Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹: Vormoderne intersektional [1 ed.] 9783737007245, 9783847107248

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Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹: Vormoderne intersektional [1 ed.]
 9783737007245, 9783847107248

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Aventiuren

Band 12

Herausgegeben von Martin Baisch, Johannes Keller, Elke Koch, Florian Kragl, Michael Mecklenburg, Matthias Meyer und Andrea Sieber

Susanne Schul / Mareike Böth / Michael Mecklenburg (Hg.)

Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹ Vormoderne intersektional

Mit einer Abbildung

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-7009 ISBN 978-3-7370-0724-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de  2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Bildgestaltung von Peter Bendel; Bildnachweis: Collage aus CC-BY-SA UniversitÐtsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 339, Wolfram von Eschenbach »Parzival«, Bd. I, fol. 131r (Hagenau, Werkstatt Diebold Lauber, um 1443–1446).

Für Claudia Brinker-von der Heyde

Inhalt

Susanne Schul / Mareike Böth Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹: Vormoderne intersektional . . . . . .

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Johanna Kahlmeyer jugent h.t vil werdekeit, / daz alter siuften unde leit (V. 5,13f.) – ›Alter‹ als interdependente Kategorie im »Parzival« Wolframs von Eschenbach .

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Michael Mecklenburg »mir ist lait, daz der man min / ane zagel mvz wesen« (V. 1058f.): Zur Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs »Reinhart Fuchs« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Amelie Bendheim / Dominik Schuh Gekreuzte Lebenswege, gebrochene Identitäten. Intersektionale Betrachtungen zu Konrad Flecks »Flore und Blanscheflur« . . . . . . . .

99

Peter Somogyi ey saelec w%p, fürht ir mich? – Die Figur der mittellosen Witwe in Reinbots von Durne »Der heilige Georg« aus einer Perspektive der Interdependenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Marie-Luise Musiol Begehren, Macht und Raum: »Die halbe Birne« Konrads von Würzburg . 147 Lorenz Becker Kreuzweise(n): Der Körper als Zentrum diskursiver Verschränkungen im Märe vom »Rosendorn« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

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Inhalt

Silke Winst ›Heiden‹, Riesen, Gotteskrieger*in: Intersektionale Differenzierungsprozesse in den spätmittelalterlichen Prosaepen »Herzog Herpin« und »Loher und Maller« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Nicola Neußel-Fischer e …dise greüsenliche und fremde geschoff…: Zur Kategorie race in Thürings von Ringoltingen »Melusine« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Susanne Schul (V)Erlesene Animalität: Intersektionale Emotionalisierungsprozesse im spätmittelalterlichen Heldenepos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Mareike Böth Wege zum Glück: Intersektionalität und die kulturelle Semantik des Glücks in Bernardin de Saint-Pierres Kolonialroman »Paul et Virginie« (1788) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Kommentar Mechthild Bereswill Komplexe Narrationen – geordnete gesellschaftliche Verhältnisse: Differenz und Ungleichheit aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Autor_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

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Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹: Vormoderne intersektional

nu hœrt dirre .ventiure site. diu l.t iuch wizzen beide von liebe und von leide: fröud und angest vert t. b%. nu l.t m%n eines wesen dr%, der iesl%cher sunder phlege daz m%ner künste widerwege: dar zuo gehirte wilder funt, op si iu gerne tæten kunt daz ich iu eine künden wil. si heten arbeite vil. ein mære wil i’u niuwen daz seit von grizen triuwen, w%pl%chez w%bes reht, und mannes manheit alsi sleht, diu sich gein herte nie gebouc. s%n herze in dar an niht betrouc, er stahel, swa er ze str%te quam, s%n hant d. sigel%chen nam vil manegen lobel%chen pr%s.1

Als Sinnbild außergewöhnlicher Herausforderungen ist der Begriff .ventiure in mehr als einer Hinsicht konstitutiv für den vorliegenden Band. Zum einen sind es auf der Handlungsebene mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur die Figuren, die sich in gefahrvollen Situationen immer wieder aufs Neue bewähren müssen; zum anderen bezeichnet .ventiure auf der Ebene der Textorganisation, Textproduktion und Textrezeption aber auch kulturhistorisch und gattungs1 Wolfram von Eschenbach »Parzival«, V. 3,28–4,17. Zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Nellmann, Eberhart. Übertragen von Kühn, Dieter. Bd. 1. Frankfurt a. M. 32013. Bildgestaltung von Peter Bendel; Bildnachweis: Collage aus CC-BY-SA Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 339, Wolfram von Eschenbach »Parzival«, Bd. I, fol. 131r (Hagenau, Werkstatt Diebold Lauber, um 1443–1446).

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spezifisch geprägte Struktur- und Gestaltungsmuster und nicht zuletzt ist der vorliegende Band im methodischen Sinne selbst eine theoriebezogene .ventiureFahrt, setzt er sich doch zum Ziel, die Leistungsfähigkeit der in den Sozialwissenschaften ausgiebig und kontrovers diskutierten intersectional theory als ein neues Paradigma der historischen Literaturwissenschaft auszuloten. Thematisch breit gefächerte Einzelstudien führen vor, welche Möglichkeiten diese Theorieperspektive bietet, welche konzeptionellen Anpassungen erforderlich sind und welche Weiterentwicklungen sich daraus ergeben. Der im Titel aufgerufene weit gefasste Zeitrahmen der ›Vormoderne‹ umfasst hier, Bezug nehmend auf die breite Basis der ausgewählten literarischen Textzeugnisse, den kulturhistorischen Kontext des hohen Mittelalters über das Spätmittelalter bis hin zur Frühen Neuzeit. Es gilt im Folgenden zu prüfen, wie theoretische Untersuchungsperspektiven, vormoderne Untersuchungskontexte, literarische Gattungskonventionen und Figurenkonstellationen zusammen gedacht und analytisch produktiv gemacht werden können. Dies geschieht, indem intersektionale Perspektiven mit unterschiedlichen literarischen Gattungen in Kontakt gebracht und anhand konkreter Textanalyse erprobt werden. Dabei steht die Frage im Zentrum, welche neuen Impulse aus einer kulturwissenschaftlichen Operationalisierung und einer Historisierung der Analysekategorien gewonnen werden können.2 Unter2 Vgl. zur historischen und narratologischen Operationalisierung u. a. Knüttel, Katharina u. Seelinger, Martin: Intersektionalität und Kulturindustrie: Eine Einleitung. In: Intersektionalität und Kulturindustrie. Zum Verhältnis sozialer Kategorien und kultureller Repräsentationen. Hg. v. Dens. Bielefeld 2011, S. 7–24; Griesebner, Andrea u. Hehenberger, Susanne: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften? In: Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven auf alte Fragen. Hg. v. Kallenberg, Vera u. a. Wiesbaden 2013, S. 105–124; Schul, Susanne: HeldenGeschlechtNarrationen. Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in Nibelungen-Adaptionen. Frankfurt a. M. 2014 (Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik, Amerikanistik, Germanistik und Romanistik 14), S. 50–60; Kraß, Andreas: Einführung: Historische Intersektionalitätsforschung als kulturwissenschaftliches Projekt. In: Durchkreuzte Helden. Das »Nibelungenlied« und Fritz Langs Film »Die Nibelungen« im Licht der Intersektionalitätsforschung. Hg. v. Bedekovic´, Natasˇa u. a. Bielefeld 2014, S. 7–47, hier S. 27–34; Schnicke, Falko: Terminologie, Erkenntnisinteresse, Methode und Kategorien – Grundfragen intersektionaler Forschung. In: Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen. Hg. v. Klein, Christian u. Dems. Trier 2014 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 91), S. 1–33; Schmid, Florian: (De-)Konstruktion von Identität in der ›Nibelungenklage‹. Überlegungen zu einem intersektional-narratologischen Zugriff auf mittelalterliche Texte. In: Klein u. Schnicke [Anm. 3], S. 61–86; Michaelis, Beatrice: Riesiges Begehren – Zur erzählten Interdependenz von ›race‹, ›class‹ und ›gender‹ im Prosa-Lancelot. In: Klein u. Schnicke [Anm. 3], S. 87–100; Werner, Lukas: Relationalität als Schnittmenge oder vom Nutzen der Intersektionalitätsforschung für die Erzähltheorie. Überlegungen zur Melusine des Thüring von Ringoltingen. In: Klein u. Schnicke [Anm. 3], S. 101–120; Böth, Mareike: Erzählweisen des Selbst: Körperpraktiken in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652–1722). Köln u. a. 2015 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 24). Vgl. aus mediävistischer Perspektive auch den Ta-

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schiedliche disziplinäre Felder (Soziologie, Kulturwissenschaften, Narratologie usw.) und Untersuchungsgegenstände (Geschlecht, Natur, Emotion, Raum usw.) werden dabei systematisch in intersektional argumentierenden Analysen zusammengeführt. Die dem literarischen Artefakt inhärenten Modelle von sozialer Positionierung und Vergesellschaftung sowie seine kulturhistorischen Entstehungsbedingungen lassen sich so gezielt sichtbar machen und mit Analysen seiner ästhetischen Qualität verbinden.3

I.

Prozesshaftigkeit, Identitätskonstruktion, Anerkennung, Differenzierung

Die in vormodernen literarischen Texten erzählten Bewährungsproben sind von einem Doppelcharakter geprägt: Denn auf die Positionierung der Figuren wirken sie sowohl stabilisierend als auch dynamisierend. Die stabilisierende Wirkung liegt vor allem darin begründet, dass es nur bestimmten Figuren überhaupt möglich ist, die .ventiure als spezifische Form der Bewährung zu durchlaufen. In der höfischen Dichtung sind es in der Grundkonstellation junge, adelige Männer, die die Chance erhalten, sich in ihrer Position als ›Ritter‹ zu behaupten. Für sie gilt es, ihre mannes manheit durch auffällige körperliche, geistige und moralische Disposition auszuweisen und ihre werdekeit immer wieder in risikoreichen Situationen unter Beweis stellen.4 Männlichkeit konstituiert sich hier primär über den Willen und die Fähigkeit zur ritterlichen Tat. Erworbener ruom und Þre bleiben allerdings nicht dauerhaft erhalten, sondern bedürfen einer kontinuierlichen Bestätigung, wenn nicht gar der Steigerung.5 Die Illustration der Heigungsband von Ingrid Bennewitz und Jutta Eming, der sich gerade in Vorbereitung befindet: Gender Studies – Queer Studies – Intersektionalität. Eine Zwischenbilanz aus mediävistischer Perspektive. Hg. v. Dens. Göttingen 2018 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung). 3 Vgl. zum Verhältnis von sozialen Positionierungen und Praktiken Böth, Mareike: Verflochtene Positionierungen: Eine intersektionale Analyse frühneuzeitlicher Subjektivierungsprozesse. In: Intersektionalität und Forschungspraxis: Wechselseitige Herausforderungen. Hg. v. Bereswill, Mechthild u. a. Münster 2015 (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 43) S. 78–95; Schul, Susanne: Abseits bekannter Pfade: Mittelalterliche Reisenarrative als intersektionale Erzählungen. In: Bereswill u. a. [Anm. 4], S. 96–114. 4 Vgl. Ehrismann, Otfrid: Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. München 1995, S. 22f.; Schnyder, Myreille: ffventiure? waz ist daz? Zum Begriff des Abenteuers in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Euphorion 96 (2002), S. 257–272. 5 Vgl. Gilmore, David G.: Manhood in the Making. Cultural Concepts of Masculinity. New Haven, London 1990; Gaunt, Simon: Gender and Genre in Medieval French Literature. Cambridge 1995; Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Hg. v. Erhart, Walter u. Herrmann, Britta. Stuttgart 1997; Mecklenburg, Michael: Parodie und Pathos. Heldensagenrezeption in der historischen Dietrichepik. Univ. Diss., Berlin 1998.

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delberger »Parzival«-Handschrift setzt mit dem Turnierkampf eine zu diesem Zweck etablierte und ritualisierte höfische Handlungspraxis in Szene.6 Er dient der Einübung und Profilierung eines kämpferischen Männlichkeitsideals. Abstammung, vererbte Anlagen, sozialer Status und die Tatkraft der Jugend zeichnen Parzival bereits aus, wie die Erzählinstanz in der zugehörigen RomanEpisode betont.7 Im Turnierkampf am Hof von Gurnemanz gilt es nun, sich seiner selbst in Differenz zu anderen zu versichern, indem Parzival nachträglich höfisches Benehmen erlernt, Mut, Tapferkeit sowie Kampffähigkeit demonstriert und auf diese Weise vil manegen lobel%chen pr%s erhält. Die Illustration führt vor Augen, wie der junge Held im Einzeltjost die Lanzen mit einem gegnerischen Ritter kreuzt, diesen vom Pferd sticht und über ihn hinwegreitet. Doch es bedarf einer Bildüberschrift, um Parzival als Sieger auszuweisen, da beide Ritter in voller Rüstung dargestellt sind: AlSo prazifal einen ritter under das roß stach vor den frouwen.8 Hierbei spielen Performanz und soziale Kontrolle eine zentrale Rolle, wenn die beiden Damen im Bildhintergrund eine höfische Öffentlichkeit repräsentieren, die die Leistung im Kampf einschätzt und mit auszeichnendem Gestus wertschätzt. Den Damen wird in Schrift und Bild die Fähigkeit und die Macht zugeordnet, über das Maß der Ehre zu urteilen, das aus männlichem Handeln resultiert. Die Helden sind und machen sich von ihnen und ihrer Urteilsmacht, der literarischen Tradition folgend, abhängig.9

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München 2002 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 27), S. 159–178, hier S. 14–32; Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Hg. v. Baisch, Martin u. a. Göttingen 2003; Miklautsch, Lydia: Müde Männer – Mythen. Muster heroischer Männlichkeit in der Heldendichtung. In: Das Nibelungenlied und die europäische Heldendichtung. 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hg. v. Ebenbauer, Alfred u. Keller, Johannes. Wien 2006 (Philologica Germanica 26), S. 241–260; Klinger, Judith: Ohn-Mächtiges Begehren. Zur emotionalen Dimension exzessiver manheit. In: Machtvolle Gefühle. Hg. v. Kasten, Ingrid. Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 24), S. 189–217, hier S. 189f.; Kerth, Sonja: Versehrte Körper, vernarbte Seelen. Konstruktionen kriegerischer Männlichkeit in der späten Heldendichtung. In: ZfG N. F. 12 (2002), S. 262–274; vgl. Schul [Anm. 3], hier S. 290–303. Vgl. Cod. Pal. germ. 339, fol. 131r [Anm. 1]; Ehrismann [Anm. 5], S. 24. di het ouch Parziv.l genomn / einen starken niwen schaft. / s%n jugent het ellen unde kraft. / der junge süeze .ne bart, / den twanc diu Gahmuretes art / und an geborniu manheit, / daz ors von rabb%ne er reit / mit vollecl%cher hurte dar, / er nam der vier nagele war. / des wirtes ritter niht gesaz, / al vallende er den acker maz (Wolfram von Eschenbach »Parzival«, V. 174, 20–30). Vgl. Cod. Pal. germ. 339, fol. 131r [Anm. 1]. Vgl. zu Formen weiblicher Handlungsbefähigung u. a. Brinker-von der Heyde, Claudia: Geliebte Mütter @ mütterliche Geliebte. Rolleninszenierung in höfischen Romanen. Bonn 1996 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 123); Bennewitz, Ingrid: Zur Konstruktion von Körper und Geschlecht in der Literatur des Mittelalters. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hg. v. Ders. u. Kasten, Ingrid. Münster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 1–10; Peters, Ursula: Gender trouble in der mittelalterlichen Literatur ? Mediävistische Genderforschung und Crossdressing-Geschichten. In: Manl%chiu w%p, w%pl%ch man. Zur Kon-

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Das Wagnis der .ventiure ergibt sich somit bereits aus ihrer Grundbedingung, die gesellschaftlichen Rang an das eigene Handeln bindet. Denn ein Ansehen, das auf Leistung beruht, gerät sofort ins Wanken, sobald diese in Frage gestellt wird. Demgemäß treten die männlichen Helden im höfischen Roman auch keineswegs immer nur als souveräne Vertreter ihres Standes und Geschlechts auf. Sie erweisen sich als indifferent und instabil, da sich Þre sehr schnell in unÞre, schande und schame verwandeln kann.10 So ist Parzival im Handlungsverlauf des höfischen Romans dem beständigen Kampf um Ansehen ausgesetzt und die scheinbaren Oppositionen von liebe und leide, von fröud und angest bestimmen als gewichtige emotionale Antriebe sein Handeln gleichermaßen.11 Gefährdet wird der ritterliche Held in seiner Positionierung vor allem durch sich selbst und durch konkurrierende Männlichkeiten, aber auch durch seine Beziehungsmus-

struktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. v. Bennewitz, Ingrid u. Tervooren, Helmut. Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh 9), S. 284–304; Sieber, Andrea: Medeas Rache: Liebesverrat und Geschlechterkonflikte in Romanen des Mittelalters. Köln u. a. 2008; Mecklenburg, Michael: Ritter Venus und die Rückeroberung verlorenen Terrains. In : Baisch [Anm. 6], S. 175–208; Brinker-von der Heyde, Claudia: Weiber Herrschaft oder : Wer reitet wen? Zur Konstruktion und Symbolik der Geschlechterbeziehung. In: Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute. Hg. v. Dinges, Martin. Frankfurt a. M. 2005. Heldinnen. 10. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hg. v. Keller, Johannes u. Kragl, Florian. Wien 2010; Schul [Anm. 3], S. 368–414. 10 Vgl. zur historischen und literaturwissenschaftlichen Emotionalitätsforschung u. a. Zur Geschichte der Gefühle. Hg. v. Benthien, Claudia u. a. Köln 2000; Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Kasten, Ingrid u. a. Stuttgart 2002; Trepp, AnneCharlott: Gefühl oder kulturelle Konstruktion? Überlegungen zur Geschichte der Emotionen, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 7 (2002), S. 86–103; Winko, Simone: Über Regeln emotionaler Bedeutung in und von literarischen Texten. In: Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hg. v. Jannidis, Fortis u. a. Berlin, New York 2003 (Revisionen 1), S. 329–348; Eming, Jutta: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts. Berlin 2006; Dies.: Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft. In: JLT 1,2 (2007), S. 251–273, hier S. 253f.; Mecklenburg, Michael: Evolution – Emotion – Literatur. Studien zur Scham in mittelhochdeutschen Erzähldichtungen. Göttingen 2017 (TRAST) [in Vorbereitung]; Emotionen in Geschlechterverhältnissen. Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel. Hg. v. Flick, Sabine u. a. Bielefeld 2009; Schnell, Rüdiger : Haben Gefühle eine Geschichte ? Aporien einer History of Emotions. Göttingen 2015. 11 Vgl. zur Emotionalisierung des Helden u. a. Kasten, Ingrid: Emotionalität und der Prozess männlicher Sozialisation. Auf den Spuren der Psycho-Logik eines mittelalterlichen Textes. In: Querelles 7 (2002), S. 52–71; Koch, Elke: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 2006; Krause, Burkhardt: scham(e), schande und Þre: Selbstwahrnehmung – zwischen Affekt und Tugend. In: Emotions and Cultural Change. Gefühle und kultureller Wandel. Hg. v. Dem. u. Scheck, Ulrich. Tübingen 2006, S. 21–75; Gerok-Reiter, Anette: Die Angst des Helden und die Angst des Hörers. In: Das Mittelalter 12 (2007), S. 127–143; Mecklenburg [Anm.11].

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ter zum ›anderen‹ Geschlecht.12 Hierbei gilt es zu prüfen, wie weit die Erschütterungen der sozialen Positionierung in der Bewährung reichen und ob nicht nur personelle, sondern auch kollektive Arrangements im Erzählen ins Wanken geraten können. Die höfische Gemeinschaft ist durch eine Vielzahl einander kreuzender, ergänzender, aber auch widersprechender interner Differenzierungen geprägt und eine ritterlich-höfische Männlichkeit muss sich durch Positionierungsprozesse innerhalb unterschiedlicher Hierarchien etablieren. Dabei ist das Gelingen dieses Unterfangens in den vormodernen literarischen Texten keineswegs ausgemacht, weswegen es sich im wahrsten Sinne um dangerous intersections handelt, wenn ein mögliches Scheitern für die Figuren schon auf der nächsten Kreuzung lauern kann. Als Handlungsmoment verweist die .ventiure also auf einen spezifischen Kreuzungspunkt zwischen ›Alter‹, ›Stand‹ und ›Geschlecht‹. An diesem müssen die Figuren verortet sein, um überhaupt in der Situation handeln zu können und ihre Position mit ungewissem Ausgang zur Disposition stellen zu können. Die »Parzival«-Handschrift setzt diesen Kreuzungspunkt, an dem es gilt, mannes manheit zu behaupten, als narrative Formation in Text, Schrift und Bild in Szene und offenbart somit die soziale Positionierung des jungen Helden in ihrem Konstruktionscharakter. Welche Wertigkeit oder welches Gewicht den einzelnen Differenzkategorien im Zusammenspiel verschiedener Ungleichheitsdeterminanten dabei zukommt, gilt es somit kontext- und situationsgebunden zu überprüfen.13 Die fiktionale Literatur eröffnet in ihren jeweiligen Gattungen (vgl. III.) hierbei einen Möglichkeitsraum, um Grenzmarkierungen aufzurufen und Grenzüberschreitungen auszuloten. Vor diesem Hintergrund rücken Konstellationen in den Blick, die unterschiedlichen Handlungsmustern folgen, sich durchkreuzen, durchaus auch in Form gleichzeitiger und/oder gegenläufiger Dynamiken der sozialen Privilegierung und Benachteiligung. Die Konstruiertheit sozialer Positionierung und Differenzierung bleibt den höfischen Texten aber erkennbar eingeschrieben, sie wird auf der Erzählebene mehr oder weniger stark thematisiert und auf der Ebene der Handlung von den Figuren austariert, so dass sich ein normalisierendes ebenso wie ein subversives Potential entfalten kann.14 Die .ventiure gilt hierbei exem12 Vgl. zur Verbindung von Geschlecht und Genre aus mediävistischer Perspektive von Gaunt [Anm. 6]. 13 Vgl. Tuczay, Christa Agnes: Helt und kühner degen – Untadelige Männlichkeit zwischen Aggression und Angst im literarischen Diskurs. In: Ich bin ein Mann! Wer ist es mehr? Männlichkeitskonzepte in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Hindinger, Barbara u. Langer, Martin-M. München 2011, S. 43–65, hier S. 44f.; Tunç, Michael: Männlichkeitsforschung und Intersektionalität. 2012. Online Publikation http:// www.portalintersektionalität.de [Letzter Zugriff: 31. 03. 2017]. 14 Vgl. Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Übersetzt von Stahl, Christian. Wiesbaden 32006 (Geschlecht & Gesellschaft; 8); Connell,

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plarisch als Sinnbild eines feudalen Verhaltens- und Erzählmusters, auf das die literarischen Welten geradezu zugeschnitten sind. Die Bewährung macht das movens des Erzählens aus, ein Erzählen, das Spannungen zwischen Selbst- und Fremdpositionierungen, zwischen Stabilität und Aushandlung, zwischen Privilegierungs-, Marginalisierungs- und Normalisierungsprozessen auszeichnet.

II.

Intersektionalität

Um die bereits am mittelalterlichen Beispiel deutlich werdende grundlegende Mehrdimensionalität sozialer Positionierung und Differenzierung kreist das theoretische wie empirische Interesse des sozialwissenschaftlichen Forschungsansatzes ›Intersektionalität‹. In dezidiert gegenwartsorientierter Perspektive fragt das Konzept nach den vielfältigen Formen des »machtdurchwirkten Zusammenspiels unterschiedlicher Differenz- bzw. Diversitätskategorien«15 und ihrer Beteiligung an der Entstehung ›sozialer Ungleichheit‹. Die Betrachtung solcher multipler Privilegierungs- und Diskriminierungsprozesse als Schnittpunkte verschiedener Kategorien und die kritische Analyse ihres Zusammenwirkens soll dabei möglich machen, soziale Positionierung und Differenzierung in ihrer Komplexität zu erfassen.16 Bereits im Jahr 2008 hat die Soziologin Kathy Davis intersectionality als buzzword17 bezeichnet und damit auf die Karriere des Ansatzes hingewiesen. Als Raewyn: Gender. Berlin 2013 (Geschlecht und Gesellschaft 53); Bereswill, Mechthild u. Neuber, Anke: Marginalisierte Männlichkeit, Prekarisierung und die Ordnung der Geschlechter. In: Fokus Intersektionalität: Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Hg. v. Lutz, Helma u. a. Wiesbaden 2010, S. 85–104, hier S. 95. 15 Kerner, Ina: Alles intersektional? Zum Verhältnis von Rassismus und Sexismus. In: Feministische Studien 1 (2009), S. 36–50, hier S. 45. 16 Vgl. Walgenbach, Katharina: Gender ›als‹ interdependente Kategorie. In: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Hg. v. Ders. u. a. Opladen 22012, S. 23–64, hier S. 40 u. S. 54f.; Knapp, Gudrun-Axeli: Verhältnisbestimmungen. Geschlecht, Klasse, Ethnizität in gesellschaftstheoretischer Perspektive. In: ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Hg. v. Ders. u. a. Mu¨ nster 2008, S. 138–170; Dies.: Intersectionality. Ein neues Paradigma der Geschlechterforschung? In: Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung. Hg. v. Casale, Rita u. Rendtorff, Barbara. Bielefeld 2008, S. 33–53. Für einen Überblick zur Verwendung des Konzepts in der US-amerikanischen Forschungsdebatte vgl. McCall, Leslie: The Complexity of Intersectionality. In: Signs 30/3 (2005), S. 1771–1800. Zur deutschsprachigen Debatte vgl. das Themenheft Intersektionalität der Zeitschrift. Erwägen – Wissen – Ethik 24 (2010), 3. Hg. v. Benseler, Frank u. a.; darin Knapp, Gudrun-Axeli: Zur Bestimmung und Abgrenzung von »Intersektionalität«. Überlegungen zu Interferenzen von »Geschlecht«, »Klasse« und anderen Kategorien sozialer Teilung, in: EWE 24 (2010), 3, S. 341–354. 17 Davis, Kathy : Intersectionality as buzzword: A sociology of science perspective on what makes a feminist theory successful. In: Feminist Theory 9 (2008), S. 67–85.

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traveling theory18 ist die Forschungsrichtung, deren ›Genealogien‹ vor allem im amerikanischen Black Feminism und Critical Race Theory in den frühen 1980er Jahren liegen,19 inzwischen auch zum festen Bestandteil akademischer Diskurse der interdisziplinären Geschlechterforschung in Europa geworden. Beklagt wird jedoch nicht selten, dass sich die Intersektionalitätsforschung damit von ihren eigenen Wurzeln entfernt habe.20 Denn es waren women of color, die auf der Grundlage ihrer alltäglichen biographischen Diskriminierungs- und Exklusionserfahrungen auf die Mehrdimensionalität sozialer Positionierung und sozialer Ungleichheit aufmerksam machten. Diese Einsichten verknüpften sie mit dem Ziel eines politischen empowerment, denn als schwarze Frauen vor allem der Arbeiterklasse sahen sich die Träger_innen der Debatte in einem von weißen Frauen der Mittelklasse getragenen Mainstream-Feminismus ihrer Zeit kaum repräsentiert.21 Soziale Positionierungen müssten, so die konsequente Theoretisierung der Alltagserfahrungen in Black Feminism und Critical Race Theory, in der spezifischen Verschränkungen von race-, class- und gender-bezogenen Zuordnungen verstanden und demzufolge auch unter diesen Vorzeichen wissenschaftlich konzeptualisiert werden.22 18 Vgl. zu diesem von Gudrun-Axeli Knapp geprägtem Begriff etwa Dies.: »Intersectionality« – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von »Race, Class, Gender«. In: Feministische Studien 23 (2005), 1, S. 68–81; Knapp, Gudrun-Axeli: Traveling Theories: Anmerkungen zur neueren Diskussion über »Race, Class, and Gender«. In: Im Widerstreit. Hg. v. Ders. Wiesbaden 2012, S. 403–427. 19 Über die Genealogien der Intersektionalitätsforschung herrscht keineswegs Einigkeit. Vgl. etwa Bührmann, Andrea D.: Intersectionality – ein Forschungsfeld auf dem Weg zum Paradigma? Tendenzen, Herausforderungen und Perspektiven der Forschung über Intersektionalität. In: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 1,2 (2009), S. 28–44, hier S. 11–12, der zu Folge sich Intersektionalität nicht auf ein gemeinsames »Gründungsnarrativ« beziehen könne. Vielfältige Genealogien auch im europäischen Raum betont Walgenbach, Katharina: Intersektionalität – eine Einführung. 2012. Online Publikation: http://www.portal-intersektionalität.de [Letzter Zugriff: 17. 03. 2017], S. 1–38, hier S. 5–9. Vgl. dazu auch Winker, Gabriele u. Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009, S. 11–14; Bereswill, Mechthild u. a.: Intersektionalität als Forschungspraxis. In: Dies. u. a. [Anm. 4], S. 8–19. 20 Vgl. bspw. Chebout, Lucy : Wo ist Intersectionality in bundesdeutschen Intersektionalitätsdiskursen? – Exzerpte aus dem Reisetagebuch einer Traveling Theory. In: Intersektionalität zwischen Gender und Diversity. Theorien, Methoden und Politiken der Chancengleichheit. Hg. v. Smykalla, Sandra u. a. Münster 2016 (Forum Frauen- und Geschlechterforschung Band 30), S. 43–57, hier bes. S. 55. Zum Überblick über die Kritik vgl. Walgenbach [Anm. 20], S. 9–11. 21 Walgenbach [Anm. 20], S. 3–4. 22 Im bereits seit 1974 regelmäßig zusammentreffenden ›Combahee River Collective‹ setzten sich die Beteiligten zum Ziel, das Zusammenwirken von class, race und Sexualitäts- bzw. gender-basierten Diskriminierungen systematisch zu untersuchen. Vgl. The Combahee River Collectives: A Black Feminist Statement. In: All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave. Black Women’s Studies. Hg. v. Hull, Gloria T. u. a. New York 1982, S. 13–22. Vgl. auch hooks, bell: Ain’t I a Woman. Black Women and Fe-

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Wenn wir im Folgenden die zentralen theoretischen Debatten um Intersektionalität Revue passieren lassen und die Anschlussfähigkeit des Konzepts für Ältere (europäische) Literaturwissenschaften diskutieren, sind wir uns dieser Wurzeln bewusst und verwenden Intersektionalität im Sinne eines auch für unsere Disziplinen produktiven »Denkstils«23 bzw. eines sensitizing concepts,24 das die Mehrdimensionalität sozialer Positionierung und Differenzierung zum Ausgangspunkt der Überlegungen macht.

