zu auf deine herzoglich verschämte Rechnung gekommen bist, auf Seide, vielleicht sogar auf dem Gras? Die Händler in der Kleidergasse beginnen abzubrechen, haken die unverkauften Jeansanzüge von den Dachrippen, die Stickereiblusen, die Büstenhalter, Strumpfgürtel, Schlüpfer, Slips, Strumpfhosen, fleischfarben, weiß, schwarz, die Gasse zu Maria Luigias Portal löst sich auf, verliert Gewebe. Nachmittagsschatten vor der Übernahme des Platzes, man sieht sie noch nicht, sie lauern unter den Tischen, den Autos, den Lauben, Blums Tisch kühlt aus, das Wasserglas gibt den Glanz ab. Blum nähert sich dem Schloss, die Kioske senken behutsam ihre schweren Vordächer, halbleere Harasse mit Avocados, Äpfeln, Peperoni, Melonen schlittern über die blanken Ladeflächen der Camions, zu hunderten schlagen Deckel auf Geschirrkisten und Schuhschachteln.

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Er geht durch das Portal, weiter durch die Passage, über ruppiges, abgenutzt glänzendes Pflaster, der Hof öffnet sich, schwarze Fenster über einem farnesischen Totentanz, Maria Luigia, die Habsburgerin, lässt bitten. Reich mir die Hand, mein Leben. *** Irgendwie ist es Abend geworden, Blum hat auf das Filoma verzichtet, an der Strada Farini steht er lange in einem Weingewölbe, trinkt einen Rosso, eingekeilt von laut palavernden Männern, verzieht sich schließlich mit einem Stück Pizza an einen der ungedeckten Tische im Hinterraum, Weinringe auf der Tischplatte, Zigarettenasche, ein steif Betrunkener gegenüber, mit seiner ratlosen Freundin. In der Jackentasche neben dem Kleingeld, steif und auf ihren Einsatz wartend, die Parmakarte, Dom und Drumherum, frankiert mit Parmigianino, der Betrunkene holt zu einem Kuss aus, die Frau weiß nicht so recht, nicht wegen Blum, liebe Rita, liebe Tanja, mir gegenüber geht es um einen Kuss, ich selbst weiß nicht so recht, was von Küssen übrig bleibt am Übergang zur dritten Liebe, es ist kein gutes Zeichen, so locker da zu sitzen, wenn auf Armlänge vor dir ein Kuss entsteht, Zukunft auf zärtlich, und deine Finger über eine unbeschriebene Postkarte streicheln. Liebe Rita, liebe Tanja, meine Erinnerung ist feige geworden, sie braucht eine Postkarte nur zu ahnen, um Reißaus zu nehmen, ohne tanti saluti und die Spur von auguri, ich kenne hier eine Brücke, und dahinter ist jeder Schritt nur noch Formsache, und die Briefkästen über dem Fluss, der überall stehen bleibt, wirken auf mich wie bodenlos, ich fühle nach der Karte in meiner Tasche, aber zwischen uns ist nichts Ungesagtes, herzlich, Parmigianino und Blum grüßen alle Frauen, ohne Ansehen von Liebe und Adresse, die Frau hat sich küssen lassen, meine Karte bleibt einstweilen, wo sie ist. Dann geht Blum mehrere Male die lange Farini auf und ab, versucht vergeblich, einen Plan zu fassen, irgendwann schlägt es elf, Teresas Zeit, er kehrt um zur Piazza, Teresa erscheint pünktlich in der Repubblica, Blum stellt sich aus dem Lampenlicht, beobachtest sie, bis sie in der Strada Mazzini verschwindet. Dann schlägt es halb zwölf, Blum betritt den Platz, immer noch ohne gute Idee, sieht Garibaldis stummen Salut an die Leere, wendet sich hinüber zu den Kolonnaden, Schritt für Schritt hinter Teresa her. Auf dem Ponte di Mezzo bläst der Nachtwind, stärker als am Vorabend, flussaufwärts ragen Grasinseln aus dem seichten Wasser, dahinter quert die nächste Brücke den Fluss, Blum begibt sich nach Oltretorrente, ohne Anhaltspunkte, ein Platz nimmt ihn auf, die Neigung der Brücke läuft aus.

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Überall, von hier an, findet er schon Teresas mögliche Wohnungen, um diesen Platz, in der unbeleuchteten Seitenstraße, die parallel zum Flussdamm verläuft, gegenüber der Vorstadtkirche voller Schatten und schlafender Tauben. Der Platz bildet ein ungefähres Dreieck, ringsum unscheinbare Häuser, in den Parterres Läden für Alltägliches, hinter Rollgittern, eine Straße, die von der Dreieckspitze flussaufwärts zieht, ein Denkmal, ein Weltkriegskämpfer im Moment, als ihn die Kugel trifft, die Arme im Fallen hochgerissen, über die Starkstromleitungen der Verkehrsbetriebe. Blum geht weiter, dringt ein, nach allen Seiten Nischengalerien, vollbelegt mit schlafenden Körpern, geht zwischen versteckt gehaltenen Verrichtungen der Nacht, Turmuhren hämmern auf Dächer und Straßenbeläge, sein Gehör, gespannt auf Geräusche eiligen Kleiderabstreifens, leidet. Läden, Restaurants, Büros, Bars liegen mit geschlossenen Augen, auf der Lauer, scheint es ihm, eingenickt wie bösartige Hausmeister. Für einen kurzen Moment bewegt sich Teresas Körper zwischen den Kleidern des Tags und der Nacht, eine helle Stelle in der Einheitsfarbe gelöschten Lichts. Oltretorrente, uralt und fromm, liefert schon die nächste Kirche, turmlos, mit flacher Kuppel, Blum denkt sich ein überdehntes Gewölbe, überfüllt mit kalten Kerzen, Gebeten, Legenden, Paradies für den schreckhaften Flug von Fledermäusen und Tauben. Er hält unter dem Vorbau, blickt durch hohe Arkaden auf ein Panorama in drei Teilen, lehnt lange gegen das rissige Holzportal, spürt den Druck der Ornamentkanten im Rücken, eine der Perspektiven geht, wird ihm bewusst, über Teresas schlafenden Körper. Gegenüber kommt aus einem schwarzen Torweg ein Mann, blickt sich um, späht, einen Moment lang unschlüssig, nach links und rechts, auch einmal in Blums Richtung, und geht los, endlich, ins abgelegene Innere des Quartiers. Blum überquert die Straße, über ihm gelbliche Platzlampen, unter seinen Füßen ausgetretene Steinplatten, darin Spuren alter Bahnschienen, gefüllt mit Kies und Unkraut, links und rechts überholen ihn seine Schatten, er betritt, wie ans Ziel gekommen, den Torweg, nachtkalte Zugluft, Geruch von alten Mauern, der harte Schlag seiner Schritte, die steinerne Untiefe des Widerhalls. Teresa, irgendwo hier. Ein Ganggitter, Gusseisenstäbe, Rankenwerk, das Gitter ist nicht versperrt, die Rollen der Flügel kreischen auf dem Steinboden. Es gibt Hinweise auf frühere Schönheit, das gute Geld braver Bürger, den Ehrgeiz der Vorstadt, das Gewölbe kreuzen Rippen, ausgehend von dekorativen Kapitellen, doch das Geld der Bürger ist längst Vergangenheit, die Schönheit blättert täglich ab, Wände und Gewölbewinkel zeigen kahles Mauerwerk, die Kapitelle sind ruiniert.

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Teresa, hier, irgendwo, in den weitläufigen Waben, die in vielen Jahren über die schütteren Flussauen gewuchert sind, Teresa, absichtlich verfehlt und unauffindbar, Teresa, zum Anfassen nah in den Höhlenbildern ringsum. Ich liebe dich, sagt Blum, nur halblaut, ein Versuch. Ein steiles Stiegenhaus, eine schwarze Mündung, dann ein Lichthof, die Wände entlang Fahrräder, eine Vespa, ein ausgedienter Kühlschrank, die Fenster im Parterre hinter Gittern, schmale Balkone vor den oberen Stockwerken, zugemauerte Eckfenster, leere Blumenkästen entlang den Geländern, Kanister mit unschönem Grünzeug, blankliegende tote Installationen, Dachtraufen, über dem Boden endend, ein Kanalgitter, wie gezeichnet. Auf einem schartigen Rundsockel die Gipsfigur eines Jünglings, schwerelos, während ihm nach und nach die Masse aus dem Leib bricht, vom Spielbein steht noch der Fuß auf der Basis, oberhalb des Knöchels nur noch Gestänge, die Hüfte ist schadhaft, das Geschlecht fehlt, Rumpf, Hals und Kopf, zierlich wie früher, schweben über viel Fehlendem, der linke Arm, locker herabfallend, hat sich erhalten, der rechte, dem Blick des Jungen folgend, steigt aus der Schulter nach oben, vom Ellbogen an Skelett, von der Hand ist, um einen Rest von Gips, nur die Drahtschlaufe geblieben, das Gesicht blickt nach oben zum zweiten Stock, dort ist ein breites Stück des Balkongeländers ausgebrochen und hängt an verbogenen Teilen über der Tiefe. Am Ende des Gangs ein Hinterhof, Fensterwände um einen Garten, ein Kiesweg, ungepflegt, dahinter Gebüsch, wie aus einem einzigen schwarzen Stück, zuunterst breite Polster von Mauerpflanzen, ein letzter Rest von Tageswärme überdauert hier, Stille aus vielen unbewussten Atemzügen. Auf einem Efeusockel eine Madonna, erlöst von ihrem ewigen Kind, kleinmädchengroß, die Dutzendjungfrau der Andachtsbildchen, von Scheitel und Schultern die makellosen Stoffbahnen, Schleier, Tunika, Toga, das ganze frigide Kostüm, in Weiß und Blau, von ihrem Körper, in den Himmel aufgenommen, sind nur das abweisende Gesicht und die steil gefalteten Rosenkranzhände als Erinnerung da geblieben, in plötzlicher Kapellenstimmung vermisst Blum Reflexe von Andachtskerzen auf ihrer Glasur. Teresa unauffindbar, hinter vielen Fenstern, höchstens kleinmädchengroß, ohne ihre Schuhe.

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Blum verlässt Oltretorrente, gibt, auf dem Ponte di Mezzo noch einmal den Kopf wendend, auch ihren Namen verloren. *** Zehn Uhr abends, die sechsunddreißig Stunden nach Patras haben gerade pünktlich begonnen, die Lichter von Ancona, unmerklich abrückend, glänzen noch zum Greifen nah, die Lato, hafenkorrekt, sucht langsam die Durchfahrt, Blum, niemanden in seiner Nähe, sitzt mitten in den Hinterdeckbänken, eine ungeöffnete Dose Amstel neben sich, in der Hand ein Sandwich, an der Autobahn gekauft und dann nicht gegessen. Entlang der Reling eine schwarze Borte von Passagieren, aus dem Schiffsinneren solides Maschinengeräusch und, durch wer weiß wie viele Stockwerke, Vibration bis in die obersten Bänke und äußersten Geländer. Blums Körper beginnt sich zu entspannen. Ancona verliert sich, die Lato gewinnt das offene Wasser, in tiefem Frieden beißt Blum in sein Sandwich und trinkt dazu das Bier aus der beschlagenen Dose, seine Uhr zeigt halb elf. Er hört sich, nur gerade einmal beim Anheben der Dose, Adieu! sagen, es befremdet ihn sofort, tönt aufgesetzt nach den alten Epen und Dramen aus der Schulzeit, jetzt und hier wüsste er nicht, überhaupt nicht, von wem er sich so verabschieden sollte. Anconas Lichter bilden nur noch ein Nadelstichmuster. Ein Stück weiter schläft jemand schon, den Kopf auf seiner gerollten Jacke, den Rucksack neben sich auf dem Boden, Blum, im unendlich leeren und noch abendwarmen Mittelpunkt der Welt, kaut die letzten Bissen, die schwarzen Figuren an der Reling sind weniger geworden, Blum, jetzt auf einmal, möchte dazu gehören. Ein Mann, von dort her, kommt langsam durch den Mittelgang, Blum ist sicher, er kommt auf ihn zu, er beobachtet seine Schritte, mühsame Schritte, denkt Blum und erwidert den Blick des Fremden. Wie ärgerlich, denkt Blum, ich glaube, ich war freundlich. Der Fremde bleibt bei ihm stehen. Warum ich, denkt Blum. Der Mann hat seinen Blick erwidert, nur kurz, nicht unfreundlich, von Fahrgast zu Fahrgast, und setzt sich mit einem höflichen ,Erlauben sie‘ neben Blum. Blum, was sonst, erlaubt, keine Namen, nur irgendwer bei irgendwem. Mein Deck, denkt Blum leidend. Die Müdigkeit des Fremdlings ergibt das erste Gesprächsthema, Blum lässt sich täuschen, erst viel später, schon zum Verzweifeln lang in der Bar, wird ihm bewusst, der Todmüde hat sich wachgeredet. Morgens um sechs ist er von Hamburg losgefahren, ohne Halt bis zum Brenner, dort hat ihn, er sieht es ironisch, das Schicksal seines Volkes ereilt. In mehrstündigem Stau tastet er sich über Italiens unbarmherzigste Grenze, dahinter lässt er seinem fabrikneuen Auto die Zügel schießen, dieses

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Auto, es gibt ihn nicht frei, füllt ihn aus, dieser Nissan Allrad kann einfach alles, er misst sogar, sinnloser Komfort in der Brennerschlange, die Seehöhe, vor allem aber läuft er, kaum lässt man den Tachometer aus den Augen, seine spielendleichten Hundertachtzig. Sie sitzen in abgewetzten Clubsesseln und trinken milchigen Ouzo, in allen Ecken des Raums laufen Fernsehgeräte, überall dasselbe Programm, dazu hartgesottenes Englisch mit griechischen Untertiteln. Der Fremde achtet auf nichts um ihn herum, seine Rede kommt an kein Ende, nicht in die Nähe eines Endes, Blum hat längst keine Kraft mehr, um sich herauszuhalten. Der Fremde hat, muss er wissen, ein Gebrechen, ein Hüftleiden, um genau zu sein, er wird ihm vermutlich die Frührente verdanken, eine letzte Großuntersuchung steht in wenigen Wochen bevor, das Leiden trübt, geringfügig, wie er festhält, sein Nissanglück, in der klammen Parkierordnung der Fähre kommt er ohne fremde Hilfe nur sehr schwer aus dem Wagen. Wohin Blum fahre. Nach Athen, behauptet Blum. Das scheint den Mann zu befremden, ob er an den Smog gedacht habe, man messe zurzeit Höchstwerte, Fernsehaufnahmen aus dem Athener Stadion hätten die Leute im Norden glauben lassen, es liege dichter Nebel auf Rasen und Rängen. Athen? Blum, zum Umsinken müde, zuckt die Schultern. Er selbst werde von Patras zwar auch nach Piräus fahren, sich aber umgehend nach Kreta einschiffen. Ob er Blum vielleicht im Nissan? Blum wird sich, sagt er, in Patras einen Mietwagen nehmen, nach Olympia, und dann sehen. Nein, sagt der Fremde, er fahre nicht einfach in Urlaub, ein paar Tage oder Wochen, Kreta solle – wieder die Ironie, er trinkt sehr schnell – seine Ultima Thule werden, the end of the trail, wissen sie, wie die Amerikaner sagen. Ob Blum Chania und Rethymnon kenne, Blum ist einmal dort gewesen, bei eisigem Wetter, er unterschlägt es, bleiche, kalte, windige Städte, fand er damals, voller Zähneklappern in Sommerkleidern, falsch geschönt mit venezianischem Zierrat. Der Fremde hat ein Grundstück erworben, an der Südküste, von Chania aus erreichbar, billig für unsereins, ein Haus darauf, eine Ruine, bei Licht besehen, nicht viel mehr als ein Haufen Steine, griechische Steine, alle heilig! Da werde er bauen, mit eigenen Händen, höchstens zwei drei Helfer aus der Nachbarschaft, mit dem Holz von Kiefern und Olivenbäumen, das dort überall reichlich herumliegt. Blum kämpft nicht länger gegen den Schlaf, bevor er in seinem Clubsessel einnickt, sieht er noch den hinkenden Mann, wie er auf seiner archaischen Baustelle werkt, unter den weit offenen Erzengelaugen seines Nissan Allrad, zwischen Oliven-

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bäumen und Kiefern dösen reglos Esel und Schafe, auf den Blöcken eines geborstenen Hauses sonnen sich Eidechsen und harmlose Schlangen. *** Blum sieht eine mit Sorgfalt beschriebene Postkarte vor sich, umseitig das berühmte Domplatz-Set von Parma, nüchtern aufgenommen wie fürs städtische Archiv, die Schreibseite mit dem Aufdruck Il Duomo Santa Maria Assunta et cetera, in der rechten Ecke oben die schöne Parmigianino-Marke. Darunter Ristorante La Filoma, Parma, Borgo XX Marzo. Einzuwerfen beim nächsten Mal in Ancona. In einen verwittert roten italienischen Brieftresor. Nicht hier auf dem Schiff. Die Karte, zwischen Fahrausweis und Pass gelagert und geschont, jetzt an den Fenstersockel gelehnt, an dem die Tischplatte sturmfest verschraubt ist, hat seit dem Tag ihres Ankaufs fast gar nicht gelitten. An ihren ersten Zweck denkt Blum kaum noch. Rita und Tanja, die Frau und die Geliebte, gibt es nicht mehr. Tochter Lisa hat ihren eigenen Platz in seinem Gedankenversand eingenommen, nichts, was schon in Worte gefasst ist, kommt ihr nahe. Doch denkt Blum, auch wenn ihr Gesicht schon lange im Azur und Dunst der leeren Adria zerflossen ist, noch manchmal an Teresa. Er betraut sie dabei immer mit der Rolle einer Geheimnisvollen, die ihn in einem Moment erhört hat, als sein Werben einem Engel glich, der rückwärts flog. Es ist so, Teresa, dass ich über den Ponte di Mezzo ging und Oltretorrente betrat, wie ein Mann, der sich sicher ist, die richtige Tür zu finden und mit dem Druck eines Fingers zu öffnen. Seither kenne ich mit jedem neuen Morgen deinen verborgenen Schlaf genauer. Oltretorrente gleicht einem Traum, in den du mich eingelassen hast. Wann immer ich die Augen schließe, finde ich nicht mehr aus ihm heraus. Kennst du den Hof mit der Madonna? Sie weiß alles. Sie wäre sonst nie so unglaublich heilig geworden. Blums Blick zieht sich müde aus der adriatischen Ereignislosigkeit in seinem Kabinenfenster zurück und heftet sich auf die Postkarte. Er fühlt sich glücklich. Kein einziges Wort, das er sich auf der weißen Fläche vorstellt, hat auch nur die kleinste Chance, sich dort zu halten. Die leere Fläche gibt immer die selbe geisterhafte Auskunft. Blum ist bereit, ihr zu glauben, sie sei überfüllt von einem Text, der eines Tages aufgehen würde. Wer da was eingetragen hat, bleibt im Dunkeln. Blum hat keine Eile. Er streicht mit den Fingern über das fotoglatte Papier. Bei aller Schonung, es gibt eine Stelle, die sich aufgerauht anfühlt. Sie erinnert ihn an die seltenen Wellen, mit denen die Adria sich in die Zeit zurückmeldet.

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Die Ränder der Karte dehnen sich jetzt hinaus bis an die Sichtgrenzen der Fähre. Was zu sagen gewesen wäre, ist zu tief unter den Wasserspiegel geraten, um noch gesagt zu werden. Blums Reise geht über seine Karte hinweg, ist ihre eigene Reise geworden. Mit jedem neuen Ablegen von Patras, Korfu und Ancona erlischt eine mögliche Anschrift nach der anderen. Wie ein abgestellter Leuchtturm. *** Bei Postkartenwetter unterbricht Blum in Korfu, die Kabine bleibt reserviert, der Wagen an seinem Platz, geht zu Fuß, nur mit dem Nötigsten. Für ein paar Tage, denkt er unklar. Er wendet sich nicht gleich mit den anderen Passagieren zu den Zollschaltern. Er bleibt noch am Wasser, geht langsam die weiße Fährenwand entlang, setzt sich auf eine der Bänke zwischen den Lampen, sieht vor sich die Ankertaue von den Pflöcken aufsteigen. Wenig vor ihm, eine Art Abschied, denkt Blum, eine Art Empfang, LATO, die Kalklettern auf dem Beton, kürzlich aufgefrischt. Hoch oben stehen ein paar Leute an der Reling. Blum, bis in die Einzelheiten, weiß, was sie sehen. Er wartet alles ab. Langsam richtet sich die Heckrampe auf. Der Schiffskörper setzt zurück, dreht gegen das offene Meer, nimmt Fahrt auf, schrumpft. Blum verliert die Verbindung. Er passiert, nur flüchtig überprüft, den Zoll, folgt dann dem Wegweiser zur Stadt, geht ohne Eile. Er hat einen Blick auf den Plan an der Busstation geworfen. Korfu, es gibt nur Zugänge, nichts wäre, wenn wirklich gesucht, zu verfehlen, keiner der Punkte mit den klingenden Namen. Blum verlässt, ohne Sinn für das Korfu der Reisenden, so schnell wie möglich die Hauptstraße. Entzieht sich den schönen Blicken auf Buchten, Häfen, Plätze, Parkanlagen, Kirchen, Paläste. Überlässt sich den Straßenbelägen, Kanalgittern, Sandsteinstufen, Rinnsteinen, Hydranten, Hausecken, Türschwellen, Kellerluken, Abfällen, Katzen. Auch ersten Mäusen, die am Tageslicht vorbeihasten, an den Rändern ihrer Labyrinthe, und wieder verschwinden. Blum, so scheint es ihm, geht lange, im Rücken der zählbaren Zeit. Manche Zeichen prägen sich ihm ein, Asphaltmuster, grobe Ornamente von Kanalgittern, schiefe Winkel von Kellerfenstern, Windungen von Dachtraufen, hässliche Schäden auf Katzenkörpern. Während sich sein Gehör auf Mäusepfiffe einstellt. Gehend, hörend gewinnt er Vertrauen in die Unentrinnbarkeit des zufälligen Viertels. Weiß immer gewisser, er umkreist ein Quartier ohne Inhalt für einen wie ihn. Seine Kreise gelten keiner Erwartung, keinem Zentrum, keiner Ankunft. Müde gelaufen setzt er sich vor eine Bar. Es gibt keine Gäste. Er sieht, schon sitzend, das winzige Schild an der Bartür: Kleiston / Closed. Trotzdem bleibt er, an einem der quadratischen blauen Tische zwischen aufgereihten weißen Plastikstühlen.

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Fühlt die Sterbensmüdigkeit von Korfu. Sie geht hier von allem aus, am meisten von den schwarzen Fenstern, die ohne Sinn offenstehen. Auf Blums Nacken das Stein- und Zeitgewicht der Mauern, in den Schenkeln die Schwäche nach der Reise, im Kopf der Abschied von allem. Er wartet auf etwas, das sich aus der scharfkantigen Schwärze der Fenster los macht. Einen Laut der Not, der Vereinigung, des Sterbens. Exakt und zentimeterweise wie seine Fähre an die Mole schiebt sich die Sonne über die hohe Traufkante des Kafenionhauses. Löscht ihre Lichtladung im schmalen Stauraum der Gasse. Ein Einheimischer geht vorbei. Sein jugendlicher Gang nimmt die ganze Gasse ein. Er blickt Blum im Vorbeigehen an. Der Mann, sagt sich Blum, kennt hier alles, die Schäden im Straßenbelag, die Kanalöffnungen, die schwarzen Fenster, jedes einzelne, die Bar, die Öffnungszeiten. Er sieht einen Fremden vor seinem Kafenion sitzen, das gegen Abend öffnen wird, einen Erschöpften, ohne Pläne für diesen Nachmittag, eingekreist vom Pfeifen der Mäuse. Am Ausgang der Gasse, im schmalen Gegenlicht, bleibt der junge Grieche einen Augenblick stehen. Blum überlegt, was er ihn fragen, was sich zeigen lassen könnte, dreißig Minuten, sechzig, für drei Euro, fünf Euro, die Ränder von Korfu, die Übergänge nach allen Seiten. Doch dann ist das Licht leer.

TE CHANTER Hymne au Christ Jésus** I Te chanter, quel défi Te voir, quelle chance Te croire – croire à l’évidence Te célébrer, parole d’honneur, c’est rénover le quotidien T’aimer – impossible sans rougir, impossible sinon En te chantant Te rencontrer: C’est ce qui s’est passé ce matin et tout à l’heure; ce qui se passe En ce moment-même Te rencontrer, c’est être chez soi à tous les coins de toute rue, aux carrefours de tout pays, sur les places des villes du monde, grandes, moyennes et petites Place Tahrir et Place Bellecour Te suivre, parole d’honneur, c’est être en paix Te prier, parole d’honneur, ne serait que bigoterie si ce n’était Sonner chez l’Apothicaire universel pour demander un médicament contre L’ insupportable Te comparer – à qui? C’est comme si quelqu’un comparait les yeux de sa belle à ceux de milliers d’autres beautés

DICH LOBEN Christushymne I Dich loben – ein Wagnis Dich sehen, ein Glück! Dir glauben: Wem sonst? Dich feiern, Ehrenwort, heißt den Alltag renovieren Dich lieben – unmöglich ohne zu erröten, ohne Gesang Dich treffen – das war heute morgen der Fall, und vorhin. Es ist der Fall Gerade jetzt Dich treffen heißt zuhause sein an allen Straßenecken, an den Kreuzungen jedes Lands, auf den Plätzen der Städte der ganzen Welt, groß, mittel oder klein Am Tahrirplatz und am Times Square Wer dir folgt – Ehrenwort – , der hat Frieden Zu dir beten – Ehrenwort – wär pure Bigotterie, wärest du nicht Der Apotheker des Universums, bei dem man ein Medikament holt gegen das Unerträgliche Dich vergleichen – mit wem? Es vergleicht doch keiner die Augen der Liebsten mit denen tausend anderer Schöner

T’aimer, parole d’honneur, c’est aimer le plus caché de soi-même, aimer sa plus grande misère et sa gloire la plus grande Aimer sous le figuier*** Te profaner? – Impossible. C’est que tu t’es profané déjà, banalisé Sur les collines, les monts et montagnes Sur nos tours Sur nos poitrines Te profaner – chose faite. Tes paroles sont sur les lèvres moqueuses, tes paraboles Entre les mains des enfants Tes citations et prières sur les langues équivoques Ta voix même, voix de Juif, édulcorée aux palais des seigneurs et des serfs Te fuir n’est pas difficile Te croire n’est pas difficile, c’est croire à l’évident (Tu l’as dit toi-même) T’abandonner – pour aller où, après tant de déceptions séculaires? T’abandonner, c’est la mode Est-ce vraiment la mode? Puisque Te servir, parole d’honneur, c’est se faire du bien à soi-même Te croire, c’est être du côté de ceux et de celles qui savent recevoir l’amour et le donner Te regretter, ce serait ne pas connaître l’Histoire, Ni ses détours ni sa fin

Wer dich liebt – Ehrenwort –, liebt sich selbst, liebt das Verborgenste an sich, sein größtes Elend und seinen größten Stolz Liebt unterm Feigenbaum* Dich entweihen? – Unmöglich. Du hast dich selbst entweiht und bist Gemeingut Auf den Hügeln und im Gebirge Auf unseren Türmen Auf unserer Brust Dich entweihen? – Längst geschehen: Deine Worte sind auf den Lippen der Spötter, deine Gleichnisse In Kinderhand Deine Zitate dienen der Zweideutigkeit Und selbst deine Stimme, die Judenstimme, klingt süßlich im Mund von Herren und Knechten Dich fliehen ist nicht schwer Nicht schwer ist es, dir zu glauben, zu glauben, was auf der Hand liegt (Du sagst es selbst) Dich verlassen? Zu wem gehen? Nach soviel Enttäuschung? Dich zu verlassen ist modern Modern? Wirklich? Da doch Dir dienen – Ehrenwort – heißt, sich selber Gutes tun Dir glauben: Zu denen gehören, die das Lieben verstehen, das Nehmen und Geben, ob Mann, ob Frau Wem du leid tust, der hat nichts gelernt aus der Geschichte, Kennt ihre Umwege nicht und nicht ihr Ziel

T’appeler – à l’autre bout du fil, ce serait le Oui Ferme

Te filmer – cela donnerait un film qu’il faudrait voir les yeux fermés Trinquer avec toi, parole d’honneur – quelle Joie

II Te dire qui on aime - début et fin de l’amour Te louer – dominer nos contradictions Te critiquer – à vrai dire, c’est attendre (Vœu inavouable) Attendre le moment que tu lèves ton regard, que tu jettes le pont Du Toi au Moi Pontife Ingenieur Te chanter – quel défi! Impossible Sans se pleurer et sans rire de soi-même Te fuir – pour se réfugier dans ton auberge? Te chanter, c’est payer ric-rac les mécréances, médits et méfaits provenant de celle-ci Patron, à l’étranger actuellement Restaurateur absent

Wer dich anruft, wird verbunden. Er hört am anderen Ende der Leitung Klar und deutlich: Ja Ein Film über dich wäre ein Film für geschlossene Augen Anstoßen mit dir – Ehrenwort –, das wäre ein Gedicht

II Dir sagen, wen man liebt: Der Liebe Beginn und Ziel Dich loben: Seinen eigenen Widerspruch besiegen Wer dich kritisiert, wartet in Wahrheit (Heimlichster der Wünsche) Dass du ihn anschaust, dass du die Brücke schlägst Vom Du zum Ich Brückenbauer Ingenieur Dich loben – ein Wagnis, unmöglich Ohne zu weinen und zu lachen über sich selbst Dich fliehen – und zugleich flüchten in deine Wirtschaft? Dich loben heißt zahlen für jede Untat und jedes Unwort und das Misstrauen, das von dort seinen Ausgang nahm Du Chef auf Reisen Du Wirt auf Urlaub

Te comprendre: Métier de bébé, d’amant, d’intellectuel à la tête molle comme de paysan à la tête dure T’aimer? Qui l’ose? Te comprendre, métier de voyageur T’enseigner? Enseigner ta doctrine? Puisqu’il n’y en a pas. Il n’y a que Chant T’aimer, c’est aimer la salive du mourant Et du méchant Et les puanteurs du buveur Et le parfum de l’infidèle T’attendre. Puisque vivre, c’est attendre et être attendu Te chanter, parole d’honneur, c’est chanter la vie

** écrit pour le diocèse de Lyon cinquante ans après l’ouverture du Concile *** Jn 1, 48

Dich verstehen ist kinderleicht, auch für Verliebte, und nicht zu schwer für Eierkopf und Bauernschädel Dich lieben – wer wagt es? Dich verstehen ist etwas für unterwegs! Dich lehren? Deine Lehren? – Es gibt sie nicht Es gibt nur Gesang Dich lieben heißt des Sterbenden Spucke lieben Und die des Bösen Und den Gestank des Trinkers Und des Untreuen Duft Auf dich warten. Denn Leben heißt warten und erwartet werden Dich besingen – bei Gott! – heißt das Leben besingen

* Jo 1,48 Willibald Feinig

Freundschaft als christliche Berufung Zur Kultivierung einer aisthetischen Ethik der „Umsonstigkeit“ – eine theologische Lektüre der Schriften Ivan Illichs1 Isabella Bruckner

Immer wieder neu gilt es für Christinnen und Christen, sich ihrer Berufung zu vergewissern. Gemeint ist damit nicht die Wahl einer je individuellen Lebensform, sondern vielmehr die Konturierung allgemeiner Haltungen als Antwort auf die Frage, was Christ-Sein, christliche Existenz in einem konkreten Kontext bedeuten kann. Der Anfang dieses Jahrhunderts verstorbene kroatische Intellektuelle Ivan Illich (1926-2002) gibt auf diese Frage eine zwar in der christlichen Tradition gut verankerte, aber nichtsdestotrotz heute wieder überraschend anmutende Antwort: Für ihn verwirklicht sich die christliche Berufung in der Freundschaft.2 Folgt man den Worten von Lee Hoinacki, Ivan Illichs langjährigem Freund und Begleiter, so finden sich in Illichs Arbeiten Spuren eines vielfältigen Konzeptes von Freundschaft3 , welche als das zentrale Thema seines Lebens und Arbeitens verstanden werden kann. (vgl. Hoinacki 1999) Der vorliegende Beitrag versucht, die Freundschaftsbeziehung, die Illich immer wieder am Beispiel der Samariter-Parabel (Lk 10,30-35) in ihren verschiedensten Facetten illustriert, als einen Grundbegriff seines Denkens darzustellen. Dabei wird die Samariter-Beziehung insbesondere als Freiheitsbeziehung gedacht. Sodann wird in einem zweiten Teil die Verkehrungsgeschichte dieser Beziehung in den Blick genommen. Diese Betrachtungen sind in das darüberhinausgehende An1 | Im Wesentlichen basiert der vorliegende Beitrag auf meiner unveröffentlichten Diplomarbeit (Bruckner 2016). 2 | Als Überblickswerk zur Freundschaft in der Theologie siehe Schmidt 2011. 3 | Vgl. zu dieser Mannigfaltigkeit an Formen die Vorlesung von Lee Hoinacki (2004). Dass sich der Versuch, Freundschaft in der Vielfältigkeit ihrer Formen positiv oder auch nur negativ zu bestimmen, als äußerst schwierig erweist, zeigen auch Janosch Schobin u.a. in ihrer soziologischen Forschung. Vgl. Schobin et al. (2016).

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liegen eingebettet, die Freundschaft als christliche Berufung und aisthetisch-ethische Haltung von Christinnen und Christen zur Welt anzudenken – auch oder gerade im westeuropäischen Kontext der Postmoderne, in welcher der kirchlich-institutionelle Körper sowie traditionell-religiöse Identitäten zutiefst brüchig geworden sind. Dem soll in einer Conclusio noch nachgegangen werden.

F REUNDSCHAFT

ALS CHRISTLICHE

P RAXIS

Logos sarx egeneto – die Inkarnation als Dreh- und Angelpunkt Den Ausgangspunkt von Illichs Denken bildet der Glaube an die Inkarnation. Von diesem Ereignis her speist sich sein Interesse an Geschichte sowie sein entschiedenes Einstehen dafür, Christus im Fleisch, das heißt im leibhaftig gegenüberstehenden Du, zu begegnen – sei dieses nun ein zufällig vorbeikommender Fremder oder eine schon langjährige Freundin. In seinen Forschungsarbeiten bemüht er sich deshalb unter anderem darum, die – vom Glauben daran unabhängige – historische Wirkmächtigkeit dieses Ereignisses mit Blick auf die Real- und Ideengeschichte sowie auf die aisthesis4 nachzuzeichnen. Auch die christliche philia gewinnt für Illich davon ausgehend ihr besonderes Profil. Mit Rekurs auf Joh 1,14 betont Illich, dass der göttliche Logos in der Inkarnation nicht soma, und somit „Körper in seiner Ganzheit“ (Illich 2006: 230) geworden sei, sondern ausdrücklich sarx, „Fleisch“. Daraus resultiert in seinen Augen ein völlig neuer Blick auf die Materialität des Daseins, mithin eröffnet die Inkarnation sogar ein gänzlich originäres Empfinden von Leiblichkeit und Sinnlichkeit.5 Jesus selbst wird in den Evangelien als ein bis ins Innerste Berühr- und Erschütterbarer bezeugt.6

4 | Die Ausdrücke „aisthesis“ bzw. „aisthetisch“ verweisen hier nicht auf einen Begriff der Ästhetik als Formen- und Geschmackslehre, die sich allein auf den Bereich eines (vor allem in der Kunst zu verortenden) vollendeten Schönen bezieht, sondern auf die grundlegende Form der (symbolisch, emotional und narrativ durchformten) sinnlichen Weltwahrnehmung und -deutung. 5 | Siehe ebd., 132: „[...] meine These [. . . ], dass nämlich durch das Neue Testament einige ganz neuartige Möglichkeiten des sinnlichen Empfindungsvermögens – also nicht nur des Begriffsvermögens, sondern auch der sinnlichen Empfindung – in die Welt kamen.“ 6 | Vgl. z.B. Mk 6,34: Die griechische Verbform εσπλαγχνισθη verweist auf das splanchna, die „Eingeweide“ Jesu, und damit auf eine intensiv leiblich spürbare Betroffenheit.

Freundschaft als christliche Berufung | 65

Das Inkarnationsgeschehen ist jedoch nicht auf ein einzelnes Ereignis beschränkt. Nimmt man Illichs beiläufige Bemerkungen ernst, so handelt es sich viel eher um ein sich durchhaltendes Moment der heilsgeschichtlichen Entwicklung. (vgl. Ewell 2014) Illich verortet einen der Inkarnation analogen Vorgang bereits bei den Propheten Israels, „die fest davon überzeugt waren, das Wort Gottes werde in ihrem Mund zu Fleisch und im Zuge dieser Fleischwerdung von Gottes Wort könne das Volk Israel entstehen“ (Illich 2006: 84). Um die Propheten herum, die dem göttlichen Wort Stimme und körperlichen Ausdruck verliehen, formierte sich das Bundesvolk. Die Botschaft der Propheten bezog sich einerseits auf das Gesetz und somit auf die Grundlage einer nach Gerechtigkeit strebenden Sozietät, eines „Wir“, von der her und auf welche hin sich das darin verwurzelte „Ich“ verstand. (vgl. ebd.: 72) Mit der Fleischwerdung des Logos im Schoß Mariens erblickt Illich sodann aber das Individuum in seiner Singularität ins Zentrum gerückt. (vgl. ebd.: 132f.) Weder im Tempel noch im Kommunität stiftenden Gesetz findet der biblische Gott fortan seine vorzüglichste Wohnstatt, sondern im sensiblen, liebes- und leidensfähigen, „saftigen“ (ebd.: 232) Fleisch des Individuums. Es ist diese singuläre Berührbarkeit, welche die Grundlage für die neue Weise des christlichen Liebens darstellt. In der Berührbarkeit für die anderen und dem so möglich werdenden Handeln in compassio, das heißt in der intersubjektiven Offenheit des Fleisches für-ein-ander, findet die Inkarnation nach dem Weggang Christi ihre Fortführung.7 Es zeichnet das Paradox der christlichen Botschaft aus, dass gerade dieser fragilen Kontingenz der leibhaftigen Begegnung unendliche Bedeutung zukommt: „Die Inkarnation lädt mich ein, das Antlitz Gottes im Gesicht eines Jeden zu suchen, dem ich begegne. Und die Inkarnation macht mich glauben, dass in unserer leibhaftigen Begegnung – auch wenn du und ich bald Asche sein werden – etwas geschieht, das außerhalb der Welt liegt, in der wir uns jetzt befinden. Unserer Körperlichkeit kommt eine metaphysische Qualität zu, die mehr ist als nur eine Laune des Augenblicks.“8 (Illich 2006: 136)

Die neuartige Beziehung, die sich durch die Fleischwerdung des Logos eröffnet, illustriert Illich immer wieder am Beispiel der Samariter-Erzählung.

7 | Vgl. Illich 2006: 232, sowie die Analysen bei Ewell 2004: 114-116. 8 | Illich verweist diesbezüglich auch auf die zeitliche Figur des aevum bei Thomas von Aquin, mit welchem dieser ein Jetzt denkt, das zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit steht; ein Jetzt, das zwar einen Anfang hat, doch zugleich für immer ist. (ebd.: 240)

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„Ein Jude fiel unter die Räuber...“ – das Samaritergleichnis als Paradigma und Inversion der antiken philia Beim Studieren der Predigten, die im Laufe der Jahrhunderte zur Erzählung vom Samariter gehalten worden sind, bemerkt Illich, dass die Parabel meist gedeutet wurde, als wolle Jesus den Gesetzeslehrern eine Norm vortragen, wie sie sich ihrem Nächsten gegenüber zu verhalten hätten. Diese Auslegung übersähe jedoch genau den springenden Punkt und das provokative Moment: Nach Illichs Einschätzung wollte Jesus mit dieser Parabel gerade keine neue oder andere allgemeine ethische Norm etablieren. (Vgl. ebd.: 75f.) Die Frage der Gesetzeslehrer bezog sich nicht darauf, wie man sich dem Nächsten gegenüber verhalten solle, sondern wem gegenüber ein besonderer Sollens-Anspruch verpflichte. Anstatt den Fragenden nun eindeutige Kriterien zu nennen, anhand derer die zur Pflicht werdenden Nächsten sicher zu identifizieren wären, erzählt Jesus von einem Juden, der unter die Räuber fällt, und von einem vorbeikommenden Samariter, der sich seiner erbarmt. Der Samariter begeht dabei, wie Illich betont, einen „Verrat“ (ebd.: 75.). Er durchbricht das gängige kulturelle ethos, welches sich in der Antike stets auf einen begrenzten, klar definierten Personenkreis beschränkte, indem er sich des verletzten Juden, seines Feindes, annimmt. Das Verhalten des Samariters hätte also in keiner Weise erwartet oder gar verlangt werden können. Ganz im Gegenteil: Mit dieser Tat tritt der Samariter aus dem ihn bergenden „Wir“, welches sich genealogisch durch Familienbande und lokales Ethos konstituiert, heraus, und initiiert damit eine „drastische Umstülpung“ (ebd.: 173) dessen, was philia im platonischen und aristotelischen Verständnis bedeutet hatte. Wird die Freundschaft in der Nikomachischen Ethik als Krönung des Politischen hoch geschätzt und in ihrer Notwendigkeit für ein glückliches Leben gewürdigt, waren ihrem Entstehen dennoch gewisse prinzipielle Grenzen gesetzt. Die Praxis der Freundschaft setzte bei den Griechen ein gemeinsames ethos und damit die Zugehörigkeit zur polis, zum griechischen Volk, voraus. Insofern waren Angehörige der „barbarischen“ Kulturen von vornherein aus diesem Kreis ausgeschlossen. Der Samariter stiftet hingegen ein neues Wir, das allein auf frei gewählter Zuwendung beruht. Diese Beziehung gründet nun also nicht mehr auf der Zugehörigkeit zu einem vorgängig Gemeinsamen, aber auch nicht auf einer allgemeinen Norm, die besagt, ebenjenen oder ebenjene wählen zu müssen. „Jesus eröffnet uns eine neue, uneingeschränkte Möglichkeit zu wählen, wen ich zum Freund wünsche, und gleichermaßen mich selbst von jemandem, wer immer dies möchte, wählen zu lassen.“ (ebd.) Erst in diesem sich gegenseitig geschenkten Raum der Freiheit, auf Basis dieser frei gestifteten Beziehung, kann sich sodann eine jeweils diesem Beziehungsgeflecht eigene Form des Umgangs

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und der Praxis entwickeln. Sebastian Trapp verdeutlicht dieses Geschehen mithilfe Illichs eigener Worte: „‚[. . . ] wenn es eine Ethik gibt, die sich um den Kreis meiner Freunde entwickelt hat, dann ist sie das Resultat unserer Praxis, unserer Suche nach Freundschaft. Wir stehen hier also vor einer radikalen Inversion dessen, was philia für Plato bedeuten konnte und was sie für mich bedeuten kann. Für mich ist sie die Quelle eines möglichen Entstehens eines Kontextes aus gemeinsamer Geisteshaltung und gegenseitiger Verpflichtung.‘ [ohne Quellenangabe, Anm. I.B.] Anders gesagt bedeutet dies, dass sich aus Freundschaft eine Art ethnos bilden kann, dass also Freundschaft die Grundlage einer Gemeinschaft sein kann, ein wenig so, wie für Plato die Stadt Athen die Grundlage seines ethnos bilden konnte.“ (Trapp 2003: 3f.)

Die Apostel praktizierten nach Jesu Tod diese Öffnung, indem sie mit allen Völkern die Tischgemeinschaft suchten. Am radikalsten formuliert findet man die neue Freiheit wohl bei Paulus, dem durch das Sterben Jesu all seine vorgängigen Identitäten gekreuzigt waren,9 und der es so vermag, „den Judaiern wie ein Judaier, [...] den Gesetzlosen wie ein Gesetzloser, [...] den Schwachen ein Schwacher“ (1 Kor 9,20-22) zu werden. Seine Botschaft eröffnet auf diese Weise eine Gemeinschaft im Geist, die genealogische Grenzen transzendiert und Freundschaft zwischen Ungleichen ermöglicht. Die durch Christus motivierte Transgression ebenso wie die neu gefundene Einheit in Christus implizieren in Illichs Verständnis daher keine Nivellierung der Unterschiede von Jude und Samariter – gänzlich entsprechend dem Prinzip gratia non tollit naturam, sed perficit: Die Gnade/Freiheit zerstört die Natur nicht, sondern vervollkommnet sie, öffnet sie auf einen freien Umgang mit ihr. Worum es Illich also letztlich geht, ist eine Beziehung, die sich schenkt, obwohl sie nicht erwartet werden kann, und die zwar von Gegenseitigkeit (do et des), jedoch nicht von Reziprozität (do ut des) geprägt ist. Die Begegnung mit einem Menschen, der außerhalb des eigenen normierten Bezugsbereiches liegt, wirft den Samariter völlig auf sich selbst und seine Freiheit zurück. Es liegt allein in seiner Verantwortung, wie er sich in dieser Situation dem Juden gegenüber verhält. In dieser Beziehung konstituiert sich das christliche Subjekt als „Ich“, das im Angesicht eines leibhaftigen „Du“ zur konkreten (Ver-)Antwort(ung) gerufen wird. Illich wendet sich gegen das Verständnis einer Identität, die sich ein Mensch durch Gesetzesgehorsam oder

9 | Vgl. Gal 2,20: „[...] ich lebe, aber nicht mehr ich, (es) lebt aber in mir Christos [...]“; bzw. Gal 3,28: „Nicht ist Judaier und nicht Hellene, nicht ist Sklave und nicht Freier, nicht ist männlich und weiblich; denn alle seid ihr einer in Christos Jesus.“ (Alle neutestamentlichen Übersetzungen aus dem Münchener Neuen Testament.)

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äußerliche identity markers selbst geben könnte. (vgl. Caley 1992: 197f.) In seiner Singularität erfährt sich der Mensch allein dort, wo er durch eine oder einen anderen unbedingt angerufen wird. Da ihm diese anderen nicht durch ein gemeinsames ethos verpflichtet sind, steht die jeweilige Antwort in einem Horizont der Überraschung. (vgl. Illich 1996a) Mit der Haltung des Sich-überraschen-Lassens ist ein Ablassen von jeglicher Bemächtigung der Anderen impliziert. Eben dies macht diese Form der Freundschaft auch zu einem solchen Wagnis. Vor diesem Hintergrund artikuliert sich Sünde nun auch nicht mehr als Verstoß gegen eine kosmische Ordnung oder gegen ein Gesetz, sondern als „Abkehr“ (Illich 2006: 203), Kälte oder als „unzureichende Antwort“ (ebd.: 78). Mit dieser neuen Form der Beziehung war deshalb für Illich auch eine ganz neue Form der Sünde möglich geworden. (vgl. ebd.: 203.) Diesem Wagnis der Liebe kann, laut Illich, deshalb nur in Glaube10 und Hoffnung11 begegnet werden. Da die spezifische Begabung und Tauglichkeit des Menschen, sich in Freiheit zu verhalten, überhaupt erst durch die Nächsten eröffnet wird, kann Illich das, was von den anderen kommt, jeweils als Geschenk betrachten – selbst den herausfordernden Ruf des geschlagenen Juden an den Samariter. Dieser Blick auf die anderen kann nicht als eine selbstverständliche Haltung verstanden werden, sondern verlangt, als aisthetische hexis eingeübt zu werden. Der antiken und mittelalterlichen Tradition folgend, kultiviert sich bei Illich also auch die entgrenzte christliche Freundschaft in einem ganzen Set von Haltungen und Tugenden. Im Grunde kombiniert Illich damit die Idee einer dialogischen Verantwortungs- mit einem Konzept der christlichen Tugendethik. Diesbezüglich plädiere ich dafür, Freundschaft nicht einfach nur als ethische Tugend, sondern darüber hinaus als aisthetische Haltung zu betrachteten, sofern mit dem ethischen Handeln ein gewisses Sich-Einlassen auf beziehungsweise Kultivieren einer bestimmten aisthesis korreliert. Illich betont jedenfalls die Bedeutung der

10 | Die anderen in ihrer Fremdheit nicht schon vorab in die eigenen Kategorien einordnen zu wollen, oder sie durch äußerliche Maßstäbe zu bestimmen, sondern sie „beim Wort zu nehmen“ (ebd.: 81), verlangt Glaube und Vertrauen in das, was diese selbst von sich offenbaren. Darin liegt wohl einer der Gründe dafür, dass Illich Praktiken wie der Psychoanalyse (ebd.) oder der „Expertokratie“ allgemein so ablehnend gegenübersteht – da diese immer mehr über die anderen zu wissen meinen als diese selbst. 11 | „Der Samariter hat die Möglichkeit, einen Bezug, ein Verhältnis zu dem anderen Menschen herzustellen, das gänzlich frei ist und nur durch seine Hoffnung genährt wird, dass der geschlagene Jude darauf reagiert, indem er diese Beziehung annimmt.“ (ebd.: 231f., Herv. I. B.) Illich denkt strikt inkarnatorisch, indem er Haltungen, die zunächst mit dem Gottesbezug in Verbindung gebracht werden wie die theologischen Tugenden, konsequent intersubjektiv wendet.

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sinnlichen Wahrnehmung und Affektion immer wieder. Freundschaft als ein freundschaftlicher Blick auf die Welt würde sodann das Bestreben bezeichnen, das eigene Fleisch für die diversen lauten und leisen Rufe, die in der Welt begegnen können, sensibel zu halten.

D IE V ERKEHRUNG

DER

F REUNDSCHAFT

Die Institutionalisierung der Gnade – von der corruptio optimi quae est pessima Bei aller Treue und Liebe zu seiner Kirche geht Illich als Historiker und Glaubender auch ungemein hart mit ihr ins Gericht. Zwar erkennt er das vielfältige Erblühen der christlichen Freundschaft an, etwa während der ihm gut bekannten Periode des hochmittelalterlichen Mönchtums, doch liest er die Kirchengeschichte auch als eine der fundamentalen Perversionen der christlichen Berufung.12 Diese sieht er vor allem in der Institutionalisierung der Freundschaft gegeben, welche er sogar mit dem mysterium iniquitatis, dem Anti-Christen des zweiten Thessalonicherbriefes, in Verbindung bringt.13 Bei seinem Vortrag „Hospitality and Pain“ (1987) brachte Illich dieses Mysterium dann zum ersten Mal mit dem lateinischen Sprichwort „Corruptio optimi quae est pessima“ – „die Verkehrung des Besten, die das Schlimmste ist“ – zum Ausdruck: „Corruptio optimi quae est pessima – the historical progression in which God’s Incarnation is turned topsy-turvy, inside out. I want to speak of the mysterious darkness that envelops our world, the demonic night paradoxically resulting from the world’s equally mysterious vocation to glory.“ (Illich 1987: 2)

12 | Wie Giorgio Agamben aufzeigt, stützt sich Illich dabei auf eine alte ekklesiologische Konzeption, die ursprünglich von dem nordafrikanischen Donatisten Tyconius stammt, der im vierten Jahrhundert in seiner Schrift "Liber regularumßeine Lehre vom corpus bipertitum entwickelte. Demgemäß bestehe der eine Leib der Kirche aus zwei Teilen, einem sündhaften und einem begnadeten, die bis zum „Abfall“, bei welchem der „Mensch der Gesetzlosigkeit“ offenbar wird, untrennbar miteinander vereint seien. (vgl. Tyconius 1998: 14-21) Nach diesem Ansatz müsste man folgern, „dass die Kirche bis zum Jüngsten Gericht sowohl Kirche Christi als auch Kirche des Antichrist ist.“ (Agamben 2015: 16, Herv. I. B.) Im Unterschied dazu steht Augustinus, der in „De civitate Dei“ von zwei civitates spricht. 13 | Vgl. insbesondere die Kapitel „Mysterium“ (84-89) sowie „Der Anfang vom Ende“ (201211) in Illich 2006.

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Verwirklichte sich nämlich die Freiheit des Samariters in den ersten Generationen der frühen Kirche noch in einer persönlichen Praxis der uneingeschränkten Gastfreundschaft der einzelnen christlichen Häuser (vgl. Illich 2006: 78.), so begannen um das Jahr 313 n. Chr. die christlichen Bischöfe erste Unterkünfte zur Betreuung von Notleidenden, sogenannte xenodocheia, im Römischen Reich zu errichten (vgl. Illich 1987: 6-8). Die Kirche verlagerte die Praxis der Gastfreundschaft also aus dem Kontext der einzelnen Haushalte in einen dafür schon vorab spezialisierten und normierten Handlungsraum. Damit schwanden das persönliche Wagnis der (Gast-)Freundschaft und die für Illich zentrale Dimension der Geschenkhaftigkeit. In gewisser Weise verlor sich außerdem die Singularität des Gastes. Der Einsatz der Kirche für die Armen und Notleidenden beförderte die Anerkennung derselben als eigene soziale Klasse im Oströmischen Reich. So entwickelte sich in Illichs Augen der vormals geschenkhaft zufallende Einzelne (im Sinne eines singulären Du) zum Angehörigen einer bestimmten sozialen Gruppe, der aufgrund dieser allgemeinen äußerlichen Charakteristika Recht auf Unterkunft, Pflege usw. in den dafür vorgesehenen Institutionen beanspruchen durfte. Mit der Institutionalisierung der agape geht also eine bedeutsame Verschiebung einher. Die spontan geschenkte Barmherzigkeit, die auf den konkreten Anspruch eines Du reagiert, wird zu einer geplanten Barmherzigkeit, die sich an vorab postulierten Bedürfnissen und äußeren Maßstäben orientiert. (vgl. Locher 2013: 255-262) Die Institutionalisierung der fragilen christlichen Liebe bewirkte wohl eine gewisse Sicherung von Beziehungsstrukturen, führte aber auch zu ihrer Normierung, Professionalisierung und nicht zuletzt Entpersonalisierung. Die corruptio vollzog sich somit durch die Jahrhunderte hindurch auf verhüllte und besonders perfide Weise: Aus der persönlichen Erwählung wurden unpersönliche, professionelle „Care“Strukturen: Das ursprünglich im Zentrum stehende Vertrauen auf das, was mir die anderen von sich (aus) offenbaren – ein Vertrauen, das die Fremdheit dieser anderen wahrt – weicht einem Blick, der die anderen aufgrund äußerer Maßstäbe, Messungen und Psychologisierungen bereits durchschaut zu haben meint; die Hoffnung auf Überraschung durch die anderen wandelt sich zum abwägbaren Risiko für Versicherungseinrichtungen. Kriminalisierung der Sünde Doch nicht nur hinsichtlich der kirchlichen sowie säkularen Fürsorge- und Bildungseinrichtungen sieht Illich eine corruptio am Werk, sondern auch in anderen Bereichen, in denen ein rechtlich-institutionelles Moment in Beziehungen eindringt, die zuvor allein auf Basis persönlicher Treue bestanden – so zum Beispiel in der Sa-

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kramentalisierung der Ehe als Vertrag (vgl. Illich 2006: 106-115) oder generell in der Einführung des Eides, der conjuratio, bei eigentlich neutestamentlich-unmissverständlichem Schwurverbot. Als besonders folgenreich wertet Illich die Verschiebungen in der Beichtpraxis und das, was er „Kriminalisierung der Sünde“14 nennt. Mithilfe der Studien von Paolo Prodi zeigt er auf, wie im Laufe der Jahrhunderte das Verständnis von Sünde im Sinne von Untreue und persönlicher Beleidigung zunehmend schwindet und einem Verständnis als Verstoß gegen eine (Rechts-)Norm weicht, was etwa an den im siebten Jahrhundert entstehenden Bußbüchern (vgl. Prodi 2003: 4144) anschaulich wird. Einen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung schließlich beim Vierten Laterankonzil 1215, bei welchem die einmalige Beichte pro Jahr verpflichtend für jeden Gläubigen vorgeschrieben wurde15 , wobei sich der/die Beichtende vor dem richtenden Priester selbst der eigenen Verbrechen anzuklagen hatte. Dabei wurde Sünde als etwas verinnerlicht, das vom Beichtvater nach objektiven Maßstäben beurteilt und vergeben werden konnte. Illich geht sogar so weit, „[...] die Kriminalisierung der Sünde als Grundlage für das Verständnis der westlichen Welt zu begreifen. Unser heutiges Verständnis vom „Selbst“, und von so genannten „zwischenmenschlichen Beziehungen“, ist zutiefst korrumpiert. Wenn durch die Kriminalisierung der Sünde Normen in das „Soll“ hineinkommen, wird die großartige Seite der Begegnung zwischen dem Palästinenser und dem Juden16 verstellt.“ (Illich 2006: 231)

Die Bedeutung von Gehorsam als Auf-den-anderen-Hören wird damit zur Gesetzesobservanz. Die Institutionalisierung, die mit ersten karitativen Einrichtungen im vierten Jahrhundert begann, setzte sich später in den modernen Dienstleistungseinrichtungen der säkularen Staaten fort. Auch die kirchlich-rechtlichen Institutionen wie eben z.B. die Eidstruktur, auf welcher Illich spätere vertragstheoretische Staatskonzepte aufruhen sieht, die Institution der Ehe als rechtlicher Bund etc. sind in seinen Augen säkulare Transformationen ursprünglich religiöser Institutionen. Die Moderne stellt für ihn deshalb keine post-christliche Epoche dar, sondern lässt sich als Verkehrung der christlichen revelatio direkt aus dieser herleiten. Illich erblickt in ihr den kairos des apokalyptischen – das heißt enthüllenden, offenbarenden – Interims zwischen der In-

14 | Siehe hierzu das besonders das Kapitel „Die Kriminalisierung der Sünde“ in ebd.: 106-120. 15 | Siehe Can. 21: „Omnis utriusque sexus“ in García y García (1981): 67f. 16 | Illich erzählt, um die Ernsthaftigkeit des Verrats des Samariters für zeitgenössische Ohren zu verdeutlichen, das Gleichnis oft mit einem geschlagenen Juden und einem helfenden Palästinenser.

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karnation des göttlichen Wortes und der Parusie. (vgl. ebd.: 195, 205) In ihr zeitigt beziehungsweise offenbart sich die Abgründigkeit der Sünde, des mysterium iniquitatis, der Institutionalisierung der Samariter-Beziehung in unübertroffener Weise.

F REUNDSCHAFT

IM

Z WISCHEN

DER

S YSTEME

Nach der Wasserscheide: Erosion der Institutionen – Systemdenken – Entkörperung Um Freundschaft als Berufung im gegenwärtigen Kontext betrachten zu können, gilt es, mit Illich aktuelle gesellschaftliche sowie aisthetische Bedingungen in den Blick zu nehmen, unter denen sich diese heute vollzieht. In diesem Zusammenhang weist Illich darauf hin, dass sich die Art und Weise, sich selbst und die Welt wahrzunehmen, im Zuge der industriellen und technologischen Entwicklung gegen Ende des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert habe. Betrachtet er in seinem Werk „Tools for Conviviality“ menschliche Werkzeuge und Institutionen noch vor dem Hintergrund der Idee einer prinzipiellen „Distalität“ (ebd.: 25) von Mensch und Instrument, so erkennt er später, dass das Paradigma der Instrumentalität in den 1980er-Jahren ideengeschichtlich zum „Zeitalter der Systeme“ hin überschritten wurde. Er vernimmt – insbesondere im Zusammenhang mit Technologien wie dem Computer – einen grundsätzlichen aisthetischen Wandel, einen Wendepunkt in der Ideen- und Wahrnehmungsgeschichte.17 Innerhalb des neuen Paradigmas erfasst der Mensch sich selbst als System (bspw. Nervensystem oder Immunsystem) sowie als mit seiner Umwelt in verschiedensten Systemen mit diversen Rückkoppelungsmechanismen verflochten (z.B. mit der Erde als Ökosystem, in dem der Mensch als eingebundenes Teilchen existiert). Zunächst führt ein solches Denken zu einer sensibleren Wahrnehmung der Komplexität von naturhaften Vorgängen oder (gesellschaftlichen) Handlungszusammenhängen. Im Weiteren kann es jedoch ein Gefühl des „Unvermögens“ (ebd.: 208) evozieren, so wie Illich dies in seiner Generation deutlich vernimmt. Der Mensch fasst sich nicht mehr als das freie Handlungen setzende Ich-Zentrum wie in modernen Subjektkonstruktionen auf, sondern als in einem Gefüge von Abhängigkeiten stehend und von diversen Strukturen bestimmt. Hinsichtlich des Umgangs mit seinen „Werkzeugen“ äußert sich dies darin, dass der Mensch nicht mehr einfach Herr dar-

17 | Was nicht heißt, dass die instrumentelle aisthesis vollkommen abgelöst wäre – man muss hier eher von einer Koexistenz sprechen. (vgl. ebd.: 229)

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über, sondern als „User“ Teil des Systems selbst ist.18 Eminente Auswirkungen hat ein solches Denken auf das Schwinden von Alterität sowie auf die Wahrnehmung des Körpers. Ein Thema, das in Verbindung mit dem Bedenken des Zeitalters der Systeme in Illichs Schriften ab 1980 deshalb immer wieder auftaucht, ist das Phänomen der „Entkörperung“19 , welches er als ein weiteres „Charakteristikum der Moderne“ (Illich 2006: 134) bezeichnet. Er versteht darunter die Veränderung der Selbst- und Leibeswahrnehmung aufgrund abstrakter instrumenteller oder kybernetischer Konzeptualisierungen des Körpers. Dies kommt zum Beispiel in der (medizinischen) Besprechung des Körpers als Immun- oder Hormonsystem zum Ausdruck; in der Definition leiblichen Wohlbefindens, basierend auf allgemeinen, normierten Werten und Maßstäben; im Schwinden einer von Sinnlichkeit durchtränkten Sprache sowie generell darin, dass das Empfinden von Materialität durch „fleisch“-lose abstrahierte Konzeptualisierungen ersetzt wird. Mit all diesen verschiedenen Beispielen versucht Illich grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass sich der Mensch der Moderne mit dem Körper, den er hat (bzw. den er als System begreift) – dessen Temperatur gemessen, Blutkörperchen gezählt, schwangerer Bauch durchstrahlt und dessen dysfunktionale Organe durch maschinelle Ersatzteile der IT-Branche oder durch im Reagenzglas gezüchtete Äquivalente ersetzt werden können –, nicht mehr als Ich im Sinne eines inkarnierten Selbst, wie Illich dies im Samariter widergespiegelt sieht, versteht und spürt. Einen herausragenden „Topos“ stellt diesbezüglich der Cyberspace dar. Im Modus des unendlichen und allseits präsenten Systems werden darin Virtualisierung und „Ikonomanie“ (Illich 2006: 143) auf die Spitze getrieben. In dieser Virtualität spielt die Dimension des fleischlichen, verletzlichen, alternden Leibes keinerlei Rolle. Kurt Appel bringt dies konzis zum Ausdruck: „Der Körper und seine Grenzen sind außer Kraft gesetzt, mit ihm aber auch die Realität des Anderen (Realität als res aliter). Diese sinkt zum Moment einer alteritätslosen und damit totalitären Ideenwelt herab.“ (Appel 2016: 63) Alle bedeutsamen Momente der Andersheit, Sinnlichkeit und

18 | Vgl. hierzu auch ebd. die Kapitel „Das Zeitalter der Systeme“ (183-194), „Vom Werkzeug zum System“ (226-229) und „Jenseits der Wasserscheide“ (246-250). 19 | Vgl. hierzu insbesondere das Kapitel „Verkörperung und Entkörperung“ in ebd.: 230-240. Illich arbeitet zu dieser Thematik vielfach mit der bekannten deutschen Historikerin und Frauenforscherin Barbara Duden zusammen. Duden versucht die Veränderung der Selbst- und Leibeswahrnehmung u.a. anhand der Aufzeichnungen von Arzt-Patientinnen-Gesprächen im 18. Jahrhundert nachzuweisen. Siehe Duden 1998.

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Fleischlichkeit, die Illich als grundlegend für die Ich-Du-Beziehung erachtet, scheinen somit in der Virtual Reality verloren zu gehen. Umsonstigkeit durch askesis – von der Freiheit-von zur Freiheit-für Angesichts dieses eher düsteren Bildes lässt sich fragen, ob Illich auch irgendwelche Strategien anbietet, die inmitten oder im Zwischen der Systeme noch Freiräume der Freundschaft zu eröffnen vermögen und einer totalen Entkörperung zuwiderlaufen. Er bespricht dies unter seinem neu geschöpften Begriff der „Umsonstigkeit“, welche ich als eine Übersetzung des Begriffs der Gnade in eine säkulare, von Kapitalismus und instrumenteller Zweckrationalität durchdrungene Gesellschaft verstehe. „[I]ch behaupte, dass die Wiedergewinnung dieser Möglichkeit die eigentliche Frage ist, um die es hier geht – nämlich die Möglichkeit, dass ein schönes und gutes Leben vor allem ein Leben der Umsonstigkeit ist, und dass Umsonstigkeit etwas ist, das erst aus mir fließen kann, wenn es durch dich eröffnet und herausgefordert wird.“ (Illich 2006: 253)

Eine grundlegende Voraussetzung für die Wiedergewinnung derselben sowie allgemein für die Kultivierung einer freundschaftlichen Haltung, stellt für Illich die askesis dar. Unter askesis, dem alten Wort für Übung oder Wiederholung (vgl. ebd.: 254), dürfte Illich konkret alle möglichen Formen der „Selbst-Schulung“ (ebd.), das heißt der bewussten Aneignung von Gewohnheiten durch wiederholtes (Nicht-)Tun verstehen, welche eine gesammelte Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt fördern.20 Diese askesis umfasst aber nicht allein eine Praxis der Entsagung, sondern sucht darüber hinaus die sorgfältige Prüfung der eigenen Wahrnehmung (sowie der damit verknüpften Sprache, der Notionen und Denkschemata) sowie das Vermeiden entkörpernder Begrifflichkeiten zu kultivieren: „The person today who feels called to a life of prayer and charity cannot eschew an intellectual grounding in the critique of perception, because [. . . ] our perceptions are to a large extent technogenic. Both the thing perceived and the mode of perception it calls forth are the result of artifacts that are meant by their engineers to shape the users.“ (ebd.: 2f.)

Angesichts der umfassenden Virtualisierung unserer Lebenswelt schreibt Illich insbesondere der custodia oculorum eine zentrale Rolle in dieser Selbst-Schulung zu. Im

20 | „By askesis I mean the acquisition of habits that foster contemplation. For the believer, contemplation means the conversion to God’s human face.“ (Illich 1996b: 1)

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Zeitalter der Bilder stellt die „Augenzucht“ für Illich gar die Grunddisziplin der askesis (vgl. Illich 1990: 26) und damit der Ethik dar. Eine solche Schule des Blickens hat sich mit Bedacht auf die oben angesprochenen Verformungen der aisthesis darum zu bemühen, sich der vielfältigen abstrakten Brillen, die die Sicht auf die Andersheit des Antlitzes trüben, sorgfältig zu entledigen. Im Letzten kommt es Illich mit der askesis auf die Einübung in eine Haltung der Wachheit beziehungsweise Wachsamkeit im hic et nunc (vgl. Illich 2006: 248) an. Gemeint ist damit eine Form der ganzleiblichen Aufmerksamkeit oder Sensibilität, eine unaufdringliche Präsenz und Offenheit für die anderen: „Wir müssen eine Askese pflegen, die es möglich macht, das Jetzt und das Hier auszukosten, das Hier als Örtlichkeit, als das, was zwischen uns ist, wie das Reich Gottes. Das ist eine ungemein wichtige Aufgabe, wenn wir retten wollen, was in uns noch übrig ist vom Sinn für Bedeutung, für Metapher, für Fleisch, für Berührung und Blick.“ (ebd.: 208.)

Die asketische Praxis zielt jedoch nicht nur auf den individuellen Handlungsraum ab, sondern im Rahmen eines Strebens nach freundschaftlichen Beziehungen ebenso auf eine gemeinsam gewählte Selbstbeschränkung: „Selbst auferlegte Grenzen verschaffen die Basis und Vorbereitung, um darüber diskutieren zu können, auf was wir als Gruppe von Freunden oder als Nachbarschaft verzichten können.“ (ebd.: 128f.) Entgegen einer postmodernen „Undiszipliniertheit“ oder einem „Abdanken“ (vgl. ebd.: 208) setzt Illich somit auf eine weitgehende Bewahrung der persönlichen Autonomie als einer möglichst großen Freiheit von Waren, Dienstleistungen und institutionellen Abhängigkeiten, um stattdessen frei zu sein für eine konviviale Gemeinschaft, die sich verwirklicht „durch die Feier gemeinsamer Erfahrung: Dialog, Streitgespräch, Spiel und Poesie – kurzum, Selbstverwirklichung in schöpferischer Muße.“ (Illich 1996a: 43)

C ONCLUSIO : F REUNDSCHAFT

ALS CHRISTLICHE

B ERUFUNG

Der gastfreundliche, gedeckte Esstisch bildet für Illich, der tief in der Tradition des griechischen conviviums sowie in dessen christlicher Umstülpung, der Eucharistiefeier, verwurzelt ist, den zentralen Ort, um den herum persönliches Erzählen, Feiern, ebenso wie die gemeinsame Suche nach Wahrheit stattfinden kann. In einem derart eröffneten Raum vermag ein Geist der Freundschaft zu entstehen, den Illich „Atmosphäre“ (vgl. Illich 1998: 5-11) nennt, womit er einen spürbaren, tiefen, heiteren Frieden meint. Zu einer Kultivierung von „Atmosphäre“ bedarf es zwar, wie Illich

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hervorhebt, der askesis aller Beteiligten, sie stirbt jedoch, sobald sie der Institutionalisierung anheimfällt – im Letzten kann sie sich immer nur geschenkhaft ereignen. Interessanterweise eröffnet sich für Illich gerade in der Gegenwart, die er als die Spitze des apokalyptischen Prozesses und damit der Enthüllung des Bösen charakterisiert (Illich 2006: 205f.), die Möglichkeit der Freundschaft auf neue Weise: „In dieser Welt könnte ich keine bessere Situation finden, um mit denen zu leben, die ich liebhabe [. . . ].“ (ebd.: 255) Er bringt dieses neue Aufblühen von Freundschaft mit der Schwächung der instrumentellen aisthesis und Zweckrationalität in Verbindung, die eine neue Empfänglichkeit für die oben genannte „Umsonstigkeit“, erschließt. Zudem, meint er, kann „[d]er Glaube an die Inkarnation [. . . ] in unserer Zeit gerade deshalb eine Blüte erfahren, weil der Glaube an Gott getrübt ist und wir geneigt sind, Gott im Anderen zu entdecken.“ (ebd.: 202) Der Glaubensschwund an eine mächtige Jenseitigkeit oder himmlische Übergeordnetheit, die von hierarchischen Strukturen repräsentiert wird, eröffnet folglich in seiner Einschätzung die neuerliche Erfahrung einer immanenten Transzendenz, die im Antlitz der anderen, in der IchDu-Beziehung, begegnet. Einen weiteren Hoffnungsschimmer für die Wiederbelebung der Ich-Du-Beziehung erblickt er im Vertrauensverlust an die versorgenden Institutionen. In gewisser Weise stellt für Illich die Institutionalisierung der christlichen Liebe, welche von vielen heute in ihrer Leerheit erkannt wird, ein Eingangstor zum mysterium incarnationis dar. (vgl. ebd.: 196) Der apokalyptische kairos der Gegenwart, der die (Un-)Kultur der industriellen Bedürfnisbefriedigung in ihrer Abwegigkeit ans Licht bringt, birgt insofern die Möglichkeit, den nur mittelbaren Wert der Dinge und Dienstleistungen sowie das Du in seiner Umsonstigkeit wieder als das eigentliche Gut, das telos des Ich, zu offenbaren. Darin liegt auch der Schlüssel, um zu verstehen, warum Illich die christliche Berufung nicht mehr in der Prophetie, sondern in der Freundschaft verwirklicht sieht. (vgl. ebd.: 196) Nun nämlich, da „das Ei ausgebrütet ist“ (vgl. ebd.: 195), gibt es nach seiner Auffassung für den Propheten, der ursprünglich in der Liturgie der frühchristlichen Gemeinden den Anti-Christen anzukündigen hatte (vgl. ebd.: 84), nichts mehr zu tun – außer vielleicht, „Menschen dazu zu bringen zu akzeptieren, dass wir in einer solchen Welt leben“ (ebd.: 248) und sich im hic et nunc den gegenüberstehenden anderen zuzuwenden. Sicher ist für Illich jedenfalls, dass es nicht mehr die Kirche als Institution sein darf (und wohl auch nicht mehr sein kann), welche einen programmatischen Wandel als mächtige, gesellschaftliche Autorität dirigiert und leitet, wenn sie wahrlich Zeugnis vom ohnmächtig gekreuzigten Christus geben will. Hier gilt es jedoch noch einmal kritisch einzuhaken: Illichs Folgerungen die Institutionen betreffend sind mit Blick auf seine Auffassung vom christlichen Evangeli-

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um und seine Verkehrung verständlich. Nichtsdestotrotz darf nicht vergessen werden, dass – bei allem notwendigen Anprangern starrer Machtstrukturen und dysfunktionaler Apparate – die institutionellen Errungenschaften der Moderne wie Rechtsstaatlichkeit und soziale Versorgung für jene, derer sich keiner erbarmt, den Boden und Raum dafür bieten, dass solche (wissenschaftlichen) Diskussionen, wie wir sie hier führen, überhaupt stattfinden können. Kritisch wäre deshalb zu hinterfragen, welche Rolle Illich in diesem Kontext den demokratischen Institutionen zubilligt, wenn er auch die „westlichen Vorstellungen von Demokratie“ als den „Versuch“ bezeichnet, „ein ‚Soll‘ zu institutionalisieren“, das seiner Natur nach eine persönliche, vertrauensvolle und individuelle Berufung ist“ (ebd.: 217, außerdem ebd.: 232). Wäre es nach Illich angebracht, um die derzeit unter Legitimationsschwund leidenden demokratischen Strukturen nicht mehr zu ringen? Dies erscheint naheliegend, wenn man Illichs Auffassung von der corruptio optimi radikal zu Ende denkt, seine Einstellung zur Ohn-/Macht sowie seine Haltung zum Planen und Hoffen. Kann aber den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen tatsächlich ohne das Bemühen um den Erhalt und die gerechte, sinnvolle Gestaltung dieser Strukturen begegnet werden? Im Gegenüber zu Illich könnte man mit Kurt Appel fragen: Stellen nicht „der funktionierende Rechts- und Sozialstaat auch ein[en] Humus für eine menschenwürdige Gesellschaft und daher des Evangeliums selber“ (Appel 2016: 69) dar? Und kann es nicht sein, dass auch „der moderne Rechts- und Sozialstaat und seine durch einen demokratischen Konsens getragenen Institutionen ein gottgewolltes Erbe des Evangeliums zum Ausdruck bringen [?]“ (ebd.: 68) Müssen Strukturen unbedingt als Perversion frei gestalteter Beziehungen verstanden werden, oder können diese nicht ebenso Räume eröffnen, in denen das Leben solcher freien Beziehungen erst ermöglicht wird? In Bezug auf die Kirche in Westeuropa hat Illich mit seiner Diagnose des Niedergangs der Institution sicherlich recht. Ein Zur-Schau-Stellen machtvoller Amtsinsignien stehen ihr, die den ohnmächtig Gekreuzigten verkünden will, heute nicht mehr besonders gut. Demgegenüber besteht ein Trend, sich in privilegierten „kleinen Gemeinschaften“ abzugrenzen. In diesem Zusammenhang ist jedoch unbedingt festzuhalten, dass ein Initiieren alternativer Gemeinschafts- und Lebensformen, um mich der Worte Jakob Deibls zu bedienen, keinen „Gegenentwurf in kulturkämpferischem Gestus“ darstellen darf, sondern „aus einer kritischen Freundschaft der Moderne gegenüber zu interpretieren“ (Deibl 2016a: 219) ist. Diesem Anliegen Deibls entspricht Illichs Idee vom gastfreundlichen convivium vollkommen. Denn ein lebendiges convivium impliziert für Illich, dass sich jedes gefundene „Für-einander-da-Sein“ stets für zufällig Da-her-Kommende offen hält und sich nicht in exklusiver Selbstgenügsamkeit abschließt. Mit diesem Anliegen referiert Illich auf die berühmt gewordene Zeile des mittelalterlichen Zisterzienserabtes Aelred von Rievaulx:

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„‚Hier sind wir, du und ich und, so hoffe ich, auch ein dritter, der Christus ist.‘21 (Rieval22 1978: 6) Wenn du über die Bedeutung dieser Worte genau nachdenkst, dann verstehst du, dass es Christus in der Gestalt von Bruder Michael sein könnte. Mit anderen Worten: Unser Gespräch sollte immer in der Gewissheit geführt werden, dass da noch jemand anderer ist, der an die Tür klopfen wird [. . . ]. Das ist eine beständige Mahnung, dass die Gemeinschaft niemals geschlossen ist.“ (Illich 2006: 177)

Mit der Praxis des disziplinierten, offenen conviviums setzt Illich ein sehr hohes Ideal von Freundschaft an. Nicht zu vergessen ist jedoch, dass er bereits in der Begegnung von Jude und Samariter den Samen für eine Freundschaft gelegt sieht, die sich in der durch Christus eröffneten Freiheit auf jede mögliche Weise zwischen Ich und Du (und christlich gesehen „dem Dritten“) gestalten kann. Zur Freundschaft berufen, mag die Aufgabe der einzelnen Gläubigen und gläubigen Gemeinschaften wohl in der Tat darin liegen, als resonierender Leib für „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ (GS 1)23 sensibel zu bleiben, oder aber im Zwischen der zerfallenden Institutionen eine neue „Topologie gast- und sprachfreundlicher Räume“ (Deibl 2016b: 327) zu erschließen, an denen die zweckfreie Atmosphäre der philia erblühen und die Fleischwerdung sich fortsetzen kann. Vielleicht sind deshalb (und waren es vielleicht immer) gerade die kontingenten freundschaftlichen Begegnungen und das Bemühen um freundschaftliche Gemeinschaften – sei es außerhalb oder innerhalb der kirchlichen Institution – jene Orte, an welchen heute, „nach dem Ende der großen Erzählungen“, der christlichen Tradition in einer leisen Form die Treue gehalten wird.

21 | Lat.: Ecce ego et tu, et spero, quod tertius inter nos Christus sit. 22 | Die Namens-Schreibweisen des Zisterziensermönchs unterscheiden sich in der Literatur. 23 | Pastorale Konstitution „Gaudium et Spes. Über die Kirche in der Welt von heute“ am 7.12.1965. Einzusehen in: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/ documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html [letzter Zugriff am 12.5.2019].

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Hans-Michael Kirstein Human Armageddon

Ich will nicht! Bloßstellungen eines vogelfreien Undichters Franz Schandl

I. Ich. Wer bin ich? Oder doch, was? Ich schreibe. Bin ich Schriftsteller? Aber woher denn! Und vor allem auch, wozu? Was ist mit einem, der nicht behaupten will, Schriftsteller zu sein, kann der sich behaupten, wenn er schon die Behauptung verweigert? Soll ich nicht doch noch Schriftsteller werden? Zumindest werden wollen? Versuchen, mich zu behaupten am Markt der Essays und Bücher. Meinen Platz einzunehmen in der Welt, wie es halt die Verpflichtung der Bürger ist. Aber warum soll ich diese Pflicht erfüllen, wo sie doch meiner Neigung so gar nicht entspricht. Warum soll ich mich fügen? Indes, ich will nicht! Ich will nicht etwas sein, weil man etwas zu sein hat. Ich will nur sein. Wenn ich dichte, bin ich kein Dichter, wenn ich denke, bin ich kein Denker, wenn ich backe, bin ich kein Bäcker, und wenn ich laufe, bin ich kein Läufer. Warum soll ich mich durch meine Prädikate definieren lassen? Ich dichte gerne, ich denke gerne, ich backe gerne, ich laufe gerne. Aber das tue ich, sein tue ich etwas anderes, aber eben nichts Bestimmtes. Es ist dieser bescheidene Wunsch, ich zu sein, der mich motiviert. Nie bedrängte mich der Wunsch, Schriftsteller zu werden, aber seit ich ungefähr fünfundzwanzig war, spüre ich, dass ich etwas zu sagen habe und dass das zu Sagende schriftlich gemacht werden muss, will es Halt und Inhalt gewinnen. Aber nie wollte ich mich bezichtigen lassen durch eine Zuordnung, nie wollte ich in eine Schublade gesteckt werden, immer wollte ich in meiner Tragweite gesehen und angenommen

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werden. Meine Akzeptanz sollte nicht Folge eines Jobs sein und schon gar nicht die einer Vermarktung. Entschieden lehne ich es ab, bewertet anstatt geschätzt zu werden. Indes, ich will nicht! Mich zu spezialisieren, das war mir stets fremd. Nicht mangelnde Kompetenz verordnete mir diesen schrägen Zustand, sondern einfach die Lust, auf die Fülle zuzugreifen, mich nicht zu verengen oder gar einzugraben in einem Gebiet, wo ich dann als Fachmann oder Experte glänzen würde. Das Partielle hat nie so gereizt wie das Ganze. Jeder Ausschnitt ist mir zu wenig. Nicht einen Teil des Lebens will ich, das Leben schlechthin möchte ich. Was sonst soll man wollen? Freilich kann ich nur dafür leben, aber nicht davon.

II. Ich fühle mich nicht berufen, und wenn doch, dann nicht zu einem Beruf. Etwas, von dem man sagen könnte, dass ich einer sei. Ich bin keiner von denen, auch kein freier Schriftsteller. Bereits der Terminus ist absolut idiotisch. Er kommt so gesättigt, so überzeugt und selbstverständlich daher, als handle es sich um einen Adelstitel der Kulturindustrie: Freiherr von Schanden. Andere mögen abhängig sein, aber ich, ich doch nicht! – Die Setzung des Adjektivs „frei“ zeugt von einer verbohrten Lüge, seien die Träger nun Ahnungslose oder Überzeugungstäter. Die Bezeichnung ist nichts anderes als eine bürgerliche Aufwertung durch Auszeichnung. Schlimmer als die staatlichen Bevormundungen und Gängeleien, denen man den Zwang immerhin ansieht, erscheinen die Pressionen des Marktes als Betätigung und Bestätigung der Freiheit schlechthin. Indes, ich will nicht! Die, die mich anerkennen, müssen mich anerkennen, ohne dass man ihnen sagt, dass ich anzuerkennen sei. Ob diese Position durchhaltbar ist? – Wahrscheinlich nicht! Auch wenn ich mich manchmal wundere, wie lange ich schon in diesem Abseits sitze und nicht verzagt habe. Verzweiflung ist zu verdrängen. Frei am Markt zu sein heißt vogelfrei zu sein. Dem Abschuss zu entgehen, indem man andere abschießt. Dem Ausschluss zu entgehen, indem man andere ausschließt. Das Leben der Konkurrenten ist eine gemeine Abfolge von Vergeltungen. Meistens sind die anderen nicht gleich tot, sie werden wie wir langsam zur Strecke gebracht. So und nicht anders funktionieren Konkurrenz und Geschäft. Man muss dazugehören und mitmachen, um anerkannt zu werden. Wir sind Monaden, fensterlose Wesen, die sich und die ihren von den anderen abschotten, ihnen (da wir sie wie uns kennen) misstrauen. Ihnen (nicht zu Unrecht) das Schlechte unterstellen und mit dem Üblen das Üble verhindern möchten. Wie verhindern wir, dass uns die Anderen etwas antun?

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Ganz einfach: Wir tun ihnen selbst etwas an, auf dass sie uns nichts antun können. Nicht Gunst erweisen wir einander, sondern Missgunst. Die Erkenntnis der Unfreiheit ist befreiender als die Anwendung uns aufgezwungener Freiheit. Die Freiheit, die wir kennen, die ist eine Bedrohung. Sie verwüstet unser Leben, degradiert es zu einem Kampf ums Überleben, zwingt zu Arbeit und Tausch, zu Geld und Geschäft, zu Verwertung und Verrohung. Diese Freiheit ist unwirtlich und widerlich. Sie erschafft keine Individuen, sie produziert Subjekte, sie liebt die Menschen nicht, sondern rüstet und stachelt sie auf. Unsere Geschichte ist gerade aufgrund dieser mentalen Disposition eine Geschichte selbstgemachter Katastrophen.

III. Was werden, was ist das schon? Nur wer meint, nichts zu sein, muss etwas werden. Wie kommen wir überhaupt dazu, a priori für nichtig oder minderwertig gehalten zu werden? Mich anzubieten, das will ich von mir nicht und nicht verlangen. Es ist schlimm genug, dass ich es gelegentlich tun muss. Es ist nicht Scheu, es ist Abscheu. Mich zu bewerben, ja um mich zu feilschen, mich zu verkaufen, davor graust mir. Die Frage nach meinem Marktwert müsste mich stracks in den Suizid führen. Bestenfalls bin ich ein unfreier Dichter. Vielleicht, es sei gestanden, hätte ich auch gerne einen Verlag, der mich verlegt, nicht bloß ein Buch publiziert. Jemanden, der mich vor dem Markt schützt, aber doch dort irgendwie unterbringt. Mir sagt, was zu fördern und was zu unterlassen ist, meine lyrische und dramatische Ader ernst nimmt und mich in jeder Hinsicht ermutigt. Denn eigentlich wollte ich mich nie selbst verlegen und auch den Redaktionen wollte ich nie nachlaufen. Mitteilen ja, anbieten nein! Wie grauslich ist dieses Sich-zu-Markte-Tragen. Ich hasse es aus tiefster Überzeugung. Vermarktung ist praktizierte Kapitulation. Indes, ich will nicht! Das Schmieden oder das Bauen an einer Karriere war und ist mir zutiefst zuwider. Sich zu managen, strategisch zu netzwerken, wohin soll das führen? Welch getriebenes Wesen muss man sein, eine Laufbahn anzustreben und diese zu beschreiten? Vielleicht führt derlei ja in den Erfolg oder auch an die Spitze, doch was ist man dort und was macht man dort und wie lange? Ich wollte nie ein Erniedrigter und Gehetzter sein, sondern ein Lebender, ja ein Lebendiger. Kein Kalkulator meiner Finanzbuchhaltung. Nicht erfolgreich gilt es zu sein, sondern folgenreich. Nicht dass ich nicht einmal bekannt bin, ist bekannt. Bisher bin ich jedenfalls allen Relevanzvermutungen entkommen und Preisausschreiben entgangen. In keiner Hitparade werde ich gespielt, in keinem Ranking gelistet. Ich hatte nie einen Preis

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und habe daher bis jetzt auch noch keinen bekommen. Er bekommt mir auch nicht. Schon allein dadurch, dass ich einen Preis wert wäre, mäße man mich mit den Maßen der Konvention. Ich bin keinen Preis wert. Bisher keinen gewesen und in meinem Wesen dem auch in keiner Weise entsprechend. Was will man mit dem Preis? Dass ich auffalle? Nicht, dass ich nicht auffallen will, aber nicht auf dem Markt will ich auffallen, sondern wider den Markt. Aufmerksamkeit hat kontradiktorisch zu sein und vor allem zu bleiben. Geehrt wurde ich nie. Keine Kommission hat sich meiner erbarmt und mich bedroht. Unehre, wem Unehre gebührt. Doch was ist Ehre? Eine Erweisung? Ähnlich einer Überweisung? Auf jeden Fall eine herbe Einweisung in die Zugehörigkeit. Auch meinen unüberschaubaren Vorlass anzukaufen hat mir noch niemand angeboten. An der Qualität kann es ja nicht liegen. Die vergessen nicht, mich nicht zu vergessen. Karriere ist mir ein übles Ding. Nichts ist aus mir geworden, und wie es aussieht, wird aus mir auch nichts mehr werden. Der Zuspruch verblieb im Minimundus, er hat nichts von Status oder gar Renommee. Wer bin ich schon? Das vom Markt propagierte Ich ist ein Serienprodukt. Dieses Ich hat sich als Marke zu etablieren, sein Charakter ist Maske, persona. Aufgaben werden gestellt und Ziele gesteckt, Kompetenzbasis und Netzwerk inbegriffen. Nicht zu sich kommen sollen die Leute, sondern etwas werden, eine Laufbahn einschlagen. Dafür burnen sie – in and out! Die Gewordenen und die Ungewordenen treffen sich im Bekenntnis allgegenwärtigen Werdens der Ungewesenen. Karriere ist etwas für Barbaren und Banausen. Je gestörter jemand ist, desto nötiger nicht nur das Verlangen, sondern desto größer auch die Chance, die Karriereleiter raufzuklettern. Wenn man sonst nichts hat vom Leben, zu einer Karriere wird’s reichen. Ellbogen raus! Karriere ist eine Schuld, die man hat und deren Opfer man als Täter wird. Es ist da ein ständiges Defizit, das uns antreiben soll, man ist sich etwas schuldig. Und den anderen noch mehr. Ich hingegen schürfe tief und gebe viel. Nicht und nichts bin ich schuldig! Karriere macht krank, weil sie krank ist. Die scheitern, scheitern, und die nicht scheitern, scheitern ebenso. Wer da gescheiterter ist, ist schwer zu sagen. Tatsächlich muss nur etwas werden, wer nichts ist. Nichtig das Subjekt, das solche Bestimmungen nötig hat. Wer meint, ein Karriereprofil haben zu müssen, ist entweder ein gefährlicher Irrer oder eine bedrängte Kreatur. Beide Typen tun nicht gut, weder sich noch anderen. Die Alternative, ob jemand ein scharfer Hund ist oder ein armer Hund, ist keine. Kein Hund zu sein, das wäre eine. Aber ich red mir’s da leicht, denn aus mir ist ja auch akkurat nichts geworden. Mit fünfzig plus ist es sowieso schon zu spät. Was darf ich noch wollen?

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Indes, ich will nicht! Wär ich was geworden, würde mir was abgehen. Umgekehrt freilich auch, denn als Kind dieser Tage ist man natürlich nicht frei vom Sog der Reputation und des Prestiges. Anders als die Ideologie es verheißt, ist niemand autonom. Praktisch auf der Höhe seiner Gedanken zu sein, das kann bei solchen Gedanken sich eins weder leisten noch ist eins dazu imstande. Wider die Zeit der zu sein, der man möchte, das würde einen glatt zerreißen.

IV. Trotzdem war das Ich meist stärker als das Was. Dieses Ich will nicht gezwungen werden, zu etwas zu finden, was einem Job gleicht. Aber mitunter wünsche ich mir doch, abgesichert zu sein und eine Pension zu erhalten, die mehr zulässt als die drohende Armut. Das Nichts-werden-Wollen hat auch seine Tücken. Und stimmt es überhaupt, was ich da erzähle? Ist das nicht die Ausrede eines notorischen Versagers? Eine billige Notlüge? Ich kann das alles nicht so dezidiert ausschließen, wie ich es ausschließen möchte. Daher gilt es auch aufzupassen, dass die Bloßstellung nicht zur Schaustellung wird, also die Performance die Biederkeit überspielt. Ich bin nicht so sicher, wie ich tue. So halte ich zwar einiges aus, aber diese Ignoranz mir gegenüber, die halte ich immer weniger aus. Arroganz hilft weiter, aber auch sie ist bloß Surrogat. Dem sozialisierten Kleinheitswahn meiner dörflichen Umgebung bin ich nur entkommen, sintemal ich mir eine Überdosis an Narzissmus verordnet habe. Das half mir, mich aus den beengenden Verhältnissen zu katapultieren. Die Freuden dabei waren größer als die Leiden davor. Nötig ist es allemal gewesen, aber die Wirkung lässt nach... Und doch muss man sich spätestens mit fünfzig eingestehen: Das Leben läuft aus. War man ihm in jungen Jahren hinterhergelaufen, so läuft es einem nun auf einmal davon. Man könnte meinen, das eine sei wie das andere. Das stimmt auch, aber die Blickrichtung hat sich umgekehrt. Wenn der Neunzigjährige und die Elfjährige beide einundneunzig werden, dann qualifiziert sich diese formale Gleichheit in der konkreten Frist als fundamentale Diskrepanz. Leben wird im Alter vom Tod her gedacht, ja gesteuert. Noch nie war man ihm so nah wie jetzt. Und jeden Tag, jede Stunde kommt man ihm näher, gerät in seinen Sog. War einst der Tod eine ferne Bestimmung, so wird er nun zu einem absehbaren Ereignis, das von Minute zu Minute an Wahrscheinlichkeit gewinnt und uns immer absehbarer fortreißen wird. Wir sitzen auf verlorenem Posten. Aber noch sitzen wir. Immer waren da zu viele Aufgaben, zu viele Perspektiven, zu viele Ziele. Es gelang nicht, mich zu fixieren, was bedeutet hätte, mich zu beschränken. Ich jedoch

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wollte unbeschränkt und zerstreut sein, nie fleißig und borniert. Multiple Ladungen blieben liegen. Schubladen und Ordner sind voll. Fokussiert, wie das so schön heißt, war ich selten. Und wenn, dann folgte dies äußeren Umständen. Die Herausgabe der Streifzüge wäre hier zu nennen. Ordnung war rar, Verzettelung stets. Ich werde diese nie loswerden, ich bin sie. Ich bin nie fertig geworden und ich werde nicht fertig werden. Fertig sein wollte ich nie. Unfertig ist alles, was ich da veranstalte. Der Provisorien sind viele. Die Latte liegt so hoch, dass Anforderungen als Überforderungen enden. Ich kann nur scheitern. Das tue ich. Aber es ist nicht kläglich oder gar schmählich und vor allem nie erbärmlich. Meist, ich gestehe es gerne, bin ich positiv überrascht. Mir geht es dabei, sofern es einem gut gehen kann, gut. Das Verlangen nach richtigem Leben im falschen ist unbändig. Aber geht es mir wirklich gut? Es mag mir nicht besonders schlecht gehen, aber wie soll es einem im Kapitalismus gut gehen? Jede pauschale Bejahung dieser Frage ist mit Blindheit geschlagen. Reine Selbstbeteuerung, die die eigene Lage weder zur Kenntnis nehmen noch zur Kenntnis bringen will. Verdrängung pur. Die geflügelte Frage an sich ist wie die abgenötigte Antwort barbarischer Natur, geeignet bloß für den Small Talk. Den Leuten geht es nur gut, weil sie davon ausgehen, dass es ihnen gut zu gehen hat. So beantworten sie auch die notorische Kontrollfrage „Wie geht es dir?“ auf obligate Weise. Beiläufig wie ihre Antwort ist auch ihr Leben. Meine Liebste pflegt auf diese Frage meist folgende Gegenfrage zu stellen: „Wie viel Zeit hast du?“ Ich habe es mir manchmal gut gehen lassen, aber hätte es diese ständigen Vorgaben nicht gegeben, wären meine Möglichkeiten um vieles größer gewesen. Oft träume ich von meinen Varianzen. Ich wäre glücklicher gewesen und ich bin doch so gerne glücklich. So war auch mein Leben verstellt und ich musste mir die unverdorbenen Stücke mühsam rausreißen. Und dabei ist es mir noch besser gegangen als den meisten anderen Insassen des Systems. Es ist zum Kotzen. Das gute Leben ist jenseits davon. Manches ist gut gegangen, aber das meiste hat nur schlecht oder gerade mal so recht gehen können. Die bürgerliche Herrschaft hat mir so viel an Lebensentfaltung gestohlen, dass ich keine Sekunde einen versöhnlichen Gedanken daran verlieren will.

V. Begabung hatte ich nie. Nichts war da vorhanden, vorgezeichnet oder vorgegeben. Dass meine Mittelschulaufsätze inzwischen vernichtet wurden, ist gut. Keinen Kon-

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junktiv beherrschte ich mit zehn, ja nicht einmal mit zwanzig. Der stilistische Durchfall war allgegenwärtig. Mein Talent sucht man vergebens. Ich lag in einer leeren Wiege. Keine bildungsbürgerliche Beflissenheit beflügelte und befleckte mich. Nichts, aber gar nichts war dem Nachfahren von Analphabeten und Dienstmägden, Kleinhäuslern und Lohnsklaven da vorbestimmt. Die Jugend am Land war jenseits jeder literarischen Begleitung oder gar Anleitung. Fleiß ist es ebenfalls nicht gewesen und Training schon gar nicht. Ich trainiere nicht und Handwerker gibt es bessere. Aber es musste einfach sein, weil ich es wusste und wollte. Alles, was sich durch mich ausdrückt (bin ich das wirklich?), habe ich mir genommen und zugemutet. Mir blieb gar nichts anderes übrig. In die Fabrik wollte ich nicht. Woher kommt es, dass ich mich so aufführe? Lust ist es allemal. Neben analytischer Schärfe und sprachlicher Präzision geht es mir stets auch um Trauer und Freude, um Wärme und Sehnsucht. Mein Schriftgut beherbergt eine melancholische Note. Glatt sollte das nie wirken, und das Kalkül ist mir anders als die Pointe sowieso fremd. Die Sprache sollte immer sinnlich gehalten werden, affektiv wie effektiv. Es gilt die Stereotype und Floskeln, die Phrasen und Vokabeln zum Gegenstand der Kritik zu machen. Sprache ist nur zu gebrauchen, wenn man ihr Brauchtum bricht, in concreto: das Vokabular des Werts entwertet. Das sehe ich als meine Aufgabe. Es gibt Vorgaben, die bedeuten mir nichts. Leistung ist einer dieser normierten kommerziellen Leitbegriffe, an deren Lefzen wir zu hängen haben. Diese sind allerdings Zapfsäulen des Unsinns. Ich werde mich diesen Maßstäben nicht unterwerfen. Die Kriterien der Leistung sind Konkurrenz und Verwertung. Ich will nichts leisten. Und arbeiten schon gar nicht. Natürlich sollte einiges gelingen: Liebschaften und Freundschaften und Werke, die vielleicht Bestand haben, Schriften, die nicht reizlos sind, sondern ansprechend und anregend. Aber fällt das unter Leistung? Meine Schöpfungen sind in ihrer Substanz Kinder der produktiven Muße und der langen Weile. Da war immer viel Alltag und regelmäßig musste ich auch was verdienen, ob ich, der Journalist wider Willen, wollte oder nicht. So erstickte Essenz in Konvention, verunglückte das Exquisite im Trott. Was zu kurz kommt, ja regelrecht untergeht, ist die Pflege von Freundschaften, der sozialen, primär zweckfreien, aber nicht zwecklosen Kontakte, die das Leben bereichern, gerade weil sie nicht gewerbsmäßig sind. Monographien waren bisher nicht kreierbar. Derlei musste bereits an den äußeren Bedingungen scheitern. Zwischendurch geht so etwas nicht. Zwischendurch geht wenig. Zwischendurch herrscht der Zwischenfall, der mein Fall nun gar nicht ist. Nicht, dass es nicht möglich gewesen wäre, was runterzuschreiben, aber das bin ich nicht, das will ich nicht, und vielleicht bin ich auch psychisch dazu nicht imstande. Lohnschreiberei, Haushalt, Familie ließen nicht zu, längere Texte in der Qualität etwa

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meiner Veröffentlichungen in den Streifzügen zu verfassen. Der unbedrängten Zeit ist nicht genug. Und geschludert wird nicht. Meine besseren Beiträge haben in aller Ruhe zu gedeihen. Sie sollen abliegen, wachsen und reifen, bevor sie publiziert werden. Die Langsamkeit soll man ihnen anmerken. Das ist nicht immer möglich, vor allem der journalistische Rhythmus desavouiert dieses Anliegen. Selbstverständlich vermag ich Abgabetermine zu halten, zeichengenau. Aber viel besser stilisiere ich ohne Terminisierung. Die Frist in ihrer Notwendigkeit ist keine Potenz der Qualität. Groß ist daher die Sehnsucht nach Langeweile. Fad soll mir sein, einfach nur fad. Die lange Weile wäre geradezu prädestiniert für mich. Nur kein Kurzweiler sein! Mein Leben ist so auch die Suche nach den längeren Weilen. Das Kontinuum als Dauern und nicht als Fristen zu erleben, das ist es! Denke ich. Schreiben, das ist für mich die Entdeckung und Entwicklung einer möglichen Sprachsamkeit. Sprachsamkeit ist Achtsamkeit. Es geht um Güte und Lust der Formulation. Das hat irgendwann begonnen und wird nicht aufhören, solange ich bei Sinnen bin. Gedanken und Gefühle artikulierbar zu gestalten, sie in Sätze und Absätze zu gießen, in Aufsätze und Kapitel zu pressen, in Fragmente und Bücher zu stecken. Aber niemand sage, ich sei „sprachgewaltig“. Das bin ich nicht und das will ich auch nicht sein. Güte lässt sich nicht in Gewaltigkeit messen. Meine Sorge gilt der Sensibilisierung, nicht der Überwältigung. Aus meinen Zeilen rinne ich. Und es wird noch tropfen, wenn ich schon nicht mehr bin.

VI. Schreiben, kann ich das überhaupt? Ich denke nein. Und doch ist das furchtbar kokett, schaue ich mir die Ergebnisse an. Da ist Vitalität, zweifellos. Aber ich schreibe nicht leicht, es geht nicht flüssig von der Hand, sondern es entwickelt sich ganz anders, eruptiv und abrupt, zufällig und plötzlich. Ich arbeite nicht, ich schöpfe. Und erschöpfe. Ich liege meinen Schriften zu Füßen. Sie schaffen mich, nicht ich sie. Ich bin Medium, nicht Meister. Meister bin ich sicher keiner, vielleicht ein Kenner und vielleicht auch noch ein Könner. Aber Meister, nein! Ansonsten hält mich mein Niveau. Meine Schriften sind klüger als ich. Ich wundere mich oft beim Lesen, weiß zwar, dass nur ich das gewesen sein kann, will aber nicht behaupten, dass ich das bin. Die jeweilige Erkenntnis manifestiert sich nur spontan, sie tupft mich zwar an, aber sie saugt sich nicht merkbar fest. Was in mich drängt, kann nicht immer aus mir dringen. Ein Ringen ist es und ein Wringen, Konzentrat äußerster Anstrengung, und es gilt jeden Moment zu nutzen, auf dass der Augenblick

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der Erleuchtung nicht verfliegt. Furchtbar, wenn mir etwas einfällt und kein Notizbuch in meiner Nähe ist. Was geschrieben wurde, drängt sich zwar auf, es liegt (für mich) in der Luft, offenbart sich – aber so, wie es gesagt wird, kann es bloß von mir gesagt werden. Es ist ein enthemmtes, aber doch kein hemmungsloses Staunen und Wähnen, das da prosperiert. Ein unermüdlicher Versuch ständiger Befreiung des Lebens durch Sprache und Denken. Wenn ich schreibe, komme ich nicht nur zu mir, sondern ich gerate aus mir, weit über mich hinaus. Wenn ich denke, denkt sich das Gedachte über mich hinweg. Es benutzt mich, und ich bin bereit es zu fassen, wenn ich es fassen kann. Denn nicht alles, was mich ergreift, begreife ich auch, zumindest nicht sofort und nicht auf Dauer. Es ist ein tangentiales Berühren, das auf ein Bemühen meinerseits trifft, wenn sie sich denn treffen. Der Gedanke kann einen jederzeit und allerorts überfallen, und jederzeit und allerorts hat man parat zu sein, ihn zu fassen. Meistens bleibt er nur Momente hängen, und da muss man Stift und Papier haben, um ihn festzuhalten, damit er ja nicht enteilt. Auch im Schlaf kann ein Satz einen wecken und zu seiner Niederkunft zwingen. I’m ready. Denken, wie ich es verstehe, ist Denken wider die eigene Synthetisierung. Oft beschleicht mich das Gefühl, dass ich nicht immer Kenntnis von meinen Erkenntnissen habe. Ich fürchte, dass ich ihnen hinterherhinke. Ich schöpfe, aber ob aus mir oder aus der Welt, wer kann das wissen und wer vermag das zu scheiden. Ich kreiere, aber ich verfüge nicht und ich besitze nicht. Ich bin nicht auf meiner Höhe. Mit mir auf Augenhöhe zu sein scheint mir unmöglich. Und während ich noch diesen Gedanken niederschreibe, erfüllt mich diese Arroganz doch mit Antipathie. Aber nur andererseits. Denn keine Sekunde kann ich jene wirklich verneinen. Ich bin das schon. Ich mag nicht bloß meine Texte, ich liebe mich, und ich liebe es, mich zu lieben. Usw., usf.

VII. So weiß ich auch nie, was wird. Häufig bin ich entzückt. Gelegentlich freue ich mich über neue Sprachsequenzen, um später draufzukommen, dass ich nichts anderes tat, als alte zu plagiieren. Egal was ich schrieb, es blieb Plagiat. Mein Plagiat! Konzepte im eigentlichen Sinne hatte ich nie. Aufbau und Gliederung, Form und Inhalt, alles entscheidet sich im Schreibprozess. Erst am Ende kann ich sagen, was ich vorgehabt habe. Es denkt mich, es schreibt mich, und ich sitze nicht selten überrascht vor den Niederkünften. Nicht, dass ich mich darin nicht wiederfinde, aber eigentlich sind sie

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mir zu groß. Ich will mir diese Stiefel nicht anziehen, ich passe da nicht hinein. So flüchte ich allzu oft von einem verlegenen Ich in den Pluralis Majestatis. Der ist mehr Unsicherheit als Angeberei. Denn das kann doch nicht ich sein, das sind sicher wir, ich bin da nicht alleine, so einsam ich auch sein mag. Im imaginären Kollektiv fühle ich mich gut aufgehoben (und nichts macht mich unbescheidener, als wenn ich eine wirksame Gruppe um mich herum spüre). Es deckt mich und ich kann sie ausspielen: die Eminenz, die in den Ergebnissen liegt, die liegt nicht in mir, sie liegt in uns. Da fühle ich mich gerettet. Ich liebe das und stehle mich gerne fort. Nicht ich schreibe, es schreibt sich. Gleich Hegel empfinde ich mich dann als Knecht des Weltgeists, bin lediglich des Werkes Werkzeug, ein Instrument, das das Material sichtet und ordnet, findet und erfindet, streicht und streichelt, kombiniert und komponiert. Es wäre verwegen, mich mit dem Resultat zu vergleichen, aber ich nehme diese Anmaßung auch gleich wieder in mein Geheimnis zurück. Sorge macht der öffentliche Auftritt. So gelingt es mir einerseits nicht, mich auf meinem Niveau zu entfalten, andererseits aber auch nicht – was in der freien Rede stets wichtig ist –, mich blöder zu stellen, als ich bin. Manche, die sich nicht dümmer stellen müssen, haben es da leichter. Für mich macht das die Sache doppelt schwierig, aber es bestärkt eine Unlust, die ich weder haben noch kultivieren will. Ich bin schreibhaft, aber sprachlos geworden. So kommt es des Öfteren vor, dass ich beim Sprechen über das nachdenke, was ich gerade sage. Das ist furchtbar, denn in solchen Momenten beginne ich zu stolpern, zu stottern, zu stammeln. Ich verhasple mich. Drohe dann einzugehen, zu verstummen. Manchmal rede ich wirres Zeug, werde gar zum syntaktischen Armutschkerl. Was beim Schreiben kein Problem darstellt – im Gegenteil, es beflügelt mich immens, ganz langsam zu kommen, um dabei aus mir zu geraten –, führt beim Sprechen unregelmäßig ins Fiasko. Während im Schreiben so Sicherheit gewonnen wird, muss sie beim Sprechen a priori da sein. Wie aber kann eins heute noch sicher sein? Würde ich so reden, wie ich schreibe, es gliche dem Gestammel eines Irren. Beim Reden sinke ich bisweilen in mich ein, anstatt dass es aus mir herauskommt. Es ist eine Form, wo das unmittelbar Gesagte gilt, nicht die sorgfältige Korrektur erst das Ergebnis zeitigt, sondern bereits der sprachliche Augenblick. Das verunsichert, schließlich veröffentliche ich ja auch nicht meine ersten Würfe. Während mich das Schreiben größer macht, als ich bin, verkleinert mich das Reden. Die Unsicherheit des Formulierens ist dem Schriftstück, wenn es denn gelungen ist, kaum mehr entnehmbar. Das Werden verschwindet vollends im Resultat, während dem Sprechen die Unsicherheit direkt anzuhören ist. Das Schreiben und das Geschriebene sind nicht eins, das Sprechen und das Gesprochene schon.

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VIII. Man hat mich geschnitten und gemieden, ausgestoßen, verachtet und verboten, bei diversen Forschungsvorhaben nicht berücksichtigt, vertröstet oder mir einfach den Geldhahn zugedreht. Diskret oder derb, auf jeden Fall effektiv. Der Friedhof solcher Projekte ist zwar überschaubar, aber er wäre größer, hätte ich mich aus diesem Förderdschungel nicht längst verabschiedet. Heimisch war ich dort sowieso nie, höchstens heimlich. Der Demütigung öffentlicher Vergaben und ihren zur Immanenz verpflichtenden Implikationen will ich mich nicht unbedingt aussetzen. Ansuchen haben was Ekelhaftes, man wird zur Nutte einer Kultur- oder Wissenschaftsbürokratie und verliert gerade durch diese Art der Attraktivierung jede Attraktivität. Allein mich von bekannten oder unbekannten Exponenten evaluieren zu lassen, ist absolut störend. Da mögen zwar einige von mir halten, was ich von ihnen halte, indes sie haben anders als ich keinen Grund dazu, sondern nur einen Vorwand. Die Struktur mag diese Subjekte begründen und legitimieren, aber das entlässt sie aus keiner Verantwortung. Derzeit läuft zwecks möglicher Reduzierung meiner Sozialversicherungsbeiträge eine Begutachtung, ob ich denn als kreativer Schreiber durchgehen kann. Bin schon gespannt, wie das KreationsbeurteilungsadministratorInnengremium urteilt. Keine bürgerliche Gemeinheit, deren Opfer ich nicht habe sein sollen. Und es sage niemand, ich sei wehleidig, das ist nur ein Vorwurf von jenen, die sich und anderen jedes Spüren verbieten wollen. Ich klage nicht nur, ich klage an! Insofern sind alle meine Beiträge Klageschriften, die ich da zur Kenntnis bringe, auf dass sie Erkenntnisse fördern. Auf dass es gesagt ist, schreibe ich es. Ganz einfach. Man hat mich nie aufkommen lassen, aber man hat mich auch nie abdrehen können. Noch schreibe ich. Nachlässigkeit und Flüchtigkeit haben sich in diesem Schreiben in Grenzen zu halten. Das Gesagte soll Aussage sein und nicht bloß Gerede über dieses und jenes. Es gilt Kontexte herzustellen, nicht bloß Texte zu verfassen. Der Anspruch zielt auf These, Begriff und vor allem auch auf sinnliche Übereinkunft. Es ist mehr als Erzählung, mehr als Bericht, mehr als Beobachtung. Es ist multiple Reflexion, deren Resultate inhaltlich wie sprachlich höchsten Ansprüchen genügen wollen. Sequenzen und Konsequenzen sollen begriffen werden. Verständlich hat es auch zu sein, lustvoll und kulinarisch noch dazu. Es soll Freude machen und Freundschaft stiften. Die Dichte soll hoch sein, und doch soll eins in ihr nicht ersticken, sondern sie genießen, auch wenn der Genuss Anspannung erfordert. Was ich beitragen kann, das will ich beitragen, was ich schöpfen kann, das soll man ruhig abschöpfen. Es ist für euch. Dass ich mich als Verkäufer verdingen und

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auch euch als Käufer in Kauf (schon wieder diese infektiösen Unwörter der Barbarei, die sich in meine Sprache schleichen und sie zum obligaten Abfall degradieren möchten) nehmen muss, ist beschämend und beängstigend genug. Es ist eine Schande und das sagt der, dessen Name sagt, dass er Schande macht. Ja, ich will! Zu dem bin ich auf der Welt, diesem System Schande zu machen, unentwegt, Schande bis zum letzten Atemzug. So wahr ich Franz Schandl heiße. Mein äußerst banaler Name ist Botschaft. Das werde ich zwar nicht durchhalten und auch nicht aushalten, aber halten möchte ich es so. Trotz all der kompromittierenden Kompromisse ist mir der Weg des Renegaten erspart geblieben. Dafür danke ich auch allen, die das mental und strukturell ermöglichten. Es ist nämlich auch eine Position des äußersten Luxus, eines Luxus, den ich mir eigentlich nicht leisten kann, ohne den ich aber verloren bin. Ich gehöre also zu jenen, die sich nicht mit der Herrschaft gemeinmachen wollen, sondern Herrschaft und Unterdrückung abschaffen möchten. In diesem kindlichen Eifer manifestiert sich meine Ernsthaftigkeit. Mit Verve. Daran werde ich voraussichtlich scheitern, doch die, die sich gemeinmachen, die sind bereits gescheitert. Oder besser noch: sie schaffen es nicht einmal, scheitern zu dürfen. Ich verstecke mich nicht. Die Sachen sind auffindbar und bestellbar. Zugänge sind auch ohne Mentoren und Wegweiser gegeben. Wenn eins will, gibt es viel zu entdecken. Natürlich kann man auf den Bahnhofskiosken die aktuellen Bestseller kaufen, man kann ja auch die obligaten Magazine und Sendungen konsumieren. Aber muss man? Der Zwang mag mächtig sein, allmächtig ist er nicht. Und er beginnt zu bröckeln, sobald das Subjekt sich individuiert und Nein sagt. Dieses Nein verlange ich nicht nur von mir. Mein negatives Denken korrespondiert mit meinem positiven Wollen. Das ist kein Widerspruch, sondern eine Entsprechung. Das größte Vermögen besteht darin, andere zu mögen und von ihnen gemocht zu werden. Mein Vermögen soll jedenfalls Präsent sein. Und auch mir soll es an nichts fehlen. Mehr verlange ich nicht.

anfang:vertan manchmal träumen wir unseren anfang und erinnern uns beim erwachen nicht. die fehler passierten dazwischen Erika Kronabitter

Ivan Illich and the Vernacular Christophe Kotanyi

T HE C OMMONS Near the end of his life, Ivan Illich developed his concept of language. We might consider this the third phase in his thought, and, indeed, the deepest. It summarizes and continues the previous two phases, ultimately bringing them to completion. The first of these was the critical phase, the second that of in-depth historical investigation: “Break the spell by revealing how it was cast” as he had memorably stated. His criticism was aimed mainly at those key modern institutions, including the cults of technology and science, which produce a new kind of fatalism, namely that of having grown dependent to the point of forgetting how to live without them. In a world grown increasingly self-critical, the first phase lent him worldwide renown on account of its broad resonance, most prominently stemming from the Left in the wake of Marx’ criticism of capitalism and of bourgeois society, but perhaps also resulting from a backlash following the orgy of an excessive exaltation of technical and social progress. Illich was not a Marxist, and he will be snubbed by that part of the Left which continues to cling to a Marxist orthodoxy fallen into obsolescence, especially in the wake of the events of May 1968. This notwithstanding, his efforts at a demystification of the marvels of technological progress will be welcome in a world ever more worried about the excesses of a compulsive and brutal industrialization, especially as a result of the two world wars. The second phase, however, would prove to reshape the world the most. Innovations ranging from bike lanes and car sharing (“when I walk, I discover that I have legs!”) to “creative commons” (“silence is a commons”) and the revolution of selfsufficient farming in the midst of cities were all nurtured by his thinking, indicating

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a route for recovery for a world helplessly accelerating towards final disaster. This second phase developed the notion of the “commons” as a central concept. Naturally, this is reminiscent of a key chapter in Marx’s Capital, Chapter 24, which discusses the “enclosure of the commons” as the first, decisive phase of the capitalist offensive in the 17th century. The “commons” (German Allmende) were once the pastures open to all free of charge throughout Europe, particularly to the poor peasantry without land of their own. (Illich 2005f, 749) Marx describes the expropriation of the commons through fences (one of the origins of barbed wire and of its many tragic uses) as serving as the initial form of the “privatization” of land worldwide, but does not develop a theory of the commons aiming at its restoration, opting instead for a theory of collective property as opposed to private property, neglecting thereby the “excluded third”, the commons which fall outside this dualistic logic. The commons is the land belonging to nobody and to all. It is also the air which we breathe, the blue sky and white clouds in the sky, the Sun and the stars. It is the earth upon which we tread and which, in turn, holds us: in short, all that is vital and cannot be owned. These go together. That which is vital, life itself, should never be reduced to a property. Indeed, as would be articulated by the Hungarian philosopher Lajos Szabó, Illich’s senior by one generation, a Marxist in his youth who later converged with Illich’s views, “all property will be lost”. (Szabó 1999a) The industrial world, on the other hand, reigns through the production of “fetish” merchandise (Marx), which can be freely owned but is alien to life: through the production of goods satisfying “needs which were never desires”, as would be voiced by Situationist thinkers on the eve of May 1968. (Kotanyi 1962) The commons is all that escapes the dualistic logic ruling the bourgeois concept of economy, of private versus public property. This dualistic logic is the opposition of the intra muros versus the extra muros ruling our modern cities, that is the streets “there for everyone” versus the “private apartment”. The French word appartement indeed derives from à part, meaning precisely this separation from the public sphere. Moreover, “private” comes from “deprivation”, as some writers have pertinently identified. (Ortlieb 1998, 41) Deprivation of what precisely? Well, deprivation precisely of life in the community, and of the community, and of the commons. Moreover, bourgeois, after all, stems from French bourg, the medieval ancestor of our modern cities, and is synonymous with “citizen”, meaning the city dweller, urbanized humanity: all of us, or at least the rapidly increasing majority.

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L ANGUAGE The commons is also language. You may say “my language”, but this is of course a misnomer; fluent as you might be in English, indeed to your heart’s content, you still cannot own it. Furthermore, the bourgeois revolution in the 17th century sets about transforming language into “public property” by means of a monumental effort. We should speak here of an “enclosure of the commons” far more fundamental and powerful than the enclosure of territory denounced by Marx. Moreover, we should understand this as the first step toward the latter, as its indispensable precondition. This begins with the invention of “grammar”, of fixed and rigid regulations ruling language, a language which everyone had been speaking the entire time without effort or any need for regulations. As Molière might have put it, “they were following their grammar all the time without knowing it”. Then came the lexicons and the dictionaries, culminating in the Larousse de la langue française, fixing once and for all the vocabulary, the words permissible, or, indeed, tolerated by the “official”, “correct” French language. Language of course constantly changes, and so do the words, coming and going. The Larousse is very much aware of this, seeking to follow this evolution, and to adapt accordingly, at least to some extent. The Académie Française is there at every step of the way to approve the “official”, “standard” language, the norm, the template similar to the mètre étalon kept at Sèvres and shielded from external influence. The world may change, but the norm remains the same. Within “In the Vineyard of the Text”, one of Ivan Illich’s late books, the author dwells on this subject, already addressed by him in “A Plea for Lay Literacy”, which we might view as serving as his turn toward the vernacular. Our so-called mother tongue, Illich states, has nothing to do with any true mother tongue. This expression, which is supposed to mean the language our mothers taught us, possesses, in fact, a very different origin. Originally, it denoted the “official” language “authorized” or “canonized” by the Church of Rome, the Mother of us all.