II.I

Intersections, Interdependenzen und Relationalitäten

Zur Namensgeberin der Forschungsrichtung wurde Ende der 80er Jahre die amerikanische Juristin Kimberl8 Crenshaw, die auf die strukturelle Dimension solcher Überkreuzungen (intersections) in arbeitsrechtlichen Kontexten aufmerksam machte.25 Im Blick hatte sie dabei vor allem jene ›Straßenkreuzung‹, an der schwarze Frauen aus zwei Richtungen (race/gender) Unfällen zum Opfer fallen könnten, also systematischer Diskriminierung (racism/sexism) ausgesetzt seien.26 Diese Mehrdimensionalität der Diskriminierungserfahrungen von women of color sei in den eindimensionalen Sexismus- und Rassismus-Diskursen ihrer Zeit jedoch unsichtbar geblieben. Während in der Sexismus-Kritik generalisierend von Frauen gesprochen wurde, wurde die Rassismus-Debatte

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minism. Boston 1981; hooks, bell: Sehnsucht und Widerstand. Kultur, Ethnie, Geschlecht. Berlin 1996; Hill Collins, Patricia: Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment. New York, London 1990 (Perspectives on Gender 2); Carby, Hazel V.: White women listen! Black feminism and the boundaries of sisterhood. In: The Empire Strikes Back. Race and Racism in 70s Britain. Hg. v. The Centre for Contemporary Culture Studies. London 1982. Im Anschluss an den Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck bezeichnet Walgenbach Intersektionalität als »Denkstil« (Dies. [Anm. 20], S. 3). Vgl. zu diesem Konzept Knapp, Gudrun-Axeli: Über Kreuzungen: zu Produktivität und Grenzen on »Intersektionalität« als »Sensitizing Concept«. In: Geschlecht (re)konstruieren. Zur methodologischen und methodischen Produktivität der Frauen- und Geschlechterforschung. Hg. v. Bereswill, Mechthild u. a. Münster 2013 (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 38), S. 242–262. Vgl. Crenshaw, Kimberl8 W.: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. In: The University of Chicago Legal Forum (1989), S. 139–167. Crenshaw [Anm. 26], S. 149: »Consider an analogy to traffic in an intersection, coming and going in all four directions. Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars traveling from any number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, of a Black woman is harmed, because she is in the intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination.«

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vom Prototyp des schwarzen Mannes ausgehend geführt.27 Soziale Positionen versteht Crenshaw als konkrete Kreuzungspunkte (intersectional locations), an denen multiple Identitätskonstruktionen (multiple identities) und strukturelle Herrschaftsverhältnisse zugleich (re)produziert würden (intersectional subordination).28 Die eingängige räumlich-geometrische Metapher ist jedoch in der interdisziplinären Geschlechterforschung verschiedentlich zum Gegenstand der Kritik geworden. Zur Debatte steht dabei, ob das von Crenshaw entwickelte Bild die komplexen Dynamiken von Differenz und Hierarchie überhaupt angemessen erfassen kann oder im Gegenteil zu neuen ›Unschärfen‹ führt.29 Zu den Kritikerinnen im deutschsprachigen Raum zählt die Erziehungswissenschaftlerin Katharina Walgenbach, der zu Folge das Bild der Straßenkreuzung in seiner Linearität impliziere, dass Differenzkategorien wie gender oder race als »isolierte Kategorien«30 ›vor‹ und ›nach‹ dem Zusammentreffen an der Kreuzung getrennt und unbeeinflusst voneinander existierten. Während der innovative Mehrwert der Intersektionalitätsdebatte gerade in der Überwindung eindimensionaler Perspektiven gesehen wurde, betont Walgenbach die Metapher lege »auf einer visuellen Ebene«31 nach wie vor die Annahme von sozialen Kategorien als homogene und unveränderliche Entitäten nahe. In einer solchen potentiellen Lesart sieht sie die Gefahr einer erneuten Verfestigung additiver Konzepte und spricht sich stattdessen für den Begriff der ›Interdependenz‹ aus.32 27 Vgl. zur Diskussion um Prototypen intersektionaler Positionierung, die zu ›intersektionalen Unsichtbarkeiten‹ anders positionierter Akteur_innen führen Knapp, Gudrun-Axeli: »Intersectional Invisibility«. Anknüpfungen und Rückfragen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung, in: Lutz u. a. [Anm. 15], S. 223–243, bes. S. 225–226; Purdie-Vaughns, Valerie u. Eibach, Richard P.: Intersectional Invisibilty : The Distinctive Advantages and Disadvantages of Multiple Subordinate-Group Identities. In: Sex Roles 59 (2008), S. 377–391. 28 Crenshaw, Kimberl8 W.: Race, Reform and Retrenchment. Transformation and Legitimation in Antidiscrimination Law. In: Critical Race Theory. The Key Writings that Formed the Movement. New York 1995, S. 367 u. S. 358. Vgl. dazu Walgenbach [Anm. 20], S. 14. 29 Walgenbach [Anm. 17], S. 25–29. Vgl. zur Kritik an der geometrischen Metapher der Straßenkreuzung auch Yuval-Davis, Nira: Intersektionalität und feministische Politik. In: Feministische Studien 27 (2009), S. 51–66. Vgl. zur kritischen Betrachtung des intersektionalen Ansatzes im Allgemeinen auch Lorey, Isabell: Kritik und Kategorie. Zur Begrenzung politischer Praxis durch neuere Theoreme der Intersektionalität, Interdependenz und Kritischen Weißseinsforschung. In: Kritik und Materialität, Reihe der Assoziation fu¨r kritische Gesellschaftsforschung, Bd. 1. Hg. v. Demirovic, Alex. Mu¨ nster 2008, S. 132–148; Rendtorff, Barbara: Warum Geschlecht doch etwas Besonderes ist. In: ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Hg. v. Klinger, Cornelia u. a. Mu¨ nster 2008, S. 68–87; Soiland, Tove: Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen. Intersectionality oder vom Unbehagen an der amerikanischen Theorie. 2012. Online Publikation: http:// www.portal-intersektionalität.de [Letzter Zugriff: 17. 03. 2017]. 30 Walgenbach [Anm. 20], S. 18. 31 Vgl. Walgenbach [Anm. 20], S. 18; Walgenbach [Anm. 17], S. 59. 32 Vgl. Dietze, Gabriele u. a.: Gender als interdependente Kategorie. Einleitung. In: Walgenbach u. a. [Anm. 17], S. 7–22, hier S. 9; Lorey, Isabell: Der weiße Körper als feminis-

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Mit diesem Konzept würden die Kategorien in sich als heterogen, d. h. in vielfältigen Wechselwirkungen mit anderen Kategorien sozialer Differenzierung begriffen, konzeptualisiert.33 Forschungspraktisch ermöglicht dieser Ansatz von einer interdependenten Kategorie auszugehen und auf diese Weise das Sichtfeld um kategoriale Interdependenzen zu erweitern, was Walgenbach anhand der Kategorie gender ausführt.34 Eine ähnlich gelagerte Kritik hat aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Andrea Griesebner bereits 1998 formuliert. 2013 hat sie ihr Konzept der ›Relationalität‹ in einem erweiterten Aufsatz mit Susanne Hehenberger noch einmal dezidiert gegen ›Intersektionalität‹ abgegrenzt. Insbesondere für vormoderne Untersuchungskontexte sei der Begriff zu verabschieden, da er zum einen die Vorstellung von Kategorien als »isolierte[n] Stränge[n]« impliziere und zum anderen »untrennbar mit dem Identitätsbegriff« verbunden sei.35 »Statt anzunehmen, dass sich Individuen an der Schnittstelle von substantialistisch und damit auch ahistorischen Kategorien konstituieren«, weisen die Autorinnen auf die Notwendigkeit hin, »die Kategorien selbst zu historisieren und sie als relational, das heißt in wechselseitiger Weise aufeinander bezogen, zu denken.«36 Die so konzipierten Kategorien würden in einem multirelationalen sozialen Raum wirksam, einer Vorstellung, die den Arbeiten Pierre Bourdieu entlehnt ist.37 Vor dem Hintergrund der geschilderten Debatte drängt sich der Eindruck auf,

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tischer Fetisch. Konsequenzen aus der Ausblendung des deutschen Kolonialismus. In: Weiß. Weißsein. Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus. Hg. v. Tißberger, Martina u. a. Frankfurt a. M. 2006, S. 61–83, hier S. 62. Vgl. Walgenbach [Anm. 17], S. 60f.; auch Kossek, Brigitte: Rassismen & Feminismen. In: Rassismen & Feminismen. Differenzen, Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Frauen. Hg. v. Ders. u. Habinger, Gabriele. Wien 1996, S. 11–22, hier S. 14, die von einem gegenseitigen Durchdrungensein sozialer Kategorien ausgeht. Vgl. zum Versuch einer Überwindung linearer Darstellungsweisen Reher, Friederike u. Walgenbach, Katharina: Interdependenzen und Hypertext. 2012. Online-Publikation: portal-intersektionalitaet.de/experi mentierraeume/interdependenzen-hypertext/ [Letzter Zugriff: 17. 03. 2017]. Diesen Ansatz verfolgen in diesem Band Kahlmeyer, Somogyi und Neußel-Fischer, indem sie ihr Material von einer ›Leitkategorie‹ ausgehend lesen und Interdependenzen mit anderen Kategorien herausarbeiteten. Griesebner, Andrea u. Hehenberger, Susanne: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften? In: Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven für alte Fragen. Hg. v. Kallenberg, Vera u. a. Wiesbaden 2013, S. 105–124, hier S. 111. Vgl. auch Griesebner, Andrea: Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Fru¨ hen Neuzeit. In: Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagung 1998. Hg. v. Aegerter, Veronika u. a. Zu¨ rich 1998, S. 129–137. Griesebner u. Hehenberger [Anm. 36], S. 111. Vgl. den Beitrag von Bendheim und Schuh in diesem Band, die sich explizit dieser Konzeption anschließen, um die relationale Positionierung der Protagonist_innen im höfischen Roman herauszuarbeiten.

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dass es sich bei ›Intersectionality‹, ›Interdependenz‹ und ›Relationalität‹ um inkommensurable Ansätze handele. Diesem Eindruck sucht der vorliegende Band durch eine kontextualisierende und historisierende Ausrichtung entgegenzusteuern. In einem späteren Beitrag hat auch Katharina Walgenbach darauf hingewiesen, dass Crenshaws Straßenkreuzungsmetapher »in ihrem juristischen Entstehungskontext« verstanden werden müsse.38 Denn im rechtswissenschaftlichen Kontext wird in Fallanalysen eine spezifische Konstellation fokussiert, wobei die »eindimensionalen Straßenachsen«, die die Grundlage von juristischen Entscheidungen bilden, zum »Gegenstand der Kritik« werden. Aus Walgenbachs Sicht könne diese punktuelle Betrachtungsweise jedoch nicht sinnvoll aus ihrem disziplinären Kontext herausgelöst und auf die Sozialwissenschaften übertragen werden.39 Dem ist einerseits auch aus Sicht kulturwissenschaftlich orientierter Disziplinen zuzustimmen, denn hier sind intersektionale Positionierungen immer wieder auch in ihrer Prozesshaftigkeit zu verfolgen. Jedoch, so meinen wir, schließt eine prozessuale Perspektive auf Dynamiken sozialer Positionierung punktuelle Betrachtungen strukturell verfestigter ›Straßenachsen‹ per se keineswegs aus. Vielmehr lassen sich Punktualität und Prozesshaftigkeit als unterschiedliche methodische Blickwinkel – mithin als Spielarten der gemeinsamen Fragestellung nach der Multidimensionalität sozialer Positionierung – gewinnbringend kombinieren. Um die immer wieder geforderte Historisierung der Kategorien theoriearchitektonisch einzuholen, kann der soziale Raum, in dem Positionierungsprozesse stattfinden, um die Kategorie der Zeitlichkeit erweitert konzipiert werden. In einem solchen verzeitlichten mehrdimensionalen Positionierungsraum lassen sich sowohl situative Kreuzungspunkte (intersections) als soziale Orte im Sinne Crenshaws als auch sich prozesshaft wandelnde relationale Konstellationen beobachten, so dass sich beide Perspektiven forschungspraktisch ergänzen können.40 Im vorliegenden Band wird eine solche kombinierte Betrachtung der Moment- und Prozesshaftigkeit »intersektionaler Erzählungen«41 in literarischen 38 Walgenbach [Anm. 20], S. 16 u. S. 17; Walgenbach, Katharina: Postscriptum: Intersektionalität – Offenheit, interne Kontroversen und Komplexität als Ressourcen eines gemeinsamen Orientierungsrahmens. In: Lutz u. a. [Anm. 15], S. 245–256. Eine verkürzende Rezeption Crenshaws beklagt auch Chebout [Anm. 21] sowie Dies.: Back to the roots! Intersectionality und die Arbeiten von Kimberl8 Crenshaw. 2012, www.portal-intersektionali tät.de [Letzter Zugriff: 06. 03. 2017]. 39 Walgenbach [Anm. 20], S. 18. 40 Vgl. Böth [Anm. 3], S. 87 u. S. 90–91. 41 Schul [Anm. 3], S. 100f. Vgl. dazu auch Schnicke [Anm. 3], S. 30f.; Degenring, Folkert: »A man to whom everything in life had come easily«. Eine intersektionale Analyse zu John Lanchesters Roman Capital. In: Bereswill u. a. [Anm. 4], S. 134–153; Schröder-Maruo, Nicole: »From the tomb of slavery, to the heaven of freedom«: Raum, race und gender in afroamerikanischen Sklavenerzählungen. In: Bereswill u. a. [Anm. 4], S. 115–133; aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive spricht Böth [Anm. 3], S. 21 von »intersektionalen Selbstaussagen« in Selbstzeugnissen. Vgl. aus der sozialwissenschaftlichen Biographie-

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Repräsentationen angestrebt, indem die erzählten Bewährungsproben in ihrer Situativität wie auch in ihrem Dynamisierungspotential fokussiert werden.

II.II

Ebenen, Kategorien und Dimensionen

Innerhalb der Intersektionalitätsforschung ist darüber hinaus auch umstritten, auf welchen Ebenen die Analysen ansetzen sollen. In der Soziologie werden gemeinhin drei Ebenen der Sozialwelt unterschieden: die Mikroebene sozialer Interaktion und individueller Selbst- bzw. Identitätskonstruktionen, die Mesoebene diskursiv hergestellter symbolischer Repräsentationen und die Makroebene gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen. Intersektionalitätsstudien im Kontext empirischer Sozial- und Bildungsforschung sowie der Biographieforschung beziehen sich auf die Mikroebene sozialer Interaktionen und Identitäten und berücksichtigen deshalb eine potentiell unabgeschlossene Vielzahl unterschiedlicher Kategorien.42 Dagegen plädieren Cornelia Klinger und Gudrun Axeli-Knapp fu¨ r eine Konzentration auf die strukturellen »Achsen der Ungleichheit«, die sie in den auf ›Arbeit‹ als zentralem Faktor basierenden Gegenwartsgesellschaften in der klassischen Trias ›Klasse‹, ›Rasse‹/›Ethnizität‹ und ›Geschlecht‹ begru¨ ndet sehen.43 Eine »intersektionale Mehrebenenanalyse« schlagen hingegen Nina Degele und Gabriele Winker vor. Ansatzpunkte sind dabei »kontextspezifische gegenstandsbezogene […] soziale Praxen«, von denen ausgehend sie die »Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d. h. von Herrschaftsverhältnissen), symbolischer Repräsentationen forschung Davis, Kathy u. Lutz, Helma: Geschlechterforschung und Biographieforschung. Intersektionalität am Beispiel einer außergewöhnlichen Frau. In: Biographieforschung im Diskurs. Hg. v. Völter, Bettina. Wiesbaden 2005, S. 228–247, hier S. 241; Phoenix, Ann: Psychosoziale Intersektionen: zur Kontextualisierung von Lebenserzählungen Erwachsener aus ethnisch sichtbar differenten Haushalten. In: Lutz u. a. [Anm. 15], S. 165–182, hier S. 167; Walgenbach [Anm. 20], S. 2. 42 Vgl. Lutz, Helma u. Wenning, Norbert: Differenzen u¨ber Differenz – Einfu¨hrung in die Debatten. In: Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Hg. v. Dens. Opladen 2001, S. 11–24, hier S. 20–21, die von »13 bipolaren hierarchischen Differenzlinien« ausgehen. Davis u. Lutz [Anm. 42], S. 234–245; Phoenix [Anm. 42], S. 167. Vgl. auch Winker u. Degele [Anm. 20], S. 15–16. 43 Vgl. Klinger, Cornelia u. Knapp, Gudrun-Axeli: Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz: Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht ›Rasse‹/Ethnizität, in: Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht, Ethnizität. Hg. v. Dens. Frankfurt, New York 2007 (Politik der Geschlechterverhältnisse 36), S. 19–41, hier S. 20 u. S. 37. Zur Diskussion über Ebenen und Kategorien vgl. auch Walgenbach [Anm. 17], S. 42 u. S. 53; Knapp, Gudrun-Axeli: »Intersectionality« – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von »Race, Class, Gender«. In: Feministische Studien 23 (2005) 1, S. 68–81, hier S. 75; Winker u. Degele [Anm. 20], S. 22.

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und Identitätskonstruktionen«44 in den Blick nehmen. Hieraus folgt, dass relevante Kategorien in einem ersten Schritt je nach Forschungskontext von den Praxen ausgehend gewonnen werden und auf den jeweiligen Untersuchungsebenen noch einmal konkretisiert werden müssen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auf der Metaebene der gesellschaftlichen Strukturen weniger Kategorien von Bedeutung sein werden als auf der Mikroebene von Identitäten und Interaktionen.45 Einen ähnlichen Vorschlag zur Konzeptualisierung der Ebenen unterbreitet auch die Politologin Ina Kerner, die eine institutionelle, eine epistemische (Wissen, Diskurse, symbolische Repräsentationen) sowie eine personale Dimension (Subjektivität, individuelle Einstellungen und Handlungen und personale Interaktionen) von sozialen Differenzierungen bzw. Ungleichheitsphänomenen unterscheidet, bei denen die Bedeutung von intersektionalen Verschränkungen jeweils variieren kann.46 Das soziologische Mehrebenenmodell lässt sich auch für literaturwissenschaftliche Analysen, wie sie in diesem Band vorgenommen werden, produktiv machen. Hierbei bedarf es jedoch einiger Modifikationen, verschränken sich in kulturellen Repräsentationen doch drei Ebenen, deren Zusammenspiel konstitutiv für narrative Texte jedweder Form ist. Diese sind: erstens die Interaktionsebene der Figurenhandlung, zweitens die Narrationsebene der Textstruktur und drittens die Kontextebene der kulturhistorischen Bedingtheit des Textes.47 Angesprochen ist damit bereits, dass literarische Texte in ihrer Eigenschaft als Diskursprodukte auch auf Prozesse sozialer Positionierung und Vergesellschaftung verweisen können. Die erzählte Welt steht in einem je spezifischen Verweisungszusammenhang zur Sozialwelt, in der sie entsteht und rezipiert wird und produziert diese zugleich aktiv mit.48 Die Kontextebene der Texte bezeichnet diesen Bezug zur Sozialwelt, die ihrerseits aus der Mikroebene des Sozialen (Identitäten, Interaktionen), der Mesoebene (diskursiv hergestellte symbolische Repräsentationen, zu denen wiederum die literarischen Texte selbst gehören) sowie der Makroebene gesellschaftlicher Strukturen besteht. Als kulturelle Repräsentation kann vormoderne Literatur somit gesellschaftliche Strukturen und 44 45 46 47

Winker u. Degele [Anm. 20], S. 15. Vgl. Winker u. Degele [Anm. 20], S. 30. Vgl. Kerner [Anm. 3], S. 36 u. S. 46–48. Vgl. Schul [Anm. 4], S. 101; Dies. [Anm. 3], S. 50–60. Vgl. zu diesem Ansatz auch Bereswill, Mechthild: Komplexität steigern. Intersektionalität im Kontext von Geschlechterforschung, In: Dies. u. a. [Anm. 4], S. 210–230, hier S. 216. 48 Vgl. Alkemeyer, Thomas: Literatur als Ethnographie: Repräsentation und Präsenz der stummen Macht symbolischer Gewalt. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung 8,1 (2007) 1, S. 11–31: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-277785 [Letzter Zugriff: 21. 03. 2017]; Martínez, Mat&as u. Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 8 2009; Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hg. v. Braun, Manuel u. a. Berlin, Boston 2012, S. 19–26.

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Wandlungsprozesse aufgreifen und auf sie affirmierend, reflektierend oder kommentierend Bezug nehmen. In fiktionalen Möglichkeitsräumen kann sie aber auch eigenständige Sinnlogiken gestalten, Deutungen verschieben und neuartige Strukturen der Wahrnehmung und Bewertung entfalten (vgl. III.). Kulturelle Repräsentationen sind in diesem Verständnis als symbolische Formationen zu verstehen, die an der Schnittstelle von Struktur- und Handlungsebenen ihre Wirksamkeit für soziale Positionierungsprozesse entfalten können.49 Der Ansatzpunkt der literaturwissenschaftlichen Textanalyse liegt dabei auf der Interaktions- und auf der Narrationsebene. Auf der Ebene der Interaktion werden die Figuren des literarischen Textes als handelnde Akteur_innen verstanden. In den Blick rücken damit die (erzählten) Interaktionen, in die sie involviert sind, sowie die Praktiken, in und mit denen sie handeln.50 Im Fokus stehen dabei insbesondere die Akte der Selbstpositionierung, die die Figuren in eigenen kommunikativen Aussagen sowie in und mit bestimmten körperbasierten Handlungsweisen vornehmen.51 Das Figurenhandeln kann dabei ausgehend von dem geschlechtertheoretischen Konzept doing gender52 erfasst werden.53 Denn genauso wie Figuren ›Gender‹ durch ihre Handlungen herstellen,54 tun sie dies auch mit anderen kategorialen Positionierungen (doing difference)55 und in letzter Konsequenz mit ihrer gesamten intersektional verflochtenen Positionierung (doing intersectionality).56 Diese Selbstpositionie49 Vgl. Degele, Nina u. Winker, Gabriele: »Leistung muss sich lohnen«. Zur intersektionalen Analyse kultureller Symbole. In: Seelinger u. Knüttel [Anm. 3], S. 25–52, hier S. 30f. 50 Vgl. Schul [Anm. 4], S. 101; Dies. [Anm. 3], S. 40–50. Für die Textgattung der Selbstzeugnisse verfolgt diesen Ansatz einer praxeologischen Intersektionalitätsforschung Böth [Anm. 4], bes. S. 91; Dies. [Anm. 3], S. 10–33. 51 Zur Selbstpositionierung über erzählte Praktiken vgl. Böth [Anm. 3], hier bes. S. 40. 52 Vgl. West, Candace u. Zimmerman, Don H. (1987), Doing Gender, in: Gender & Society 1,1 (1987), S. 124–151; ND in: Doing Gender. Doing Difference. Inequality, Power, and Institutional Change, Hg. v. West, Candace u. Fenstermaker, Sarah. New York 2002, S. 3–23. 53 Vgl. zu diesem Ansatz bereits Schul [Anm. 3], S. 44–60 u. Dies. [Anm. 4], S. 98–101; Böth [Anm. 4], S. 37 u. [Anm. 4], S. 91. 54 Vgl. West u. Zimmerman [Anm. 53], S. 126, definieren ›gender‹ »as a routine, methodical, and recurring accomplishment«. Im Sinne eines komplexen Handlungsbegriffs wird damit auf die Geregeltheit und nicht-intentionale Routinisiertheit des doings als einem wiederholten ausführenden Vollzug abgehoben. 55 Vgl. West, Candace u. Fenstermaker, Sarah: Doing Difference. In: Gender & Society 9,1 (1995), S. 8–37; ND in: Doing Gender, Doing Difference. Inequality, Power, and Institutional Change. Hg. v. Dens. New York 2002, S. 55–79, hier 1995, S. 9: »the relationships among gender, race, and class« sollten als »ongoing interactional accomplishment« rekonzeptualisiert werden. Vgl. dazu auch Fenstermaker, Sarah u. West, Candace: ›Doing Difference‹ revisited. Probleme, Aussichten und der Dialog in der Geschlechterforschung, in: (2001): Geschlechtersoziologie. Hg. v. Heintz, Bettina. Wiesbaden 2001 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie / Sonderheft 41), S. 236–249. 56 Vgl. Davis u. Lutz [Anm. 42], S. 231 u. S. 233; aus Sicht der historischen Frühneuzeitfor-

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rungen laufen jedoch nicht volatil im luftleeren Raum ab, sondern sehen sich durch ihr Eingebundensein in Handlungssituationen überindividuellen Bedeutungskomplexen und (auch konkurrierenden) normativen Anforderungen gegenüber.57 Erschlossen werden können diese vor allem über Fremdpositionierungen, die durch andere Figuren oder aber durch die jeweiligen Erzählinstanzen auf der Narrationsebene (narrating intersectionality)58 vorgenommen werden. Mit diesen komplexen Modi der Figurenpositionierung wird so etwas wie eine ›Figurenidentität‹ erzeugt, denn erst wenn eine Figur in ihrer Position Anerkennung von anderen Figuren oder der Erzählinstanz erfährt, kann die soziale Positionierung als ›gelungene‹ Aufführung beschrieben werden.59 Werden Kategorien also doing-Ansätzen folgend auf der Handlungsebene verortet, so ergibt sich daraus, dass sie de-ontologisiert und stattdessen prozessual gedacht werden müssen.60 Diese prozessuale Konzeption der Kategorien lässt sich sprachlich abbilden, indem etwa von intersektionalen Positionierungsprozessen statt von Intersektionen gesprochen wird. Für die Literaturwissenschaft (wie für alle mit textlichen Repräsentationen arbeitenden Disziplinen) empfiehlt es sich, die Untersuchungskategorien in einem ersten Schritt induktiv und ergebnisoffen aus dem Material – d. h. hier : der Interaktions- und Narrationsebene – zu erschließen.61 Wie bei sozialwis-

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schung Böth [Anm. 3], S. 428. In einem unpublizierten Abendvortrag zur Wiener Tagung Intersectionality – Theorien, Methoden, Empirien von 2009, aus der der Tagungsband Intersektionalität revisited (2011) hervorgegangen ist, erweitern Nina Degele und Gabriele Winker den Fokus, um die wissenschaftskritische Ebene »doing intersectionality« und betiteln hiermit ihre gesellschafts- und gendertheoretisch begründete Methodologie, so dass sich mit dem doing-Konzept auch eine kritische Betrachtung der eigenen wissenschaftlichen Ausrichtung verbinden lässt. Zur Produktivität von doing-Ansätzen für die historische Intersektionalitätsforschung vgl. auch Kraß [Anm. 3], S. 17. Vgl. West u. Zimmerman, [Anm. 53], S. 126: »Rather than as a property of individuals, we conceive gender as an emergent feature of social situations (…)« u. S. 136–137: »Though it is individuals who do gender, the enterprise is fundamentally interactional and institutional in character, for accountability is a feature of social relationships, and its idiom is drawn from the institutional area in which those relationships are enacted.« Vgl. zur gender-orientierter Narratologie III. Vgl. Butler, Judith: Das Ende der Geschlechterdifferenz? In: Konturen des Unterschiedenen. Interventionen. Hg. v. Huber, Jörg u. Heller, Martin. Basel 1997 (Roter Stern 6), S. 40. Vgl. zu dieser Kritik Villa, Paula-Irene: Verkörperung ist immer mehr. Intersektionalität, Subjektivierung und der Körper. In: Lutz u. a. [Anm. 15], S. 203–221, hier S. 218; Davis u. Lutz [Anm. 42], S. 231; Kraß, [Anm. 3], S. 13. Schul [Anm. 4], S. 100f., weist darauf hin, dass die Kategorien dem »Rezipienten bei der Lektüre entgegentreten […] also nicht in den Text hineingelesen oder ihm aufoktroyiert werden« sollten. Vgl. auch Schul [Anm. 3], S. 58–59. Vgl. Böth [Anm. 4], S. 81, die betont, dass die Frage nach Auswahl und Gewichtung der Kategorien sich für »induktiv verfahrende Forschungen nicht in der Schärfe« stelle, wie in den »gegenwartsorientierten Disziplinen, die ihr Datenmaterial selbst erheben und somit die Narrativierung bestimmter kategorialer Zusammenhänge durch Fragetechniken selbst induzieren (können).«

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senschaftlichen Studien, die auf der Mikroebene des Sozialen ansetzen, ist dabei ebenso von der grundsätzlichen Unabgeschlossenheit potentiell relevanter Kategorien auszugehen.62 Für spezifische Fragestellungen kann es sich darüber hinaus als methodisch produktiv erweisen, in einem zweiten Schritt spezielle Kategorien zum Ankerpunkt der Analysen zu machen und von ihnen ausgehend ›Interdependenzen‹ (vgl. II.I) zu untersuchen.63 Je nach Ausgestaltung des konkreten Erkenntnisinteresses kann das Vorgehen in den weiteren Schritten des Forschungsprozesses somit variiert werden. Ganz in diesem Sinne hat der Anglist Folkert Degenring ein mehrgliedriges methodisches Vorgehen vorgeschlagen, in dem er die aus dem literarischen Text gewonnenen Kategorien mit strukturellen Überlegungen zu ›Metakategorien‹ abgleicht, die auf der kulturhistorischen Kontextebene wirksam werden.64 Intersektionalitätsstudien, die sich wie im vorliegenden Band mit der Literatur vormoderner Gesellschaften beschäftigen, müssen die historische Alterität der Untersuchungsgegenstände berücksichtigen. Hierzu gehört in erster Instanz ein im Verhältnis zu den Gegenwartsgesellschaften grundlegend anderes Verständnis von sozialer Ungleichheit. Ist Ungleichheit seit Beginn der Moderne ein explizit kritisiertes Phänomen,65 war sie in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften normativ sogar erwünscht, galt sie doch als Ausdruck einer gottgegebenen und daher ›guten‹ Ordnung.66 Aber nicht nur in dieser grundsätzlichen Haltung zu sozialer Ungleichheit, sondern in der Relevanz bzw. in der Ausprägung einzelner Kategorien unterscheiden sich vormoderne von modernen Gesellschaften auf grundlegende Weise. Ein auf den ersten Blick einleuchtender Unterschied zu europäischen Gegenwartsgesellschaften betrifft die fundamentale Bedeutung der Kategorie ›Religion‹ (bzw. institutionell gewendet: ›Konfession‹) in vormodernen Gesellschaftskontexten. Sowohl Frömmigkeit als persönliche Qualität der Einzelnen als auch religiöse bzw. konfessionelle Zuge-

62 Vgl. Winker u. Degele [Anm. 20], S. 15–24; Walgenbach [Anm. 20], S. 21–33. Vgl. zur prinzipiellen Unabgeschlossenheit von Subjektivierungsprozessen Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991, S. 210. 63 Vgl. Die Beiträge von Kahlmeyer, Mecklenburg, Somogyi und Neußel-Fischer in diesem Band. 64 Vgl. Degenring [Anm. 42]. 65 Vgl. dazu Lindemann, Gesa: Mann und Frau. Warum man Geschlechter unterscheidet, in: Kursbuch Hamburg 173 (2013), S. 179–193. 66 Zur Legitimität sozialer Ungleichheit in der Vormoderne vgl. etwa Füssel, Marian: Die relationale Gesellschaft. Zur Konstitution ständischer Ordnung in der Frühen Neuzeit aus praxeologischer Perspektive. In: Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung. Hg. v. Freist, Dagmar. Bielefeld 2015, S. 115–137, hier S. 121. Zur vormodernen Ordo-Vorstellung vgl. Lutter, Christina: Geschlecht & Wissen, Norm & Praxis, Lesen & Schreiben. Monastische Reformgemeinschaften im 12. Jahrhundert. Wien, München 2005, S. 4.

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hörigkeit, vor allem gegenüber außereuropäischen nicht-christlichen Religionen, prägen die Erzählkontexte dieser Gesellschaften.67 Daneben bedarf auch die in den sozialwissenschaftlichen Debatten bedeutende Kategorie class einer Operationalisierung für die vormoderne Ständegesellschaft. Dabei greift die Verwendung von ›Stand‹ statt ›Klasse‹, wie sie bisweilen vorgenommen wird, jedoch sichtlich zu kurz, war der Standesbegriff in vormodernen Gesellschaften doch weitaus komplexer angelegt, als es die Zugehörigkeit zu einem der drei Stände (Adel, Klerus, Bauern bzw. aufkommenden Bürgertum) abbilden könnte.68 Von besonderer Bedeutung waren in vielen Erzählzusammenhängen vielmehr ›Rang‹ oder ›Status‹, der einer Person innerhalb ihres Standes zukam.69 Häufig war diese verquickt mit der geographisch-kulturräumlichen Herkunft einer Person,70 die über Nähe oder Ferne zu Hof oder zu den aufkommenden Städten entschied. Für mittelalterliche Texte ist damit insbesondere die ›Höfischheit‹ einer Person, die sich als habituelle Passung an die Ideale des Hofes als Handlungsraum beschreiben lässt und ein Konglomerat unterschiedlicher Kategorien umfasst (Stand, Geschlecht, Alter, Religion, Herkunft, Erziehung usw.) als fundamentaler Zusammenhang sozialer Positionierung angesprochen.71 In der Geschlechterforschung wurde lange zwischen der biologisch-anatomischen Komponente und der kulturell konstruierten Geschlechterrolle unterschieden. Diese Unterscheidung ist vor allem mit den Arbeiten Judith Butlers72 67 Vgl. Kahlmeyer, Bendheim und Schuh, Somogyi, Becker, Winst, Neußel-Fischer, Schul und Böth in diesem Band. 68 Zur Kritik am Bezug auf die Dreiständeordnung als einem reduktionistischen Modell für die Frühe Neuzeit vgl. Ulbrich, Claudia: Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung. In: Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. Theorien und Debatten in der Fru¨ hneuzeitforschung. Hg. v. Füssel, Marian u. Weller, Thomas. Frankfurt a. M. 2011 (Zeitspru¨nge 15), S. 85–104, hier S. 103; Freist, Dagmar: »Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen«. Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik. In: Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Hg. v. Alkemeyer, Thomas u. a. Bielefeld 2013, S. 151–174, hier S. 152; Füssel, Marian u. Weller, Thomas: Einleitung. In: Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft. Hg. v. Dens. Mu¨ nster 2005 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 8), S. 9–22, hier S. 10–11. Der frühneuzeitliche Standesbegriff umfasste etwa auch Berufs- und Zivilstand, der von je her auch mit Geschlecht und Alter verknüpft. Vgl. Böth, Mareike: Zum Glück fähig. Intersectional (in)visibilities in Glücksratgebern des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In: Verschränkte Ungleichheit. Praktiken der Intersektionalität. Hg. v. Bähr, Matthias u. Kühnel, Florian, Münster 2017 (ZHF Sonderheft) [im Druck]. 69 Vgl. die Beiträge von Kahlmeyer, Mecklenburg, Somogyi, Musiol und Böth in diesem Band. Vgl. Böth [Anm. 3], S. 34–35. 70 Vgl. die Beiträge von Winst, Bendheim und Schuh und Böth in diesem Band. 71 Vgl. die Beiträge von Becker und Schul in diesem Band. Vgl. Kraß [Anm. 3], S. 28. 72 Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991. Zur Gleichursprünglichkeit von Natur und Kultur vgl. auch Gildemeister, Regine u. Wetterer, An-

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einer Kritik unterzogen worden. Dabei wurde argumentiert, dass dem Geschlechtskörper (sex) von Beginn seiner Existenz soziale Bedeutungen (gender) anhaften, die sich nicht sinnvoll analytisch trennen lassen, sondern unweigerlich immer schon miteinander verwoben sind. Dies wird auch in historischer Perspektive ersichtlich, wurde der vergeschlechtlichte Körper in der Vormoderne doch deutlich flexibler gedacht.73 Im Gegensatz dazu wurde die Geschlechterdifferenz in der Moderne an einer unveränderlichen Wesenhaftigkeit des Körpers festgemacht.74 Die heteronormative Geschlechterordnung wurde in vormodernen Gesellschaften nicht in gleicher Weise über eine gefestigte, biologisch-anatomische Verfasstheit des Körpers hergeleitet, so dass in unterschiedlichen diskursiven Kontexten auch variable Formationen ausgebildet werden, die die physischen Grenzen eher fließend gestalten.75 Insbesondere die fiktionale Literatur der Vormoderne diskutiert Möglichkeiten und Folgen einer Normtransgression, die sich aus spezifischen verkörperten Praktiken für die Geschlechterordnung ergeben können. Dabei präsentiert sie nicht nur negativ bewertete Folgen, sondern auch daraus erwachsende Varianzen und Erweiterungen geschlechtsbezogener Handlungsspielräume. Auf diese Weise wird eine Pluralität der Geschlechtsidentitäten entworfen, so dass es (zumindest literarisch) den ›Normalfall‹ eher nicht gibt, sondern Konformität und Abweichung im Prozess des Erzählens immer wieder neu- und andersartig ausgehandelt werden.76 Für mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur ist darüber hinaus ein erweitertes Figurenensemble kennzeichnend. Wer das Auftreten von Riesen, Zwergen, Monstern, Tier-Mensch-Mischwesen, Engeln und Dämonen in der vormodernen Literatur aber ausschließlich auf den fiktionalen Gestaltungsrahmen zurückführt, sieht sich getäuscht, denn dies scheint eher ein Reflex auf

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gelika: Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung. In: TraditionenBru¨che. Entwicklungen feministischer Theorie. Hg. v. Knapp, Gudrun-Axeli u. Wetterer, Angelika. Freiburg 1992, S. 201–254. Vgl. Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a. M., New York 1992. Zur Kritik vgl. Schnell, Ru¨ diger : Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe, Köln 2002, S. 76; Spreitzer, Brigitte: Zur Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion von Geschlechterdifferenz(en) im Mittelalter, in: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Hg. v. Bennewitz, Ingrid u. Kasten, Ingrid: Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Mu¨ nster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 249–263, hier S. 253. Vgl. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850. Frankfurt a. M. 1991; Schiebinger, Londa: Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft. Stuttgart 1993. Vgl. Tlusty, B[everly] Ann: Bacchus and the civic Order. The Culture of Drink in Early Modern Germany (Studies in Early Modern German History). Charlottesville, London 2001; Böth [Anm. 3], S. 195–204. Vgl. dazu die Beiträge von Musiol und Becker in diesem Band.

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die anthropologischen Vorstellungen der Gesellschaften zu sein.77 Hierbei stellt sich die Frage, welche Differenzkategorien zum Tragen kommen, um derartige Differenzerzeugungen zu markieren. Hierbei geraten zum einen ›rassisierende‹ und/oder ›ethnisierende‹ Darstellungsmuster von Zugehörigkeit in den Blick, die allerdings in mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur anderen Logiken folgen als in der Moderne.78 Zum anderen werden immer wieder Grenzen menschlicher Seinsbereiche zum Thema gemacht, umspielt und überschritten. Die Abweichung vom Menschlichen, eine Aufhebung der Differenz zwischen Mensch und Tier sowie eine Teilhabe am Transzendenten kann mit ambivalenten Deutungsmustern verbunden werden. Einerseits besitzen sie eine höfische Wertigkeit, wenn sie beispielsweise zum erfolgreichen Agieren des ritterlichen Kriegers beitragen, wenn er an Kräften, Mächten und Eigenschaften partizipiert, die die einzelne Person überschreiten. Andererseits können sie auch als drastischer Verstoß gegen das höfische Ideal markiert werden, der eine Reaktion und Regulation durch die Gemeinschaft – z. B. durch Ausschluss oder Tötung – regelrecht einzufordern und zugleich zu legitimieren scheint.79 Die Betonung von Differenz dient in den Erzählungen demnach u. a. dazu, konvergente Gruppen des ›Eigenen‹ zu imaginieren, diese hierarchisch einzuordnen und zu bewerten. So wird die Beschreibung von ›Ethnizität‹, also von Kultur, Herkunft, Religion, Sitten und Gebräuchen der ›Anderen‹, wiederholt zur Normalisierung der eigenen Gruppe eingesetzt.80 Literarische Figuren oder Erzählinstanzen markieren sich dabei als autorisiert, ›Andere‹ zu beschreiben und zu beurteilen, ein narrativer Prozess, der in der kulturwissenschaftlichen Diskussion als othering beschrieben wird. Diese Fremdpositionierungen sind im literarischen Text durch Spannungsverhältnisse gekennzeichnet, die sich unter bestimmten Umständen verändern und umkehren können, aber nicht müssen.81 77 Vgl. Lindemann, Gesa: Gesellschaftliche Grenzregime und soziale Differenzierung. In: Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), S. 92–110. 78 Obgleich die Kategorie race kein genuiner Quellenbegriff für die Organisation vormoderner Gesellschaften ist, so gibt es in mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur doch »Vorstellungen, die man aus heutiger Perspektive als protorassistisch oder ›rassisierend‹ bezeichnen kann« (Kraß [Anm. 3], S. 31). Vgl. hierzu besonders Michaelis, Beatrice: In/ Kommensurabilität. Artikulationen von ›Rasse‹ im mittelalterlichen Nibelungenlied und in Fritz Langs Film Die Nibelungen. In: Bedekovic´ u. a. [Anm. 3], S. 147–163, hier S. 149f.; Dies. [Anm. 4], S. 90f. Vgl. auch Schausten, Monika: Suche nach Identität: Das »Eigene« und das »Andere« in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln u. a 2006 (Kölner Germanistische Studien 7), S. 70–109. 79 Vgl. hierzu die Beiträge von Mecklenburg, Neußel-Fischer, Winst und Schul in diesem Band. 80 Vgl. Anthias, Floya u. Yuval-Davis, Nira: Racialized Boundaries. Race, Nation, Gender, Colour and Class and the Anti-Racist Struggle. London, New York 1992, S. 198. 81 Vgl. Frankenberg, Ruth: White Women, Race Matters: the Social Construction of Whiteness. London 1993.

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Gleichzeitig gilt es zu prüfen, welche phänotypischen Kennzeichen als unmarkierte gelten, eine ›Normalität‹ imaginieren und damit als unproblematische Handlungs- und Erzählpositionen gedeutet werden.82 Diese Markierungen und Bewertungen von Differenz sind grundsätzlich zu de-naturalisieren, das bedeutet, dass sie als Resultate sozialer Konstruktionen beschrieben und erörtert werden. Dass dies aber kein einfaches Unterfangen ist, betont u. a. Avtar Brah: »Social phenomena such as racism seek to fix and naturalize ›difference‹ and create impervious boundaries between groups.«83 Hierbei stellt sich die Frage wie literarische Texte derartige ›Ungleichheiten‹ narrativ ausgestalten und welche Rolle einer verkörperten Differenz durch Hautfarben oder Physiognomien sowie durch Signaturen von Animalität oder Dis/Ability zukommt. Diese werden sowohl mit kulturellen oder religiösen Praktiken verknüpft als auch durch sozial-räumlich orientierte Verweise in der Erzählwelt verortet.84 Im literarischen Erzählen ist allerdings auch eine Umkehrung der Perspektiven vorgesehen, wenn beispielsweise die ›Anderen‹ die Mechanismen der Produktion, Konstruktion oder Regulation von ›Ungleichheit‹ aus ihrer Sicht einschätzen oder zu ihrem eigenen Nutzen wenden.85 Dabei gerät eine Abweichung von der Norm auch als Handlungsermächtigung, als Möglichkeit partieller Teilhabe und Entpflichtung von bestimmten sozialen Rollen oder als Raum unkonventionellen Verhaltens und eigensinniger Erfahrung in den Blick.86 In engem Zusammenhang mit den vorgestellten Kategorien sozialer Differenzierung wird in der Intersektionalitätsforschung wiederholt auf drei Dimensionen abgehoben, in denen sich intersektionale Positionierungsprozesse handlungspraktisch realisieren: Körper, Emotion und Raum. Diese sind nicht auf der gleichen analytischen Ebene anzusiedeln, wie sozial differenzierende 82 Vgl. Lutz, Helma: Differenz als Rechenaufgabe. Über die Relevanz der Kategorien Race, Class und Gender. In: Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Hg. v. Ders. u. Wenning, Norbert. Opladen 2001, S. 215–230, S. 220f. 83 Brah, Avtar : Difference, Diversity and Differentiation. In: ›Race‹, Culture and Difference. Hg. v. Donald, James u. Rattansi, Ali. London 1992, S. 126–148, hier S. 143. 84 Vgl. die Beiträge von Mecklenburg und Schul in diesem Band. 85 Vgl. Waldschmidt, Anne: Geschlecht und Behinderung intersektional denken: Anschlüsse an Gender Studies und Disability Studies. In: Gender in Bewegung. Aktuelle Spannungsfelder der Queer und Gender Studies. Hg. v. Kleinau, Elke. Bielefeld 2013, S. 151–163; Raab, Heike: Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht. In: Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Hg. v. Waldschmidt, Anne u. Schneider, Werner. Bielefeld 2007, S. 127–148; Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht. Hg. v. Jacob, Jutta u. a. Bielefeld 2010. 86 Vgl. Waldschmidt, Anne: Jenseits der doppelten Diskriminierung? Disability, Gender und die Intersektionalitätsdebatte. In: Vielfalt und Zusammenhalt. Verhandlungen des 36. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bochum und Dortmund 2012. Teilbd. 2. Hg. v. Löw, Martina. Frankfurt a. M., New York 2014, S. 871–883, hier S. 881. Vgl. hierzu auch die Beiträge von Mecklenburg, Musiol und Winst in diesem Band.

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bzw. identitätsstiftende Kategorien, stehen zu ihnen aber in einem engen Wechselverhältnis. Wie diese Relationierung analytisch zu erfassen ist und auf welche Weise die Dimensionen eine narrative Weltgestaltung bedeutungstragend beeinflussen können, gilt es konkreter zu bestimmen. Zahlreiche Arbeiten zu Intersektionalität betonen, unabhängig von ihrer disziplinären Verortung und ihren konkreten Untersuchungsgegenständen, die fundamentale Bedeutung des Körpers für die Prozesse sozialer Positionierung und Differenzierung. Aufgrund dieser Relevanz wird ›Körper‹ bisweilen auch als Intersektionalitätskategorie gehandelt. Degele und Winker denken ›Körper‹ neben class, race und gender sogar als Strukturkategorie, die auf der Makroebene kapitalistischer Gesellschaften der Gegenwart in der Normierung und Optimierung wirksam werde.87 Aus unserer Sicht ist der ontologische Status von ›Körper‹ jedoch ein anderer als der von anderen Differenzierungskategorien, zu denen ›Körper‹ gewissermaßen quer liegt. Dies zeigt sich beispielsweise in körpersoziologischen Konzeptualisierungen, die den Körper zumeist als Vermittlungsmodus zwischen Individuum und Gesellschaft oder Struktur und Handeln begreifen. So kann ›Körper‹ etwa mit Erving Goffman als jene »Instanz« beschrieben werden, »mit der wir der Welt begegnen.«88 Dies betonen in ähnlicher Weise auch neuere praxeologische Ansätze, wenn sie argumentieren, dass alle sozialen Praktiken in der einen oder anderen Weise Tätigkeiten von Körpern darstellen.89 Auch aus phänomenologischer Perspektive, die sich vor allem für den individuell erfahr- und spürbaren ›Körper-Leib‹ interessiert, wird dieser als »Bindeglied zwischen Individuum und objektiver sozialer Struktur« verstanden.90 In der Wissenssoziologie ist besonders die vermittelnde Funktion von Körpern ins Zentrum gerückt wor87 Vgl. Winker u. Degele [Anm. 20], S. 51–53. 88 Goffman, Erving: Interaktion und Geschlecht. Hg. u. eingeleitet v. Knoblauch, Hubert A. mit einem Nachwort von Kotthoff, Helga. Frankfurt a. M., New York 1994, S. 152: »Wo auch immer ein Individuum sich befindet und wohin auch immer es geht, es muß seinen Körper dabei haben.« Vgl. in diesem Sinne auch Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einfu¨hrung in die Körpergeschichte, Tu¨ bingen 2000 (Historische Einfu¨ hrungen 4), S. 20–21: »Das menschliche Denken und Handeln ist qua menschlicher Physis zwangsläufig körperfixiert. Ohne Körper ist die Welt weder erfahrbar noch auslegbar.« 89 Vgl. Schatzki, Theodore R.: Social Practices. AWitgensteinian Approach to Human Activity and the Social. Cambridge 1996, S. 89; Schatzki, Theodore R.: The Site of the Social. A philosophical account of the constitution of social life and change. University Park, PA 2002, S. 72 u. S. 117; Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), S. 282–301, hier S. 290; Ders.: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Mit einem Nachwort zur Studienausgabe 2006: Aktuelle Tendenzen der Kulturtheorien. Weilerswist 2006, S. 36; Hirschauer, Stefan: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns. In: Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Hg. v. Hörning, Karl H. u. Reuter, Julia. Bielefeld 2004, S. 73–91. 90 Lindemann, Gesa: Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefu¨hl. Frankfurt a. M. 1993, S. 31, hier Anm. 31.

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den, wenn von diesem als einer kulturellen Repräsentationsfläche91 und einem »Wissensspeicher sozialer Zugehörigkeit«92 gesprochen wurde. Um diese Vermittlungsprozesse beschreibbar zu machen, hat Pierre Bourdieu den Begriff der Inkorporierung geprägt. Für ihn ist Körper ein »habituelles Prinzip der Vergesellschaftung«,93 womit beschrieben ist, dass die Gesellschaftlichkeit nicht von außen an uns herangetragen wird, sondern in Form von zur Gewohnheit geronnenen Praktiken gewissermaßen in uns Platz findet. Diese Konzeptualisierungen sind unserer Auffassung nach Grund genug, um dem Körper in Intersektionalitätsanalysen einen Sonderstatus zuzuweisen, weswegen wir im Folgenden von ›Körper‹ als einer Dimension sozialen Handelns sprechen. Damit richten wir den Blick auf jene Prozesse der Verkörperung, mit denen intersektionale Positionierungen am und mit dem ›Körper‹ sichtbar sind bzw. sichtbar gemacht werden und fokussieren den Körper als einen »Aushandlungsort«94 intersektionaler Positionierungs- und Differenzierungsprozesse. Dies scheint in historischer Perspektive insbesondere für vormoderne Gesellschaften angezeigt, haben doch zahlreiche Studien darauf hingewiesen, wie zentral die angemessene Verkörperung sozialer Positionen bzw. der artikulierten Ansprüche auf sie ist.95 In diesem Sinne sind auch und gerade die erzählten Bewährungsproben immer als körperliche Akte der Performanz zu verstehen. Entsprechend arbeiten in diesem Band eine ganze Reihe von Autor_innen die Bedeutungen des Körpers für intersektionale Positionierungen heraus.96 91 Vgl. zu diesem Ansatz bspw. Grosz, Elizabeth: Inscriptions and Body-Maps. Representations and the Corporeal. In: Feminine, Masculine and Representation. Hg. v. Threadgold, Terry u. Francis, Anne Cranny. Boston, Sydney 1990, S. 62–74. 92 Degele, Nina: Sich schön machen. Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln, Wiesbaden 2004, S. 16. 93 Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001, S. 171–172. Vgl. auch Ders.: LeÅon sur la leÅon. In: Ders.: Sozialer Raum und »Klassen«. LeÅon sur la leÅon. Zwei Vorlesungen. Mit einer Bibliographie der Schriften Pierre Bourdieus v. Dessault, Yvette. Frankfurt a. M. 1985, S. 69. Der Leib sei Teil der Sozialwelt sei »wie die Sozialwelt Teil des Leibes«. 94 Schul [Anm. 3], S. 45–51. Vgl. in ähnlicher Weise auch Kraß [Anm. 3], S. 14 u. S. 17, der den Körper im Sinne einer »übergreifende[n] Dimension« als »Garant oder Medium« sowie als »Schauplatz der Kategorien« bezeichnet. 95 Vgl. etwa Freist [Anm. 69]; Füssel, Marian: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Fru¨ hen Neuzeit. Darmstadt 2006; Rublack, Ulinka: Dressing Up. Cultural Identity in Renaissance Europe. Oxford, New York 2010; Böth [Anm. 3], bes. S. 429; Dies. [Anm. 4], S. 87 u. Mareike Böth: daß mein leib mein seye: Selbstpositionierungsprozesse im Spiegel erzählter Körperpraxis in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652–1722). In: Diskurse Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, Hg. v. Freist, Dagmar. Bielefeld 2015 (Praktiken der Subjektivierung), S. 221–242, hier S. 226–227. 96 Vgl. die Beiträge von Kahlmeyer, Becker, Winst, Musiol, Neußel-Fischer und Schul in diesem Band.

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Eine wichtige Kritik an intersektionalen Perspektiven auf den Körper formuliert die Soziologin Paula Irene Villa. Sie argumentiert, dass Verkörperungsprozesse aufgrund ihrer somatischen Fundierung derart komplex seien, dass sie »über jeden kategorialen Rahmen« hinausgingen.97 Gleichwohl kann Intersektionalität aus ihrer Sicht ein hilfreiches Konzept sein, wenn es »als eine Art Gedächtnisstütze« angewandt werde, um sich »die Komplexität und Intersektion vieler konstitutiver Kategorien bewusst zu halten«98. Ganz in diesem Sinne scheint es uns besonders weiterführend, in der literarturwissenschaftlichen Textanalyse auch nach der Bedeutung von »intersektionalen Emotionalisierungsprozessen« zu fragen,99 also nicht nur zu thematisieren, wie intersektionale Positionierungen sichtbar,100 sondern auch wie sie auf der Handlungsebene gefühlt werden bzw. erzählend »fühlbar« gemacht werden.101 Ähnlich wie ›Körper‹ und ›Emotion‹ ist auch ›Raum‹ als eine Dimension zu betrachten, in der intersektionale Positionierungen sich handlungspraktisch realisieren.102 Zum einen strukturieren Räume soziales Handeln bzw. Kommunizieren vor, zum anderen werden sie durch spezifische Kommunikations- und Handlungsprozesse (re-)produziert.103 Wenn Räume in diesem Sinne dadurch entstehen (bzw. reproduziert werden), dass sie »aktiv durch Menschen verknu¨ pft werden«, ist entscheidend, wie die Akteur_innen positioniert sind, die einen Raum konstituieren. Zugänge und Ausschlüsse aus Handlungsräumen entfalten also privilegierende oder diskriminierende Wirkungen auf die intersektionale Positionierung von Figuren im Handlungszusammenhang.104 Schon aufgrund der unterschiedlichen Tiefe, Dichte, Komplexität und Relevanz sind Räume in mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur als diskontinuierlich zu verstehen. Raumwechsel und Raumorganisationen der Figuren können zum einen abrupt und unmittelbar erfolgen, zum anderen werden räumliche Erfahrungen aber auch in ihrer sozialen oder symbolischen Bedeutung ausgestellt. Raumdarstellungen erscheinen im vormodernen Erzählen nicht als eine der Handlung vorgängige Ordnung, sondern sind auf diese funktional bezogen und präsentieren sich als abhängig von Figurenwahrnehmung und Figureninteraktion.105 Ohne die theoretischen Bezüge zu Körper, Emotion/Affekt und Raum an 97 Villa [Anm. 61], S. 216. 98 Ebd., S. 218. 99 Vgl. die Beiträge von Schul und Mecklenburg in diesem Band. Vgl. zur historischen Emotionalitätsforschung [Anm. 11]. 100 Vgl. Knapp [Anm. 29]. 101 Nach »intersektionalen Fühlbarkeiten« fragt etwa Böth [Anm. 69]. 102 Vgl. dazu auch Kraß [Anm. 3], S. 17. 103 Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, S. 131, S. 154, S. 158 u. S. 226. 104 Vgl. hierzu die Beiträge von Winst, Schul und Böth in diesem Band. 105 Vgl. Störmer-Caysa, Uta: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin 2007, S. 70–75; Schulz [Anm. 49] S. 292–321.

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dieser Stelle intensiver darlegen zu können, gilt für den Anwendungskontext im vorliegenden Band: Sowohl Interaktionen als auch Praktiken sind als verkörpert, verräumlicht und emotionalisiert zu betrachten und in der Berücksichtigung dieser Dimensionen liegt aus unserer Perspektive ein Schlüssel zum Verständnis von intersektionalen Positionierungsprozessen in literarischen Texten und ihren kulturhistorischen Kontexten. Neben den Differenzkategorien und den Dimensionen des sozialen Handelns machen einige Beiträge in diesem Band spezifische Handlungskonzepte zum Ausgangspunkt ihrer Analysen, die auf der Interaktionsebene der literarischen Texte bedeutsam sind und zugleich durch die Texte diskursiv geformt werden. Der Verweiszusammenhang zwischen diesen erzählten Handlungskonzepten und der kulturhistorischen Kontextebenen variiert im Einzelfall. Während beim Konzept der ›Minne‹ je nach Gattungs- und Diskurszusammenhang unterschiedliche Formen der Verbindung zu einem »kollektiven Imaginären der Adelsgesellschaft«106 zu finden sind,107 kann beispielsweise für das Konzept des ›Glücks‹ im 18. Jahrhundert gezeigt werden, wie fiktionale literarische Diskurse im engeren Sinne und (in anderen Genres) lebensweltlich erzählte Praktiken miteinander interagieren.108 Auch wenn die Wechselwirkungen zwischen Interaktionsebene der Texte und kulturhistorischer Kontextebene also je nach Untersuchungskontext divers ausfallen, scheint es durchaus hilfreich, die literarische Ver- und Bearbeitung solcher Handlungskonzepte, die mit Reckwitz als »Praxis/Diskurs-Formationen«109 beschrieben werden können, zum methodischen Ansatzpunkt einer intersektionalen literaturwissenschaftlichen Analyse zu machen.

106 Schulz [Anm. 49], S. 19. 107 Vgl. zur hohen Minne bspw. Harald Haferland und die aus seiner Studie resultierende Diskussion zum Fiktionalitätsstatus der Minne-Kanzone und dem darin entworfenen Konzept gegengeschlechtlicher Liebesbeziehung (Ders.: Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone. Berlin 2000 (Beihefte zur ZfdPh 10). Vgl. zum Wechselverhältnis von Text und Kontext Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007. Vgl. auch Schulz [Anm. 49], S. 19–26. 108 Vgl. hierzu den Beitrag von Böth in diesem Band. 109 Vgl. zu Begriff und zu der damit verbundenen Kombination von diskursanalytischem und praxeologischem Vorgehen Reckwitz, Andreas: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation. In: Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Hg. v. Kalthoff, Herbert u. a. Frankfurt a. M. 2008, S. 188–209. Diskurse können mit Reckwitz als »Praktiken der Repräsentation« begriffen werden. Praktiken in literarischen Texten können als diskursivierte bzw. erzählte Praktiken ebenfalls zum Ausgangspunkt praxeologischer Analysen werden.

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III.

Susanne Schul / Mareike Böth

Literarisches Erzählen, Gattungskonventionen, fiktionaler Möglichkeitsraum

Die Betonung der Schwierigkeit und der Komplexität des literarischen Erzählens, die die Erzählinstanz des »Parzival«-Prologs als den vermeintlichen Wunsch nach der eigenen Vervielfältigung entwirft – nu l.t m%n eines wesen dr% (V. 4,1) –, folgt einen verbreiteten literarischen Topos, der die eigene außergewöhnliche Befähigung und ästhetische Gestaltungskraft – dar zuo gehirte wilder funt (V. 4,5) – nur umso deutlicher zu betonen sucht. Dabei erhält der Akt des erneuernden Erzählens selbst Ereignispotential: ein mære wil i’u niuwen / daz seit von grizen triuwen (V. 4,9f.). Die mære wird wieder- und weitererzählt, so dass der Reiz für die Rezipient_innen darin besteht, bekannte Geschichten in aktualisierter und transformierter Gestalt präsentiert zu bekommen.110 Die Aufmerksamkeit richtet sich somit nicht nur auf das ›Was‹, sondern auch auf das ›Wie‹ der Erzählung und die Freude am Neuen verbindet sich mit der Lust am Wiedererkennen. Wenn grize triuwen dabei zum zentralen Motiv der Geschichte erklärt werden, so verweist dieser facettenreiche Begriff ebenso auf grundlegende personelle und rechtsbindende Verhältnisse, die das soziale Miteinander strukturieren und stabilisieren, wie auf höfische Standesideale und literarische Tugendkonzepte. So werden im »Parzival« verschiedenartige Beziehungs- und Bindungsformen entworfen, wenn triuwe-Konstellationen beispielsweise zwischen Liebenden und zwischen Freunden oder zwischen Gott und den Menschen ausgehandelt werden.111 Der höfische Roman zeigt die Konstruktion von literarischen Identitäten in ihrer ganzen Fülle und entfaltet dabei geschlechts-, standes-, alters-, herkunfts-, erziehungs- und religionsbezogene Formationen in einem fiktionalen Möglichkeitsraum, die zum einen auf Handlungsebene austariert werden, die ihre Wirkung aber auch für Erzählverfahren und Textorganisation zeigen.112 Das Verständnisrepertoire hierfür muss im »Parzival« erst von den Rezipient_innen erschlossen werden, verlangt der Text doch auch, Wen-

110 Vgl. Ehrismann [Anm. 5], S. 24f. 111 Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. 7., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 1997, S. 34; Ehrismann [Anm. 5], S. 211f. 112 Vgl. Seelinger u. Knüttel [Anm. 3], S. 14f.; Winker u. Degele [Anm. 20], S. 74; Kablitz, Andreas: Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler. In: Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag. Hg. v. Rajewsky Irina O. u. Schneider, Ulrike. Stuttgart 2008, S. 13–44. Vgl. zum Potential fiktionalen Erzählens u. a. Susanne Schul, die Literatur als »Möglichkeitsraum« interpretiert (Dies. [Anm. 3], S. 62) sowie Folkert Degenring, der sie als »Experimentier- und Probierfeld« ausweist (Ders. [Anm. 42], S. 137). Vgl. auch Andreas Kraß, der von einem »Imaginationsraum« spricht (Ders. [Anm. 3], S. 18).

Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹: Vormoderne intersektional

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dungen und Widersprüche als narratives Potential nachzuvollziehen.113 Implizit wird damit auf eine literaturtheoretische Herausforderung vormoderner Literatur verwiesen, da sie – zumindest aus heutiger Sicht – in besonderem Maße durch unkonventionelle Erzählverfahren, handlungslogische Brüche und Leerstellen, durch Redundanzen und Inkohärenzen der Motivationsstruktur geprägt ist.114 Das paradoxe Wechselspiel von Erzählereignis und erzähltem Ereignis ist dabei gebunden an kulturhistorische Traditionen und gattungsbezogene Konventionen, so dass sich die Erzählinstanz im »Parzival« bei ihrem erneuernden Erzählen immer wieder dazu aufgefordert sieht, sich zum einen im bereits ›Bekannten‹ zu verorten und sich zum anderen ›selbständig‹ zu machen. Diese Herausforderung lässt sich wiederum an das Konzept der .ventiure zurückbinden.115 Denn es verweist nicht nur auf der Handlungsebene auf eine Ereignishaftigkeit des erzählten Geschehens, sondern gehört seit dem späten 12. Jahrhundert auch zum Wortschatz der Selbstbeschreibung der Erzählkunst. In der höfischen Dichtung werden somit zum einen die literarischen Vorlagen 113 Vgl. Green, Dennis Howard: The art of recognition in Wolfram’s ›Parzival‹. Cambridge 1982; Haug, Walter : Die Symbolstruktur des höfischen Epos und die Auflösung bei Wolfram von Eschenbach. DVjs 45 (1971), S. 668–705, hier S. 699ff.; Ders.: Strukturen als Schlüssel der Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 508ff. 114 Vgl. Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998; Ders.: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007; Hübner, Gert: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ›Eneas‹, im ›Iwein‹ und im ›Tristan‹. Tübingen 2003 (Bibliotheca Germanica 44); Haferland, Harald: »Das Mittelalter als Gegenstand der kognitiven Anthropologie. Eine Skizze zur historischen Bedeutung von Partizipation und Metonymie«. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 126 (2004), S. 36–64; Heinzle, Joachim: Traditionelles Erzählen. Zur Poetik des ›Nibelungenliedes‹. Mit einem Exkurs über »Leerstellen« und »Löcher«. In: Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis. Fs. Für Fritz Peter Knapp zum 65. Geburtstag. Hg. v. Hennings, Thordis u. a. Berlin, New York 2009, S. 59–76, hier S. 75f.; Haferland, Harald u. Schulz, Armin: Metonymisches Erzählen. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 84 (2010), S. 3–43; Historische Narratologie – mediävistische Perspektiven. Hg. v. Haferland, Harald u. Meyer, Matthias. Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology 19); Peters, Ursula: Philologie und Texthermeneutik. Aktuelle Forschungspositionen der Mediävistik. In: IASL 36, 1 (2011), S. 251–282; Schulz [Anm. 49], S. 18–28; Kargl, Florian u. Schneider, Christian: Einleitung. In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hg. v. Dens. Heidelberg 2013, S. 1–26, hier S. 6f. 115 Vgl. Brall, Helmut: Diz vliegende b%spel. Zu Programmatik und kommunikativer Funktion des Parzivalprologs. Euphorion 77 (1983), S. 1–39, hier S. 5ff.; Bumke, Joachim: Die Wolfram von Eschenbach-Forschung seit 1945. München 1970, S. 275ff.; Haug, Walter : Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2., überarb. und erw. Aufl. Darmstadt, 1992, S. 161f.; Rupp, Heinz: Wolframs ›Parzival‹-Prolog. In: Wolfram von Eschenbach. Hg. v. Dems. Darmstadt 1966 (WdF 57), S. 369–387, hier S. 370ff.

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der Erzählung, zum anderen aber auch die (eigene) Erzählung als Ganzes oder in Teilen als .ventiure bezeichnet.116 Das Konzept der .ventiure bezieht sich folglich auf unterschiedliche Ebenen, denen es im Folgenden nachzugehen gilt. ffventiure verweist zum einen auf Anverwandlungen bekannter und etablierter Handlungsmuster auf der Figurenebene, strukturiert zum anderen den Gang der Erzählung und bezieht außerdem poetologische Modelle differenter Gattungskonventionen und gesellschaftliche Kontexte ein. Diesem Spannungsfeld zwischen Alterität und Konstanten, zwischen historisch-kultureller Distanz und Nähe im Erzählen wenden sich kontext- und kulturorientierte Ansätze der Narratologie zu. Sie entwickeln genuin historische, d. h. auf dem historischen Material fußende und für dieses operationalisierte Zugriffe und Analyseverfahren. Dieser Ausrichtung entsprechend gilt es, das Narrative als eine gattungs- und medienübergreifende kulturelle Praxis zu verstehen, deren spezifisch mittelalterlich-frühneuzeitliche Modi der Sinnerzeugung, Handlungsmotivation und Weltentwürfe im Medium der Literatur im Folgenden im Fokus stehen. Da eine formal-strukturalistische Narratologie allerdings keine Kategorien bereitstellt, die sich speziell auf differenzbezogene Besonderheiten der Erzählweise beziehen, weil diese vermeintlich nicht zu ihrem Gegenstand gehören, galt und gilt es sich der kritischen Reflexion, Neuorientierung und Historisierung narratologischer Zugänge zuzuwenden.117 Feministische Perspektiven und genderorientierte Ansätze bieten hierfür bereits eine breite Ausgangsbasis an, da sie weitreichende Konsequenzen der Differenzkategorie gender für Thematik, Handlung und Struktur literarischer Texte nachgewiesen haben.118 Aus mediävistischer Perspektive hat besonders Simon 116 Vgl. Ehrismann [Anm. 5], S. 24f.; Haug, Walter: Vom Imram zur Aventiure-Fahrt. Zur Frage nach der Vorgeschichte höfischer Epenstruktur. Wolfram-Studien 1 (1970), S. 264–298. 117 Vgl. Haferland/Meyer [Anm. 115]; Braun, Manuel: Alterität als germanistisch-mediävistische Kategorie: Kritik und Korrektiv. In: Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität. Hg. v. Dems. Göttingen 2013 (Aventiuren 9), S. 7–40, hier S. 27f.; Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hg. v. Becker, Anja u. Mohr, Jan (Deutsche Literatur, Studien und Quellen 8), Berlin 2012; Ernst, Ulrich: Die natürliche und die künstliche Ordnung des Erzählens. Grundzüge einer historischen Narratologie. In: Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Hg. v. Zymner, Rüdiger. Köln 2000, S. 179–199; Fludernik, Monika: The diachronization of narratology. In: Narrative 11 (2003), S. 331–348; Dies: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt 32010, S. 124–133; Martínez u. Scheffel [Anm. 49]; Martínez, Mat&as: Erzählen. In: Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Hg. v. Dems. Stuttgart 2011, S. 1–11; Sommer, Roy : Contextualism Revisited. A Survey (and Defence) of Postcolonial and Intercultural Narratology. Journal of Literary Theory 1 (2007), S. 61–79. 118 Vgl. Allrath, Gaby u. Gymnich, Marion: Feministische Narratologie. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hg. v. Nünning, Vera u. Nünning, Ansgar. Trier 2002 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4), S. 35–73; Allrath, Gaby u. Gymnich, Marion: Neue Entwicklungen in der gender-orientierten Erzähltheorie. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hg. v. Nünning, Vera u. Nünning, Ansgar. Stuttgart 2004,

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Gaunt auf den vielfältigen Zusammenhang von literarischen Gattungen und den in ihnen vorgegebenen, erzeugten und transportierten Geschlechtermodellen aufmerksam gemacht.119 Da die mittelalterliche Volkssprache zwar keine eigenständige deskriptive oder normative Gattungspoetik ausgebildet hat, sie in der literarischen Praxis aber sehr wohl ein Bewusstsein für unterschiedliche Textsorten, Genres und gattungsspezifisches Schreiben ausstellt, müssen vormoderne Modelle des strukturellen Bedeutungsaufbaus aus den literarischen Texten selbst rekonstruiert werden.120 Gaunt sucht diesen terminologischen und typologischen Unbestimmtheiten mittelalterlicher Gattungssysteme zu begegnen, indem er am Beispiel altfranzösischer Literatur Kriterien der Gattungsbestimmung und -abgrenzung entwickelt, die sich an den je eigenen und genrespezifischen gender-Entwürfen orientieren.121 Diesen Ansatz aufgreifend gilt es, aus einer intersektionalen Perspektive heraus narratologische Ansätze für die Berücksichtigung mehrerer Dimensionen sozialer Differenz sowie für Identitätskonstruktionen zu öffnen und zu untersuchen, wie im Akt des Erzählens Prozesse der Differenzierung und Hierarchisierung entworfen werden.122 Hierbei sollen allerdings nicht nur we-

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S. 33–48; Nünning, Vera u. Nünning, Ansgar: Von der feministischen Narratologie zur gender-orientierten Erzähltextanalyse. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hg. v. Dens. Stuttgart 2004, S. 1–32; Nieberle, Sigrid u. Strowick, Elisabeth: Narrating Gender. Einleitung. In: Narration und Geschlecht. Texte – Medien – Episteme. Hg. v. Dens. Köln 2006 (Literatur – Kultur – Geschlecht Große Reihe 42), S. 7–22; Nünning, Vera u. Nünning, Ansgar : Making Gendered Selves. Analysekategorien und Forschungsperspektiven einer gender-orientierten Erzähltheorie und Erzählanalyse. In: Narration und Geschlecht. Texte – Medien – Episteme. Hg. v. Nieberle, Sigrid u. Strowick, Elisabeth. Köln 2006 (Literatur – Kultur – Geschlecht Große Reihe 42), S. 23–44; Dausien, Bettina: Erzähltes Leben – erzähltes Geschlecht? Aspekte der narrativen Konstruktion von Geschlecht im Kontext der Biographieforschung. In: Feministische Studien 19,2 (2001), S. 57–73; Opitz-Belakhal, Claudia: Geschlechtergeschichte. Frankfurt a. M., New York 2010 (Historische Einführungen 8), S. 32. Vgl. Gaunt [Anm. 6]. Vgl. Schulz [Anm. 49], S. 120f. Gaunts Ausgangspunkt ist die Analyse der Konstruktion von Männlichkeit in den chansons de geste, die er vor allem durch eine mann-männliche Relationierung bestimmt. Hieran anschließend bezeichnet er Männlichkeitskonzepte als ›dialogisch‹, wenn sie in Relation zum Weiblichen Gestalt finden, und als ›monologisch‹, wenn diese Relation ausgeblendet bleibt (Ders. [Anm. 6], S. 43 u. S. 85). Vgl. zur Kritik an dieser Oppositionsbildung u. a. Meyer, Matthias: Monologische und dialogische Männlichkeit in Rolandsliedversionen. In: Baisch [Anm. 6], S. 25–50, hier S. 30f. Vgl. Nünning, Vera u. Nünning, Ansgar: Von der strukturalistischen Narratologie zur ›postklassischen‹ Erzähltheorie. Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hg. v. Dens. Trier 2002a (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4), S. 1–34; Nünning, Vera u. Nünning, Ansgar: Produktive Grenzüberschreitungen: Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hg. v. Dens. Trier 2002b (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium

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sentliche Merkmale einer Gattung beschrieben werden, sondern es stellt sich die Frage, wie die Handlungsführung und -fügung davon bestimmt wird, dass vorgefundene Themen, Motive und Stoffe im Rahmen je besonderer gattungsbezogener Vorgaben angeordnet und weiterentwickelt werden. So bewegen sich im literarischen Erzählen nicht nur die handelnden Figuren innerhalb von Konkurrenz- und Positionierungsmustern, sondern auch die Texte selbst sind durch den Widerstreit konkurrierender Normen und Werte geprägt. Spannungen unterschiedlicher Konventionen und Gegensätze widersprüchlicher Traditionen werden im Prozess des Erzählens immer wieder vorgeführt, Handlungsfolgen abgewogen und Hierarchien ausgestellt, so dass die je eigenen Erzähllogiken durch Annäherungs- und Abgrenzungsverfahren zu anderen narrativen Gattungen profiliert werden.123 Für die höfische Literatur und ihre jeweiligen Gattungskontexte mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählens erweisen sich dabei unterschiedliche Konfliktpotenziale als bestimmend, die den jeweiligen Erzähltypus prägen. Deren narrative Wirkungsgrade gilt es zu erfassen und zu analysieren. Auf diese Weise lassen sich mithilfe differenzkategorialer Problemkonstellationen zum einen spezifische Konventionen und Merkmale einer Gattung, ihrer narrativen Arrangements und poetischen Modelle herleiten und systematisieren. Zum anderen können umgekehrt die textund motivstrukturellen Logiken darüber Aufschluss geben, wie bestimmte Intersektionen die Handlungsmotivation und den Zusammenhalt im Erzählverlauf formen. Die in diesem Band vertretenen Beiträge nehmen vielfältige mittelalterliche und frühneuzeitliche Texte sowie deren jeweilige gattungsspezifischen Erzählverfahren, Logiken der Textorganisation, Fragen der Motivation, Handlungs- und Interaktionsmuster sowie Normen- und Wertsetzungen in den Blick. So werden im Folgenden sowohl höfische Romane, Legenden- und Prosaromane als auch Märe, Tier- und Heldenepik exemplarisch untersucht. Der vorliegende Band erprobt hierbei den mehrfachen Transfer einer traveling theory, indem er eine Pendelbewegung zwischen disziplinären und interdisziplinären Aushandlungsprozessen verfolgt. Zum einen bedeutet das, dass eine kulturhistorisch und theoriekritisch ausgerichtete Literaturwissenschaft 5), S. 1–22; Sommer, Roy : Erzählforschung als Kulturwissenschaft: Erkenntnisinteressen, Ansätze und Fragestellungen der postklassischen Narratologie. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 63, 1 (2013), S. 85–101; Nünning, Ansgar : Towards a cultural and historical narratology. A survey of diachronic approaches, concepts, and research projects. In: Anglistentag 1999 Mainz. Hg. v. Reitz, Bernhard u. Rieuwerts, Sigrid. Trier 2000, S. 345–373; Nünning, Vera u. Nünning, Ansgar: ›Gender‹-orientierte Erzähltextanalyse als Modell für die Schnittstelle von Narratologie und intersektionaler Forschung? Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen, Schlüsselkonzepte und Anwendungsperspektiven. In: Klein u. Schnicke [Anm. 3], S. 33–60; Schnicke [Anm. 3], S. 1–32; Schul [Anm. 3], S. 50–60 u. S. 61–78. 123 Vgl. Schulz [Anm. 49], S. 119.