M OTHER TONGUE Illich links the introduction of this language to the invention of the text around the 12th century; for me, this is one of the most extraordinary and most far-reaching discoveries of this great scholar. The invention begins with the insertion of spaces between written words. (Illich 2005g, 659) Paul Saenger would subsequently devote an entire volume to a detailed study of this historical phenomenon of the most wide-

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reaching importance.(Saenger 1997, Ong 1982, Kittler 2005) What might seem at first sight to be a rather small step would come to yield truly dramatic consequences. We might deem it the first step toward the birth of our technical, scientific, and capitalist society, triggering a fatal evolution, the dimensions of which we may still be very far from having completely realized. The insertion of spaces between words (Latin spatium) would have as its first consequence the progressive but irresistible liquidation of what Illich calls the vernacular – of the language spoken by everyone, neither normalized nor normalizable, just like air, which cannot be sold in tin cans (or rather, it can, but is hardly real air, lacking the fragrance of green grass or the perfume of autumn leaves. Some might say that the Sun’s fire can be put into cans: is that, after all, not what our nuclear plants do? Perhaps, but these kinds of canned goods, as we know, have the unfortunate habit of sometimes behaving like their elder sisters, the atomic bombs. The Sun’s fire does not have this habit. The Sun does not explode; its fire must therefore be something quite different from that of nuclear plants and hydrogen bombs, in spite of what current physics maintains. Who knows, we may even come some day to realize that there is not really such a close relationship between the two. But that is another story). Writing was accomplished earlier in what was called “continuous script”, scripta continua. The words were not separated by spaces1 , people read aloud, and there was no problem in comprehension2 . According to Illich and Saenger, spaces between words were first introduced around the 8th century in a remote monastery somewhere in Ireland or in Scotland, perhaps as a means by which to render learning to read easier for novices hailing from the peasantry. Thereafter, the spaces were introduced once more in the 12th century within a much better-known monastery and apparently to quite a different end, that is, in connection to the practice of prayer as a form of silent meditation (among other things). Until then, silent reading was practically unknown, and all but impossible because reading aloud was necessary to decipher “continuous script”. It might even be imagined that silent reading was considered improper, as a “devilish”, secret, or “private” practice, a wicked form of isolation from common life, from the community, and from the communion of the saints, much in the manner in which the archangel Lucifer isolated himself from the others, positioning himself above them. On the other

1 | Beyond ancient Roman monuments, scripta continua may still be witnessed up to the Middle Ages. 2 | When we speak, we do not separate the words, something which we may realize when hearing people speaking a language unknown to us.

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hand, as we will see later, the living word is a communion, a con-spiratio, a breathing together. Apparently silent reading was introduced officially, as we might say, in the monastery of Saint-Victor in France, as a form of meditative practice (Illich 2005g), and also, I would imagine, in connection to the rule of monastic silence. This required the separation of the words in the Holy Script. The word “text” comes from Latin textura, meaning the woven fabric, the texture, because the Holy Script is a perfect whole, a perfectly woven “text”, of which “thou shalt not change an iota”, nor a comma, nor a dot. Hence, the text, as practiced by the medieval copyists, is written in a perfect column, similarly to a woven tapestry, later used in the new art of printing beginning in the 15th century (a Chinese invention, as we know)3 . Moreover, the Holy Text will fall apart if you change an iota, the same way that a well-woven fabric will fall apart if you remove just one thread. We might even surmise that the very idea of printing would have been inconceivable in Europe without the separation of words within the written text. With their separation, the words turn into ideograms, into concepts4 : from the living flesh, that of the reader reading it aloud, the word transforms into dead matter, that of the paper upon which it is now printed. Caro materia facta est – and the flesh was made matter! From that to modern materialism is but a small step. Our entire technical revolution, on the other hand, can be traced to the first revolutionary step of printing. It enabled the spread of knowledge, putting this now at the disposal of everybody. This was the birth of modern science5 . Furthermore, it would come to enable the Reformation through the translation of the Bible, until then the exclusive preserve of the Latin-reading clergy; this, in turn, would bring forth a standard language, the language to be spoken by all, a derivative vernacular, the precursor of the modern “mother tongue”. This, moreover, would favor, if we are to believe Max Weber (1930), the birth of capitalism and the emergence of bourgeois society, including the compulsive urbanization of our globe under the merciless pressure of triumphant industrialization.

3 | See Gutenberg, 2000. 4 | Illich 2005g, 669: one goes from “recording speech to recording thoughts”. 5 | See also Eric J. Havelock for the shift “from the oral and aural to the visual” as the origin of science (Prologue to Greek Literacy, 1971).

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T HE V ERNACULAR I will not recount here the entire history leading to the success of the mother tongue: it has been documented with a great wealth of details by Ivan Illich. I would rather turn now to the more recent history of the rediscovery of the commons, not least thanks to Illich’s work. In 1973, a handful of artists, possibly inspired by May 1968, turned a tiny vacant lot in the Lower Manhattan into the first community garden in history in the spirit of a return to the commons in the industrial era. The garden was later christened the Liz Christy Garden after the leader of the project. “Tools for Conviviality”, Illich’s second major book of a series of twelve, appeared at about the same time, and was to make him known worldwide. In this book, Illich launches the idea of the “commons”, of which the Liz Christy Garden would be the first actual realization, even in the very midst of capitalism’s triumph. This garden and book respectively might together be seen as the first acts of a counter-offensive on the part of the vernacular. As I have already mentioned, Illich continued to pursue critical analyses of those key institutions shaping our world, deepening these through historical analyses as community gardens spread across the globe. The vernacular, writes Illich, derives from the Latin term designating the realm of domestic life, the life of those living together, the space of the domus, the typical Roman house complete with its animals, cattle, poultry, handcrafts, and servants 6 . By means of restriction, it came to denote merely the language spoken within this community, a language distinct from literary and, above all, political and military language7 . The Hungarian philosopher Lajos Szabó whom I quoted earlier undertook an indepth study of the concept of the vernacular, starting 1946. The vernacular, he concluded, provides the background, natural environment, and overall context enabling the creation of specialized languages, those not only of the sciences, but also that of the misnomer which we term our mother tongue. Illich insists that the latter assumed its current meaning in the course of secularization, when it came to denote public, standardized language which parents were now charged with teaching to their children. With the introduction of compulsory schooling, this task would later be transferred to

6 | According to Illich (2005e, 151), the term is related to the concept of “root”. 7 | To be more accurate, the Roman scholar Varro calls “vernacular” the language spoken “at home”, in distinction to that coming from “outside” (Illich 2005d, 831).

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schoolteachers. The “mother tongue” would thereafter no longer precisely comprise the language actually spoken by a mother with her children. Szabó goes further, attributing the crises of the modern spirit beginning to appear at the end of the 19th century, and then the economical and other crises that would ensue (the “permanent state of emergency”, as the Italian philosopher Giorgio Agamben would put it), to the repression of the vernacular by this new “mother tongue”, a language distinct from natural language, being rather a construct, an artifact pretending to be natural language, though narrow and alien to life. The great “crime against humanity” committed by the modern era, whether secularized or not, a crime which Nietzsche would denounce, is a result, in the latter analysis, of this crime against language. Eugen Rosenstock-Huessy renders an illustration of the difference between this artificial language and our natural, healthy language, the original, genuine “language of human speech”: Natural language knows only four possessive forms of the verb, and, what is more important, it associates them with specific tenses of the verb, contrary to formal language which combines words as neutral elements according to some rather arbitrary rules, a language which has transformed into an “algorithm”, into a mere logistic (in relation to the introduction of the zero in mathematics, as we will see later). Natural language says “I am – be! – we will be – they were”, because the first person stands for presence, the second person for my will, the first person plural expresses the future, the community, where we all aspire to, and the third person plural expresses the past, the world of alienation, of neutrality, of impersonality, which we want to quit or leave behind us (“Die Sprache des Menschengeschlechts”, 1963/64). The other two forms do not correspond perhaps to tenses, but rather to modes of the verb: “it isn’t” and “you could be”, because the third person, Freud’s and Buber’s “it”, does not speak, it is the negation of language, and the second person plural is the conditional, the possibility of community, of unity. This crime – this repression of the vernacular, spoken language by the written text through the introduction of spaces between the words and of silent reading (resulting in the production of a fixed sense of the “I” and in the birth of the modern individual proper, of bourgeois and capitalistic society) would be called by Illich the “corruption of the best to the worst”, corruptio optimi quae pessima8 . Alluded to here is the church of medieval Christian spirituality, which initiated the process. This criticism by the then-Monsignor Illich, Vice-Rector of the Catholic University of Puerto Rico and a personal friend of the Pope, was not looked upon as a

8 | Illich 2005c: “The corruption of the best engenders the worst”.

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trifle. Illich was relieved of his sacerdotal duties and divested of his privileges, but his obvious intellectual and personal integrity and honesty saved him from excommunication. Envisaging him as perhaps being perhaps canonized one day does not require all that much imagination. Nevertheless, this is, again, another story. Illich did not hesitate to sharpen the point of his criticism: The Church, born in the name of the evangelical principle of universal love, of the unity of eros-philos-agape, of attraction, friendship, and love, ends up turning this principle into an institution, and thus liquidating it. This crime against love, against humanity, against the world, against life, was perpetrated by the very institution in charge of the protection of the principle, of its propagation and care. This is the greatest crime, the father of all crimes: The corruption of the best to the worst.

C OMMUNITY

AND

S OCIETY

Being no sociologist, I will not discuss Ferdinand Tönnies’ classical work on the differences and similarities between society and community (Tönnies 1887). I will rather keep to my subject, proposing to see the vernacular as the language of the community, and the “mother tongue” as that of society. Like the “mother tongue”, society is also actually of quite recent invention; society, I would suggest, is a product of the “mother tongue”, and not the other way around. After all, what else is society but a formal, abstract relationship between people alien to one another, tied to one another not by the given word, but rather by what we call the law, by contract, by the contrat social invented by the Enlightenment thinkers? Building society requires, in the first place, the creation of the individual, and the individual is produced by the “mother tongue”. The individual “owns” his mother tongue, he took possession of it in the course of his education, he owns it in the way in which he owns his graduate degree. The individual knows that “my life is my property” as “my life” is now a text, a biography, a curriculum vitae, a fixed identity, a “legal” identity which can be materialized in the shape of fingerprints and an identity card, even though I myself change all the time. Illich, as we saw earlier, traces the creation of this concept of the individual to the creation of the written text as an object existing independently of someone reading it or not. As Illich puts it, the text transforms the word, originally a purely aural experience, into a primarily visual one. Now, the text can be examined critically, hence the specifically modern critical spirit. Silent reading still comes with an inner, “unconscious” vocalization, as Walter Ong notes, and we might also envisage deriving the generation of the Freudian, typically modern

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“unconscious” from this. That, in turn, would indicate a close connection between critical thinking and the “unconscious”, which again would deserve special attention. Saenger quotes the future Pope Sylvester II (10th century) praising the advantages of the introduction of the zero and of the Arabic digits – that is, of our modern, so-called positional numeral system – as a new device allowing the comprehension of numbers “at a glance” and so their free manipulation, which is much more difficult when employing the Roman system. The introduction of this extraordinary mathematical invention is, of course, closely linked to the introduction of spaces between words, historically and conceptually alike. As the separation of words also allows us to grasp the text “at a glance”, something of which reading aloud is never capable because it occurs in time, akin to music, and not in space. Words turn into ideograms, into autonomous visual signs, and into individual entities independent from one another9 . The living word is primarily a sound, and its meaning comes from the “context”, from the flow of speech, akin to the notes in a musical melody. From the word conceived of as an ideogram to the adoption of printing from the Chinese is again but a small step. Society is a collection of individuals separated by empty spaces, exactly like the words in text. The individual isolates themself within their “private” life. “Private” means precisely this separation: I am I and you are you. Community, on the other hand, is mutual interpenetration – (yes, in a very erotic sense) again in the sense of the mutual interpenetration of the spoken word. Your speech and my speech are never distinct; unlike “dead” rigid bodies and the written word, sounds mix . Speaking means speaking to one another, whereas the text is there for anybody and nobody. Naturally, this is hardly in the sense of the commons, which belongs to “everybody and nobody”. The text has an author who “owns” it, whereas there is no copyright on a conversation between friends. The text is impersonal, whereas speech is personal. Illich’s personality had this quality of an intense presence; his was an intense attention, for which he will be forever remembered and missed. Yet, his writings often succeed in conveying at least

9 | Illich 2005g, 658: An ideogram is a sign denoting an idea or a concept. The transformation of words into ideograms thus also rests at the origin of the modern “concept”, of the modern “idea” (independent of who might think it), and so of philosophy and thought in the modern sense. Moreover, it is at the origin of medieval nominalism which reduces words to mere designations of the things and the ideas which they denote. The victory of nominalism over realism in the Middle Ages leads to the triumph of the modern sciences and positivism. Perhaps, more precisely: The spoken word is an expression of being, an ideogram a representation, and the written word an encoding respectively.

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some of this presence. As they are personal, their intimate, unique tone often achieves what a text is not really supposed to do, namely to be genuine and direct. His texts therefore are often difficult to classify: The philosopher does not want to call them philosophical, the sociologist does not want to call them sociological, and the historian of science does not want to call them scientific. His texts provoke both enthusiasm and reservation alike as, for Illich, community had priority, and society was just secondary. At the very least, let us hope that his memory will continue to bring us together.

S ILENT R EADING – C RITICAL R EADING A note to the reader: What do you do when you read this text, which has been written (of course) in silence, and hence composed for silent reading? Had it been spoken aloud, it would have possessed an entirely different character – it would have contained unfinished sentences, pauses, hesitations, digressions, repetitions, errors, and corrections, and, most prominently, music and expression. In the first place, what you do is to vocalize in silence, as we have noted earlier in quoting Walter Ong. When I write, I naturally do the same: I vocalize in silence without even noticing. Of course, I do it with my own voice, with my inner voice, whatever that may be, and you do the same with yours, which, needless to say, is different from mine. You vocalize differently from me, so to speak, employing a different mode of expression featuring your own music. Hence, what you read is not quite what I wrote. This naturally serves as the origin of critical reading. Moreover, even if critical reading is not quite the same as critical listening, they do possess something in common. Critical listening always has something of a hostile ring to it. Either we “lend an ear”, or we don’t. This is because speech goes directly to the soul, whereas reading passes through the mind. Reading is “mental”, and listening is “aural”. Reading, in a way, takes the round-trip of translating a written text into an aural experience. This round-trip provides for the delay enabling critical thinking. Furthermore, silent thinking is, of course, critical thinking; this accordingly constitutes the difference between a text and a talk. A talk is a “performance”, appealing to your ear, whereas a text appeals to your mind, to your critical judgment. This begins with the possibility of ceasing reading at any time. By contrast, you cannot stop listening to a discussion without missing something; you cannot return to that which you have missed, while you can return to the previous page as often as you might wish. To return to that which you have missed, you must interrupt the speaker

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(“what did you say again?...”), you must interact, or, at least, render a cue. Yet, we do not interact with the writer. Reading is strictly “one-way”. We are the judge, and the writer is a defendant unable to defend himself. Thinking in writing is therefore not the same as thinking in talking. Writing is solitary, whereas talking is conspirative. Illich, we might say, also practiced “thinking in talking”, this rendering his “discourse” so direct and genuine, and, indeed, refreshing. It is not we who think, as some have remarked before, among them Nietzsche and Heidegger, but rather it is language. At least, it “whispers”, as Béla Tábor has intoned. (Béla 2003) The question in its entirety is this: With whose voice does it whisper? When you read me, it is certain that it does not whisper to you with my own voice. You read me with your own voice, and this will inevitably introduce a difference, a distance, hence the critical impulse: “Why does he say that? Would I?” By means of contrast, when you listen to me, this “new voice” is somehow welcome, a new music, we might even insist; indeed, it might be considered as a kind of relief, giving a break to and from your own voice, from that inner voice which is sometimes so difficult to silence. Rewarding might be a study as to the relationship between silent reading and silent thinking: Might they be genetically related? Did the Romans, in fact, mistrust the zero, perhaps because of their esteem for rhetoric? This mistrust and esteem might, in fact, have been widespread through Antiquity. Claiming the late invention of something like the zero on the grounds that we have no earlier evidence of it may be just another fallacy within the discipline of the history of science. A spoken “discourse” is inspired; it follows associations, one word providing the cue to the next. Language whispers; the intonations come as a substitute, as an aid, as a support for the syntax. By means of contrast, the text is composed, ruthlessly manipulated. Writing is defensive. The text is always suspect. Thinking in talking is as different from thinking in writing as walking is from sitting, as Nietzsche might have said.

S HADOW W ORK Yet, calling Illich’s texts interdisciplinary would be an insult. This is because interdisciplinarity really means the interaction of disciplines which, in fact, still remain separate. We should rather say that, with Illich, the disciplines interpenetrate, lovingly, excepting those already too alienated to do so, such as modern mathematics and art. Mathematics alienates itself, isolates itself, in a magnificent conceit, as the most

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formal of languages, as the very model of a formal language. Mathematics, indeed, is the language of power, and Illich comments on this in his second text on “lay literacy”. The new digital culture, the mathematization of the mind taking place today, is a further step in this direction. (Illich 2005b, 917) We might object that this is also a democratization of the mind, precisely in the sense of digitalization and of the Internet as a “creative commons”. Nevertheless, it is also a restriction of the mind, now in the sense of a formalization, as noted by the theoretician of the text and electronic media Friedrich Kittler. (Kittler 1995) Saying that I write with my computer would again really constitute a misnomer because what I actually do is to activate electronic circuits. When I write on my computer, I do not manipulate words in the first place, rather I manipulate the electronics hidden in my machine. I do not simply generate writing; I also perform engineering work. When I use this tool, which, in fact, is no longer a tool, as Illich points out, but a system which absorbs me and turns me into a tool myself10 , I perform a highly specialized technical skill, that of the electronic engineer. Molière, again, could have said “I do electronics without knowing it”. Illich proposes the term “shadow work” for this specialized, quasi involuntary activity. It is at the antipodes of the commons, of the vernacular. What is common to both of these is that shadow work also falls outside the dualistic logic proper to modern economy, that of legal work, on the one hand, and of illegal work also falling outside the system, on the other, or, indeed, that of employment and unemployment. Nonetheless, shadow work is indispensable to the system, all the same, as unpaid qualified work. Moreover, it is the opposite of vernacular activity, which is the exact opposite of specialized work. Qualification is precisely the difference between shadow work and slave work. Slave work is also unpaid, but it is alien to the vernacular, which excludes the division of labor. Slave work, in a sense, is at the lower end of the division of labor; it is, in fact, all the unqualified tasks at the lower end of the division of labor. Shadow work, on the contrary, is at the high end. To drive a car, you need a driver’s license, whereas, as a slave, you would not have the right even to a work permit. The Bielefeld feminist sociologists Claudia von Werlhof, Maria Mies, and Veronika Bennholdt-Thomsen go so far as to speak here of a Hausfrauisierung, that is, of our transformation into housewives, in the sense of the unpaid housework indispensable to family life. (Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983) Without the housewife, the members of the family could not go out and make money. Without this kind of shadow work, the economy and the family would collapse. Not least because this

10 | Illich calls that the loss of “distality”, that is, of the natural distance to the tool.

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same housewife, Illich insists, has been turned unknowingly into a highly qualified technical worker, operating high-tech domestic technology the whole day long. Seen in this light, might the feminist demands for a salary for housewives be somewhat overmodest? The German sociologist Friedhelm Streiffeler even speaks of a “subsidiarization”, of the Third World actually subventioning, supporting, and financing the First by means of its cheap labor and raw materials, in diametrical opposition to the official discourse. (Streiffeler 2000) Shadow work is the vernacular turned into vacant space, reduced to the status of fallow land, to “disvalue”. (Illich 2005d, 773) This notwithstanding, it is even more indispensable for the system than unemployment, without which the latter would, in fact, collapse. Situationist Guillaume Paoli has drawn a parallelism between unemployment and urban vacant spaces: A healthy economy supposes a certain minimum rate of “normal” unemployment, estimated at about 5%, and a healthy city requires a comparable minimal amount of vacant, unused, unplanned surface, even aside from parks or “leisure” areas. Does this not remind us of the ancient, biblical wisdom admonishing that one seventh of the farming land be left uncultivated, for the use of the “wild animals and the poor”? Modern art, we might say, would also belong in some sense to our cultural vacant space, to our cultural shadow work, being somehow excluded and isolated, leading to its unwilling alienation. This, however, is, once again, another story.

C ONVIVIALITY The scholar Ivan Illich turned toward critical thinking when, in South America, he found himself confronted with the scandal of so-called “development”, in reality a new form of the very colonialism purported to belong to the past. “Development has become a form of free holidays for the ruling classes of the North” (Illich 1970), he wrote in 1969. Nevertheless, in this same shamelessly exploited “Third World”, he found a way of life and a vitality unknown or forgotten in the First. Here was a life within community still genuine and real, and Illich tried to encapsulate this within a single term, “conviviality”. The in-depth historical study of this concept, and of its modern fate was the theme of his ninth major book, “Gender” (1982), which was to incur the wrath of American feminists. Conviviality, life in the commons, in the vernacular realm, feeds on the complementarity of the feminine and the masculine, instead of the sexual division of labor. To be sure, “sex” is an artificial word with nothing to do with the feminine and the

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masculine. It comes, according to Illich, from the Latin secare, to cut, and stands originally for the splitting of the sexes out of a fictive neutral template, there naturally being no neutral sex. The obsession with “sex” in the industrial world is nothing else but a pathology produced by this fiction, and also a capitalist strategy to ensure a practically unlimited supply of alienated workers at the mercy of exploitation. “Unisex”, all things considered, is an invention serving the principle of the “redundancy” of the personnel and of the workforce, to be substituted at will. The vernacular, on the contrary, rests on the complementarity of the activities creating life, as the original meaning of genus, gender, in the sense of its derivative “engendering”. “Illich wants to send us back to our kitchen-stoves, from which we have just barely managed to emancipate ourselves!”, American feminists would accuse. Invited to attend a stormy meeting, he would be practically tied to the stake, and he would find no other choice than to leave, facing the obvious unwillingness of the organizers to let him speak for himself. Nevertheless, Gender, constituting, as we said earlier, the beginning of the historical research phase of Ivan Illich’s thinking, was written, with the support of historian of science Barbara Duden, from an entirely different perspective. Far from sending women back to their kitchen-stoves, it aims, on the contrary, to liberate them from the rule of “neutral”, alienated, mechanical, industrial labor. The violent and intolerant reaction certainly betrayed the great power of omnipotent industrialism on those unconsciously far too dependent upon it. The debate is far from closed, and perhaps is yet to truly begin. The vernacular, indeed, the universe of domestic values, in short, the universe, subsists upon the complementarity of feminine and masculine values. I will not repeat Illich’s arguments, nor his beautifully lush and rich documentation of the forms this complementarity has taken through history, especially in the Middle Ages. Instead I will sum them up by means of an intentionally provocative pun of the abstract, logical kind rather avoided by Illich: Denying this complementarity means denying my own existence, since I myself am, after all, merely fruit of the same. In turn, this pun certainly aims to be more than a mere provocation. I would suggest that we may have here the first elements of an understanding of a fact that keeps us perplexed and worried, that of so-called “demographic expansion”, which we may properly term a disaster. The usual explanations in terms of progress, medical or other, can hardly be fit to task because they confront us with a contradiction: Is this progress good or bad? It is both. It is good and bad, salutary and disastrous. This is the conclusion which Illich drew from his analysis of the modern medical system. Modern medicine indeed offers the cure for quite a number of anciently incurable

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diseases, but it produces, in turn, just as many new ones (iatrogenesis). (Illich 1975) What is called progress is ultimately a zero-sum game. Sex, then, is not the generation of life through the power of the complementarity of gender: It is the production of individuals neutralized by birth, at the mercy of the neutral powers of economy.11 This is the ultimate, unsettling formula of the “destruction of the commons”, of the enforced exodus from the realm of conviviality in all of its sheer tragedy and involuntariness. You may think that my saying so perhaps oversteps, but I persist: For me, this is the whole meaning of the critique of society deployed by Ivan Illich. Illich, by no means a dreamer, did not advocate for a romantic return to a mythical world of the commons, to a convivial paradise lost. What he proposed is to develop “tools for conviviality” in a well-defined sense, far from the nostalgia of a “return to a better world”. The answer to an era bent on instrumentality is to develop tools for the opposite purpose. Illich’s discourse was neither utopian nor edifying. He did not advocate extremes, the suppression of alternatives; his concept of the commons does not aim at eliminating the public or the private spheres, and his concept of community does not oppose that of society. It aims rather at a proper balance, at a rehabilitation of the realm of conviviality, of “con-spiration”, in the exact sense of “breathing together”, of “mixing breaths“.12 Those who knew Illich will remember his wonderful talent in this respect. The best we can do is to continue what he practiced throughout his life. Keep conspiring – maintain a life in conviviality.

11 | See also Michel Foucault’s concept of “biopolitics”, linked to the production of “subjectivity” in the sense of our internalized submission to this neutral and therefore absolute power. 12 | Note the relevance of this etymology in our era of electronic communication. Television, radiophonic and telephonic talk, not being a “mixing of the breath”, would belong to the realm of the text rather than to that of orality. The philosopher of linguistics Eugen RosenstockHuessy, highly praised by Illich, already protested against this “scandalous misuse” of speech, this non-stop chatter producing an absolute inflation of the spoken word (Die Sprache des Menschengeschlechts, 1963/64), transforming it into “disvalue” in the exact sense given to the term by Illich. Electronic and digital communication may be as sloppy and as casual as you like, but that renders it nonetheless formal. The vernacular, indeed, is not language in négligé, not an incorrect local dialect, as the grammarians would have it, rather it is the language of life, as accurate and as to the point as life itself. Colloquial, idiomatic expressions are perhaps its traces in the codified language, rather than slang. Indeed, what we call language, the “mother tongue”, might be seen as merely codified colloquial speech, this solving the riddle of its origin.

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T HE D ISASTER

OF

M ATHEMATICS

Allow me to end on a little digression in an area which is of some importance to me as a former astronomer, namely that of mathematics, which has already appeared here and there in this essay. The term “disaster” appears to hail from the Renaissance, and seems to have meant literally “dis-astre”, the vanishing of the astral bodies. Since I am not a historian, I may use my imagination to attribute an astronomical origin to this term, perhaps a historical comet outshining the stars in the night sky. Historians, do please correct me if I am wrong. My central theme so far has been the introduction of spaces between words, and the ensuing repression of the vernacular as described by Illich. As I previously suggested, the event was closely related to the introduction of the zero and of our positional numeral system. The zero was transmitted to us by the Arabs from India, and was imported to Europe in the 12th century by one Leonardo, son of the Italian businessman Fibonacci. This is also the century of the fatal institutionalization of silent reading as reported by Illich and Saenger. Our term “zero” comes from the Arabic root shfr, derived from Sanskrit shunya, which denotes the ultimate void, nothingness fertile with being: Hence the “cipher”, French chiffre, meaning not only digit, but also an occult sign (whereas “digit” comes from the Latin word for “finger”). In order to protect themselves from the apparently already very fierce competition of the era, Italian businessmen of the late Middle Ages were wont to encode their secret messages by means of holes pierced in a screen revealing the letters of the message. These holes were called the zefiro13 (Klein 1968), and hence our word “zero”14 . Moreover, recall that, while reading aloud is a “performance” in the sense of rhetoric, silent reading is more like deciphering an encoded message “composed” according to quite elaborate rules and depending upon a number of artifacts such as the “paratext”. (Genette 1987) In his treatise Liber Abaci, published in 1202, Leonardo praises the zero as a new device enabling the free manipulation of numbers far better than as performed by the Roman symbols, but also the writing of numbers as large as one may wish, and with delightful ease to wit. It is hardly difficult to picture the enthusiasm that this inspired in the Italian merchants of the time, the ancestors of our own homo oeconomicus.

13 | Old Italian for “cipher”. 14 | Ifrah 1981: We should really speak of the invention of the zero, since, for the Indians and for the Arabs, it was not a digit: we have no finger for the zero. See also Unthinking the Zero below for the transformation of the zero into a digit, and then into a number.

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As an illustration, Leonardo developed a formula for the multiplication of rabbits. The series rises rapidly to staggering heights. This “Fibonacci sequence” will be a first step toward the introduction of infinity into mathematics. Here again, quite a striking revolution might be noted. Throughout the Middle Ages, infinity was reserved exclusively for Christian theology, it being an essential attribute of the divine. Its use in any other context was threatened with the most severe penalties. In turn, mainstream Greek mathematics deplored the very concept, and sought to avoid it. Cardinal Nicholas of Cusa dared to use it again in a mathematical sense in his famous treatise of 1440 “De docta ignorantia” (On Learned Ignorance), published almost contemporaneously to the introduction of printing by Gutenberg (1465). For him, it is only a metaphor aiming at giving the reader a quasi-visual feeling for the paradoxes related to the idea of God. In his example, the infinite circle, the result of having a finite circle grow both indefinitely and without limits, is identical to a straight line and the exact contrary of a circle. In infinity, opposites coincide. His great disciple Giordano Bruno, as we know, would perish at the stake thereafter for refusing to renounce his revolutionary concept of infinite worlds, even when facing the tortures of Inquisition15 . Bruno’s successor Galileo would prove more cautious, but employ nevertheless the mathematical concept of infinity to fuel the scientific revolution. The story of these two famous pioneers and iconoclasts has already been well recounted by Alexandre Koyré. (Koyré 1962) Beginning with Newton and Leibniz, mathematical infinity will turn into a central concept of the new sciences of nature. The development of infinitesimal calculus will start with the stunning concept of infinitely small quantities, not balking for a moment at the paradoxes which this implies. An infinitely small quantity, after all, is smaller than anything of which you might think, but it is still distinct from zero. Common sense here boggles. Nonetheless, infinitesimal calculus works, and it works far too well. It served as the beginning of an era of accelerated technical progress soon leading to a “disaster” in the literal sense of the term, namely to the vanishing of the stars in the night sky of our cities now flooded with artificial light. The paradoxes related to the concept of infinity, in the meantime, have not quite vanished: On the contrary, they have at last emerged into broad daylight. The theologian and mathematician Bernard Bolzano discussed them in his book “Paradoxes of Infinity”, posthumously published in 1851, wherein he proposes a clever device, called a “set”, to bring them under control. The German mathematician Georg Cantor

15 | The Inquisition was also made possible only through the invention of the text (Illich 2005a, 885).

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will use the device to develop his “mathematical theory of transfinite sets”, which began by triggering violent criticism from leading mathematicians, and then soon came to command nearly unanimous enthusiasm. Mathematical set theory seemed to have finally gained complete dominance over infinity. The mathematical community then set about the monumental task of establishing the whole of mathematics upon these new foundations. This was no mere intellectual game anymore, as it had been for Cardinal Nicholas of Cusa: The fate of our modern technology, and of our very existence now so dependent on this technology, hang upon the outcome. Soon after the completion of mathematical set theory, however, a contradiction appeared at its most fundamental level, in the very concept of a mathematical set (Russell/Whitehead 1908). A set, as defined by Cantor, may be “any collection of things or concepts”. All the efforts at excluding the occurrence of self-contradictory sets without restricting the theory to uselessness have failed. This mathematical disaster was followed by a series of disasters of an entirely different kind, by the First World War, then by the collapse of an economy excessively reliant on this new mathematics (1929), followed by the Second World War and the subsequent crises of advanced technology, this bringing us up to the present.

C ONCLUSION I hope to have rendered it apparent that the rediscovery of the vernacular, in the sense Illich gave to the term, has become more urgent than ever. This means that we must rediscover orality, and a sense of community, and that we must free ourselves from the “dictatorship of the large numbers”. We might say that we must disenchant ourselves from the disenchantment produced by modern science. Break the spell by revealing how it was cast because, as has been remarked by the Hungarian philosopher Béla Tábor, its power comes from forgetting the same16 . Rediscovering orality means to free ourselves from the spell of the alienating text, and, in turn, rediscovering the community means to free ourselves from the spell of society as an arbitrary collection of individuals, isolated from one another exactly like these separated words in the text, and like the elements constituting a mathematical set. Lajos Szabó traces the disaster of mathematics, brought about by set theory, to a contradiction in the elementary concept of a set, which is, by definition, a collection of things that nothing could ever

16 | Béla Tábor, Personality and Logos, 2003: “Every myth forgets its own origin, and that forgetting is a constitutive part of it.”

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hold together since they are “strictly separated from one another” (Szabó 1999b). We may recognize here our society of “private” individuals, meaning alienated people, deprived precisely of the right to direct mutual contact, of the right to “con-spiration” in Illich’s sense, a society in permanent crisis and constantly celebrating frenzies of alienation. Freeing ourselves from the dictatorship of the large numbers, from the terrorism of growth, is an effort more urgent than ever, and would mean freeing ourselves from the grip of the zero, following Illich’s notion of “deschooling society”. It would mean forgetting arithmetic, forgetting the multiplication tables which stifle the vernacular under heaps of pure quantity, this being the world of Musil’s “Man without Qualities”. Whereas the zero denies the very concept of proportion, the vernacular, by means of contrast, is the realm of number as proportion, of harmony in the old sense of the “proper fit”17 . Zero times a number is zero, the zero does not mix with the other numbers, admits no proportionality, the fair share, the harmonious fit of things in the world. The zero is the principle of alienation, isolation, and self-isolation, akin to the spaces between words that produce the alienated and alienating text, indifferent to the reader, horribly deaf and mute, absurd (in the original sense of the Latin ab-surdus, see Klein 1968.). This same zero is at the origin of our modern mathematics, which produces a science of a hostile, dangerous, sinister, and threatening nature, also deaf and mute (Devereux 1980), the “eternal silence of the infinite spaces” which already terrified Pascal18 . With the zero, no solution can be envisaged for the social, economic, ecological, political crises, for any crises whatsoever. What should we then do with the

17 | See Illich 2005c. See also my Ivan Illich, an Overview, 2012: “Proportion: the proper fit of complementary pairs like day and night, left and right, female and male, up and down, good and bad, etc.” Instead of harmony as the “proper fit” of the opposites, the zero produces “complexity” as its improper fit. An example would be the modern city, wherein the extremes coexist (rich and poor, nature and culture) side by side in a permanent tension. The zero, as it were, is the unresolved tension, and the vernacular its resolution. 18 | See, for instance, Thomas 1974, for an entirely different picture of nature. Thomas describes the wonder of the Earth’s atmosphere, which provides protection for life at least as efficient as the membrane of a biological cell. Moreover, Lajos Szabó notes on the state of mind of socalled “primitive man” as documented by ethnographic research that they display “no traces at all of a fear of nature. On the contrary, only exuberance and boundless admiration. Of course they know of the dangers too” (Seminars, in Fact and Mystery, 1999).

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zero? Forget it, un-invent it? Get rid of it? But how? Must we invent a new mathematics without the zero?19 The anecdote of the “white hippopotamus”, probably of ancient origin, seems to address precisely this question. A famous scholar was said to know how to make gold out of almost nothing. A rich man came to see him and offered him a fortune for the secret. “Oh, there is no secret, you know”, the scholar replied, “I’ll be glad to give you the formula for free. Money doesn’t interest me. The whole thing was just an amusement”. He gave the rich man the formula, explaining how to use it, and wished him good luck. The rich man was overjoyed, and wanted to express his unbounded gratitude. “Oh, no need to thank me, really. Ah, before I forget, just a small detail. When you carry out the procedure, do not think of the white hippopotamus. Otherwise it won’t work.” You can guess the rest. Very soon the man came back, haggard and terrified. “Help me! In my whole life, I never even heard of your damned white hippopotamus, and now I can think of nothing else!” This anecdote, I suggest, points to that kind of “apophatic theology” which Lee Hoinacki, Ivan Illich’s close friend and companion, mentions in connection with Illich (Hoinacki 2002), and about which Illich mostly kept a discrete silence in his writings. Let me do the same. It will be enough to see it as a formula for “detachment”, for

19 | Zaslavsky (1973) describes African mathematics as being based on pattern rather than on numbers (remember again that even our digits, and our decimal system, come ultimately from a quite “natural” pattern, that of the ten fingers of our hands, as notes biologist Adolf Portmann). A motivation behind this African preference for pattern might be the conviction, as I was once told as a child, that “what you count will get lost”. My example for this would be the case of the vanishing stars in the night sky of our cities. Astronomers started counting them in the 19th century, and they soon vanished from our sight, due precisely to the artificial light fed mostly by the energy from our nuclear plants which do, indeed, work according to our physics of the stars. Here is cause and effect for you: What you count will be lost. Counting, apparently, generates “disvalue”, in a way which we must still come to understand. At the risk of overburdening this text, I would even venture something like a hypothesis: “Counting” is originally related to “recounting” (zählen – erzählen, compter - raconter), to storytelling, which is the realm of the vernacular, whereas number in the abstract sense is more related to the text, precisely in the sense of abstraction, of “privation”. No wonder, therefore, that counting with numbers will result in the “abstraction” of what you count. What I value, I tell; what I disvalue, I count. Value as a quantity is a disvalue. Numbers in this sense are a magical device, a “spell”. Again risking a daring comparison, “spelling out” speech or music will stop them from flowing in the same way as you might stop water from flowing.

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the use of the technical and mathematical marvels of our times, including the text, without adhering too much to them, without succumbing to their ideology, without being caught in them, and so practicing the art of doing without them (“When I walk, I discover that I have feet”). Martin Heidegger speaks of this kind of detachment in the text bearing the same title (Heidegger 1959), which became a source of inspiration for the Californian hippies. It possesses, however, a rather edifying tone, and omits an analysis of what adopting this detachment would imply for everyday life. Ivan Illich performed that analysis, and it led him to the utterly inspiring concept of the vernacular, which is, after all, just another name for everyday life, for a world living and teeming with life, very much contrary to what experts and planners of all kinds wish to impose upon us. The future will be vernacular, or there will be no future at all.

A NNEX : U NTHINKING

THE

Z ERO (ent-denken)

A Non-Number If it is true that capitalism operates by quantifying everything, and most prominently time (Engster 2015), then doing away with capitalism would mean getting rid of the zero. This is because we can still count without the zero, but we cannot quantify, i.e. manipulate quantities with any excessive ease. So, the question would be as follows: How can we un-think the zero? Now, unthinking does not mean just deconstructing, forgetting, or forbidding. Indeed, what you deconstruct, you can reconstruct; what you forget, you can remember; thinking, in turn, cannot be prevented. Unthinking a concept would be more like when you are trying to find the way to a certain address in the city, and someone proves to you that the address does not exist, rendering the search pointless. Thus, it is more a proof of pointlessness than a proof of falsity or of non-existence, more like undoing a thought, taking it back by thinking it backwards, the same way you would undo a badly knit sweater. We may remember here that the Romans had no use for the zero. So how did they quantify? Certainly, quantify they did. The army had units of a hundred soldiers, the centuria. Yet, this unit formed a well-defined pattern, so it was not necessary to count the soldiers, only to verify the pattern, ensuring that it possessed neither gaps, nor excesses. This was not so much a quantification as what we might call (employing a current, albeit slightly inappropriate technical term) pattern recognition; this was not so much a logical operation as an aesthetic one. Indeed, remember that

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the word cosmetics originates from cosmos, originally a military term denoting the well-ordered army.20 That would mean a concept of number which does not operate with the distinction between ordinality and cardinality introduced by Georg Cantor, indeed the very framework within which he constructed his transfinite set theory, but rather with number as a pattern. Every number can be represented as a pattern. Only the zero cannot be represented as a pattern. This may remind us of ethnomathematician Claudia Zaslavsky having demonstrated in her book “Africa Counts” (1973) as to how African mathematics employs counting patterns rather than numbers. Indeed, I still remember my wonder as a child when being told that some so-called primitive cultures only possess three words for numbers: one, two, many. Why? We may answer with a shrug that they are just too primitive to count further. The reason I was told was different: It is because they are convinced that anything you count will vanish into nothing. This brings us back to Cantor, whose greatest achievement was to think all the way to its ultimate consequences, and, indeed, with exemplary rigor, the concept of cardinality, i.e. quantification relying on the distinction between ordinality and cardinality (number as a place in a succession versus number as a quantity), and to demonstrate that it leads to an unsolvable contradiction. Here, we have the same effect: Numbers conceived of as either ordinals or cardinals turn out to be without existence, to be mere operational tools, forms without shape or being, logistical tools violating elementary logic. Unthinking the zero would then mean recovering the concept of number as a pattern. The introduction of the zero has a history well documented by Jacob Klein in his “Greek Mathematical Thought and the Origin of Algebra” (1968). It coincides indeed with the rise of capitalism in the 17th century. Now, reversing that process would, of course, have a price: the loss of European hegemony over the globe. Nevertheless, for those convinced that this hegemony has gone as far as it could, indeed further than is reasonable, such a price might be worth paying. Thinking the Zero To be more precise, the story begins in the late 12th century, when young Leonardo, the aforementioned son of that Italian businessman Fibonacci, sailed to North Africa to learn the secret of the Arabs’ art of computing. The secret lies in the zero,

20 | Or the speaking order at the symposion.

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written shfr in Arabic, derived in turn from Sanskrit shunya, the void (Georges Ifrah, “Histoire universelle des chiffres”, 1981). Yet, shunya also denotes a key concept in Indian philosophy, similar to Parmenides’ concept of pure being as the pure void, since it is free of all predicates; comparable also is Meister Eckehart’s famous formula for divinity as sheer nothing, meaning un-graspable for instrumental reason. The instrumentalization of this void in the shape of the zero will lead to the instrumentalization of infinity, a key concept now in Christian theology21 . This story, in turn, might be traced to Nicholas of Cusa’s “Learned Ignorance“ (1440), wherein he introduces infinity as a mathematical metaphor for absolute being: the infinite circle, the center of which is everywhere, its periphery nowhere. Secularization might then be another instance of the effect we might (following Lewis Carroll) call the boojum effect: counting and conceptualization as a repression of being under its own functionality. Productive Womb Cantor’s conceptualization of infinity as transfinity – infinity beyond infinity – begins, in a sense, with the ordinalization of the cardinals, by inserting the zero at the beginning of the series of cardinal numbers, replacing the one as the first cardinal. As Klein reports, this procedure was introduced by the English mathematician John Wallis in the 17th century22 . Whereas the zero can be functionally thought of as what remains after removing a positive, well-defined quantity, it defies common sense as a number. We might see it as a formal functionalization of the concept of creation out of nothing, again a key concept in late Christian (nominalist) theology. Again, we recognize here a favorite topic in the discourse of capitalism, namely creation of wealth out of nothing, and the cheerful transgression of the limits of common sense in the associated practice. Thinking the zero, one of the most fateful (and most fatal) achievements of European civilization, thus turns out to stretch over a period of at least five hundred years. We may only hope that its unthinking takes less, marking a first step toward what Ivan Illich once called the urgently needed task of “deschooling society“.

21 | Although a positional numeral system without the zero but also leading to infinity is just as easy to conceive; see below. 22 | After the Flemish mathematician Simon Stevin had turned one into a number, into the first cardinal (16th century).

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Absurd Multiplicity The recovery should perhaps begin with understanding how the introduction of the zero turns the idea of multiplicity into an absurdity. The zero, as it were, contaminates numbers with its unreality. This begins with etymology: shfr would lead to zero and also cipher, that is, to words for not only a digit, but also for a cover-up. Unthinking the zero would then begin with realizing that thinking the zero means unthinking numbers. Shortly before the birth of set theory, Dedekind asked “what are numbers?”, answering “mere gaps in rationality”. We might state along with Ivan Illich that the decontamination should first reveal how the contamination occurred in the first place. For set theory, multiplicity is a “heap”, a container indifferent to its contents. What we term “numbers” in this sense was still an “absurdity” for the Renaissance: absurdus, deaf and un-speakable. Indeed, most numbers in this sense cannot be spoken nor heard, and not even computed. Zero comma three three three and so on would still be fine, but how might you spell out the square root of two as a number instead of merely an algebraic operation? Furthermore, remember that most of them cannot even be articulated as such; most so-called “real” numbers cannot even be grasped by a mathematical formula, and thus cannot be computed by any means. We know that they “are”, but we do not know “what” they are, or how “big” they are. This is their utter paradox: Numbers in this sense are pure “bigness”, and most of them lack precisely this “bigness”. Here we may further recall that people usually count in their first language, called their mother tongue. Again, Illich notes that mother tongue actually denotes an artificial language, as opposed to the vernacular (Illich 1997). We may thus surmise that the configurational number (the number as a pattern) is to be associated with the vernacular, and that recapturing it would require the recapturing of the vernacular. More than an epistemological task, this would be political in nature. The zero would be proper to the circuits of power, and the configurational number to life. The zero would secure the circulation of power, indeed, generate economy, to speak freely following Marx, as a political power. A Secret Weapon This brings us back to the zero as a secret weapon of capitalism, the instrument of secrecy concealed as openness, and of subtracting oneself from attack by means of obscuration. The zero would then be the device of a hidden warfare, or of occult transparency, or of production usurping the role of generation, and of productivity that of fertility. To summarize: Unthinking the zero would require revealing its political

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dimension, tearing it from its epistemological mask, or (as Marx would say) depriving it of its metaphysical disguise. Interestingly, zefiro stood first for the void uncovering meaning and giving sense to a hidden message: the holes in a screen superimposed on a coded text showing the meaningful characters. This shift is most telling. Unthinking could then be more like an un-shifting, a mere shifting back. This shift is intimately linked to that from loud to silent reading, again an occurrence of the 12th century, as documented by Ivan Illich. The introduction of the zero secures that shift in a sense, and extends it, imparting upon it a new dimension. The Vernacular The vernacular dislikes algorithmic thinking. Proper things have a proper name, including numbers. Zero Zero Seven is a covert agent, and the zero stands for improper things. This is, so to speak, the moral aspect. As the French still remember, number is close to name, nom to nombre. Twenty is a number, but two hundred is an operation with numbers, two times a hundred, a manipulation always subject to doubt. The zero turns numbers into operations, names into algorithms, and language into an arbitrary logistic. Numbers are neither true nor false, but operations can be. Words are true, but their combination can be a lie. The vernacular does not combine words or numbers, it tells them in a narrative: “hundred and hundred”. In turn, the narrative cannot be true or false; rather, it is good or bad, like a tune or a memory. Unthinking the zero, therefore, would not spell its elimination, but rather revelation, the lifting of the curtain upon its backstage. Ivan Illich’s recovery of the vernacular, of the moral sense of the Romans, might turn out to have been one of the first steps here, explaining the Romans’ mistrust of the zero. This mistrust seems to have been widespread in Antiquity. Modernity might turn out to be just a forgetting, deliberate or not, of the same. A Disease Once released, the zero contaminates everything with its unreality. Language becomes empty, the world a void, and Modernity a sick man ignoring his own disease. If it is true that this virus was released in India in our 5th century, perhaps as a political device to finish once for all with Antiquity as represented by an outdated Roman Empire, then it spread much as later gunpowder swiftly did from the Islamic world through Europe. Hence, urbanization is the production of non-spaces in the midst of rural spaces declared wasteland.

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An apt therapist might diagnose amnesia as the result of the repeated traumatic shocks of history, prescribing the study of history as anamnesis for the cure. This would be the medical aspect. From the debacle of the Crusades to the mutation of Christianity into a robbers’ association, or, at best, a company with limited liability, this has served as one shock after the other, with all the symptoms of a wounded narcissism, that of warring nations domesticated and humiliated by culture (Nietzsche), a culture operating with the virus zero. Once more, this is Illich’s corruptio optimi quae pessima, the corruption of the best to the worst. The full story would then tell how this cleansing agent of history backfires, favoring the proliferation of a virus called “humanity” which, in turn, destroys all in its way. Unthinking the zero would also mean thinking to the end Schumpeter’s “productive destruction” and Béla Hamvas’ notion that “everything is in a crisis, except capitalism, because capitalism lives on the crisis” (Budapest 1945): capitalism as a potlatch and as an eschatological factor, driven by an “empty signifier” disguised as a number, as a shadow of emptiness (a “second-order” nothing), turning economy and politics into “opportunistic” diseases of a world at the brink of eternal crisis. Gender If we accept Lacan’s symbolism of the 0 and the 1 as associated with the “feminine” resp. the “masculine” principles, then we might ask what their instrumentalization as numbers does to these principles. As stated, for Illich, “sex” comes from Latin secare, to cut, and the modern content of “sex” would indicate a split from a fictive neutral state, while “gender” denotes complementarity. Here, we have a succession and a quantification negating both symbolism and complementarity, being rather a homogenization once more in the sense of neutrality. Hence, we might consider tracing the elimination of “gender” in favor of “sex” again to the introduction of the zero, recalling the Marxist thesis according to which the homogenization of the “sexes” would serve primarily the purpose of producing a surplus of workforce at the mercy of capital, as a strategy to neutralize what Marx called the “tendential fall of the profit rate” proper to capitalistic dynamics. However, this would call for further analysis, first of all of the dramatic “overproductivity” of this substitution of “sex” for “gender”, of a society as a multiplicity as amorphous as the mathematical set, instead of community relying on a “template”; of a science of nature and of society relying on the standards of measurement, on meter-kilogram-second and money (Engster/Schröder 2014), these, in turn, drawing

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upon the unreality of the zero and contaminating all measurement and quantification with this unreality. From Using to Thinking the Zero According to Saenger (1997), the introduction of Arabic digits, and hence of the zero, into Europe was related to that of word separation around the 10th century, again related to the translation of Greek texts from the Arabic. Thus, the zero served here merely as a graphic aid to reading, so to speak, just like word separation. The transformation of the concept of “word”, however, which resulted, seems to have brought with it also a transformation of the concept of number, and a shift from just using to actually thinking the zero. This might be seen as component of nominalist thinking since the Middle Ages, leading eventually to modern science and to positivism. Envisaged accordingly, word separation generates words as visual patterns more than sounds. The positional system also seems to have aimed first at a representation of number as a pattern easy to grasp visually, and hence easy to manipulate (Gerbert, later Pope Sylvester II, 10th century, as quoted by Saenger). Yet, just like words composed of alphabetical characters, numbers made of digits are different from graphic patterns. They are rather encoded images, much more akin to our digital images, indeed, their very precursors as we might well say. These numbers, like these words, are thus, in a sense, more reminiscent of cryptograms than patterns. Words as visuals patterns composed as a succession of fixed elements drawn from a rather limited repertoire do not seem to have the same degree of “reality” as a graphic pattern, this, hence, leading to the notion that words are “just” this pattern – and so are the concepts they denote. In other words, “thinking the zero” seems to be part of our history of “thinking language”, existing within a close interplay. “Unthinking the zero” will then require rethinking our entire concept of language (and indeed our “thinking language” altogether instead of speaking it), and more than just our own mathematics. Indeed, consider the introduction of the zero as a by-product of a transfer of cultures and of the resulting theological debates. Thereafter, the instruments proper to capitalism, stocks and their derivatives, will turn out to be of the same kind of unreality, claiming reality by turning autonomous, like the new concepts of number and word seen as purely “formal patterns” composed of arbitrary signs.

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Number The number as a pure multiplicity does not exist. It is an empty space, a void, a dummy, a substitute, an extension of the zero, generalized zero, zero in freefall, its inertial, force-free movement, its perpetuum mobile violating the laws of being. The configurational number is a comparison, an analogy: Here, we are like the fingers of the hand – in a precise relationship. The accurate number is an accurate analogy: It expresses the richness of multiplicity. The configurational number bespeaks an excess of structure, rather than its deficit. The configurational number follows the law of division, the fictive number that of addition: We belong together like the fingers of the hand, which is not obtained as their sum, but as their differentiation. A number is also a name, a call, an invocation, a second-order call, of language – being calling being – calling language, instead of being a void, the void of multiplicity at the shores of language as a void. Unthinking the zero will then require thinking this call, number as language talking to language, a calling and an answering, a structuring of language in an analogical network, in proportionality – number everywhere, not just as a multiplicity, but also as a network of relationships similar to that of language. Articulation One times three is not quite the same as three times one. The former says a truth: Three is one times three, a “structural tautology” (Szabó). The latter, taken at face value, is a lie. The one is unique, and so is the three. Three is the one three, one times three, a basic truth, the tautology of being stating the “structure” of being, in a certain manner. When we say three times one, we obviously cannot mean three times the same one because the one is unique. One is one; this is the tautology of being. Before three times the one was two times the one; if the “first” one here is taken as something like the true one, the one true one, then the “second” one cannot be but some kind of copy, a substitute one. Moreover, with three times one, the third one can be either the copy of the first, a “first-order copy”, or of the second. Three times one can thus be this or that, a “first degree” three or a “second degree” three. The number as a pure quantity is thus a lie, and the number as a pattern is an articulated truth. Twelve is three times four or four times three, and the difference is obvious at a glance:

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The fours here are not identical, nor are the threes, or only if we disregard their differences. The number as a pure quantity is a pure fiction. Of what does the commutation rule of multiplication, which states that “one times three is equal to three times one”, make abstraction? Precisely of the inner structure of the numbers, of their articulation. Truth is articulated. “Articulated truth” is a pleonasm, or the tautology of being. Language is articulated (language is truth, or the articulation of truth, its “articulatedness”: Saying the truth is “articulating” it), therefore the number as a pure quantity is alien to it, explaining the “magnificent isolation” of a mathematics working with the zero, its alienation from the “vernacular”, from the spoken language. Indeed, the zero is the very principle of non-articulation. The one is infinitely articulated (the point points to every direction); each number is finitely articulated, whereas the zero possesses no articulation. The one is “not like the other numbers”, but, in a sense, precisely opposite to that of the zero. The one says the whole, everything, and the whole is infinitely articulated, it is “more than the sum of its parts” (Aristotle), this “more” being precisely its articulation. The “sum” would be “one plus one plus one...”. Without its articulation, it is a lie; its articulation makes it true. The number as a pattern is “more” than just a quantity or a placeholder (a cardinal or an ordinal), precisely in this sense of an articulation. To summarize: At the logical level, that of language, words and numbers are networks within networks. At the logistical level, that of instrumentality, they are isolated quantities. The transition occurs through the zero, which is Continuity, the One, Being turned into an instrument, the principle of separation. The Zero and the Infinite The zero thus usurps the place of the one as the counterpart of the infinite. The one is infinitely articulated, and the infinite is the articulation of the one. The zero disposes of the infinite as the very principle of articulation by reducing it to the petty infinite. The “petty infinite”, Hegel‘s “schlechte Unendlichkeit”, which we should perhaps read, if we trust Nietzsche, as “schlichte Unendlichkeit” (meaning petty, mean), is that whole which claims to be the sum of its parts. True infinity, as the principle of arti-

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culation, is a meta-articulation, superior to articulation. From there to the conundrum of Cantor’s undecidable “continuum hypothesis”, to the riddle of the transfinites, to infinity which “can and cannot” be supplied with an order, is but a small step. True infinity is “one step” beyond language, and states the ineffabilis, the unspeakable. The petty infinite is a surrogate, a “simulated” infinite, the endless reflection of the inarticulate one, of nothing, of the zero, thus of nothing itself, ultimately equivalent to the zero. The zero turns the true infinite into the petty infinite, truth into a lie – not even a lie, the mere shadow of a lie. As such, it is nothing less than the seed of evil. Would that not be reason enough to mistrust it? To use it with the utmost caution? Lest evil grow over all ? Zero-free Whereas the “configurational number” may represent the principle of articulation, the zero-free position-value numeral system might represent that of counting as distinct from just quantifying. As the biologist Adolf Portmann remarked, our ten-based system is, indeed, natural in the sense of relying on a basic biological truth, that we have ten fingers, ten thus not being a number just like any other (Portmann 1974). The introduction of the zero, however, makes this system artificial, and ten “just natural” in the sense of a “naturalism” claiming the level of abstract thinking. The ten, a digit in the original Latin, literal sense of digitus for finger, turns now into a number composed of two digits, or, to be more precise, of a digit and a non-digit, turning, as we saw earlier, digits into “mere designations”, into non-digits. The positional system with the zero seems to have been developed in India, though with a deep awareness of the true nature of the zero. That without the zero could perhaps be thought of as a pragmatic device free of this metaphysical reminder of the antinomies of multiplicity. It might be described as a mere symbolic expression of the concrete act of counting using digits, i.e. the fingers of our hands. In this system, ten is the tenth digit, which we might also picture as designating the plain act of showing our ten fingers. As children do, to count further, we show our ten fingers, then just one, in order to mean eleven. To put this in writing, we might again write a “1”, then indicate with a second “1” on the left that we have already counted once ten, remembering, however, that this is no longer a digit, but rather just an index, a pointer – not a digit showing itself, but pointing elsewhere. The pointer, in this case, could be seen as something like the particle “the”, meaningless without its substantive, or like the predicate without its verb. As Melchior Palágyi noted, language, like our eyes, deploys a dual means to perceive a single reality (Palágyi 1901). “The cat jumps” expresses one act, the cat’s jump, but requires

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two expressions, “the cat” and “jumps”, and seeing them as autonomous will be at the origin of what we call a “word”. In this sense, the “digits” to the left of the first digit are no longer digits. In zero-free counting, ten is followed by eleven up to nineteen and “tenteen” (German zehnzehn), then comes twenty-one. “Ten” is a digit, whereas “twenty”, “thirty” up to “tenty” (zehnzig) are just “prefixes” to a digit, as meaningless without that digit as the prefix “re” would be in “redo” without the “do”. Then comes “hundred” as a “second-order” prefix. The digit ten disposes of the non-digit zero, demonstrating it to be superfluous, an excess over numbers, “supernumerary” for counting. The zerofree positional system would then also help to recover the concept of number as an “agglutinative” reality more than just a logistical tool – similar to original language as the articulation of the primeval one. We could then speak of the nine hundred tenty-one nights and of Ali Baba and his thirtyten thiefs (neunhunderteinundzehnzigundzehnunddreissig), disposing of “thousand-one” and “forty” as misleading artefacts, and of the zero as a fake digit and as a non-digit, removing it from the operational, explicit level, but, of course, keeping it at the implicit, axiomatic level defining positionality. Saying “twenty-one” implicitly assumes empty spaces to the left, as the very principle of positionality – of course, also to the right, defining also our writing as a symbolic sequence of separate elements, as opposed to speech which does not use this separation. As the configurational number recovers the concept of number as an articulation, as a symbolic expression of the richness of being, the zero-free positional system would be a step toward unthinking of the zero, recovering the concept of counting as distinct from quantifying. The vernacular counts zero-free, as in dating, naming, etc. The twelfth of July nineteentwentythree explicitly states the semantic hierarchy: twelve is a “number”, July is a “name” and nineteentwentythree is a “symbol”, in this case that of an era. Furthermore, while “Joe Smith” may be misused as a dummy, actually quite many people called “Joe Smith” exist in reality, to the exact contrary of the “empty set”, of the placeholder made digit, of a true dummy. As Tábor notes, original, healthy language dislikes the use of dummies, and prefers to say “metonymically” “Israel” or “Jacob” instead of just “a nation” or “a person” as an abstract placeholder (Tábor 1939). Moreover, our electronic technology resting on the on-off logic of Boolean algebra ought to be called properly “cipheral” instead of “digital” (in French, chiffrique instead of numérique, in German, zifferal), since it relies fundamentally on the non-digit zero, a “cipher” expressing the absence of a digit. One might even surmise that its power comes, very much in the sense of black magic, from calling the zero a digit, and from this misuse of language.

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A zero-free arithmetic would still allow addition as usual, in subtraction set a limit to the free manipulation of numbers, show the artificiality of multiplication, and permit the recovery the notion of “harmonious” division, of division in proportion instead of arbitrary division, further recovering the idea of multiplicity as the result of division instead of addition. Half a year is still meaningful, but one nineteenth of a year would already sound more artificial, and half an egg is no egg. As Palágyi notes, an archaic language like Hungarian still remembers that one eye is just “half an eye”. Conclusion The vernacular, we might conclude, follows Bertrand Russell’s idea of the “logical types”, the zero-free logic of the narrative, the logic of number expressing the richness of being, whereas the modern concept of number relies upon the “supernumerary” element zero, which ended up disrupting Cantor’s set theory, its own consequent expression.