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›neue‹ Perspektiven in einer produktiven Verknüpfung von Narratologie und Intersektionalität bereitstellen kann. Zum anderen fordert diese disziplinäre Aneignung aber auch direkt zu einer kritischen Re-Lektüre aus einer sozialwissenschaftlichen Sicht auf.124 Auf diese Weise wird ein interdisziplinärer Austausch darüber forciert, welche Möglichkeiten und Erwartungen eine intersektionale Untersuchungsperspektive eröffnet, welche Differenzkonstruktionen und Ungleichheitsrelationen im literarhistorischen Forschungsfeld hervortreten und welche wechselseitigen Impulse sich hieraus für unterschiedliche Disziplinen, Untersuchungsgegenstände und Zugriffe ergeben können. Ziel des vorliegenden Bandes ist es also, die mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur als kulturelle Repräsentationen unter Berücksichtigung verschiedener Kategorien von Differenz und Hierarchie in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, welche methodologischen Herausforderungen und kulturhistorisch spezifischen Erkenntnisse sich mit dieser intersektionalen Perspektive verbinden – demgemäß: nu hœrt dirre .ventiure site.125

124 Vgl. hierzu den soziologischen Kommentar von Bereswill in diesem Band. 125 Es gibt eine Reihe von Personen, ohne die dieser Band nicht zustande gekommen wäre. Besonders danken möchten wir : Mechthild Bereswill, die die theoriebezogene .ventiureFahrt dieses Bandes mit dem ihr eigenen Scharfsinn durch eine sozialwissenschaftliche ReLektüre einzelner Beiträge in einen interdisziplinären Dialog einbindet; Peter Bendel für die Gestaltung des Coverbildes; der Universitätsbibliothek Heidelberg für die Bereitstellung des Bildmaterials und die Übertragung der Bildrechte; Natalie Schmidt und Johanna Kahlmeyer für die tatkräftige redaktionelle Unterstützung bei der Vorbereitung des Bandes und den Herausgeber_innen der »Aventiuren« für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe. Gewidmet sei dieser Band unserer Kollegin und Freundin Claudia Brinker-von der Heyde, die sich in den Jahren ihrer beruflichen Tätigkeit an der Universität Kassel wie kaum eine andere für die fachliche und institutionelle Förderung eines offenen interdisziplinären Austauschs eingesetzt hat. Vielen herzlichen Dank dafür!

Johanna Kahlmeyer

jugent hât vil werdekeit, / daz alter siuften unde leit (V. 5,13f.) – ›Alter‹ als interdependente Kategorie im »Parzival« Wolframs von Eschenbach

Das titelgebende Zitat verdeutlicht die Differenz, die jungen und alten Figuren hinsichtlich ihrer Lebensqualität von der Erzählinstanz im »Parzival« zugeschrieben werden. Während die Jugend über Würde, hohes Ansehen und Ehre verfügt, bleibt im Alter nur Seufzen und Klagen sowie die Erfahrung von Leid, Schmerz und Krankheit. Die Aussage von der werdekeit der Jugend und dem leit des Alters steht im größeren Zusammenhang einer Erbschaftsregelung und stellt damit einen interdependenten Zusammenhang von ›Alter‹ und ›Stand‹ bzw. ›Besitz‹ her : daz der altest bruoder solde h.n / s%ns vater ganzen erbeteil. / daz was der jungern unheil, / […] d. vor was ez gemeine: / sus h.tz der alter eine. / daz schuof iedoch ein w%se man, / daz alter guot solde h.n. / jugent h.t vil werdekeit, / daz alter siuften unde leit. / ez enwart nie niht als unfruot, / si alter unde armuot. (V. 5,4–5,16).1

Bereits in diesen wenigen Versen zeigen sich verschiedene Abstufungen und Wertungen von Alter, die Folgendes deutlich machen: Alter wird im »Parzival« wie auch in anderen Texten der höfischen Epik nicht anhand konkreter Altersangaben in Jahren definiert, sondern stets in Relation mit anderen Figuren oder Kategorien hergestellt. Entsprechend erfahren die Rezipient_innen weder, wie alt Galoes und Gahmuret zum Zeitpunkt des Todes ihres Vaters sind, noch wie groß der altersmäßige Abstand zwischen den beiden Brüdern ist. Klar ist nur, dass die fremdiu zeche (V. 5,21) einen wirtschaftlichen Nachteil für die jüngeren Geschwister in Kauf nimmt, um Altersarmut abzuwehren. Detlef Goller betont, dass die fremdiu zeche, die Sitte der Primogenitur, nicht als negativ konnotiert zu lesen sei, »da den Jüngeren durch ihre ›werdekeit‹ die Möglichkeit geboten werde, den scheinbar verlorenen väterlichen Besitz anderswo für sich selbst (wieder) zu erwerben.«2 1 Hier und im Folgenden: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Übers. v. Knecht, Peter mit Einführungen zum Text v. Schirok, Bernd. Berlin, New York 22003. 2 Goller, Detlef: »Denn was wäre die Literatur ohne die Erzählung von Familiengeschichten, Nachfolge- und Erbstreitigkeiten?«. Nachlassfragen in den höfischen Romanen des hohen

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Die Frage, ob die Erbschaftsregelung im »Parzival« zeitgenössische Rechtsprechung abbildet, ist an dieser Stelle zweitrangig, da es darum gehen soll, Strukturen von Differenz und Dominanz auf der Ebene der symbolischen Repräsentation, zu der Literatur gehört, zu untersuchen. In Hinblick auf das Zitat muss entsprechend danach gefragt werden, welche anderen Kategorien mit ›Alter‹ in einem interdependenten Zusammenhang stehen. Bei der materiellen Abwertung des jüngeren gegenüber dem älteren Bruder scheint insbesondere die interdependente Kategorie ›Stand‹ Einfluss zu nehmen, denn mit der Übernahme des guot des Vaters durch den älteren Sohn, erbt dieser auch die Pflichten des Vaters und muss sich um Land und Leute kümmern. Entsprechend ist er lokal einigermaßen gebunden und in der Möglichkeit, durch .ventiure werdekeit zu erwerben, eingeschränkt. Gahmuret unterliegt dieser Einschränkung nicht und zieht folgerichtig aus, um in der Fremde Ruhm zu erlangen. Es zeigt sich demnach, dass die Herabsetzung des Jüngeren gegenüber dem Älteren möglicherweise nicht so sehr durch ›Alter‹ hervorgebracht wird wie durch ›Stand‹ bzw. ›Rang‹, der als Unterkategorie von ›Stand‹ angelegt werden könnte. Schließlich liegen Geschwister auch im Mittelalter normalerweise nicht so weit auseinander, dass einem der beiden Altersarmut droht, während der andere noch vor Jugend strotzt. Außerdem kann gemutmaßt werden, dass implizit eine interdependente Verbindung mit der Kategorie ›Geschlecht‹ besteht, da das Erbe möglicherweise anders aufgeteilt worden wäre, wenn es sich um zwei Töchter oder Sohn und Tochter gehandelt hätte, da es einer Frau nicht möglich ist, auf .ventiure zu ziehen. Dies ist im mittelalterlichen Erbrecht festgeschrieben. Umgekehrt ließe sich bei der Behauptung, dass das (hohe) Alter nur siuften unde leit bereithalte, fragen, ob Implikationen von ›Körper‹ und ›Versehrtheit‹ die Kategorie ›Alter‹ dominieren, insbesondere wenn man leit als Krankheit oder Schmerz liest.

I.

›Alter‹ als interdependente Kategorie in der Intersektionalitätsforschung

Der Begriff der intersectionality entwickelte sich in US-amerikanischen Feminismusdebatten der 1980er Jahre und erfreut sich auch in der aktuellen Frauenund Geschlechterforschung noch großer Beliebtheit, sodass sogar von einem gegenwärtigen Intersektionalitäts-Boom gesprochen werden kann.3 Auch in den Mittelalters. In: Die Pein der Weisen. Alter(n) in Romanischem Mittelalter und Renaissance. Hg. v. Mayer, Christoph Oliver u. Stanislaw-Kemenah, Alexandra-Kathrin. München 2012 (MIRA 5), S. 179–196, hier S. 186. 3 Vgl. Knapp, Gudrun-Axeli: Zur Bestimmung und Abgrenzung von »Intersektionalität«. Überlegungen zu Interferenzen von »Geschlecht«, »Klasse« und anderen Kategorien sozialer Teilung. In: EWE 24 (2013) 3, S. 341–354, hier S. 341.

›Alter‹ als interdependente Kategorie im »Parzival« Wolframs von Eschenbach

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Geistes- und Kulturwissenschaften gewinnt die Intersektionalitätsforschung als Untersuchungsperspektive für literarische Texte immer mehr an Bedeutung: Unter anderen macht die germanistische Mediävistik diesen Analysezugriff für epische Texte des hohen Mittelalters fruchtbar, wie dieser Sammelband und viele weitere Publikationen zeigen.4 Intersektionalität ist als ein sehr offenes Konzept angelegt, das zum Containerkonzept für alles werden [kann], was sich ›kreuzt‹, oder als kreuzbar vorstellen lässt. Dass das Wort an sich nicht festlegt, dass es sich dabei um Fragen von Ungleichheit, Unterdrückung, Gefährdung, Diskriminierung handeln muss, hat wahrscheinlich ebenfalls ein Gutteil zu seiner Popularität beigetragen.5

Diese offene Konzeptualisierung und potentielle thematische Vielfalt ermöglicht es einer Vielzahl an Disziplinen, sich intersektional mit ihren Forschungsgegenständen auseinanderzusetzen. Andererseits führt sie dazu, dass es keine gemeinsame Basis, beispielsweise bei der Kategorienbildung, oder strukturierte Analyseanleitungen gibt, wenngleich immer wieder Versuche einer Konzeptualisierung der intersektionalen Untersuchungsmethoden unternommen werden.6 Für die intersektionale Analyse mittelalterlicher Literatur folgt daraus, dass neben den Kategorien auch eine Analysemethode festgelegt werden muss, da nicht davon auszugehen ist, dass es ein allgemeingültiges Verständnis von Intersektionalität gibt. Ich möchte mich dabei dem Ansatz von Katharina Walgenbach anschließen, die von interdependenten Kategorien ausgeht, da mit gegenwärtigen »Verschränkungs- und Überkreuzungsmetaphern immer noch 4 Vgl. u. a. Schul, Susanne: HeldenGeschlechtNarrationen. Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in Nibelungen-Adaptionen. Frankfurt a. M. u. a. 2014 (MeLis. Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Romanistik 14); Durchkreuzte Helden. Das »Nibelungenlied« und Fritz Langs Film »Die Nibelungen« im Licht der Intersektionalitätsforschung. Hg. v. Bedekovic´, Natasˇa u. a. Bielefeld 2014 (GenderCodes 17). Weitere Forscher_innen, die sich mit Überkreuzungen und Differenzlinien in mittelhochdeutschen Texten beschäftigen, diese aber nicht explizit als Intersektionalität labeln, sind u. a. Andrea Sieber mit ihrer Monographie: Medeas Rache. Liebesverrat und Geschlechterkonflikte in den Romanen des Mittelalters. Köln u. a. 2008 (Literatur – Kultur – Geschlecht 46); Hornung, Annabelle: Queere Ritter. Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters. Bielefeld 2012 sowie Ingrid Bennewitz u. Helmut Tervooren als Herausgeber_innen des Beiheftes der Zeitschrift für deutsche Philologie: Manl%chiu w%p, w%pl%ch man. Zur Konstruktion der Kategorien »Körper« und »Geschlecht« in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. v. Dens. Berlin 1999 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 9). 5 Knapp [Anm. 3], S. 343. 6 Vgl. Degele, Nina u. Winker, Gabriele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009, die ein Konzept zur Analyse mehrdimensionaler Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen (Mikro- und Makroebene, sowie Ebenen der Identität und der symbolischen Repräsentation) vorschlagen, wobei sie die Trias von race-class-gender um Bodyismen erweitern.

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die Vorstellung eines ›genuinen Kerns‹ sozialer Kategorien einhergeht«7. Walgenbach geht davon aus, dass sich die Kategorien nicht nur an einem Punkt überkreuzen, sondern in einem gegenseitigen Dominanzverhältnis zueinander stehen, das dauerhaft vorhanden ist. Außerdem weist sie mit Recht darauf hin, dass die Kategorien auch in sich heterogen strukturiert sind und damit von Interdependenzen zwischen interdependenten Kategorien auszugehen ist.8 Für die Kategorie ›Alter‹ folgt daraus, dass neben den Kategorien, die in bestimmten Situationen in einen interdependenten Zusammenhang mit ›Alter‹ treten, immer mit zu bedenken ist, dass ›Alter‹ auch in sich interdependent strukturiert ist und von verschiedenen anderen Kategorien bestimmt werden kann. Welche Kategorien dabei neben ›Alter‹ in den Fokus der Analyse treten sollen, wird textimmanent hergeleitet, wobei die Kategorien in ihrem kulturhistorischen Zusammenhang betrachtet werden, um zu vermeiden, dass zeitgenössische Kategorien und Perspektiven auf Gesellschaft in den Text gelesen werden.9 Des Weiteren wird ›Alter‹ im Sinne eines doing-age verstanden, das performativ hergestellt und danach bewertet wird, ob die Interaktionsprozesse der Figur den gesellschaftlichen Altersnormen entsprechen oder von ihnen abweichen.10 Dabei ist zwar einerseits davon auszugehen, dass auf der Ebene der symbolischen Repräsentation gesellschaftliche Alterszuschreibungen reproduziert werden, aber andererseits manche der literarischen Altersperspektiven Einfluss auf die gesellschaftliche Sicht auf Alter nehmen. Wie genau sich dieses Wechselverhältnis gestaltet, kann hier nicht berücksichtigt werden. Abschließend soll der Fokus auf bestehende Konzepte der Kategorie ›Alter‹ im gegenwärtigen Intersektionalitätsdiskurs und in der literaturwissenschaftlichen Mediävistik gerichtet werden. In der soziologischen Alter(n)sforschung hat die Untersuchung mehrdimensionaler Machtverhältnisse nicht zuletzt aufgrund des 7 Walgenbach, Katharina: Gender als interdependente Kategorie. In: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Hg. v. Dietze, Gabriele u. a. Opladen, Farmington Hills 2007, S. 23–64. 8 Vgl. Walgenbach [Anm. 7], S. 61. Wenn im Folgenden die Kategorien in einfachen Anführungszeichen stehen, sind damit stets interdependente Kategorien gemeint, die in einem interdependenten Verhältnis zu anderen interdependenten Kategorien stehen. 9 Vgl. dieses Vorgehen bei Schul [Anm. 4], S. 58. Vgl. hierzu auch Schul, Susanne: Abseits bekannter Pfade: Mittelalterliche Reise-Narrative als intersektionale Erzählungen. In: Intersektionalität und Forschungspraxis – Wechselseitige Herausforderungen. Hg. v. Bereswill, Mechthild u. a. Münster 2015 (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 43), S. 96–114, hier S. 100–101 und Böth, Mareike: Verflochtene Positionierungen: Eine intersektionale Analyse frühneuzeitlicher Selbstbildungsprozesse. In: Bereswill [Anm. 9], S. 78–95, hier S. 81. 10 Vgl. zum Begriff des doing und der intersektionalen Analyse auf einer Performanz-Ebene vor allem: West, Candace u. Fenstermaker, Sarah: Doing Difference. In: Doing Gender, Doing Difference. Inequality, Power, and Institutional Change. Hg. v. Dens. New York 2002, S. 55–80.

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demographischen Wandels in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Im Fokus des Forschungsinteresses steht bislang aber vornehmlich die Untersuchung des »hohen Alters« nach der Erwerbstätigkeit. Für den deutschsprachigen Bereich macht insbesondere Gertrud M. Backes eine intersektionale Analyseperspektive für die Altersforschung fruchtbar.11 Auch die Mediävistik hat Phänomene des Alter(n)s in den letzten zehn Jahren verstärkt in den Fokus des Interesses gerückt, wobei sich die historische Mittelalterforschung bislang produktiver mit ›Alter‹ im Mittelalter auseinandersetzt als die germanistische Mediävistik.12 Es ist außerdem anzumerken, dass ›Alter‹ sowohl bei der Erforschung mittelalterlicher Texte, als auch bei der Analyse postmoderner Gesellschaften häufig in einen Zusammenhang mit Krankheit und/oder Behinderung tritt.13 Alle Untersuchungen, die höfische Epik auf die Kategorie ›Alter‹ hin be11 Vgl. u. a. Backes, Getrud M. u. Clemens, Wolfgang: Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung. Weinheim, München 32008; vgl. Soziologie und Alter(n). Neue Konzepte für Forschung und Theorieentwicklung. Hg. v. Backes, Getrud. Opladen 2000 (Reihe Alter(n) und Gesellschaft 2); Zur Konstruktion sozialer Ordnungen des Alter(n)s. Hg. v. Backes, Getrud M. u. a. Leverkusen 2001 (Reihe Alter(n) und Gesellschaft 5); Altern in Gesellschaft. Ageing – Diversity – Inclusion. Hg. v. Backes, Gertrud M. u. a. Wiesbaden 2007. 12 Nachdem in den 1980er und 1990er Jahren insbesondere das Kindesalter im Zentrum des mediävistischen Interesses stand, vgl. hierzu beispielsweise folgende Monographien: Schultz, James A.: The Knowledge of Childhood in the German Middle Ages, 1100–1350. Pennsylvania 1995 (Middle Ages Series), der neben historischen Quellen auch literarische Texte des Mittelalters einbezieht; RUSS, Anja: Kindheit und Adoleszenz in den deutschen Parzival- und Lancelot-Romanen. Hohes und spätes Mittelalter. Stuttgart 2000; Winter, Matthias: Kindheit und Jugend im Mittelalter. Freiburg 1984 (Hochschulsammlung Philosophie Geschichte 6); Shahar, Shulamith: Kindheit im Mittelalter. München 1991 sowie Loffl-Haag, Elisabeth: Hört ihr die Kinder lachen? Zur Kindheit im Spätmittelalter. Pfaffenweiler 1991 (Forum Sozialgeschichte; 3), die sich ausschließlich mit historischen Quellen befassen, rückt in den letzten Jahren verstärkt das hohe Alter in den Fokus der mediävistischen Germanistik: Vgl. hierzu Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte. Hg. v. Fitzon, Thorsten u.a. Berlin, Boston 2012; Old Age in the Middle Ages and the Renaissance. Interdisciplinary Approaches to a Neglected Topic. Hg. v. Classen, Albrecht. Berlin, New York 2007 (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 2) und Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Internationaler Kongress. Krems an der Donau 16. bis 18. Oktober 2006. Hg. v. Vavra, Elisabeth. Wien 2008 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte 780). Weitere Schriften in diesem Bereich, die allerdings einen deutlich geringeren Schwerpunkt auf die höfische Literatur des deutschsprachigen Mittelalters legen, sind: Mayer u. Stanislaw-Kemenah [Anm. 2]; Hergemöller, Bernd-Ulrich: Die Kindlein spotten meiner schier. Quellen und Reflexionen zu den Alten und zum Vergreisungsprozeß im Mittelalter. Hamburg 2006 (Hergemöllers Historiographische Libelli IV) und Shahar, Shulamith: Growing old in the middle ages. ›Winter clothes us in shadow and pain‹. London, New York 1997. 13 Besonders deutlich wird dies bei dem Sammelband Homo debilis. Behinderte – Kranke – Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters. Hg. v. Nolte, Cordula. Korb 2009 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 3), bei dem sich der einzige Beitrag aus der germanistischen Mediävistik um ›Alter‹ dreht. Aber auch in soziologischen Texten

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fragen, nehmen den »Parzival« Wolframs von Eschenbach mit in den Blick, bis auf wenige Ausnahmen stehen dabei die »alten« oder »jungen« Figuren im Mittelpunkt, die sehr breite Lebensspanne dazwischen wird kaum bedacht.14 Der »Parzival« Wolframs von Eschenbach eignet sich insofern besonders gut, da verschiedene Altersdiskurse reflektiert werden und verschiedenen Figuren und Dingen Schlüsselrollen zukommen, die eng mit ›Alter‹ verknüpft sind. Entsprechend wirkt der Gral als Verjüngungskur, der Gralskönig Titurel und die Königin Arnive verkörpern beinahe stereotype Altersrollen und Obilot tritt im Sinne einer puella senex auf. Bevor nun Interdependenzen mit ›Alter‹ als Leitkategorie im »Parzival« in den Blick genommen werden, soll anhand von ›Minne‹ als einem konkreten Handlungsmuster gezeigt werden, wie vielschichtig die Kategorien zusammenhängen. Im VI. Buch des »Parzival« schiebt der Erzähler eine Klagerede über frou minne in den Kampf von Keie und Parzival ein (V. 291,1–293,5). Bereits an der Anrede frou minne, die die Klage gliedert, lässt sich ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis von ›Geschlecht‹ und ›Stand‹ bestimmen, wobei nicht eindeutig feststellbar ist, welches die Leitkategorie ist. Dies zeigt der Eintrag von vrouwe im Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Matthias Lexer: »herrin, gebieterin, geliebte […] frau oder jungfrau von stande, dame«15 Das mitteltaucht ›Alter‹ bei einer Aufzählung von Kategorien gehäuft in unmittelbarer Nachbarschaft zu Kategorien wie ›Gesundheit‹ mit dem Grunddualismus ›nicht behindert – behindert‹ (Lutz, Helma u. Wenning, Norbert: Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen 2001, S. 20), »Krankheit und Behinderung« (Klinger, Cornelia: Überkreuzende Identitäten – Ineinandergreifende Strukturen. Plädoyer für einen Kurswechsel in der Intersektionalitätsdebatte. In: ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Hg. v. Klinger, Cornelia u. Knapp, Gudrun-Axeli. Münster 2008 (Forum Frauen- und Geschlechterforschung), S. 38–67, hier S. 39) oder ›Behinderung‹ (Hearn, Jeff: Vernachlässigte Intersektionalitäten in der Männerforschung: Alter(n), Virtualität, Transnationalität. In: Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Hg. v. Herrera Vivar, Maria Teresa u. a. Wiesbaden 2010 (Geschlecht & Gesellschaft 47), S. 105–124, hier S. 105 u. S. 112) auf. 14 Jüngst bei Kerth, Sonja: Wolframs Greise. Alter(n) im ›Parzival‹, ›Titurel‹ und ›Willehalm‹. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 144 (2015), S. 48–76, die einen intersektionalen Zugang zu ›Alter‹ wählt und sich die Überkreuzungen mit ›gender‹ und ›disability‹ ansieht; vgl. auch Goller, Detlef: »die jungen zir gel%chen, die alten zuo den alten«. Der Platz alter Menschen in der höfischen Literatur. In: Nolte [Anm. 13], S. 149–163; Lazda-Cazers, Rasma: Old Age in Wolfram von Eschenbach’s Parzival und Titurel. In: Classen [Anm. 12], S. 201–218; Jost, Jean E.: Age-Old Words of Wisdom: The Power of the Aged in Grail Literature. In: Old Age in the Middle Ages and the Renaissance. Interdisciplinary Approaches to a Neglected Topic. Hg. v. Classen, Albrecht. Berlin, New York 2007 (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 2), S. 263–297 und Brinker-von der Heyde, Claudia: Junge Alte – Alte Junge. Signale und paradoxe Verschränkungen des Alter(n)s in höfischer Epik. In: Vavra [Anm. 12], S. 141–155. 15 Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Hg. v. Lexer, Matthias. Mit den Nachträgen von Ulrich Pretzel. Stuttgart 381992, S. 300.

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hochdeutsche Lexem vrouwe bzw. frou impliziert im Gegensatz zum Nomen w%p demnach stets eine Einheit von weiblichem Geschlecht und hohem Stand. Hinzu kommt eine Implikation von Sexualität, geht man gegen Lexer davon aus, dass vrouwe eine verheiratete bzw. sexuell aktive Frau bezeichnet, während das Lexem juncvrouwe unverheirateten Frauen ohne sexuellen Erfahrungen vorbehalten ist. Es lassen sich in mittelalterlichen Texten also bereits auf Wortebene interdependente Abhängigkeitsstrukturen feststellen, die bei der folgenden Betrachtung mitbedacht werden müssen. Fokussiert man ›Alter‹ als Leitkategorie, fällt zunächst auf, dass die Minne selbst junc unt alt (V. 397,2) sei und sich somit gewissermaßen einer konkreten Altersbestimmung entzieht. Daraus könnte gefolgert werden, dass ›Alter‹ für die Verhältnisbestimmung von ›Minne‹ keine Rolle spielt, zieht man jedoch die Interdependenztheorie von Walgenbach hinzu, wird deutlich, dass ›Alter‹ immer in einem interdependenten Verhältnis mit anderen Kategorien wie ›Stand‹ und ›Geschlecht‹ steht, um ›Minne‹ zu konstruieren, nur, dass ›Alter‹ selten die dominante Kategorie ist. An einer Stelle der oben genannten Klage über frou minne scheint ›Alter‹ eine besonders wichtige Rolle zu spielen: Frou minne, s%t ir habt gewalt, / daz ir die jugent sus machet alt, / dar man doch zelt vil kurziu j.r, / iwer werc sint h.lscharl%cher v.r (V. 292,1–292,4).

An dieser Textstelle zeigt sich, dass die Minne, wenngleich sie sich selbst altersmäßig nicht festlegen lässt, doch über die Macht verfügt, jugendliche Figuren altern zu lassen. Damit wird ›Alter‹ als Kategorie zur Bestimmung und Herstellung von ›Minne‹ als Handlungsmuster sehr relevant, da sie in der Lage ist, das doing-age der von Minne betroffenen Figuren zu beeinflussen. Das doingage bezeichnet Zuschreibungen von ›Alter‹, die über performative Akte konstituiert werden. Welche Handlungen für welchen Lebensabschnitt angemessen sind, ist kulturell und historisch bedingt. Für die jugendlichen männlichen Figuren im mittelhochdeutschen Roman liegt törichtes Minnehandeln beispielsweise durchaus innerhalb der gesellschaftlichen Norm, für ältere Figuren jedoch nicht. Für die oben genannte Alterung durch Minne kommen verschiedene Ausprägungen in Frage: Zum einen kann eine Interdependenz mit ›Versehrtheit‹ eröffnet werden, wie es bei Anfortas aufgetreten ist, der sich beim Minnekampf um die falsche Dame schwer verletzt hat, sodass er dauerhaft starke Schmerzen leidet und zeugungsunfähig geworden ist. Zum anderen wird ›Alter‹ innerhalb des Handlungsmusters ›Minne‹ durch Emotionen wie Trauer und Sehnsucht in einen interdependenten Zusammenhang gebracht, der beispielsweise durch auftretende Grauhaarigkeit markiert wird, die in poetischen Texten sowohl für Alter als auch für Liebesleid stehen kann.16 16 Vgl. Goller [Anm. 14], S. 152.

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Die Erzählinstanz betont allerdings an verschiedenen Stellen, dass nicht nur die von Minne betroffenen Figuren nach Normen des doing-age bewertet werden, sondern dass auch eine personifizierte frou minne selbst Altersnormen unterliegt bzw. nach Maßstäben des Alters beurteilt wird: ist minne ir unfuoge balt, / dar zuo dunket si mich zalt, / oder giht sis 0f ir kintheit, / swem si füeget herzeleit? / unfuoge gan ich paz ir jugent, / dan daz si ir alter bræche tugent. […] wil si mit jungen ræten / ir alten site unstæten, / si wirt si schiere an pr%se laz. (V. 533,9–533,20).

Der Erzähler verbindet hier das Verhalten junger und alter Liebender mit dem doing-age von frou minne und greift die Vorstellung auf, dass sie junc und alt zugleich sei. Entsprechend ist unpassendes Verhalten und das Zufügen von herzeleit vom Erzähler zu tolerieren, wenn es auf die kintheit, das junge Alter von frou minne zurückzuführen ist. Sollte sie jedoch die tugent und stæte des hohen Alters entwürdigen, wird sie auch an eigenem Ruhm einbüßen. Diese Aussage lässt sich auf das Eingangszitat zurückführen, bei dem Figuren hohen Alters nicht in der Lage sind, einmal verlorene werdekeit wiederherzustellen. Da tugent, stæte und pr%s Wörter aus dem semantischen Feld ›Rittertum‹ oder ›Adelsnorm‹ sind, stehen ›Minne‹ und ›Alter‹ zudem in einem interdependenten Zusammenhang mit ›Stand‹. Dies bestätigt auch die Einsicht des Erzählers, der feststellt: doch s%t ir mir ze wol geborn, / daz gein iu m%n kranker zorn / immer solde bringen wort (V. 292,13–292,15). Frou Minne ist ihm also standesmäßig überlegen, sodass die Vorwürfe, die er gegen sie vorbringt, keine Bedeutung für sie haben. Die kurze Analyse interdependenter Abhängigkeiten an der Denkfigur frou minne hat bereits gezeigt, wie nutzbringend die Anwendung der intersektionalen Perspektive auf mittelhochdeutsche Literatur sein kann: In dem Handlungsmuster bzw. in der Personifizierung von Minne werden interdependente Kategorien wie ›Stand‹, ›Geschlecht‹ und ›Alter‹ wirksam. Dies sollte stets bedacht werden, wenn anschließend der Blick auf die interdependenten Kategorien geworfen wird, mit denen ›Alter‹ im »Parzival« Wolframs von Eschenbach in ein Wechselverhältnis tritt. Betrachtet man ›Alter‹ im »Parzival«, bedeutet dies zunächst eine gattungsabhängige Sicht auf Alter, denn alte Menschen werden in anderen Gattungen wie beispielsweise im Schwank, in legendarischen Erzählungen, in der mittelalterlichen Didaxe oder im Heldenlied auf durchaus sehr unterschiedliche Weise dargestellt und bewertet. Die Spannbreite reicht dabei vom geilen, senilen Greis bis zum weisen Ratgeber und Erzieher.17 Im höfischen Roman und damit auch im »Parzival« ist es letztere Rolle, die den alten Frauen und Männern hauptsächlich 17 Vgl. Brinker-von der Heyde [Anm. 14], S. 149.

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zugeschrieben wird. Hinzu kommt, dass die älteren Figuren im Kampf stets den jüngeren unterlegen sind, womit sie von der Darstellung in heldenepischen Texten abweichen.18 Hinzu kommt, dass es im »Parzival« wie auch in anderen Texten höfischer Epik kaum konkrete Altersangaben gibt. Eine Figur wird entweder als junc oder alt bezeichnet oder das Alter wird durch körperbezogene Codes hergestellt. Diese Codes beziehen sich häufig auf Haar- und Hautdiskurse und bei Männern zusätzlich auf den Bartwuchs.19 Entsprechend verfügen Männer im jungen Alter über keinen Bartwuchs, in einer sehr weit gefassten Zeitspanne sind sie bartoht also bärtig wie beispielsweise Gawan im »Parzival« und als Markierung für ein hohes Alter wird Bart und Haupthaar schließlich grau oder weiß. Bei weiblichen Figuren vollziehen sich Alterszuschreibung prominenter über eine Hautsemantik, die von heller Haut mit roten Wangen im jungen beziehungsweise gebärfähigen Alter bis zu Farb- und Glanzlosigkeit im hohen Alter reicht. Es gilt somit festzuhalten, dass ›Alter‹ nach Robert Gugutzer eine biologische und eine sozial konstruierte Seite hat: Der menschliche Alterungsprozess geht unweigerlich einher mit körperlichen Veränderungen im Aussehen, der Beweglichkeit, Kraft, Leistungsfähigkeit, Sexualität und Gesundheit. […] Der Mensch ist beides: ein biologisches Wesen, das Naturgesetzen unterliegt, und ein soziales Wesen, das seine Natürlichkeit kulturell zu überformen weiß. Dass Menschen altern, ist natürlich, wie sie es tun, hingegen gesellschaftlich und kulturell geprägt.20

Das biologische Alter umfasst körperliche Alterungsprozesse wie das Eintreten von Menstruation und Menopause, Veränderungen der Haut- und Haarstruktur etc., während das sozial konstruierte Alter bestimmt, welche der körperlichen Veränderungen und Handlungsmuster in der Gesellschaft als alt wahrgenommen werden. Sowohl biologische als auch sozial strukturierte Dimensionen werden im mittelhochdeutschen Text aufgerufen. So werden etwa körperliche Merkmale inszeniert oder bestimmte gesellschaftliche Prozesse, wie der Zutritt 18 Vgl. Goller [Anm. 14], S. 153. 19 Vgl. Ernst, Ulrich: Haut-Diskurse. Semiotik der Körperoberfläche in der Erzählliteratur des hohen Mittelalters. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Hg. v. Wolfzettel, Friedrich. Tübingen 2007, S. 149–200, hier S. 167 u. S. 175 und Goller, Detlef: Von dem grauen Haar: Eine Spurensuche in der mittelhochdeutschen Literatur. In: Von lon der wisheit. Gedenkschrift für Manfred Lemmer. Hg. v. Gärtner, Kurt u. Solms, Hans-Joachim. Sandersdorf 2009, S. 95–106. Einen Überblick über die Kulturgeschichte des Bartes gibt Christina Wietig in ihrer Dissertation: Dies.: Der Bart. Zur Kulturgeschichte des Bartes von der Antike bis zur Gegenwart. Hamburg 2005. Allerdings wird das Mittelalter weitgehend ausgespart, aber Wietig gewährt interessante Einblicke in die evolutionsbiologischen Hintergründe des Bartes und seiner Wahrnehmung heute. 20 Gugutzer, Robert: Alter(n) und die Identitätsrelevanz von Leib und Körper. In: Z Gerontol Geriat 41 (2008), S. 182–187, hier S. 182.

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zum Ritter-›Stand‹ nach der Schwertleite, nach Altersstufen strukturiert. Im Folgenden gilt es zu prüfen, wie und in welcher Weise die Kategorie ›Alter‹ im »Parzival« durch ein Handeln mit dem ›Körper‹ und ein Verhandeln am ›Körper‹ narrativ gestaltet wird.

II.

Bärte, Krücken, Haarausfall – Zum Verhältnis von ›Alter‹ und ›Körper‹

›Körper‹ spielt bei einer intersektionalen Betrachtung eine besondere Rolle, da er zum einen als »Aushandlungsort«21 oder als »übergreifende Dimension«22 an mehrdimensionalen Differenzierungsprozessen mitwirkt, und zum anderen als Repräsentationsfläche der Unterscheidung genutzt wird, da sich Kategorien der Differenzierung an ihm ›abbilden‹ können. Im literarischen Text ist der Körper einer Figur oft das einzige, das für andere Figuren sichtbar ist, von dem sie also Wahrnehmungen und Wertungen ableiten. Eine Figur kann beispielsweise an Kleidung, Hautfarbe, Haarfarbe und Accessoires wie Schwert, Schmuck etc. herleiten, ob es sich bei dem Gegenüber um eine adlige Figur handelt, wie alt sie ist und welchem Geschlecht sie zugeordnet wird. ›Körper‹ als übergreifende Dimension prägt aber auch diejenigen Wertungsprozesse, in denen dichotome Differenzlinien wie krank – gesund, versehrt – heil oder schön – hässlich ausgehandelt werden. Wie bereits erwähnt, spielt der Bartwuchs eine wichtige Rolle bei der Altersund Schönheitsbeschreibung der männlichen Figuren. Dabei gilt grundsätzlich, dass Bartlosigkeit für Jugend steht und Jugend für Schönheit. Der Umkehrschluss, dass mit Bärtigkeit hohes Alter und damit Hässlichkeit einhergeht, kann jedoch nicht gezogen werden. Auch bei den beiden Protagonisten des »Parzival« – Gawan und Parzival – dient der Bart als Distinktionsmerkmal, das deutlich macht, dass Gawan der ältere der beiden ist. Während Parzival im dritten Buch noch als knappe benannt wird, reitet er am Ende des Buches mit ritter site und ritters m.l (V. 179,14) von Gurnemanz fort und wird im Verlauf nur noch mit dem Attribut junc versehen. Daran wird einmal mehr die interdependente Verschränkung von ›Alter‹, ›Stand‹ und ›Geschlecht‹ deutlich, denn der Eintritt in den Ritterstand erfolgt nicht nur nach Altersvorgaben, sondern richtet sich nach der Erfüllung eines doing-›Standes‹, bei dem Parzival erst lernen muss, sich 21 Schul [Anm. 4], S. 45–51. 22 Kraß, Andreas: Einführung: Historische Intersektionalitätsforschung als kulturwissenschaftliches Projekt. In: Bedekovic´ [Anm. 4], S. 7–47, hier S. 14. Vgl. zu Dimensionen intersektionaler Positionierungsprozesse auch Schul, Susanne u. Böth, Mareike: Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹: Vormoderne intersektional, in diesem Band.

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ritterlich zu Verhalten, indem er Tjostieren und den richtigen Umgang mit Freunden, Feinden und Damen trainiert. Es soll nun ein Blick darauf geworfen werden, wie sich Zuschreibungen wie junc und alt als Körpercodes abbilden. Parzivals Jugend äußert sich folgendermaßen: s%n jugent het ellen unde kraft. / der junge süeze .ne bart (V. 174,22f.). Zunächst werden Tapferkeit und Kraft als Merkmale für junges Alter angeführt, Eigenschaften, bei denen ›Alter‹ mit der interdependenten Kategorie ›Stand‹ und der Dimension ›Körper‹ korreliert. Der zweite Vers spielt eher auf die Schönheit Parzivals an, die mit Bartlosigkeit und Jugend einhergeht. Schönheit spielt in der höfischen Literatur meist auch auf einer übertragenen Ebene eine Rolle, so wird Schönheit meist äquivalent mit Glückseligkeit gelesen.23 Diese Wahrnehmung verdeutlicht die Gesellschaft auf Burg Munsalvæsche, die Parzivals sælde auf seine bartlose Schönheit zurückführt: di si den jungen .ne bart / ges.hen alsus minnecl%ch, / si j.hn, er wære sælden r%ch (V. 227,28–227,30). Da sælde in erster Linie göttlich gegebenes Glück, Seligkeit, Heil und Güte bezeichnet24, ist hier eine interdependente Verbindung mit einer Kategorie wie ›Religion‹ denkbar, die ohnehin bei mittelalterlichen Texten mitbedacht werden muss. Aus diesem Grund eignet sich der Interdependenzansatz von Katharina Walgenbach für mittelhochdeutsche Epik, denn die Kategorien lassen sich selten trennscharf voneinander abgrenzen, wie ein Zusammentreffen auf einer intersection nahelegt, sondern verschiedene Kategorien sind permanent vorhanden und treten partiell deutlicher in den Vordergrund. Mit dem Bartwuchs und der Ausbildung anderer primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale wird ein neuer Abschnitt im Leben eines Mannes markiert, heute Pubertät genannt. Damit geht im höfischen Roman eine andere Veränderung einher : Die Figuren verfügen das erste Mal über Minneempfindungen.25 An König Anfortas werden diese Veränderung und die Folgen, die mit erstem Minnekontakt auftreten können, deutlich sichtbar. Die Figurenrede des Trevrizent berichtet: di m%n bruoder gein der j.ren / kom für der gransprunge z%t, / mit selher jugent h.t minne ir str%t (V. 478,8–478,10). Substantive wie j.r, gransprunge z%t und jugent machen deutlich, dass es sich um einen Versuch handelt, Alter darzustellen, ohne eine Altersangabe in Jahren zu machen. Daher bemüht sich die Erzählinstanz um eine Beschreibung mittels körperlicher Merkmale: Es war die Zeit, da der Bartflaum wächst. Hinzu tritt eine interdependente Verbindung mit ›Minne‹ als Handlungsmuster, wie sie oben eingeführt wurde, denn die Minne treibt offenbar ihre Spiele mit der Jugend. Ob sie diesen Einfluss auch auf jüngere oder ältere Figuren hat, bleibt an dieser Stelle offen. Es 23 Vgl. Kraß [Anm. 22], S. 28. 24 Vgl. Lexer [Anm. 15], S. 175. 25 Vgl. Brinker-von der Heyde [Anm. 14], S. 147.

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liegt aber nahe, dass Figuren in einem pubertären Lebensabschnitt anfälliger für die Minne sind. Für Anfortas hat die Verstrickung in den Minnedienst einer nicht vom Gral gewählten Dame weitreichende Folgen, auf die an späterer Stelle rekurriert wird. Bevor anhand der Figur Sigune gezeigt wird, wie sich ›Alter‹- und ›Minne‹zeichen auf dem Körper abbilden, sei kurz der Blick auf die alten Männer mit den grauen Bärten gerichtet, die im »Parzival« gehäuft auftreten.26 Ein stereotypes Altersbild entwirft die Erzählinstanz mit dem namenlosen alten Ritter, dem Gawan bei seiner .ventiure begegnet: mit einem barte breite, / wol geflohten unde gr. / stuont derb% ein r%ter d. / über eine krücke gleinet (V. 513,24–513,27).

Neben dem oben genannten Ritter verfügen auch viele andere namenlose Figuren über graue oder weiße Haare, um hohes Alter zu signalisieren. Bei dem Ritter tritt hinzu, dass der Bart äußerst gepflegt ist und er zudem eine Gehhilfe benötigt. Neben den interdependenten Zusammenhängen von ›Alter‹, ›Geschlecht‹ und ›Stand‹ und deren Verhältnis zur Dimension ›Körper‹ müsste erwogen werden, ob ›Stand‹ hier nicht nur als Kategorie betrachtet werden muss, die ›Alter‹ mitbestimmt, sondern sogar als die dominante Kategorie. Denn die Textstelle lässt offen, ob die krücke als Konsequenz des Alterns benötigt wird, was die Nähe zur Altersbeschreibung durch den langen Bart und die Grauhaarigkeit nahelegt, oder ob eine kriegerische, womöglich durch Minne ausgelöste Handlung ursächlich für die Lähmung oder Beinverletzung ist. Dies wird nahegelegt, da der Ritter weint, als Gawan sich auf eine seiner Ansicht nach vergebliche Minne-.ventiure begibt. Dieses Phänomen, dass »Altern nicht allein der Zeit geschuldet [ist], sondern Konsequenz erlebten Leids«27, findet sich nicht nur bei männlichen, sondern auch bei weiblichen Figuren. Parzivals Cousine Sigune trauert um Sch%.natulander, der in ihrem Minnedienst ums Leben kommt. Entsprechend treten bei ihr körperliche Merkmale auf, die zur Beschreibung alter Frauen passen. Durch den Liebesschmerz altert sie sozusagen vorzeitig, was Parzival mit folgenden Worten kritisiert: d%n reideleht lanc pr0nez h.r, / des ist d%n houbet bliz get.n. / zem firest in Brizlj.n / sah ich dich di vil minnecl%ch, / swie du wærest j.mers r%ch. / du h.st verlorn varw unde kraft. / d%ner herten geselleschaft / verdrüzze mich, solt ich die haben: / wir sulen disen titen man begraben. (V. 252,30–253,8).

Parzivals Vorwurf richtet sich besonders dagegen, dass Sigune sich aufgrund ihrer Trauer so sehr verwahrlosen lässt. Denn er ist ihr schon einmal begegnet, 26 Einen Überblick bietet Kerth [Anm. 14], S. 56. 27 Brinker-von der Heyde [Anm. 14], S. 150.

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als der Tod von Sch%.natulander noch nicht so lange zurücklag, und zu der Zeit sah sie noch minnecl%ch aus und trug langes braunes Haar, obwohl sie damals auch sehr intensiv getrauert hat. Inzwischen ist Sigunes Haarpracht jedoch einer Glatze gewichen, wobei verminderter Haarwuchs und Haarausfall nach Daniel Schäfer bereits in der Antike als Merkmale für hohes Alter bei Frauen gelten.28 Da Sigune sich aber bei der ersten Begegnung die Zöpfe herausreißt, kann dieses Zeichen auch als (ritualisierte) Trauer gelesen werden. Ebenso Zeichen für hohes Alter und Trauer sind die Härte des Körpers, die Kraftlosigkeit und die Farblosigkeit. Ulrich Ernst bemerkt dazu, dass sich eine weiße Hautfarbe zwar als Schönheitsideal etabliert habe, da sie als Differenzmerkmal zu Personen niedrigeren Standes fungiert, die beispielsweise von der Feldarbeit braun gebrannt sind. Hinzu tritt eine erotische Komponente, da weiße Haut für ein »geschütztes Leben im Haus unter Kontrolle der huote«29 steht, die wichtig ist für die Zeugung legitimen Nachwuchses. Zu der blassen Hautfarbe sollte jedoch auch Röte – bevorzugt auf den Wangen und Lippen – treten, die den Figuren die Impression von Gesundheit und Erotik verleihen. Dies signalisiert wiederum Fruchtbarkeit und sexuelles Begehren, was für den genealogischen Fortbestand unabdingbar ist.30 Generativität scheint somit ein Merkmal zu sein, dass sich im interdependenten Zusammenhang mit Standeszugehörigkeit an der Dimension ›Körper‹ abbildet. Der rote Mund, den die Erzählinstanz Sigune bei der ersten Begegnung noch attestiert hatte, wird bei der zweiten Begegnung nicht mehr erwähnt. Die Zeichen für Fruchtbarkeit, Erotik und Jugend werden demnach aus ihrem Körper getilgt. Neben den interdependenten Zusammenhängen von ›Geschlecht‹ bzw. ›Generativität‹, die an der Dimension ›Körper‹ sichtbar wurden, ist auch ›Stand‹ offenbar relevant für Sigunes Alterszuschreibungen innerhalb des Handlungsmusters ›Minne‹. Das wird insofern noch interessant, da Sigune ihren Stand im Verlauf des Romans zu wechseln scheint. Im Gegensatz zu Sch%.natulanders Körper, der einbalsamiert wurde und entsprechend in seiner höfischen Schönheit konserviert wird, nähert sich Sigunes Körper durch die oben genannten Merkmale immer mehr einer bleichen und steifen Leiche an. Im höfischen Kontext führt diese körperliche Vernachlässigung zu verdriez, wie Parzival bemerkt. In anderen Standeszusammenhängen gilt ein asketischer Körper jedoch

28 Vgl. Schäfer, Daniel: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase. Frankfurt, New York 2004 (Kultur der Medizin. Geschichte – Theorie – Ethik 10), S. 273; vgl. auch Ernst [Anm. 19], S. 149–200, hier S. 175, allerdings beschreibt Ernst alte Männer, wobei die Symbolik sich m. E. auch auf weibliche Figuren übertragen lässt. 29 Ernst [Anm. 19], S. 191. 30 Vgl. ebd.

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als Tugend. Diesem Phänomen wird bei der Untersuchung der Interdependenzen von ›Alter‹ und ›Religion‹ näher auf den Grund gegangen.

III.

mich pat mîn muoter nemen rât / ze dem der grâwe locke hât. (V. 162,29f.) – Zur Ratgeber_innenrolle alter Figuren im »Parzvial«

Die stereotype Altersrolle für Männer ist die des erfahrenen und angesehenen Ratgebers, der körperliche Defizite durch seine Weisheit wettmacht und somit unverzichtbar für die höfische Gesellschaft ist. Eneas reist seinem verstorbenen Vater sogar bis in die Unterwelt nach, um ihn um Rat zu fragen. Der »Parzival« Wolframs von Eschenbach scheint diese stereotype Altersrolle auf den ersten Blick zu bedienen. So erhält Parzival von Gurnemanz eine höfische Erziehung, Trevrizent klärt ihn über die Gralsgemeinschaft auf und Titurel wird einzig und allein am Leben erhalten, um der Gralsgesellschaft mit Ratschlägen zur Seite zu stehen. Die Forschung ist über die Bewertung der Ratgeberrolle, die den älteren Figuren zugeschrieben wird, unterschiedlicher Ansicht. Während Detlef Goller positiv hervorhebt, dass »[m]it dieser stereotypen Rolle des Erziehers und Ratgebers […] die gesellschaftliche Partizipation der grauhaarigen Alten geradezu institutionalisiert und ihr Platz in der höfischen Gesellschaft gesichert [erscheint]«31 und Jean E. Jost noch konkretisiert »[a]lthoug the elderly may no longer compete in battles, their contributions to those who can amply compensate for their waning strength. Their social roles are numerous, their place esteemed, their council heeded«32, formulieren Rasma Lazda-Cazers und Sonja Kerth deutliche Gegenpositionen. Spricht Jost noch davon, dass der »Parzival« eine positive Altersrolle inszeniere, indem die Erfahrung der Alten wertgeschätzt werde33, konstatiert Lazda-Cazers eine frappierende Marginalisierung der Altersrolle, die sie an der Figur des Titurel festmacht: »The extend, however, to which Titurel is marginalized, is striking. […] Titurel is thus not only marginalized due to his disability but also his old age«34. An dieser Aussage lässt sich ablesen, dass für Rasma Lazda-Cazers eine Mehrfachdiskriminierung vorliegt, da ein interdependenter Zusammenhang von ›Alter‹ und ›Versehrtheit‹ eröffnet wird, der sich auf der Dimension ›Körper‹ zeigt. In welchem interdependenten Abhängigkeitsverhältnis diese Kategorien in einem größeren Zusammenhang 31 32 33 34

Goller [Anm. 19], S. 101–102. Jost [Anm. 14], S. 265. Vgl. Jost [Anm. 14], S. 291. Lazda-Cazers [Anm. 14], S. 212–213.

›Alter‹ als interdependente Kategorie im »Parzival« Wolframs von Eschenbach

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möglicherweise mit Kategorien wie ›Stand‹ und ›Geschlecht‹ stehen, soll kurz anhand der Figur Titurel geprüft werden. Aus Parzivals Perspektive wird Titurel folgendermaßen von der Erzählinstanz beschrieben: an eime spanbette er sach / in einer kemen.ten, / Þ si n.ch in zuo get.ten / den aller schœnsten alten man / des er künde ie gewan. / ich magez wol sprechen .ne gruft, / er was noch gr.wer dan der tuft. (V. 240,24–240,30).

Von der Zuweisung der Körperzeichen her ist die Gestalt des Titurel zunächst nicht negativ behaftet. Parzival erscheint er sogar als der schönste Mann, von dem er je gehört habe, obwohl er grau wie der Nebel aussieht. Dieses Grau bezieht sich offenbar nur auf die Haarfarbe aber nicht auf die Hautfarbe, da Parzival an späterer Stelle differenziert, dass Titurel al gr. b% liehtem vel (V. 501,21) aussehe, die Hautfarbe also nicht farb- und kraftlos wie bei Sigune erscheint, sondern einen leuchtenden Glanz hat, der als Schönheitsideal für den höfischen Roman gilt.35 Das gr.wer dan der tuft spiegelt nicht nur die Haarfarbe Titurels wieder, sondern auch seine diffuse Erscheinung auf der Burg Munsalv#sche, denn Parzival sieht ihn zwar kurz in einer Kemenate im Bett liegen, die Tür wird aber sofort geschlossen und der Alte Parzivals Blicken entzogen. Für Sonja Kerth wird damit Titurels Hilf- und Machtlosigkeit sowie seine völlige Abhängigkeit von der Gralsgesellschaft unterstrichen.36 Ein ähnliches Bild vermittelt ihm Trevrizent, der Parzival über den geheimnisvollen Mann in der Kemenate aufklärt: ein siechtuom heizet pigr.t / treit er, die leme helfelis. […] Durch r.t si h.nt den betterisen. / in s%ner jugent fürt unde wisen / reit er vil durch tjostieren (V. 501,26–502,3).

Trevrizent stellt hier die Handlungsmöglichkeiten des alten Titurels denen des jungen Titurels gegenüber, wobei die größten Veränderungen beim interdependenten Zusammenhang von ›Alter‹, ›Geschlecht‹ und ›Stand‹ sichtbar werden und insbesondere an der übergreifenden Dimension ›Körper‹ verhandelt werden. Während der junge Titurel in der Lage ist zu reiten und sich an verschiedenen Orten beim Tjostieren bewährt hat, ist der gealterte Titurel ans Bett gefesselt und kann keine standes- und geschlechtstypischen Aktivitäten mehr ausüben. Diese räumliche Ausdehnung und Beweglichkeit steht in einem drastischen Gegensatz zur Lähmung und zum Aufenthalt in einer verschlossenen Kemenate.37 Die Substantive siechtuom, pigr.t, leme und betterise verweisen 35 Vgl. Ernst [Anm. 19], S. 197. 36 Vgl. Kerth [Anm. 14], S. 59–60. 37 In diesem Zusammenhang wäre es möglich, die Option einer Dimension ›Raum‹ analog zur Dimension ›Körper‹ oder zum Handlungsmuster ›Minne‹ zu entwerfen, da räumliche

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dabei auf einen defizitären Körper im Alter. Allerdings weist Rasma LazdaCazers darauf hin, dass Podagra nicht nur ein typisches Kennzeichen für hohes Alter ist, sondern dass »[g]out used to be a disease of the wealthy, because it is typically triggered by a diet high in meat and the consumption of alcohol«38. Somit wäre eine interdependente Verbindung von ›Alter‹, ›Versehrtheit‹ und auch ›Stand‹ sowie ›Geschlecht‹ denkbar, da diese Krankheit offenbar gehäuft in einer gehobenen Schicht auftrat, wobei der Konsum von Fleisch und Alkohol eher einem männlichen Nahrungsprofil entspricht. Zu der problematischen Verschränkung von ›Alter‹, ›Versehrtheit‹ und räumlicher Ausgrenzung als Handlungspraxis tritt hinzu, dass die Gralsgesellschaft Titurel zwar durch r.t am Leben erhält, er aber im Verlauf des Romans nicht einmal um Rat gefragt wird. Für Sonja Kerth manifestiert sich dadurch an Titurel am deutlichsten, was sich auch bei Gurnemanz und Arnive zeigt: Es wird zwar suggeriert, dass die Figuren eine sinnvolle Altersrolle als Ratgeber_in ausfüllen, faktisch werden sie aber nicht um Rat gefragt. Gurnemanz verschwindet gewissermaßen aus dem Text, nachdem er Parzival unterrichtet hat. Seine Ratgeberrolle erfüllt er vorbildlich, wenngleich er nicht mehr selbst in den Tjost reiten kann und sein Rat schließlich zum Versagen Parzivals auf der Gralsburg führt. Parzival lässt Gurnemanz in einer prekären Situation zurück: Ohne einen Sohn ist seine Herrschaftsnachfolge in Gefahr und Parzival kehrt nicht zurück, um seine Tochter zu ehelichen. Auch eine anderweitige sinnvolle Altersrolle, etwa als Ratgeber am Artushof oder auf der Burg Munsalvæsche, ist für Gurnemanz nicht vorgesehen. Für ihn tritt ein, was das Eingangszitat nahelegt, nämlich, dass das Alter nur siuften unde leit bereithält. Für Sonja Kerth kollidieren in der Figur des Gurnemanz zwei Standesaspekte, die er im Alter nicht mehr in Einklang bringen kann: »Die ability des alten Mannes als weiser Ratgeber steht also neben der disability des Ritters, der seine Standesaufgaben hinsichtlich der Verteidigung von Ansehen, Macht und Besitz nicht mehr wahrnehmen kann«39. Im Gegensatz zu Titurel kann Gurnemanz seine zugedachte Altersrolle als Ratgeber ausfüllen und sie wird auch von der jüngeren Figur des Parzival in Anspruch genommen, allerdings muss er aufgrund der fehlenden Nachkommenschaft zugleich die Rolle des Landesherrn einnehmen, Symbolik für mittelalterliche Epik und Lyrik eine große Rolle spielt. Vgl. Kraß [Anm. 22], S. 17, der neben ›Körper‹ die Dimensionen ›Raum‹ und ›Zeit‹ entwirft, die ebenfalls übergreifend wirken. Vgl. hierzu auch Schul u. Böth [Anm. 22], die die Dimensionen ›Körper‹, ›Emotion/Affekt‹ und ›Raum‹ berücksichtigen. Neben den Differenzfeldern von räumlicher Enge und natürlicher Weite wären die Gegensatzpaare Hof – Wildnis, öffentlicher Ort – locus amoenus, Land – Meer oder weltlicher Ort – geistlicher Ort denkbar. Ähnlich wie ›Körper‹ ist ›Raum‹ somit nicht im Sinne einer interdependenten Kategorie zu verstehen, aber wie auch die Kategorien ist er ständig vorhanden und tritt partiell in den Vordergrund. 38 Lazda-Cazers [Anm. 14], S. 209. 39 Kerth [Anm. 14], S. 59.

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die Titurel an seinen Sohn übergeben konnte. An dieser Aufgabe scheitert Gurnemanz aufgrund des Verlustes seiner drei Söhne und seiner Ehefrau, sodass er allein und verzweifelt zurückbleibt. Eine ähnlich diskriminierende Altersrolle ergibt sich bei Arnive, der einzigen als alt dargestellten Frau im »Parzival«, bei der zu ›Alter‹ die interdependente Kategorie ›Geschlecht‹ in ein Abhängigkeitsverhältnis tritt. Ähnlich wie bei Gurnemanz und Titurel wird vordergründig ein positives Bild des Alters suggeriert: Diu herzenl%che w%se / (mit si w%pl%chem pr%se / kom jugent in daz alter nie) (V. 656,3–656,5). Arnive verkörpert demnach das Beste aus der höheren Altersstufe – sie wird von der Erzählinstanz als weise dargestellt und hat sich ihren Ruhm, den sie in der Jugend erworben hat, bis ins Alter bewahrt. Was genau der w%pliche pr%s ist und wie er sich von einem männlichen unterscheidet, wird nicht ausgeführt, da die Rezipient_innen von Arnives Vergangenheit nur erfahren, dass sie entführt wurde. Als w%plicher pr%s des höheren Alters darf gelten, dass sie heilkundig ist und Gawans Wunden versorgt. Auch in Verbindung mit der interdependenten Kategorie ›Stand‹ dominiert diese zunächst die Kategorien ›Geschlecht‹ und ›Alter‹, denn solange Gawan noch verletzt ist bzw. kein anderer Mann auf der Burg vorhanden ist, agiert Arnive mit der Autorität einer Königin und ihren Befehlen wird Folge geleistet (Vgl. V. 581,9–581,24). Sobald Gawan jedoch gesundet ist, gibt Arnive die Herrschaft gewissermaßen selbst an ihn ab: doch, hÞr, swaz ir gebietet in, / daz suln si leisten, hab wir sin. (V. 582,21f.). Gawan nimmt diese Rolle an: ir jeht, ich sül hie hÞrre s%n (V. 594,15). Nach dieser Herrschaftsübernahme nimmt Gawan den Rat seiner Großmutter nicht mehr an und lässt Arnive und die Damen in einer potentiellen Notsituation zurück. Sonja Kerth weist darauf hin, dass in Arnive nicht nur das Altersstereotyp der weisen Kräuterfrau vertreten ist, sondern dass ihr auch negative Altersimplikationen wie Neugierde und Schwatzhaftigkeit innewohnen, die sie in ein ambivalentes Licht rücken.40 Elke Brüggen und Joachim Bumke fassen ähnlich zusammen: »Wolfram hat Arnive nicht nur als große alte Dame gezeichnet; er hat ihr auch einen komisch-despektierlichen Zug zugeschrieben, nach dem Vorbild der Schwankfigur der neugierigen Alten«41. Es ist außerdem bezeichnend, dass die Entführung Arnives keinen so Recht zu interessieren scheint, sie löst jedenfalls keinen Handlungsimpuls aus. Auch beim Wiedersehen mit ihrem Sohn Artus steht Arnive keineswegs im Mittelpunkt des Geschehens, sondern sorgt nur randständig für eine Lösung des Konflikts.42 Die einzige Figur, die im »Parzival« eine sinnvolle Ratgeberrolle ausführt, ist 40 Ebd., S. 63. 41 Brüggen, Elke u. Bumke, Joachim: Figuren-Lexikon. In: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch. Band II: Figuren-Lexikon, Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften, Bibliographien, Register, Abbildungen. Hg. v. Heinzle, Joachim. Berlin 2011, S. 853. 42 Vgl. Kerth [Anm. 14], S. 62 u. S. 64.

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Trevrizent. Er erhält einen großen Redeanteil und klärt Parzival über die Mysterien des Grals und der Gralsgesellschaft auf. Allerdings steht Trevrizent außerhalb der höfischen Gesellschaft, denn als Einsiedler ist er nicht wie Gurnemanz oder Arnive in der Pflicht, sich um Land und Leute zu kümmern. Zudem scheinen einige Attribute und Körperzeichen zwar darauf hinzuweisen, dass Trevrizent ein alter Mann ist, als Sohn von Titurel und Bruder von Anfortas sollte er aber eher einem mittleren Alter zugeordnet werden, sodass einiges dafür spricht, dass die Alterszeichen wie bei Anfortas nicht aus dem biologischen Alter herrühren, sondern aus der Interdependenz mit anderen Kategorien. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die stereotype Vorstellung einer positiven Ratgeberrolle für alte Figuren im »Parzival« nicht haltbar ist. Entweder treten andere Kategorien in ein interdependentes Abhängigkeitsverhältnis zu ›Alter‹, die dazu führen, dass die positive Ratgeberrolle von negativen Alterserscheinungen unsichtbar43 gemacht wird. Meist wird dazu ein defizitärer Körper oder die interdependente Kategorie ›Stand‹ hinzugezogen, um ein Versagen auf Herrschaftsebene zu kennzeichnen. Oder die Ratgeberrolle an sich wird marginalisiert, indem die Figuren entweder nicht um Rat gefragt werden oder der Rat missachtet wird. Eine grundsätzliche Diskriminierung alter Figuren kann aber pauschal nicht konstatiert werden.

IV.

Junge Figuren im »Parzival« zwischen tumpheit und pueri senes

James Schultz hält für die Darstellung von Kindheit in mittelhochdeutscher Epik fest, dass Kinder stets als defizitär beschrieben werden. Das liege vor allem daran, dass die Vorstellung von Kindheit in Relation mit dem Erwachsenenalter stehe, sodass Kinder als ›unfertige‹ Erwachsene wahrgenommen würden.44 Daher ist es nicht verwunderlich, dass der höfische Roman seine jungen Protagonisten als puer und puella senex illustriert, die bereits im Kindesalter ein Maß an körperlichen und geistigen Fähigkeiten an den Tag legen, die den erwachsenen Figuren gleichkommen oder sie sogar übertreffen.45 Wolfram von Eschenbach scheint auf den ersten Blick mit diesem Heldenentwurf zu brechen, indem sich Parzival hier nicht intuitiv weise verhält und er ihm keine höfische Erziehung im Kindesalter angedeihen lässt. Mit Obilot hingegen wird eine 43 Vgl. zum Begriff der intersektionalen Unsichtbarkeit im deutschsprachigen Raum mit internationalem Forschungsüberblick: Knapp, Gudrun-Axeli: »Intersectional Invisibility«: Anknüpfungen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung. In: Herrera Vivar u. a. [Anm. 13], S. 223–243. 44 Vgl. Schultz [Anm. 12], S. 245–246. 45 Vgl. Brinker-von der Heyde [Anm. 14], S. 152.

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Mädchenfigur entworfen, die permanent ihre Rolle als Kind und Erwachsene wechselt. Mit dem Fokus auf diese beiden Akteure soll ergründet werden, wie sich die interdependente Kategorie ›Alter‹ bei der Darstellung von Kindheit zeigt und welche anderen Kategorien für die Konstitution von jungem Alter hinzugezogen werden. Wie bereits erwähnt, wird Parzival bei seinen ersten Auftritten von anderen Figuren und vom Erzähler als knappe bezeichnet. Schultz stellt für das Vokabular, das mittelhochdeutsche Texte zur Beschreibung für Kinder benutzen, fest: »The language does not distinguish between youth and servitude«46. Dies hat zur Folge, dass an einigen Textstellen nicht eindeutig ist, ob bei den Figuren eine Alters- oder eine Standesbeschreibung im Vordergrund steht, denn knappen können natürlich nicht nur junge Figuren bezeichnen, sondern auch ältere Figuren, die in ihrer Funktion einem Ritter dienen.47 Zu Parzivals Figur treten weitere Eigenschaften, die eindeutig festlegen, dass es sich bei Parzival um ein Kind handelt und nicht um einen Diener. Das Attribut, das Parzival im dritten Buch am meisten als Kind kennzeichnet, ist seine vil tumpheit (V. 124,16) bzw. Unerfahrenheit, die dazu führt dass er sich in Bezug auf seinen Stand unangemessen verhält. Während Anja Russ diese tumpheit für etwas »Liebenswertes«48 hält, das vom Erzähler bewusst eingesetzt werde, um Sympathie für Parzival zu wecken, löst sie bei den Figuren in seiner Umgebung Zornempfindungen aus, die bis zur Beschimpfung reichen: dirre tœrsche W.leise (V. 121,5). Die tumpheit wird schließlich sogar körperlich sichtbar, indem Herzeloyde ihren Sohn in ein Narrenkostüm kleiden lässt. Das ist nötig, da sein Körper so schön ist, dass sein Adel daran sofort sichtbar werden würde. Von einer werdekeit der jugent kann bei Parzivals erstem Erscheinen, abgesehen vom makellosen Körper, keine Rede sein. Vielmehr tritt er von einem Fettnäpfchen ins nächste und verursacht damit teilweise gravierendes Leid für seine Interaktionspartner_innen: Jeschute wird durch den Diebstahl des Ringes und der Spange von ihrem Mann gequält, Ither tötet er sogar und will noch seine Leiche fleddern und selbst nach der Ausbildung bei Gurnemanz versäumt Parzival es, die Frage nach Anfortas’ Verletzung zu stellen, sodass dessen Leid und das der Gralsgemeinschaft anhält. Ursache dieser Verstrickungen sind in der interdependenten Abhängigkeit von ›Alter‹ und ›Stand‹ zu finden, wobei erneut die Dimension ›Raum‹ eine entscheidende Rolle spielt. Denn nicht junges Alter per se sorgt für törichtes Handeln, das zeigt sich im Anschluss bei Obilot und Ob%e deutlich, sondern junges Alter in Verbindung mit nicht standesgemäßer Erziehung in der Wildnis fernab vom Hof sorgen dafür, dass Parzival den Stereotyp des tumben jungelinc bedient, der den des 46 Schultz [Anm. 12], S. 247. 47 Vgl. Lexer [Anm. 15], S. 111. 48 Vgl. Russ [Anm. 12], S. 47.