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dreiecksgeschichte weisst du noch als ich dir den hammer hielt ich habe nur zwei hände sagtest du hieltest die zwei schrauben zwischen den zähnen mit den fingern bogst du den draht und hieltest das bild irgendetwas klemmte einen hammer kann ich nehmen oder liegenlassen das macht mich nicht zu einem teil des hammers der hammer bleibt ein instrument des benutzers aber dass du ihn mir reichtest, damals, sagst du die wirkung des bildes ist teil des schauenden aug‘s so wie wirkung des werkzeuges teil ist der ausführenden hand ja, das brachte die liebe ins system Erika Kronabitter

Die Wanderung weg... weit weg der Weg Andreas Decker

Nass und kalt – kalt und nass. Dass die Obdachlosigkeit so real werden würde. . . Für solchen Un-Ort, solche Un-Ordnung gab es ein Wort: Wildnis. Ohne Weg und Steg. Jede Planke neu gelegt. Und schwupps versunken. Woher das nächste Stück Holz nehmen? Er befand sich . . . im Irgendwo. Und allein. Das Allein-Sein freilich war keine neue Erfahrung, nur der Ort ein anderer. Allein, einsam; war doch jeder gewissermaßen, auch und gerade in der dichtest besiedelten Stadt, auf den belebtesten Straßen und Trassen der Verkehrsverbindungen, im vielsprachigen Gewirr der Kommunikationskanäle. Flatsch! Der rechte Fuß versank im modrig stinkenden Schlamm, das Bein mit, bis zum Oberschenkel, bis zu dem Fetzen Jeansstoff, der den Unterleib vor dem direkten Kontakt mit dem Element schützen sollte. Der Schritt schon unumkehrbar, der Restkörper mitgezogen, der Oberfläche entgegen. Oberfläche, Unterfläche. Raus! Mit einer Gewaltanstrengung des ganzen Körpers, mit den Armen in der grün-braunen Flüssigkeit rudernd, wo war das nächste halbwegs haltende Stück Graserde? Ein Bein hoch, das Gewicht langsam verlagern, zweites Bein. Wacklig stand er mit beiden Beinen auf dem Fleck, der schon nachzugeben drohte. Weiter. Hierhin – und den linken Fuß dahin. Jetzt nur an den nächsten Schritt denken, in diesem unendlich scheinenden Sumpf. Quo vadis, Homo Faber? Doch war hier nicht Mexiko, keine Tropen; traurige Tiefebene war’s, eine uferlose Wasserlandschaft, deren Landanteil stets in Frage stand. Eher eine Wasserschaft. „Land unter“ sagte sich leicht, aber ging sich schwer. Tief auch die Wolken, der Himmel zum Greifen nah und doch unerreichbar, tief auch die ungemessene Temperatur, triefend die Kleidung, vor Nässe von unten und oben. Besonders machte ihm zu schaffen, dass unter diesem bleiernen Himmel sein Orientierungssinn versagte. Auch sein Zeitgefühl war ihm verloren gegangen. Er wusste nicht, in wie vielen Stunden der Abend kommen und das Licht löschen würde; das

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wenige, was über der Landschaft stand. Ihm fehlten jegliche technischen Hilfsmittel, er war auf sich allein angewiesen, seine Fähigkeiten, seinen Verstand. Das Problem war nur, dass Fähigkeiten und Verstand wenig bis nichts nutzten, wenn der Boden unter den Füßen kein Boden war; nichts, auf das er sich hätte verlassen, stützen können. Der feste Boden war ihm entzogen, aber es folgte kein freier Fall, sondern ein schrittweises Immer-wieder-Einsinken, mehr oder weniger tief. Dem Zufall überlassen, genauer: der offenbar geringen Wahrscheinlichkeit, mit dem einen Fuß eine Untiefe zu erwischen, und der noch geringeren, dass es dem anderen Fuß ebenso ergehen würde. Und wo war das nächste Stück Holz? Seine Gedanken schwappten wie die Füße im Sumpf, nicht ganz wirr, aber doch unsicher und ungeordnet, Hauptsache weiter, denn stehen bleiben hieß hier nicht Stillstand, sondern Beginn des Untergangs. Die grobe Richtung seiner Schritte: auf eine Baumgruppe zu, wohl Weiden und Birken, mit der vagen Hoffnung (aber immerhin Hoffnung), dort ein paar Meter festen Grund vorzufinden. Noch widerstand sein Verstand der körperlichen Regung, den Oberkörper ganz bewusst dem Sumpf auszusetzen, um mit allen vier Gliedmaßen mehr Schwung zu erzeugen, zu schwimmen und so schneller zu werden – und sich den „Weg“ dadurch vielleicht zu vereinfachen. Wie würde sich sein Wille in den nächsten Sekunden und Minuten entwickeln? Wie autonom war er hier und jetzt noch? Der Sprühregen schien aufgehört zu haben. Neu hinzugekommen war ein sanfter Wind – oder hatte er den bisher nur nicht gespürt, weil die anderen Wetter- und vor allem Landschaftsphänomene seine Aufmerksamkeit gefordert hatten? Der Wind wehte Moormodergeruch umher. Insekten (Fliegen, Mücken, Bremsen) flogen mit, schwirrten jetzt auf Gesichtshöhe – und stachen, während sie bisher nur an den Beinen wahrzunehmen und fast zu ignorieren gewesen waren. Für sie war es also nicht kalt genug! Wie weit noch bis zu den Bäumen? 100, 150, 200 Meter? Und umgerechnet in Schritte? Schätzen, Zählen und Rechnen verloren hier ihren Sinn: Am wichtigsten war, dass der Blick die Schritte lenkte, dass er ständig zwischen dem Da-hinten und dem Hier-unten wechselte; das Gleichgewicht hing stark von den Augen ab. Doch schien die Distanz nicht abzunehmen, er schien auf der Stelle zu treten, in die Stelle zu treten, in die Stelle ohne Stand, die Nicht-Stelle, den Un-Ort, den U-Topos. Also lieber nur nach unten schauen, auf den nächsten Schritt? Konnte von Schritten noch die Rede sein, wenn er bis zum Schritt im Morast herumwaberte? Doch, der Einfachheit halber: Schritte. Und irgendwie ging er, ging es vorwärts, aber auch in eine Richtung, in die richtige Richtung, die hier einzig richtige, die alternativlose? Schritt fahren, auf Sicht fahren galt in letzter Zeit als Tugend der Regierungsführung, während im Schritttempo fahren auch in ausgewiesenen „Spielstraßen“ vollkommen

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„out“ war: SUV donnerten mit Tempo 60 hindurch, bergauf! „Splasch!“ holte ihn ein Schritt ins Haltlose, ein haltloser Schritt in die unebene Ebene der Realität zurück. Konzentriere dich! Da, ein Grasbüschel über dem Wasser. Da noch einer. Da weitere. Die Wasserschaft nahm langsam Struktur an, wurde wieder zur Wasserlandschaft, den sieben Bäumen entgegen, die zu erreichen jetzt denkbar, machbar erschien. Schon ließ sich wieder mit Fug und Recht von Schritten sprechen, auch von Tritten, denn seine Füße traten wieder auf etwas wie festen Grund; weich, aber fest, jedenfalls nicht sofort nachgebend, sodass ein flüssigerer Gang entstand. Lieber flüssig gehen als im Flüssigen gehen. Gehen, gehen, bis zu einem Ort, der des Verweilens lohnte, in die Gesellschaft der Bäume: vier Birken und drei Weiden; dazu wuchsen im Gras ihm unbekannte Blumen mit kleinen gelben Blüten. Hier aber stehen bleiben: Schuhe, Socken, Hose, Unterhose, auch ein Großteil der Oberbekleidung und natürlich die darunter sich befindenden Körperpartien waren zu nass, um ein bequemes Sitzen zu erlauben. Und: Im Stehen bestand eine größere Chance gesehen zu werden, wozu die Baumgruppe allerdings eher hinderlich war. Doch „auf freiem Feld“ war eben kein Bleiben. Der Blick schweifte über den weiter nichtssagenden Himmel – wenn er doch wenigstens eine Uhr hätte! Irgendwann würde Dunkelheit hereinbrechen, wie es so hieß. Was konkret konnte er hier tun außer Ausschau halten? Nach Essbarem suchen? Gras und Rinde boten sich an, vielleicht auch Harz. Ihm fiel der Este Lennart Meri ein, der in einem Interview über seine Lagerhaft in Sibirien gesagt hatte, dass er damals unfreiwillig den Wald kennen gelernt hatte. Das konnte er, hier auf dieser Insel im Sumpf-Meer, wahrlich noch nicht von sich behaupten. *** Solange er denken konnte, war er in staatlichen, kirchlichen und privaten Institutionen beschult worden, hatte sich beschult, geschult, andere geschult (müsste nicht statt der Vorsilben „be-“ und „ge-“ stets die in ein schlechtes Licht rückende Vorsilbe „ver-“ eingesetzt werden?): Kindergarten, Vorschule, Grundschule, Gymnasium, Universität 1, Sprachinstitut, Universität 2, während dieses Studiums drei kurzzeitige Rückkehren in Schulen als Praktikant, danach für zwei Jahre als Lektor an einer ausländischen Universität, zurück im Heimatland wieder zwei Jahre an einem Gymnasium als Referendar, dann als examinierter, obgleich nicht „fertiger“ Lehrer kurz an einem Gymnasium, wenig länger an einem anderen, schließlich und bald „lebenslänglich“ an einem dritten. Es ergab sich ein Leben fast ausschließlich in Schulen, für Schulen, für Schule als Institution. . . Ob er ((für) sich) ein Leben außerhalb, ohne Schule denken konnte – dachte?

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Noch als Abiturient hatte er für sich ausgeschlossen, jemals wieder in eine allgemeinbildende Schule zurückzukehren. Studium ja, gern auch Geisteswissenschaften, aber bloß nicht auf Lehramt! Das eine Jahr Auszeit im Zivildienst – eine kleine „Schule des Lebens“, indes auch nicht ohne mancherlei geistige Lehren, Kultur- und Bildungsarbeit – führte ihn zu so viel Realismus, dass das Lehramt und damit die Schule wieder denkbar wurden. Verdrängungsversuche schlugen umso mehr fehl, je länger das Studium dauerte, je nebulöser die beruflichen Aussichten außerhalb der Schule erschienen. So traf auf ihn ein Satz aus Ivan Illichs Buch „Entschulung der Gesellschaft“ hundertprozentig zu: „Der Mann, der gewöhnt ist, belehrt zu werden, sucht seine Sicherheit zwangsläufig im Lehren.“ Dabei erfüllte ihn in manchen Momenten ein eitler Stolz, dass er lehrend nicht an das Gymnasium zurückgekehrt ist, an dem er selbst Schüler gewesen war, sondern immerhin einige Hundert Kilometer weit weg wirkte – im Gegensatz zu einigen seiner Kolleginnen und Kollegen dort, die zu allem Überfluss noch ihre eigenen Kinder auf selbiges Gymnasium schickten, obwohl es in seiner neuen Heimat, einer Mittelstadt, zwei Alternativen gab. Er gehörte den wenigen aus einem anderen Bundesland stammenden Lehrkräften und somit einer besonderen, halb bewunderten, halb misstrauisch beäugten Spezies an: Wie er es so ohne Weiteres hierher geschafft hatte? Oder hatte es ihn hierher verschlagen wie Odysseus? Die Wahrheit lag irgendwo in der Mitte, präziser, gab Antwort auf beide Fragen: Sowohl eigenes eifriges Bemühen als auch institutionelle Entscheidungen hatten ihm den Weg geebnet und ihn an diesen Platz gestellt. Und so nahm seine Karriere ihren Lauf, oder eher: ihren gemächlichen Gang. Auf teils schwierige Jahre des Beginns, der Eingewöhnung, folgte die Phase der Etablierung, in der er neben dem Unterricht weitere Aufgaben übernahm, teils mit, teils ohne „Funktion“, mit und ohne „Anrechnung“. Je mehr er verwaltete, desto weniger unterrichtete er. Jahr um Jahr erhöhte sich sein Gehalt, sogar über der Inflationsrate; Leistungsprämien und Beförderungen brachten zusätzlichen finanziellen Gewinn. Im Laufe, im Gang der Jahre erfolgte die Routinebildung, die unmerklich in eine Stagnation führte, in der das Gefühl des Überdrusses am Immergleichen, am Wechsel der Schuljahresphasen im Laufe der Jahreszeiten, unterbrochen durch um christlichentchristlichte Feste gelegte Ferien, aufkeimte und sich verfestigte. Zeitgleich begann der von „oben“ aus dem Ministerium verordnete Prozess der „Schulentwicklung“, der nun an jeder „eigenverantwortlich“ genannten Schule einzuleiten und ständig zu begleiten war – und der durch seine End- und damit Maßlosigkeit selbst in ritualisierten Routinen erstarrte; etwa in Form von Erarbeitungen und Abstimmungen von Vereinbarungen über kurz-, mittel- und langfristig zu erreichende Ziele. Gefordert wurde auch mehr Teamarbeit statt des traditionell verbreiteten Einzelkämpfertums; er selbst

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arbeitete zwar gern mit Kolleginnen und Kollegen zusammen, war aber charakterlich – wohl teils genetisch bedingt, teils ansozialisiert – eher ein Eigenbrötler, der notfalls nochmals das Rad erfand, um etwas ins Rollen zu bringen; der im stillen Kämmerlein vor sich hin brütete und aus sich heraus scheinbar Neues schuf. Daher empfand er, wie nicht wenige in seinem Kollegium, diese institutionalisierte Schulentwicklung als lästig; sie erinnerte ihn an die Jahre seiner Ausbildung, genannt Referendariat, als sein Hauptseminarleiter nicht abließ, die Ideale der Reformpädagogik zu preisen und dazu aufzufordern, sie eifrig umzusetzen – im ganz unreformerischen staatlichen Schulwesen. Das Schulwesen – das war ein gespenstisch anmutender Ausdruck; schon in einem der ersten Artikel des Grundgesetzes erschien es: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“ So schien dieses Wesen gleichsam gebändigt, trieb kein Unwesen, machte kein Aufhebens, spukte nicht, sondern weste vor sich hin. Auch private Schulen waren dem Staat und seiner Aufsicht unterworfen – er hatte selbst an einer solchen die Erfahrung gemacht, dass dort noch weitaus weniger „Reformpädagogik“ möglich war als an staatlichen Schulen. Und doch versprach der Begriff „Schulentwicklung“ etwas Reformerisches im Alltagssinn, also kein Zurück zum Alten, zur alten Form, sondern zu einer neuen, anderen: Dass sich Schule entwickeln müsse – irgendwie, irgendwohin – stand außer Frage; die Frage, ob Schule überhaupt noch einen Grund, einen Zweck („Schule weg – hat kein’ Zweck“ hieß es in einem populären Lied seiner Kindheit, in „Schule, nein danke!“ von „Dennis und die wilde 13“) und damit eine Berechtigung habe, blieb ungestellt. Die Notwendigkeit der Institution Schule stand außer Frage. Denn ihre Existenz wurde als natürlich angesehen. Schule bot, Schule war Beschäftigung, war Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, Arbeits- beziehungsweise Beschäftigungstherapie, Zeitvertreib. Zeitvertreib: Dieses Wort irritierte ihn schon lange, die ihm innewohnende Gewalt, als ginge es um eine ethnische Säuberung, einen Exorzismus. Warum, wozu, mit welchem Recht sollte, durfte Zeit vertrieben werden, durfte „sich jemand die Zeit (mit etwas) vertreiben“? Bedeutete der Vertreib, die Vertreibung der Zeit nicht schon beinahe, sie totzuschlagen? Lud die Zeit nicht eher zu Gestaltung, Gebrauch, Genuss ein? In der Schule verging die Zeit meist in Portionen von fünfundvierzig Minuten Unterrichtszeit mit möglichst viel „echter Lernzeit“, wie allenthalben gefordert wurde, unterbrochen durch Pausen von fünf bis zwanzig Minuten, mittags auch mehr. Eine allgemeine Mittagspause war schon für die unteren Gymnasialklassen nötig geworden, nachdem zu Beginn des jungen Jahrtausends beschlossen worden war, die jungen Menschen in weniger Zeit, ein Jahr schneller, zum Abitur zu führen – eine Entscheidung, die mittlerweile in vielen Bundesländern, auch in seinem, revidiert worden war. Schule, Lernen wurde in Zeit gemessen: Jeder Lernplan enthielt die Anzahl der

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für den „Stoff“ aufzuwendenden Stunden; auf jeder schriftlichen Leistungserhebung stand eine Zeitangabe; Lernenden mit Legasthenie oder anderen Beeinträchtigungen wurde als Nachteilsausgleich ein Zeitzuschlag gewährt, bis auf Bruchteile von Minuten berechnet. In der Schule verging die Zeit, sie wurde vertrieben – wirklich? Wurde die Zeit tatsächlich unnütz vertan, bloß „abgesessen“? Pauschal war diese Frage nicht zu beantworten. Gewiss fand in jeder Schule „guter Unterricht“ statt, welche Kriterien man auch immer für eine solche Beurteilung anwendete, in welcher Schulart auch immer – wobei das nach wie vor herrschende dreigliedrige Schulsystem das höher angesehene Gymnasium bevorteilte – und damit die meist ohnehin sozial privilegierten Lernenden. Grundsätzlicher ließ sich jedoch fragen: War guter Unterricht überhaupt möglich, war Gutes in der Institution Schule möglich? Gab es ein richtiges Lernen im Falschen? Diese letzte, alles entscheidende Frage beschäftigte ihn immer wieder, auf unterschiedlichen Bewusstseinsstufen und in verschiedenen Graden der Radikalität. Denn falls die Frage verneint werden musste, würde sie sein ganzes Leben in der Schule in Frage stellen, würde er – um nicht im Falschen weiter zu leben – ein neues Leben leben müssen, zumindest ein neues Berufs-Leben. Erst kürzlich war er auf Ivan Illichs „Entschulung der Gesellschaft“ gestoßen: „Entschulung ist [. . . ] die Grundvoraussetzung jeder Bewegung für die Befreiung des Menschen.“ Diese emanzipatorische Zielvorgabe hätte in den vergangenen Jahrzehnten durchaus erfolgreich sein können. Vielleicht lag ihre begrenzte Wirkung nicht zuletzt daran, dass diejenigen, die Entschulung theoretisch durchaus unterstützten, praktisch den geringsten Nutzen aus ihr zu ziehen glaubten: Illich selbst hatte festgestellt, dass die Schule für die Lehrer da ist, für ihre dauerhafte Beschäftigung. Warum sollten sie, für die dieses Schulsystem im ihr Leben sichernden Sinne funktionierte, es radikal in Frage stellen und seine Abschaffung betreiben? Warum sollte er es tun? Ihn hatten weite Passagen unmittelbar angesprochen: Er selbst gehörte zu denen, die die Schule lebenslang festhielt, wenn er auch immer (noch) der Illusion aufgesessen (gewesen) war, den Weg zurück in die Schule (war er jemals weg gewesen?) selbst gewählt zu haben; selbst dafür verantwortlich gewesen zu sein, Lehrer zu werden und jetzt schon über ein Jahrzehnt zu sein. Die Schulpflicht der Schüler war eine staatlich auferlegte Pflicht, die er nie ernstlich hinterfragt hatte – zum einen, weil er als Musterschüler nie unter ihr gelitten hatte (manche seiner Mitschüler hingegen durchaus, manche laut, manche still), zum anderen, weil sie ihm als historisch-logische Folge der Aufklärung erschien – obwohl: Hatte Kant nicht gerade die Selbst-Aufklärung gefordert, das Selbst-Denken statt des bequemen Sich-Verlassens auf leibhaftiges oder gedrucktes Expertenwissen? Ganz im Sound von Kants „Beantwortung der Frage:

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Was ist Aufklärung?“ klangen diese Worte von Illich: „Jeder von uns ist persönlich für seine Entschulung verantwortlich, und nur wir selbst haben die Macht, es zu tun. Keiner hat eine Entschuldigung, wenn es ihm nicht gelingt, sich vom Schulunterricht zu befreien.“ Entschulung – Entschuldung – Entschuldigung. Aber war es möglich, unorganisiert, anarchisch statt hierarchisch zu lernen, allein durch die eigene Erfahrung und die Erfahrung Älterer, die für bestimmte Fertigkeiten Experten des Alltags waren? Gab es tatsächlich verbreitet diese intrinsische Motivation, durch die das Lernen so viel lustvoller und dadurch effektiver zu werden versprach? Und wenn ja, war er mitverantwortlich dafür, dass sie auch an seiner Schule erstickt und immer mehr durch extrinsische Motivation ersetzt wurde, bis am Ende gar keine Motivation übrigblieb? Wenn er Illich richtig verstand, konnte selbst die beste Schule nicht ein Lernen fürs Leben ermöglichen – darum die radikale Forderung nach Entschulung. Tatsächlich hatte aber gerade im neuen Jahrtausend eine stärkere Verschulung stattgefunden, und zwar von oben nach unten: An den Universitäten hatte durch den „Bologna-Prozess“ unter dem Deckmantel der europäischen Vereinheitlichung von Studienstandards die Kreditierung von Leistungen Einzug gehalten, die ein sehr viel schnelleres, gezielteres, dadurch verengtes Studium mit für Deutschland neuartigen Abschlüssen verlangte; die Gymnasien zogen nach, indem sie nicht nur die Zeit zum Abitur verkürzten (wenn dies auch, wie erwähnt, mittlerweile widerrufen worden war), sondern auch die Anforderungen stärker definierten, Prüfungsfächer wie Mathematik, Deutsch und Fremdsprachen vorschrieben und so (Wahl-)Freiheit und interessengeleitete Spezialisierung massiv einschränkten; Grundschulen sollten nicht zurückstehen und bauten ihrerseits verstärkt Druck auf, sodass der Übertritt am Ende der vierten Klasse im Volksmund „Grundschul-Abitur“ genannt wurde; schon in den Kindergärten wurde schulvorbereitender Unterricht Pflicht. Der alles beherrschende Begriff hierfür war „Bildung“, der von Illich im Gegensatz zu „Schule“ eher positiv verwendet wurde. Im aktuell herrschenden Diskurs stand indes gar nicht in Frage, dass Bildung nur über Schule, in welcher Form auch immer – von der Vorschul- bis zur Nachschulzeit – realisierbar sei. Relativ neu war dabei, so empfand er es jedenfalls, die von nicht wenigen Pädagogen erhobene Forderung nach „digitaler Bildung“. Darunter wurde meist der Erwerb von Fähigkeiten zur Nutzung digitaler Medien und der von ihnen transportierten Informationen verstanden. Ein Vierteljahrhundert nach Beginn der weltweiten Verbreitung des Internets in der benutzerfreundlichen Form des World Wide Webs erschien die Digitalisierung von Schule und Lernen überfällig. Dabei sollten jetzt Techniken und Methoden in die Schule einziehen, die außerhalb ihrer – teilweise im universitären Kontext, teilweise ganz unabhängig von Bildungsinstitutionen – entwickelt

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worden waren. Die Nutzung von Internetforen ermöglichte es Menschen, ohne physische Verbundenheit über ein gemeinsames Thema miteinander zu kommunizieren und sich über Fertigkeiten auszutauschen bzw. in Tutorial-Videos Fertigkeiten zu erklären und vorzuführen – dies entsprach den schon 1971 von Illich in „Entschulung der Gesellschaft“ unterbreiteten Vorschlägen einer Demokratisierung der Bildung, der Entzauberung der Bildungseliten, die sich nichts mehr auf einen mehr oder weniger enzyklopädischen Wissensschatz einbilden konnten, höchstens noch auf eine einigermaßen originelle Aufbereitung und Vermittlung. Auch analog waren Formen und Foren gemeinsamer Nutzung und Austausch langsam (aber sicher?) auf dem Vormarsch: Carsharing, Tauschringe, Repair-Cafés, Gemeinschaftsgärten. . . Waren wir auf dem Weg (zurück?) in eine Kultur der Vernakularität? Das Internet jedoch war für ihn und andere spätestens mit dem Web 2.0 entzaubert: Würde Illich noch leben, hätte ihm die immer weiter fortschreitende Kommerzialisierung und Überwachung des Internets sicher gar nicht gefallen; auch nicht die marktbeherrschende Stellung einiger weniger Social-Media-Konzerne, die mit Werbung und den Daten ihrer Nutzer viel Geld machten, aber wenig bis gar keine Steuern zahlten; erst recht nicht die mehr oder weniger subtilen Methoden der Manipulation von Meinungen, die zu einer ernsten Bedrohung der Demokratie wurden. Bei der Digitalisierung in der Schule war ebenfalls große Vorsicht geboten: Was würde mit – unter dem Vorwand von Transparenz und individueller Förderung erhobenen – Daten von Lernplattformen, speziell von Schüler-Lernprofilen, geschehen? Wer sollte auf diese Zugriff haben dürfen? Und wie konnte einem Missbrauch vorgebeugt werden? Fragen, auf die auch gut gemeinte Datenschutzrichtlinien keine klare Antwort gaben. Und wie sollte er dem enormen Suchtpotential der digitalen Medien mit seinen intellektuellen, emotionalen und sozialen Folgen begegnen? Ein zehnjähriger Schüler hatte unlängst seine Fertigkeiten im Erstellen von Online-Videos mit der Dokumentation seines exzessiven Spielens bewiesen... Sehr viel weitreichendere Konsequenzen für Schule, Lernen und Leben kündigten sich bereits mit dem „Internet der Dinge“ an, mit Robotern, allgemein mit künstlicher Intelligenz. Welche Rolle, welche Berechtigung würde der natürlichen, wenn auch durch das Leben geformten Intelligenz der Menschen bleiben? Eine kooperierende, eine dienende oder eine im Bedientwerden in apathische Passivität ein- und entschlummernde? Darüber hatte er schon des Öfteren gegrübelt, dabei meist in dystopische Stimmung verfallend. Ganz unabhängig vom Grad der Digitalisierung und Technisierung musste er für das Hier und Jetzt feststellen: Die Distanz zu Illichs Vorstellungen von Bildung ohne Schule war unüberbrückbar, unendlich weit. Der von der Schule ausgeübte Einfluss auf die geistige, seelische und körperliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen

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kam zwar meist harmlos und mit den besten Absichten daher, war dadurch aber umso wirksamer und längst nicht immer positiv. Das vorgegebene Schema der Pflicht, zehn Jahre zur Schule zu gehen, bestimmte die Biografien und ließ keine Alternativen zu. Im gerade ablaufenden Schuljahr wurde er mehrfach mit noch eher jungen, die Schulpflicht noch längst nicht erfüllt habenden Kindern konfrontiert, die von starken Depressionen geplagt wurden. Diese konnten durchaus multikausal erklärt werden, waren aber von der Schule nicht zu trennen. Ein Hochbegabter hatte die vierte Klasse und damit das erwähnte Grundschul-Abitur übersprungen und begann sich jetzt am Gymnasium zu langweilen – nicht so sehr, weil alles so leicht gewesen wäre, sondern weil es Schule war und nichts anderes: Er hatte existenziell keine Lust auf Schule. Ein Mädchen hatte während der vierten Klasse seine Mutter verloren und sich danach – für sie – so angestrengt, dass es doch noch den Übertritt aufs Gymnasium geschafft hatte. Aus dem Modus, für die tote Mama alles zu geben, kam es nicht mehr heraus und musste erkennen, dass es in Latein mit seinem Latein bald am Ende war: Es geriet in den von Viktor Frankl in seinem Buch „Der Wille zum Sinn“ beschriebenen Teufelskreis aus Hyperintention und Hyperreflexion, verkrampfte und erntete Misserfolge. Als Ausweg suchte es die Verweigerung, zunächst gegenüber dem einen Fach, dann der Schule als Ganzer gegenüber. Letal endete das Leiden einer geistig allzu Frühreifen, für die, dem Zeugnis ihres Pfarrers zufolge, das Leben außerhalb der Religion – also auch und vielleicht besonders das Leben in und mit der Schule, für die Schule – keinen Sinn (mehr) hatte. Im Kollegium wie in der Klasse, in weiten Teilen der so genannten, aber kaum gelebten „Schulgemeinschaft“ rief die Selbsttötung dieser Schülerin die erwartbare große Bestürzung hervor; im Stillen dachten sich sicher nicht wenige einiges mehr: dachten an eine Mit-Verantwortung, wenn nicht gar Mit-Schuld ihrer selbst sowie anderer Mitglieder der „Schulfamilie“ – so die noch mehr Intimität vortäuschende Bezeichnung. Schuld durch Gleichgültigkeit, Schuld durch Ignoranz verschiedener Ausprägung: Nicht-Handeln trotz Etwas-Bemerken, Etwas-Bemerken und Nicht-Verstehen, Nicht-Bemerken, Nicht-Kennen, Nicht-Kennen-Wollen, eine von über 800. Solche Gedanken hegte auch er, der sie tatsächlich nicht gekannt, nicht „gehabt“ hatte und doch. . . Und dann der Gedanke: Es könnte jeder machen und das System, die Institution würde, könnte es nicht verhindern. Auch hier sollte, musste die Show weitergehen, nach einer Woche Krisenpädagogik (immerhin: der Test zur Weltsicht des Barock wurde der betroffenen Klasse erlassen, er hätte wie die Faust aufs Auge gepasst). Nachahmer-Effekte im Werther-Stil sollte es nicht geben, verständlich: Wer will das schon, ständig junge Menschen zu Grabe tragen – es wäre möglich. . . Denn das selbst herbeigeführte Ende der physischen Existenz konnte nur die Konsequenz einer vorhergehenden Fehlentwicklung sein, von der Illich schrieb: „Indem die Schu-

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le die Menschen dahin bringt, auf die Verantwortung für ihr eigenes Wachstum zu verzichten, treibt sie viele zu einer Art von geistig-seelischem Selbstmord.“ Musste es erst eine Reihe von Suiziden geben, damit sich etwas änderte? (So, wie einige Wochen später in den USA ein weiterer Highschool-Amoklauf erstmals Massen auf die Straßen brachte und – nichts weiter: drei Monate später der nächste Amoklauf.) Wie viele Schülergehirne dachten einen Suizid, fanden nicht den Mut dazu, und wie oft wirkte die Schule dabei mit? Der Suizid der Schülerin ließ vielfältige Erinnerungen an die Selbsttötung eines Kollegen zwölf Jahre zuvor wach werden; im selben Monat und auf die gleiche Art (auf einem Gleis). Streng genommen war dieser Kollege nie sein Kollege gewesen, denn er kam erst acht Monate nach diesem Ereignis an das Gymnasium, in einem Fach quasi als sein Nachfolger. Erfahren hatte er von dem Ende dieses allseits beliebten, geachteten und für die extrem hohe Qualität seiner Arbeit von vielen bewunderten, von manchen belächelten Lehrers nach den ersten zwei Monaten seiner Tätigkeit. Den Namen hatte er mehrfach im Jahresbericht des dem Suizid vorausgegangenen Schuljahres gelesen. Da er ohnehin viele neue Namen lernen musste, fiel ihm das Fehlen dieses Namens zunächst nicht auf. Erst als im November der aufkommenden Kälte wegen die sonst stets offenstehende Tür zum Lehrerzimmer geschlossen wurde, kam das dahinter an der Wand hängende, gerahmte Schwarz-Weiß-Foto zum Vorschein. Und damit die Fragen, die Erinnerungen. Ein Kollege gab zu, dass der Betreffende auf einer Schülerfahrt zum Gardasee ihm und anderen vertraulich mitgeteilt habe, dass er an Depressionen litt – keiner habe ihn mit seiner Aussage ernst genommen, so wenig passte es zu seinem üblichen Auftreten. Zum Jahrestag des tragischen Ereignisses richtete jemand einen (gerade renovierten) Raum des erneuten Abschiednehmens ein. Im Zuge der Verlegung des Lehrerzimmers fand auch das Foto einen neuen Platz an der Wand eines Durchgangs, bis die das Foto schützende Glasscheibe infolge einer Schülerrangelei zerbrach – worauf das Bild von der Schulleitung irgendwohin entfernt wurde. Spätestens ab diesem Moment wurde die Erinnerung unlebendig: Im Kollegium wurde zweimal im Jahr ein Sparschwein gemästet, mit dem die fünf Kinder des Toten in ihrer musikalischen Ausbildung unterstützt werden sollten; als nach neun Jahren immer weniger Mitglieder des Kollegiums den Suizidenten kannten, wurde dieses Ritual jedoch eingestellt. Ein besonderes Erlebnis hatte er, der Teil-Nachfolger, noch beim Durchforsten eines dicken Aktenordners mit vergilbten Aufgabenblättern schriftlicher Leistungsnachweise: Dort fanden sich auch zahlreiche Arbeiten dieses Pädagogen, die zwar getippt waren, aber dennoch eine „persönliche Handschrift“ trugen – in Form eines liebevollen, fürsorglichen Hinweises an die Schüler, sich Zeit zu nehmen – Zeit, die Aufgaben gut zu durchdenken, bevor sie etwas zu Papier brachten.

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In einer Konferenz beklagte ein älterer Lehrer, dass der Verlust dieses Kollegen nie richtig aufgearbeitet worden sei – die Chance bot sich jetzt aktualisiert: Was an der Schule, vielleicht auch an diesem speziellen Gymnasium, das so vielfach als angenehm empfunden wurde – gerade von Referendaren, die den Vergleich mit anderen Schulen im Laufe ihrer Ausbildung zogen –, was fehlte oder was war da, das Einzelne dazu brachte oder nicht daran hinderte, sich das Leben zu nehmen? Warum war die Schule für sie kein so starkes Argument, da zu bleiben, wenn nicht gar eine Verstärkung des Wunsches zu gehen? Von den Todesfällen abgesehen: Wie viel Leid blieb ohne sichtbare Folgen, blieb unausgesprochen, unbemerkt? Und war doch da, für die Leidenden. Schule könnte doch so gut und schön sein! Schole, scholé – wörtlich die Muße, die Freiheit von Arbeit, Mühe und Geschäft(-igkeit). In der Oberstufe schien sie trotz allem Leistungsdruck durch. Sich mit Geistigem an sich befassen, statt körperlich oder geistig für Geld zu arbeiten. Aber war Schule nicht noch weltfremder als ohnehin, wenn sie die jungen Menschen in gebrauchs- und tauschwertfreie, nutzenlose, ihren Zweck allein in sich selbst findende Diskurswelten entführte? In Alexander Kleiders Dokumentarfilm „Berlin Rebel High School“ über die alternative private „Schule für Erwachsenenbildung“ definierte ein Lehrer Schule als einen geschützten Raum, abgegrenzt gegen das Effizienz- und Leistungsdenken der kapitalistischen Welt draußen. Anders als an Regelschulen bestimmten die jungerwachsenen Schülerinnen und Schüler, die es woanders nicht ausgehalten, nicht geschafft hatten, an der SFE alles mit, auch die Inhalte und die Art des Lernens. Allerdings gab es zugleich ein fremdbestimmtes Ziel namens Abitur, auf Grundlage des wiederum staatlich institutionalisierten Lehrplans, mit acht Prüfungsfächern! Dass die Lernenden für sich und andere Verantwortung zu übernehmen lernten, stellte zudem wohl nicht die schlechteste Vorbereitung für die Anforderungen der heutigen (globalisierten Arbeits-)Welt dar: Selbstkompetenz, insbesondere Selbstdisziplin, Selbstorganisation und Frustrationstoleranz; Sozialkompetenz, das heißt Teamfähigkeit, Empathiefähigkeit und Toleranz abweichenden Meinungen und Lebensweisen gegenüber. Also: Lernen fürs Leben! Wie leben? In welcher Welt, in dieser? Wie in dieser Welt leben? *** Die Unterwelt, der Untergrund, die Halbwelt. . . Ihm bisher unbekannte Orte, UnOrte. Und neben den realen Un-Orten, (Un-)Welten zunehmend fiktive, fiktionale, digitale, virtuelle – mit und ohne virtutes. In welcher Welt lebten wir?

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„Aber ich will nicht in diese Welt gehören. . . “ In welche Welt wollte Ivan Illich nicht gehören? In die Leibniz’sche „beste aller möglichen“, in der wir – oberflächlich betrachtet – sind, leben, existieren, vegetieren? Die Welt, in die, zu der auch Schule gehört, immer noch dazu gehört, immer noch mehr statt, wie von Illich erwartet, weniger? Ja, so ist es wohl zu verstehen. Aber wenn nicht in diese Welt gehören, in welche dann? Oder ist hier nicht eher die Frage nach dem „Gehören“ gestellt, nach dem SichGehören, der Hörigkeit, dem Gehorsam, der Ein-Fügung, der An- und Ein-Passung, der Unter-Werfung oder Unter-Drückung? Und müsste dann die Antwort lauten: Aber ich will nicht in diese Welt gehören, sondern ich will in dieser Welt leben? In welcher Welt wollte er heute leben? Hatte er (noch – überhaupt jemals – mehr als zu Illichs Lebzeiten?) die Wahl, die Gestaltungsmöglichkeiten, die Gestaltungsmacht (Macht von machen!) gegenüber der Welt? Oder war die Welt schon fertig(-gemacht) beziehungsweise fand das Machen, das Fabrizieren der Welt außerhalb seiner Verfügung, seines Eingreifens, ja sogar außerhalb seiner Wahrnehmung statt und er stellte nur, wenn überhaupt, post festum die Ergebnisse dieses Machens, dieser Machenschaften, also die Machwerke fest? (Was hieß überhaupt fest-stellen? Etwas an eine Stelle fest (hin-)stellen, sodass es unbeweglich, unveränderlich wurde? Im Unterschied zum Her-Stellen, das noch die Dynamik des Machens in sich trug, die Fortbewegung zu der Stelle des Fest-Stellens.) Das Gefühl realer Ohnmacht war für ihn und viele seiner Mitmenschen in den vergangenen zwei Jahrzehnten größer geworden, wobei er sich persönlich nicht sicher war, ob sich in ihm nicht eher Idealismus zu Realismus gewandelt hatte. Zu seiner Schulzeit hatten sich ihm die Welt und die gesellschaftlichen Prozesse in ihr noch als von Menschen guten Willens formbar gezeigt oder zumindest angefühlt: die Massenflucht aus der DDR und die Massenproteste in der DDR, die „Wende“ beziehungsweise „friedliche Revolution“, die zur Entscheidung der Grenzöffnung, zum „Mauerfall“ und letztlich zur deutschen Wiedervereinigung geführt hatten; die ebenfalls weitgehend friedliche Abschaffung der Apartheid in Südafrika; die Oslo-Abkommen, die Hoffnung auf eine Lösung des „Nahost-Konflikts“ hegen ließen. Doch zeigten sich in der Folge nicht nur die dabei jeweils ungelösten Probleme – es kamen vielmehr neue Probleme dazu und entstanden weitere Krisenherde: Der Prozess der „Globalisierung“, für die einen verheißungsvoll, für die anderen grauenerregend, wurde für alternativlos erklärt und damit zu etwas Über-Gesellschaftlichem, Über-Menschlichem, so als habe Gott allein seine Hände im Spiel (und viele glaubten, dass es so sei!); dennoch waren es reale Menschen und Gesellschaften (im ökonomischen Sinne), die diese Globalisierung betrieben. Er konnte sich noch des „Politischen Aschermittwochs“ des Jahres 1998 erinnern, als er neben der Passauer (damals noch) „Nibelungenhalle“ auf einer impro-

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visierten Mini-Bühne zuerst einem gewissen Joseph Fischer und dann – viel wichtiger – einer Wirtschaftsprofessorin (er hatte ihren Namen vergessen) zuhörte, die vor dem MAI warnte, dem geheim ausgehandelten und kurz vor der Fertigstellung stehenden „Multilateralen Abkommen über Investitionen“, das im Laufe dieses Jahres ziemlich geräuschlos zu Grabe getragen wurde – um über ein Jahrzehnt später als TTIP, CETA & Co. ungleich größer aufzuerstehen, diesmal wesentlich wilderen Widerstand weckend, der aber an der Phalanx der Alternativlosigkeit behauptenden transatlantischen Politiker zu zerschellen drohte. Da wurde – für viele völlig überraschend – Donald Trump US-Präsident, der mit seiner protektionistischen Linie dafür sorgte, dass das TTIP vom Verhandlungstisch flog. Triumph des Voluntarismus! Sand im Getriebe, Knüppel zwischen die Beine, alle Räder stehen still? Nicht übertreiben, der Prozess der Globalisierung, der, wie Beruhigung heischend versichert wurde, ohnehin schon seit Jahrhunderten vor sich ging (seit Marco Polo, Kolumbus etc.), würde sich nicht so schnell stoppen oder gar umkehren lassen, für ihn galt offenbar, was Honecker zu Unrecht für den Sozialismus beansprucht hatte. Und die Schule erfüllte eine ganz wesentliche Funktion in der Globalisierung, für die Globalisierung – in Illichs Worten, nicht nur auf kapitalistische Gesellschaften bezogen: „Die Schule ist das geplante Verfahren geworden, das den Menschen für eine geplante Welt zurechtschleift: das wichtigste Werkzeug, um den Menschen in der Falle des Menschen zu fangen. Angeblich soll sie den Menschen auf ein Niveau bringen, das ausreicht, damit er in diesem Weltspiel eine Rolle spielen kann. Unerbittlich kultivieren, behandeln, produzieren und schulen wir die Welt aus der Welt.“ Schule als handfeste, rabiate methodische Vorbereitung für das Weltspiel. Das Weltspiel als vom Menschen für den Menschen gemachte Falle, als unentrinnbares Lebensgefängnis in scheinbarer Freiheit – und zugleich als Mittel, die natürliche Welt kulturell verschwinden zu lassen. Die Kultur als zweite Natur des Menschen wie der Welt, die aber die erste Natur bis zur Unkenntlichkeit überlagert. Kennen wir sie noch, unsere erste, ursprüngliche Natur? *** Er lernte sie jetzt kennen, die unkultivierte Natur oder eher die renaturierte beziehungsweise aktiv: die sich selbst renaturiert habende Natur, denn auch dieser Sumpf war schon einmal trockengelegt, „kultiviert“ worden, bevor er jetzt sehr rasch in seinen Ursprungszustand zurückgekehrt war. Dazu fiel ihm ein: In München hatte er einige Jahre in der „Kulturheimstraße“ gelebt und dort eine Zeit lang nach einem „Kulturheim“ – für die Heimatkultur – Ausschau gehalten. Sollte es der altmodische Gasthof sein? Der Stadtplan wusste, dass der Teil des Bezirks „Kulturheim“ hieß; der

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Ausdruck erinnerte ihn allerdings eher an sozialistische Staaten – bis ihm ein Nachbar erklärte, dass sich hier im vergangenen Jahrhundert Menschen ihr(e) Heim(at), ihren Grund und Boden kultiviert hatten, durch Trockenlegung der relativ isarnahen Wiesen. Immer noch galt die Gegend als feucht-fruchtbar; manche klagten über feuchte Keller und darüber, dass in ihrem Garten immer wieder Bäume zu wachsen anfingen, die Natur sich selbständig machte. Hatte Natur (k)ein Recht auf Autonomie? Hatte die Natur Recht? Gab es Naturrecht? Oder gab es „Naturrecht“ nur für den Menschen, als Menschenrecht(e)? War demnach nur der Mensch Natur? Beziehungsweise war die Natur des Menschen die einzige Natur, die zählte, die Recht, Recht auch über die nicht-menschliche Natur beanspruchte? Macht, gemacht, gegeben vom Menschen für den Menschen. Aber war „der Mensch denn mehr wert wie der Wurm?! Die Amöbe, das Geschnetz, die Suppe?“ Diese Worte aus Helge Schneiders „Philosophie“ kamen ihm in seiner augenblicklichen Lage, besser auf seinem augenblicklichen Standpunkt, ganz anschaulich vor Augen – soweit die Augen blickten. In jede Richtung eine amorphe, dumpfe, dünstende – Substanz – ihm fiel kein besseres Substantiv dafür ein. Substanz war natürlich das falsche Wort, denn dieses Etwas, durch das er stundenlang gewatet war, hatte keine Substanz, war keine Substanz, war das Gegenteil von Substanz, vielmehr ständige (das schon!) Auflösung, Zersetzung von Substanz. Der Horizont eine überall gleich dünne, kaum erkennbare Linie zwischen dem Dunkelgrau des amorphen Etwas, behelfsweise „Sumpf“ genannt, und dem Mittelgrau des vollkommen geschlossenen Himmels, an dem nicht einmal Wolkenschichten zu unterscheiden waren. Hier schwirrten auch keine Insekten mehr, von Vogelflug ganz zu schweigen: Die Luft stand. Die Luft war Substanz. Nunc stans! *** „Ich will mich in ihr [= dieser Welt] als Fremder, als Wanderer, als Außenseiter, als Besucher, als Gefangener fühlen. Ja, ich spreche von einem Vor-Urteil, von einer Haltung, nein, nicht einer Haltung, meiner Haltung. Einem Grund, auf dem ich stehe, auf dem ich bestehe. . . “ Illich stand, bestand auf einem Grund. Ein Grund, der Halt, also sicheren Stand gab, Haltung gab, ihm seine Haltung gab; ein Grund, der selbst in der Haltung bestand, der diese Haltung war – Substanz. Zugleich ein VorUrteil, ein Stand-Halten, Stellung-Halten und Stellung-Nehmen vor einem Urteil. Also doch nicht so fest(-gestellt? -gelegt?), eher ausprobierend, austarierend, ausbalancierend, ob der Grund auch trägt. Denn die Haltung zur Welt, der Stand in der Welt erschien fragil: Es war der selbstgewählte Status eines Nicht-dazu-Gehörenden, eines Zaungastes, der von außen beobachtet, reflektiert. Aber halt! Illich sprach vom Sich-fühlen-Wollen, also nicht von einem tatsächlich existierenden Status, sondern

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von einem gefühlten, nein: von einem gewollten Gefühls-Status. Also auch nur von einem gefühlten Vor-Urteil, einer gefühlten Haltung, einem gefühlten Grund? Wozu das „Nur“? Besser ein gefühlter Grund als gar keiner! Und wie anders als durch Fühlen, Spüren, Tasten, Treten konnte ein Grund erfasst werden? Haltung: ein Körpergefühl, das Geist und Seele Sicherheit gab, Gleichgewicht. Das Vor-Urteil als zuerst gefühltes Urteil, bevor die Ratio nach Begründungen suchte. Nach dem heute Erlebten konnte er Illichs Worte besser nachfühlen. Er war jetzt in der Welt, in dieser Welt ein Fremder, ein Welt-Fremder. Jetzt erst? War er es nicht sein Leben lang schon gewesen? Seine Mutter hatte das Wort „weltfremd“ wohl als Erste ihm gegenüber gebraucht, den genauen Zusammenhang wusste er nicht mehr, es muss in einem Streit während seiner Pubertät gewesen sein, vielleicht auch schon früher, sicher um etwas, das mit Werten zu tun hatte, eventuell mit Umweltschutz, mindestens mit Mülltrennung, die damals gerade begann sich zu etablieren, in einem Haushalt mehr, im anderen weniger, bei einer Person im Haushalt mehr, bei einer anderen weniger. In der Schule hatte er sie gelernt und versuchte sie nun zu Hause einzuführen. Er hatte „weltfremd“ als sehr harten Vorwurf empfunden, und so empfand er es noch, als Ausdruck, der bedeutete: grundsätzlich geschieden von der menschlichen Gesellschaft, von der Menschheit und ihrer Welt, und das aus eigener Schuld, aus eigenem falschen Denken und Handeln, auch aus eigener Ungeschicklichkeit und Unbeholfenheit, sich in der Welt zurechtzufinden. Später begegnete ihm das Wort nicht mehr so persönlich (zumindest hatte er keine Erinnerung daran), dafür gruppen- oder haltungsbezogen: Die sind doch weltfremd! Das ist doch weltfremd! Immer radikal abwertend, schlimmer als „Blödsinn“, „Quatsch“ oder „Schwachsinn“, die immerhin entschuldbar, sogar niedlich sein mochten. Schlimmer auch als „das Letzte“, „das Böse“ – hier war keine beziehungsweise eine total negative moralische Qualität vorhanden, also musste man sich damit nicht mehr ernsthaft beschäftigen und im Zweifelsfall die Staatsorgane einschreiten lassen. Nein, „weltfremd“ war ein TotschlagArgument, eine Abwehrreaktion, die verhindern sollte, sich mit der als „weltfremd“ bezeichneten Haltung auseinanderzusetzen. Warum? Weil ein Gefühl dafür da war, dass der „Weltfremde“ Recht haben könnte oder zumindest nicht ganz falsch lag. So jedenfalls würde er es beschreiben, denn auch er hatte dieses Wort schon in Bezug auf andere(s) gedacht, wenn auch nicht gesagt, zu seinem aktiven Wortschatz gehörte es nicht. Von Illich stammte der Satz: „Die Bildung wird weltfremd, und die Welt wird bildungsfremd.“ Auch hier ein aufs Ganze zielender Vorwurf: Das, was ihr da macht und „Bildung“ nennt, trennt sich von der Welt, trennt euch von ihr, hat mit der Realität und ihren Erfordernissen nichts zu tun. Und zugleich sorgt ihr dafür, dass die Welt, die meisten Menschen, gar nicht gebildet werden, im positiven Sinne des Wortes:

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gut und vielseitig orientiert, mit körperlichen, geistigen und seelischen Fähigkeiten ausgestattet, die zum Leben notwendig sind. Ihr entfremdet euch von den anderen, von der Mehrheit der menschlichen Gesellschaft. Eure Bildung ist so abgehoben, so im Elfenbeinturm, wenn nicht gar im Wolkenkuckucksheim, so weit weg vom Weg der Welt. Nun hatte er aber einen Gedankensprung von „Fremder“ zu „Weltfremder“ gewagt, der nicht völlig abwegig erschien, aber doch nicht Illichs Wortlaut entsprach. „Fremder in der Welt“ schien bei ihm durch das vorangestellte „Ich will“ besser konnotiert als „weltfremd“. Wobei sich als Fremder in der Welt, in dieser Welt fühlen eine existenzielle Frage aufwarf: Wo, wenn nicht in dieser Welt, sollte ein Mensch denn un-fremd, heimisch sein beziehungsweise sich fühlen? Fremdsein meinte heimatlos sein. Heimat hatte „wieder“ Konjunktur in Deutschland: Zuerst in Bayern, dann auch auf Bundesebene waren in jüngster Zeit „Heimatministerien“ geschaffen worden. Die Menschen, genauer die Bürger, genauer die deutschen Staatsbürger, sollten sich – verunsichert durch die vielfältige, grenzenüberschreitende Unbill der Globalisierung – stärker mit ihrem Wohnort, ihrer Region, ihrem Land, ihrer Nation, ihren Werten identifizieren. Wert war ein schönes Wort: Was bin ich dir wert, wie wertschätzt du mich, wie hoch schätzt du meinen Wert? Werte gab es viele: Geldwerte, Goldwerte; ideelle, ethische, moralische Werte, weitgehend ungelebt, aber vor sich hergetragen wie ein Schild, als Präsentierteller und Abwehrinstrument; Werte, deren Einhaltung (bzw. dessen Erlernen) von allen Fremden selbstverständlich eingefordert wurde. Überhaupt: (kollektive) Identität, identitär. „Dahoam is dahoam!“ war „in“. Und das in einer Zeit, in der mehr als eine Million Menschen in Deutschland eine neue Heimat suchten und nur wenige fanden, finden durften. Zu einer neuen Heimat sollten auch neue Freunde gehören. Dass aus Fremden Freunde wurden, geschah, ja, durch viele freiwillige, „ehrenamtliche“ Helfer, die sich in „Helferkreisen“ semiinstitutionalisierten, um als Ansprechpartner für die staatlichen Institutionen zu fungieren. Es überwogen jedoch die Feindschaften, der Hass auf sich selbst wurde auf die Menschen aus Afrika und Asien projiziert, die „Kulturfremden“. Die Fremden hielten den vorgeblich Einheimischen den Spiegel ihres Eigenen, ihres eigenen Egoismus vor. Von einzelnen Straftätern – abenteuerliche abendländische Alliteration: „afghanische Axt-Attacke“ (Andreas Scheuer) – auf alle Neuankömmlinge schließend, sahen viele Einheimische in ihnen nur noch potenzielle Terroristen. Die Amtssprache nannte sie Gefährder oder Identitätsverweigerer beziehungsweise -fälscher, wenn sie über ihre individuelle Identität keine oder keine zutreffende Auskunft gaben. Sie sollten möglichst bald in ihre (zerbombte, terrorisierte, ausgebeutete, also im mehrfachen

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Sinn verwüstete!) „Heimat“ rückgeführt, zuvor in Lagern konzentriert werden, die aber nicht Konzentrationslager heißen durften. Die ankommenden Menschen wurden auch als ((Bürger-)Kriegs-, Wirtschafts-, Armuts-, Klima-)Flüchtlinge bezeichnet – oder, wenn sie schon, wenigstens körperlich, angekommen waren: Geflüchtete; Asylbewerber, Asylsuchende oder „im Volksmund“ Asylanten; Geduldete, subsidiär Schutzberechtigte; ganz allgemein: Migranten, oft spezifiziert (und dadurch von den einen legitimiert, den anderen diffamiert) als Arbeitsmigranten, je nach Perspektive Emigranten oder (meist) Immigranten, illegale Migranten. Migranten – das hieß doch nichts weiter als Wanderer, Ein- und Aus-Wanderer, Zu-Wanderer! Im Februar 2016, auf dem Höhepunkt der „Flüchtlingskrise“, als auch alarmistisch von einer neuen „Völkerwanderung“ geredet wurde, hatte er in der Zeitung „Le monde diplomatique“ einen sehr interessanten Artikel namens „Lust auf eine gemeinsame Welt. Ein futuristischer Entwurf für europäische Grenzenlosigkeit“ gelesen, deren Autoren Ulrike Guérot und Robert Menasse – auch mit historischen Argumenten – vorschlugen, die Migration, das Wandern in Europa für alle Menschen, ganz frei zu erlauben. Im Freitag war Daniela Dahn erst kürzlich, zum Sommeranfang 2018, in ihrem Essay „Willkommen und Abschiebung“ noch weiter gegangen, indem sie die freie Wahl des Wohnorts für jeden Menschen als „Fernziel“ postulierte, das Prinzip der Grenzenlosigkeit konsequent zu Ende denkend. Sehr futuristisch, utopisch. Denn mittlerweile war die Stimmung gegen die Migranten immer mehr gekippt; die europäischen Staaten, jetzt auch Deutschland, organisierten nur noch ihre jeweils eigene und dadurch kollektive Verantwortungslosigkeit. Die „Festung Europa“ wurde immer fester befestigt. Tautologie der Tautologie. Schutz der Außengrenzen, Schutz der Binnengrenzen, Begrenzung der Zuwanderung, Eingrenzung, Grenzung, Grenzzaun, Grenze, Grmpf. Was war der Mensch? Ein Wandrer ohne Rast, an allen Orten Gast. Wandernd auf der Welt, auf der Erde unterwegs sein: Solange das nicht unter Druck stattfand, wie auf der Flucht, oder wie aktuell in diesem grenzenlosen Sumpf, konnte es doch ganz angenehm sein. Romantisches Motiv, Posthorn, Eichendorff. Als Gesell in schmucker Tracht unterwegs. Als Nomade von Oase zu Oase. Als Pilger auf der Wallfahrt zu einer für heilig erklärten Stätte, nach dem Kerkeling’schen Motto „Ich bin dann mal weg!“ Rückwärts nach Altötting! („Heimat!“) Bergwandern, Flusswandern, Mäandern, Meerwandern? Allein oder mit anderen (fremden?) Menschen wandern, zu Menschen wandern, von dem einen zur andern, neue Freundschaften schließen, sich verlieben, Abenteuer erleben. Ziellos streunend, umherschweifend, vagierend, vagabundierend. . . Wanderlust! Dafür war es nicht einmal nötig, seine Glieder zu bewegen, außer den Fingergliedern auf der Tastatur: das Wandern als Surfen, Navigieren.