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weisen Alten kontrastiert. Anja Russ wertet die Erziehung, die Parzival genießt, sogar als Betrug Herzeloydes, da er seine königliche Abstammung nicht verwirklichen kann.49 Das wird auch daran deutlich, dass er seinen Namen erst von Sigune erfährt und vorher nur bei diminutiven Kosenamen genannt wird. Obilot stellt das genaue Gegenteil von Parzival dar : Sie wurde auf der Burg ihres Vaters standesgemäß erzogen und beherrscht die höfischen Umgangsformen perfekt, wenngleich sie möglicherweise sogar noch jünger ist als Parzival. Weder Obilots biologisches Alter noch das ihrer Schwester Ob%e werden vom Erzähler explizit genannt, allerdings ist Ob%e bereits im heiratsfähigen Alter, da am Ende des siebten Buches die Vermählung von ihr und Meljanz steht, während Obilot laut Gawan noch nicht heiratsfähig ist: Þ daz ir minne megt gegebn, / ir müezet fünf j.r Þ lebn: / deist iwerr minne z%t ein zal. (V. 370,15–370,18) Setzt man das heiratsfähige Alter bei zwölf Jahren an, wäre Obilot etwa sieben Jahre und Ob%e mindestens zwölf Jahre alt. Die Figuren des höfischen Romans haben offenbar eine recht konkrete Vorstellung davon, wann eine weibliche Figur in ein Lohn-Dienst-Verhältnis mit männlichen Figuren treten darf, denn von den wenigen konkreten Zeitangaben im »Parzival« finden sich gleich zwei in der Erzählung von Ob%e und Obilot. Gawan weist entsprechend Obilots Minneversprechen zurück, da sie noch fünf Jahre älter werden müsse, ehe sie Ritter in den Minnedienst nehmen könne. Die Funktion als Ritter in ihrem Dienst erfüllt er dennoch, allerdings nicht aufgrund eines Minnebegehrens ihr gegenüber, denn dafür scheint sie ihm zu jung zu sein, sondern im Gegenteil aufgrund ihres erwachsenen Verhaltens und ihrer rhetorischen Fähigkeiten (Vgl. V. 370,8; V. 396,19). Das mangelnde sexuelle Begehren Gawans zeigt sich insbesondere in der Abschiedsszene zwischen Gawan und Obilot: Dort drückt er sie als ein tockn an s%ne brust: / des twang in friwentl%ch gelust. (V. 395,23f.). Der Vergleich Obilots mit einer Puppe lässt einerseits Rückschlüsse auf Obilots geringes Alter zu, da sie offenbar körperlich klein und leicht ist, wenn der Ritter sie so einfach hochheben kann, andererseits offenbart sich darin das rein freundschaftliche Begehren des Ritters, denn trotz der großen körperlichen Nähe wird kein Minneempfinden ausgelöst. Dies wird umso deutlicher, betrachtet man die nächste Szene, in die Gawan gerät, denn dort führt eine vordergründig beiläufigere und unschuldigere Berührung (er greif ir undern mantel dar : / Ich w#ne, er ruort irz hüffel%n (V. 407,2f.)) unverzüglich zu Minneregungen und beide Figuren verfallen in ein spontanes sexuelles Begehren zueinander. Dies führt sogar soweit, dass ein ritter blanc: wand er was gr. (V. 407,12)50, der 49 Vgl. Russ [Anm. 12], S. 41. 50 An der Darstellung dieses alten Ritters zeigt sich, dass der oben genannte Stereotyp von Alter und Weisheit nicht automatisch in älteren männlichen Figuren angelegt ist, sondern dass es

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zufällig den Raum betritt, sofort davon ausgeht, dass eine nitzogt (V. 407,19) vorliegt. Bei der viel engeren Berührung mit Obilot unterstellt niemand Gawan unlautere Absichten, was vor allem daran liegen dürfte, dass Obilot vom Erzähler und von den anderen Figuren stets mit Diminutiven oder Beschreibungen, die junges Alter evozieren, bezeichnet wird. So verweisen neben tockn Begriffe wie das kint (V. 395,22), diu mag(e)t (V. 396,9; 372,1)51, diu junge (V. 358,7; 372,27), das wÞnec frouwel%n (V. 368,29) oder das tohterl%n (V. 368,11; 372,15) auf das junge Alter Obilots. Stellenweise entspricht Obilots Verhalten dem eines kleinen Kindes, beispielsweise, wenn sie mit ihrer Freundin spielt (Vgl. V. 368,12; V. 372,18). Tritt zu der interdependenten Kategorie ›Alter‹ jedoch ›Stand‹ entspricht ihr Verhalten – ganz im Sinne einer puella senex – dem einer erwachsenen Dame. Obilot ist die einzige unter den Damen, die Gawans Potential erkennt und es vor ihrer älteren Schwester verteidigt. Während Ob%e sich vorschnell abfällig über Gawan äußert und ihn für einen Kaufmann hält, wirken Obilots Argumente vernünftiger. Obwohl sie die jüngere der beiden ist, erweist Obilot sich als die weisere.52 Das geht sogar so weit, dass die Erzählinstanz an einer Stelle konstatiert, dass got 0z ir jungen munde sprach (V. 396,19). An dieser Aussage könnte eine Interdependenz mit der Kategorie ›Religion‹ erwogen werden. Allerdings zeichnen sich junge Mädchen in religiösen Kontexten gerade dadurch aus, dass sie nicht heiraten, während Obilot in ihrer Rede die Kupplerin spielt und Ob%e und Meljanz zur Hochzeit überredet.53 Auch in der Interaktion mit Gawan erweist sie sich als ihrem Alter voraus, denn obwohl sie noch fünf Jahre warten muss, bis sie in eine Minnebeziehung treten kann, verfügt sie dennoch schon über das Vokabular der hohen Minne und hat eine Vorstellung von Lohn-Dienst-Beziehungen.54 Brüggen und Bumke wenden jedoch ein, dass Obilot aufgrund ihres jungen Alters noch keine Vorstellung davon habe, was Minnelohn sei und am Ende der Erzählung nicht wahrhaben wolle, dass alles ein Spiel gewesen sei.55 Folgerichtig möchte sie Gawan mit einem Liebespfand ausrüsten, besitzt aber in ihrem jungen Alter kein adäquates Kleidungsstück, das sie ihm geben könnte. Schließlich wird ein Ärmel, den Gawan an seinen Schild hängt, eigens für ihn angefertigt, »[d]ie erotische Motivation, die in der Berührung des Minnepfandes mit der Haut der Geliebten besteht, ist

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durchaus Figuren gibt, die trotz fortgeschrittenen Alters zu unüberlegten Handlungen neigen. Hier zeigt sich erneut die oben genannte Synonymie der sprachlichen Felder für Kindheit und Dienerschaft. Vgl. Russ [Anm. 12], S. 92. Vgl. Schultz [Anm. 12], S. 259–262. Vgl. Russ [Anm. 12], S. 93. Vgl. Brüggen u. Bumke [Anm. 41], S. 875.

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also nicht gegeben«56. Dennoch geht Gawan auf Obilots Anliegen ein und nennt sie während ihres einseitigen Lohn-Dienst-Verhältnisses stets frouwe. Zumindest auf einer performativen Ebene des Handlungsmusters ›Minne‹ tritt die interdependente Kategorie ›Stand‹ in den Vordergrund vor ›Alter‹. Das zeigt sich auch auf einer metaphorischen Textebene, denn der Ärmel wird durchstochen und durchslagn (V. 390,25), während Obilots Jungfräulichkeit erhalten bleibt. Gawan prophezeit Obilot, dass sie noch viele Männer in ihren Dienst nehmen wird, wenn sie in fünf Jahren im heiratsfähigen Alter ist: di sprach er ›sult ir werden alt, / trüeg dan niht wan sper der walt / als erz am andern holze h.t, / daz wurde iu zwein ein ringiu s.t. / kan iwer jugent sus twingen, / welt irz inz alter bringen, / iwer minne lÞrt noch ritters hant / d. von ie schilt gein sper verswant.‹ (V. 372,5–372,12).

Gawan erkennt an der Art, die Obilot in ihrem jungen Alter an den Tag legt, dass eines Tages viele Männer um ihre Hand werben werden. Voraussetzung für diese Prognose ist zum einen, dass Obilot das heiratsfähige Alter erreichen muss und dass sie die werdekeit der jugent mit in das fortgeschrittene Alter bringt. An dieser Aussage wird deutlich, dass sämtliche Kategorien prozessual angelegt sind: In der Figur Obilot treten interdependente Verbindungen zwischen ›Alter‹ und ›Stand‹ im Handlungsmuster ›Minne‹ hervor und machen sie in dieser Szene zu einer idealen Dame. Diese Idealvorstellung muss jedoch immer neu geschaffen werden, denn die Kategorien setzen sich situations- und zeitbedingt immer wieder neu zusammen. Es ist klar, dass bei der Obilot-Episode auch die Kategorie ›Geschlecht‹ eine wichtige Rolle einnimmt, obwohl sie kaum explizit genannt wird. Betrachtet man die Handlungsmöglichkeiten, die den Figuren auf Bearosche zugeschrieben werden, zeigt sich, dass keine andere Figur, außer der eigentlich zu jungen Obilot, Ritter als Kämpfer gewinnen kann. Herzog Lyppaut hat zwei Kinder, Ob%e und Obilot, von denen er viel Leid erfahren musste, da sie nicht verheiratet sind (vgl. V. 367,12–367,22). Dadurch fehlt ihm ein Sohn, der das Reich vor dem Anspruch des Meljanz verteidigt. Lyppaut behauptet aber zugleich, dass Töchter genauso wertvoll seien wie Söhne, denn obwohl sie kein Schwert führen dürften, hätten sie doch ihre eigenen Waffen, mit denen sie das Land verteidigen könnten: die Heirat mit einem sun vil ellens r%che (V. 367,28)57. Genau das schafft 56 Russ [Anm. 12], S. 95. 57 Schultz führt mit Recht an, dass die Argumentation Lyppauts merkwürdig ist: »Since, according to Lippaot, the chief virtue of a daughter is that she can help him gain a son, it’s hard to see why he doesn’t want sons in the first place.« (Ders. [Anm. 12], S. 256). Anja Russ sieht in der Aussage Lyppauts, dass er seine Töchter liebt und stets zu ihnen steht (vgl. Dies. [Anm. 12], S. 91). Deutlich wird auf jeden Fall, dass es klare Unterschiede in der ständischen Funktion von adligen Mädchen und Jungen gibt.

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Obilot, allerdings ohne sich selbst zu verheiraten, sondern ihre große Schwester. Ob%e steht ohnehin schon in einem Minneverhältnis zu Meljanz, der als eine Art Adoptivsohn am Hof des Lyppaut aufgewachsen ist. Daher kann sie Gawan nicht als ihren Minneritter beauftragen, denn abgesehen davon, dass sie ihn für einen Kaufmann hält, ist sie bereits in eine Minneverbindung verstrickt. Die Mutter der beiden ist zum einen verheiratet und zum anderen wird sie als diu alte herzog%n (V. 352,13) bezeichnet, was darauf hinweist, dass sie zu alt ist, um einen Ritter in den Dienst zu nehmen. Übrig bleibt folglich nur Obilot, die just in diesem Moment ihre kindlichen Züge ablegt und einer adligen Dame entsprechend agiert. Der Konflikt auf Bearosche wird ausgelöst, weil Ob%e Meljanz eine Bedingung an die Erfüllung ihrer Minne stellt, die er nicht annehmen will, worüber Ob%e selbst und der Hofstaat betrübt sind. Interessanterweise bringt Ob%e die gleiche Zeitspanne vor, die Meljanz sich noch bewähren müsse, wie Gawan ihrer Schwester Obilot: Si sprach hin zim wært ir si alt, / daz under schilde wære bezalt / in werdecl%chen stunden, / mit helm 0f houbt gebunden / gein hertecl%chen v.ren, / iwer tage in fünf j.ren, / daz ir den pr%s d. het genomn, / und w#rt ir danne wider komn / ze m%m gebote gewesen d., / spræche ich denne alrÞste j., / des iwer wille gerte, / alze fruo ich iuch gewerte. (V. 346,3–346,14)

Im Gegensatz zu Obilot steht bei Meljanz offenbar nicht die Kategorie ›Alter‹, sondern die Kategorie ›Stand‹ im Vordergrund, wobei die distinguierende Kategorie ›Geschlecht‹ zu sein scheint. Ob%e bewertet die Heiratsfähigkeit des Prinzen folglich nicht nach einem biologischen Alter, sondern nach Jahren, die er sich auf .ventiure bewährt hat. Als Zeitspanne werden erneut die fünf Jahre angeführt, die jedoch an die Bedingung geknüpft sind, in dieser Zeit auch wirklich pr%s, also Lob oder Ruhm, erworben zu haben. Selbst wenn Meljanz danach zurückkäme und ihr weiter dienen würde, hielte sie den Zeitpunkt für zu früh, um ihm Lohn zu geben. Paradoxerweise erfüllt Meljanz mit seinem Angriff auf Bearosche Ob%es Forderungen: Er bewährt sich im Krieg. Das richtige Maß für Minnedienstleistungen ist ein fortdauerndes Thema im »Parzival«, so ist Gawan eigentlich ständig im Minnedienst, besonders aber als er um Orgeluse wirbt, zahlreiche Männer ziehen sich im Minnedienst Verletzungen zu und Sigune verliert ihren Sch%.natulander sogar, weil er an ihrer Minneaufgabe, der Beschaffung des Brackenseils, scheitert. Häufig werden das junge Alter der Figuren und ihre Unerfahrenheit als Ursache für fehlgeschlagene Minneabenteuer angeführt. Obwohl Ob%e im heiratsfähigen Alter ist, scheint sie noch sehr unreif zu sein, was sich nicht nur im oben genannten Gespräch mit Obilot zeigt, sondern auch an ihren Forderungen Meljanz gegenüber, die er als hichvart bezeichnet.

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Es lässt sich festhalten, dass Wolfram von Eschenbach bei den jungen Figuren, ebenso wie bei den Figuren hohen Alters, keine Stereotype entwickelt, sondern alle Figuren in der Lage sind, ihre Zuschreibungen in performativen Akten zu ändern. Entsprechend gibt es nicht nur den tumben jungelinc oder nur die puella senex, die Figuren passen ihr Verhalten ganz im Sinne eines doing-age an die jeweilige Situation an, indem verschiedene andere Kategorien zu ›Alter‹ hinzutreten. An der Figur der Obilot kann besonders gut gezeigt werden, welchen Mehrwert eine soziologische Untersuchungsperspektive der literaturwissenschaftlichen Textanalyse bietet.

V.

grâwe röcke herte (V. 446,15) – Alterserscheinungen durch Askese: Die interdependenten Kategorien ›Alter‹ und ›Religion‹

Die interdependente Kategorie ›Religion‹ stand bei den bisher untersuchten Figuren eher im Hintergrund und wurde nur partiell – beispielsweise bei Obilot – sichtbar. Zwei Figuren im »Parzival« wechseln im Verlauf der Diegese ihren Stand, indem sie aus dem höfischen Leben austreten und ein Einsiedlerleben führen. Über Trevrizent erfahren die Rezipient_innen nur durch Figurenrede, dass er der Bruder des Anfortas ist und sich gegen die Thronfolge und für ein asketisches Leben entschieden hat. Sigune wird als höfische Dame in den Text eingeführt und endet schließlich als Klausnerin. Bei beiden Figuren markieren Körperzeichen, die der interdependenten Kategorie ›Alter‹ zugeschrieben werden können, den Übergang in einen religiösen Stand.58 Im neunten Buch begegnet Parzival der Figur Kahen%s, die ihm den Weg zu Trevrizent weist und der sich, der Karfreitagstradition entsprechend, auf Pilgerfahrt befindet. Der Ritter wird vornehmlich über das Interdependenzverhältnis von ›Alter‹ und ›Religion‹ beschrieben und bereitet damit die Figur Trevrizent gewissermaßen vor : im widergienc ein r%ter alt, / des part al gr. was gevar, / d. b% s%n vel lieht unde cl.r : / die selben varwe truoc s%n w%p; / diu bÞdiu über blizen l%p / truogen gr.we röcke herte / 0f ir b%hte verte. / […] Parziv.l bit s%nen gruoz / dem gr.wen r%ter der d. gienc; / von des r.te er s%t gelücke enphienc. (V. 446,10–446,24)

Kahen%s wird mit dem Adjektiv alt eingeführt, das auf ein hohes Alter hindeutet und die folgenden Körperzeichen des part al gr. und gr.wen r%ter[s] als Alterszuschreibungen einleitet. Diesbezüglich unterscheidet er sich von der Beschreibung der weiblichen Figuren in seiner Umgebung, die zwar auch in grauen 58 Vgl. zum asketischen Hautdiskurs Ernst [Anm. 19], S. 176.

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Kleidern und barfuß unterwegs sind, aber nicht zusätzlich als alt bezeichnet werden. Bei Kahen%s Frau und seinen Töchtern scheint sich das Erscheinungsbild also nur auf eine Standeskategorie zu beziehen, während sie bei ihm selbst zur Markierung von ›Alter‹ und ›Stand‹ dient. Auffällig ist weiterhin, dass die Haut des grauen Ritters nicht etwa wie bei asketischen Figuren aus hagiographischen Schriften geschunden und eingefallen ist, sondern lieht unde cl.r. Damit rückt erneut die interdependente Kategorie ›Stand‹ in den Vordergrund, da helle und unversehrte Haut in das Zeicheninventar adliger Figuren im höfischen Roman gehört, wie bereits bei der Figur Titurel deutlich wurde, dessen Haut ebenso »im Widerspruch zu seinem Alter nicht ausgetrocknet und entfärbt ist, sondern ihre jugendliche Glanzschönheit bewahrt hat«59, wodurch er nach Ulrich Ernst von der Körperbeschreibung zu einem senex puerilis avanciert.60 Andererseits könnte die helle Haut aber bezeichnen, dass der Ritter nicht im biologischen Sinne alt ist, sondern dass seine Grauheit Hinweis auf die interdependente Kategorie ›Religion‹ ist, indem sie seine Askese markieren. Es ist in Antike und Mittelalter nicht unüblich, sich zum Zeichen der Trauer, die sich am Karfreitag in ritualisierter Form zeigt, die Haut und Kleidung mit Asche zu bedecken. Das andere Signal, das hervorhebt, dass für Kahen%s, obwohl er auf gotes vart (V. 446,29) ist, noch ständische Kategorien gelten, ist die Bezeichnung als r%ter durch die Erzählinstanz. R%ter benennt einerseits einen nicht zwingend ständisch konnotierten Reiter zu Pferd, da Kahen%s aber zu Fuß unterwegs ist, muss hier die Übersetzung ›Ritter‹ oder ›Kämpfer‹ als Adelsbezeichnung greifen.61 Im letzten Vers eröffnet die Erzählinstanz schließlich das Altersstereotyp des alten Mannes als weisen Ratgeber, der Parzival zu Trevrizent, dem ultimativen Ratgeber im »Parzival« führt. Susanne Knaeble macht für Trevrizent eine ähnliche Beobachtung, wie sie bereits auf den grauen Ritter zutrifft, nämlich dass er sich zwar an die Handlungsmaximen dieser höfischen Ordnung sehr wohl noch zu erinnern vermag […], [aber] sein l%p sie vergezzen hat, was nur soviel bedeuten kann, dass er sie nun vom Standpunkt einer anderen Ordnung, die sich schließlich durch die Ausrichtung auf Gott als religiöse erweist, betrachtet.62

Damit beschreibt sie, auf intersektionales Vokabular übertragen, die Dominanz der interdependenten Kategorie ›Religion‹ über die interdependente Kategorie ›Stand‹, beide stehen wiederum in Abhängigkeit zu anderen interdependenten

59 60 61 62

Ebd., S. 167. Vgl. ebd. Vgl. Lexer [Anm. 15], S. 170. Knaeble, Susanne: Höfisches Erzählen von Gott. Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen in Wolframs »Parzival«. Berlin 2011, S. 183.

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Kategorien wie ›Geschlecht‹ und ›Alter‹, die sich alle auf der Dimension ›Körper‹ abbilden. Die Transzendenz Trevrizents zwischen zwei Ständen oder Ordnungen, wie Knaeble sie nennt, manifestiert sich auch in seinem einsidel-Dasein in einer Klause, wo er zwar fern vom Hof, aber ebenso fern von kirchlichen Institutionen wohnt. Wobei gesagt werden muss, dass Abgeschiedenheit ein zentrales Motiv in hagiographischen Texten darstellt. Interessanter ist erneut die Frage, ob der Handlungsrahmen oder die Dimension ›Raum‹ zur Verhältnisbestimmung auch bei dieser Figur angebracht wäre. Für die nähere Untersuchung der interdependenten Kategorie ›Stand‹ ist der Zwischenraum zwischen Hof, Orten der Laienreligiosität und Kirche mit Sicherheit fruchtbringend, für die Analyse von ›Alter‹ soll die Dimension ›Raum‹ außen vor gelassen werden.63 An dieser Stelle sei nur festgehalten, dass Trevrizent offenbar nicht nur bei der Beschreibung seines Alters eine hybride Figur darstellt, indem er Alterszeichen trägt, die nicht durch sein biologisches Alter hervorgerufen werden, sondern auch zwischen den Orten und Ständen als Vermittler fungiert. Ansonsten zeichnet sich Trevrizent vor allem dadurch aus, dass er als mittelalter Mann (er müsste etwa im gleichen Alter sein wie sein Bruder Anfortas, der amtierende Gralskönig) die Ratgeberrolle perfekt ausfüllt, die eigentlich alten Figuren zugedacht ist. Dies wird möglich, da die interdependenten Kategorien ›Religion‹ und ›Stand‹ sein biologisches Alter in den Hintergrund rücken lassen und seine Ratgebertätigkeit aufgrund der in der Einsamkeit und Gottbezogenheit erworbenen Weisheit legitimieren. Ebenso wie Trevrizent oszilliert Sigune zwischen den Ständen und Orten des weltlichen Hofs und der geistlichen Einsiedelei. Ihr Verhalten ist vom Tod ihres Geliebten Sch%.natulander motiviert, dem sie auch nach seinem Tod besonders nah sein möchte. Dies zeigt sich einerseits an einem räumlichen Aspekt, denn Sigune nimmt den Leichnam überall hin mit und lässt sich letztlich sogar mit dem einbalsamierten Körper einmauern. Andererseits gleicht sich Sigune auch körperlich an den Toten an, was sich an Körperzeichen des Alters manifestiert, denn »Alter(n) ist ein fundamental körperlicher Prozess, an dessen Ende der physische Tod steht«64. Zu diesen Körperzeichen gehören, wie an anderer Stelle erwähnt, Sigunes Kahlheit durch das Ausreißen der Zöpfe, ihre Farb- und Kraftlosigkeit und ihr harter Körper. Susanne Knaeble stellt neben dem Zusammenhang von ›Körper‹ und ›Minne‹ an der Beschreibung Sigunes auch eine Verbindung mit der Kategorie ›Stand‹ her : 63 Zur Funktion von ›Raum‹ vgl. Knaeble [Anm. 62], S. 185–187. Susanne Knaeble stellt dabei auch fest, dass die zentrale Aufgabe der Trevrizent-Figur sei, die höfische und göttliche Ordnung zusammenzubringen. 64 Gugutzer [Anm. 20], S. 182.

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Es gehört zu den Topoi höfischer Darstellungskonventionen, dass Mann und Frau als gemeinsamer repräsentativer Herrschaftskörper fungieren, und deshalb auch körperlich einander angemessen sein müssen. Sigune ist jedoch dergestalt um körperliche Angemessenheit bestrebt, dass sie ihren Leib zum Leib der Geliebten eines Toten macht. […] Sigunes Gebärden und damit ihr gesamter Leib sind als außerhöfische, eben nicht integrierbare Erscheinung markiert.65

Paradoxerweise erreicht Sigune durch ihr Verhalten das genaue Gegenteil von einer körperlichen Angemessenheit, da Sch%.natulanders Schönheit aufgrund der Einbalsamierung konserviert wird, während Sigunes Körper durch Selbstverstümmelung und Minneleid in den Körper einer alten Frau transformiert wird. Die von Knaeble konstatierte Einheit des Herrschaftskörpers über den Tod hinaus, ist für die höfische Gesellschaft nicht unproblematisch, zumal Sigune von der Erzählinstanz bei der zweiten Begegnung mit Parzival als magt (V. 249,15) bezeichnet wird, also als eine unverheiratete Jungfrau, sodass ihre Trauer maßlos wirkt und Parzival sie auffordert, den Leichnam zu begraben und ihre Trauer zu beenden. Da Sigune nicht mehr in die höfische Gesellschaft integriert werden kann oder will – denn diese würde erwarten, dass sie eine standesgemäße Ehe eingeht – wird sie einem anderen Stand zugeordnet. Der Übergang vom höfisch-adligen zu einem möglicherweise klerikalen Stand vollzieht sich fließend und ist erneut eng mit räumlichen Markierungen verbunden. Insbesondere zu möglichen mariologischen Motiven in den SiguneEpisoden besteht eine divergierende Debatte in der mediävistischen Forschung.66 Während Claudia Brinker-von der Heyde und Susanne Knaeble Sigune auf der Linde über den toten Sch%.natulander gebeugt als Marienanalogie deuten, da zwar nicht davon gesprochen werden kann, dass die Linde als der Marienbaum schlechthin zu verstehen ist, so scheint sie in Kombination mit der an die Piet/-Stellung erinnernde Körperhaltung Sigunes doch eine recht eindeutige Sprache zu sprechen: Die Verbindung zwischen der ›magt‹ und dem ›gebalsemt ritter tit‹ ist eine geheiligte.67

Dieser Ansicht widerspricht Uta Drecoll, die in der Szene kein religiöses Motiv, sondern eine Liebesgeste liest, die im weltlichen Prinzip der höfischen Minne zu verorten ist: 65 Knaeble, Susanne: Die heilige Geliebte eines Toten – Überlegungen zur Sigune-Figur in Wolframs Parzival. In: Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters. Hg. v. Knaeble, Susanne u. a. Berlin 2011 (bayreuther forum TRANSIT. Kulturwissenschaftliche Religionsstudien 10), S. 95–109, hier S. 100–101. 66 Einen Überblick über die Forschung bietet beispielsweise Brinker-von der Heyde, Claudia: Geliebte Mütter – Mütterliche Geliebte. Rolleninszenierung in höfischen Romanen. Bonn 1996 (Studien zu Germanistik, Anglistik und Komparatistik 123), S. 324–331. 67 Knaeble [Anm. 65], S. 99. Vgl. auch Brinker-von der Heyde [Anm. 66], S. 325–329.

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Das In-den-Armen-Halten Sigunes aus der zweiten Parzivalszene hat demnach nichts mit der Piet/-Haltung zu tun, sondern ist als Liebesgeste zu deuten, die die Liebe im Tod veranschaulicht; Sigune beugt sich über Schionatulander, der lent ir zwischen den armen (P 249; 17) – eine hinneigende Geste, in der Trauer und Hingabe vereint sind.68

Mit einer intersektionalen Perspektive auf diese Szene kann festgehalten werden, dass durch die interdependenten Verschränkungen von ›Geschlecht‹ in den Dimensionen ›Körper‹ und ›Raum‹, die interdependente Kategorie ›Stand‹ transzendiert wird, denn Sigunes Körper entspricht nicht mehr höfischen Normen, ebenso wie ihr geschlechtsspezifischer Trauerausdruck übermäßig ist, aber der Raum ist weder höfisch noch klerikal und die Art der Kommunikation zwischen Parzival und Sigune ist eindeutig höfischer Natur. Ähnlich wie bei Trevrizent wird das Alter Sigunes folglich durch die Überlagerung anderer Kategorien unsichtbar gemacht. Die Alterszeichen, die sich auf Sigunes Körper abbilden, werden durch Trauergebärden und ständisch unangemessenes Verhalten als Minneleid interpretiert und münden schließlich in eine asketische Lebensweise in einer Klause. Erneut spielt die Dimension ›Raum‹ für die Zuordnung von Figuren in interdependente Zusammenhänge eine entscheidende Rolle, auch wenn Sigunes Klause wie auch die Einsiedelei Trevrizents ein Mischraum ist, denn wie Susanne Knaeble feststellt, ist Sigune »nicht ins Kloster gegangen, sondern ihre Haltung ist immer noch auf ihre ›alte triuwe‹ bezogen«69. Die Abgeschiedenheit von der höfischen Gesellschaft und damit einhergehend der Verzicht auf eine erneute Ehe, schöne Kleidung und reichhaltige Nahrung rücken Sigune dennoch in die Nähe einer Heiligen, wie sie aus hagiographischen Texten bekannt ist. Hinzu treten ihre ständigen Gebete an Sch%.natulanders Grab und ihr märtyrerhafter Tod eingemauert mit ihrem Geliebten. Claudia Brinker-von der Heyde bezeichnet Sigune entsprechend als Minneheilige, »[d]enn kontinuierlich führt ihr Leben aus der höfischen Liebe in die Entsagung der Gottesliebe«70. Knaeble kommt zu einem ähnlichen Schluss, indem sie bestätigt, dass Sigunes Leben durch das Gebet gänzlich Gott zugewandt sei, aber dennoch auf die höfische Minne referiere. Dies versteht sie »als die Sakralisierung des höfischen Minnepaares […], deren Kern eine den Tod überwindende triuwe«71 sei. Neben Figuren taucht im »Parzival« zentral ein Gegenstand auf, der die interdependenten Kategorien ›Religion‹ und ›Alter‹ miteinander verbindet: der heilige Gral. Der Gral, im »Parzival« der stein (V. 469,28) genannt, hat die Ei68 Drecoll, Uta: Tod in der Liebe – Liebe im Tod. Untersuchungen zu Wolframs Titurel und Gottfrieds Tristan in Wort und Bild. Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 321–322. 69 Knaeble [Anm. 65], S. 104. 70 Brinker-von der Heyde [Anm. 66], S. 332. 71 Knaeble [Anm. 65], S. 105.

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genschaft, die Körperzeichen des Alterns für eine gewisse Zeit unsichtbar zu machen. Er wird von Trevrizent folgendermaßen beschrieben: s%n varwe im nimmer ouch zergÞt: / man muoz im sölher varwe jehn, / d. mit ez h.t den stein gesehn, / ez s% maget ode man, / als di s%n bestiu z%t huop an, / sæh ez den stein zwei hundert j.r, / im enwurde denne gr. s%n h.r (V. 469,18–469,24).

In der Figurenrede erfährt Parzival, dass der Gral die Fähigkeit besitzt, das Alter der betrachtenden Person zu konservieren, was sich wiederum an den bekannten Körperzeichen der (Haut-) und Haarfarbe ablesen lässt, denn die Figuren behalten ihre Farbe beim Anblick des Steines und ihr Haar wird nicht grau, selbst wenn sie den Gral zweihundert Jahre ansehen würden. Mit dieser konkreten Jahresangabe wird potentielle Unsterblichkeit und damit ein christlich-religiöses Motiv aufgerufen, denn zweihundert Jahre sind kein menschlich erreichbares Alter. Der Gral ist jedoch nicht nur in der Lage, Alterszeichen des Körpers zu verhindern, sondern er soll den Menschen auch jugendliche Kraft wiedergeben können: selhe kraft dem menschen g%t der stein, / daz im fleisch unde bein / jugent enpfæht als sunder tw.l (V. 469,25–469,27). Der Gral kann offenbar die tw.l des Alters oder sein siuften unde leit in jugendliche Stärke umwandeln. Auffällig ist bei dieser Beschreibung, dass sowohl Anfortas als auch Titurel dem Gral ständig ausgesetzt sind, ihre Alterszeichen jedoch nicht gemildert werden: Titurel ist sehr wohl grauhaarig und muss zudem an Podagra leiden. Von jugendlicher Stärke kann auch keine Rede sein, wenn er auf einem Bett zum Gral getragen werden muss. Auch Anfortas’ tw.l wird durch den Gral nicht gelindert. Die Ursache hierfür könnte darin zu finden sein, dass ihre Leiden nur bedingt Altersmerkmale sind, sondern als Strafe für die Verstöße gegen die Gralsordnung zu verstehen sind. Entsprechend rückt die interdependente Kategorie ›Stand‹ in den Vordergrund und verhindert die Produktion eines ›gesunden‹ Körperzeichens durch die Interdependenz von ›Alter‹ und ›Religion‹.

VI.

junc oder alt, / oder blAde oder balt (V. 93,15f.) – Ein Fazit

Das obige Zitat, das im Zusammenhang von Gahmurets Turnier steht, verdeutlicht, dass ›Alter‹ ebenso wie interdependente Kategorien des Standes, des Geschlechtes usw. gleichzeitig zur Herstellung von Differenz und von Zusammengehörigkeit dienen kann, denn die oben genannte Menge aus jungen und alten sowie schwachen/feigen und starken/mutigen Figuren werden zwar als gemeinsame Menge bezeichnet, die sich an diesem Turniertag dazu entschließt, nicht zu kämpfen, aber gleichzeitig aufgrund ihres Alters und ihrer physischen und psychischen Verfasstheit distinguiert. An der interdependenten Kategorie ›Alter‹ lässt sich für den »Parzival« festhalten, dass sie zwar stets vorhanden ist,

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aber selten in den Vordergrund rückt. Wenn das Alter einer Figur durch Adjektive wie junc oder alt oder durch konkrete Jahresangaben genannt wird, dann meistens, um ein Distinktionsmerkmal zu schaffen. Alter wird fast nie durch die Nennung konkreter Zeitspannen in Jahren angegeben, sondern vielmehr durch bestimmte Körpercodes wie Grauhaarigkeit, Bärtigkeit, Hautfarbe, Körpergröße und -gewicht hergestellt oder im Sinne eines doing-age am Verhalten der Figuren festgemacht. Einige Körperzeichen stellen sich jedoch als ambig dar und erzeugen eine Uneindeutigkeit bei anderen Kategorien, sodass bei einigen Figuren nicht eindeutig zugewiesen werden kann, auf welche Kategorien sich die Körpercodes beziehen, so schaffen beispielsweise religiöse Askese, Trauer, Alter und Versehrtheit ähnliche Körperzeichen und es liegt bei den Rezipient_innen, diese zu entschlüsseln. Auch im Hinblick auf Verhaltensweisen spielt die Erzählinstanz mit normabweichenden Handlungsmustern, wobei insbesondere altersunangemessenes Verhalten in Minneangelegenheiten reflektiert wird. Die Erzählinstanz enthält sich jedoch weitgehend gängiger Altersstereotypen beziehungsweise sie nutzt sie, um sie an späterer Stelle zu dekonstruieren. Dies geschieht, wie an Parzival und Obilot eindeutig sichtbar wurde, durch das Hinzuziehen anderer Kategorien, die ›Alter‹ in den Hintergrund rücken lassen. Von einer Diskriminierung alter Figuren kann ebenso wenig die Rede sein wie von der Attestierung von Mangelhaftigkeit in der Kindheit. Zwar nehmen sehr alte und sehr junge Figuren nur eine Randstellung im Roman ein, dies dürfte aber durchaus ein Reflex auf reale Verhältnisse sein. Das eingangs genannte Zitat, dass Alter nur siuften unde leit hervorbringe, kann in seinem Kontext, dem der Altersarmut, nicht bestätigt werden – in Bezug auf andere interdependente Kategorien wie ›Stand‹ und ›Geschlecht‹ jedoch durchaus, wie sich an Titurel und Gurnemanz insbesondere an der Dimension ›Körper‹ zeigt. Ersterer leidet an altersbedingter Gebrechlichkeit des Körpers und letzterer kann durch den Verlust seiner Söhne keine genealogische Nachfolge sichern. Genauso wenig verspricht auch jugent nicht nur werdekeit, denn nahezu alle Figuren erfahren Demütigung und Leid durch Versagen in der Jugend im interdependenten Zusammenhang von ›Geschlecht‹, ›Alter‹ und ›Stand‹ im Handlungsmuster ›Minne‹. Insgesamt ist die Kategorie ›Alter‹ prozessual und performativ angelegt, sodass die Figuren durch ihr Verhalten die Möglichkeit erhalten, diskriminierende Altersimplikationen unsichtbar zu machen. Um es mit Detlef Gollers Worten auszudrücken: »[I]n den Texten [werden] alte Menschen keinesfalls allein auf Grund ihres Alters diskriminiert bzw. aus der höfischen Gesellschaft ausgegrenzt«72. Dies belegt die Notwendigkeit und den Mehrwert einer intersektionalen Analyse literarischer Texte des Mittelalters: Die Figuren sind nicht eindimensional konstruiert, sondern ihr Handeln ist dynamisch und mehrdi72 Goller [Anm. 14], S. 159.