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Es war aber auch möglich, allein die Gedanken auf die Reise, auf Wanderschaft zu schicken. Nicht an einem Fleck kleben bleiben, nicht immer einer Idee, einer Ideologie, Theorie, Philosophie anhängen, von ihr abhängen, abgehängt werden – nein: geistig beweglich sein, ohne dabei das Fähnlein nach dem Wind zu hängen, auf guten Wind hoffend; auch gegen den Strom schwimmen, sich gegen den Sturm stellen, stemmen, standhalten, wenn möglich gegen ihn sich vorwärts drücken, nur nicht mit dem Kopf durch die Wand. Und nicht die Leichtigkeit des Wanderns verlieren, das Hier- und Dorthin-Blicken, -Horchen, -Riechen, -Schmecken, -Tasten. Wandern: überall und nirgends zu Hause zu sein, die Welt als liebens-, achtens-, schützenswerte Heimat begreifen, ohne übergriffig zu werden. Doch ach, die Überforderung, wie in allen Universalismen: Liebe deine(n) Nächste(n) – übrigens: wie dich selbst! Und wer ist dieser Nächste (ganz unabhängig von seiner Geschlechtsidentität)? Der mich, wie Emmanuel Lévinas in seinem Werk „Totalität und Unendlichkeit“ schrieb, so anblickt, mir als der Andere sein nacktes Antlitz offenbart, dass ich nicht anders kann, als ihn als meinen Nächsten zu sehen, ihm sein Nächster zu sein und mich ihm zuzuwenden? (Und das ohne Institutionen der (Entwicklungs-)Hilfe – Entwicklung wohin und wozu? –, Institutionen, die in Illichs Wahrnehmung statt Gutes zu vollbringen corruptio optimi begehen.) Doch jeder ist mein Nächster, potenziell, auch der oder die Fernste: Einfach mal die Welt retten, und wo anfangen, vor der eigenen Haustür? Kehren? Kehr um! Ändere dein Leben, dann änderst du die Welt. „Mich wählend wähle ich den Menschen“, meinte Sartre in „Der Existentialismus ist ein Humanismus“. Und wo blieb das Wandern? Konnte Wandern die Essenz des/eines/meines/deines/seines Lebens sein? Bestand nicht die Gefahr, dass konsequentes Wandern zu extremer Rastlosigkeit, auch zu Ratlosigkeit, politischer, existenzieller, transzendentaler Obdachlosigkeit führte? Und zu einer mobilen Form des Außenseitertums? In die „ganze“ Welt gehören und gleichzeitig nirgendwo richtig hingehören, niemandem gehören – das aber sah Illich für sich offenbar als erstrebenswert an. Denn die Kehrseite des Außenseiterdaseins ist die Unabhängigkeit, die exklusive Position, der Objektivität ermöglichende (wenngleich weder garantierende noch einfordernde) Standpunkt. So gelangte Illich gerade durch seine objektive Sicht auf Menschen und Dinge zu seinen subjektiven Ansichten und Urteilen wie: „Eine Welt mit immer wachsender Nachfrage ist nicht einfach böse: man kann sie nur als Hölle bezeichnen.“ Anfang der 1970er Jahre schrieb er das, noch vor den „Grenzen des Wachstums“. Bis heute hat sich neben den Begriff der „Nachfrage“ die „Nachhaltigkeit“ zu einem Allgemeinbegriff entwickelt, zu einem Gemeinplatz, fast sinnentleert. Das Streben nach Nachhaltigkeit in Produktion und Konsum hatte nämlich nicht zu einer schrumpfenden Nachfrage geführt, zu einer Sättigung, einer nachhaltigen Bedürfnisbefriedigung. Im Gegenteil:

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Neue Absatzmärkte mit Millionen, Milliarden von Nachfragern waren hinzugekommen, größer als je zuvor – Globalisierung eben. Moden, Sollbruchstellen und programmierte Systemfehler sorgten für eine Kurzlebendigkeit vieler Waren und ihren Ersatz – durch ebenso kurzlebige Waren. Nachfrage – ein seltsames Wort für das, was es bezeichnete: das Habenwollen, die Habgier nach Gütern, die zwar meist in Hülle und Fülle vorhanden waren, deren Erwerb beziehungsweise der Wunsch, sie zu erwerben, dennoch bedeutete: „Das fehlt mir oder ich habe davon nicht genug, es ist knapp“. Das Wort „Nachfragen“ wurde indes auch kommunikativ gebraucht, etwa nach Vorträgen, inform der Frage: „Gibt es Nachfragen?“ „Ja, ich hätte noch eine Nachfrage. . . “ Frage nach! Nach wem? Wer oder was ist verantwortlich? Für die Hölle, die Illich meinte. Für den nie endenden Durst und Hunger nach mehr, über die Stillung aller Elementarbedürfnisse hinaus. War es die conditio humana? Konnten wir einfach nicht gegen unser genetisches Programm handeln? Und gegen die von den Ur-Menschen ererbte Erfahrung, jeden Tag etwas anschaffen zu müssen? Illich war ganz anderer Meinung: Die Menschen seien institutionell zu Bedürftigen, zu Konsumenten, zu Versorgungsempfängern, zu „Kriegern“ gemacht worden, die nicht mehr in der Lage seien, für sich selbst zu sorgen, autonom und autark zu sein. Die Institutionen der Bildung, der Medizin, der Pflege leisteten Dienste, waren Dienstleister, Diener. Der Dritte Sektor wuchs, vor allem privatwirtschaftlich, mit staatlicher Förderung und Protektion, weiter. „Ich krieg’ ...“ – das bedeutete da, wo er seit einem Dutzend Jahre lebte: „Ich möchte gern . . . kaufen.“ War diese Entwicklung allein den Institutionen geschuldet oder ein Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, um im Höllenbild zu bleiben: ein Teufelskreis? Längst betrieben die meisten Menschen in Industrieländern wie Deutschland ein „Outsourcing“ ihrer täglichen Verrichtungen im Haushalt. Technische Geräte erledigten einen beträchtlichen Teil der Arbeit. In Deutschland hatten Wissenschaftler wie Hans-Peter Dürr und Nico Paech die Geräte sinnreich „Energiesklaven“ genannt, ohne damit bisher einen Bewusstseinswandel in größeren Teilen der Gesellschaft zu bewirken. Diejenigen Zeitgenossen, die meinten es sich leisten zu können, beschäftigten zudem menschliche Haushaltshilfen, oft genug unmenschlich und unsozial bezahlt, „schwarz“ – unabhängig von der Hautfarbe. Je mehr Arbeit Dien(stleist)er übernahmen, desto mehr Zeit stand den sie Einsetzenden für ihre Arbeit zur Verfügung, desto mehr „verdienten“ sie, desto mehr konnten sie nachfragen. Erlebten die Menschen dieses immer gleiche und zugleich immer gesteigerte Nachfragen, das aus ihrer Abhängigkeit resultierende Nachfragen-Müssen als Hölle? Die Masse scheinbar nicht, sie lebte bequem in der „Komfortzone“. Manche aber schon, die litten Gewissensqualen, suchten nach, fragten nach Alternativen, Lösungen – es mussten doch welche machbar sein! Damit waren sie, so würde Illich wohl

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sagen, ebenso in der Logik, der „irrationalen Folgerichtigkeit“ dieser Hölle gefangen. „Green Economy“ zum Beispiel. „Bedürfnisse bewusst befriedigen“ – eine angenehm anmutende Alliteration, als Nachhaltigkeits-Slogan indes etwas altbacken und vor allem das ökonomistische Axiom, dass Wirtschaft(en) die Befriedigung von Bedürfnissen sei, perpetuierend. „Postwachstum“ – und was danach, post? „Zero Waste“ machte die Hölle wenigstens etwas schöner, weitgehend plastikfrei, natürlicher. Bisher waren die Menschen, die so lebten, selbstgemachte Außenseiter. Würden sie es bleiben? Gesetzt, alle lebten so wie diese Ausnahmen, diese Außenseiter – gäbe es dann keine mehr? Konnten alle „in“ sein? Nein, die Moden würden nur andere Formen annehmen, andere „out“ dastehen lassen. Und die Außenseiter würden weiter gebraucht: Sie erfüllten ihren Zweck als kritische Beobachter, die aber auch intervenieren mussten, um potenziell wahrgenommen zu werden und wirksam zu sein. Eine Intervention konnte von den Adressaten als Heimsuchung empfunden werden, unerwünschter Besuch bei sich daheim, Haus-durch-suchung. Wer zu Besuch kam, blieb nicht lange, sollte nicht lange bleiben. Hier dachte er an seine eigenen Erfahrungen als Besuchter: Gute Freunde, die immer wieder gerne kamen, aber nach ein paar Tagen war es doch schön, wenn sie wieder gingen; Fremde nahm er auch manchmal auf, dabei war die Grenze zwischen Freunden und Fremden auch fließend: Der bulgarische Austauschschüler seines Sohnes etwa kam als Fremder und ging als Freund und blieb Freund. Der Besucher ähnelte dem Fremden, dem Wanderer, dem Außenseiter darin, nicht wirklich dazuzugehören, hineinzugehören in die Welt der Einheimischen, Sesshaften, Innenseiter, Besuchten. Aber sein Interesse an den Besuchten schien intimer als das der anderen. Besucher – was suchten die? Was für ein Suchen war das Besuchen? War es dem Nachfragen ähnlich, nur persönlicher, menschenbezogener? To visit, visiter, visitare – hier war die Verbindung zum Sehen und Schauen offenkundig (im Deutschen hatte die Leibesvisitation, selbst wenn sie legal war, etwas Übergriffiges, die Stippvisite dagegen etwas Ungezwungenes, Spontanes, Kurzes, Oberflächliches). Also die Besuchten sehen, bei ihnen daheim sehen; sehen, wie es ihnen geht, bei sich, mit sich, wie sie leben, wohnen, eingerichtet sind. Aber auch die anderen Sinneseindrücke: hören, was sie zu sagen haben und sich selbst dazu äußern, nachfragen, sich austauschen; riechen, was es zu riechen gibt; schmecken, was sie auftischen; tasten, was sich der Berührung darbietet. Besucher suchten die (Auffrischung der) Freundschaft, die Dimension von Freundschaft, die sich über audiovisuelle Medien nicht herstellen ließ. Wobei: Die Besucher zu Haus hießen meist verkürzt und seltsam entpersonifiziert „Besuch“: „Heute haben/bekommen wir Besuch.“ Besucher kamen in größeren Mengen und wurden von Institutionen gezählt: Museumsbesucher, Ausstellungsbesucher; für sie gab es Besucherpark, -zentrum und -service, selbstverständlich auch im WWW, denn: Internetseiten, Homepages wur-

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den ebenfalls besucht („Besuchen Sie uns auf. . . “), dort wurden Informationen oder andere Menschen gesucht, Freunde, Gleichgesinnte, Sexpartner. Diese virtuellen Besuche konnten indes gänzlich inkognito stattfinden: der Besucher als Heimsucher, möglicherweise ungebeten, penetrant, Werber, Exhibitionist, Hacker. Als Gefangener in dieser Welt – in dieser Welt gefangen. Das waren irgendwie alle Menschen qua Geburt, die sie nicht selbst frei gewählt hatten. Die Selbsttötung war ein Ausweg aus dieser Gefangenschaft, ein One-way-Ticket; niemand konnte sagen, ob dieser Ausbruch aus dem Leben wirklich ein Weg in die Freiheit war. In Bezug auf Illichs Leben, sein Denken und Handeln, mutet diese Selbstbeschreibung, eher die Beschreibung des eigenen Willens zum Sich-Fühlen, unverständlich und im Widerspruch zu den vier anderen Beschreibungen an (Fremder, Wanderer, Außenseiter, Besucher). Zwar waren besonders der Fremde und der Außenseiter ambivalent, doch einte alle vier das starke Moment der Freiheit: räumliche, soziale, gedankliche. Und jetzt ein Gefangener sein – „um meiner Freiheit willen“, wie Illich erklärend hinzufügte. Wirklich erklärend? Gewiss – dass es ihm um seine, aber wohl auch um allgemeine Freiheit, Selbstbestimmung, Selbständigkeit, Selbsttätigkeit ging, muss nicht lange bewiesen werden, aber warum dann als Gefangener? Ist hier eine Selbstbescheidung gemeint, eine Selbstbeschneidung, eine Selbstbeschränkung, indem er bewusst auf bestimmte Karrieren verzichtete, vorgezeichnete Wege verließ, in die Fremde ging, wanderte, Außenseiter wurde und hier und da zu Besuch war, ohne ganz irgendwo anzukommen? Vielleicht; aber es ist wohl zugleich ein noch stärkerer existenzieller Zwang gemeint: die Einsicht in die Notwendigkeit, in dieser Welt leben zu müssen – ohne in sie zu gehören, ohne sich ihr hin- und preiszugeben –, um in ihr Freiheit zu suchen, nach Freiheit zu suchen, nach Freiheit zu fragen. Nur in den späteren und späten Lebensjahren schien Illich sesshaft geworden zu sein oder zu werden, in Bremen, das die Stadt seines Todes werden sollte, zufällig die Geburtsstadt von ihm, der jetzt auf der Oase im Sumpf stand und über Illich nachdachte. Sie hätten sich begegnen können, zum Beispiel an der Universität, aber er hatte zum Studium Bremen verlassen, weil er sich dort gefangen fühlte, angenehm gefangen zwar, aber eingeengt, er meinte alles zu kennen, er musste raus, weg von der Familie und der vertrauten, zu heimeligen Umgebung, in die Welt, die Welt entdecken, ein bekanntes Schema erfüllen... *** Und hier stand er nun, immer noch, er konnte nicht anders, ringsum Sumpf, und jetzt bemerkte er, dass, während die Luft weiterhin stand, das Wasser bzw. die Oberfläche des Sumpfes gestiegen war und drohte, diese offenbar letzte Insel, die noch sicheren

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Halt bot, einzunehmen, zu fluten, zum Nicht-Ort zu machen. Aus unbekannter Quelle, aus unbekannter Richtung floss Wasser hinzu, kein frisches, vermutlich aus allen Richtungen zugleich, das war für ihn nicht absehbar, wie diese ganze Überschwemmung nicht absehbar gewesen war, oder doch? Hatte es nicht genug konkrete Warnungen vor den Folgen des Klimawandels, speziell des Anstiegs des Meeresspiegels für die küstennahen Gebiete, gegeben? Als Kind hatte er sogar einen futuristischen Roman darüber gelesen, „Nach dem großen Glitch“ von Arnulf Zitelmann. Und nun schien die Zukunft angekommen, adventum, Gegenwart geworden zu sein. Und welche neue Zukunft bot sich? War hier nicht bald das Ende, sein Ende erreicht? Wie viel Hoffnung, welche Hoffnung blieb (ihm) noch? Hoffnung definierte Illich als gläubiges Vertrauen auf die Güte der Natur. Diese Güte der Natur ihm gegenüber hatte er auf dieser schwindenden Insel jetzt bitter nötig. Konnte er auf sie hoffen? Mehr blieb ihm nicht, Erwartungen konnte er keine hegen. Erwartungen: Das war der von Illich scharf abgelehnte Gegenbegriff zu Hoffnung; Erwartungen hatte der Institutionen schaffende prometheische Mensch gegenüber seinesgleichen, den Institutionen und den von ihnen geplanten und produzierten Ergebnissen. War er der letzte prometheische Mensch, vielleicht sogar der letzte Mensch überhaupt? Er hatte immer prometheisch gelebt, zwar eher passiv als aktiv, also vorhandene Institutionen eher nutzend als (re-)produzierend (wobei auch die Konsumtion – die Nachfrage – eine Form der Reproduktion war); egoistisch auch in scheinbar altruistischer Absicht um des guten Gefühls beim Helfen willen – hallo Dopamin! Nie hatte er epimetheisch, naturgläubig und -verbunden gelebt. Jetzt würde er sehr schnell lernen müssen, epimetheisch zu leben. Für Konvivialität schien es ohnehin zu spät zu sein, er stand hier allein mit sich selbst und suchte Halt an zwei Birkenstämmen. Das Leben konnte hier sehr schnell zu Ende gehen. Hier war kein Plan mehr zu erfüllen, auch kein Plan B mehr denkbar, es ging ums nackte Überleben. Nackt – sollte er sich seiner hoffnungslos klammen, klebenden und kältenden Kleider entledigen? Würde es ihm nützen, wenn sein Körper nicht durch sich vollsaugende Klamotten schwerer würde? Denn zurück in den Sumpf, ins Wasser würde er müssen, das schien unausweichlich... wenn nicht bald ein Wunder geschah, etwa ein Flugobjekt auftauchte und ihn von hier irgendwie abholte. Oder Gott eingriff, an den er seit seiner Kindheit glaubte, als Schöpfer und Erhalter, Ermahner und Tröster, gütiger Gnadengewährer. Sein Glaube war nach einem fast gänzlichen Verschwinden in der Adoleszenz in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren wieder stärker geworden, persönlicher, christuszentrierter, geistlicher. Schamvoll wurde ihm bewusst, dass er erst jetzt, in der größer werdenden Not, an den dreieinigen Gott dachte. . . ihm fiel eine Liedzeile der Band „. . . But Ali-

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ve“ ein: „Es wird wirklich langsam Zeit, an Gott zu denken!“ . . . und ging ins Gebet, suchte das Vis-à-vis. *** Er schreckte aus schwülem Schlummer auf – hatte er wirklich gebetet oder war er gleich eingenickt? Mit der Stirn an einer Birke, die ihn gehindert hatte zu fallen. Wie weit das Wasser gestiegen war, konnte er nicht mit Gewissheit sagen, denn es war fast ganz dunkel geworden. Es musste also gegen 19 Uhr sein, doch was nützte ihm diese zeitliche Orientierung, wenn er keine Perspektive mehr hatte? Keinen Ausblick in irgendeine Richtung. Er musste sich auf eine lange Nacht einstellen, ohne vollwertige Nahrung. Schon riss er an der Birkenrinde und kaute auf einem Stückchen herum. Der dadurch vollends erwachte Hunger nagte unangenehm, der Magen grummelte immer wieder. Er griff ins feuchte Gras, zog an einigen Halmen, sodass sie mit den Wurzeln aus der Erde glitten, stopfte sie sich gierig in den Mund. Schluckte zu schnell, erbrach sich. Es schmeckte ja auch zu scheußlich! Wenn es einen Weg nach oben gäbe, über den Stamm und die dürre Krone hinaus, stairway to heaven, ein Ausweg? Wohl in eine noch größere Kälte; die hier am Boden nahm aber auch deutlich zu, er konnte sie nicht mehr ignorieren, wegdenken. Er würde sich den Tod holen. „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall!“ Dieser Spruch der Bremer Stadtmusikanten schien für ihn nicht mehr zu gelten. Den eigenen, sicher bevorstehenden Tod denken, konnte er das? War sein Tod die letzte Erwartung (dem Leben, Gott gegenüber?), die ihm blieb? Eine letzte Hoffnung war er nicht. Oder vielleicht doch? Durfte er auf eine bessere Welt hoffen? Eine bessere Welt, hier! Wäre sie nicht viel erstrebenswerter als in einem Jenseits? Blieb sie denkbar? Blieb sie machbar? Das Problem war, dass das gute Leben, das bessere Leben nicht recht zu fassen war, als ein Konzept, Programm. Für jedermann. Nach einem besseren Leben strebten viele, es war ihr nicht zu leugnendes Grundbedürfnis; viel zu viele strebten danach eigenmächtig, eigensüchtig, ohne auf die Umstände und Bedürfnisse anderer zu sehen, dadurch gemeinsame Bedürfnisse zu erkennen und für ihre Befriedigung zu sorgen. Nicht wenige, vielleicht sogar die meisten Bedürfnisse wurden künstlich durch Werbung erzeugt, ihre Befriedigung trug gar nicht zu einer Verbesserung des Lebens, persönlich wie allgemein, bei. Aber selbst nach Abzug dieser nichtigen Bedürfnisse blieben noch genügend natürliche, die früher oder später eine Befriedigung erforderten – das war anzuerkennen! Wie konnten sie so konvivial, so gemeinwohlorientiert wie möglich befriedigt werden, und zwar nicht als Eintagsfliege, sondern dauerhaft, nachhaltig? Sodass eine große Anzahl an Menschen mitmachte, sodass die Konvivialität Vorbild wurde, sozusagen

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Schule machte, aber ohne institutionellen Zwang – und dadurch das kapitalistische Wirtschaftssystem von innen transformiert wurde. Wie auf diesem Wege anfangen? Das war die entscheidende Frage, die ihn jetzt grübeln ließ, an diesem Un-Ort. Irgendwie skurril, so kurz vor dem wahrscheinlichen Ende. Er hätte sie gern mit anderen diskutiert, ob online oder offline, aber er war allein. Mit sich und der Frage: Wohin?

Der dich schlägt Der dich schlägt, ist ein Teil von dir, schlägt mit aller Gewalt – du würdest zerspringen, könntest du es – der dich schlägt, gehört zu dir seit je. Der dich schlägt, ruht in dir. Bis dich zu wiegen beginnt das Holz, dich ins Wanken bringt, deine Mitte weckt, reden macht das Herz, Krone und Joch, das dich herausreißt aus dem beleidigten, schweren Tod. Zum Wimmern bringt es dich. Du summst. Heller wird der Gesang, Lied und Weite bist du nun. Wer aber wägt ab? Wer legt das Joch auf? Wer fasst dich im Schmerz des Verstehens? – Kinderhand wiegend zur Feier, Kinderhand führt dich am Seil. Dein Halt ist Bewegung. Der dich schlägt ist von dir ein Teil.

Celui qui te frappe Celui qui te frappe ait partie de toi, frappe de toute sa force – tu volerais en éclats si tu le pouvais – celui qui te frappe est tien depuis toujours. Celui qui te frappe repose en toi. Jusqu’à ce que le bois se mette à te bercer, commence à t’ébranler, réveille ton for intérieur, rende éloquent le coeur, couronne et joug qui t’arrache à la lourde, à’ l’hypocrite mort. Il te fait geindre. Tu bourdonnes. Le chant se lève, te voilà chanson, te voilà largué. Mais qui balance? Qui impose le joug? Qui te tient dans les affres de la compréhension? – Main d’enfant, bercefête, main d’enfant te mène à la corde. C’est le mouvement qui te tient. Celui qui te frappe, il fait partie de toi Willibald Feinig

Die „Ver-Schattung“ der Hausarbeit Aus dem Spanischen übersetzte und 2019 ergänzte Version eines Vortrages von 2012 1 Claudia von Werlhof

Ivan Illich hat in meinem intellektuellen Leben eine wichtige Rolle gespielt und war einer der ganz wenigen Männer, die mich in meiner radikalen Suche nach Erkenntnis unterstützten (die meisten versuchten, mich stattdessen daran zu hindern). Diese Suche begann zunächst mit der Analyse der modernen Hausarbeit, einem Thema, das damals, in den späten 1970er Jahren, in jeder Hinsicht neu war (vgl. Werlhof 1978). Außer mir nahmen auch andere damalige Feministinnen daran teil (vgl. Bock/Duden 1977, Kittler 1980), denn es war die Zeit der radikalen wissenschaftsund systemkritischen Frauenbewegung, und Ivan entwickelte daraufhin – wie er sagte – seinen Begriff der „Schattenarbeit“ (vgl. Illich 1982). Das ist der Grund, warum Ivan und ich uns kennenlernten, uns befreundeten, und ich heute hier bin. Jean Robert (der das Treffen in Cuernavaca organisiert hat) nannte mir ursprünglich einen anderen Titel für meinen Vortrag, wie er ihn sich vorstellte. Er lautete, umgekehrt: „Die Verweiblichung der Schattenarbeit“. Mir geht es dagegen um etwas ganz anderes, nämlich „die Ver-Schattung der Hausarbeit“. So gibt es Jeans Version des Phänomens zwar auch, aber sie ist nicht die grundlegende in der Welt der Frauenarbeit. Doch zunächst zum Begriff selbst: Ivans Begriff der Schattenarbeit konzentriert sich auf ihren Zusammenhang mit der Lohnarbeit. Sie sei nicht „unbezahlte Lohnarbeit, die gerade so gut bezahlt werden könnte. Dass sie nicht bezahlt wird, ist viel mehr Voraussetzung dafür, dass Löhne bezahlt werden“. „Die Frau wurde zur Schattenarbeit bestimmt, und wissenschaftlich wurde bewiesen, dass dies ohnehin

1 | Vgl. Werlhof 2015a.

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ihre eigentliche Bestimmung sei [...]. Die neue ,Natur‘ der Frau verbannte sie in eine neue Art von Haushalt [...]. Innerhalb der Familie und mittels der Familie verbanden sich nun zwei komplementäre Formen von Arbeit: Lohnarbeit und Schattenarbeit.“ „Schattenarbeit ist eine spezifische, einzigartige Form von Hörigkeit, in ihr steckt [...] nicht weniger Sklaverei als in der Lohnarbeit [...]. Um Lohnarbeit kannst du dich bewerben, [...] zur Schattenarbeit bist du bestimmt durch Geburt in der Industriegesellschaft [...]. Zeit, Mühsal, Verlust an menschlicher Würde werden (dabei) [...] aus dir herausgeholt, nur ohne Bezahlung [...]“ Zur Schattenarbeit gehöre „das Meiste an der Hausarbeit“ und „alles, was mit Einkaufen zusammenhängt [...] [,] die Mühsal, die mit der Bewegung vom und zum Arbeitsplatz verbunden ist [...] der Stress, der mit dem Zwang zum Konsumieren einhergeht; die qualvolle Reglementierung, der uns Ärzte und Spitäler unterwerfen, das Sich-Abquälen mit der Bürokratie; die uns auferlegte Vorbereitung für einen Beruf; und viele Aktivitäten, die mit dem Etikett ,Familienleben‘ versehen werden [...].“ (alle Zit. nach Werlhof 2010a) Ivans Begriff ist insofern neu, als er weder jenseits der Lohnarbeit angesiedelt ist, wie z.B. der Begriff der „Schattenwirtschaft“, noch jenseits der Hausarbeit, sondern gerade sie in den Blick nimmt oder zu nehmen scheint, was bisher meist unterlassen wurde. Aus der Perspektive der feministischen Hausarbeitsdebatte ist jedoch folgende Kritik zu formulieren: a) Was in Ivans Begriff der Schattenarbeit in Bezug auf die darin zentrale Rolle der Hausarbeit der Frauen nicht vorkommt, ist das Wichtigste an ihr, und das in zweifacher Hinsicht: (vgl. ebd.) – Erstens die Arbeit als Mutter, also die Arbeit mit und am Leib, welcher das menschliche Leben hervorbringt. Ohne diese könnte die Ausbeutung der daran haftenden menschlichen „Arbeitskraft“ im Sinne der Kapitalakkumulation gar nicht stattfinden. Denn die Mütterarbeit im Haus „produziert“ im Gegensatz zu anderen Arbeiten in der Tat etwas, nämlich eine „Frucht“. – Zweitens die Arbeit als Hausfrau im Allgemeinen, insofern diese nicht nur die gegenwärtige und zukünftige Arbeitskraft der Familienmitglieder re-produziert, sondern auch deren alltägliches Leben selbst, sodass hier eine Arbeit stattfindet, deren Charakter umfassender als und qualitativ verschieden ist von Schattenarbeit als solcher, so wie Ivan sie definiert. Sie ist immer auch Subsistenzarbeit. Zusammengenommen bedeutet dies, dass die Hausfrauenarbeit, die ja im Prinzip gratis erbracht wird, nichts Geringeres als die Grundlage der entlohnten, nicht entlohnten

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und darüber hinaus der Schattenarbeit selbst ist, in dem Sinne, dass sie für den direkten Gebrauch und die Subsistenz produziert – also das Leben selbst – zugleich aber auch noch Tauschwerte – Arbeitskraft – für den Arbeitsmarkt produziert und reproduziert. Anders gesagt, die Hausfrau muss bei ihrer Arbeit imstande sein, das eine in das andere zu verwandeln, und zwar in beide Richtungen: Subsistenz und Lebendiges als „Gebrauchswerte“ in Tauschwerte beziehungsweise in die Ware Arbeitskraft – und Tauschwerte, also die Ware und die Arbeitskraft, umgekehrt wieder in Lebendiges für den unmittelbaren Gebrauch, also in das weitere Leben. Angesichts dieser Doppelnatur der Hausarbeit fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass die Dialektik zwischen der Arbeit für das Leben und seine gleichzeitige Ausbeutung, und zwar die aktuelle, potenzielle und zukünftige, paradox ist. Sie verursacht daher einen von Ivan nicht bemerkten „Stress“, der umso größer ist, je größer der Unterschied zwischen den beiden Seiten dieser Arbeit ist, beziehungsweise den Anforderungen, die sich dabei jeweils stellen. Heute sind diese Unterschiede und die damit verbundenen Anforderungen ins Extreme gewachsen, und zwar durch eine zunehmende „Ver-Schattung“ der Hausarbeit: Sie wird als Lebendiges hervorbringende und erhaltende Kraft zunehmend „unterlaufen“, gleichzeitig „überschwemmt“ und immer mehr infrage gestellt. Sie verliert zunehmend ihren unmittelbar lebensorientierten Subsistenz-Charakter, indem die Ware, das Geld und die Maschinerie, also das Kapital, immer massiver in die Privatsphäre der Hausarbeit eindringen. Gleichzeitig nimmt aber die Notwendigkeit zu, die lebensorientierte Seite der Hausarbeit zu stärken. Denn die heutigen Formen der Ver-Wertung der Arbeitskraft als Ware haben Konsequenzen, die besser „aufgefangen“ werden müssten, als es offenbar derzeit noch möglich ist. Da geht also generell eine Art von ohnehin prekärer Balance verloren. Warum ist das so, woran ist es zu erkennen, und was bedeutet es für das Verhältnis von Lohn-, Schatten- und Hausarbeit? b) Was im spezifischen Verständnis von Schatten- und vor allem von Hausarbeit bei Ivan nicht systematisch geklärt wird, ist das Verhältnis dieser Arbeit zur kapitalistischen Produktionsweise beziehungsweise dem von ihm so genannten Industriesystem selbst, bis auf die globale Ebene. Denn die genannten Arbeiten müssen nicht nur als Ausdruck des Systems, sondern auch als inhärente Bestandteile kapitalistischer Produktionsverhältnisse verstanden werden. Sie sind direkt und notwendig mit der Lohnarbeit als dem angeblich zentralen Produktionsverhältnis verknüpft und daher nicht nur am Wirtschaftswachstum beteiligt, wie Ivan feststellt, sondern sie tragen grundsätzlich dazu bei, dass es

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die Kapitalakkumulation in ihrer heutigen Form überhaupt geben kann. Aber nur die Lohnarbeit galt bisher als kapitalistisches Produktionsverhältnis im eigentlichen Sinne, während die Hausarbeit und andere unentlohnte Arbeitsverhältnisse nicht als „wirkliche“ Arbeit und noch weniger als wesentlich für die Kapitalakkumulation verstanden wurden. Dabei ist insbesondere die moderne Hausarbeit historisch erst mit der proletarischen Lohnarbeit entstanden, die sie durch ihre Re-Produktion überhaupt erst systematisch ermöglichte. (vgl. Werlhof 1978) Die Bedeutung der Hausarbeit für die weltweite Kapitalakkumulation besteht dabei in Folgendem: Erstens: Ohne die Hausarbeit gäbe es überhaupt keine Menschen und damit keine potenziell und aktuell für den Arbeitsmarkt geeigneten und für das Kapital zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte. Zweitens: Ohne die Hausarbeit wären die Arbeitskräfte für das Kapital viel teurer, denn da die Hausarbeit umsonst erbracht wird, müsste die Arbeitskraft ohne sie zu einem viel höheren Preis gekauft werden und wäre nicht garantiert quantitativ und qualitativ ausreichend vorhanden. Damit würde die Profitrate großen Schwankungen unterliegen beziehungsweise stark sinken. Auf diese Weise erscheint die Hausarbeit als ideale Arbeitsform und sogar als wahrhaft zentrales Produktionsverhältnis für das Kapital: Sie kostet nichts und bringt eine unverzichtbare, sonst nicht sicher zur Verfügung stehende „Frucht“ hervor. (vgl. Werlhof 1983) Das sind die Gründe für die Erfindung der Hausarbeit im modernen Europa und ihren Export in alle Welt, auch in die Kolonien und den Agrarsektor gewesen. Indem man sie aber neutral als „Schattenarbeit“ bezeichnet, wird der geschlechtsspezifische Grundzusammenhang nicht klar, der ja in der Tat mit der Natur zu tun hat, nämlich der von Natur aus nur den Frauen gegebenen Gebärfähigkeit. Solange das Industriesystem also menschliche Arbeitskräfte benötigt und diese von Frauen geboren werden müssen, wird es diese Form der Hausarbeit brauchen. Das Phänomen der mit der Hausarbeit einhergehenden „Logik“ und Häufigkeit der Gewalt gegen Frauen und Kinder, in der Familie wie außerhalb von ihr, lässt sich also mit ihrer Bedeutung für das Funktionieren des Industriesystems erklären. Denn der meist lohnarbeitende Ehemann oder Familienvater hat dasselbe Interesse an einer Aufrechterhaltung dieser Situation wie das Kapital oder der Staat. Er nimmt dabei die Position einer intermediären Klasse oder „Mittelschicht“ zwischen den im Prinzip nur für Kost und Logis arbeitenden Frauen und dem Kapital beziehungsweise Staat ein. Als Komplize von Letzteren sorgt er dafür, dass jeder Widerstand gegen diese

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Ordnung direkt an Ort und Stelle gebrochen wird, auch, weil er auf der alltäglichen Ebene ein unmittelbares Eigeninteresse an der Aufrechterhaltung der Situation hat. Das sieht Ivan auch sehr deutlich. Am Ende erhält damit der Staat seine auf der „Keimzelle“ der Familie ruhendende Ordnung und das Kapital eignet sich den größten Teil des Gewinns aus dem Gesamtprozess an. Der tendenziell gewaltförmige Charakter der modernen Familie als Institution für die Organisation der weiblich-mütterlichen Gratisarbeit zeigt schließlich, dass die Hausarbeit – inklusive des Schattenarbeitsanteils daran – auf das Niveau der „ursprünglichen“ oder „primitiven“ Akkumulation an der Basis der gesamten Akkumulationspyramide herabgestuft und entsprechend ent-wertet wird. Hausarbeit hat in diesem System keinen „Wert“. Die Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“ ist daher innerhalb des Systems prinzipiell unerfüllbar. Das bedeutet, dass die sogenannte „ursprüngliche Akkumulation“ nicht auf eine historische Phase reduziert werden kann, wie Karl Marx dachte, und auch nicht nur auf die Bauern als dabei enteignete Klasse. Sondern die ursprüngliche Akkumulation und die für sie typische Gewalt wurde in einen grundlegenden und darüber hinaus permanenten Teil der kapitalistischen Akkumulation selbst verwandelt, nämlich in die „fortgesetzte“ ursprüngliche Akkumulation durch und über die Frauenarbeit im Haus. (vgl. Werlhof 1978; 2015b) Die Linke hat allerdings bis heute den Zusammenhang von moderner Frauenarbeit und einer Fortsetzung der ursprünglichen Akkumulation am wenigsten verstanden. Aber die Kategorie der Schattenarbeit allein ist auch nicht ausreichend, um diese Zusammenhänge zu erklären. c) Was Ivan und Jean, wie übrigens alle anderen Kritiker der Moderne auch, in ihrer Analyse nicht berücksichtigt haben, ist das Konzept des Patriarchats, schon gar nicht als System oder gar Zivilisation. Sie greifen auch dann nicht auf den Begriff zurück, wenn sie die moderne Herrschaft der Männer über die Frauen thematisieren, was Ivan im Prinzip ja tut. Ihm reicht es dabei allerdings festzustellen, dass in der Moderne die Frauen in Sklavinnen und Abhängige der Männer verwandelt wurden, welche die Frauen an ihrem Arbeitsplatz einsperren: dem Haus bzw. der Wohnung. So überzeugend Ivan das im Gegensatz zu anderen Kollegen formuliert, so wenig reichen seine Ausführungen aus, um zu erklären, was in der Moderne als patriarchalem System, ja als ganzer patriarchaler Zivilisation, mit den Geschlechtern und über sie hinaus geschieht. Dafür ist vielmehr ein Verständnis von Patriarchat in einem umfassenden Sinne erforderlich, welches dessen geschichtliche Entwicklung berücksichtigt

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– mit allen dazugehörigen Implikationen. Ein solcher, weiter Patriarchatsbegriff ist mittlerweile erarbeitet worden. (vgl. Werlhof 2011a) Ihm zufolge bezeichnet das Patriarchat nicht nur eine mehr oder weniger systematische Männer-Herrschaft, sondern eine Herrschaft, ohne die es nicht möglich wäre, das Wesentliche des Patriarchats als System zu realisieren: eine Utopie – die definiert wird als das höchste Ziel der Menschheit – nämlich die Transformation der Welt, der Natur, des Lebendigen und der Menschen selbst in ein Gegenteil dessen, was sie sind oder bisher waren: in etwas Höheres, Edleres, Entwickelteres, Zivilisierteres, ja Göttlicheres; etwas, das sich dadurch bestimmt, dass es nicht mehr abhängig ist, und zwar weder von der Natur, noch von der Materie, und schon gar nicht von den Frauen als Müttern, und auch nicht vom Leben als solchem, einschließlich dem des Planeten und der „Pachamama“, also der All-Mutter selbst! Seit dem Beginn des Patriarchats vor einigen Tausend Jahren handelt es sich um dieselbe hybride und perverse Idee: Es wird behauptet, dass es eigentlich der Mann sei, der das Leben erfindet und erschafft, nicht aber die Frau als Mutter, die Natur und die All-Mutter, und dass es der Mann und ein männlicher Gott seien, die besser wissen, wie die Schöpfung des Lebens geschieht, ja, wie diese jenseits der und sogar ohne die Frauen und die Natur geschehen soll. Es sind die patriarchalen Männer sogar dazu aufgefordert, das bestehende Leben zu zerstören, um es durch ein angeblich besseres, ja göttliches zu ersetzen, welches sie behaupten, auf der Basis dieser Zerstörung selbst schöpfen oder konstruieren zu können! (vgl. Werlhof 2012) Eben dies hat, wie wir heute überall sehen können, zu einer „Schöpfung“ aus Zerstörung geführt, zur Zerstörung als Voraussetzung für jede angebliche Schöpfung. Darin bestehen der Glaube des Patriarchats und der Glaube an das Patriarchat, seine wirkliche Religion. In der Moderne begann man, dieses utopische Projekt des Patriarchats immer schneller zu verwirklichen und heute ist erkennbar, wohin das geführt hat – zum Gegenteil derjenigen „Entwicklung“, die man als das Ergebnis des patriarchalen Projekts propagiert hatte, und das heißt: • zum Ökologieproblem, der physikalischen, chemischen, nuklearen und biologisch-genetischen sowie nanotechnologisch verursachten Vergiftung und Zerstörung – der Böden, der Gewässer, der Luft und der Lebewesen; • zum Gebrauch von industriell hergestellten, zerstörerischen Energien für die Kriegführung und das, was ihr folgt: eine geheime Kriegführung gegen unsere Gesundheit und unser Leben sowie das der Tiere, heute zum Beispiel erkennbar am Bienensterben, außerdem gegen Pflanzen und Wälder, die in immer größerer Zahl von der Erde verschwinden;

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• zur Erschöpfung der Naturressourcen, dem sogenannten Klimawandel als dem Ergebnis von Experimenten mit neuen Militärtechnologien in vielen Gebieten der Welt – aber nicht als Ergebnis von CO2-Emissionen, wie man uns weismacht – und zur Produktion von immer größeren Katastrophen, die angeblich Naturkatastrophen sind, durch Militärs in der ganzen Welt, die ihre nuklearen ebenso wie ihre jüngsten post-nuklearen Techniken verwenden – die elektromagnetischen (nach Nikola Tesla, vgl. Bertell 2011). Und jüngst resultiert daraus das Ozonsterben in der Atmosphäre, welches uns alle das Leben kosten wird, wenn es nicht gestoppt wird (vgl. Werlhof 2012; 2018). Das Patriarchat ist heute das „kapitalistische Patriarchat“. Anstatt zu verschwinden, hat es ein modernes Gewand angelegt, und ich definiere es darüber hinaus als „Alchemistisches Kriegssystem“ (vgl. Werlhof 2020). Es beruht auf seinen allerältesten antiken Ideen, seiner Wissenschaft der „Alchemie“. Schon in der Antike wurde versucht, mit dieser Wissenschaft die schöpferische Fähigkeit der Männer jenseits des weiblichen Leibes und der Natur unter Beweis zu stellen. Allerdings scheiterte dieses Projekt immer wieder! In der Moderne glaubte man, dass die moderne Technik mit der Maschine und die moderne Ökonomie mit dem Kapital imstande seien, es besser zu machen. Auf diese Weise fing man an, das alte Transformationsprojekt zu verwirklichen und in progressiver Form zu verallgemeinern – nämlich als den sogenannten „Fortschritt“ – und man brauchte nur 200 Jahre, um seine Kontra-Produktivität zu entwickeln, wie Ivan sagen würde; sichtbar an der bereits teilweise irreversiblen Zerstörung der Welt. Für dieses „Große Werk“, wie es in der Alchemie heißt, verwendete man die modernen Techniken und die moderne Arbeit – aber eben nicht nur in Form der Lohnarbeit, der bäuerlichen und der Schatten-Arbeit, sondern auch und gerade in Form der Arbeit der Mütter und/als Hausfrauen. Aus dieser Perspektive behaupte ich, dass die Kontraproduktivität der modernen Institutionen, welche Ivan beklagt – die der Medizin, der Bildung, der Entwicklungshilfe, etc. – nicht das Ergebnis eines mehr oder weniger tragischen Irrtums, sondern gewollt ist und ganz bewusst hergestellt wurde und wird: Die patriarchalalchemistische Utopie des Fortschritts erfordert die ganz bewusste Zerstörung des Bestehenden als Voraussetzung einer angeblich möglichen Verbesserung! Das Problem dabei ist, dass am Ende nur das Zerstörte übrigbleibt und die Verbesserung nicht stattfindet, oder eben nicht Verbesserung, sondern Verschlechterung und Tod bedeutet (vgl. Illich 2006). Das „Bessere“ endet schließlich zum Beispiel als nicht wiederverwendbarer oder gefährlicher Müll aller Art... Was heißt das in Bezug auf die Schatten- und speziell die Hausarbeit?

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Es bedeutet, dass die patriarchale Moderne nicht nur die äußere Welt, sondern auch die innere, nicht nur das Makro-, sondern auch das Mikrogeschehen verwandelt hat. Das ökologische Problem wiederholt sich in der Humanökologie, also in einer zunehmend gewaltsamen Veränderung der Menschen, einem Verlust ihrer vitalen Kräfte und einer Zunahme physischer und psychischer, ja sogar mentaler Schwäche. Ivan nannte den Prozess der Moderne die „corruptio optimi pessima“, also die Korruption beziehungsweise den Zusammenbruch des Besten als das Schlechteste, was es geben kann (vgl. Illich 1981; 1995). Das Beste sind ja in der Tat das Leben, die Natur, die All-Mutter, die Subsistenz, also das, was heute in Lateinamerika als „buen vivir“, „das Gute Leben“ bezeichnet wird, und Ivan „Konvivialität“ nannte. Dazu gehört auch das „Geschlecht“, in Ivans Worten „Genus“, also die würdevolle, egalitäre, an Gegenseitigkeit orientierte und sich ergänzende Kooperation zwischen Frauen und Männern (vgl. Werlhof/Bennholdt-Thomsen/Mies 1983). Ivan hat ja beschrieben, wie mit der Schattenarbeit diese Würde vollends verlorenging, und wie im Gegensatz dazu ein „ökonomisches Geschlecht“ jenseits des Genus erfunden wurde, mit dem „homo oeconomicus“ oben und der „femina domestica“ unten. Mit unserer „Kritischen Patriarchatstheorie“, welche die Moderne als gewalttätig-zerstörerisches „alchemistisches System“ versteht, kann also erklärt werden, wie und warum diese Situation entstand. Was hat inzwischen daraus zu werden begonnen? Aber zuerst muss noch gefragt werden: Wie entwickelte sich die Debatte über die Frauen-, die Haus- und die Schattenarbeit im Verhältnis zueinander, und wie steht es heute um sie? d) Die feministische Diskussion der Frauenarbeit ist älter als die der Schattenarbeit. Es gibt sie seit den 1970er-Jahren. Die damaligen Forscherinnen versuchten, die Geschichte der Frauenarbeit vor, während und nach der 300-jährigen sogenannten „Hexen“-Verfolgung innerhalb der 600 Jahre dauernden Phase der Inquisition in Europa zu beschreiben. Sie analysierten, wie im Anschluss an die Verfolgung der Frauen als „Hexen“ seit dem 18. Jahrhundert in Europa die Hausfrau erfunden wird. Diesen Prozess nennen sie die „Hausfrauisierung“ der Frauenarbeit (vgl. Federici 2004; 2014), die parallel zur Unterwerfung der bäuerlichen und handwerklichen Arbeit geschieht – und meinen damit den Prozess einer erzwungenen Verwandlung der Frauen im Allgemeinen und als Gattung in eine nicht entlohnte Arbeitskraft, die vom Mann abhängig gemacht wird, der seinerseits vom Bauern und Handwerker zum Lohnarbeiter wird, und die von nun an zuständig ist für die Re-Produktion des Lebendigen. Zur selben Zeit entsteht der Nationalstaat und beginnt der weltweite Akkumulationsprozess des Kapitals, der auf dem Raub und der internen Kolonisierung

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von Frauen, Bauern und Handwerkern ebenso wie auf der externen Kolonisierung anderer Erdteile aufbaut. Auch die Industrie entsteht auf dieser Grundlage. (vgl. Werlhof 2010c) Das bedeutet, dass der Prozess, der auch die Schattenarbeit hervorbrachte, Jahrhunderte währte, in denen die „alchemistische Transformation“ der Menschen und ihre Einpassung in die Moderne organisiert wird, der Frauen wie der Männer. Beide verlieren dabei ihre relative Unabhängigkeit in Bezug auf ihre Produktionsmittel, das Land und den Leib, ihre Kultur und ihre Formen des Zusammenlebens – ihre „Konvivialität“, wie Ivan sagen würde. Vom Standpunkt einer „alchemistischen“ Sichtweise aus kann gesagt werden, dass Frauen und Männer in dieser Zeit „mortifiziert“ wurden. Das bedeutet, dass man sie als von einem System relativ Unabhängige „tötete“: Man unterwarf sie, sperrte sie ein, folterte sie und ermordete sie – wie im Falle der Frauen, die als „Hexen“ bezeichnet wurden. Nach diesem Terror „erhob“ man die Überlebenden in den Stand des modernen Lohnarbeiters und der modernen Hausfrau als Garanten für die Entwicklung der patriarchalen Moderne. Sie entstiegen also ihrer Unterwerfung und Verwandlung als das „Große Werk“ der modernen Alchemie, ja als deren „Stein der Weisen“ in Bezug auf die moderne Arbeit – aus der Sicht des Kapitals und des Staates! Denn durch ihre „Disziplinierung“ und Billigkeit konnte nun der Transformationsprozess der ganzen Welt unternommen werden! (vgl. Illich 2006) Es ist offensichtlich, dass die Frauen etwas aus dem „Genus“ vormoderner, ja gar vorpatriarchaler Zeit retten konnten, trotz ihres historischen Traumas aus den Jahrhunderten ihrer Verfolgung. Zumindest für eine gewisse Zeit kam dies ihrer Mutterund Hausfrauensituation zugute, selbst wenn diese eher am Kerker orientiert war. Wir definieren dieses Gerettete als Reste einer „zweiten Kultur“ matriarchal-indigenen Charakters innerhalb des Patriarchats (vgl. Genth 1996). Denn es scheint, als ob das Patriarchat – noch – nicht in „Reinform“ und völlig ohne diese zweite Kultur existieren kann und vielleicht nie können wird – selbst wenn es die matriarchalen Reste mit aller Gewalt zu zerstören versucht. Nach circa 250 Jahren moderner Hausarbeit samt ihren Ambivalenzen und Widersprüchen geschieht heute Folgendes: • Das Kapital bemächtigt sich weiterhin des Resultates der Hausarbeit in Gestalt des von der Hausfrau re-produzierten Lebens des Lohnarbeiters und seiner Arbeitskraft. • Aber es scheint für die Hausfrauen immer schwieriger zu werden, das Wenige zu erhalten, das von der Fülle des Lebens, der Subsistenz, der Würde und des

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„Genus“ geblieben ist: Die Kapitalorientierung und die Schattenarbeit werden immer umfangreicher, und die Bedeutung der Mütter- und Hausarbeit für das Leben immer geringfügiger, um nicht zu sagen, sie befindet sich heute im freien Fall! Das flächendeckende Eindringen der Ware, der Maschinerie, des Geldes, der Lohnarbeit und des „Kommandos“, also aller Formen des Kapitals, in die Privatsphäre, die vorher noch weitgehend von der öffentlichen Sphäre getrennt war – selbst dann, wenn die Frauen zusätzlich Lohnarbeiterinnen waren – hat enorm zugenommen, zerstört die Reste noch existierender matriarchaler Kultur und Subsistenz, und reißt schließlich den Zaun zwischen privater und öffentlicher Sphäre immer mehr nieder. • Im Resultat zeigt uns Ivan als Prophet und Visionär eine Welt, die bereits fast ohne Reproduktion des Lebendigen und der Subsistenz ist – eine Welt ohne Wahrheit, ohne Natur, eine der Verkehrung, Zwanghaftigkeit, Aggression, Verelendung und Todesnähe – und er tut dies schon, bevor sie so allgemein und deutlich wie heute hervorgetreten ist. Aber Ivan definiert noch nicht konkret die Tendenz zur Auflösung der Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre und die Folgen für die bestehenden Arbeitsformen und das Verhältnis zwischen ihnen: entlohnte und nicht entlohnte Tätigkeit, Haus- und Schattenarbeit. Was wir heute sehen, ist, dass sich das Kapital praktisch aller Frauen und ihrer Arbeitskraft auch für den öffentlichen Bereich unter der Devise ihrer „Befreiung“ (nicht vom, sondern zum Patriarchat!) und „Gleichstellung“ mit den Männern bemächtigt hat – ein Programm, das die Frauen mit der nun einsetzenden beziehungsweise von oben propagierten „Gender“-Bewegung eins zu eins übernommen haben und gar imaginieren, selbst erfunden, „umgesetzt“ und zu den eigenen Gunsten erreicht zu haben! Denn sie sehen gar nicht (mehr), wofür und für wen das gut ist, und was oder wer dafür auf der Strecke bleibt – sie selbst und ihre Kinder. (vgl. Werlhof 1996a; 2010b) Das Problem der Verantwortung für die Hausarbeit bleibt nach wie vor ungelöst bzw. wird zunehmend durch schlecht bezahlte, „hausfrauisierte“ Lohnarbeit in öffentlichen Einrichtungen bewältigt. Insgesamt hat vor allem die Doppel- und Dreifachbelastung der Frauen durch Lohnarbeit, Schattenarbeit und Hausarbeit enorm zugenommen, vor allem auf Kosten der letzteren, die zunehmend durch käufliche Leistungen ersetzt und durch den Einsatz von Maschinen reduziert bzw. umstrukturiert wird (vom Fertiggericht bis zum Handy als Babysitter), also ihres am Lebendigen orientierten Subsistenzcharakters immer mehr verlustig geht. Eine „Gleichstellung“ ist aber gar nicht möglich, solange der Maßstab dafür der Mann, also ein nicht gebärender, kinderloser und von Haus- wie Schattenarbeit ten-

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denziell „freier“ Mensch ist. Die Frauen müssten für eine Gleichstellung also nicht nur die gleichen Löhne, sondern auch die Befreiung vom Gebären, den Kindern und der Haus- und Schattenarbeit fordern. Und das tun sie! Denn die „Befreiung“ der Frauen zur Lohnarbeit hat weder zu einer Reduktion der Schatten- und Hausarbeit, noch zu einer Minderung männlicher Gewalt im Haus und außerhalb davon beigetragen, wie man oder frau es sich von einer zunehmenden Aufhebung der Trennung zwischen privat und öffentlich erhofft hatte. Ja, das Gegenteil scheint einzutreten, indem die Waren- und Maschinenwelt auch den noch quasi-privaten Raum immer mehr durchdringt und damit Konkurrenz und Aggression, Suchtverhalten und Rücksichtslosigkeit, Egozentriertheit und Frustration in diesen importiert. Der Effekt dieser Befreiung der Frauen – nicht von, sondern zu weiterer Arbeit – ist auch ein Ende der Kleinfamilie als dauerhafter Lebensform; also die bewusste Kinderlosigkeit von immer mehr Frauen, die damit einhergeht, die Mütter als Schuldige an der Situation der Frauen zu diffamieren. Eine weitere Folge ist die immer unerträglicher werdende Belastung alleinerziehender Mütter und ihre Verarmung. • Am wenigsten wurde bisher allgemein untersucht, was das alles in Bezug auf das Kapital bedeutet: Es erhält mehr von der auch außerhalb des Hauses billige(re)n („hausfrauisierten“) weiblichen Arbeitskraft als bisher, behandelt sie also wie eine „industrielle Reservearmee“ zur Senkung des Lohnniveaus, erhält dafür gleichzeitig eine besonders fähige, an „Früchten“ orientierte Arbeitskraft, es verkauft mehr Waren, wendet mehr Maschinerie an, zieht die Privatsphäre immer mehr in seinen Geschäftsbereich (Industrialisierung der Hausarbeit, der Mutterschaft sowie des Leibes, der Medizin, der Kinderbetreuung und -sozialisation sowie der Kommunikation und Freizeit usw.), und kann überall weit mehr „befehlen“. • Aber es erhält dafür eine generell weniger gut (re-)produzierte und weniger lebendige neue Generation von Arbeitskräften, wie sich immer mehr zeigt. Hier wäre noch zu forschen. Glaubt das Kapital also noch an seine bisherige alchemistische „Schöpfung“ in puncto Arbeitskraft? Braucht es eine andere Form davon, oder/und braucht es sie so, wie es ihre Re-Produktion seit der Moderne organisierte, nicht mehr? Also: Wird es die Hausfrau, Mutter und Hausarbeit in ihrer modernen Gestalt reformieren, revolutionieren oder gar weitgehend abschaffen? Warum und unter welchen Bedingungen wäre dies der Fall? Haben „De-Populations“-Agenden und die zunehmende Migration aus dem Süden des Weltsystems damit zu tun?

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e) Was also geschieht heute, circa 40 Jahre nach Ivans „Schattenarbeit“? Fest steht, das Kapital hält die von ihm selbst geschaffenen Bedingungen für das Verhältnis von moderner Haus- und Lohnarbeit nicht mehr aufrecht. Das ist neu! – Das „Normallohnarbeitsverhältnis“ befindet sich inzwischen, gerade auch im Norden des Weltsystems, tendenziell in Auflösung. Der Neoliberalismus hat auch den globalen Norden in eine Kolonie seiner Banken und Konzerne verwandelt, mit dem Effekt einer „Drittweltisierung“ der Verhältnisse und einer neuen Unterentwicklung mitten im Industriesystem. Damit einher gehen die „Prekarisierung“ und Marginalisierung oder auch Versklavung von Arbeit, ja, Formen einer neuen Leibeigenschaft, also aller auch vormodernen Ausbeutungsformen und Produktionsverhältnisse. Wir können sie heute interpretieren als Formen einer allgemeinen „Hausfrauisierung“ – statt, wie angenommen – Proletarisierung von Arbeit auch außerhalb des Hauses (vgl. Werlhof 1983). – Mit dem Fall des Normallohnarbeitsverhältnisses beziehungsweise der proletarischen Lohnarbeit – definiert als monetär ausreichend für die Reproduktion des Lohnarbeiters und seiner Familie unter den je gegebenen Bedingungen – fällt auch die moderne Kleinfamilie, wenn auch nicht die Haus- und Mütter- sowie Schattenarbeit als solche. „Der Proletarier ist tot. Es lebe die Hausfrau?“, so hieß ein Aufsatz von mir aus dem Jahre 1981 (vgl. ebd.). Und Ivan prophezeite, dass man ab 1982 in aller Welt sehen würde, dass die Hausarbeit das neue Modell für die Arbeit der Zukunft abgeben würde – aber eben gerade auch außerhalb des Hauses, als billige, quasi „hausfrauisierte Lohnarbeit“ auch für Männer. – Ivan sagte, dass die Hausarbeit die „Schlüsselarbeit“ oder der „Prototyp“ der Schattenarbeit sei. Aber für ihn hatte die Schattenarbeit ausschließlich mit der Ware, ihrem Kauf und ihrem Konsum zu tun, mit dem Transport, der Bürokratie und anderen zeitraubenden Tätigkeiten des modernen Alltags. Sie hatte nichts zu tun mit dem Lebendigen, der Subsistenz und dem noch „Vernakulären“ des Zusammenlebens. Deshalb sagte Ivan uns nichts darüber, wie die Mütter- und Hausarbeit ihren Charakter der Reproduktion des Lebendigen immer mehr verlieren würde. – Im Gegensatz zu den männlichen Kollegen hatte Ivan die Analysen der Feministinnen zum Thema gelesen. Als Konsequenz daraus entstand sein Begriff der „Schattenarbeit“. Ihm zufolge ist sie eine „feminisierte Arbeit“ vom Typ Hausarbeit, aber ohne „Frucht“, also ohne Leben. Diese

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Arbeit scheint „neutral“ zu sein, wird von einem „ökonomischen Geschlecht“ und ohne eigene Qualität ausgeführt. Auf diese Weise reduzierte Ivan die Schattenarbeit auf die merkantile Reproduktion der Arbeitskraft als „Wert“ mittels einer unbezahlten Arbeit von Frauen, die nicht mehr Frauen im Sinne von „Genus“ waren. Es waren die „Gender“Frauen von heute (vgl. Werlhof 2011b). Zusammenfassend hat Ivan also: • per definitionem nicht den Prozess der „Ver-Schattung“ der Hausarbeit diskutiert, nämlich in Bezug auf die Re-Produktion des Lebens, die ja trotz allem weitergeht. • Aber er hat die heutige Situation, in der das Kapital sich offenbar nicht mehr auf dieselbe Weise für die Re-Produktion der Arbeitskraft interessiert wie in den vergangenen zwei Jahrhunderten, jedenfalls im Norden, besser vorausgesehen als viele andere. • Und er sagte uns nichts darüber, wie sich auch ohne direktes Verhältnis zur Lohnarbeit Haus- und Schattenarbeit verändern würden. Dennoch erklärt die Kategorie der Schattenarbeit die neue Verelendung innerhalb des Industriesystems, denn sie ist Ausdruck eines Verderbens, das dem gewalttätigzerstörerischen Charakter der Ware, des Geldes, der Maschine und des Kommandos, also des Kapitals innerhalb des modernen Patriarchats, entspringt. Dieses Verderben, nach Ivan die „corruptio“, ist aus meiner Sicht das Resultat jener alchemistischen „Schöpfung“, welche die Zerstörung und Tötung des Lebendigen und der Erde zugunsten der Utopie einer kriegerischen Ökonomie und Zivilisation voraussetzt. Als „System“ nach dem Modell der Maschine beziehungsweise des Kerkers, das diese Zivilisation des modernen Patriarchats zu werden begonnen hat, ist sie bestrebt, sich nach und nach jeder unabhängigen und originären Lebensäußerung zu bemächtigen und diese in das Verhalten von Söldnern oder Insassen zu verwandeln (vgl. Werlhof 2016), also in eine Welt, deren Teil Ivan nicht sein wollte. • Das ist der Grund, warum ich von der „Ver-Schattung“ der Hausarbeit spreche und nicht von der Feminisierung der Schattenarbeit. Denn wir befinden uns in einem Prozess des Verlustes des Lebendigen selbst, inner- wie außerhalb des Hauses. Er zeigt sich im Rückgang der Geburtentraten im Norden, in den Problemen mit den Kindern und der Entfremdung, die spätestens im Kindergarten und in der Schule einsetzt, wo die Kinder nichts über das Leben lernen, und setzt sich fort mit Drogenkonsum, Gewalt und zunehmender Desorientierung.

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• Die Frauen sind als Hausfrauen, Schattenarbeiterinnen und Lohnarbeiterinnen dermaßen überfordert, dass sie es nicht mehr schaffen, die Qualität der ReProduktion der neuen Generationen und des Lebens allgemein aufrechtzuerhalten, welches auf vielen Ebenen und in verschiedenen Formen zu kollabieren begonnen hat. • Die Ver-Schattung als Ent-Lebendigung der Frauenarbeit überall ist vor allem auch in Bezug auf die Mütter zu sehen. Der Frauenleib wird zunehmend „medikalisiert“, der medizinischen Kontrolle und Invasion unterworfen, also auch den Fortschritten der sogenannten „Lebens-Industrie“, die ganz offensichtlich an der mittel- bis langfristigen Abschaffung der Mutter selbst arbeitet (ebd.). Dafür ist dem System die Diffamierung der Mütter seitens der neuen genuslosen Frauen der Gegenwart, der Gender-Frauen, mehr als willkommen. Denn diese haben die Lektion gelernt: Nicht am Lebendigen geht es lang, sondern an Geld, Macht und am System – so wie es die Männer vormachen. (vgl. Werlhof 1996a) So bereiten ausgerechnet Frauen den Weg zum ultimativen Triumph des Patriarchats, der darin besteht: dass es tatsächlich nicht mehr die Mutter ist, die das Leben hervorbringt, sondern der Mann mit seinen Apparaten und Maschinen. Doch das so hergestellte Leben wird weder besser noch entwickelter sein, sondern umgekehrt schwächer, vor- oder „post“-human, chimärenhaft, maschinenartig, Cyborg oder Roboter (vgl. Werlhof 2016). Dann gälte in der Tat: „Die Hausfrau ist tot. Es lebe der Roboter?“ Künstliche Intelligenz und Künstliches Leben sind daher der neue Maßstab, an dem sich auch die Frauen orientieren (sollen). Und da bestimmte Frauen dies auch wollen, sind eben jene so entsetzt über Ivans Begriff des „Genus“, der das Gegenteil ihres „Gender“ ist. Denn ihnen liegt lediglich am Aufstieg in der patriarchalen Mega-Maschine und nicht am Ausstieg aus ihr! Schließlich ist es vielleicht historisch gesehen ihre letzte Chance, die Gleichheit mit den Männern als Angleichung an sie und ihre angeblich so „schöpferische“ Existenz im Patriarchat am eigenen Leibe oder dem, was dann davon noch übrig ist, zu erfahren. • Insgesamt beginnen sich die absoluten Grenzen des modernen Industriesystems nun zu zeigen, also die Grenzen der alchemistischen Transformation der Welt in ihr Gegenteil: Kapital kann nicht in Natur zurückverwandelt werden. Der Prozess ist eine Einbahnstraße. Ein Wachstum findet dort nicht mehr statt, wo die Annihilation der Welt fortgeschritten ist. Es macht sich die Zerstörung der Natur bemerkbar. Vielleicht braucht das System daher auch nicht mehr so viele Menschen, sei es als Lohnarbeiter oder Mütter. Steht also ein Systemwandel bevor, der von einer Erweiterung auf immer mehr Produzenten und

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Konsumenten abzusehen beginnt, ein Schrumpfungsprozess, in dem die „Digitalisierung“ und die „Künstliche Intelligenz“ einen großen Teil der arbeitenden Menschen verzichtbar macht? Da es sich beim Projekt und der Utopie des Patriarchats um eine Religion handelt, glauben die meisten Menschen nach wie vor daran – ausgenommen die indigenen Völker (vgl. Werlhof 1996b), Ivan und ich sowie, so hoffe ich, alle hier Anwesenden! Schließlich ist zu formulieren, was der Irrtum bzw. das fundamentale Verbrechen der Moderne (gewesen) ist, zu deren radikalsten Kritikern Ivan gehörte: Nur ohne Leben kann es ein „besseres“ Leben geben...? Im Resultat: Das Leben – ein bloßer Schatten? Nein: Das „bessere“ Leben ist nur ein Schatten! Ich hoffe auf Zustimmung dafür, über die rein an Ivan orientierte Debatte hinausgegangen zu sein. Ivan wäre damit einverstanden gewesen, denn es ist genau das, was er von mir erwartet hätte.

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vom tisch zum fenster zur tür vom tisch zum fenster zur tür hinunter ins tal vom tisch zum fenster und bis zu den bergen vom tisch zum fenster und wieder zum tisch und irgendwann vom bett zum tisch zum fenster ein bisschen berg und fenster zum tisch Erika Kronabitter

Demenz und Entfremdung Annemarie Bauersfeld

D IE AUSGANGSLAGE Ich werde von einem Lehrgang zur Ausbildung als Betreuungskraft nach §53c SGB in Oker/Goslar berichten. Der Lehrgang dauerte ein knappes Vierteljahr. Zuvor hatte man mich mehrere Jahre in Folge von der Bildungsstätte angerufen und gefragt, ob ich nicht Lust hätte, an diesem Lehrgang teilzunehmen. Das Arbeitsamt BraunschweigGoslar sei bereit, mir diesen Kurs zu finanzieren. Da ich 2017 selbst eine längere Krankheitsphase durchlitten hatte, willigte ich ein und leitete die mir vorgeschlagenen Schritte ein. Ich war neugierig geworden. Und da ich schon seit mehreren Jahren alte Menschen auf selbständiger Basis betreut hatte, dachte ich mir, dass es nicht verkehrt sein würde, mir in dieser Hinsicht weiteres fachliches Wissen anzueignen. So kam es, dass ich mich Ende Februar 2018 in einem Klassenraum mit mehreren weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmern wiederfand. Die Dozentin ist eine Krankenschwester, die auf einer Station in einer Geriatrischen Privatklinik arbeitet und nebenbei bei einem Bildungsträger angestellt ist. Unsere Gruppe besteht aus 16 Leuten, die größtenteils nicht mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln sind. Die Maßnahme wird durch das Jobcenter beziehungsweise das Arbeitsamt vermittelt und finanziert. Die Gründe der Teilnehmenden, diesen Kurs zu absolvieren, sind vielfältig. Sie reichen von seelischen Krisen, die von den Teilnehmenden durchlitten wurden, bis zu Vermittlungsschwierigkeiten wegen des fortgeschrittenen Alters. Unter ihnen befinden sich allerdings auch jüngere Frauen, die noch keine Ausbildung haben. Wir sollen darauf vorbereitet werden, als zusätzliche Betreuungskräfte alte und betagte Menschen zu beschäftigen. Besonders alte Menschen mit „Demenz“.