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mensional angelegt, sodass Interdependenzen situativ in den Vorder- und Hintergrund treten können. Eine Mehrebenenanalyse hilft zu erkennen, welche der stets vorhandenen Kategorien wie ›Stand‹, ›Geschlecht‹, ›Alter‹ uvm. in der Interaktion mit Figuren in ihren jeweiligen intersektionalen Zusammenhängen in den Vordergrund rücken. Außerdem schärft sie den Blick für Handlungsmuster und -rahmen wie ›Minne‹ und ›Raum‹, da dort spezifische Kategorien hervortreten bzw. unsichtbar gemacht werden. Im Hinblick auf ›Alter‹ hat sich gezeigt, dass es zur dominanten Kategorie wird, um Minneversagen und den Übergang von einem Stand in einen anderen zu markieren.

Michael Mecklenburg

»mir ist lait, daz der man min / ane zagel mvz wesen« (V. 1058f.): Zur Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs »Reinhart Fuchs«

Der um 1200 vermutlich im Elsaß entstandene »Reinhart Fuchs« eines ansonsten unbekannten Dichters Heinrich1 ist im Feld der Fabeldichtung und Tierepik außergewöhnlich.2 Die bekannten Einzelfabeln über die vielfältigen Betrügereien des Fuchses werden nämlich weder lediglich locker in eine Rahmenhandlung eingefügt3 noch von der abschließenden, den Fuchs eindeutig als Negativexempel präsentierenden Gerichtsverhandlung her in analeptischer Reihung erzählt.4 Vielmehr sind die einzelnen Betrugsepisoden hier Bestandteil einer in sich geschlossenen Geschichte, die als Erzählung im ordo naturalis 1 Vgl. als Überblick zu Überlieferung, zentralen Interpretationsfragen und mit weiterführender Literatur Düwel, Klaus: Artikel »Heinrich, Verfasser des ›Reinhart Fuchs‹«. In: VL, Bd. 3, Berlin, New York 21981, Sp. 666–667. Grundlegend für Datierung, Stoffgeschichte und mögliche Wirkungsabsichten nach wie vor Schwab, Ute: Zur Datierung und Interpretation des Reinhart Fuchs. Mit einem textkritischen Beitrag von Klaus Düwel. Neapel 1967 [Nachdruck Göppingen 2010]. Vgl. zu einer Darstellung mit Fokus auf dem Fuchs als literarischem Tier im Kontext der europäischen Fabeltradition jetzt Haferland, Harald: Der Fuchs in Tierdichtung und Erzählfolklore. In: Tiere: Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters. Hg. v. Klinger, Judith u. Kraß, Andreas. Köln, Weimar u. a. 2017, S. 119–138. Der Text wird zitiert nach der zweisprachigen Ausgabe von Karl-Heinz Göttert (Heinrich der Gl%chez.re: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übers. u. erl. v. Göttert, KarlHeinz. Stuttgart 1976; bibliogr. erw. Ausg 2005 [RUB 9819]), der den Parallelabdruck der Handschriften S und P nach der Ausgabe von Georg Baesecke und Ingeborg Schröbler (1952) bietet und auf Versuche einer rekonstruierenden Textherstellung verzichtet; alle Textstellen wurden mit dem Digitalisat der Heidelberger Handschrift S, Cpg 341, abgeglichen (dig.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg341, letzter Zugriff: 19. 03. 2017). Alle Übersetzungen stammen von mir ; Textstellennachweise werden mit der Sigle ›RF‹ dem Zitat in Klammern nachgestellt. 2 Vgl. Linke, Hansjürgen: Form und Sinn des ›Fuchs Reinhart‹. In: Strukturen und Interpretationen. Studien zur deutschen Philologie gewidmet Blanka Horacek zum 60. Geburtstag. Hg. v. Ebenbauer, Alfred. Wien 1974 (Philologica Germanica 1), S. 226–262. 3 So in der altfranzösischen Tradition des »Roman de Renart« (verschiedene Branchen zwischen 1170 und 1250), die dem »Reinhart Fuchs« literaturhistorisch vorausgeht und dem Dichter vielleicht zum Teil als Vorlage diente. 4 So dann im niederländischen »Van den vos Reynaerde« (vor 1300, Hs. um 1375) und im niederdeutschen »Reyneke de Vos« (Erstdruck Lübeck 1498).

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entfaltet wird.5 Ein zentrales Element ist dabei die über viele Stationen verlaufende Rache des Fuchs’ Reinhart am Wolf Isengrin wegen dessen Treulosigkeit bei der Teilung eines erbeuteten Schinkens.6 So verliert der Wolf durch Listen des Fuchses in einer schmerzhaften Reihung körperlicher Verwundungen sein Genital (Schwur auf das Wolfseisen, RF, V. 552–564)7, sein Haupthaar (durch Verbrühen, RF, V. 640–711) und seinen Schwanz (beim Eisangeln, RF, V. 712–822). Wir wissen nicht mit Sicherheit, wie die zeitgenössischen Rezipient_innen das bewertet haben, mit welchem der beiden Tiere sie vielleicht Mitleid hatten und über welches sie gelacht haben.8 In jedem Fall aber bezieht eine Bewertung sich hier auf Tiere und nicht auf Menschen, was eine Identifikation erschwert, so dass gleichzeitig ein Lachen über den verstümmelten Wolf und eine Verurteilung des grausam-listigen Fuchs’ möglich ist. Die eigentliche Pointe dieser Verstümmelungs-Listen ist jedoch, dass der Wolf ihnen schließlich sein Leben zu verdanken hat. Klosterbrüder entdecken ihn zufällig in ihrem Ziehbrunnen vor den Klostermauern (in dem er durch eine Fuchs-List gefangen ist, RF, V. 858–958), holen 5 Damit gehört der »Reinhart Fuchs« zur Gattung der Tierepik, die sich unter anderem durch die mehr oder weniger starke Integration bekannter Einzelfabeln in den Gesamtentwurf einer erzählten Welt und Handlung von reinen Fabelsammlungen unterscheidet. Er ist der einzige Text der Fuchs-Epik, in welcher der die Handlung beschließende Tod des Königs Löwe nicht nur die Erzählung vollständig ausrundet, sondern auch jedes Weitererzählen unmöglich macht. Aus einer komparatistischen Perspektive vgl. Jauss, Hans Robert: Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung. Tübingen 1959 (Beihefte zur ZfrPh); Zur Fabeltradition vgl. Schuh, Sabine: Reinhart, Ysengrimus, Sanguileo & Co. Das europäische Tierepos des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Europäisches Erbe des Mittelalters. Kulturelle Integration und Sinnvermittlung einst und jetzt. Hg. v. Karg, Ina. Göttingen 2011, S. 113–128. Den aktuellen Forschungsstand resümierend jetzt grundlegend Knapp, Fritz Peter : Tierepik. In: Kleinepik, Tierepik, Allegorie und Wissensliteratur. Hg. v. Knapp, Fritz Peter. Berlin, New York 2013 (GLMF 6), S. 193–266; Tiere im Text. Exemplarität und Allegorizität literarischer Lebewesen. Hg. v. Scheuer, Hans Jürgen u. a. Bern u. a. 2015 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 29). Vgl. zur Tierepik als Ort der Verhandlung des Politischen: Reflexionen des Politischen in der europäischen Tierepik. Hg. v. Glück, Jan u. a. Berlin, Boston 2016. 6 Vgl. Broekmann, Theo: Süenen und bescheiden: Der ›Reinhart Fuchs‹ des Elsässers Heinrich im Spiegel mittelalterlicher Verhaltenskonventionen, in: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998), S. 218–262; vgl. Dimpel, Friedrich Michael: Füchsische Gerechtigkeit – des weste Reinharte niman danc. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 135 (2013), S. 399–422. 7 In der handschriftlichen Überlieferung des »Reinhart Fuchs« gibt es an dieser Stelle eine offensichtliche Lücke, die auch im Wortlaut des Textes als Bruch markiert ist (Cpg 341, 171ra; RF, V. 562), die aber durch Parallelüberlieferung rekonstruiert werden kann (vgl. Schwab [Anm. 1], S. 68f.). Ein Vergleich der unterschiedlichen Texttraditionen bei Hesse, Elisabeth: Der Fuchs und die Wölfin. Ein Vergleich der Hersanthandlung im Ysengrimus, im Roman de Renart und im Reinhart Fuchs. In: Schwierige Frauen – schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters. Hg. v. Haas, Alois M. u. Kasten, Ingrid. Bern 1999, S. 111–128. 8 Vgl. Schwob, Anton: Lachen angesichts des Bösen? Beobachtungen zum ›Reinhart Fuchs‹Epos. In: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Hg. v. Bader, Angela u. a. Stuttgart 1994 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 300), S. 130–143.

Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs »Reinhart Fuchs«

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ihn herauf und prügeln ihn fast zu Tode, als der Blick des Priors auf den kahlen Kopf des Wolfs fällt: der priol die platten gesach, zv den mvnchen er do sprach: »wir haben vil vbele getan, eine blatten ich ersehen han vnde sag ev noch me: ja ist nach der alden e dirre wolf Ysengrin besniten. owe, hette wir [ ] vermiten dise slege, wan ze ware, er was ein revwere!« […] hette Ysengrin den zagel niht verlorn noch die blatten geschorn, in hette erhenget daz gotes her. (RF, V. 1007–1016, 1021–1023)

Der Prior ist also bereit, den Wolf als einen reuigen Sünder zu sehen, weil er die am Wolfskörper sichtbaren Folgen der Fuchslisten als Tonsur und Beschneidung interpretiert. Und so retten seine schrecklichen Verstümmelungen dem Wolf groteskerweise das Leben, denn die Klosterbrüder lassen ihn halbtot liegen, statt ihn aufzuknüpfen. Wenn die Rezipient_innen nun darüber lachen, denn darauf ist diese Szene angelegt, dann ergibt sich in Bezug auf Fragen der Identifikation eine neue Situation. Weil der Fuchs als Figur in dieser Szene zwar nicht präsent, die Lage des Wolfs aber das Ergebnis seiner List ist, wird das Lachen über den Wolf zugleich ein Lachen mit dem abwesenden Fuchs. Die Rezipient_innen nehmen dadurch unbewusst eine partielle Identifikation mit einem Tier, dem Fuchs, vor. Auch auf der Ebene des Textes geschieht das und unterstützt so dieses Rezeptionsangebot, denn der Prior kann die Verstümmelungen des Wolfskörpers nur dann als Zeichen der reuigen Buße missverstehen, wenn er nicht zwischen tierlichem und menschlichem Körper unterscheidet. Er nimmt für beide an, dass sie ein Körperzeichen sind, an dem willentliche Entscheidungen der zum jeweiligen Körper gehörenden Person abgebildet werden. Damit setzt er Tier und Mensch nicht nur hinsichtlich der Außenseite des Körpers gleich, sondern auch in Bezug auf den mit Willen, Verstand und Emotion ausgestatteten Innenraum des Körpers. Diese Überblendung von Menschlichem und Tierlichem geht jedoch nicht restlos auf, denn von den drei Verstümmelungen des Wolfs werden vom Prior nur zwei ausgedeutet, das fehlende Haupthaar als Tonsur und das fehlende Genital als Beschneidung. Was ist mit dem Schwanz? Es hilft weiter, sich anzusehen, wie Isengrins Ehefrau Hersant auf die Verstümmelungen ihres Mannes reagiert. Schwer verletzt kann der Wolf sich mit letzter Kraft vom Kloster weg in den

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Michael Mecklenburg

Wald schleppen, wo er sogleich ein Klagegeheul anstimmt, das seine Frau und seine beiden Söhne hören und sofort zu ihm eilen (RF, V. 1031–1038). Klagend berichtet Isengrin, was ihm widerfahren ist: »liben svne vnd wip«, sprach er, »ich habe minen lip von Reinhartes rate verlorn. dvrch got daz lazet euch wezen zorn! daz ich ane zagel gan, daz hat mir Reinhart getan, deswar, an aller slahte not. er betrovg mich in den tot. von siner vntrewe groz enphing ich mangen slac vnd stoz.« (RF, V. 1039–1048)

Isengrins Klage zielt dabei nicht in erster Linie auf eine Mitleids-Emotion, sondern auf den (mhd.) zorn seiner Familienmitglieder und deren jetzt geforderte Reaktion ab. Damit ist sowohl eine Emotion gemeint, als auch ein Emotionsausdruck des Zorn-Handelns,9 nämlich der Rachenahme am Verursacher, dem Fuchs. Doch stattdessen brechen alle in ein maßloses Weinen aus, das Isengrin zunehmend verärgert: ir aller weinen wart vil groz, / hern Ysengrinen des bedroz (RF, V. 1052f.). Er ermahnt daraufhin seine Frau Hersant, das unmäßige Weinen einzustellen, weil es ihre Schönheit schädige, und ruft damit das

9 Ich unterscheide terminologisch zwischen Emotion (ein zeitlich begrenztes, komplexes Interaktionsmuster von kognitiven Prozessen, physiologischen Prozessen und Verhalten, das durch je spezifische innere oder äußere Faktoren ausgelöst, bzw. beeinflusst und durch neuronale und hormonelle Systeme vermittelt wird), Emotionsausdruck (die am Menschen äußerlich erkennbaren typischen Bestandteile oder Auswirkungen einer Emotion, egal ob willkürlich oder unwillkürlich, bewusst oder unbewusst) und Gefühl (ausschließlich der subjektive Erlebnisaspekt einer Emotion). Demnach kann ein Emotionsausdruck auch fingiert werden und nicht immer muss eine Emotion der betroffenen Person auch als Gefühl bewusst werden. Vgl. hierzu Mecklenburg, Michael: Erecs Scham. Kulturelle Umbesetzungen einer Emotion im mittelhochdeutschen höfischen Roman, in: Arcadia – International Journal for Literary Studies 44,1 (2009), S. 73–92. Vgl. zur Zorn-Emotion und verwandten Emotionen die durchaus kontroverse Diskussion im Band Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen. Hg. v. Baisch, Martin u. a. Göttingen 2014 (Aventiuren 8). Vgl. zur Frage, inwieweit Emotionsausdruck beim Herrschaftshandeln im Mittelalter nicht unbedingt auf Emotionen verweist, sondern einen quasi rituellen Status hat, Kommunikationsform sein kann oder Handeln generieren soll Althoff, Gerd: Der König weint. Rituelle Tränen in der öffentlichen Kommunikation. In: Aufführung und Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Müller, Jan Dirk. Stuttgart 1996 (Germanistische Symposien der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 17), S. 239–252; Ders.: Empörung, Tränen, Zerknirschung. Emotionen in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters. In: Ders: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997, S. 258–281. 10 Prototypisch und als Folie, vor der diese Äußerung für das literaturkundige zeitgenössische

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Motiv der weiblichen Totenklage in der höfischen Literatur auf.10 Hersant jedoch insistiert auf der Rechtmäßigkeit ihrer Klage: »o we, ich en mag ez niht ane sin! mir ist leit, daz der man min ane zagel mvz wesen. wi soll ich arme des genesen?« (RF, V. 1057–1060)

Aus dem zuvor Erzählten wissen die Rezipient_innen, dass Isengrin sowohl seinen Schwanz als auch sein Genital durch Reinharts Listen verloren hat. Allerdings benennt Isengrin in seiner Klage vor Hersant lediglich den (mhd.) zagel, also den Schwanz, womit aber in einer semantischen Doppeldeutigkeit immer auch das männliche Glied gemeint sein kann.11 Dementsprechend ist Hersants Klage ebenfalls in einer entsprechenden Doppeldeutigkeit von zagel zu verstehen. Nimmt man dies ernst, dann beklagt Hersant nicht nur den für ihren Ehemann und damit auch für sie statusmindernden Verlust des Schwanzes, sondern eben auch den Verlust des Genitals, ohne das es ihr nie wieder gut gehen werde – eine auf Komik zielende Äußerung von Heinrichs Figur. Genau besehen ergibt sich der komische Effekt aber erst aus der besonderen Fügung von Animalität und Anthropomorphisierung,12 was sich durch eine einfache Ersetzungsprobe zeigen lässt: Eine Wölfin wird den Verlust keines der beiden Körperteile ihres Partners beklagen, es wird höchstens zu keiner erneuten Paarung kommen, ganz abgesehen davon, dass Wölfe nicht in paarigen Elterngemeinschaften leben und nicht sprechen können. Eine adlige Dame aber, gleich ob in literarischen oder außerliterarischen Welten des Hochmittelalters, wird kaum in Publikum unmittelbar verständlich gewesen sein kann, wäre etwa die Gestaltung der SiguneFigur in Wolframs »Parzival«. Vgl. grundsätzlich zur Totenklage in der höfischen Literatur Küsters, Urban: Klagefiguren. Vom höfischen Umgang mit der Trauer. In: An den Grenzen höfischer Kultur. Hg. v. Kaiser, Gert. München 1991, S. 9–75; zur Sigune-Figur Knaeble, Susanne: Die heilige Geliebte eines Toten. Überlegungen zur Sigune-Figur in Wolframs »Parzival«. In: Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittealters. Hg. v. Ders. u. a. Berlin 2011 (Bayreuther Forum Transit 10), S. 95–109. 11 Heinrich bedient sich dieser semantischen Doppeldeutigkeit von zagel auch an anderer Stelle im Text, etwa wenn er feststellt, dass der von Hersant verfolgte Reinhart siner amien warf […] dvrch den mvnt / sinen zagel (RF, V. 1162f.). Dies ist auf der ersten Ebene gemeint als die Irritation der Verfolgenden durch den vor ihrer Nase herumwedelnden Schwanz des Verfolgten, verweist aber zugleich durch die ironische Benennung Hersants als amie, also ›Geliebte‹ von Reinhart, auf die Doppeldeutigkeit und damit auf die sogleich folgende Vergewaltigung. 12 Vgl. Bühler-Dietrich, Annette u. Weingarten, Michael: Topos Tier – Einleitung. In: Topos Tier. Neue Gestaltungen des Tier-Mensch-Verhältnisses. Hg. v. Dens. Bielefeld 2016, S. 7–18; Borgards, Roland: Tiere in der Literatur. Eine methodische Standortbestimmung. In: Das Tier an sich. Disziplinen übergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz. Hg. v. Grimm, Herwig u. Otterstedt, Carola. Göttingen 2012, S. 87–118; Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Hg. v. Borgards, Roland. Stuttgart 2016.

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der Öffentlichkeit den Verlust des zagel ihres Ehemannes beklagen, denn weil er kein Tier ist, erledigt sich auch die Doppeldeutigkeit des Wortes. Wie bei der Fehldeutung durch den Prior, so ergibt sich auch hier die Doppeldeutigkeit daraus, dass bei der Überblendung von Tierlichem und Menschlichem ein nicht aufzulösender Rest der Differenz bleibt. Bei der von mir vorgenommenen ersten Annäherung an den »Reinhart Fuchs« fällt zweierlei auf: Zum einen lässt sich eine spezifische Inbezugsetzung von Animalität und Geschlecht beobachten, zum anderen wird dies nicht nur am Äußeren des Körpers abgebildet, sondern auch auf der Ebene der Emotionalität.13 Dabei knüpft der Text an eine ganze Reihe von literarischen und außerliterarischen Diskursen an, insbesondere bezüglich Ehe, Herrschaftspraxis, Recht und Gewaltausübung. Auffällig ist zum zweiten, dass die besondere Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion sich gerade dann besonders deutlich zeigt, wenn das Figurenhandeln sich auf der Ebene einer Ehebeziehung abspielt. Da im »Reinhart Fuchs« sowohl tierliche als auch menschliche Ehebeziehungen erzählt werden, ermöglicht deren Fokussierung in den folgenden intersektional argumentierenden Analysen zudem eine Vorgehensweise, bei der ›Animalität‹ in gleicher Weise als Kategorie14 gefasst werden wird, wie ›Geschlecht‹.15 13 Vgl. Eitler, Pascal: Der »Ursprung« der Gefühle – reizbare Menschen und reizbare Tiere. In: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Hg. v. Frevert, Ute u. a. Frankfurt a. M. 2011, S. 93–119; Schul, Susanne: »Wolfsbegegnung mit Folgen«: Interspezifische Fürsorge-Relationen in der Wolfdietrich-Epik. In: Vielfältig Verflochten. Interdisziplinäre Beiträge zur Tier-Mensch-Relationalität. Hg. v. Forschungsschwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft«. Bielefeld 2017, S. 223–241. Grundsätzlich zur historischen Emotionsforschung Trepp, Anne-Charlott: Gefühl oder kulturelle Konstruktion? Überlegungen zur Geschichte der Emotionen, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 7 (2002), S. 86–103; Eming, Jutta: Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft. In: JLT 1,2 (2007), S. 251–273; Mecklenburg, Michael: Evolution – Emotion – Literatur. Studien zur Scham in mittelhochdeutschen Erzähldichtungen. Göttingen 2017 (TRAST) [in Vorbereitung]. 14 Vgl. Griesebner, Andrea u. Hehenberger, Susanne: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften? In: Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven auf alte Fragen. Hg. v. Kallenberg, Vera u. a. Wiesbaden 2013, S. 105–124; Geschlecht (re)konstruieren. Zur methodologischen und methodischen Produktivität der Frauen- und Geschlechterforschung. Hg. v. Bereswill, Mechthild u. Liebsch, Katharina. Münster 2013. 15 Vgl. Sachse, Carola: Tiere und Geschlecht. ›Weibchen‹ oder ›Männchen‹? Geschlecht als Kategorie in der Geschichte der Beziehungen von Menschen und anderen Tieren. In: Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History. Hg. v. Krüger, Gesine u. a. Stuttgart 2014, S. 79–104; Hildebrandt, Swetlana: Vergeschlechtlichte Tiere – Eine queer-theoretische Betrachtung der gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse. In: Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen. Hg. v. Chimaira. Bielefeld 2011, S. 215–242; Hastedt, Sabine: Die Wirkungsmacht konstruierter Andersartigkeit – Strukturelle Analogien zwischen Mensch-Tier-Dualismus und Geschlechterbinarität. In: Chimaira [Anm. 15], S. 191–214; Gamerschlag, Andre: Intersektionelle Human-Animal-

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Wer es mit Fabeldichtung zu tun hat, scheint immer schon auf der ›sicheren‹ Seite zu sein. So lässt auch der Prolog des »Reinhart Fuchs« seine möglichen Rezipient_innen nicht im Unklaren darüber, in welcher Weise das titelgebende Tier (Ditz buch heizet vuchs Reinhart / Got gebezzer vnser vart; RF Überschrift in cpg 341, 167va) zu verstehen sei: UErnemet vremde mere, die sint vil gewere, von eime tiere wilde, da man bi mag bilde nemen vmme manige dinch. iz keret allen sinen gerinch an trigen vnd an chvndikeit, des qvam iz dicke in arbeit. Iz hate vil vnchvste erkant vnd ist Reinhart vuchs genant. (RF, V. 1–10)

Von einem Wildtier (tiere wilde)16 soll also die Rede sein, nicht von einem Hausoder Hoftier, zugleich aber nicht von ›dem‹ Fuchs als einer Gattung, sondern von einem ganz speziellem, einem, der durch seinen Namen als Einzelwesen herausgehoben ist (Reinhart vuchs genant). Dieser eine, besondere Fuchs mit Namen Reinhart hat ein willentliches Streben (gerinch), das er auf Betrug und List (an trigen vnd an chvndikeit) richtet. Denn genau mit solchen Dingen, dem Betrug, der Hinterlist und Falschheit (vnchuste) kennt er sich aus. Die Feststellung, dass Fuchs Reinhart durch dieses willentliche Ausrichten seines Handelns auf List und Betrug offensichtlich häufig (dicke) in Bedrängnis (arbeit) gerät, scheint jedoch zu keiner Verhaltensänderung zu führen. Oder ihm kommt eine mögliche Kausalverknüpfung zwischen eigener Befindlichkeit als Ergebnis seines Handelns weder als Thema der folgenden Geschichten (mere) in den Blick noch als eine Möglichkeit füchsischer Reflexivität. Damit wird in einer Figur ganz selbstverständlich zusammengefügt, was nach landläufiger Meinung nicht zusammengehen kann: Menschen haben einen freien Willen, sie wissen im Listhandeln die Hintergehbarkeit von Ausdruck zu nutzen; Tiere besitzen keine Willensfreiheit, sie folgen Instinkten und sind, so sie zu den Wildtieren gehören, nicht an Bedingungen menschlicher Sozialräume angepasst. Natürlich könnte Studies – ein historischer Abriss des Unity-of-Oppression-Gedankens und ein Plädoyer für die intersektionelle Erforschung der Mensch-Tier-Verhältnisse. In: Chimaira [Anm. 15], S. 151–190. 16 Die von Göttert [Anm. 1] angebotene Übersetzung »außergewöhnliche[s] Tier« kommt durch die Übertragung der Verwendung von wilde auf menschliche Figuren zustande, die hier falsch ist und bereits auf die Problematik des Verständnisses von tierlichen Figuren in der Fabeldichtung hinweist.

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nun diskutiert werden, inwiefern diese von mir als alltagspraktisches Wissen behauptete Dissonanz je nach Kultur und Epoche vielleicht nicht so, sondern ganz anders gedacht wurde. Mit Bezug auf das Mittelalter ließe sich jedenfalls darauf verweisen, dass Subjektivität, Willen und Intentionalität in Bezug auf die Differenzierung zwischen Mensch und Tier wesentlich ist.17 Die Anthropomorphisierung des Tieres ›Fuchs‹ müsste also eigentlich zu Widerspruch führen, wird jedoch durch die Individualisierung des einen Fuchs’ mit Namen Reinhart sogleich dem Verdacht entzogen, es sollten hier grundsätzliche Aussagen über die Verfasstheit des Animalen gemacht werden. Vielmehr geht es um den Ausnahmefall, der dann jedoch im selben Moment als exemplarischer Fall herausgestellt wird, an dem man […] mag bilde / nemen vmme manige dinch. Wobei nun zu fragen wäre, wer man sein soll und welche dinch gemeint sein mögen. Da die Argumentationsfolge zunächst das Wildtier als Subjekt einer erstaunlichen, aber wahren Geschichte (RF, V. 1f.) einführt, dann die Exemplarik aufruft, um auf dessen willentliches Listhandeln und seine Auswirkungen zu kommen und schließlich die Individualisierung durch die Namensnennung abschließt, ist zu vermuten, dass die Rezeptionsvorgabe des ›Bild-Nehmens‹ sich auf das Handeln dieses Tieres und auf die daraus resultierenden Mühen bezieht. Genau diese widersprüchliche Überkreuzung von Anthropomorphisierung und animaler Wildheit, von Exemplarität und Individualisierung prägt, wenn nicht die Fabeldichtung des Mittelalters im Ganzen, so mindestens jene der Fuchs-Reinhart-Tradition. Und eben diese Überkreuzung von sich eigentlich Widersprechendem führt zu einer Paradoxie, derentwegen ich als Rezipient_in schon gleich auf der ›sicheren‹ Seite bin, bevor die Widersprüchlichkeit dieser Konstruktion sich in ihren Detailproblemen überhaupt bis in mein Bewusstsein vorgearbeitet hat. Ich weiß, woran ich bin, wenn ich weiß, dass jetzt eine Tierfabel folgt, die auf paradoxe Weise die an ihre Handlung und Figuren herangetragene alltagspraktische Logik zwar ihrer Geltung enthebt, das an den Figuren vorgeführte Exempel aber doch wieder auf die Bewältigung eines alltagspraktischen Problems hin beziehbar macht. Dem kritischen Blick entzogen18 wird dadurch die Frage nach der Spezifik dieser Konstruktion in Hinblick auf die Tier-

17 Vgl. Steel, Karl: How to Make a Human. Animals and Violence in the Middle Ages. Columbus 2011, der anhand des mittelalterlichen Gewaltdiskurses die Strategien der Ab- und Ausgrenzung des Animalen analysiert und zeigen kann, dass damit eine Vorstellung transportiert wird, die Subjektivität, Willen und Reflexionsfähigkeit als exklusiv menschlich zu erweisen sucht. 18 Vgl. Zum Konzept der intersectional invisibility Knapp, Gudrun-Axeli: ›Intersectional Invisibility‹. Anknüpfungen und Rückfragen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung. In: Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Hg. v. Lutz, Helma u. a. Wiesbaden 2010, S. 223–243.

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Mensch-Relation und die damit einhergehenden Veränderungen in Bezug auf andere Differenzkategorien. Dies gilt meines Erachtens nicht nur für die primäre Rezeption des »Reinhart Fuchs«, sondern auch für dessen Behandlung im wissenschaftlichen Diskurs. In seiner aktuellen Auseinandersetzung mit der Tradition der Fuchs-Fabel im europäischen Mittelalter beschränkt sich Harald Haferland19 nicht lediglich auf die Diskussion der eigentlich zu behandelnden Frage, inwiefern der Fuchs in der mittelalterlichen Literatur als Begleiter des Menschen fungiere, sondern schickt dem einen konzisen Aufriss dieser Erzähl- und Stofftradition im Kontext europäischer Fabeldichtung seit der Antike voraus. Seine Argumentation eröffnet Haferland mit der Vergewaltigung von Wolf Isegrimms Frau Gieremund (im »Reinhart Fuchs« unter dem Namen Hersant) in Goethes »Reinecke Fuchs« und diskutiert, wie angesichts der objektiv als unmoralisch zu verurteilenden Taten von Reinecke die offensichtliche Sympathie des Erzählers zu bewerten sei. Der entscheidende Angelpunkt, so Haferland, sei zunächst die Entwertung moralischer Kategorien durch die Verlagerung der Handlung ins Tierreich, denn »[e]in Tier ist und bleibt ein Tier«20, von dem aus dann beim Fuchs als zweites Element die Handlungskonstellation der existentiellen Notwendigkeit hinzukäme, nur noch mit List und Betrug sein Leben retten zu können: »Soweit die Tierwelt derartige Gegebenheiten bereithält, scheint sie Lizenzen zu eröffnen, die für menschliche Protagonisten generell nicht so leicht zu haben sind«.21 Von hier aus beobachtet Haferland dann richtig, wie sich die Sympathie für die ambivalente Figur des unmoralisch listig handelnden Fuchses bis in die Tierdarstellungen Alfred Brehms fortsetzt und immer erst dann zur Distanzierung führt, wenn »durch die dem Fuchs zugeschriebenen menschengleichen Eigenschaften eben doch der appetitus des Raubtiers hindurchbricht«22. Deutlich wird zwar die Attraktivität der Fuchs-Figur und ihrer Leistungsfähigkeit für die Diskussion sozialer Missstände oder Probleme menschlicher Sozialität, wie Haferland das dann an den mittelalterlichen Fuchsdichtungen mit Blick auf deren Stoff- und Erzähltradition exemplarisch vorführt.23 Sie basiert jedoch auf stillschweigenden Vorannahmen, nämlich der Unterscheidung von Mensch und Tier sowie der zwischen zwei Formen der Geschlechtlichkeit. Nur dann nämlich kann die Kastration des Wolfs oder die Vergewaltigung seiner Frau entlang menschlicher Wertzuschreibungen als verwerflich und deren literarische Darstellung als im Gegensatz zu menschlichen Figuren mit einer Lizenz zur Darstellung des Verbotenen ausgestattet bezeichnet werden. Dies irritiert umso 19 20 21 22 23

Haferland [Anm. 1]. Haferland [Anm. 1] S. 119f. Haferland [Anm. 1], S. 120. Haferland [Anm. 1], S. 121f. [Hervorhebung im Zitat; MM]. Haferland [Anm. 1], S. 122–136.

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mehr, als Haferland als ein Ergebnis seiner Analysen deutlich darauf hinweist, dass trotz der Abwesenheit von Tier-Mensch-Hybridisierungen in den FuchsErzählungen dennoch eine Austauschbeziehung zwischen Tierlichem und Menschlichem vorliege: »Hier findet ein Umschlag statt, der bewirkt, dass nicht mehr nur der Mensch auf das Tier projiziert, sondern das Tier im Menschen sichtbar wird.«24 Nicht berücksichtigt bleibt so die Frage, inwiefern diese Austauschbeziehung auch die Grenze zwischen Tier und Mensch als solche thematisiert, die doch unweigerlich in den Fokus gerät, wenn man die Animalität des Fuchses als entscheidendes Element der Entlastung und Lizenz zum Vergnügen am Bösen versteht.25 Wenn man also versuchsweise die sichere Seite der Tierfabel verlässt, dann wäre zunächst zu überlegen, wie sich die variable TierMensch-Grenze im »Reinhart Fuchs« analysieren ließe, ohne entsprechende Grenzziehungen immer schon implizit vorauszusetzen. In gleicher Weise könnte versuchsweise von den impliziten Setzungen von Geschlecht, mit denen die Fabel-Forschung operiert, Abstand genommen werden, um danach zu fragen, in welcher Weise diese auf die spezifische Tierheit der Protagonisten in »Reinhart Fuchs« bezogen sind. Schon vor längerem hat die Soziologin Doris Janshen darauf aufmerksam gemacht, wie intrikat Geschlecht und Tier-Mensch-Relation im zeitgenössischen Handeln mit und Sprechen über Tiere verflochten sind.26 An unterschiedlichen Beispielen aus ihrer empirischen Forschung kann sie zeigen, dass der Umgang mit Haustieren und Nutztieren (bei Janshen: Nahtieren und Ferntieren) je nach Geschlecht der menschlichen und tierlichen Aktanten höchst unterschiedlich ausgeprägt ist. Gemeinsam sei lediglich die Abgrenzung gegenüber dem Tierlichen, dem als die zu beherrschende oder zu überwindende Natur das Kulturelle als Signum des Menschlichen gegenübergestellt werde, während die konkrete Ausprägung im Rahmen sozialer Interaktionen dann durchaus geschlechtsdifferenzierend geschehe.27 In der Gegenwart westlicher postindustrieller Gesellschaften mit der zunehmenden 24 Haferland [Anm. 1], S. 136. 25 »Es ist nicht nur lehrreich, einen menschlichen Blick in die Tierwelt zu tun, sondern die Tiere bringen Böses zur Geltung, wie es unter Menschen üblich ist. Deshalb kann man auch Vergnügen am perfiden Tun des Fuchses empfinden, umso unverhohlener aber wohl, als es sich ja nur um Tiere handelt.« Haferland [Anm. 1], S. 138. 26 Janshen, Doris: Frauen, Männer und dann auch noch Tiere. Zur kulturellen Integration des ›Animalischen‹. In: Kultur in Bewegung. Beharrliche Ermächtigung. Hg. v. Modelmog, Ilse u. Kirsch-Auwärter, Edit. Freiburg i. Br. 1996 (Forum Frauenforschung 9), S. 265–281. 27 »Frauen und Männer sind sich einig in ihrem Abgrenzungsbedürfnis. Geschlechter tragen ohne größere Konflikte und Friktionen den alltäglichen Widerspruch zwischen Tierliebe und Tierverachtung aus. Bei der kulturellen Integration wissen Frauen und Männer geschlechtsadäquate Differenz zu wahren.« »Der Umgang beider Geschlechter mit den Tieren dokumentiert auch noch für die Gegenwart ein Geschlechterbündnis, bei dem Frauen wie Männer sich in ihren archaischen Lösungskonzepten an den Tieren schadlos halten.« Janshen [Anm. 26], S. 269 u. S. 279.