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Die Hauptaufgabe liege darin, mit den alten Menschen, die in Institutionen untergebracht sind, eine Beziehung aufzubauen und sie zu „aktivieren“. Wir sollen mit ihnen angeleitete Beschäftigungen durchführen. All das, was von der Institution Altenpflegeheim nicht geleistet werden kann, sollen wir übernehmen. Es gibt aber klare Vorgaben von Aufgaben, die wir nicht übernehmen dürfen, weil uns hierfür die Qualifikation fehlt, wie zum Beispiel das Anrichten von Mahlzeiten oder Aufgaben, die unter den Begriff der „Pflege“ fallen. Damit sind all jene Bereiche gemeint, die etwas mit der Sorge für den Körper zu tun haben. Dazu zählt natürlich die medizinische Betreuung. Meiner Meinung nach haben die Dozentinnen klare Vorgaben: Sie sollen uns in zwei neue Denkmodelle einführen. Einerseits in das gesellschaftlich bedingte Modell der „Aktivierung“ bei alten Menschen, besonders im Hinblick auf Menschen, die nach dem medizinischen Konzept der „Dementiellen Veränderungen“ klassifiziert wurden. Und natürlich in das Konzept der „Demenz“ selbst. So bekamen wir vermittelt: Unter der Voraussetzung, dass alte und betagte Menschen mit „dementiellen Veränderungen“ noch imstande sind, etwas zu tun, sollten wir nun herausfinden, was das sei. Dazu sei es notwendig herauszufinden, über welche „Ressourcen“ die Menschen noch verfügten. Diese Fähigkeiten gelte es zu finden und zu erhalten. Dazu müssten wir sie motivieren. Zunächst skizziere ich kurz das theoretische Modell der „Aktivitätsgesellschaft“ mit dem Ansatz der „Aktivierung“, das der Soziologe Stefan Lessenich entwickelt hat (Lessenich 2008: 297). Denn dieses hatte ich während der ganzen Zeit des Kurses im Kopf. Dann werde ich Näheres über die zusätzlichen Betreuungskräfte nach 53c und deren berufliche Einbettung berichten und kurz den medizinischen Begriff von „Demenz“ vorstellen. Ich werde von der angeleiteten „Kommunikation“, die wir in diesem Kurs gelernt haben, berichten und das Modell der „Validation“ vorstellen. Anschließend werde ich diese Methoden und die dazugehörige Theorie kritisch analysieren. Das Herzstück dieses Berichts sollen jedoch meine Erfahrungen in den Praktika der Altenheime ausmachen, die fester Bestandteil der Ausbildung sind. Es geht mir hier darum aufzuzeigen, wie mit den Menschen in den Altenheimen umgegangen wird, im Speziellen: wie mit ihnen gesprochen wird. Der Schwerpunkt liegt nicht auf einer wissenschaftlichen Ausarbeitung. Ich möchte hier lediglich über meine Eindrücke schreiben und sie kritisch reflektieren. Meine Reflexion ordne ich ein in theoretische Zusammenhänge aus der Soziologie.

Demenz und Entfremdung | 187

DAS M ODELL

DER

„A KTIVIERUNG “

In der kapitalistischen „Aktivitätsgesellschaft“ wird das „Soziale“ nach Stephan Lessenich zurzeit neu erfunden. (Lessenich 2008: 72) Die Sorge des Staates um das Gemeinwohl ändere sich durch einen aktivierenden und investiven Sozialstaat: durch einen neu induzierten Individualismus. Jeder soll aktiv sein wollen. Paradoxerweise steht dabei nicht mehr das Wohl der einzelnen Bürger im Vordergrund, sondern vielmehr die Wohlfahrt der gesellschaftlichen Gemeinschaft. Lessenich macht die Konturen einer Aktivgesellschaft sichtbar, in der Mobilität, Flexibilität und Produktivität zu politischen Steuerungsformeln individuellen Selbstzwangs verkommen. Lessenichs These lautet, dass das Individuum durch Verinnerlichungsprozesse die „Beförderung des Sozialen“ in das Selbst hineinverlagere. Das soll heißen, der Sozialstaat überantwortet seine sozialen Aufgaben dem Individuum. Lessenich bezeichnet die Regierung als spätkapitalistisches Ausbeutungsregime. Es sei ganz gleich, welche Personengruppe beispielsweise dem Mobilisierungsdrang der Aktivitätspolitik anheimfalle, ob Vorschulkinder oder Studierende, Arbeitslose oder Altersrentner: Stets dienten die Lebensführungs- und Produktivitätsnormen der Erwerbsarbeit als Richtschnur gesellschaftlicher Erwartungen. Dabei sei es ganz gleich, was die Menschen selbst für sich als Form und Inhalt eines „aktiven“ Lebens imaginierten oder wünschten. (Lessenich 2008: 70ff) Wenn ich dem gesellschaftspolitischen Ansatz der „Aktivierung“, der nach Lessenich in alle Bereiche der Gesellschaft Einzug gehalten habe, gedanklich nachgehe, könnte demnach die Botschaft an jedes Individuum in der Gesellschaft gerichtet sein, selbst etwas zu tun, also aktiv zu werden. Und wenn sie nicht von selbst aktiv sein können, werden sie eben von anderen Berufsklassen aktiviert, wie beispielsweise durch uns, die den Kurs nach 53c besucht haben. Denn auch Alte und Kranke können durch die „Aktivierung“ für die Gesellschaft nützlich sein. Zumindest entstehen für diese neuen Arten der Aktivierung alter Menschen neue Arbeitsplätze. Zurück zum Kurs: Wir befinden uns in einem Klassenzimmer der Bildungseinrichtung DAA in Oker/Goslar auf dem ehemaligen Hüttengelände der Preussag. Neben Werkstätten zur praktischen Ausbildung zum Tischler und anderen beruflichen Qualifikationen wurden hier auch die Klassenräume für unsere Ausbildung eingerichtet. Hier werden wir theoretisch unterrichtet. In den Nachbarklassenräumen wird Deutschunterricht für Flüchtlinge gegeben. Natürlich steht ein Beamer bereit. Wie selbstverständlich müssen wir auf eine Power-Point-Ausarbeitung schauen. Das medizinische Konzept der „Demenz“ ist gebündelt niedergeschrieben in dem Begleitbuch, welches wir uns zulegen sollen. Auf dem Umschlag sieht man eine freundlich dreinblickende alte Dame mit einem Sommerhut auf dem Kopf, großer

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Brille mit getönten Gläsern und einer Halskette um den Hals. Sie ist in ein weißes Kleid mit Spitzenbesatz gekleidet. Der Hintergrund wird geziert von einem Blumenbeet. Die alte Dame guckt freundlich und innerlich ausgeglichen in die Kamera. Ich denke automatisch: „Soll sie so eine Dame mit dementiellen Veränderungen sein?“ Das Buch heißt: „Demenzbegleiter“ (Schmidt/Döbele 2008). Wir werden in den ersten Stunden nicht mit der Definition „Demenz“ konfrontiert. Zunächst geht es darum, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kurses vorstellen und kennenlernen. Danach nähern wir uns den Aufgaben an, die wir, als zusätzliche Betreuungskräfte in den Altenheimen, übernehmen sollen. Die Frage steht im Raum, weshalb es die zusätzlichen Betreuungskräfte eigentlich gibt? Wir erfahren, dass es diese Art der Ausbildung in Goslar erst seit 2008 gibt. Erst als 2016 die Regierung das grüne Licht für den pflichtgemäßen Einsatz der zusätzlichen Betreuungskräfte in Altersheimen gegeben hatte, sind die Betreuungskräfte vermehrt gefragt. Nach dem neuen Pflegegesetz vom 1. Januar 2017 besteht in der Tagespflege ein Rechtsanspruch auf die zusätzliche Betreuung. Die Einrichtungen müssen die zusätzlichen Betreuungskräfte einstellen. Wir, also die Betreuungskräfte, kosten die Einrichtung nichts, denn wir werden ausschließlich durch die Pflegeversicherung finanziert und nach dem Mindestlohn bezahlt. Nach einem anfänglichen Run auf die Einrichtungen werden zurzeit nur noch wenige zusätzliche Betreuungskräfte eingestellt. In der Einrichtung, in der ich mein Praktikum absolviert hatte, waren pro Station schon zwei zusätzliche Betreuungskräfte eingestellt. Hierarchisch gesehen stehen wir unter den Altenpflegerinnen und den Altenpflegeassistenten. Unsere Aufgabe bestehe eigentlich darin, mit den alten Menschen die „schönen Sachen“ zu machen, so die Dozentin. Demnach sind wir für den sozialen Kontakt zuständig und je nach „Demenzgrad“ sollen wir Beschäftigungen mit ihnen durchführen. Aber was bedeutet „Demenz“?

DAS D EMENZ -KONZEPT Nach dem medizinischen Lehrbuch wird „Demenz“ folgendermaßen definiert: Es wird unterschieden zwischen den „primären Demenzen“, die durch einen Abbau der Hirnsubstanz entstehen und den „dementiellen Syndromen“, die auf der Basis einer anderen Erkrankung auftreten, beispielsweise Mangelernährung, Alkoholabhängigkeit, Stoffwechselstörungen oder entzündlichen Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Der Begriff „Demenz“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt „ohne Geist“. Was ein dementielles Syndrom ist, hat die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert: als eine erworbene globale Beeinträchtigung der höheren Hirnfunk-

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tionen einschließlich des Gedächtnisses, der Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, der Ausführung sensomotorischer und sozialer Fähigkeiten, der Sprache und Kommunikation sowie der Kontrolle emotionaler Reaktionen ohne ausgeprägte Bewusstseinstrübung. Alois Alzheimer (1864-1915), ein deutscher Psychiater, beschrieb schon 1901 den typischen Gesprächsverlauf mit dementen Menschen. Nach ihm existieren präsenile und die senile Formen von Demenz. Die „präsenilen Formen von Demenz“ treten schon vor dem 60. Lebensjahr auf. Beide Formen gehören zur Gruppe der „Alzheimer-Demenzen“ und machen 70 Prozent aller Demenzen aus. Die übrigen „dementiellen Veränderungen“ kommen durch Durchblutungsstörungen im Gehirn wie Schlaganfälle zustande. Wir schauen auf die Leinwand und bekommen ein Gehirn gezeigt, welches von einer weißen Schicht ummantelt ist. Dieses Gehirn sei von Plaque übersät – der physische Beweis für eine dementielle Erkrankung. Die weiße Schicht seien Eiweißablagerungen, die dort nicht hingehörten. Uns werden Zahlen von Menschen in der Bundesrepublik genannt, die alle an den unterschiedlichsten Formen von „Demenz“ erkrankt seien.1 Weil diese Zahl sehr hoch sei, habe die Pflegeversicherung mehr Geld für Menschen mit dementiellen Veränderungen bewilligt. Würden diese zuhause betreut werden, zahle die Krankenkasse 125 Euro monatlich pro Fall. Wie denn so eindeutig gesagt werden könne, dass eine Person an „Demenz“ leidet, wird gefragt. Es gebe Tests, die von Ärzten und dem Personal der Gesundheitsämter an Patientinnen und Patientendurchgeführt werden würden, antwortet die Dozentin. Nach den vielen Informationen fühle ich mich wie erschlagen und verlasse den Raum, um mir einen Kaffee zu holen. Bis jetzt waren die Informationen sehr abstrakt. Um diesem abstrakten Denken abzuhelfen, bekommen wir jetzt Filme gezeigt, die uns alte Menschen näher bringen sollen, die an „dementiellen Veränderungen“ leiden.

D IE V ERMITTLUNG

DES

KONZEPTS

DER

VALIDATION

Das Konzept der Validation wurde uns am zweiten Tag anhand von Beispielen nahegebracht. Diese will ich hier ausführlich darstellen und anschließend analysieren. Im ersten Beispiel bekamen wir folgende Aufgabe: Wie spreche ich Frau Müller an, die verwirrt ist, in den Fluren des Altenheimes herumgeht und dabei immer wie-

1 | „Nach aktuellen Schätzungen leben heute rund 1,3 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland. Weil die Bevölkerung generell altert, dürfte sich dieser Anteil bis zum Jahr 2050 mehr als verdoppeln.“ (Schmidt/Döbele 2008: 190)

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der nach ihrer Mutter sucht. Es ist Mittag und das Essen soll in einiger Zeit serviert werden. Die Dozentin erklärt, dass wir aus der Biographie von Frau Müller wüssten, dass die Mutter dieser Frau längst verstorben sei. Vonseiten der Teilnehmerinnen kommen Vorschläge, wie mit dieser Frau umgegangen werden könnte. Und zwar auf diese Art: Die Frau solle getröstet werden, indem sie liebevoll angesprochen werde. Oder man solle die Frau mit irgendetwas ablenken. Sie unterhaken und von etwas anderem sprechen. Oder mit ihr ein Stück des Weges gehen und sie dabei beruhigen. Die Dozentin erklärt uns, alle diese Beispiele seien keine „Validation.“ Wichtig bei der Validation sei es, die Gefühle der Erkrankten anzunehmen und für gültig erklären. Punkt 1: Gefühle und Antriebe werden vom Personal erkannt und erspürt. Punkt 2: Die Gefühle und Antriebe werden „validiert“, was bedeutet, in kurzen klaren Sätzen Gefühle und Antriebe anzunehmen, zu akzeptieren und wertzuschätzen. Punkt 3: Allgemeines Validieren, zum Beispiel mit Sprichwörtern, Volksweisheiten und Liedern. Punkt 4: Das Lebensthema erarbeiten (z.B. berufsbezogene Antriebe) und dieses durch Schlüsselwörter erkennen. Zunächst soll man auf die Frau zugehen und sie spiegeln. Das heißt, die Frau soll auf die Verhaltensweise hin angesprochen werden, die sie gerade zeigt. Die Dozentin geht im Raum herum und demonstriert das beispielhaft: „Frau Müller, Sie sind unruhig. Sie sind unruhig und besorgt. Sie suchen ihre Mutter. Bestimmt war Ihre Mutter eine gute Mutter. Wir möchten alle eine gute Mutter haben. Alle Mütter sind für ihre Kinder das allerwichtigste. Hat Ihre Mutter gut gekocht? Kommen Sie, wir gehen gemeinsam zum Speisesaal, dort gibt es gleich das Mittagessen.“ Der erste Schritt der Validation besteht darin, den Antrieb dieser Frau zu erkennen. Unter dem Antrieb wird hier der Grund verstanden, weshalb diese Frau unruhig war. Der zweite Schritt besteht darin, diese Unruhe zu benennen. „Frau Müller, Sie sind unruhig.“ Damit soll signalisiert werden, dass man diese Unruhe als Verhaltensweise versteht. „Sie sind unruhig, weil Sie ihre Mutter suchen.“ Der Antrieb hier war die Mutterliebe. Dann zieht man diese Unruhe und Sorge auf eine allgemeine Schiene hinüber. „Bestimmt war ihre Mutter eine gute Mutter. Alle Mütter sind für ihre Kinder das allerwichtigste. Hat ihre Mutter gut gekocht?“ Die Dozentin betont, wir seien nicht dazu da, die seelischen Probleme dieser Frau zu lösen. Validation dauere nur etwa fünf Minuten. Zielführend sei es, die Sichtweise des dementiell Erkrankten für gültig zu erklären. Fachlich wird davon ausgegangen, dass „dementiell Erkrankte“ sich an der Vergangenheit orientieren, das heißt, sie erleben diese gegenwärtig wieder. Das Empfinden und die dort erlebten Gefühle werden zur jetzigen Realität. Der Fachbegriff dazu wird „Innere Lichtung“ genannt.

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Es wird darüber fachlich gestritten, ob dementiell erkrankte Personen aus dieser „inneren Lichtung“ herausgeführt werden sollten oder ob man sie darin belässt. Falsch wäre es, so die Dozentin, würde der dementiell Erkrankten die Wahrheit gesagt werden. In der Art: „Frau Müller, sie wissen doch, dass Ihre Mutter schon verstorben ist.“ Eine solche Äußerung wäre negativ und würde dafür sorgen, dass Frau Müller noch unruhiger würde. Es komme darauf an, Gefühle und Antriebe zu erkennen und zu erspüren. Hier gehe es nicht einfach darum, Frau Müller abzulenken. Der Antrieb oder die Gefühle dieser Frau werden also von einer anderen Person bestimmt und ihr zugeschrieben. Denn wie kann gewusst werden, was die Frau wirklich fühlt? Die Frau wird mit ihrem Gefühl allein gelassen. Sie wird meiner Meinung nach nicht ernst genommen, sondern als kranke Person (Patientin) wahrgenommen und behandelt. Die Verhaltensweise von Frau Müller ist unbequem. Unruhe und Hinund-her-Gehen sind in einem Altenheim unerwünscht. Frau Müller wird mittels Validation dazu gebracht, im Sinne der Institution, das heißt: deren Tagesablaufs, zu funktionieren. Kein Wort wird über die eventuelle Sehnsucht von Frau Müller nach ihrer Mutter gesprochen. Auch kein Wort darüber, dass Frau Müller sich vielleicht danach sehnt, liebevoll behandelt zu werden. Vielleicht erinnert sich Frau Müller gerade daran, wie es gewesen ist, als ihre Mutter noch für die Familie oder für sie gekocht hat. Vielleicht hat auch Frau Müller selbst für ihre Mutter gekocht? Wer weiß das schon? Und deshalb würde man nach meinem Ermessen den vermuteten Gründen mit einer Frage an Frau Müller nachgehen. Beispielsweise: „Frau Müller, wie geht es Ihnen?“ Würde sie gefragt werden, käme man den Gründen gegebenenfalls näher. Wahrscheinlich gibt es mehrere „innere Antriebe“ für das unruhige Verhalten. Indem aber von ihrem äußeres Verhalten auf ihren inneren Zustand geschlossen wird, wird sie auf dieses momentane Verhalten festgelegt. Nämlich auf die Unruhe. Frau Müller könnte während der Validation das Gefühl bekommen, sie mache etwas falsch. Wirkliche Anteilnahme würde darin bestehen, dieser Unruhe nachzugehen. Und Frau Müller zu fragen, was man tun könne, um ihr zu helfen. Manchmal kann man gar nichts tun. In einer fremdbestimmten Institution scheinen mir die Vorschläge der Kursteilnehmerinnen sehr viel besser zu wirken als eine angeleitete Validation. Trösten, Körperkontakt und ruhiges Zusprechen, Fragenstellen und Beruhigen sind ebenso Ablenkungen von akut erlebten Gefühlen, aber mit dem Unterschied, dass die betroffene Person noch in das Gespräch mit einbezogen wird. Hier wird nicht einfach über ihren Kopf hinweg bestimmt. Nach Michel Foucault bedeutet Machtausübung, dass das Handlungsfeld des Subjekts strukturiert wird in einem dafür geschaffenen strukturellen Rahmen. (Foucault 2006: 159) In der Institution des Altersheimes werden alle Bedürfnisse der Bewoh-

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nerinnen und Bewohner der Tagesplanung untergeordnet. Im Fall Frau Müllers war eben Essenszeit. Dieses Beispiel der Validation zeigt, dass sie daraufhin ausgerichtet wurde, Frau Müller pünktlich zum Essen zu begleiten. Alte und betagte Menschen in Altenheimen werden somit fremdbestimmt. Ich kann mir vorstellen, dass gerade diese Fremdbestimmtheit zu Verwirrtheitsgefühlen führt. Zweites Beispiel: Von einer zweiten Dozentin bekommen wir zum Thema Validation ein Kurzportrait überreicht. Unsere Aufgabe war, uns zu überlegen, wie wir Frau Salzmann validieren könnten. Frau Salzmann ist im 92. Lebensjahr. Sie ist Kriegswitwe und musste ihre fünf Kinder während des Zweiten Weltkrieges in Berlin ohne die Unterstützung ihres Mannes versorgen. Seit sechs Jahren lebt Frau Salzmann im Seniorenstift am Mandelberg. Sie ist mittlerweile zeitlich, örtlich und personell desorientiert (dementielle Veränderung). Frau Salzmann geht gerne umher, singt gerne und kramt häufig in Schränken und Schubladen. Anderen Menschen gegenüber ist sie freundlich, hilfsbereit und aufgeschlossen. Sie benötigt Unterstützung beim Waschen, beim An- und Auskleiden, bei der Einnahme der Mahlzeiten sowie bei Toilettengängen. Frau Salzmann spricht oft von der Vergangenheit. Häufig ist sie in dem Glauben, dass sie sich um ihre kleinen Kinder kümmern muss und macht dann einen unruhigen und besorgten Eindruck. Im Moment ist Frau Salzmann unruhig. Sie geht umher und wirkt dabei aufgeregt. Die Beispiele aus unserem Kurs sind jetzt schon dem Lehrstoff angepasster. Man solle Frau Salzmann erst einmal beruhigen, indem man sie zum Spazierengehen ermutigte. Weil sie unruhig sei, müsse man irgendetwas mit ihrer Unruhe machen. Die Dozentin erklärt, dass man hier die Ressource des Antriebes (Aufregung) nutzen könne. In etwa folgendermaßen: „Frau Salzmann, sie sind aufgeregt. Sie sind aufgeregt und unruhig, weil Sie ihre Kinder suchen. Sie lieben ihre Kinder. Sie sind eine gute Mutter, auf Sie kann man sich verlassen. Wie alt sind Ihre Kinder? Kommen Sie, wir basteln etwas für Ihre Kinder. Sie werden sich darüber freuen.“ Auch hier gilt wieder: 1. Die Gefühle und Antriebe erkennen. 2. Gefühle annehmen und bestätigen, meint wertschätzen. 3. Gespräch ins Allgemeine ziehen („wir alle sind so“). 4. Praktische Problemlösung. Frau Salzmanns Lebensthema sei die Mutterliebe, wird uns gesagt. Das Schlüsselwort des Lebensthemas sei „Kinder“. Es sei wichtig, dass das Selbstbild von Frau Salzmann erhalten bleibt. Ihre Charaktereigenschaften wie Mütterlichkeit, Verlässlichkeit und Fürsorge könnten von ihr selbst nicht mehr ausgedrückt werden. Deshalb müssten sie durch uns bestätigt werden. Die Validation löse keine Probleme, aber man kümmere sich um die Menschen. Manchmal entstehe ein Gespräch. Gefühle dürften

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dabei nicht ganz angenommen werden, sondern sie sollten ins „Allgemeine“ gezogen werden. Die Praktische Problemlösung bestehe darin, mit Frau Salzmann etwas zu unternehmen. Meine Analyse: Frau Salzmann hat ihr Leben als Kriegswitwe mit fünf Kindern bewältigt. Wahrscheinlich verfügte sie über eine kleine Witwenrente, die mehr schlecht als recht ausgereicht hat. Dennoch hat Frau Salzmann ihre Kinder großgezogen. Über ihre Kinder wird in diesem Beispiel nichts erwähnt. Auch nicht, weshalb nicht eines der Kinder sich ihrer Mutter im Alter angenommen hat. Das wäre noch vor gut fünfzig Jahren ihre Pflicht gewesen. Seit Ende der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts hat der Staat diese Pflichten durch die Schaffung sozialer Institutionen vermehrt übernommen. Die Betreuung von alten Angehörigen wurde mehr und mehr aus den Familien ausgegliedert und kommodifiziert. Das soll heißen, dass traditionelle Aufgaben der Familie, wie zum Beispiel das Zubereiten einer Mahlzeit, heute in der professionellen Pflege mit etwa 20 Euro bewertet und entlohnt werden. In unserer Dienstleistungsgesellschaft wird die Tätigkeit „Essen kochen und anreichen“ als Ware angeboten und verkauft. Aber Fürsorgearbeit lässt sich nicht kommodifizieren. Stephan Lessenich beschreibt das Konzept der „Neuerfindung des Sozialen“ folgendermaßen: Der Neoliberale Staat entledige sich nun seiner Pflichten, die im Gesellschaftsvertrag beschlossen waren: Der Staat sollte die Erwerbsarbeit aller Bürgerinnen und Bürger befördern und im Gegenzug soziale Institutionen schaffen, die bezahlbar sein sollten. Nun lege der Staat die Verantwortung sozialer Fürsorge mehr und mehr den Bürgerinnen zur Last. Indem sozialstaatliche Aufgaben ausgegliedert und individualisiert würden, müssten sich die Bürgerinnen wieder selbst um soziale Belange kümmern. Deshalb werde durch einen neu initiierten Wertewandel die Verantwortung des Sozialen in das Innenleben der Subjekte verlagert. Es findet ein Umbruch im Selbstverständnis statt: Bürger aktivieren sich selbst. Sie fühlen sich selbst dafür verantwortlich, alle Dienstleistungsangebote zu nutzen, damit sie fit und gesund bleiben. Ich überlege, wie dieses Theorem zusammen passt mit der Tatsache, dass immer mehr Altenheime gebaut werden? Meinen Beobachtungen zufolge finden zurzeit durchaus sehr widersprüchliche Bewegungen statt, was die Fürsorge von alten Menschen betrifft. Ziel der Pflegeversicherung sei es, so hörte ich es im Radio, zu ermöglichen, dass alte Menschen so lange wie möglich in ihren eigenen Wohnungen bleiben können. Gleichzeitig sprießen neugebaute Altenpflegeheime wie Pilze aus dem Boden. Meiner Meinung nach verknüpft der neoliberale Staat die soziale Fürsorge der Menschen, die mehr und mehr durch soziale Institutionen übernommen und teilweise staatlich finanziert wird, mit dem ebenfalls ökonomisch ausgerichteten Gesundheits-

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system. Ich vermute deshalb, es könnte zur Normalität werden, dass alte Menschen dann in Altenheimen untergebracht werden, wenn das medizinisch ausgerichtete ambulante Versorgungssystem nicht mehr greift. Ich stimme Stephan Lessenich zu, dass allgemein neue Verhaltensweisen der Individualisierung, zum Beispiel der „Aktivierung“ aller in der Gesellschaft, zur Wirkung gekommen sind.2 Die Botschaft lautet: Sorge dich selbst um deine Gesundheit und um dein Alter! Für alte Menschen, die während ihres Lebens ganz andere Normen und Werte gelebt haben, wie zum Beispiel Frau Salzmann mit ihren 92 Jahren, wird es so gut wie unmöglich sein, sich umzustellen. Mit ihrer Generation verwachsen, dürfte sie noch davon ausgegangen sein, dass sich die Angehörigen sich ihrer im Alter annehmen. Herausgerissen aus ihren familiären Zusammenhängen und seit mehreren Jahren im Altersheim untergebracht, fühlt sie sich wahrscheinlich total entfremdet und wirkt deshalb des Öfteren desorientiert. Wie soll sie begreifen, dass sie sich nun unter fremden Menschen befindet? Weshalb sollte sie mit ihren 92 Jahren zum Basteln gehen? Da wird auch die Validation nichts daran ändern können, dass sich Frau Salzmann verzweifelt nach alten Zeiten zurücksehnt. Auch für das auszubildende Personal wird es teilweise schwierig sein, sich mit der neuen „Technik der Aktivierung“ anzufreunden. Weshalb sollte eine 92 jährige Frau überhaupt für eine beliebige Beschäftigung aktiviert und motiviert werden, könnten sich einige fragen. Ich habe in einem Altenheim, geführt von einer evangelischen Institution, die Erfahrung gemacht, dass man auch vom Wert der „Selbstbestimmung“ ausgehen kann. Einige Angehörige des Personals fragten die Bewohnerinnen und Bewohner, ob sie an dieser oder jener Beschäftigung teilnehmen wollten. Wurde dies vonseiten der Bewohner verneint, dann hat man sie in Ruhe gelassen. Allerdings wurde uns in der letzten Woche meines Praktikums dort die Aufgabe einer vermehrten Motivation von Bewohnerinnen aufgetragen. Aufseiten der Leitung hatte man festgestellt, dass es „zu wenig“ Teilnahme an den Beschäftigungsangeboten gab. Aus diesem Grund wurden wir angehalten, sie vermehrt zu motivieren. Validation ist eine Gesprächstechnik, die dazu dient, sich nicht wirklich mit den Bewohnern auseinandersetzen zu müssen. Es ist ein künstlich geführtes BetreuerinnenPatientinnen-Gespräch, um das Verhalten der Bewohner zu steuern. Die Bewohner werden als Kranke angesehen, als Menschen mit „dementiellen Veränderungen“. Im

2 | Vgl. Lessenich et al. 2014. Hier hat das Team das Leben von Menschen im Alter untersucht. Es wurde herausgearbeitet, dass Menschen im Ruhestand sich eben nicht an die Normen und Werte der „Aktivgesellschaft“ anpassen. Allerdings ging es hier um Menschen, die nicht in Institutionen (Altersheimen) untergebracht waren.

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Endeffekt spricht niemand mehr ganz normal mit ihnen. Und was sollte man auch sprechen mit den alten Menschen, die völlig entwurzelt in den Altenheimen leben. Sie leben nicht mehr ihr eigenes Leben. Sie sind von fremden Personen umgeben. Ich könnte mir vorstellen, dass sich etliche Bewohnerinnen wie auf einer Astronautenstation vorkommen.

D IE P RAKTIKUMSSTELLE

IN

L ANGELSHEIM

Wir bekamen die Praktikumsstellen vom Kurs aus zugeteilt. Ich musste mit dem Auto zehn Kilometer in eine andere Stadt fahren und vier Stunden täglich dort in einem Altersheim auf einer „Demenzstation“ arbeiten. Das Haus des Altenheimes, welches privat betrieben wird, ist recht hübsch. Es war früher ein Hotel und ist ein schönes, altes Fachwerkhaus. Man hatte mir gesagt, ich solle an der Glastür klingeln und mich bei Klara3 melden. Ich gelange durch eine helle Eingangshalle, es ist wohl die ehemalige Rezeption mit Blick auf einen Aufenthaltsraum, bis zum Fahrstuhl. Dort empfängt mich Klara, eine große, stämmige Frau, Ende fünfzig. Kurzer Händedruck und wir gehen los. Ich bekomme Anweisung, die Tür der Demenzstation immer zu schließen. Durch einen Summer an der Türe, der weit oben, außerhalb der Reichweite der Bewohnerinnen und Bewohner angebracht ist, kann man die Türe öffnen. Wir gehen durch einen dunklen Flur, der mit elektrischem Licht beleuchtet ist. Es ist morgens um acht Uhr. Draußen war es kalt und die klare Winterluft gab ein schönes, helles Licht ab. Klara schreitet energisch in Richtung Aufenthaltsraum voran, in dem ein paar Bewohnerinnen und Bewohner an Tischen sitzen. Der Aufenthaltsraum ist ein großer Flur, von dem aus die Türen zu den Zimmern der Bewohner abgehen. Eine alte Frau ruft mir etwas zu und lächelt freundlich. Daraufhin sagt Klara, zu mir gewandt: „Darauf brauchst du gar nicht zu antworten, die sind alle dement!“ Sie tippt sich an die Stirn. „Die kriegen alle nichts mehr mit!“ Ich war schockiert, ließ mir aber nichts anmerken. Dann sagt Klara, ich solle erst mal gar nichts tun, sondern mitgehen und zugucken. Sie bereitet das Frühstück für die Bewohner der Station 1 vor und ich verteile die Teller und Tassen an die Tische. Jeder Bewohnerin wünsche ich einen guten Appetit. Danach laufen wir auf eine andere Station, um dort den bettlägerigen Bewohnerinnen und Bewohnern die Mahlzeit anzureichen. Diejenigen mit Schluckbeschwer-

3 | Die Namen wurden geändert, A. B.

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den bekommen einen angedickten Brei. Klara reicht vier bettlägerigen Personen die Mahlzeit an. Auch wenn sie nicht schlucken wollen, bekommen sie den Brei zwischen die Zähne in den Mund gepresst. Seltsamerweise spricht Klara während dieser gewaltsamen Aktion sehr nett zu ihnen. Sie sagt zu mir: „Sie müssen essen, denn sie haben Untergewicht.“ Klara kennt diese Frauen und Männer schon länger. „Die war vorher so gut drauf und dann hat sie so schnell abgebaut“, sagt sie über eine Frau, der sie gerade anreicht. Ansonsten habe ich den Eindruck gewonnen, dass sehr selten mit diesen Bewohnerinnen und Bewohnern, die im Bett liegen, gesprochen wurde. Aber umso ausführlicher sprechen die Altenpfleger und die Betreuerinnen während ihrer Arbeit über ihre privaten Angelegenheiten. Manche Altenpflegerinnen machen ihre Arbeit schon jahrzehntelang. Meistens kommen sie aus der näheren Umgebung. Hätten die Angestellten keine Möglichkeit, hier über ihre privaten Angelegenheiten zu sprechen, dann könnten sie wahrscheinlich ihre Arbeit auch nicht tun, glaube ich. Sie waschen die alten Leute und ziehen sie an. Sie machen die Betten sauber und helfen denjenigen zur Toilette, die es noch selbständig können. Sie teilen die Medikamente aus und reichen die Mahlzeiten an. Altenpflegerinnen müssen das körperliche Befinden, das Verhalten und das emotionale „Wohlbefinden“ der Bewohner täglich dokumentieren. Krankenkassen, Pflegekassen und die Heimaufsicht verlangen es. Dokumentiert werden muss, was Bewohnerinnen getan und wie sie sich dabei verhalten haben. Aber auch die zusätzlichen Betreuungskräfte, wie zum Beispiel Klara, müssen Dokumentationen schreiben. In unserem Kurs haben wir gelernt, dass es unterschiedliche Dokumentationssysteme gibt. Meistens sind es computerbasierte Systeme wie SIS (Strukturierte Informationssammlung). Das frühere Modell der Dokumentation der „fördernden Prozesspflege“ nach Monika Krohwinkel wurde abgelöst. In ihrem theoretischen Konzept standen die individuelle Lebensgeschichte sowie die Förderung der Fähigkeiten der Bewohnerin im Mittelpunkt. (Schmidt/Döbele 2008: 78) Jetzt wird nach den Modulen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit des Bewohners dokumentiert. Das ist von den Inhalten her etwas völlig anderes, denn man geht jetzt von den festgestellten Defiziten der Bewohnerinnen aus, auf die von Ärzten oder den Sozialmedizinischen Diensten getestet wird. Dazu muss man dann nur noch in vorgegebene Spalten kurze standardisierte Sätze eintragen.4 Nach dem erweiterten Pflegegesetz von 2015 muss für jede Bewohnerin und jeden Bewohner vom Personal eine Zielvereinbarung erarbeitet werden. Wenn eine Bewohnerin beispielsweise in ihrer Sprachfähigkeit Stö-

4 | SIS nach den Modulen des Neuen Begutachtungsassessments NBA zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit. Vgl. Schmidt/Döbele 2008: 94.

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rungen aufweist, kann es zu einem Ziel werden, diese in Einzelbetreuung und durch Validation in Gesprächskreisen zu verbessern. Nach einem bestimmten Zeitraum wird dann dieses Ziel überprüft. Auf einer Demenzstation müssen allgemein die Ressourcen des Gedächtnisses verbessert werden. Dazu wird als Angebot zweimal in der Woche ein „Gedächtnistraining“ für die ganze Gruppe anberaumt. Während meines Praktikums ging es hierbei zu wie im Unterricht einer Vorschulklasse. Eine Betreuerin stand an einer Tafel und die Bewohner sollten sagen, was ihnen zum Thema „Frühling“ einfalle. Von 10.30 bis 11.30 Uhr finden mehr oder weniger regelmäßig angeleitete Beschäftigungen statt. Aber bis zu dieser Zeit sitzen die Bewohnerinnen der Demenzstation an ihren Frühstücksplätzen. Niemand spricht mit ihnen, es sei denn ein Arztbesuch liegt an oder ein Angehöriger kommt zu Besuch. Ansonsten sitzen sie stumpfsinnig an ihren Plätzen. Etliche der Bewohnerinnen und Bewohner der Demenzstation sitzen im Rollstuhl. Will sich beispielsweise Herr Beier mit dem Rollstuhl im Flur etwas bewegen, wird er lautstark zurückgepfiffen. Der Ton der Betreuer ist dann sehr harsch. Aber auch die Altenpflegerinnen beaufsichtigen die alten Menschen auf diese Art, wenn sie die alten Menschen nicht gerade waschen oder in die Betten bringen, oder sie des Morgens und Nachmittags wieder herausholen. Während sie mit den Betreuerinnen mal eben raus zum Rauchen gehen, oder während sie in einer abgeteilten Ecke des Flurs frühstücken, warten die Bewohner auf ihren Plätzen darauf, dass irgendetwas passiert. Denn es gibt faktisch gar nichts für sie, was sie tun könnten. Denn sie sind ja ihrem eigenen, vorherigen Leben völlig entfremdet. Eine der Betreuerinnen sitzt meistens am Computer, der im Flur hinter einem halbhohen Schrank steht, beobachtet von dort aus die Bewohner und schreibt an der Dokumentation. Eine Abwechslung gibt es: Am Sonntag läuft vormittags der Fernseher. Ein Gottesdienst wird gesendet. Ansonsten läuft ständig das Radio. Der Sender ist nicht gerade einer, den sich alte Leute anhören würden. Selbstverständlich können die Bewohnerinnen auch auf ihr Zimmer gehen, falls sie noch selbständig gehen können. Dort sitzen sie dann ganz alleine oder mit ihrem Zimmernachbarn herum. Nachmittags läuft es genauso ab, mit dem Unterschied, dass es Nachmittagskaffee gibt und dann später das Abendbrot. Auf der Demenzstation werden im Winter keine Spaziergänge mit den Bewohnerinnen unternommen. Die Aktivierung der Bewohner geschieht durch gezielte, angeleitete Beschäftigungen. An einer solchen, der des Tanzens, habe ich an einem anderen Tag um halb elf teilgenommen. Leider durften nur drei der achtzehn Bewohnerinnen der Demenzstation mitkommen. Mir wird aufgetragen, nur die drei „fitten Bewohner“ mitzunehmen, die noch nicht im Rollstuhl sitzen und deren Demenz noch nicht so weit fortgeschritten sei. Alle anderen bleiben auf Station zurück. Auf meinen Vorstoß hin, man

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könnte doch auch die anderen dort hinbringen und zuschauen lassen, heißt es, es sei nicht genug Platz im großen Aufenthaltsraum. Dieser befindet sich gleich neben dem Eingang des Hauses. Leider ist er auch mit Tischen und Stühlen vollgestellt, sodass sich die Betreuerin, die das Angebot anleitet, sich erst einmal Platz schaffen muss. Die Beschäftigung „Tanzen“ wird alle zwei Wochen angeboten. Aus allen Gruppen, es sind fünf, sitzen die Bewohnerinnen und Bewohner in einem Kreis. Dann wird eine Schallplatte aufgelegt. Es ist immer dieselbe, Schlager aus den 50er Jahren. Einige Bewohner kennen die Texte schon gut und singen mit. Dann tanzt die Betreuerin abwechselnd mit Männern und auch mit Frauen im Kreis herum. Auch fordern Männer Frauen zum Tanzen auf und umgekehrt. Das Tanzen kommt bei allen Bewohnerinnen sehr gut an. Ich bin erstaunt darüber, wie man mit wenigen Mitteln die Bewohnerinnen glücklich machen kann. Nach vier Wochen Arbeit auf der Demenzstation wollten die Betreuerinnen, es waren Klara und eine andere, mir keine gute Bescheinigung über mein abgeleistetes Praktikum geben. Ihre Begründung war, ich hätte zu wenig Einsatz gezeigt. Nachdem ich mich aber dagegen gewehrt und der Leitung meine durchgeführten Beschäftigungen genannt und außerdem angezeigt hatte, dass die Betreuerinnen und Betreuer sehr oft wegen Rauchens gar nicht anwesend waren, bekam ich dann doch meine Papiere. Ich habe nicht in das Team gepasst. Das ist mir schon von Anfang an klar gewesen. Erstens habe ich mich nicht an ihren Privatgesprächen beteiligt und zweitens bin ich keine Raucherin. Meine Vorstöße in Richtung Beschäftigungen wurden zunächst sehr strikt unterbunden. Zum Beispiel hatte ich für die tote Zeit zwischen den Mahlzeiten ein Tiermemory von zu Hause mitgebracht und habe es mit zwei der Bewohnerinnen gespielt. Daraufhin bekam ich von Klara die Rüge, ich dürfe niemals Spiele von zuhause mitbringen, wegen der hygienischen Bestimmungen. Als ich vorschlug, während der toten Zeit Spiele des Heimes anzubieten, zum Beispiel „Mensch ärgere Dich nicht“, wurde mir gesagt, es sei hier nicht üblich, außerhalb der Beschäftigungszeiten Angebote zu machen. Wenn Klara keinen Dienst hatte, führte ich meine Angebote trotzdem durch. Die Frau, die mich am Anfang begrüßt hatte, spielte sehr gern mit mir Memory und malte auch gern Blätter aus. Man sagte mir, sie blühe regelrecht auf. Hin und wieder wollte sie ihren Kakao nicht trinken und wurde deshalb vom Personal harsch angegangen. Ich habe sie dann beruhigt und ihr gut zugesprochen. Eines Tages jedoch war sie nicht mehr auf Station. Ich erfuhr, dass sie einen körperlichen Zusammenbruch erlitten hatte. Sie hatte vom Arzt Medikamente verschrieben bekommen, die sich nicht vertrugen und einen Kollaps auslösten. Ich war sehr traurig darüber. Abschließend kann ich berichten, dass allen Bewohnerinnen und Bewohnern auf der Demenzstation Medikamente gegeben wurden. Darunter waren Medikamente

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gegen Depressionen und andere psychische Auffälligkeiten wie Aggressivität und Wahnvorstellungen. Außerdem wurden Präparate gegen Einschlafstörungen, gegen zu hohen Blutdruck und viele andere mehr verabreicht.

M EINE S CHLUSSFOLGERUNGEN Aus meinen Beobachtungen schließe ich erstens, dass die Altenpfleger und -pflegerinnen sowie die Betreuerinnen und Betreuer fest daran glauben, alle Menschen auf der Demenzstation seien an „Demenz“ erkrankt. Dabei glauben sie genau das, was wir auch im Unterricht gelehrt bekamen, nämlich dass es unterschiedliche Grade von Demenz gibt und alle Formen davon der medizinischen Behandlung bedürfen. Mit der Historikerin und Medizinkritikerin Barbara Duden kann ich behaupten: „Erst die Professionalisierung der medizinischen Terminologie, die mit der Entstehung des neuen Körpers parallel läuft, hat zu zwei heterogenen Sprech- und Wahrnehmungsweisen geführt und den Kranken zum Schweigen gebracht.“ (Duden 1987) Die Medizin hat sich als Instanz in den Altenheimen ununterbrochen Zuständigkeit verschafft. Der Unterschied zwischen „krank“ und „gesund“ besteht nicht mehr. Demenztests, die nur die kognitiven Fähigkeiten abfragen, wie zum Beispiel die Rechenaufgabe, solange man kann, sieben von hundert abzuzählen, sind total unsinnig. Sie werden aber als Blaupause für die Einteilung von alten Menschen in die Kategorien der Demenzgrade benutzt. Zweitens: Meines Erachtens wurden die Bewohner nicht mit ihren sehr speziellen Alterserscheinungen angesehen und mit Würde behandelt. Stattdessen wurden sie alle behandelt wie Patientinnen in einer Psychiatrie: Als seien sie nicht normal. Vieles, was die alten Leute von sich gaben, während sie beobachtet wurden, wurde vom Personal entweder belächelt oder auch abgewertet. Der Umgang der alten Leute mit ihren Mitbewohnerinnen wurde dauernd beobachtet und kommentiert. Manchmal wurden Äußerungen von Bewohnern vom Personal böswillig kommentiert. Die alten Leute wurden wie kleine Kinder behandelt, also infantilisiert. Sie wurden wie kleine Kinder angesprochen und an der Wange getätschelt. Ich empfand den Umgang des Personals mit den Bewohnerinnen als entwürdigend. Tom Kitwood, ein Sozialpsychologe, der für den Umgang mit demenzerkrankten Personen genaue Regeln für den Umgang mit ihnen festgelegt hat, unterscheidet eine gutartige von einer bösartigen Sozialpsychologie. Die bösartige zeichne sich etwa durch das aus, was er „Etikettieren“ (labelling) nennt: Der Einsatz einer Kategorie wie „Demenz“ oder „organisch bedingte psychische Erkrankung“ wird so zur Haupt-

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grundlage der Interaktion mit der Person und zur Erklärung ihres Verhaltens gemacht. (Schmidt/Döbele 2008: 128) Drittens haben mir die Gespräche, die ich mit den alten Leuten geführt hatte, einen ganz anderen Eindruck von ihrem Wesen verschafft als vom Personal behauptet. Jede der Bewohnerinnen hatte außerhalb des Altenheimes ihr eigenes Leben gelebt und bedarf der besonderen Wertschätzung. Bei etlichen Frauen waren die Ehemänner verstorben. Sie erzählten von ihren Kindern und Enkelkindern, von ihren Häusern und ihren Gärten, die sie bis zuletzt gepflegt hatten. Mir schien es so, als hätten sie sich ihrem „Schicksal“ gefügt, was das Wohnen im Altenheim betraf. Ein Bewohner erzählte mir, sein Sohn habe ihn bedrängt, ihm den Betrieb und das Haus zu überschreiben. Daraufhin sei er in dieses Altenheim gekommen. Der Sohn würde nur sehr selten zu Besuch kommen. Das mache ihn sehr traurig, aber er müsse sich damit abfinden. Ein anderer Bewohner erzählte von seinem beruflichen Werdegang. Als er in Pension ging, er hatte auf einem Amt gearbeitet, machte er sich selbständig. Sein Betrieb lief jedoch nicht mehr, nachdem die EU die Bestimmungen für Öfen und deren Inbetriebnahme veränderte. Die Leute kauften jetzt ihre Öfen in den Baumärkten, berichtete er. Er sei freiwillig in das Altersheim gegangen, weil seine einzige Tochter noch berufstätig sei und für seine Pflege keine Zeit habe. Seine Tochter komme ihn regelmäßig besuchen, sagte er und er habe vor, seine Biographie zu schreiben. Ich glaube viertens, dass zurzeit in unserer Gesellschaft unter den alten Leuten etwas stattfindet, was ich vorauseilenden Gehorsam nennen möchte. Mir scheint, dass immer mehr alte Menschen von sich aus das tun, was die Gesellschaft von ihnen verlangt. Die einzelne Person wird zunehmend zum Entscheidungsträger über die eigene Lebensorganisation bis zum Ableben. Mit Michel Foucault gedacht, ist die „Herrschaft“ unsichtbar. Strukturelle Machtstrukturen wie die Vorgaben des Medizinsystems wirken bis in das eigene Wollen hinein: Du sollst wollen, was Du sollst. (vgl. Foucault 2000) Man wird nicht mehr unterdrückt oder gezwungen, man kann wählen. Die Wahl zur Entscheidung erscheint als ein Moment der Freiheit und wird nicht als Zwang wahrgenommen. Hinter der Hand taucht die „selbstbestimmte Entscheidung“ auf als Sich-selbst-entscheiden-Müssen. Die freie Entscheidung ist selbst zum Zwang geworden. Denn die Optionen werden von der Gesellschaft gesetzt. (vgl. Samerski 2002: 232) Alte Menschen sollen ihrer Umgebung, den Nachbarn, den Freunden, den Verwandten und den Kindern und Enkelkindern nicht zur Last fallen. Deshalb ist es normal geworden, dass sich alte Menschen selbst für das Altersheim entscheiden. Sie wurden lange Zeit hindurch konditioniert, sich nicht nur bei körperlichen Beschwerden den Ärzten anzuvertrauen. Für alte Menschen existiert eine regelrechte

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medizintechnische Industrie, die ihnen Erleichterungen in allen möglichen Bereichen suggeriert. Mir kommt es so vor, als sei das gesamte Gesundheitssystem darauf aus, alte Menschen ein Leben lang als Patientinnen zu erfassen. Dieses Medizinsystem will die Menschen verwalten. Ob sie nun zuhause von einem Pflegedienst vorübergehend versorgt werden, ob sie von einem Angehörigen gepflegt werden oder ob sie in den Altenheimen verschwinden. Überall hat das Medizinsystem sie schon erfasst und will sie als Patienten behandeln. Die Botschaft der Dienstleistungsgesellschaft lautet: Alt sein heißt krank sein. Krank sein heißt, der Pflege zu bedürfen. Es gibt kein Gesundsein für alte Menschen mehr. Das Medizinsystem hat dafür gesorgt, dass es auch über die sozialen Bedingungen eines alten Menschen mitbestimmen kann. Zusammenfassend kann ich behaupten: Mit der gestiegenen Bedeutung von „Demenz“ als Anerkennung einer weit verbreiteten Krankheit, die sich in den kommenden Jahren noch ausweiten wird (WHO), wurde dem Gesundheitssystem ein weiteres Instrument in die Hand gegeben, alte Menschen zu klassifizieren und als „krank“ zu diagnostizieren. Meines Erachtens haben die Hirnforschung und die Neurowissenschaften einen großen Anteil daran, dass jetzt die kognitiven Prozesse im Menschen überbewertet werden. Nach dem Mini-Mental-Status-Test (MMST) werden die kognitiven Fähigkeiten eines älteren Menschen abgeschätzt. Anhand eines einfachen Fragebogens! Ich finde es unglaublich, dass mittels eines Papiers mit abstrakten Anforderungen an die älteren Menschen angeblich ihre oder seine Fähigkeiten erfasst werden sollen: Orientierungen, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Rechnen, Sprache und konstruktive Praxis. Dieser Test dauert zehn Minuten und wird nach einer Punktzahl auf richtige Antworten bewertet. (Schmidt/Döbele 2008: 194) Wer sich so etwas ausgedacht hat, ist meiner Meinung nach völlig lebensfern eingestellt. Denn wie kann eine so wunderbare Fähigkeit wie das Gedächtnis in zehn Minuten getestet werden? Wie können geistige Vorgänge überhaupt getestet werden? Ich kenne alte Menschen, die sich tagelang erzählend zurück erinnern können. Dabei erzählen sie die Handlungen so exakt, als würden sie aus einem Roman vorlesen. Was würde so ein Mensch mit einer Aufgabe des Tests wohl anfangen? Ich sehe es als gefährlich an, wenn eine Person mit der kognitiven Leistung anderer Personen verglichen werden soll. Genau das passiert aber mit solch einem Test. Damit wird die Einzigartigkeit des Menschen infrage gestellt.

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D REITEILIGER B EFEHL : M INI -M ENTAL -S TATUS -T EST „Lassen Sie den Patienten den folgenden Befehl ausführen. ‚Nehmen Sie ein Blatt in die Hand, falten Sie es in der Mitte und legen Sie es auf den Boden.‘ Geben Sie einen richtigen Punkt für jeden ausgeführten Befehl.“ (Schmidt/Döbele 2016: 194)

L ITERATUR Duden, Barbara (1987): Geschichte unter der Haut, Stuttgart. Foucault, Michel (2000): Die Gouvernementalität. In: Ulrich Bröckling / Susanne Krasmann / Thomas Lemke, Gouvernementalität der Gegenwart – Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main. Foucault, Michel (2006): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt am Main. Lessenich, Stephan (2008): Die Neuerfindung des Sozialen, Bielefeld. Lessenich, Stephan / Denninger, Tina / van Dyk, Silke / Richter, Anna (2014): Leben im Ruhestand, Bielefeld. Samerski, Silja (2002): Die verrechnete Hoffnung. Von der selbstbestimmten Entscheidung durch genetische Beratung, Münster. Schmidt, Simone / Döbele, Martina (2008): Demenzbegleiter. Leitfaden für zusätzliche Betreuungskräfte in der Pflege, Berlin/Heidelberg.

Infinitive DÄCHER ERSTELLEN UND BRIEFKÄSTEN, BUSSE IM RÜCKWÄRTSGANG IN DIE PARKLÜCKE BUGSIEREN. Die Kirsche grünt. Zwischen Schatten und Licht die Akelei. Auf den Feldern marschiert der Hahnenfuß. FLIEGEN IM SILBER, SONNENWÄRTS, HOCH AM RAND DES HIMMELS AM SCHWARZ HIN. Kein Gesicht gleicht dem anderen, gestalt oder ungestalt, insgeheim nahe.

Des infinitifs MONTER LES TOITS ET LES BOÎTES À LETTRES, DIRIGER LES CARS DANS LE CRÉNEAU DU PARKING PAR DERRIÈRE. La cerise verdit. Entre ombres et lumières, l’ancolie. L’armée des renoncules avance dans les prés. VOLER VERS LE SOLEIL DANS DE L’ARGENT, TRÈS HAUT À LA FRANGE DU CIEL, CÔTOYER LE NOIR. Beau ou difforme, aucun visage ne ressemble à un autre. Le mystère est tout près. Willibald Feinig

Hans-Michael Kirstein Human Armageddon

DD-Day Wolfgang Mörth

Im Frühjahr 2019, also vor genau fünfundzwanzig Jahren, erschien ein Buch mit dem Titel „Aber ich will in diese Welt gehören“. Der Titel war insofern eigenartig, als es sich dabei um keinen Roman, auch um keinen Gedichtband handelte, sondern um eine Sachbuch-Anthologie zum Thema Klimawandel. Die verschiedenen Autorinnen und Autoren hatten zwar unterschiedliche Perspektiven gewählt, ihre Essays waren aber durch die folgenden beiden Grundthesen verklammert: Erstens, das bei der Pariser Klimakonferenz 2015 formulierte Ziel, die Erwärmung der Erdatmosphäre auf insgesamt zwei Grad Celsius zu begrenzen, ist tatsächlich erreichbar, zweitens, es ist mit Hilfe der (damals) verfügbaren Technologie und unter Berücksichtigung (damals) existierender, alternativer wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Modelle zu schaffen. Aus heutiger Sicht erscheinen uns diese Annahmen als selbstverständlich, im Jahr 2019 allerdings hatte man allen Grund, an ihrer Stichhaltigkeit zu zweifeln. Unter den Beiträgen der Anthologie befand sich einer, der sich von den anderen unterschied. Er trug den Titel „DD-Day“ und hatte die Form einer dokumentarischutopischen Erzählung, deren Rahmenhandlung im Jahr 2044, also heute spielte, und zwar vor dem Hintergrund einer Welt, in der die Theorie bereits Wirklichkeit geworden war. Über den Autor dieser Erzählung ist zu sagen, dass er damals eher für seine Theaterstücke bekannt war, aber auch schon die eine oder andere Science-FictionGeschichte geschrieben hatte. Noch wichtiger allerdings ist es zu erwähnen, dass er mein Onkel ist und ich beim Erscheinen von „DD-Day“ siebzehn Jahre alt war, vor allem aber, dass ich damals nichts von der Existenz seiner Erzählung wusste. Ein Grund für meine Ahnungslosigkeit war, dass mein Onkel im Westen Österreichs lebte und ich als Kind seiner Schwester in Wien aufwuchs, weshalb unser Kontakt nie besonders intensiv gewesen war. Ich gestehe allerdings auch, dass ich mich in dieser Zeit ohnehin nicht dafür interessiert hätte, was er schrieb, zumal ich nicht einmal zur Kenntnis nahm, dass er schrieb. Erst als ich selbst beschlossen hatte, Schriftstel-

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ler zu werden, wurde mir bewusst, dass mein Onkel einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf mein Leben ausgeübt hatte. Hätte es in meiner Verwandtschaft nicht jemanden gegeben, der zumindest den Eindruck erweckte, er könne von dieser Tätigkeit leben, ich hätte es vielleicht nie ernsthaft in Erwägung gezogen, diesen Beruf zu ergreifen. Aber das gilt wohl für alle Berufe, deren materielle Aussichten als fragwürdig gelten. Über das Schreiben kamen mein Onkel und ich uns irgendwann näher. Das begann etwa zehn Jahre nach der Veröffentlichung der erwähnten Erzählung, die ich zu diesem Zeitpunkt allerdings immer noch nicht kannte. Eigentlich eine Schande. Er ging damals bereits auf die siebzig zu, und ich wusste über seine Arbeit praktisch nichts. Das hat sich mittlerweile geändert. Heute treffen wir uns regelmäßig, stellen uns als Erstleser für die Texte des jeweils anderen zur Verfügung und tauschen uns über unsere aktuellen Projekte aus. Als ich ihn, seine Frau Ella und seine Tochter Anna im letzten Sommer am Bodensee besuchte, brachte ich ihn wieder einmal auf den neuesten Stand, was meine Aktivitäten anging und erzählte ihm bei der Gelegenheit von den Vorbereitungen zur Enthüllung unseres Delta-Displays in Wien. Er wurde hellhörig und fragte: „Hast du Delta-Display gesagt?“ „Ja, es ist ein Display, das die Veränderung der Atmosphärentemperatur anzeigt“, erklärte ich ihm. „Und zwar live. Steigt nach der Inbetriebnahme eine grüne HoloNull auf, bedeutet das, die Erwärmung stagniert. Was so viel heißt wie: Wir haben es geschafft.“ Ich beobachtete seine Reaktion, war mir aber nicht sicher, ob er mich verstanden hatte. „Der Wert ist absolut verlässlich, weil er aus den Messungen von hunderten Millionen Sensoren errechnet wird, die auf dem gesamten Planeten verteilt sind. Die meisten von ihnen tragen wir selber mit uns herum. In deinem Smarti ist mit Sicherheit auch einer.“ Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Ich dachte mir nichts dabei, denn was solche Erklärungen anging, hatte er immer schon wenig Geduld gezeigt. Mit über achtzig Jahren, dachte ich, ist er eben nicht mehr besonders offen für Errungenschaften wie diese. Er wusste zwar, dass seine persönliche COZwei-Bilanz permanent aktualisiert wurde und jederzeit abrufbar war, auch dass er nur sein Smarti an ein Produkt halten musste, um dessen Emissions-Koeffizienten zu erfahren, aber ich hatte lange gebraucht, ihn dazu zu bringen, diese Features auch zu nutzen. Erst als ich ihn auf die Möglichkeit aufmerksam machte nachzuprüfen, ob die Serie, in der diese unglaublich gut gemachte Avatarin von Marylin Monroe die Hauptrolle spielte, COZwei-neutral produziert worden war oder nicht, machte es klick bei ihm. Das war zumindest mein Eindruck. Ihn zur Anschaffung einer smarten Brille zu überreden,

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mit der ein Zugang zu den verschiedenen Welten natürlich viel einfacher gewesen wäre, ist mir aber bisher nicht gelungen. Obwohl ich mich bemüht habe. „Es ist nicht mehr so wie früher“, argumentierte ich mit Engelszungen. „Die Wirklichkeit ist von den Augmented-Reality-Ebenen inzwischen derart perfekt überlagert, dass einem nicht mehr schwindlig wird. Und es gibt erstaunlich gut gemachte Anwendungen mittlerweile. Du gehst durch einen Park und er sieht aus, wie von Monet gemalt. Du magst doch die Bilder von Monet, oder? Und wenn du das alles nicht brauchst, wenn du auf all die ästhetischen Bearbeitungen und auf die ganzen Informationen verzichten kannst, nimmst du die Brille einfach ab. Wobei ich dir die Ankündigungen der Serie mit der Monroe schon empfehlen würde. Du aktivierst die Monroe-App und schon spaziert sie um die Ecke.“ Diese Aussicht brachte ihn zwar kurz zum Nachdenken, aber es war ihm dennoch anzumerken, dass er sich von mir nicht weiter missionieren lassen wollte. Auch während meiner Erklärungen zum Delta-Display schien es, als hätte er langsam genug. Es klang genervt, als er fragte, wann denn die Enthüllung des Displays stattfinden werde. „Nächstes Jahr. Am 6. Juni 2044. Im Rahmen der hundertjährigen Gedenkfeiern zur Landung der Alliierten in der Normandie. Wir nennen es in unseren Ankündigungen allerdings nicht D-Day, sondern DD-Day.“ Er sagte nichts. „Findest du, das klingt albern?“ Er stand auf und verschwand im Nebenraum, wo sich seine Bibliothek befand. „Das ist die Abkürzung von Delta-Display-Day“, rief ich ihm nach. „D-Day, der Beginn der Befreiung Europas von den Nazis...“ Ich hörte ihn drüben herumkramen. „Und DD-Day, die Befreiung des Planeten von den überflüssigen COZweiEmissionen. Macht das für dich keinen Sinn?“ Er kam mit dem Buch „Aber ich will in diese Welt gehören“ zurück aus der Bibliothek, gab es mir und bat mich, es auf Seite 209 aufzuschlagen. In diesem Moment wurde ich zum ersten Mal mit seiner Erzählung konfrontiert. Ich ging mit dem Buch in mein Gästezimmer, las „DD-Day“ und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Übereinstimmung zwischen der Fiktion, die mein Onkel im Jahr 2019 entwickelt hatte, und den nun, fünfundzwanzig Jahre später, vorliegenden Fakten war verblüffend. Auch die massenhafte Verbreitung der smarten Brille war darin Realität geworden. Die Vorwegnahme unseres DD-Days allerdings, und zwar fast genau in der Form, in der wir ihn jetzt planten, samt Holo-Display und grüner Null, hatte etwas Gespenstisches. Hätte ich nicht gewusst, dass ich das alles selbst erfunden und eingefädelt hatte, ich hätte geglaubt, die Idee wäre aus diesem Buch geklaut. So war ich in einem ersten Reflex eher versucht, das Ganze für einen Trick zu halten. Darüber hinaus war ich auch ein wenig beleidigt, weil er mich, was seine Ahnungslosigkeit in technischen Dingen anging, offenbar an der Nase herumgeführt hatte.

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Nach dem Essen, es gab ein Ratatouille mit Gemüse aus Annas Waldgarten, fragte ich Tante Ella, warum er ihrer Meinung nach nie jemanden auf diese Geschichte aufmerksam gemacht hatte; er musste doch bemerkt haben, dass nahezu alle seine Vorhersagen nach und nach Realität wurden. Aber sie zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Er wollte die fertigen, irgendwo abgedruckten Texte immer schnell vergessen, weil er sonst schwer in die nächste Arbeit hineinfand.“ Was die Erzählung „DD-Day“ angeht, kommt er der Erinnerung nun nicht mehr aus. Ich habe dafür gesorgt, dass der Text im letzten halben Jahr über die unterschiedlichsten Kanäle wieder publiziert und so vor dem Vergessen bewahrt wurde. Das hat einen ziemlichen Hype um seine Person ausgelöst. Manche haben ihn als einen modernen Propheten bezeichnet und nicht wenige erwarten sich, dass die Rede, die er anlässlich der Enthüllung des Delta-Displays halten wird, ein paar spektakuläre Vorhersagen für den Rest des Jahrhunderts enthalten wird. Was ich eher bezweifle. Ich weiß schließlich, wie sehr er es hasst, in diese esoterische Ecke gedrängt zu werden. Ich weiß auch, wie ungern er bei unserer Veranstaltung am 6. Juni auftreten mag. „Das mache ich nur dir zuliebe“, sagte er. „Aber erwarte dir nicht zu viel. Ich bin alles andere als ein Prophet.“ Wie auch immer, mein Onkel gehörte damals zu den Wenigen, die überhaupt mit dem Gedanken spielten, das Zwei-Grad-Ziel könnte tatsächlich gehalten werden. Selbst die Experten, die es definiert hatten, glaubten nicht mehr daran, und die politischen Entscheidungsträger sowieso nicht. Die „Klima-Euphorie“, die Ende der 1990er-Jahre noch geherrscht hatte, war sozusagen abgekühlt und von den Vertretern der internationalen Staatengemeinschaft waren Ende der 2010er-Jahre diesbezüglich nur mehr Lippenbekenntnisse zu hören. Der politische Alltag wurde von anderen Dingen beherrscht. Man beschäftigte sich mit den eigenen kleinlichen, nationalen Belangen, und das Wohl des Planeten war, als ein schwer vermittelbares Abstraktum, aus praktisch allen Parteiprogrammen verschwunden. Die Welt befand sich, wie die Älteren unter Ihnen sicher noch wissen, nicht gerade in einer Phase der Vernunft. Religiöse Fundamentalisten und Vertreter anderer magischer Welterklärungsmodelle dominierten fast überall den Diskurs. Auch in der sogenannten Ersten Welt glaubten achtzig Prozent der Menschen wieder an die Existenz von Geistern und Dämonen. Kein Wunder also, dass damals in vielen gesellschaftlichen Bereichen irrationale bis idiotische Argumente an Gewicht gewannen. Vor allem bei den Regierenden. Einer der diesbezüglichen Höhepunkte, auch das wissen die meisten von Ihnen entweder aus eigener Erfahrung oder aus dem Schulunterricht, war die Zeit, als ein Kind im Weißen Haus saß, das nicht bereit war, seine Grenzen zu akzeptieren und das mit seinem absurden Verhalten der militärisch-petrochemischen Industrie zu ei-

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ner neuen Blüte verhalf. Parallel dazu verabschiedete sich Großbritannien aus der EU, ein paar Jahre später Italien, dann Griechenland, es war ein Fiasko. Die Welt befand sich in einem permanenten Angriffs- und Verteidigungsmodus, war aufgeteilt in Heere von Linken und Rechten, von Gläubigen und Ungläubigen, von Tätern und Opfern, wobei oft gar nicht klar war, wer genau zu welcher Gruppe gehörte. Überall wurde neu definiert, was dir und was mir gehört, was als fremd und was als heimisch zu gelten hat und zwischen diesen Fronten wurden innere und äußere Grenzen hochgezogen. Nur das Kapital durfte damals noch ungehindert rund um den Globus zirkulieren, mit all den daraus resultierenden wirtschaftlichen und politischen Blasen und Krisen, die im Abstand von jeweils ein paar Jahren platzten oder eskalierten. Die Dotcom-Blase, die Immobilienkrise, die Bankenkrise, die Eurokrise, die Flüchtlingskrise, die Kryptoblase, die Erbschaftsblase, die Big-Data-Krise, die AI-Krise, um nur die prominentesten zu nennen, die zwischen den Jahren 2000 und 2025 das Gefüge für alle spürbar ins Wanken brachten. Ein Haupteffekt der Fehlentwicklungen bestand darin, dass es fast überall auf der Welt diese üblen charismatischen Populisten an die Macht spülte. Man möge mir meine Emotionalität verzeihen, aber als diese Ereignisse stattfanden, war ich gerade in meinen frühen Zwanzigern und mein Leben war von permanenter moralischer Entrüstung darüber geprägt, dass jene, die die Zerstörung verursachten, nicht zur Rechenschaft gezogen wurden und jene, die sie politisch legitimierten, sich auf die Zustimmung des Wahlvolks verlassen konnten. Verursacher und Ignoranten schwelgten in ihrer Unantastbarkeit und teilten kaltschnäuzig den Reichtum der Welt untereinander auf. „In allen Belangen öffnen sich die Scheren“, schrieb mein Onkel in „DD-Day“: „Reich und arm, gesund und krank, mächtig und ohnmächtig. Hungersnöte, Seuchen und Naturkatastrophen grassieren, die Tier- und Pflanzenarten verabschieden sich ins Nichts, im Meer treiben Kontinente von Müll, und was tun wir? Wir züchten Vorurteile, kultivieren Feindschaften und bringen zum Schutz unserer Illusionen die ABCWaffenarsenale auf den neusten Stand.“ Das klingt drastisch, ich weiß, aber diese Deutlichkeit war wohl notwendig, um daran zu erinnern, dass die Hauptverantwortlichen für den Zustand, in dem sich die Welt befand, inzwischen klar benennbar waren. Dass aber auch jeder von uns seinen kleinen Anteil dazu beigetragen hatte. Doch wie lautet der Kalenderspruch: Es muss zuerst schlimmer werden, bevor es besser werden kann. In diesem Sinne sagte mein Onkel in der Folge jenen Höhepunkt des politischen Machtrausches voraus, der besonders meiner Generation, ich möchte nicht gerade sagen den heilsamen, aber doch den entscheidenden Schock versetzte. Alle wissen, was ich meine, nämlich den bombastischen Nationalen Weltkongress,

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den die neuen politischen Machthaber, finanziert von den alten industriellen Komplexen, im Jahr 2026 abhielten. In der Geschichte meines Onkels sind die Ereignisse rund um diesen Kongress der Populisten mit sehr viel Leidenschaft ausgeführt. Den Akt ihrer Umbenennung in „Vereinigte Autoritäre Demokraten“ beschreibt er als „oxymoroneske Dreistigkeit“ und ihre dann folgende Politik als eine „fundamentale Verletzung der demokratischen Grundwerte.“ Dennoch zog er letztlich ein überraschend gelassenes Fazit. All diese Handlungen, behauptete er, seien nur Zeichen des Hochmuts, der direkt vor dem Fall komme. Danach würde unweigerlich ein politischer, wirtschaftlicher und kultureller Transformationsprozess beginnen, in dessen Verlauf sich die Dinge quasi automatisch zum Besseren wenden würden. „Die Gier derjenigen, für die Wirtschaft eine Art Risikosportart unter Einsatz hoher Geldsummen darstellt, lässt sich nicht mehr weiter steigern“, schrieb er. „Die Großkonzerne brechen unter ihrem vertikal aufgeschichteten Gewicht zusammen. Auch die Dummheit, Fantasielosigkeit und Korrumpierbarkeit der neuen Politdilettanten stößt an natürliche Grenzen. Plötzlich – ja, der Wandel geht sehr schnell vor sich – erwacht in den Menschen, den Bürgern, den Wählern, den New Participants oder wie immer man sie nennen möchte, ein Bewusstsein, das sie sich selbst nicht mehr zugetraut hätten. Vor allem nicht in dieser weltumspannenden Gemeinsamkeit. Gemeinsam sind sie es plötzlich leid, von den Volksvertretern und -vertröstern für dumm verkauft zu werden. Gemeinsam melden sie sich zu Wort, drängen auf nachhaltige Entscheidungen, und was am schmerzhaftesten ist für das wohleingerichtete System des Wachstums und des Gewinnstrebens – sie weigern sich, weiterhin willfährige Konsumenten zu bleiben.“ Zusammengefasst heißt das: Mein Onkel war überzeugt davon, dass wir die Welt nur retten würden, wenn dem notwendigen technologischen und wirtschaftlichen Wandel eine politische Revolution vorausginge. Das eine war für ihn ohne das andere nicht zu haben, zumindest nicht im nötigen Tempo. Und da er vor einem Computer saß und im Begriff war, eine Utopie zu formulieren, dachte er sich einfach eine revolutionäre Bewegung aus, die in der Lage sein würde, den Wandel zu beschleunigen. Folgerichtig setzte sich in seinem Szenario innerhalb kürzester Zeit eine Haltung durch, die er in einer altmodischen Diktion Zivilcourage nannte, und zwar, weil sie sich nicht in anonymen Schimpf- und Hasstiraden erschöpfte, sondern weil sie sich offen, persönlich und im Klartext zeigte. Und in dieser Atmosphäre des Muts zur gemeinsamen Offenheit gediehen auch die Gefühle für Gerechtigkeit, für Gleichheit, für Freiheit und damit für gesellschaftspolitische Strukturen, die im Dienst der Verwirklichung von Wohl und Würde aller Menschen und nicht nur einiger weniger standen.

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Sie wissen, dass er nichts anderes vorausgesagt hat, als die weltweiten Revolten des Jahres 2027. Er lag nicht nur mit diesem Zeitpunkt richtig, sondern auch mit seiner Prognose, dass sich ein Teil der Protestenergie zunächst auf der Straße entladen würde, dass diese Unruhen aber nach ein paar Wochen schon wieder abebben würden. Und wo in diesem Zusammenhang meine Verblüffung beim Lesen am größten war, er ahnte auch, dass die Gewalt nur deshalb von so kurzer Dauer sein würde, weil in einer global koordinierten Aktion Organisationen die Verantwortung übernehmen würden, in denen fast ausschließlich Frauen aktiv waren. Für die neue Wirtschaft war das der CommonWelfare, für die demokratiepolitische Erneuerung die New Participants und für einen neuen Umgang mit unseren Mitbewohnern auf diesem Planeten *voicesofgaya, jene Bewegungen also, die aus dem heutigen politischen Spektrum nicht mehr wegzudenken sind. Zumindest zu Beginn handelte es sich dabei in der Mehrzahl um Frauen unter dreißig, also um Mitglieder jener Generation, die unter dem Eindruck von #metoo aufgewachsen waren und deshalb erfahren hatten, welche Bewusstseins- und Verhaltensänderungen innerhalb kürzester Zeit zu erreichen waren. Und zwar auf nachdrückliche, aber friedliche Weise. Hunderte Millionen von jungen Frauen begehrten rund um den Globus gegen die Autoritären auf, und sie taten es mit gleichermaßen intelligenten wie subversiven Mitteln. Am durchschlagendsten, niemanden wunderte es, war die Aktion #lysistrata, die mein Onkel ebenfalls voraussagte, und deren Verlauf er mit spürbarem Genuss beschrieb. So wie die Frauen von Athen und Sparta in der Komödie „Lysistrata“ beschlossen hatten, ihren Männern solange den Beischlaf zu verweigern, bis sie Frieden schließen würden, drohten nun die Frauen jenen Männern, die nicht aufhören wollten, in den Kategorien von Krieg, Feindschaft und Konkurrenz zu denken, sei es in den Regierungszentralen, den Chefetagen der Großkonzerne oder am Ego-Shooter, mit #nosex. Die Reaktionen waren fulminant. Innerhalb kürzester Zeit erklärten sich mehr als eine Milliarde Frauen weltweit mit #lysistrata und #nosex solidarisch. Darunter mehr und mehr Partnerinnen der einschlägig bekannten Polit- und Wirtschaftsprominenz. Und was im antiken Drama zum Frieden führte, funktionierte auch in der Realität des 21. Jahrhunderts. Bei den Politikern trat die Wirkung sehr schnell ein, in den Vorstandsetagen jener Großkonzerne, die am offensichtlichsten vom Raubbau an den Ressourcen und von der Zerstörung der Ökosysteme profitierten, dauerte es etwas länger. Einer der spektakulärsten Momente war eine #lysistrata-Pressekonferenz, bei der sich sowohl die Ehefrau als auch die Geliebte des Aufsichtsratsvorsitzenden einer der weltgrößten Banken der Aktion anschlossen. Auch die Köpfe der Nahrungs- und Verbrauchsgütergiganten, der Agrarindustrie und natürlich der großen Rüstungskonzerne blieben nicht verschont. Sie brachten ihre Anwälte in Stellung, aber auch das

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waren für gewöhnlich Männer. Sie versuchten sich hinter den Frauen zu verstecken, die damals Führungspositionen innehatten, die verweigerten ihnen aber auf Druck der Bewegung den Rückhalt, wobei dieser Aspekt der Geschichte noch nicht restlos aufgearbeitet ist. Die Serie der peinlichen Offenbarungen dauerte etwa ein Jahr lang, dann waren die schlimmsten Ignoranten verschwunden und die anderen hatten begonnen, ihr Denken und Handeln öffentlich zu hinterfragen. Doch das alles waren nur Vorbereitungen auf die viel wichtigeren Ereignisse, die nun folgen sollten. Den Aktivistinnen war klar: Das politische Vakuum, das durch die Entmachtung der „Autoritären Demokraten“ entstanden war, durfte auf keinen Fall von den traditionellen politischen Parteien gefüllt werden, die sich über Jahrzehnte hinweg an den Fehlentwicklungen mitschuldig gemacht hatten. Es war die Zeit der neuen Bewegungen gekommen, die neue inhaltliche Schwerpunkte setzten und sie mit neuen demokratiepolitischen Methoden realisierten. Wie konnte dieses Wunder geschehen? Mein Onkel zitierte in diesem Zusammenhang genüsslich Milton Friedman, einen der Hardliner der amerikanischen Wirtschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts, mit den Worten: „Wenn es zu Krisen kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die gerade im Umlauf sind.“ Natürlich zweifelte Friedman, solange er lebte, nie daran, dass sich nach jeder Krise seine Grundideen, nämlich Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung, durchsetzen würden, dafür hatte er in ein paar Fällen höchstpersönlich gesorgt. Doch die neuen politischen Kräfte hatten von den alten Kriegsgewinnlern gelernt und wussten inzwischen, dass es nicht nur um die Ideen selbst ging, sondern auch darum, wer in der Lage sein würde, sie schnell genug im sich neu formierenden System zu implementieren. Das Wunder ereignete sich also deshalb, weil „die Guten“ in dieser entscheidenden Phase nicht nur die Besseren waren, sondern auch die Schnelleren. Und mit dem CommonWelfare stand ihnen ein alternatives Wirtschaftsmodell zur Verfügung, das auf den Werten Menschenwürde, Solidarität, Verteilungsgerechtigkeit, demokratische Partizipation sowie ökologische Nachhaltigkeit fußte und das in seiner wissenschaftlich gut begründeten Form fast dreißig Jahre Zeit gehabt hatte, sich in diversen Nischen zu bewähren. Ausgehend von den DACH-Staaten hatte es sich, gegen alle Widerstände, in Europa, Kanada, Australien, Mittel-und Südamerika, in großen Teilen Asiens und an der West- und Ostküste der USA ausgebreitet. Im Jahr 2030 bilanzierten bereits mehr als hundertfünfzigtausend teils namhafte Unternehmen auf der Basis des CommonWelfare-Standards. Die Ideen für den dafür nötigen Wandel der politischen Institutionen kamen vor allem von den New Participants. Dass zum Beispiel im österreichischen Parlament heute neben den gewählten Vertretern auch solche sitzen, die in diese Funktion, so wie Schöffen für eine Gerichtsverhandlung, gelost wurden, ist hauptsächlich der Initiative

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dieser Gruppe zu verdanken. Sie war ursprünglich in Island beheimatet, wo im Jahr 2008 bereits ein ähnlicher Prozess eingeleitet worden war, leider ohne langfristigen Erfolg. Was heute als ein Segen für die Weiterentwicklung des Parlamentarismus anerkannt ist, war im Vorfeld der ersten Auslosung natürlich umstritten. Nach und nach jedoch wurde spürbar, wie der Umstand, dass im Grunde jeder demnächst in der Pflicht stehen könnte, an wichtigen Gesetzesentwürfen mitzuarbeiten oder sogar über Verfassungsanpassungen zu diskutieren, die allgemeine Qualität des politischen Denkens und Handelns auf eine gänzlich neue Ebene hob. Es kehrte eine seltsame Ruhe ein im Land, Ergebnis einer freudigen Anspannung, wen es wohl treffen würde, aber auch Zeichen der Hoffnung, dass sich das System unter dem Einfluss der Gelosten endlich von Grund auf ändern würde. Im Jahr 2029 fiel eines der fünfundzwanzig Lose auf mich. Hier nur so viel: Ich hatte das Glück, dabei zu sein, als es zur wichtigen Änderung weg von der Besteuerung der Arbeit, hin zur Ressourcenbesteuerung kam. Unsere Gruppe, die bei weitem nicht immer homogene Ansichten vertrat, war sich auch über die Notwendigkeit einig, die reguläre Arbeitszeit schrittweise auf zwanzig Stunden zu reduzieren. Die entsprechenden Machbarkeitsstudien lagen schon lange vor, man musste es nur wagen. Am intensivsten kämpfte ich persönlich für einen Beschluss, der zum Auslaufen der Förderungen für landwirtschaftliche Großbetriebe auf EU-Ebene führte, insbesondere für die fleischerzeugende Industrie. Ein Prozess, der auf der emotionalen Ebene entscheidend unterstützt wurde von *voicesofgaya. Eine eigens entwickelte AI auf der Basis neuronaler Netze verlieh den nach wie vor lebenslang eingepferchten und anschließend grausam ermordeten Nutztieren eine erschütternde eigene Stimme. Als die AI zum ersten Mal die in menschliche Sprache übersetzten Angstgefühle systematisch gequälter Schweine, Rinder, Hühner und anderer jeglicher Freude beraubter „Fleischwesen“ ins Netz hoch lud, war das Schicksal dieser Branche endgültig besiegelt. Manche behaupten zwar, der Hauptgrund für den Stopp der Förderungen und den Einbruch des Umsatzes sei die Infektion von ein paar tausend Menschen mit hochresistenten Keimen aus der Massentierhaltung gewesen, aber letztlich spielt es keine Rolle warum, Hauptsache es ist passiert. Mein Onkel sah den Zusammenbruch der Agrarindustrie voraus, aber das habe ich mit siebzehn auch schon getan, oder ich habe es mir zumindest gewünscht. Die größere Leistung war es, die Geschwindigkeit und Reibungslosigkeit zu prognostizieren, mit der dieser Übergang vom alten zum neuen Wirtschaften, von der Dominanz der multinationalen Konzerne hin zur Entfaltung von Millionen mittlerer, kleiner bis ganz kleiner Betriebe vor sich gehen würde. Mein Onkel schrieb, es würde neun Jahre dauern. In Wahrheit ging es schneller, eine Tatsache, die heute als eine

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der größten Überraschungen der Wirtschaftsgeschichte gilt. Das kleinteilige, regional beziehungsweise lokal verwurzelte System war in der Lage, die neu formulierten Bedürfnisse der Menschen besser zu befriedigen als das alte, hochgradig arbeitsteilige globale System. Und es reagierte, wie erwartet, flexibler und robuster auf konjunkturelle Schwankungen beziehungsweise verhinderte, dass es zu solchen Schwankungen überhaupt kam. In der Theorie gab es diese Wirtschaftsphilosophie wie gesagt schon lange, und in einzelnen Bereichen war sie auch erfolgreich verwirklicht worden. Jetzt jedoch, nachdem der Widerstand der Großindustrie gebrochen war, nutzte sie ihren Freiraum und breitete sich auf der ganzen Welt aus. Während meiner Zeit als Geloster im Parlament habe ich natürlich auch erkannt, dass Ehrgeiz und Lust am Wettbewerb nie aussterben werden. Und sei es nur unter dem Vorwand des Sportsgeists. Wobei diese Charaktereigenschaften im Sport durchaus angebracht sind, denn dort gehören sie hin, dort erfüllen sie eine Funktion. Es gibt auch den Wettbewerb der Ideen und den Ehrgeiz, der Erste zu sein, dem etwas einfällt. In der Wirtschaft und in der Politik allerdings, das war in all der Zeit mein wichtigster Leitgedanke, dort also, wo es um ein gutes und würdiges Leben für alle geht, haben diese Einstellungen nichts verloren. Eine Tatsache, die im Jahr 2019 für viele noch geklungen haben dürfte wie ein Witz, wie der Versuch, das Selbstverständliche zu leugnen, obwohl es auch damals im Grunde alle schon hätten wissen müssen, denn egal, wohin man schaute, das Scheitern der alten Methoden war evident. Aber das ist oft so: Man weiß bereits, dass etwas schiefläuft, hat nach einer schmerzhaften Phase des Zweifels und des inneren Widerstands sogar erkannt, dass sich dringend etwas ändern sollte, doch man ist noch nicht bereit zu handeln. Es braucht Zeit, den richtigen Meinungen auch die richtigen Taten folgen zu lassen. Heute, im Jahr 2044, wissen bis auf ein paar ganz hartnäckige Verweigerer eigentlich alle, dass gesundes Wirtschaften heißt, gelungene Beziehungen einzugehen, und dass das Gelingen einer Beziehung mit Empathie, Toleranz, Kooperationsbereitschaft und Verantwortungsgefühl zu tun hat. Und jene, die behaupten, dass Wettbewerb die beste Methode sei, um erfolgreich zu sein, und dass permanentes Wachstum und finanzieller Gewinn die einzig gültigen Beweise dafür sind, es geschafft zu haben, gehören heute zu einer Minderheit. Obwohl wir wachsam bleiben sollten, denn es wurden schon andere Ideen für tot gehalten und plötzlich lebten sie, in anderer Form vielleicht, aber stärker als vorher wieder auf. Am Nachmittag legte sich mein Onkel für eine halbe Stunde hin, was mir die Gelegenheit bot, mit Tante Ella unter vier Augen zu reden. Ob sie sich an die Zeit erinnern könne, als ihr Mann an „DD-Day“ geschrieben hatte, fragte ich sie. Sie dachte kurz nach und lächelte dann verlegen in sich hinein. „Das war ein Jahr vor Annas Geburt“, sagte sie. „Wir hatten uns entschieden, spät aber doch ein Kind in die Welt

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zu setzen. Sein Interesse am Zustand des Planeten war natürlich vorher schon stark ausgeprägt gewesen, aber die Vorstellung, ein eigenes Kind zu haben, verstärkte seine Einstellung noch. Er wollte einfach wissen, was das für eine Welt sein würde, in die seine Tochter hineingeboren wird.“ Ich fragte, warum schon ein Jahr vor der Geburt klar gewesen sei, dass es eine Tochter sein würde. „Er hatte sich das so in den Kopf gesetzt“, sagte sie. „Und die Chancen, dass er richtig lag, standen ja nicht schlecht. Mir war es recht, Hauptsache gesund.“ Das erklärte natürlich vieles. Der Respekt und die Liebe, die mein Onkel für seine Frau und für seine zukünftige Tochter empfand, waren sicher mit ein Grund für seine Idee des friedlichen und von Klugheit geprägten Widerstandsgeists der neuen Frauenbewegung gewesen, die er erfunden hatte, und inzwischen würde ich gern behaupten: Die dadurch Realität geworden war. Genauso verhielt es sich ja auch mit dem Garten, den er für seine Tochter Anna schon vor ihrer Zeugung imaginiert hatte. Er wurde wahr. Ich kenne beides, den erfundenen und den echten Garten, die vorgestellte und die reale Anna. Da gibt es natürlich Unterschiede, die mit der Abstraktion des literarischen Textes und der Konkretheit meiner eigenen Erfahrung zusammenhängen, aber im Wesen sind sich die beiden sehr ähnlich. Auch die Verhältnisse, in denen die Familie in seiner Geschichte lebt, entsprechen denen in der Realität in hohem Maß. Mein Onkel und meine Tante wohnen mit Anna und ihrem Partner Karl in zwei unmittelbar nebeneinanderliegenden Häusern am Rand der Stadt. Karl macht in Reparatur, Wartung, Renovierung und Optimierung von praktisch allem, was irgendwie funktionieren sollte: Küchengeräte, Zweiradfahrzeuge, Häuser. Das eigene Haus hat er, trotz der hohen Anforderungen an Wärmedämmung und Energieautonomie, weitgehend selbst geplant und gebaut. Er ist ein genialer handwerklicher Universalist und auch ein begabter Vermittler. Als ich an diesem Vormittag bei ihm auftauche, zeigt er gerade einer Gruppe von Schülern, wie man einen E-Roller repariert, der aussieht, als wäre er mindestens zwanzig Jahre alt. Karl recycelt nichts, bevor er es nicht zwei- oder dreimal vergeblich auseinandergenommen und wieder zusammengebaut hat. Über die Geräte, die ich mit mir herumtrage, mein Smarti und meine Brille zum Beispiel, schüttelt er jedes Mal den Kopf, weil er eine Lebensdauer von sieben, höchstens acht Jahren für eine Frechheit hält. Annas Waldgarten beginnt gleich hinterm Haus, erstreckt sich etwa fünfzig Meter in die Ebene und dann noch einmal so weit über den Hang hinauf. Sie umarmt mich lange. Anschließend machen wir, wie bei jedem meiner Besuche, sofort einen Rundgang durch ihre so bezaubernd kultivierte Landschaft aus Hecken, Stauden, Beerensträuchern, Obst- und Nadelbäumen, Beeten und Feuchtbiotopen. Vielleicht zweitausend Quadratmeter, mehr nicht. Heute führt sie mich gleich zu den drei Zeilen

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Weinreben hinauf, die inzwischen reichlich tragen. Ich habe leider vergessen, um welche Rebsorte es sich handelt, auf jeden Fall ist es eine, die vor der Erwärmung hier sicher nicht ausgereift wäre. Im Schatten des Weinlaubs stehen die Tomaten und darunter das Basilikum. Ich denke, jetzt fehlen nur noch die Nudeln. Bei den Beeten hockt ein anderer Teil der Schulklasse auf dem Boden und klaubt unter Ekelgeräuschen Schnecken in einen Eimer. „Karotten, Rettich, Kohlsprossen“, sagt Anna. „Die vertragen sich prächtig. Vor allem, wenn man den Samen nicht in Reihen sät, sondern ihn einfach breitwürfig verteilt.“ Bei einem Apfelbaum, dessen Früchte schon fast reif sind, erklärt sie mir, was die Kapuzinerkresse für die Wurzeln des Baums, die Wurzeln des Baums für die Lockerheit des Bodens und der lockere Boden für das Gedeihen des Knoblauchs tun kann. Und vor allem, was sie alle zusammen für uns tun können. Sie ist spürbar im Lehrerinnen-Modus, aber ich lasse es mir gern gefallen. Ich gehöre ja zur letzten Generation derer, die in der Schule noch nicht in diesen praktischen, landwirtschaftlichen Techniken unterrichtet worden sind, und kann deshalb Nachhilfe über Bodenqualität, Biodiversität und Permakultur jederzeit vertragen. Zumal mein Interesse an der Landwirtschaft immer eher ein theoretisches war. Anna lachte mich einmal aus, als ich dozierte, Landwirtschaft zu betreiben sei ein politischer Akt zur Aufrechterhaltung des Sinns für Gleichheit, Gerechtigkeit und Souveränität. Ich meinte damit Ernährungssouveränität, weil ich die von der Agrarindustrie des 20. Jahrhunderts erfundenen Methoden für eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte hielt. Ich wurde immer wütend, wenn ich mir vorstellte, wie sich die Bosse des militärisch-petrochemischen Komplexes in den 1950erJahren zusammengesetzt hatten, um sich zu überlegen, was sie mit den aus dem Zweiten Weltkrieg übriggebliebenen Bestandteilen chemischer Massenvernichtungswaffen anfangen könnten. Die Lager quollen ja über vor teurem Zeug. Und sie fanden (oder erfanden) einen neuen Feind, den sie damit eliminieren konnten, nämlich den Pflanzenschädling. Sie kreierten ein Sortiment an Herbiziden, Fungiziden und Pestiziden, redeten den Regierungen und der Bevölkerung ein, dass nur mit Hilfe ihrer Palette an chemischen Vertilgungs- und Düngemitteln die Sicherheit der Welternährung gewährleistet werden könne und machten die Bauern von den neuen Agrarkampfstoffen abhängig. Dasselbe passierte mit der zur Traktorenerzeugung umfunktionierten Panzerindustrie. Die sogenannte moderne, industrielle Landwirtschaft war nichts anderes als die Fortführung der Kriegswirtschaft, mit der Aussicht auf astronomische Profite, genannt „Die Grüne Revolution“. Bis in die Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts taten die Agrarkonzerne nichts anderes, als Milliarden von Hektar guten Ackerlands mit ihren Produkten und Methoden systematisch zu zerstören und den Bauern anschließend Produkte und Methoden zu

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verkaufen, mit denen sie gegen diese Zerstörung ankämpfen konnten. Auf diese Art annektierten sie einen riesigen Teil der weltweiten Ackerflächen und installierten darauf Monokulturen, auf denen Pflanzen wuchsen, die man je nach Marktlage entweder zu Ethanol, zu Zusatzstoffen der Kosmetikindustrie oder zu Viehfutter verarbeitete. Hin und wieder auch zu Lebensmitteln, die derart chemisch belastet waren, dass man sie besser nicht aß. Wie gesagt, Anna findet meine politisch motivierten Vorträge eher lustig. Sie ist überzeugt davon, dass auch die letzten Reste der alten Industrie in den nächsten Jahren verschwinden würden, weil die Menschheit inzwischen eingesehen hatte, was sie unserem Planeten schuldig war. Einen Planeten, den Anna übrigens, wie viele Menschen mittlerweile, Gaya nennt, weil sie nicht mehr das Bild einer Kugel aus Gestein und Metall vor Augen hat, die in einem kalten, seelenlosen Weltraum dahintreibt, sondern ein komplexes Lebewesen mit eigenem Bewusstsein, das in symbiotischer Beziehung mit Trilliarden anderen Lebewesen, darunter wir Menschen, existiert und mit der Sonne in einer energetischen Verbindung steht. In dieser Hinsicht ist Anna ganz die Tochter ihrer Mutter, meiner Tante Ella, über deren Heilkunst und Spiritualität es sich lohnen würde, eine eigene Geschichte zu schreiben. Während ich mit meinen politischen Ausbrüchen eher die Tradition meines Onkels weiterführe. Anna und Ella behaupteten einmal, wir würden zum Teil wortgleich und mit denselben ausladenden Gesten argumentieren. Und ich antwortete, es könnte ja sein, dass ich nur die Figur in einer seiner Geschichten bin. Anna pflückt einen Apfel vom Baum, gibt ihn mir und sagt: „Ich hab’s zwar nicht so mit Äpfeln, aber immer wieder staune ich, wie sie sich darum bemühen, mich von sich zu überzeugen. Letzthin habe ich Saft gepresst und ihn in der Sonne stehen lassen. Er hat sich in Most verwandelt, den ich auch ignoriert habe. Dann hat er es als Essig probiert, und ich Banause ignoriere auch den Essig. Aber er gibt einfach nicht auf und macht mir schließlich das Angebot, ihn als Reiniger zu verwenden. Das habe ich dann getan, obwohl ich auch den Geruch des Apfelreinigers nicht wirklich mag.“ Sie ist eine große Naturphilosophin, und das mit vierundzwanzig Jahren. Als zwei Kühe ihres Nachbarn durch den Garten streunen, sagt sie: „Wir haben lange nicht erkannt, dass Kühe ein Gruppenbewusstsein haben, und dass sich dieses Bewusstsein gern mit uns verbindet.“ Ob man diese Kühe schlachten wird, frage ich. „Irgendwann vielleicht, aber solange sie leben, gehören sie zu den Gärten hier. Die Viehhaltung war immer ein wichtiger Teil einer ganzheitlichen Landwirtschaft, das sollten wir nicht übersehen. Wir dürfen die Tiere nur nie wieder in Ställe pferchen und sie systematisch töten und verwerten. Nicht die Kühe, nicht die Schweine, nicht die Hühner. Das war ein großer Irrtum. Auch Schweine und Hühner möchten mit uns zusammenleben. Sie unterscheiden sich in diesem Bedürfnis nicht von Hunden und Katzen.“

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Neben ihrer Arbeit im Waldgarten, zu der auch der Schulunterricht gehört, ist sie noch fünfzehn Stunden als Bibliothekarin tätig und verdient dort ein angemessenes Gehalt. Ihren Waldgarten betreibt sie „marktbefreit“, also ohne Geld damit verdienen zu wollen, und versorgt mit ihrer Ernte Bekannte, Freunde und Verwandte. Auch ich komme immer mit frischem Gemüse oder Eingelegtem nach Wien zurück. Wenn ich ihre Mitgift dann aufgebraucht habe, fange ich leider wieder an, Superfood zu kaufen. Im chinesischen Gemüsehaus zum Beispiel. Es steht gleich um die Ecke, die Ware ist garantiert frisch, und ich habe halt ein Faible für die wissenschaftliche Akribie der Asiaten. Ihre Anbau- und Vermarktungsmethoden, die eigentlich für Metropolen wie Hongkong, Shanghai oder Peking entwickelt worden sind, haben sich mittlerweile auch bei uns verbreitet. Das Gemüsehaus arbeitet auf der Basis einer rein hydroponischen Kultur, die vor allem auf Effizienz beim Wasserverbrauch ausgelegt ist. Da hängen die Wurzeln in einer perfekt abgestimmten und mehrmals im System zirkulierenden Nährlösung. Zwischen die Pflanzenreihen gespannte Lichtfasern steuern mit ihren unterschiedlich einstellbaren Farbwerten den Zuckergehalt beziehungsweise den Geschmack des Gemüses. Angebaut wird auf fünf Oberetagen, verkauft im Erdgeschoss. Kein Transport, keine Emission, chinesisches Knowhow. Mich fasziniert das. Ich kaufe auch hin und wieder Kunstfleisch aus Rinderstammzellen und Proteinaufstrich aus Zuchtinsekten. Praktisch alle Chinesen bieten das mittlerweile günstig an. Die meisten ekeln sich zwar immer noch davor, aber ich finde den Geschmack in Ordnung. Anna verrate ich natürlich nichts davon. Für sie haben auch Insekten eine Seele oder besser, sie sind Teil des planetarischen Bewusstseins, weshalb sie deren industrielle Verwertung für ethisch bedenklich hält. Und gehe ich mit ihr durch ihren Garten und sie erklärt mir deren Funktion oder erzählt mir von Zwischenfruchtbau und Bodenpflege und von Masanobu Fukuokas „Landwirtschaft des Nichtstuns“ oder von altem, vor dem Aussterben gerade noch gerettetem Saatgut, das sie verwendet, dann habe ich natürlich ein schlechtes Gewissen wegen meiner immer noch viel zu laschen Haltung. Woher sie das alles weiß, frage ich sie und sie sagt, sie habe viel von ihrer Mutter gelernt und von den Lehrerinnen in der Schule, und natürlich aus Büchern, die auch alle von Frauen geschrieben worden seien. „Die Landwirtschaft, wie sie heute betrieben wird, scheint eine Frauensache zu sein“, sagt sie. „Auch weil die Handarbeit so wichtig ist, der Verzicht auf schweres Gerät. Wir mussten ja zuerst den Mythos des Pfluges brechen. Das war für die Männer schwer zu verstehen, dass es nämlich eigentlich keine Kraft braucht und vor allem nicht dieses tiefe Eindringen in den Boden, um etwas zu pflanzen. Aber dir ist das inzwischen klar, oder?“ Sie stößt mir ihren Ellbogen in die Seite und lacht. „Landwirtschaftliche Arbeit ist kein Kampf gegen die Natur, sondern eine intellektuell anspruchsvolle Tätigkeit. Deshalb inves-

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tiere ich auch einen großen Teil meines Grundeinkommens in die Fortbildung. Es gibt noch so viel zu wissen und an Wissen weiterzugeben.“ Ihr Grundeinkommen wird ihr übrigens in Rheintalern ausbezahlt, einer regionalen Währung mit einjähriger Laufzeit. Deshalb eignet sie sich weder zum Sparen noch für Urlaubsreisen über die Landesgrenzen hinaus. Auch nicht zum Kauf importierter Waren. Dafür zirkuliert diese Währung in der Region deutlich besser, was ihre Wertschöpfung im Vergleich zum Euro deutlich erhöht. In Wien gibt es den Blue Danube. Mein Onkel prognostiziert in seiner Geschichte, dass sich die Wiener Bürgermeisterin ihr Gehalt zu achtzig Prozent in dieser Währung auszahlen lassen wird. Ich habe es zwar noch nicht überprüft, aber ehrlich gesagt zweifle ich daran, dass diese Vorhersage wahr geworden ist. Ich verabschiede mich von Anna und bin wie immer beeindruckt von dieser jungen Frau. Jedes Mal, wenn ich bei ihr war, nehme ich mir vor, irgendwann Bauer zu werden. Bauer zu sein, denke ich, unter ihrem Einfluss stehend, ist die einzig wirklich sinnvolle Tätigkeit, die ein Mensch ausüben kann. Je weiter ich mich dann in Richtung Wien entferne, desto mehr lässt dieser Wunsch nach. Vielleicht schaffe ich es wenigstens, in Zukunft mein Gemüse regelmäßig in einer der Wiener Mikrofarmen einzukaufen, denke ich dieses Mal, während ich einen der städtischen E-Roller vor dem Wiener Hauptbahnhof von der Ladestation nehme und damit in meine Wohnung fahre. Dann hätte ich mein Grundeinkommen einem weiteren sinnvollen Einsatzbereich zugeführt. Was nicht heißt, dass ich es jetzt nicht auch gut anlege, für Miete und Betriebskosten natürlich und für die Teilnahme am kulturellen Leben in der Stadt. Theater, Konzerte, Spiele und so weiter. Alles selbstverständlich COZwei- und CommonWalfare-zertifiziert. Ich hatte übrigens nie einen Führerschein. Niemand unter vierzig, den ich kenne, hat je eine Fahrprüfung gemacht. Wozu auch? Der allergrößte Teil der Autos ist selbstfahrend. Junge Menschen wundern sich heute, warum das auch früher schon Auto heißen durfte, obwohl da jemand hinterm Steuer sitzen musste. Das Bedürfnis des Menschen, sich auf Rädern fortzubewegen, hat allerdings nicht nachgelassen. Was mein Onkel auch so vorhergesagt hat. In seiner Geschichte weist er in diesem Zusammenhang auf die Arbeit eines Psychologen hin, der behauptet, es werde dadurch hervorgerufen, dass wir schon als Säuglinge im Kinderwagen durch die Gegend gefahren werden. Dennoch sinkt in den letzten Jahren die Zahl der motorisierten Fahrzeuge kontinuierlich. Vor allem die der privaten Neuzulassungen. Jene, für die das eigene Automobil noch eine Art Befreiungsmaschine aus familiärer Abhängigkeit war, sterben offenbar aus. Kurioserweise ist die Liebe zum Verbrennungsmotor auch im Jahr 2044 noch nicht ganz erloschen. Die enorm hohen Emissionssteuern scheinen die Liebhaber nicht abzuschrecken.

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Selbst bei meinem Onkel glaube ich, was das angeht, an einer Stelle seiner Geschichte einen Widerspruch zu seinen sonstigen Aussagen zu erkennen. Er beschreibt darin seine Ankunft zu den Feierlichkeiten des DD-Days in Wien: „Am Bahnhof steige ich in ein selbstfahrendes eCab“, heißt es da. „Die Abkehr von den Verbrennungsmaschinen ist eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Zeit. Die Hoffnung, dass wir die motorisierten Verkehrssysteme mit all ihren platz- und ressourcenfressenden Begleiterscheinungen generell überwinden werden, habe ich aufgegeben. Das kleine rikschaähnliche Elektrovehikel, das mich zu meinem Hotel bringt und das zum Glück nicht viel schneller fährt als ein Fahrrad, finde ich sogar sehr praktisch. Aber irgendwie auch seltsam. Vielleicht, weil es mich immer an meine Aufenthalte in Indien Anfang des Jahrtausends erinnert, wenn ich mich in eines dieser Dinger setze, nur fehlt dieses typische Geknatter der Zweitakter und der Geruch des Öl-Benzin-Gemischs. Wenn ich diesen Geruch heute irgendwo wahrnehme, dann löst er durchaus angenehme Gefühle in mir aus, das gebe ich zu.“ Ich kann seine Gefühle zwar nicht nachvollziehen, finde aber die kleine sentimentale Neigung zum Benzingeruch, die hier anklingt, verzeihlich. Hauptsache, er lag richtig mit der Beschreibung einer Welt, in der das Verbrennen von Kohlenstoff einen Sonderfall darstellt. Vor allem in der Energieerzeugung. Wobei in diesem Zusammenhang seine Prognosen nicht wirklich spektakulär sind. Im Wesentlichen war ja 2019 schon klar, in welche Richtung die Entwicklung laufen würde, nämlich hin zu einem Energiemix aus Sonnenstrahlung, Windkraft, Geothermie und Wasserkraft. Es war allerdings auch absehbar, dass es in manchen Regionen zu deutlich abweichenden Entwicklungen kommen würde. In Nigeria zum Beispiel wird heute noch Erdöl zur Stromerzeugung verbrannt. In China sind nach wie vor hunderte von Kohlekraftwerken in Betrieb, wobei vor zwanzig Jahren zumindest damit begonnen wurde, das emittierte COZwei einzufangen und im Boden zu lagern. Und die USA haben nicht aufgehört, auf Erdgas zu setzen, das dort immer noch fünfzehn Prozent des Primärenergiebedarfs deckt. Aber so ist das eben mit den Amerikanern. Stets sind sie in der Lage, sowohl zu enttäuschen als auch positiv zu überraschen, gesellschaftspolitisch wie technologisch. Was das Knowhow bei der Programmierung im AI- und im Holobereich, vor allem aber im Bereich der AR-Welten für die smarten Brillen angeht, geben die Amerikaner natürlich bis heute den Ton an. Aber ich muss zugeben, sie sind COZwei-mäßig sehr gut dabei. Aus diesem Grund haben wir uns auch entschieden, was die technische Umsetzung des Delta-Displays angeht, mit zwei amerikanischen Firmen zusammenzuarbeiten. Aus Kalifornien stammt die Software zur Interpretation der Sensordaten, aus New York kommen die Pläne für die Hardware. Die architektonische Basis für das Display bildet ein anthrazitfarbener Mast aus Kohlenstoff-Nanomaterial, der

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trotz seiner Höhe von fünfzig Metern nicht mehr als zwanzig Kilogramm wiegt. Der Grundriss ist ein Dreieck, wobei die Kanten nach innen gewölbt sind. Würde man sie umdrehen, ergäben sie zusammen einen Kreis. Wer dahinter einen tieferen Sinn vermutet, täuscht sich. In Wahrheit gehört dieses Mastprofil zu den Standardformen in der Leichtbau-Hochhausarchitektur und ist daher relativ billig zu haben. Die Form des Displays auf der Spitze des Mastes ist schon eher symbolisch zu verstehen. Es ist eine Kugel, die für Gaya steht und die zu leuchten beginnt, wenn das Ganze in Betrieb geht. In zehn Minuten ist es soweit. Ich hoffe, es klappt. Bei einer Probe, die wir noch vor der Aufstellung des Mastes gemacht haben, hat es perfekt funktioniert. Zuerst fängt die Oberfläche an, Lichtpunkte zu spucken, ähnlich wie Sternspritzer auf einem Christbaum. Dann beginnt, begleitet von einer eigens dafür komponierten Soundcollage, ein etwa fünf Minuten dauerndes irisierendes Spiel ineinanderfließender Farbflächen. Auf dem Höhepunkt von Farbspiel und Komposition lösen sich Teile des Lichts quasi von der Oberfläche ab, steigen als eine flirrende, wabernde holografische Form, einer Seifenblase ähnlich, über der Kugel auf und verwandeln sich dort in jene Zahl, auf die wir alle warten. Gesehen habe ich die Zahl noch nicht. Die Originaldaten werden sich erst nach der Enthüllung zu einem authentischen Ergebnis verdichten. Das macht schließlich die Spannung des Abends aus. Ob sich die Farbe der Kugel nämlich eher im grünen oder im roten Bereich stabilisieren wird und wie nahe die Zahl gegen null gehen wird. Wir hoffen auf eine grüne Null, die von da an weit über die Stadt hinweg leuchten wird. Der Ort, den wir für unser Display gewählt haben, gewährleistet einen guten Einblick von allen Seiten. Es war gar nicht leicht, ihn zu finden. Erst als ich auf die Idee kam, unser Event zu einem Teil des D-Day-Gedenktags zu machen, war schnell klar, dass wir den Mast auf dem Dach eines der Gefechtstürme aus dem Zweiten Weltkrieg aufstellen würden. Unsere Wahl fiel auf den Turm im Augarten, weil er gut zu sehen ist, aber auch, weil er im Krieg kurioserweise als Codename den Vornamen meines Onkels trug – Wolfgang. Alles verlief reibungslos. Sowohl das Genehmigungsverfahren als auch die Finanzierung. Die Kosten für Mast und Display bestreiten wir über Spenden, die Arbeitszeit der Beteiligten kommt ausschließlich aus dem „marktfreien“ Bereich. Auch meine. Und die meines Onkels natürlich, dem ich zwar ein Honorar angeboten habe, das er aber, fast ein bisschen beleidigt, abgelehnt hat. „Ich bin froh, dass ich für solche Dinge kein Geld mehr verlangen muss. Aber bei uns alten Knackern glaubt man immer, wir wären gierig geboren und würden auch so sterben.“ Inzwischen haben sich die Gäste auf dem Dach des Gefechtsturms „Wolfgang“ eingefunden, und ich gebe zu, nervös zu sein. Ich habe nicht nur Angst vor technischen Pannen, mir ist auch ein bisschen mulmig zumute, weil ich den Inhalt der Rede

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meines Onkels nicht kenne. Bis vor ein paar Minuten war das überhaupt kein Problem für mich, jetzt plötzlich werde ich unsicher. Vielleicht steigert er sich ja in irgendein abwegiges Thema hinein und stößt alle Anwesenden vor den Kopf. Aber jetzt ist es sowieso zu spät. Auftritt Onkel. Applaus Liebe Anwesende! Ich stehe hier, weil ich der Autor der Geschichte mit dem Titel „DD-Day“ bin. Einer Geschichte, deren prophetische Qualität allgemein überschätzt wird. Ich wäre übrigens nicht gekommen, hätte mich nicht mein Neffe mit einem guten Argument davon überzeugt. „Du hast dich selbst eingeladen“, hat er gesagt. „Lies es nach. In deiner Geschichte steht, dass du diese Rede halten wirst. Gib deiner Prophezeiung also die Chance, sich selbst zu erfüllen.“ Ja seltsam, dachte ich. Obwohl sie nicht existiert, kommst du der Zukunft nicht aus. Pause Meine Geschichte ist ja damals gar nicht so gut angekommen. Die Experten machten mir den Vorwurf, ich sei naiv. Aber das war mir egal. Ich war mir des Risikos bewusst, das ich eingehe, wenn ich mich auf eine positive Darstellung zukünftiger Ereignisse einlasse. Denn Geschichten, in denen es um die Zukunft geht, beschäftigen sich in der Regel mit den Gefahren, die uns drohen, wenn wir so weitermachen wie bisher. Das ist im Grunde auch sinnvoll. Und vor allem spannend. Dem Publikum gefällt es, wenn man ihm ein bisschen Angst einjagt. Das dürfte auch der Grund dafür sein, warum das Genre der Utopie praktisch ausgestorben ist. Lesen Sie „Utopia“ von Thomas Morus, Sie werden sofort erkennen warum. Immer nämlich, wenn es darum geht, was auf der Insel Utopia besser ist als in der echten Welt, wird die Geschichte seltsam farblos. Ein interessantes Gedankenspiel zwar, aber total unglaubwürdig. Damals dachte ich, das wird man von meiner Geschichte sicher auch einmal sagen. Aber mein Neffe meint, ich hätte Glück gehabt und sie sei mir ganz gut gelungen. Lachen Ich brauche dieses Glück beim Schreiben auch, weil es mir nämlich sehr schwerfällt, eine Geschichte vom Anfang bis zum Ende durchzuplanen. Das ist wie im Leben. Da passieren immer wieder unerwartete Dinge, die alles, was man sich vorgenommen hat, über den Haufen werfen. In meinem Leben zumindest war und ist es so. Und auch in meinen Geschichten. Da setzt sich immer wieder das Chaos durch und ich verliere die Kontrolle. Ich erfinde zum Beispiel in guter Absicht eine Figur, denke

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mir einen Lebenslauf für sie aus und dazu die entsprechenden Motive für ihr Handeln, doch plötzlich entwickelt sie ihre eigenen Vorstellungen. Da hast du dann keine Chance, da bist du gezwungen, auf ihre Wünsche einzugehen, damit die Handlung nicht ins Stocken gerät. Für die Figur der Anna zum Beispiel hatte ich eigentlich ein anderes Leben geplant. Aber wie hat es meine Frau einmal formuliert: „Das wäre ja noch schöner. Du kannst doch nicht erwarten, dass sich dein Kind genau nach deinen Wünschen verhält. Weder im Leben, noch in der Literatur.“ Und meine Frau hat natürlich immer Recht. Lachen Was ich damit sagen will, ist: Wir können versuchen, die Zukunft vorherzusagen, letztlich tut sie, innerhalb des Rahmens, den wir für sie abstecken, was sie will. Pause Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich mir diesen Moment schreibend vorgestellt. Ich habe mir vorgestellt, wie ich hier stehen werde, unter dem noch verhüllten DeltaDisplay, wie ich nach der Schnur greifen werde, an der das Tuch befestigt ist, und wie ich dabei die Spannung spüre, die unter den Wartenden herrscht. „Welche Zahl wird das Hologramm zeigen?“ fragen sich alle. Wird sie zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind? Oder wird es sogar die grüne Null sein, als Zeichen dafür, dass sich unsere Hoffnungen bereits erfüllt haben? Pause Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber ich hatte damals keine Ahnung, was passieren würde.

Hans-Michael Kirstein: Human Armageddon

Flüchtigkeit Julian Pörksen

PARADIESISCHE Z USTÄNDE Es gibt Bilder, die einen fesseln, einen regelrecht erobern und in Besitz nehmen. Sie lösen einen inneren Aufruhr aus, eine tiefe Unruhe, und das betrachtende Subjekt beginnt, sie mit neuen Bildern zu übermalen, mit seinen Phantasmen, Sehnsüchten, Visionen. Diese Bilder können gänzlich trivial sein, unauffällig, für alle anderen nichtssagend – der Schock entsteht erst aus dem Zusammenspiel von Betrachter und Gegenstand. Sie markieren, das ist die Voraussetzung für ein solches Erlebnis, eine Abweichung, sind Störung und Herausforderung zugleich, sie konfrontieren mit einer Ansicht und geben diese Ansicht zugleich als Projektionsraum frei. In gleich zwei der großen Romane Dostojewskijs – „Böse Geister“ und „Ein grüner Junge“ – spielt ein solches Bild eine zentrale Rolle. Es ist Claude Lorrains „Küstenlandschaft mit Acis und Galatea“ von 1657, das Dostojewskij auf einer Deutschlandreise in der Dresdener Gemäldegalerie gesehen hat. Es zeigt eine Bucht im weichen Abendlicht, Schiffe treiben auf den sanften Wellen, Felsen und Bäume leuchten im Widerschein des ausklingenden Tages. Im Vordergrund ein provisorisches Zelt, der Flussgott Acis und die Nymphe Galatea in inniger Umarmung. Zur Rechten sitzt ein Kind auf dem Boden und spielt, weiter oben, auf den Felsen, ruht der Riese Polyphem – er wird später einen Felsbrocken auf das Paar schleudern und Acis zermalmen. Es ist eine arkadische Landschaft, die hier gezeigt wird, ein paradiesisches, vorzivilisatorisches Idyll. „Hier lebten wunderschöne Menschen! Glücklich und unschuldig erwachten sie und schliefen wieder ein; die Haine waren erfüllt von ihren heiteren Liedern und ihr reicher Überschuss an unverbrauchten Kräften ergoss sich in Liebe und arglosen Wonnen.“ (zit. nach Guski 2018: 347) So beschreibt es Stawrogin in „Böse Geister“.

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Es ist für ihn ein „Traum, ein erhabenes Trugbild“ (ebd.). Diese doppelte Eigenschaft – Traum und Trugbild zugleich – verweist auf eine grundlegende Eigenart des radikal-utopischen Denkens: Die Visionen, die es hervorbringt, sind ebenso begehrenswert wie illusionär, ihren Reiz verdanken sie gerade ihrer Unwahrscheinlichkeit, ihrem sehnsüchtigen Niemals. Man begehrt sie, gerade weil sie unerreichbar sind. Sie sind Einladungen zum schönen Selbstbetrug. Stawrogins Traum gehört einem Typus von Utopien an, die man als „Utopien des Rückgriffs“ bezeichnen könnte. Sie imaginieren eine ideale Vergangenheit, ein verlorenes Paradies. In ihrer Klage über diesen Verlust ist jedoch, wenigstens implizit, stets die Hoffnung enthalten, dass es eines Tages wieder so werden könnte. Den zweiten Typus könnte man als „Utopien des Vorgriffs“ bezeichnen. Sie träumen von einer Zukunft, in der alle Gegensätze überwunden sind und die Menschheit in einen post-historischen Zustand eintritt. Während kommunistische Regime den Versuch unternommen haben, derartige Heilsversprechen mit aller Gewalt umzusetzen – die verheerenden Konsequenzen sind bekannt –, hat sich in der westlichen Welt ein System durchgesetzt, das nicht auf kollektive Erlösung, sondern auf die Verheißungen eines radikalen Individualismus setzt. Der Kapitalismus kennt keine ausgleichende Vision, kein Schlussbild, sondern nur den freien Markt und seine Player. Walter Benjamin hat bereits 1921 darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus zwar vom Erlösungsgedanken befreit ist, ansonsten aber die Züge einer Kultreligion aufweist. Er spricht von der „Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci. Es gibt da keinen ‚Wochentag‘, keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes, der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre.“ (Benjamin 2007: 110) Ein Kultus also ohne Traum und Gnade, der seine Anhänger zu ständiger Produktion und ständigem Konsum verpflichtet. Die sozialen Rhythmen lösen sich auf, Arbeit und Freizeit fallen in eins, die totale Gegenwart des Marktes verpflichtet das Subjekt, sich selbst und seine Lebenszeit optimal auszubeuten und jedem Augenblick ein Maximum an Profit abzugewinnen. Es wird zum unternehmerischen Selbst. Bereits Nietzsche hat diese Tendenz an seinen Zeitgenossen beobachtet: „Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt wie einer, der fortwährend etwas ‚versäumen könnte‘.“ (Nietzsche 1930: 216) Verschwendung und Müßiggang werden zum Tabu, die Angst vor dem Versäumnis zur Triebfeder, zum omnipräsenten Schreckgespenst, das alles Denken und Handeln bestimmt. Die Fähigkeit, sich eine Welt vorzustellen, die ganz anders ist als die gegebene, ist im Zuge dieser Entwicklung sukzessive verdrängt worden. So wenigstens lässt sich Benjamin verstehen, wenn er die „Sorge“ zur Geisteskrankheit der neuen Zeit erklärt, wobei er unter Sorge nicht die materielle, sondern geistige Ausweglosigkeit versteht (ebd.: 112).

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D IE S CHRUMPFUNG

DES UTOPISCHEN

B EWUSSTSEINS

Über vier Jahrzehnte nach Benjamins kritischen Notizen zum Kapitalismus treffen sich zwei Philosophen zu einem Radiogespräch, die beide mit ihm befreundet waren: Theodor W. Adorno und Ernst Bloch. Es geht um „Möglichkeiten der Utopie heute“. Ohne sich direkt auf ihn zu beziehen, greifen sie Benjamins Gedankengänge auf und führen sie fort. Die Gegenwart sei arm an sozialen Utopien, konstatiert Adorno, ganz allgemein sei eine „Schrumpfung des utopischen Bewusstseins“ (vgl. Adorno 1964) zu beobachten. Denn das utopische Potenzial, darin sind sich der Vordenker der Kritischen Theorie und der Hoffnungsforscher einig, wohnt jedem Menschen inne. Jeder Mensch wisse im Grunde, so Adorno, dass es möglich ist, ohne Hunger und Angst, als „Freie“ zu leben. Dieses Wissen manifestiere sich in dem diffusen Gefühl eines Mangels, dem Gefühl, dass etwas fehlt. Doch ließen die sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse ein solches Denken verkümmern, was die Menschen dazu verleite, sich eher mit der Unmöglichkeit der Utopie als mit ihrer Möglichkeit zu identifizieren – ganz ähnlich übrigens, wie es gegenwärtig die gesteigerte Tendenz in der Mittel- und Unterschicht gibt, sich aus Angst vor dem sozialen Abstieg mit den Reichen und Herrschenden zu identifizieren und nicht mit den Armen, Ausgebeuteten und Unterdrückten.1 Wenn von der Alternativlosigkeit des kapitalistischen Systems und von der Unumkehrbarkeit der Globalisierung die Rede ist, so drückt sich in diesen Formeln eine fatalistische Identifikation mit dem Bestehenden aus. Gedankenspiele, die sich einem anderen Entwurf des harmonisierten Miteinanders widmen, werden als weltfremd, unrealistisch und unproduktiv abgetan. Doch genau darin, in dem Wunsch, sich vom Regelwerk des Gegebenen zu befreien, besteht ja ihre genuine Qualität: Dass sie unproduktiv, unrealistisch und weltfremd sind, dass sie das Gegebene nicht hinzunehmen bereit sind, sondern die Menschen als Autoren ihrer eigenen Geschichte begreifen. Diese Öffnung des Denkens wird im gegenwärtigen Klima immer schwieriger. Den globalen Krisen und Erosionserscheinungen wird mit einer wachsenden Gereiztheit begegnet, der Diskurs ist von Sensationslust und Alarmismus geprägt. Allerorten wird das Ende der Demokratie ausgerufen, ein neuer Faschismus, eine soziale, ökonomische oder ökologische Apokalypse. Während das rechte politische Spektrum mit altgewohnten Rezepten auf diese Bedrohungsszenarien reagiert (Abschottung, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit), kommen aus der gesellschaftlichen Mitte verstärkt Abgesänge auf das Abendland, auf die Aufklärung und den Liberalismus. Eine dif-

1 | Vgl. dazu u.a. die Arbeiten des Armutsforschers Christoph Butterwegge.

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fuse Lust am Untergang macht sich breit, ein geschichtsphilosophischer Fatalismus, der letztlich zu Lähmung und Visionslosigkeit führt. Es ist offenbar verlockender, sich mit der Erzählung vom Niedergang zu identifizieren, als nach einer neuen Erzählung zu suchen, die es wagt, eine bessere Welt zu denken. Insofern ist eine Figur wie Donald Trump, der weniger Präsident ist als eine Mischung aus Comicfigur, Oligarch und Reality-TV-Star, symptomatisch für die neue Zeit. Man beobachtet ihn mit Faszination und Schrecken – vielleicht auch deshalb, weil er vollständig verkörpert, was Nietzsche in einer Polemik gegen Wagner als die „drei großen Stimulantia der Erschöpften“ (vgl. Nietzsche 2016: 76) bezeichnet hat: „das Künstliche, das Brutale und das Unschuldige (Idiotische)“ (ebd.: 76). So interessant er als mediales Phänomen ist, so verheerend sind die Entwicklungen, die er verkörpert: Eine Verrohung des öffentlichen Diskurses, die Zunahme von Angst und Gewalt, Propaganda und Desinformation, der Zerfall von Demokratien, das Erstarken von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, von Nationalismus und Demagogie.

R AUMSCHIFF E RDE Angesichts der globalen Krisenfelder, die bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts sichtbar wurden, entwickelte der kanadische Architekt, Philosoph und Erfinder Buckminster Fuller Konzepte, um dem „kosmischen Bankrott“ zu entgehen. Sprichwörtlich geworden ist seine Idee vom „Raumschiff Erde“ – was nichts anderes meint als: die Menschheit ist als Mannschaft dieses Schiffes zu begreifen (wir alle sitzen im gleichen Boot) und damit als Ganzes in die Verantwortung zu nehmen. Folge dieser Überlegungen ist der Entwurf eines pazifizierenden Computerspiels, das Fuller im Jahr 1961 skizziert. Dieses sogenannte „World Peace Game“ hat kein geringeres Ziel als den Weltfrieden. Es sollte zunächst ein Abbild der Welt geschaffen werden, ihrer Regeln und Systeme, Ressourcen und Möglichkeiten. Diese Simulation sollte allen Menschen zugänglich gemacht werden (alle Menschen werden Spieler, könnte man mit einer Schiller-Paraphrase sagen), um als intelligenter Schwarm die optimale Strategie für eine gerechte und friedliche Welt zu entwerfen, mit dem Ziel, diese Strategie schließlich auf die Realwelt zu übertragen. Fullers Weltverhältnis ist ein völlig anderes als das von Adorno und Bloch. Während sich die letztgenannten gerade durch ihre Kritik des Rationalismus, des blinden Fortschrittsglaubens, der Dominanz des Marktes und der Wissenschaften auszeichneten, setzt Fuller auf diese Kräfte, auf das erlösende Potential eines technologischen Optimismus. Man darf nicht vergessen: Auch Fullers World Peace Game ist zunächst ein Bild, eine Vision, die er in die Zukunft hineingezeichnet hat; die Grundlage sei-

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nes Denkens und Hoffens ist jedoch ein tiefer Glaube an die Ausrechenbarkeit des Daseins. Nicht erst seit den beiden Weltkriegen befasst sich die europäische Denktradition mit den Kehrseiten eines utilitaristischen Weltverständnisses, mit den Ungeheuern, die die Aufklärung begleiten, mit den Gefahren eines rationalistischen, funktionalistischen Weltbilds. Die Instrumentalisierung des Menschen, die Reduktion seines Daseins auf seine Produktivkraft, auf Nützlichkeit und Ertrag, die damit einhergehende Entmündigung und Disziplinierung, wurden immer wieder analysiert und angegriffen. Die Menschen, so legt es Dostojewskij seinen namenlosen Helden in den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ in den Mund, werden so zu „Drehorgelstiften“ degradiert, zur reinen Funktion: „Sein eigenes uneingeschränktes und freies Wollen, seine eigene, selbst die allerausgefallenste Laune, seine Phantasie, die zuweilen bis zur Verrücktheit verschroben sein mag – das, gerade das ist ja [für den Menschen, Anm. des Autors] jener übersehene allervorteilhafteste Vorteil, der sich nicht klassifizieren läßt und durch den alle Systeme und Theorien fortwährend zum Teufel gehen.“ (Dostojewskij 2003) Es geht um die Verteidigung eines Überschusses, der sich nicht qualifizieren, nicht kanalisieren und nicht nutzen lässt. Angesichts schwindender Arbeitsplätze bei einem gleichzeitigen Wachstum der Weltbevölkerung wird es eine äußerst interessante Frage sein, wie die Nutzlosigkeit bewertet werden wird, wenn es so viele „nutzlose Menschen“ gibt.

E WIGES L EBEN In den Laboren des Silicon Valley wird derzeit die Zukunft der Menschheit erforscht und gestaltet. Oft hört man, es seien konkrete Utopien, die dort entworfen und in die Tat umgesetzt werden. Die Konzerne wenigstens werden nicht müde, werbewirksam zu beteuern, dass es ihnen vor allem darum gehe, die Welt zu einem besseren Ort zu machen („Making the world a better place“). Politische Einflussnahme, Anhäufung von Kapital, globale Dominanz werden als Sekundäreffekte eines idealistischen Strebens ausgegeben, Weltenrettung dient der Imagepflege, ist Werbemaßnahme und Verkaufsstrategie. Zu den großen Projekten des Silicon Valley zählt der Versuch, den Tod mit Hilfe von Biotechnologien zu besiegen. Nils Markwardt weist in einem Essay über die „Silicon Sowjets “ darauf hin, dass derartige Bemühungen keineswegs neu sind (vgl. Markwardt 2018). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten derartige Visionen in Russland Hochkonjunktur, in der Sowjetunion erlebten sie eine regelrechte Blütezeit. Besonders zwei Gruppen traten hier in Erscheinung: Die Immortalisten und die Biokosmisten. Erstere träumten von der Unsterblichkeit, letztere von der Besiedelung des Weltalls. Im kalifornischen Tech-Kapitalismus florieren Thinktanks,

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Labore und Unternehmen, die diese Erlösungs-Projekte fortführen. Sie arbeiten an Anti-Aging-Rezepturen, machen Experimente, um die Zellalterung aufzuhalten, bekämpfen den körperlichen Verfall mit allen Mitteln – so verabreicht beispielsweise ein Start-up mit dem sprechenden Namen „Ambrosia“ seinen Kunden eineinhalb Liter Blutplasma (Kosten: 8.000 US-Dollar), verbunden mit dem Versprechen, das Plasma wirke wie ein Jungbrunnen. Der Großinvestor Peter Thiel hat verkündet, die „Ideologie von der Unvermeidlichkeit des Todes“ (ebd.) nicht akzeptieren zu wollen und imaginiert stattdessen ein Leben ohne Krankheiten, ohne Schmerzen, ein Leben ohne Ende. Diejenigen, die nicht von der Unsterblichkeit der Körper träumen, fantasieren von der Unsterblichkeit des Geistes, davon, das menschliche Bewusstsein auf künstliche Träger zu überspielen, um so wenigstens sein Fortleben zu sichern. Andere wiederum, wie der Tesla-Gründer Elon Musk, sprechen von der Besiedlung fremder Planeten, von einer Flucht ins All. Kurz gesagt: Die Abschaffung des Todes, das ewige Leben, diese techno-optimistischen Visionen verbinden das kommunistische Russland mit dem hyperkapitalistischen „Tal der Zukunft“ in Amerika. Es ist die Arbeit des „Prothesengottes“ Mensch, wie Freud ihn beschreibt, an der Verwirklichung seiner Allmacht mit den Mitteln der Technologien und Wissenschaften (vgl. Freud 1930). „Der vollendete Sozialismus muss sich nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit etablieren, indem er die Zeit mit den Mitteln der Technik in Ewigkeit verwandelt.“ (Groys 2005) Es ist der Traum vom Ende der Zeit, dem Paradies auf Erden – und damit von einer Gesellschaft als Museum. Diesen Gedanken entwickelt Fjodorow, der den Menschen zu einem Ausstellungsstück machen will, ein Exponat, das den Sieg der Menschen über die Naturgesetze dokumentiert. Das Silicon Valley behauptet, an diesen Ewigkeits-Technologien im Namen der Menschheit zu forschen. Sollten derartige Techniken jemals entwickelt werden, so werden sie jedoch keineswegs für alle da sein, sie werden den Reichen und Superreichen vorbehalten bleiben. Unberührt davon bleibt jedoch die Frage, was bliebe, wenn das Leben tatsächlich aus der Zeitlichkeit gelöst würde? Dazu schreibt Hölderlin, in seinem „Hyperion“: „Am Tage, da die schöne Welt für uns begann, begann für uns die Dürftigkeit des Lebens. [...] Denke, wenn es möglich ist, den reinen Geist! Er befaßt sich mit dem Stoffe nicht; drum lebt auch keine Welt für ihn; für ihn geht keine Sonne auf und unter; er ist alles, und darum ist er nichts für sich. Er entbehrt nicht, weil er nicht wünschen kann; er leidet nicht, denn er lebt nicht.“ (Hölderlin 1958: 215)

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S TERBEN

LERNEN

In einem seiner Essays widmet sich Michel de Montaigne der Frage nach dem Verhältnis von Leben und Tod. „Philosophieren heißt sterben lernen“, so der Titel und zugleich die These seiner berühmten Auseinandersetzung. Das Leben ist eine Reise in den Tod, „alle Tage wandern wir zum Tode; am letzten kommen wir am Ziel an.“ (Montaigne 1992: 62) Könnte man ihm entkommen, so Montaigne, würde er unbedingt für Feigheit und Flucht plädieren (ebd.: 54), doch da das nun mal nicht ginge, müsse man sich der Unausweichlichkeit des eigenen Verlöschens stellen. Man müsse Sterben lernen, und dafür sei die Philosophie zu gebrauchen. Der wichtigste Schritt sei es, die Furcht vor dem Tod zu überwinden, indem man sich mit ihm vertraut mache, mit ihm lebe. Erst dadurch werde man frei. „Wir müssen versuchen, ihm seine furchtbare Fremdartigkeit zu nehmen, mit Geschick an ihn heranzukommen, uns an ihn zu gewöhnen, nichts anderes so oft wie den Tod im Kopf zu haben, ihn uns in unserer Phantasie immer wieder in den verschiedensten Erscheinungsformen ausmalen [. . . ].“ (ebd.: 62f.) Kulturgeschichtlich hat sich, wenigstens in der westlichen Zivilisation, das Gegenteilige ereignet. Der Tod hat in den Köpfen keinen Raum. Waren Tod und Sterben im Alltag der mittelalterlichen Gesellschaften noch überall präsent, eingewoben in das soziale Handeln, durch Riten und Zeremonien im Bewusstsein fest verankert, so lässt sich beobachten, wie der Tod mit dem Beginn der Neuzeit langsam verschwindet. Philippe Ariès beschreibt in seinen „Studien zur Geschichte des Todes im Abendland“ dieses Verschwinden als einen schleichenden Prozess, der sich langsam und auf unterschiedlichen Ebenen vollzieht. Räumlich verlagert sich das Sterben aus der Öffentlichkeit ins Private, später in die medizinischen Institutionen. Der Mensch wird nicht länger als Träger seines eigenen Todes verstanden, der Tod kommt also von „außen“, durch Krankheit, ein Versagen der Organe, wird als Folge eines biologischen Defekts verstanden. Die Rituale, die sich um das Sterben entwickelt haben, verlieren an Bedeutung. Das Sterben und damit die Sterblichkeit verschwinden aus dem Bewusstsein und dem alltäglichen Leben. Rainer Maria Rilke hat dieses Phänomen in „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ beschrieben, das „fabrikmäßige“ Sterben, in anonymisierten Räumen, eigenen Institutionen. „Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. [...] In den Sanatorien, wo ja so gern und mit soviel Dankbarkeit gegen Ärzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen von den an der Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen. [...] Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube ich, das muß früher anders gewesen sein. Früher

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wußte man (oder vielleicht man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen einen großen. Die Frauen hatten ihn im Schoß und die Männer in der Brust. Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde und einen stillen Stolz.“ (Rilke 2012: 13ff.) Es gibt Orte, an denen Leben und Tod, Werden und Vergehen, in eindrücklicher Gleichzeitigkeit existieren. Einer dieser Orte ist Pashupatinath in Katmandu. Dieser Tempelkomplex, am heiligen Fluss Bagmati gelegen, ist für Hinduisten eine ihrer wichtigsten religiösen Stätten überhaupt. Hier werden, auf steinernen Vorsprüngen, den Ghats, die Toten verbrannt. Die Verbrennungen geschehen in aller Öffentlichkeit, das Ritual lässt sich vom anderen Flussufer in aller Ruhe beobachten: Das Aufschichten des Scheiterhaufens; das Tragen der in bunte Stofftücher gehüllten Leiche um diesen Holzstapel, drei Mal im Uhrzeigersinn, begleitet vom Weinen und Klagen der Angehörigen; das Entzünden des Feuers durch den ältesten Sohn, indem er eine Fackel an den mit Fett präparierten Mund der Verstorbenen hält (der Mund ist der Ort, wo das Leben ein und ausgetreten ist, als Atem); die Verbrennung selbst, von einem Bramahnen-Priester beaufsichtigt, von der Familie beobachtet; die Auflösung des Körpers im Feuer, das Aufplatzen des Brustkorbes, brennendes Fleisch; der beißende Gestank, das zischende Fett; bis schließlich nichts mehr übrig ist als Asche, aus der, im letzten Akt dieses beinahe mehrstündigen Zeremoniells, ein kleines Männchen geformt wird, um dieses schlussendlich in das erlösende Wasser zu kehren. Während auf der einen Seite Familien klagen und Bramahnen in den brennenden Leichenresten stochern, findet drumherum das Leben statt. Kinder spielen Fußball, heilige Männer meditieren im Schatten der großen Bäume, Affen jagen über die Tempeldächer, Touristen machen Fotos, Kühe fressen Müll, Verkäufer bieten Cola, Zigaretten, Schokolade an und weiter unten am Fluss fischen Straßenkinder unverbrannte Leichenteile aus dem Wasser, auf der Suche nach Schmuck. Der Tod ist öffentlich, die Rituale des Abschieds sind umgeben von Ritualen des Lebens, beides ist untrennbar miteinander verbunden – wie überhaupt im Hinduismus nicht in Gegensätzen (Ausschlüssen), sondern in Dualitäten (Gleichzeitigkeiten) gedacht wird. Pashupati übrigens, eine der vielen Formen des Gottes Shiva, der in der hinduistischen Trinität für das Prinzip der Zerstörung steht, bedeutet übersetzt: Herr des Lebens, Herr alles Lebendigen.

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Nach dieser Abschweifung noch einmal zurück zur Utopie, denn eine zweite Anmerkung Adornos scheint mir in diesem Zusammenhang wichtig: Man kann von ihr, der Utopie, nicht wirklich sprechen, sie kann nicht beschrieben werden. Nicht im „Auspinseln der Utopie“, nicht im konkreten Ausmalen einer Gegenwelt, sondern nur in der Kritik des Bestehenden scheint sie auf. Es herrscht also ein Bilderverbot – das Richtige kann sich nur in der Kritik des Falschen zeigen, nimmt in der Negation Gestalt an. Darin wird deutlich, wird erfahrbar, dass etwas fehlt. Ausgepinselt wurde der paradiesische Zustand trotz allem immer wieder. In religiösen Schriften, in politischen Manifesten, in der Kunst. Das eingangs erwähnte Gemälde, wenigstens in der Lesart Dostojewskis, ist nur ein Beispiel unter vielen. Was das Problematische der Utopie-Beschreibung ist, lässt sich ganz gut an Dantes „Divinia Commedia“ studieren. Auf der Suche nach seiner verstorbenen Geliebten durchläuft der Ich-Wanderer die christlichen Jenseitswelten, er steigt hinab bis in den tiefsten Kreis der Hölle, durchläuft das Purgatorio und schließlich auch das Paradies. Während die Gesänge aus dem Inferno fesselnd sind, nehmen Intensität und Spannung mit der Annäherung ans Göttliche schleichend ab; statt brennender Päpste, seufzender Seelen, statt Verrätern und Intriganten, Dieben und Mördern, Liebenden und Lasterhaften, begegnet man hier den Zufriedenen, den Braven, den Satten und Erlösten, die von der Herrlichkeit des Herrn sprechen. Das Paradies ist ein langweiliger Ort. Ewige Harmonie und göttliche Glorie mögen zwar als Zustand herrlich sein, für Außenstehende, für die Leser, ist es jedoch wenig mehr als redundanter Jubel, fade Beschwörung eines unterschiedslosen Glückes. Daran ändert auch der Wissenseifer des Wanderers nichts, der sich alles, was ihm begegnet, von seinem Führer erklären lässt. Sein Vorhaben, die Gesamt-Erfassung des Jenseits, wird ein einziges Mal direkt angegriffen. Am Fuß des Läuterungsberges, Vergil erklärt gerade den anstehenden Aufstieg, ertönt plötzlich eine Stimme: „Möglich, daß ihr euch vorher niedersetzen müsset.“ (Alighieri 2009: 151) Im Schatten eines Felsens sitzt eine Gruppe von Menschen. Zwischen ihnen, die Arme um die Knie geschlungen, den Kopf gesenkt, hockt ein alter Bekannter Dantes. Es ist der Florentiner Lautenmacher Belacqua. Diese historisch verbürgte Gestalt, die stadtbekannt für ihre Faulheit war, soll Dante auf einen entsprechenden Vorwurf mit einem Aristoteles-Zitat geantwortet haben: „Sitzend und ruhend wird die Seele weise.“ Da er sich zu spät zum rechten Glauben bekannt hat, muss Belacqua seine Lebenszeit noch einmal absitzen, bis er ins Fegefeuer, zur Läuterung, zugelassen wird. Doch scheint ihn seine Lage nicht weiter zu bedrücken, er sitzt mit einer gewissen heiteren Indifferenz seine Zeit vor der Buße ab. Für den Forschungseifer des Jenseitswanderers, für seinen Willen zu Aufstieg und Klassifizie-

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rung, hat er nichts als sanften Spott übrig: „Bruder, was soll das Steigen?“ (ebd: 152) Und genau das zeichnet die Belacqua-Episode vor allen anderen Begegnungen aus: Wenigstens für einen Moment wird das gesamte Unterfangen spöttisch und fragend angegriffen, die Position des fleißig Steigenden wird aus einer Gegenposition – der Trägheit, des Wartens, des kritischen Betrachtens – in ihren Prämissen hinterfragt. Belacqua hat eine doppelte Funktion: Dem tätigen Körper setzt er den trägen entgegen, dem Forschungs- und Eroberungsgeist antwortet er mit Relativierung und Spott. Ihm ist, ganz generell gesprochen, das Handeln suspekt, der Wille zum Fortschreiten und Aufstieg. In seiner skeptischen Passivität wendet er sich gegen eine Grundanlage der westlichen Zivilisation, die Roland Barthes in seinem Buch über „Das Neutrum“ als „abendländischen Wahn“ (Barthes 2005: 256) bezeichnet und folgendermaßen charakterisiert: „In makroideologischem Maßstab betrachtet, ist das Abendland auf Arroganz geradezu spezialisiert: hohe Wertschätzung des Willens; Überhöhung aller Anstrengungen, die auf Zerstörung, Veränderung, Konservierung usw. zielen; überall dogmatisch eingreifen.“ (ebd.) Das moderne Denken, die moderne Philosophie sind von einer Verherrlichung des Wollens durchdrungen, von einer Idealisierung des Strebens, einer „männlich-überheblichen Wertschätzung für das Schwierige.“ (ebd.: 257)

S CHWIERIGES , A LLZUSCHWIERIGES Kaum ein Film ist so sehr von diesem Eroberungsheroismus beseelt wie Werner Herzogs „Fitzcarraldo“. Der gleichnamige Kautschukbaron plant den Bau eines Opernhauses in der peruanischen Dschungelstadt Iquitos. Besessen von seiner Mission, nimmt er jedes Opfer in Kauf, den Tod seiner indigenen Arbeiter ebenso wie den eigenen Ruin. Er ist ein Abenteurer und Kolonisator, der die europäische Hochkultur in den Dschungel bringt, ein Eroberer und Despot, der jedes Hindernis mit schierer Willenskraft bezwingt. Zwar scheitert sein Plan, das Opernhaus wird nie errichtet. Gewaltiges vollbringt er trotzdem, als er einen Amazonasdampfer über einen Bergrücken ziehen lässt. Dank einer geschickten Konstruktion aus Seilwinden, von einheimischen Arbeitskräften in Gang gesetzt, kriecht der Dampfer den Hang hinauf, durch eine Schneise aus gefällten Bäumen und aufgerissener Erde. Dazu ertönt Musik, Enrico Caruso singt, die Opernszene ist perfekt. Auch wenn Herzog selbst immer wieder betont hat, der Film sei zwar eine Metapher, er wisse nur nicht, wofür, so lässt sich eines doch mit Sicherheit sagen: Es wird hier ein Heroismus der Überwindung zelebriert, der Film ist eine Feier des Schwie-

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rigen, der unmöglichen Tat2 . Damit steht Fitzcarraldo in einer langen Tradition von Helden-Gestalten, die alle eines gemeinsam haben: das Streben nach einem höheren Ziel, den unbedingten Willen, dieses Ziel zu erreichen, die Bereitschaft, diesem einen Projekt alles zu unterwerfen. Goethes Faust ist eine solche Figur, von Erkenntnisdrang beseelt, wird er im zweiten Teil der Tragödie zum „Tatmenschen“, zum Kolonisator, Kriegsherren und Großunternehmer. Als er bereits ein alter, blinder Mann ist, will er ein letztes Projekt in Gang setzen. Ein Deich soll gebaut, neues Land gewonnen, eine neue Gesellschaft begründet werden. Und tatsächlich beginnen die Grabungen – doch sind es nicht die Arbeiter, die Fausts Befehlen folgen, sondern Lemuren, und sie errichten keinen Deich, sondern schaufeln sein Grab. Faust ahnt nichts davon. Beseelt vom „Geklirr der Spaten“, entwirft der blinde Seher eine letzte Vision, das Bild eines irdischen Utopia: „Eröffn’ ich Räume vielen Millionen, / Nicht sicher zwar, doch tätig frei zu wohnen. [. . . ] Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.“ (Goethe 2001: 203) Angesichts dieses betörenden Innen-Bildes lässt er sich schließlich zu der Formel hinreißen: „Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!“ (ebd.) Obwohl er den verhängnisvollen Satz nur im Konjunktiv formuliert, muss er sterben. Mephisto, dem seine Seele eigentlich versprochen war, wird jedoch um seine Beute von Gottes Boten betrogen, denn: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ (ebd. 214) Gegen diese Tendenz zur Verklärung des Handelns, gegen die Träume von Welterschließung, Weltbeherrschung, hat es schon immer Widerspruch gegeben. Die Helden der Eroberungen haben Gegenfiguren auf den Plan gerufen, die derartige Großvorhaben hinterfragen, karikieren, unterlaufen. Einerseits gibt es eine Serie von Werken, die das Streben lächerlich machen. So hat beispielsweise Gustave Flaubert mit „Bouvard und Pécuchet“ eine Art Gegen-Faust in Gestalt zweier Kopisten geschaffen. Diese beiden älteren Herren, die in einer heißen Mittagsstunde zueinander finden (feststellen, dass sie sich nahezu nahtlos ergänzen), lassen das Stadt- und Büroleben hinter sich, ziehen aufs Land und widmen sich dort mit großer Leidenschaft ihren intellektuellen und praktischen Experimenten. Sie versuchen sich im Gärtnern, in der Philosophie, der Theologie und der Schriftstellerei, der Schauspielerei, der Chemie, in der Physik, dem Ackerbau, der Politik, der Biologie und Erziehung, sie versuchen

2 | Werner Herzog, ein Virtuose der Selbstinszenierung und der Mystifikation seiner eigenen Arbeit, wird nicht müde zu betonen, dass man Fitzcarraldos Dampfschiff tatsächlich über den Berg gezogen habe. Die Szene wird also – in ihrer heroischen Praxis – als „authentisch“ ausgewiesen, das Kräftemessen zwischen Mensch und Natur, das den Film leitmotivisch durchzieht, hat real stattgefunden.

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sich in allen Disziplinen – und scheitern, in jeder einzelnen von ihnen. Denn sie glauben, was in den Büchern steht, den Lexika und Ratgebern, den wissenschaftlichen und philosophischen Werken, mit denen sie sich eindecken. Insofern sind sie direkte Nachfahren von Don Quijote, denn auch sie müssen immer wieder aufs Neue feststellen, dass sich die Welt nicht so verhält, wie sie es von ihr erwarten (wie sie es gelesen haben). So wird „Bouvard und Pécuchet“ zu einer possenhaften Persiflage auf die Wissenschaftsgläubigkeit und den lexikalischen Eifer einer Epoche, auf den Glauben an die restlose Lesbarkeit der Welt. Ebenso närrisch wie die beiden wissbegierigen, nicht übermäßig intelligenten Protagonisten erscheinen auch die Theorien, denen sie sich verschreiben; so werden sie zu „Katalysatoren fremder Narrheit“ (Trilling 1979: 407): Die Menschen scheitern an den Theorien, die Theorien an der Welt. Am Ende, nach einer Serie von grotesken Niederlagen, kehren sie wieder zu ihrer alten Arbeit als Kopisten zurück. Das Bedürfnis nach Erkenntnis ist erloschen, die Reproduktion erscheint, angesichts der widerspenstigen Welt, als einzig sinnvolle Tätigkeit: „Abschreiben wie einst“ (Flaubert 1979: 370), so steht es in den Schlussbemerkungen des Romans, der unvollendet blieb; das ist die erlösende Erkenntnis.

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Ein ganz anderer Typus von Antiheld ist der wartende Belacqua. Er gehört in die Galerie der Helden der Unterlassung, in die Reihe der Trägen, Erschöpften und Passiven, denen sich die Literatur, die Kunst immer wieder neu gewidmet hat3 . Das Streben wird nicht parodiert, indem es sich verirrt und letztlich scheitert – es wird, aus einer Ruheposition heraus, verhöhnt und unterlaufen. Belacqua sitzt im Schatten, „als ob die Trägheit seine Schwester wäre“ (Alighieri 2009: 152). Im christlichen Sündenkatalog ist die Trägheit (acaedia) eine Todsünde: „Im Innersten dieser Trägheit regt sich ein trotziger Gram angesichts der guten Absichten Gottes; der Träge queruliert gegen den sinnreichen Ausgang der Geschichte und hat seine besondere Mitwirkung am Heilsgeschehen abgesagt. Ihm fehlt sozusagen der heilsgeschichtliche Schwung.“

3 | Auch in diese Reihe gehört der Konzeptkünstler Marcel Duchamp, der ein Asyl für die Faulen gründen wollte, das nur ein einziges Ausschlusskriterium kannte: Arbeit. Er hat es in seiner späteren Phase geschafft, die eigene Werklosigkeit zum Werk, sein Nicht-Schaffen, Nicht-Schöpfen zum Kunstwerk zu machen – um dann doch, heimlich, bis zu seinem Tod an einer großen Installation zu arbeiten. Auf die irritierte Frage eines Interviewers, was er denn den ganzen Tag tue, wenn er nicht arbeite, hat er erwidert: „Je suis un respirateur.“ Ich bin ein Atmer.

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(Vogl 2016: 36) Die Helden der Trägheit glauben an keinen Auftrag, bezweifeln den Sinn allen Handelns, sie entziehen sich dem Getriebe der Welt, ihrer Geschäftigkeit, und widmen sich ganz ihrer Passivität. So auch Oblomow in Iwan A. Gontscharows gleichnamigem Roman. Dieser verarmte Adelige lehnt das Tätigsein ab, diese „nordische Unart“ (Friedrich Schlegel), und verfällt ganz in Lethargie. Durch diese vollständige Hingabe an die eigene Trägheit, durch das Einverständnis mit seiner unendlichen Müdigkeit, schafft er etwas, das keine Philosophie ist, kein System, sondern, wie Roland Barthes über Pyrrhon schreibt: „Er schafft das Neutrum.“ (Barthes 2005: 55) Und erst aus diesem Neutrum kann, so Barthes, etwas Neues entstehen. Die befreiende Kraft der Aufhebung steht im Zentrum von Hermann Melvilles Novelle „Bartleby“. Bartleby, ein Kanzleischreiber, blass und groß, mit einer weichen, „flötenden Stimme“, wird von einem Anwalt als Kanzleischreiber eingestellt. Nach und nach beginnt er jedoch, die ihm aufgetragenen Tätigkeiten zu verweigern. Er bedient sich dabei des immer gleichen Satzes: „I would prefer not to“ (Ich möchte lieber nicht). Es ist eine ebenso höfliche wie kompromisslose Formel, erschütternd in ihrer freundlichen Ablehnung. Als sein Arbeitgeber ihm kündigen will, weigert er sich, er möchte keine andere Arbeit, möchte auch die Kanzlei nicht verlassen, die er inzwischen zu seiner Wohnung gemacht hat. Ein stiller Geist der Verneinung, der seine wohlmeinenden Mitmenschen in den Wahnsinn treibt. Schließlich wird Bartleby festgenommen, ins Gefängnis gesperrt, wo er mit gleichbleibender Höflichkeit die Nahrungsaufnahme verweigert und schließlich stirbt. Durch seine Weigerung werden die eingeschriebenen Gesetze, die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, das unsichtbare Regelwerk, das uns bestimmt, außer Kraft gesetzt. Es ist eine Geste, die einerseits kritisiert, was uns beherrscht, andererseits ist sie die Anrufung der Möglichkeit, sich immer wieder anders, immer wieder neu entscheiden zu können. Insofern hat sie utopischen Charakter, denn sie öffnet einen Spielraum, stiftet Souveränität. In ihr scheint Freiheit auf, wo bisher Zwang und Gewohnheit herrschten. In diesem Sinne lässt sich auch Friedrich Schlegels Utopie des glücklichen Vegetierens verstehen: als eine Gegenfantasie, eine aufhebende Geste. In Zeiten zunehmender Geschäftigkeit und ständiger Unruhe gelte es, so seine These, sich auf die Götter zu besinnen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie eben nicht tätig, sondern müßig sind, und so müsse man eben nicht nach Aktivität, sondern nach Passivität streben: „In der Tat man sollte das Studium des Müßiggangs nicht so sträflich vernachlässigen, sondern es zur Kunst und Wissenschaft, ja zur Religion bilden! Um alles in Eins zu fassen: je göttlicher ein Mensch oder ein Werk des Menschen ist, je ähnlicher werden sie der Pflanze; diese ist unter allen Formen der Natur die sittlichste, und

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die schönste. Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren.“ (Schlegel 1985: 47) Auch das ist eine aufhebende Geste, eine Gegenfantasie zu einer Welt, die in der steten Steigerung – von Unterhaltung, Intensität, Wohlstand – ihre Maxime erblickt. Auf der einen Seite: Verherrlichung von Schnelligkeit und Durchsetzungsvermögen; das Leben als Kampf, Reichtum als Beute; das Raubtier als Vorbild – auf der anderen Seite: Ruhe und Gelassenheit; das Leben als Schauspiel, Betrachtung als Reichtum; die Pflanze als Vorbild. Natürlich sind beide Seiten polemische Übertreibungen, und Schlegels Vision ist nicht als konkreter Vorschlag zu verstehen, sondern als ein Korrektiv, eine ironische Provokation: Wo die Tendenz zu Aktivität und Produktivität zu groß wird, bedarf es eines Ausgleichs, einer Komplementärvision, des freiwilligen Stillstands.

AUF KOLLISIONSKURS Eindeutige Konzepte haben die Tendenz, mit dem Lebendigen in Widerspruch zu geraten, die Sehnsucht nach einer widerspruchsfreien Anschauung wird von der widersprüchlichen Wirklichkeit immer wieder in ihre Schranken gewiesen. Genau darin, so Arthur Schopenhauer, bestehe auch das Prinzip des Komischen: Das Gedachte kollidiert mit dem Angeschauten und wird so ins Lächerliche überführt. (vgl. Schopenhauer 1996) Der „Don Quijote“ ist ein Musterbeispiel dieser Rezeptur. Hier liest ein verarmter Adeliger eine Unmenge Rittergeschichten, hält die fantastischen Begebenheiten für völlig real und macht sich mit seinem „Knappen“ Sancho Pansa auf den Weg, um selbst als fahrender Ritter Abenteuer zu bestehen. Die Realität, durch die er sich bewegt, ist ganz profan, von Rittern, Burgen, Drachen keine Spur. In Don Quijotes Wahrnehmung jedoch verwandelt sich die fade Wirklichkeit in eine mittelalterliche, magische Welt. Wo Gasthäuser sind, da sieht er Burgen, Schweineherden erscheinen ihm als feindliche Heere, in Windmühlen erblickt er Riesen. Sein Wahn geht so weit, dass er, wenn nicht länger geleugnet werden kann, dass die Schweine tatsächlich nur Schweine sind, böse Zauberer hinzuerfindet, die das Heer verwandelt haben. So lässt sich jede Kollision seiner Vorstellungen mit dem Tatsächlichen nachträglich erklären: Feinde haben die eigentlich magische Wirklichkeit in schnöde Realität verwandelt, die Entzauberung der Welt ist eine Illusion, von Zauberern geschaffen, die Desillusionierung wird zum konstitutiven Teil der Illusion. „Don Quijote muss die inhaltslosen Zeichen der Erzählung mit Realität erfüllen. Sein Abenteuer wird eine Entzifferung der Welt sein, ein minutiöser Weg, um an der ganzen Oberfläche der Erde Gestalten aufzulesen, die zeigen, daß die Bücher die Wahrheit sagen.

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Seine Taten müssen der Beweis sein.“ (Foucault 1974: 79) Don Quijote scheitert und wird schließlich von seinen Wahnvorstellungen „geheilt“. Er schwört den Ritterbüchern ab und stirbt, seines Auftrags beraubt, in tiefer Resignation. Seine Einsicht jedoch – und darin liegt die entscheidende Ambivalenz – ist um Vieles schrecklicher als sein Wahn, die närrischen Träume des „Ritters von der traurigen Gestalt“ weichen einer banalen, entzauberten Welt. So lächerlich seine wahnhafte Verblendung auch gewesen sein mag, in ihr lag Hoffnung und Poesie; mit seiner Heilung stirbt die Hoffnung, die ihn bewegt hat. Aufbegehren und Einsicht fallen hier zusammen, die Ablehnung des Gegebenen und die Albernheit, es zu bekämpfen; es erzeugt, so könnte man vielleicht sagen, so etwas wie einen hoffnungsvollen Fatalismus. Die Kraft der Relativierung, die nicht nur dem Don Quijote, sondern dem Komischen überhaupt zu eigen sein kann, hat Philosophen immer wieder dazu verleitet, ihm einen utopischen Charakter zuzusprechen, vollzieht es doch einen Bruch, erzeugt eine Ungereimtheit und versetzt das betrachtende Subjekt in eine Position außerhalb des Geschehens, aus der es, amüsiert und aus der Distanz, auf die Verstrickungen und das Spiel der Kräfte schaut. Es schafft einen Moment der Ermächtigung, in dem alles, was groß, wichtig, unantastbar erscheint, der Lächerlichkeit preisgegeben wird und an Gewicht verliert: „Im Komischen ist das Erhabene das Wahre, und wieder nicht, denn es wird vom Nichtigen unterbrochen, das Niedrige ist das Wahre, und wieder nicht, denn es ist am und im Erhabenen; so ist denn das eine und das andere wahr, das Wichtige unwichtig und das Unwichtige wichtig, der Gott des Unsinns nimmt die Welt in Besitz, alle Bestimmungen taumeln durcheinander, alles ist gleichgültig, und daß alles gleichgültig ist, ist auch wieder nicht wahr, und dies ist auch wieder nichts, und über der allgemeinen Auflösung von allem Fixen und Festen steht nur das fröhliche Subjekt, das lachend die Hände in die Seite stemmt und auf die zur tollen Unruhe und zum Tanze des Widerspruchs verkehrte Welt heruntersieht.“ (Vischer 1857) Das Komische stiftet Chaos, das Chaos befreit, denn das Subjekt, in sicherer Ferne, kann der Instabilität und der schwachen Gültigkeit alles Gegebenen gewahr werden.

AUTONOMIE Verunsicherung provoziert die Sehnsucht nach einer eindeutigen Perspektive, und gerade in Krisenzeiten herrscht die Tendenz, auf die gesteigerte Ungewissheit mit der Forderung nach mehr Sicherheit, Klarheit und Nützlichkeit zu antworten. Auch die Kunst ist davon betroffen. Immer wieder wird von ihr verlangt, sie möge sich mit pragmatischen Vorschlägen, übersichtlichen Analysen und klaren Aussagen an der

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Beseitigung gesellschaftlicher Probleme beteiligen. Übersehen wird völlig, dass ihr Potential gerade darin besteht, sich von der Ordnung, die sie umgibt, loszusagen, diese Ordnung aufzuheben und zu unterwandern: „Aufgabe der Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“ (Adorno 2014: 253) In der spielerischen Aufhebung, Umwertung, Zerstörung des Bestehenden, in der Abweichung und Subversion besteht ihr Potential. Darin, dass sie Unruhe stiftet und zugleich Gegenwelten entwirft, ohne dass ihnen Zweck und Ziel schon eingeschrieben wären. Ähnlich wie die Kunst wird auch die Sphäre der Bildung immer mehr in den Dienst eines lösungsorientierten Pragmatismus gestellt. Die Bologna-Reform ist diesem Geist geschuldet, und Slavoj Žižek weist zurecht darauf hin, dass damit eine wesentliche Errungenschaft des europäischen Geisteslebens zerstört wird: das freie Denken, der forscht und tastet, ohne ein Ergebnis vor Augen zu haben. Reflexion, die ein bestimmtes Ergebnis zu liefern hat, Sicherheiten schafft, ist Reproduktion und kann nichts Neues hervorbringen. Auch Ivan Illichs radikale Forderungen nach einer „Entschulung der Gesellschaft“ und seine Kritik der „Entmündigung durch Experten“ zielen in eine solche Richtung. Es geht um die Auflösung vertrauter Denkmuster, um eine Geste der Unterbrechung, der Entwertung, und damit letztlich um die Rückgewinnung von Autonomie. Die Tendenz der Intellektuellen und Künstler, der Philosophen und Asketen, sich dem Welt-Getriebe zu entziehen, die Exklusion zu suchen, ist diesem Bedürfnis nach Autonomie geschuldet. Es ist Voraussetzung für ihre Tätigkeit. „Aber ich will nicht in diese Welt gehören. Ich will mich in ihr als Fremder, als Wanderer, als Außenseiter, als Besucher, als Gefangener fühlen. Ja, ich spreche von einem Vor-Urteil, also von einer Haltung, nein, nicht einer Haltung, meiner Haltung. Einem Grund, auf dem ich stehe, auf dem ich bestehe.“ Immer in Bewegung bleiben; nicht das Feste suchen, die Heimat, den Abschluss; die eigene Fremdheit kultivieren, das Flüchtige und Temporäre; ein Gast sein und ein Reisender, ein Nomade und Besucher auf Zeit; sich der Zwänge, der Beschränkungen, der Mauern bewusst sein, die einen überall umgeben – so wenigstens lese ich diesen Satz, dieses Credo von Illich. Ganz ähnlich äußerst sich ein anderer Kritiker der Institutionen über die Funktion des Intellektuellen, Michel Foucault: „Ich träume von dem Intellektuellen als dem Zerstörer der Evidenzen und Universalien, der in den Trägheitsmomenten und Zwängen der Gegenwart die Schwachstellen, Öffnungen und Kraftlinien kenntlich macht, der fortwährend seinen Ort wechselt, nicht sicher weiß, wo er

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morgen sein noch was er denken wird, wie seine Aufmerksamkeit allein der Gegenwart gilt [...].“4

Das sind Utopien einer Denk- und Lebensweise, die hier bezeichnet werden. Dazu, wie eine bessere Gesellschaft aussehen könnte, welchen Bildern sie sich verschreibt, hat Michel Foucault sich kaum geäußert. Einzig zu Beginn seiner Laufbahn hat er sich mit einem Typus von Orten befasst, die er Heterotopien nennt (Foucault 1992) und die eine konkrete Sehnsucht bezeichnen. Heterotopien sind „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“ (ebd.: 39) Diese Heterotopien unterteilt er in zwei Kategorien, die sich gegenseitig ergänzen: die Krisen- und die Abweichungsheterotopien. In beiden Fällen gehe es darum, dass diese Gegen-Orte gewissermaßen auf ein Fehlverhalten, eine Abweichung von der Norm antworten. Während die Abweichungsheterotopien Orte sind, an denen das Anormale versammelt wird, um es zu disziplinieren und letztlich wieder in die herrschende Ordnung einzugliedern (Psychiatrien, Gefängnisse, Jugendheime), sind Krisenheterotopien Orte, in denen das Verbotene autonom entfaltet werden kann (Theater, Bordelle, Museen, Bibliotheken). In ihnen kann einer Abweichung nachgegeben werden, für die im funktionalen Raumgefüge kein Platz ist. Deshalb ist das Schiff, so beschließt Foucault seinen Gedankengang, dieses „schaukelnde Stück Raum“ (ebd.: 46), die Heterotopie schlechthin, ein Imaginationsarsenal sondergleichen – es ist schwimmende Gesellschaft, Träger kostbarer Güter, Vehikel der Abenteurer und Freibeuter, ein Synonym für Freiheit, Grenzenlosigkeit, Gefährdung. „In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter.“ (ebd.) Das Konzept des Schiffs, so die Schlussfolgerung, darf nicht verloren gehen, dieser Imaginationsraum, in den das andere, freiere Leben hineinprojiziert werden kann, darf nicht verschwinden. Es handelt sich dabei nicht lediglich um Schwärmerei – oder, anders: diese Schwärmerei ist von existenzieller Wichtigkeit. Sich wegträumen, Gedankenflucht begehen, ein anderes Leben imaginieren ist ebenso notwendig wie die zuerst beschriebene Bewegung: Exklusion, Draufsicht und Kritik. In beiden ist ein Unbehagen an den Zuständen der Antrieb, beide gewähren sie einen Ausblick auf ein anderes Leben, öffnen den Horizont.

4 | Michel Foucault in einem Gespräch mit Bernard-Henri Lévy. Zit. nach Chlada 2006.

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W HATEVER

HAPPENS NEXT

Der Komponist John Cage hat diese Erfahrung einer Korrektur absoluter Konzepte erfahren und immer wieder für sich produktiv gemacht. Als Schönberg-Schüler, Pilze-Sammler, Kenner fernöstlicher Philosophien und Vertreter eines erweiterten, performativen Musikbegriffs hat ihn die Idee der Stille fasziniert. Beim Besuch einer schalltoten Kammer musste er jedoch feststellen: Stille, als absolute Geräuschlosigkeit, existiert nicht. Denn was dort immer noch zu hören ist, ist der eigene Herzschlag. Mit dem berühmten „Stück 4’33“ inszeniert Cage diese Erfahrung: Ein Pianist betritt die Bühne, setzt sich an einen Flügel, schlägt die Noten auf – und spielt nicht. Er blättert – und spielt noch immer nicht. Vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden lang. Was sich in dieser Zeit entfaltet, ist eben nicht die Stille, sondern ein polyphones Zufallsgewebe aus Alltagsgeräuschen – das Atmen und Husten der Zuhörer, das Rascheln der Kleidung, das Knarren der Stühle. Das Stück besteht in der Abwesenheit von Musik (von Kunst, von Sinn), in der Freigabe des akustischen Raumes für eine andere Form der Erfahrung; das Alltägliche, das Lebendige, der Zufall und das Ärgernis (keine Darbietung!) rücken in den Fokus. „Es gibt nicht so etwas wie Stille. Etwas geschieht immer, das einen Klang erzeugt. Niemand kann einen Einfall haben, wenn er erst einmal wirklich zu hören beginnt.“ (Cage 1995: 155) Cage hat sich immer wieder dem Zufall gewidmet, hat ihm das Ruder überlassen, seine eigene Abwesenheit als gestaltende Kraft inszeniert und sich damit radikal vom Konzept des Künstlers als Schöpfer und Sender abgewandt, hin zu einem Kunstverständnis, das Freiräume organisiert. Er brachte dieses Verfahren 1981 in einer Formel auf Punkt: „I welcome whatever happens next.“ Diese Öffnung der Kunst für den Zufall, die Inszenierung der Absichtslosigkeit, ist eine kalkulierte Provokation. Keine Kontrolle, kein Ziel, kein geschlossenes Werk, sondern die Auslieferung an die Gegebenheiten ist das Programm. Ganz anders und doch ähnlich verfährt Eichendorff in seiner romantisch-antibürgerlichen Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“. Denn sein Held hat weder Ziel noch Plan, er überlässt sich ganz dem Augenblick, der nächstbesten Begegnung und Begebenheit – wer kein Ziel hat, kann auch nicht in die Irre gehen. Ich will nur das, was mir passiert, so ließe sich die paradoxe Maxime seines Handelns fassen. Damit ist er natürlich ein Gegenläufer zum bürgerlichen Tugendkatalog, der in der Arbeit, Sicherheit, dem produktiven und geordneten Leben das Daseinsziel erblickt. All diesen Vorstellungen, der allgegenwärtigen Zweckrationalität, entzieht sich dieser heitere Held der Ziellosigkeit. Was hier abgestreift wird ist alles Feste, Verantwortung und Verbindlichkeit, Konvention, Plan und Ordnung. Natürlich ist der Taugenichts eine Thesenfigur, ein auf die Welt losgelassenes Gegenprinzip – die Feier der fehlenden Zugehörigkeit, ei-

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nes spontanen, beweglichen Daseins, das keine Ankunft kennt. Der Taugenichts ist ein Heimatloser, einer, dem es gelingt, ohne Halt zu leben, ohne Zukunft und Ziel, frei von Erwartungen, ganz im Augenblick. Darin liegt die subversive Kraft dieser Figur. Sie zelebriert, im Experimentalraum der Novelle, eine radikale Flüchtigkeit; sie strebt nicht, ist sozusagen willenlos, nimmt die Welt hin – und ist dadurch frei. Ein Meister des Tao weist auf diese Dimension des urteils- und willensfreien Daseins hin: „Der Geist des vollkommenen Menschen ist wie ein Spiegel. Er hält nichts fest, aber er weist nichts ab. Er nimmt auf, aber er hält nicht.“ (zit. nach Barthes 1981: 109)

F LÜCHTIGKEIT Als Kind bin ich oft ins Naturkundemuseum gegangen. Es gab dort eine Vitrine mit ausgestopften Singvögeln. Daneben befand sich eine Reihe von roten Knöpfen, für jeden Vogel ein Knopf. Wenn man darauf gedrückt hat, dann war der Gesang, der Ruf des jeweiligen Vogels zu hören. Immer wieder war ich dort, vor der Vitrine, in der staubigen, stillen Dämmerung des Museums. Eines Tages war das Museum plötzlich belebt. Eine Delegation buddhistischer Mönche aus Tibet hatte Quartier bezogen. Freundlich und ruhig, in langen Gewändern, widmeten sie sich mit größter Konzentration einem Vorhaben, das auf das Kind, das ich war, die größte Faszination ausgeübt hat: Sie schufen ein Sand-Mandala. Auf dem Boden kniend, tief gebeugt, saßen vielleicht zehn Mönche. Mit Pinzetten und kleinen Trichtern ließen sie ein großes, rundes Gebilde aus buntem Staub entstehen. Jeden Tag konnte man es wachsen sehen, Korn für Korn, entlang der vorgezeichneten Linien – ein farbenprächtiges Muster. Die Stille dieses Vorgangs, die Genauigkeit und Konzentration, waren berückend. Endlich war es fertig, ein prächtiges, streng geometrisches Muster, von Blumen und Figuren durchsetzt. Ich kann mich noch daran erinnern, wie entsetzt ich war, als ich mitansehen musste, wie dieses mühsam geschaffene Werk am Ende von seinen Urhebern zusammengekehrt wurde zu einem Haufen aus leuchtendem Puder. Der Haufen wurde in ein Gefäß gegeben und schließlich, von einem Ritual begleitet, in den örtlichen Fluss, die Dreisam, geschüttet. Die große Mühe, die strahlende Perfektion, einfach zerstört und verschüttet! Es war ein verstörender und zutiefst geheimnisvoller Vorgang. Das sei so gedacht, wurde mir erklärt, aber warum es so gedacht ist, habe ich erst später begriffen. Ein Mandala wird nicht geschaffen, um als Werk zu überdauern, sondern um sich im Moment der Vollendung wieder aufzulösen. Sein Ziel ist nicht das Bestehende, sondern die Verflüchtigung; es ist eine minutiöse Inszenierung des Vergänglichen, und damit eine ganz andere Form des utopischen Bildes als das

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eingangs erwähnte, sein Gegenbild gewissermaßen: Es imaginiert keinen idealen Zustand, keine Zeit der Erlösung; es verweist vielmehr auf die Flüchtigkeit aller Bilder, aller Endgültigkeiten. Und es ist deshalb den kleinen Figuren aus Asche, die nach der Verbrennung der Toten gebildet werden, um sie dann in den Fluss zu kehren, verwandt. Die Mönche, auch das ist wichtig, sind keine Künstler, die Formen sind vorgegeben, die Muster werden wiederholt – unwillkürlich kommt einem die Praxis der beiden Kopisten in den Sinn: „Abschreiben wie einst“ –, nur um diese künstliche Ordnung wieder aufzulösen und so die Flüchtigkeit alles Daseins zu realisieren (vor Augen zu führen). Diese Bewusstseinspraxis der Schöpfung und Zerstörung verweist auf ein Denken, dass nicht den Abschluss sucht, die Fixierung, das feste und statische Bild. Jede Überzeugung, so ließe sich vielleicht sagen, ist zugleich ein Gefängnis, eine Festlegung des Selbst, der Welt, des Lebendigen. Was ich von der Welt denke, das bestimmt nicht nur die anderen, sondern mich selbst, weist ihnen und mir einen Platz zu, lässt sie und mich eine Rolle bekleiden in der von mir entworfenen Fiktion; erst, wenn ich mir der Flüchtigkeit dieser Konstruktion bewusst bin, sie als temporären Entwurf und nicht als finale Wahrheit denke, bin ich frei von der Gefahr, mich einem Weltbild zu unterwerfen, seiner Finalität und Starre. In einem Vortrag über die „Kunst des Streitens in der Mediengesellschaft“ (2014) hat Roger Willemsen darauf hingewiesen, was man einem Diskurs, der auf Verfestigung, Ausgrenzung und Polarisierung setzt, entgegensetzen müsste: Vorsicht im Urteil, Bedachtsamkeit im Umgang mit Überzeugungen, Differenzierung durch Anschauung, durch die Versenkung in den Einzelfall. Statt der Produktion von Gewissheiten, von Welt-Formeln, geht es um die Beobachtung des Phänomens, darum, das vermeintlich einheitliche Bild in vielen Bildern aufzulösen, und so zu zeigen, dass unsere Weltumgebung zutiefst uneinheitlich ist, widersprüchlich und polymorph, ganz im Sinne von Adorno, der bemerkt: „Das Ganze ist das Unwahre.“ (Adorno 2014: 55) Das ist, als Geisteshaltung, anstrengend, ist mühsame Arbeit. Dem erregenden Drive der Ablehnung, dem Kitzel der Plakativität, der spaßigen Dynamik der Eindeutigkeit und der Selbst-Beruhigung durch die Konstruktion finaler Ordnungen zu widerstehen, das wäre das Ziel einer solchen Haltung. Es geht ihr um die Bejahung des Flüchtigen und Temporären, des Unfertigen, der Skizze, darum, die Widersprüche auszuhalten, die das Leben fortwährend produziert – es geht um Ambiguitätstoleranz. Dieses Konzept wurde im Jahr 1949 von der Psychologie entwickelt, ist aber tatsächlich viel älter. Man kann, mit Thomas Bauer, von „Kulturen der Ambiguität“ (vgl. Bauer 2018) sprechen. Gemeint sind Formen des sozialen Miteinanders, die nicht auf die Vereinfachung, Vereinheitlichung und Gleichgültigkeit zielen, wie es in unserer heutigen Gesellschaft der Fall ist, sondern gerade die Vagheit, Gleichzeitigkeit und Vielfalt der Lebenserscheinungen zulassen und bejahen. Für die Lebensfähigkeit ei-

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nes Menschen ebenso wie für die eines sozialen Organismus ist es entscheidend, dass die Ambiguität zwar auf ein lesbares (und damit lebbares) Maß reduziert, aber nicht eliminiert wird. Sonst drohen Ausgrenzung, Herabsetzung, Vernichtung des scheinbar Anderen (ebd.). Es ist eine Kulturtechnik, die notwendig ist, um der allseitigen Radikalisierung entgegenzutreten. Es ist ein Denken, das elastisch ist, dynamisch und offen, radikal nicht in seiner Eindeutigkeit, sondern in der Fähigkeit, die Vielfalt des Daseins zu bejahen und seiner Bereitschaft, allen Gewissheiten fragend entgegenzutreten. Dieses Denken zeigt sich in den Gesten der Aufhebung, in den Bildern des Verschwindens. Es ist, so glaube ich, utopische Praxis.

L ITERATUR Adorno, Theodor W. (2014): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main. Adorno, Theodor W. / Bloch, Ernst (1964): Möglichkeiten der Utopie heute. SWF, https://archive.org/details/AdornoErnstBloch-MglichkeitenDerUtopieHeuteswf1964 [letzter Zugriff: am 26.6.2019]. Alighieri, Dante (2009): Die Göttliche Komödie, Leipzig. Barthes, Roland (1981): Das Reich der Zeichen, Frankfurt am Main. Barthes, Roland (2005): Das Neutrum. Vorlesungen am Collège de France 1977 – 1978, Frankfurt am Main. Bauer, Thomas (2018): Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen. Benjamin, Walter (2007): Kapitalismus als Religion, in: ders., Kairos. Schriften zur Philosophie. Ausgewählt von Ralf Konersmann, Frankfurt am Main. Cage, John (1995): Silence, Frankfurt am Main. Chlada, Marvin (2006): Räume sind Träume. In: Jungle World 2/2006, https://jungle. world/artikel/2006/02/16709.html [letzter Zugriff am 2.7.2019]. Dostojewskij, Fjodor (2003): Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Frankfurt am Main. Flaubert, Gustave (1979): Bouvard und Pécuchet, Zürich. Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main. Foucault, Michel (1992): Andere Räume, in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig. Freud, Sigmund (1930): Das Unbehagen in der Kultur, Wien. Goethe, Johann Wolfgang (2001): Faust. Der Tragödie Zweiter Teil, Leipzig.

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Autorinnen und Autoren

Annemarie Bauersfeld (geb. 1959 in Frankfurt am Main) arbeitete von 1984 bis 1997 als Erzieherin, anschließend studierte sie Soziologie, Sozialpsychologie und Gender Studies an der Leibniz-Universität in Hannover. Bis 2016 arbeitete sie an ihrem Dissertationsprojekt zum Thema „Soziale Arbeit im Wandel“ und unterrichtete Gender Studies als Lehrbeauftrage der HAWK in Hildesheim im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Isabella Bruckner (geb. 1991 in Amstetten, Österreich) beschäftigt sich seit ihrem Diplomstudium der Katholischen Fachtheologie an der Universität Wien mit Ivan Illich und seinen Schriften. Derzeit lebt sie in Graz und arbeitet an der dortigen KarlFranzens-Universität im Bereich der Fundamentaltheologie an einer Dissertation über Michel de Certeau. Andreas Decker (geb. 1974) studierte Geschichte und Germanistik, ist heute tätig als Lehrer. Willibald Feinig (geb. 1951 in Feldkirchen, Österreich), Studium der Germanistik, Romanistik und Theologie in Wien und Salzburg. Lebt seit 1979 in Vorarlberg. Bis 2011 Gymnasiallehrer. Er ist verheiratet und hat drei Söhne. Christophe Kotanyi (geb. 1949) promovierte als Physiker und Astronom und lebt heute in Berlin. Andreas Krebs (geb. 1976 in Trier) studierte Theologie, Philosophie, Germanistik, Bildungswissenschaften und Mathematik an den Universitäten Bonn, Hagen, Oxford und Trier. 2006 promovierte er an der Universität Trier. 2015 erfolgte die Habilitation in den Fächern Systematische und Ökumenische Theologie. Seit 2015 ist er Professor

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für Alt-Katholische und Ökumenische Theologie und Direktor des Alt-Katholischen Seminars der Universität Bonn. Erika Kronabitter (geb. 1959 in Hartberg, Österreich) schreibt Lyrik und Prosa, zuletzt erschienen der Roman „La Laguna“ und das Kinderbuch „Franz und der Regenschirm“. Sie ist Herausgeberin der „Lyrik der Gegenwart“ und lebt und arbeitet in Vorarlberg und Wien. Norbert Loacker (geb. 1939) ist als österreichischer Schriftsteller wohnhaft in der Schweiz. Verfasser von Romanen, Hörspielen, Essays. Beiträge in Periodika und Anthologien. Zuletzt erschien 2016 von ihm „Was Massen mögen – Über Themenparks“. Dafür wurde er im Rahmen der Kulturellen Auszeichnungen der Stadt Zürich 2016 im Bereich Literatur geehrt. Wolfgang Mörth (geb in Bregenz, Österreich), Ausbildung zum Elektrotechniker. Seit 1991 literarisch tätig. Schreibt Theaterstücke, Drehbücher, Erzählungen und Essays. Ist Herausgeber der Literaturzeitschrift „miromente“. Lebt in Bregenz. Julian Pörksen (geb. 1985) arbeitet als Autor, Regisseur und Dramaturg. Er publizierte unter anderem den Essay „Verschwende Deine Zeit“ und das Stückebuch „Wir wollen Plankton sein“. Sein erster Langspielfilm, das Roadmovie Whatever Happens Next, feierte auf der Berlinale Premiere. Mit La bella confusione debütierte er als Theaterregisseur am Schauspiel Köln. Franz Schandl (geb. 1960 in Eberwies, Österreich) studierte Geschichte und Politikwissenschaften in Wien. Lebt dortselbst als Historiker und Publizist und verdient seine Brötchen als Journalist wider Willen. Diverse Veröffentlichungen, Redakteur der Zeitschriften „Krisis“ und „Streifzüge“. Lektorat am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Vater dreier Kinder. Claudia von Werlhof (geb. 1943), 1988-2011 Inhaberin des ersten Frauenforschungslehrstuhls in Österreich am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Arbeitete zur Friedens- und Konfliktforschung in Zentral- und Südamerika. Zahlreiche Publikationen zur internationalen Politik, Frauenbewegung und -forschung, Entwicklung/Unterentwicklung, alternativen und sozialen Bewegungen im Agrarsektor, Kapitalismus- und Patriarchatskritik, Technologie- und Ökologiefrage, Globalisierung und Neoliberalismus.

Kulturwissenschaft Johannes F.M. Schick, Mario Schmidt, Ulrich van Loyen, Martin Zillinger (Hg.)

Homo Faber Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2018 2018, 224 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3917-9 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3917-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur + Kritik (Jg. 7, 2/2018) 2018, 176 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4455-5 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4455-9

María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3

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Kulturwissenschaft Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2017, 158 S., kart., zahlr. Abb. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3972-8 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3972-2

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