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Auflösung traditioneller geschlechtsspezifischer Rollenzuweisungen ließe sich, so Janshen, am geschlechtsspezifischen Umgang mit Tieren beobachten, wie jene als weitgehend dekonstruiert gedachten Zuweisungen nun verschoben auf den Umgang mit Tieren nicht nur fortlebten, sondern das Verhältnis der Geschlechter von nach wie vor nicht wirklich ausgetragenen Konflikten entlasteten. Die »Dualität der Geschlechterverhältnisse« erscheine so im zwischenmenschlichen Diskurs als überwunden oder mindestens diskutabel, werde »aber im Umgang mit Tieren hemmungsloser ausgelebt«28 : Tiere riefen »eine Nähe zum Selbst als Geschlechtswesen hervor, die im Alltag der modernen Gesellschaft oft verstellt wird«, die Kommunikation mit ihnen ermögliche »die naive und unkritische Verwirklichung des Üblichen«.29 Übertragen auf die mittelalterliche Tierdichtung, und hier den »Reinhart Fuchs«, würde der Nachvollzug der Analyse von Janshen bedeuten, dass danach zu fragen ist, in welcher Weise Animalität und Geschlecht so aufeinander bezogen erscheinen, dass durch die entstehenden Ambivalenzen eine Bühne für die »Wiederkehr des Verdrängten«30 geboten wird. Damit stellt sich die Frage nach dem methodischen Zugang, der hier in einer intersektional argumentierenden31 Mehrebenenanalyse liegen soll, die den Interdependenzbeziehungen32 zwischen Differenzkategorien33 nachgehen möchte. Dabei verstehe ich den literarischen Text als symbolische Repräsentation, insofern hier im literarischen Diskurs auf die außerliterarisch wirksame Makro28 29 30 31

Janshen [Anm. 26], S. 277. Janshen [Anm. 26], S. 272f. Janshen [Anm. 26], S. 266. Vgl. zum Konzept der Intersektionalität und seiner Entstehung Knapp, Gudrun-Axeli: Zur Bestimmung und Abgrenzung von ›Intersektionalität‹. Überlegungen zu Interferenzen von ›Geschlecht‹, ›Klasse‹ und anderen Kategorien sozialer Teilung. In : EWE 24 (2013), S. 341–354. 32 Anders als von Katharina Walgenbach vorgeschlagen, verstehe ich unter Interdependenz bzw. interdependenten Kategorien weiterhin eine Beziehung zwischen den Differenzkategorien und nicht den Eintrag der Interdependenz in die Kategorien und ihre kategoriale Ausbildung selber. (Walgenbach, Katharina: Gender als interdependente Kategorie. In: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Hg. v. Dietze, Gabriele u. a. Opladen, Farmington Hills 2007, S. 23–64.). Vgl. hierzu auch die Kritik von Gudrun-Axeli Knapp: Dies.: Von Herkünften, Suchbewegungen und Sackgassen: ein Abschlusskommentar. In: Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Hg. v. Hess, Sabine u. a. Bielefeld 2011, S. 249–273, hier S. 260f. 33 Eine Differenzierung zwischen Struktur- und Differenzkategorien (vgl. Lenz, Ilse: Intersektionalität: Zum Wechselverhältnis von Geschlecht und sozialer Ungleichheit. In: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorien, Methoden, Empirie. Hg. v. Becker, Ruth u. Kortendiek, Beate. Wiesbaden 32010, S. 158–165) scheint mir für den hier diskutierten Fall des »Reinhart Fuchs« nicht sinnvoll zu sein, da die für das Mittelalter wesentliche Differenzkategorie ›frei vs. unfrei‹ im Text nicht thematisiert wird und die mögliche Strukturkategorie ›menschlich vs. tierlich‹ im Tierepos ja gerade verschwimmt.

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ebene und ihre Strukturen Bezug genommen und deren Implikationen dann im Text selber in einer fiktional entworfenen Welt anhand der Figuren auf der Identitätsebene verhandelt werden. Damit enge ich das Verständnis von symbolischer Repräsentationen, wie Degele und Winker dies konstruieren,34 ein und differenziere auch nicht, wie Lenz, zwischen Diskurs und kultureller Repräsentation,35 was wesentlich damit zu tun hat, dass es vom literarischen Text keinen direkten Weg zur Alltagspraxis gibt, sondern nur dann Schlüsse möglich sind, wenn der literarische Text selber als symbolische Repräsentation im größeren Zusammenhang gesellschaftlicher Diskurse der Differenzierung verstanden wird.36 Diese Diskurse sind dann ihrerseits im literarischen Text wiederzufinden und lassen sich in der fiktionalen Welt ebenfalls als symbolische Repräsentationen analysieren.37 Im Falle des »Reinhart Fuchs« würde dies etwa auf den Minnediskurs zutreffen, der von Reinhart in seinem Werben um Hersant genutzt wird (RF, V. 407–439) und der sowohl in der fiktionalen Welt als auch in der außertextlichen Welt des Publikums auf eine spezifische Struktur der Geschlechterverhältnisse zwischen Adligen verweist. Insofern ist der hier gewählte

34 Vgl. Degele, Nina u. Winker, Gabriele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009, S. 19–21. 35 Vgl. Lenz [Anm. 33], S. 162f. 36 Vgl. Böth, Mareike: Verflochtene Positionierungen: Eine intersektionale Analyse frühneuzeitlicher Subjektivierungsprozesse. In: Intersektionalität und Forschungspraxis – Wechselseitige Herausforderungen. Hg. v. Bereswill, Mechthild u. a. Münster 2015 (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 43), S. 78–95. 37 Vgl. hierzu ausführlich Schul, Susanne: HeldenGeschlechtNarrationen. Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in Nibelungen-Adaptionen. Frankfurt a. M. u. a. 2014 (MeLis. Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Romanistik 14), S. 57–60; Schul, Susanne: Abseits bekannter Pfade: Mittelalterliche Reise-Narrative als intersektionale Erzählungen. In: Bereswill u. a. [Anm. 36], S. 96–114, hier S. 98–101; Kraß, Andreas: Einführung: Historische Intersektionalitätsforschung als kulturwissenschaftliches Projekt. In: Durchkreuzte Helden. Das »Nibelungenlied« und Fritz Langs Film »Die Nibelungen« im Licht der Intersektionalitätsforschung. Hg. v. Bedekovic´, Natasˇa u. a. Bielefeld 2014, S. 7–34, hier S. 17–19, 25f.; aus der Perspektive der Frühneuzeitgeschichte vgl. hierzu Böth [Anm. 36], S. 81, 87, 90f. Vgl. für die Literaturwissenschaft im Allgemeinen die Ausführungen bei Schnicke, Falko: Terminologie, Erkenntnisinteresse, Methode und Kategorien – Grundfragen intersektionaler Forschung. In: Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen. Hg. v. Klain, Christian u. Schmidt, Falko. Trier 2014 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 91), S. 1–32. Die Problematik der Kategorienbildung, -auswahl und -gewichtung stellt sich nicht nur der historischen Literaturwissenschaft, sondern in ähnlicher Form auch anderen Disziplinen, die nicht primär auf die Gesellschaft und Kultur der westlichen Gegenwart ausgerichtet sind. Vgl. hierzu die Diskussion dieser Problematik bezogen auf die Ethnologie bei Beate Binder und Sabine Hess: Dies.: Intersektionalität aus der Perspektive der Europäischen Ethnologie. In: Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Hess, Sabine u. a. Bielefeld 2011, S. 15–52, hier besonders S. 31–40.

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Zugriff geprägt von dem, was Gudrun-Axeli Knapp die »epistemische Pfadabhängigkeit« nennt, die es entsprechend offenzulegen gilt.38 In Bezug auf die nach wie vor kontrovers diskutierte Frage der Kategorienauswahl und -gewichtung gibt es für die germanistische Mediävistik bereits verschiedene Vorschläge, die als Orientierung herangezogen werden.39 Zentral sind für mich hier die Kategorien ›Geschlecht‹ (männlich vs. weiblich) und ›Animalität‹ (tierlich vs. menschlich; wobei damit keine wertende Perspektive von dem einen auf das andere verbunden sein soll) und ihre diversen Überlagerungen sowie deren Ausprägungen im Bereich von ›Emotionalität‹. Ich verstehe sie als makro- und mikrostrukturell wirksame Kategorien, die mit weiteren Differenzachsen verwoben sind,40 die in den Analysen dann jeweils mit berücksichtigt werden müssen: ›Stand‹ (in der Opposition frei/adlig vs. unfrei/ bäuerlich), ›Rang‹ (in einer nicht an absoluten Polen abzusteckenden Bandbreite der Rangordnung innerhalb des Adels, also als Landadel, Graf, Herzog, König usw., bzw. in der Ausprägung repräsentativer Hofämter auf der Ebene symbolischer Repräsentation),41 ›Genealogie‹ (auszumitteln anhand einer blutsverwandtschaftlichen Distanz, bzw. ›gemachter‹ Verwandtschaft etwa durch Patenschaft oder Adoption), ›Sexualität‹ (bezogen auf eine Achse des gerichteten Begehrens und Begehrtwerdens), ›Generativität‹ (aufgespannt zwischen den Polen Kinderlosigkeit und Kinderreichtum; damit unbedingt zu unterscheiden von ›Sexualität‹ und ›Genealogie‹ mit denen ›Generativität‹ aber natürlich in einem engen Verflechtungsverhältnis steht). 38 Knapp [Anm. 31], S. 347. »Im Rahmen einer intersektionellen Orientierung bestünde die Herausforderung darin zu bestimmen, wie das Werden einer historischen Konstellation unterschiedlicher, aber durcheinander vermittelter Formen von Differenzierung, Macht, Herrschaft und Ungleichheit ›in der Sache‹ wohnen […] Dabei erweist es sich, dass es zwar nicht beliebig viele, aber auch nicht nur eine richtige, sondern verschiedene Konstruktionsmöglichkeiten von Zusammenhängen gibt.« (ebd.; Hervorhebung im Zitat). 39 Schul [Anm. 37], S. 38–60; Kraß [Anm. 37], S. 27–34. 40 »Für die Methodologie intersektionaler Forschungen scheint das [die Auswahl und Begründung der Kategorien; MM] allerdings insofern besonders relevant zu sein, weil gesellschaftliche Diskriminierungs- und Hierarchiestrukturen so komplex sind, dass nie alle signifikanten Momente berücksichtigt werden können, sondern abhängig von der je konkreten Fragestellung eine kleine Anzahl an Kategorien ausgewählt werden muss.« (Schnicke [Anm. 37], S. 19). Vgl. zur Kategorienwahl auch das Plädoyer von Cornelia Klinger für eine grundsätzliche Offenheit und Nichtabgeschlossenheit auf der Mikroebene der Identitätskonstruktionen, von der aus jedoch nicht auf eine entsprechende »Unbegreifbarkeit der Makroebene« geschlossen werden dürfe. (Klinger, Cornelia: Für einen Kurswechsel in der Intersektionalitätsdebatte. 2012. URL: www.portal-intersektionali tät.de [letzter Zugriff: 03. 03. 2017]). Sie unterscheidet eine »Ordnung der Dinge« von einer »Ordnung des Lebens«. 41 Die neben ›Race‹ und ›Geschlecht‹ für die Intersektionalitätsforschung dritte zentrale Kategorie ›Klasse‹ ist nicht auf eine vorindustrielle Gesellschaft anwendbar, sie erscheint gewissermaßen aufgespalten in den Kategorien ›Stand‹ und ›Rang‹.

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Bevor ich mich den Ehebeziehungen zuwende, die im Fokus der folgenden Analysen stehen werden, lohnt ein Blick auf die beiden weiblichen Figuren, bei denen eine entsprechende soziale Positionierung nicht vorliegt. Dies trifft zunächst auf die Meise zu (RF, V. 177ff.), die bezüglich ›Geschlecht‹ nur deshalb als weiblich markiert sein könnte, weil Reinhart Fuchs von ihr einen Kuss haben möchte (ich bin in einem geluste, / daz ich gerne chvste, RF, V. 179f). Unter der Voraussetzung der für das Mittelalter normativen heterosexuellen Matrix läge dann eine Intersektion von ›Geschlecht‹ und ›Sexualität‹ vor. Allerdings ist dies nicht eindeutig zu entscheiden, denn die Ansprache der Meise als gevater (RF, V. 178) legt in gleicher Weise einen Bezug auf ›Genealogie‹ nahe, insofern der Kuss als Begrüßung zwischen Verwandten verstanden werden müsste, ohne dass damit eine Aussage über die Geschlechtlichkeit der beiden Figuren einhergeht. Die andere Ausnahme ist das Kamel, das als Ratgeberin am Hof des LöwenKönigs fungiert. Anders als bei der Meise markiert hier das grammatische Geschlecht eindeutig die Weiblichkeit der Figur (olbende, olpente als Bezeichnung des weiblichen Kamels oder Dromedars, olbent als Bezeichnung des männlichen)42 und damit ist sie das einzige eindeutig als weiblich markierte Tier in der langen Liste der zum Hoftag eintreffenden Tiere (RF, V. 1331–1360). Als es dann im Laufe des Prozesses zur Forderung nach einer sofortigen Bestrafung von Reinhart Fuchs ohne vorhergehende Anhörung des Beklagten kommt (RF, V. 1432–1436), erhebt die olbende Einspruch: iz enwiderredete nieman / wen ein olbente von Thvschalan, / di was vrvmic vnde wis / vnde dar zv vor alter gris (RF, V. 1437–1440). Die ihr vom Erzähler zugeschriebenen Eigenschaften der Frömmigkeit und Weisheit werden über ›Alter‹ abgeleitet, das hier mit dem körperlichen Merkmal der Grauhaarigkeit hergestellt wird.43 Diese Zuschreibung ist erzähllogisch nötig, um den formulierten Einspruch als juristisch korrekt abzusichern (und damit Reinhart Fuchs vorläufig vor Verfolgung zu schützen). Die auf der Mikroebene durch ›Alter‹ konstruierte Zuschreibung von Weisheit ermöglicht auf der textinternen Mesoebene ein Sprachhandeln, das auf Einhaltung von Normen drängt, die auf der Strukturebene der erzählten Welt angesiedelt sind. Dazu aber bedürfte es nicht der Zuschreibung von Weiblichkeit, im Gegenteil ist diese streng genommen sogar hinderlich, weil Frauen in der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung nicht als eigenständige Rechtssubjekte gelten (dementsprechend muss Isengrin die Vergewaltigungsklage führen und nicht seine Frau). Zum Tragen kommt hier eine finale Motivation des Erzählens, weil Heinrich mit der später stattfindenden Übertragung des Klosters Erstein an 42 BMZ II,1, Sp. 437 A; Lexer Bd. 2, Sp. 151. 43 Vgl. zur Kategorie ›Alter‹ den Beitrag von Johanna Kahlmeyer in diesem Band.

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die olbente, die vom Löwen-König zur Äbtissin ernannt wird (RF, V. 2117–2156), parallel zur Übertragung Böhmens an den Elefanten, (RF, V. 2097–2116) auf einer textexternen Ebene ›witzige‹ antistaufische Anspielungen möglich macht.44 Insofern lässt sich für ›Geschlecht‹ hier feststellen, dass es in erster Linie eine erzählstrukturelle Funktion erfüllt und es nicht um ein komplexeres Wechselverhältnis mit Animalität und Emotionalität geht, wie dies bei den tierlichen wie den menschlichen Ehebeziehungen der Fall ist. Sofort nach dem kurzen Prolog, in dem der Protagonist Reinhart Fuchs in seiner paradoxen Doppelstruktur vorgestellt wurde, setzt die Erzählung mit der Vorstellung eines gebvre vil riche (RF, V. 13) namens Lanzelin ein, der also in einfachster Weise über die Kategorie ›Stand‹ als männliche Figur gekennzeichnet ist. Die Zusatzinformation, er sei ausgesprochen wohlhabend, lässt auf die Bedeutung ›ökonomischer Ressourcen‹ als Differenzkategorie schließen, die bei einer Analyse ständischer Relationierung zwischen Adel und Bauern durchaus wichtig ist und auch bei inneradligen Beziehungen Auswirkungen auf ›Rang‹ haben kann. Wie schon bei der Einführung von Reinhart Fuchs zuvor, scheint es keiner näheren Bestimmung für die Geschlechtlichkeit der Figur zu bedürfen; wie in mittelalterlicher Literatur häufig zu finden, ist Männlichkeit auch hier der unmarkierte Fall, wohingegen seine Frau Ruozela erzählerisch gewissermaßen von ihm abgeleitet wird (RF, V. 19f.). Ruozela wird als sehr alt (babe RF, V. 20) vorgestellt, sie bezeichnet die Hühner als ihren Besitz (RF, V. 30), ist ihrem Ehemann gegenüber verbal aggressiv (alder govch Lanzelin, RF, V. 29) und macht ihre emotionale Verfasstheit auch explizit in einem verbalen Emotionsausdruck deutlich (daz mvet mich vnde ist mir zorn, RF, V. 32). Da der Erzähler dies in einem Kommentar als Grenzüberschreitung wertet (meister Lanzelin was bescholten, / daz ist noch vnvergolten, RF, V. 33f.), können wir darauf schließen, dass die Geschlechterdifferenz mit Positionszuweisungen in strukturellen Macht- und Gewaltverhältnissen verbunden ist und insofern auch Handlung normiert oder konstituiert. Dies gilt dann auch für die andere Ehebeziehung zwischen zwei Menschen, nämlich die des Pfaffen, in dessen Haus Reinhart Fuchs den Kater Dieprecht in dem Wissen lockt, dass dort eine Falle für ihn aufgestellt ist, in die Dieprecht dann auch tappt (RF, V. 1687–1728). Erneut führt der Erzähler zunächst den Mann ein, der durch seine ständische Positionierung als pfaffe, (RF, V. 1691) zugleich eindeutig als männlich ausgewiesen ist. Das Geräusch des sich in der Schlinge verfangenden Katers Dieprecht hört dann allerdings seine Frau (des pfaffen wip, RF, V. 1701). Sie weckt ihren Mann, der sogleich aufspringt, ein Messer greift, aufgrund der Dunkelheit aber nicht den 44 Vgl. Düwel [Anm. 1], Sp. 671f.; Kühnel, Jürgen: Zum ›Reinhart Fuchs‹ als antistaufischer Gesellschaftssatire. In: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst. Hg. v. Krohn, Rüdiger u. a. Stuttgart 1978 (Karlsruher Kulturwissenschaftliche Arbeiten 1), S. 71–88.

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vermeintlichen Fuchs tötet, sondern die Schnur der Falle durchtrennt und Dieprecht so die Flucht ermöglicht (allerdings ohne dass ihm oder seiner Frau die Verwechslung klar wird). Ist die Konstruktion der Geschlechterrollen bis hierher völlig unauffällig, so ändert sich dies nun, weil die Frau angesichts der durch die Ungeschicklichkeit ihres Mannes ermöglichten Flucht des vermeintlichen Fuchses gewalttätig wird. Ihre emotionale Verfasstheit bezeichnet der Erzähler als unminne (RF, V. 1718) – also eine im zeitgenössischen Rechts- und (literarischen) Minnediskurs eindeutig feindselige Disposition – und verweist damit auf eine Zorn-Emotion, die sogleich in entsprechendem Emotionsausdruck mündet, wenn die Frau ihren Mann ohrfeigt und mit einem Holzscheit verprügelt. Der Übergang von Emotion und Emotionsausdruck erscheint völlig unvermittelt und der körperliche Emotionsausdruck ist von der Frau nicht zu kontrollieren, so dass hier von einem Affekt gesprochen werden kann. Erst das Eingreifen einer dritten Person verhindert, dass der Pfaffe von seiner Frau erschlagen wird: vnde were Werenbvrc, sin kamerwip, / so het er verlorn sin leben (RF, V. 1722f.). Spielt sich die Grenzüberschreitung in Bezug auf das normative Verhältnis von ›Geschlecht‹ und ›Macht/Gewalt‹ beim Bauernehepaar noch auf der verbalen Ebene ab, so kann die hier stattfindende Verschiebung auf die Ebene des Körperlichen nicht mehr vom Paar selber aufgelöst werden. Irritierend ist, dass nun nicht ein anderer Mann eingreift und die durch eine nicht normgerechte Beziehung zwischen ›Geschlecht‹ und ›Macht/Gewalt‹ gestörte Ordnung wiederherstellt, sondern eine durch den Terminus technicus kamerwip eindeutig als weiblich markierte Figur, die bezogen auf ›Stand‹ den beiden Eheleuten untergeordnet ist. Diese in der Intersektion von ›Stand‹ und ›Geschlecht‹ ungewöhnliche machtbezogene Positionierung der Figuren ist nur dann aufzulösen, wenn man sie außerdem auf die Kategorie ›Sexualität‹ hin relationiert und davon ausgeht, dass es zwischen Pfaffe und Kammerfrau eine intime außereheliche Beziehung gibt.45 Die Komik dieser Konstellation wird konsequent weitergeführt, wenn nun der Pfaffe seine Frau um Verzeihung bittet und sich dazu einer aus dem Rechts- und Minnediskurs bekannten Wendung bedient: »nu lant mih iwer hulde han!« (RF, V. 1728). Der komische Effekt ist nur möglich, weil der Autor davon ausgeht, dass die Rezipient_innen mindestens implizit über ein Wissen darüber verfügen, welche intersektionalen Interdependenzen von ›Geschlecht‹, ›Stand‹ und ›Sexualität‹ in Bezug auf Macht- und Gewaltverhältnisse in der außertextlichen Welt als normativ gelten, um so die vom Autor bei den drei Figuren vorgenommenen Verschiebungen auf den jeweiligen Differenzachsen entschlüsseln zu können. 45 Vgl. Lexer, Bd. 1, Sp. 1504, der als Übersetzung auch »concubine, buhlerin« vorschlägt, wobei der dort angeführte Beleg ausgerechnet die hier behandelte Textstelle ist. BMZ III, Sp. 719B kennt diese Bedeutung nicht.

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Allerdings ist dies mit Blick auf die zeitgenössische Schwank- und Märendichtung keine wirklich überraschende Feststellung. Interessant wird es erst, weil damit zwei Beispielfälle vorliegen, die innerhalb des Textes modellhaft entsprechende Verschiebungen an Paaren vorführen, die bezüglich ›Animalität‹ eindeutig als ›menschlich‹ gekennzeichnet sind und damit als Referenzfälle dienen können, sobald es um Figuren geht, die ganz oder teilweise als ›tierlich‹ markiert werden. Festzuhalten bleibt bezüglich ›Animalität‹ immerhin, dass die normüberschreitenden Handlungen in beiden Fällen durch die Interaktion mit ›tierlichen‹ Figuren ausgelöst und erst dadurch die ihnen zugrundeliegenden Verschiebungen auf den entsprechenden Differenzachsen sichtbar werden.46 Oder anders ausgedrückt: Die Abwehr einer auch nur partiellen Verschiebung auf der Differenzachse ›tierlich‹ vs. ›menschlich‹ – etwa als eine vom Fuchs hergestellte ›Tischgemeinschaft‹ (Zugriff auf die Hühner als ökonomische Ressource und Nahrungsmittel) – lässt im Gegenzug die normverletzenden Verschiebungen auf anderen Differenzachsen sichtbar werden. Und in beiden Fälle wird dies von emotionalen Prozessen begleitet. ***

Auch bei den tierlichen Figuren des »Reinhart Fuchs« gibt es entsprechende Ehebeziehungen, wobei gleich die in der Erzählung erste direkt mit dem Bauernehepaar verbunden ist. Die Hühner, um die babe Rvczela sich sorgt, sind nämlich der Hahn Scanteclere und seine Frau Pinte, von denen dann ausführlicher erzählt wird, weil der vom Bauern Lanzelin aufgrund der zornigen Anklagen seiner Frau gebaute Zaun natürlich doch kein Hindernis für Reinhart Fuchs darstellt. Eingeführt werden Hahn und Hühner auch hier wieder über die Erstnennung des Mannes, nämlich im Gedankenzitat des Bauern, der nach dem Bau des Zauns Scanteclern vnde sin wip (RF, V. 39) gut geschützt glaubt. Das bereits hier eine Mehrzahl weiblicher Hühner gemeint ist, ist anzunehmen, lässt sich aber wegen der Endungslosigkeit des Plurals von (mhd.) wip nicht eindeutig sagen. Als Pinte jedoch wegen Reinhart Fuchs auf die Stange flüchtet, tut sie dies nicht alleine: vnde vloch bi eine swellen / mit andern iren gellen (RF, V. 57f.). Anders als beim Pfaffen, wo die intime außereheliche Beziehung durch den Begriff kamerwip verdeckt wird und die Zweideutigkeit von den Rezipient_innen erst entschlüsselt werden muss, liegt mit (mhd.) gelle hier ein Begriff vor, der (zwar auch mit durchaus abwertender Konnotation) den weiblichen Part einer 46 Vgl. Balgar, Karsten: Leiblichkeit und tierliche Agency. Die Handlungsfähigkeit von Tieren im Kontext von Leiblichkeitskonzepten. In: Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies. Hg. v. Kurth, Markus. Bielefeld 2016, S. 137–148; Roscher, Mieke: Zwischen Wirkungsmacht und Handlungsmacht. Sozialgeschichtliche Perspektiven auf tierliche Agency. Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies. Hg. v. Kurth, Markus. Bielefeld 2016, S. 43–67.

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außerehelichen Beziehung bezeichnet.47 Allerdings handelt es sich dabei eben nicht um eine geheime oder verdeckte Beziehung, vielmehr ist die Kebs- oder Friedelehe eine im mittelalterlichen Adel durchaus gebräuchliche Beziehungsform neben der regulären Ehe – ein Privileg, das natürlich nur für männliche Adlige galt.48 Dementsprechend wäre eine Nebenfrau von Scantecler an sich noch nicht als Normverstoß zu werten. Hier aber handelt es sich offensichtlich nicht um eine reguläre Muntehe mit einer formalisierten Nebenehe, sondern um viele untereinander weitgehend gleichgestellte Partnerinnen, also eine typische Form der Polygynie, die natürlich auch für einen mittelalterlichen Adelskontext keinesfalls der Norm entsprechen würde. Demnach handelt es sich hier um einen Fall der Anthropomorphisierung, der nun im Sinne der hier gewählten intersektionalen Zugangsweise auch ohne diese ihr inhärente Hierarchisierung beschrieben werden kann. Demnach wird eine bei Hühnern beobachtbare Ordnung im Schnittpunkt von ›Generativität‹, ›Sexualität‹ und ›Geschlecht‹ (ein männliches Wesen und mehrere weibliche Wesen stellen eine für alle Beziehungen legitimierte genetische Reproduktion sicher) mit einer bei Adligen vorkommenden Beziehungskonstellation im Schnittpunkt von ›Generativität‹, ›Sexualität‹ und ›Geschlecht‹ relationiert, die mindestens hinsichtlich ihrer Positionierung zu ›Genealogie‹ prekär ist (ein männliches Wesen hat sexuelle Beziehungen zu mehr als einem weiblichen Wesen, wobei genetische Reproduktion nur für genau eine der Beziehungen legitimiert ist). Der Angelpunkt dieser Überblendung ist der Begriff (mhd.) gellen, der für die Hühner zwar nicht passt, durch die erzählerische Setzung aber zumindest ein Angebot macht, wie diese Beziehungsart aus einer menschlich-adeligen Perspektive der Rezipient_innen zu verstehen wäre. Statt also festzustellen, dass die tierliche Geschlechterordnung der Hühner nicht mit der menschlichen zur erklären oder hinsichtlich ihrer Normativität zu vereinbaren ist, wird sie durch diese Begriffszuordnung vorgeblich verstehbar gemacht. Dies wäre nicht grundsätzlich problematisch, wenn dadurch nicht noch ein ganz anderer ›Nebeneffekt‹ eintreten würde: Sobald sich die Rezipient_innen auf diese Gleichsetzung einlassen, gerät die Inkompatibilität einer Übertragung zwischen ›menschlich‹ und ›tierlich‹ aus dem Blick und sofort wird die bis dahin nur in eine Richtung verlaufende Ineinssetzung von Polygynie und Friedelehe auch in die andere Richtung geöffnet. Nun wird sie frei für die Rechtfertigung einer möglichen Normüberschreitung auf der Strukturebene menschlicher Sozialität: Es sei selbst im bereits kulturell überformten Ort des Hühnerstalls ganz ›natürlich‹ und bei den Hühnern als selbstverständlich zu beobachten, dass ein 47 Lexer, Bd. 1, Sp. 821; BMZ I, Sp. 428B; DRW IV, Sp. 11. 48 Vgl. DWB, Bd. 11, Sp. 374; Grimm, Jacob: Deutsche Rechtsalterthümer, Bd. 1, Leipzig 41899, S. 606.

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Mann gleichrangige sexuelle Beziehungen zu mehreren Frauen unterhält. Da im weiteren Verlauf der Erzählung aber nur noch Pinte als Figur auftritt und nicht mehr die Nebenfrauen, wird letztlich ein Modell vorgeführt, das von einer Muntehe und vielen Friedelehe-Beziehungen ausgeht. Im Grunde agiert das Figurenpaar Pinte-Scantecler parallel zu Isengrin-Hersant wie ein monogames Ehepaar. Noch überraschender ist, dass die Beziehung zwischen Hahn und Henne als einzige Mann-Frau-Beziehung völlig konfliktfrei dargestellt ist. Zwar ist es auch hier wieder die Frau, die auf die Bedrohung der gemeinsamen Welt aufmerksam macht und den Mann zu deren Verteidigung auffordert (RF, V. 54ff.), die Interaktion zwischen den beiden ist jedoch durch die verbale Formulierung von Respekt und emotionaler Zuneigung geprägt. So, wenn Scantecler seine vil liben wip (RF, V. 65) bittet, für ihn zu beten und Pinte ihn mit er vnde trvot (RF, V. 75) anredet. Zudem äußert Pinte nicht nur Angst in Bezug auf das eigene Leben, sondern sowohl um das ihres Mannes als auch um das der gemeinsamen Kinder. Scantecler reagiert auf Pintes verbalen und körperlichen Emotionsausdruck der Angst (Flucht auf die Stange) zunächst mit dem Hinweis auf das durch die Maßnahmen des Bauern nun angeblich sichere Gehege (RF, V. 62–64). Er scheint in dieser Hinsicht aber selber unsicher, denn er schließt ohne weitere Überleitung die Bitte um Gebetsfürsprache und die Erzählung von seinem Warntraum an (RF, V. 65ff.). Als Pinte ihre Angst erneut formuliert und dafür jetzt nicht mehr nur auditive Gründe anführen kann, sondern auf verdächtige Bewegung im Gebüsch verweist (RF, V. 75ff.), antwortet Scantecler erneut abwehrend, nämlich mit der sentenzartigen Feststellung der übermäßigen Ängstlichkeit von weiblichen Wesen und der Tatsache, dass nicht jeder Warntraum auch wirklich umgehend eintreffe (RF, V. 83–88). Auffälligerweise wertet Pinte das als Zorn-Ausdruck (lazet ewern zorn, RF, V. 89), auf den sie mit dem Hinweis auf die Kinder und ihre sozial prekäre Stellung im Falle einer Witwenschaft antwortet, damit den Hahn an seine Schutzverpflichtungen erinnert und so ihre Angst als gerechtfertigt darstellt (RF, V. 91ff.). Ihre abschließende, mit einer Gottesanrufung verbundene, Formulierung ihrer Angst um Scantecler (»mir tvt min herze vil wundern we / wen ich so sere vurchte din. / nv beschirme dich vnser trehtin!« RF, V. 96–98) verweist damit sowohl auf eine angeblich emotional begründete Minne-Ehe-Beziehung als auch auf eine Anerkennung des mit einer Schutzverpflichtung verbundenen Machtgefälles zwischen Ehemann und Ehefrau. Dies ermöglicht es dem Hahn nun dementsprechend, sich auf den sicheren Ast zurückzuziehen, ohne den Eindruck zu erwecken, er sei feige und weiche einem Kampf mit dem Feind aus. Damit verweist diese Beziehung zwischen Pinte und Scantecler auf ein den Rezipient_innen geläufiges Narrativ des höfischen Romans, also auf die Ebene symbolischer Repräsentation, und ist die einzige durchgehend positive und vorbildgebende

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Paarbeziehung im »Reinhart Fuchs«.49 Interessant für den Zusammenhang von ›Geschlecht‹ und ›Animalität‹ ist, dass mit dem eingangs konstruierten, nicht mehr hinterfragbaren, semantisch identischen Gehalt von (mhd.) gellen für Menschen und Tiere nun die Beziehung von Pinte und Scantecler implizit affirmativ auf die Strukturebene der außertextlichen Welt der Rezipient_innen und die dort geltenden Geschlechterverhältnisse verweist und diese damit zugleich gegen mögliche Einwände als ›naturgegeben‹ imprägniert. ***

Als direktes Exempel einer problematischen Paarbeziehung muss dann die zwischen Isengrin und Hersant gelesen werden. Auch hier wird zunächst der männliche Partner in die Erzählung eingeführt, wenn Reinhart Fuchs dem Wolf begegnet und ihm den durchaus klugen Vorschlag macht, sich zu einer Kampfgemeinschaft zusammenzuschließen, denn mit der außerordentlichen Kraft des Wolfs korrespondiere seine Klugheit, gemeinsam seien sie unbesiegbar (RF, V. 389–401). Dies ist zunächst insofern bedeutsam, als bei der Bewertung aller folgenden Listen, mit denen Reinhart Fuchs den Wolf schädigt, zumindest nicht gesagt werden kann, Isengrin habe nicht gewusst, mit wem er es zu tun hat. Zum anderen wird Reinhart Fuchs damit als Figur mit einer nachweislich hohen Fähigkeit zur Selbstreflexion vorgestellt, worauf im Zusammenhang mit der sogenannten Brunnenepisode noch zurückzukommen ist. Was die Paarbeziehung Wolf-Wölfin angeht, so gibt die erzählerische Einführung von Hersant auch hier die Perspektive auf die gesamte Beziehung vor : do gienc Isengrim sich sprechen / mit sinem wibe vnde mit sinen svnen zwein (RF, V. 402f.). Gelang bei Hahn und Huhn die Inbezugsetzung von ›tierlich‹ und ›menschlich‹ durch die Überblendung und behauptete Identität zweier Beziehungsformen mit je spezifischen Intersektionen von ›Geschlecht‹, ›Sexualität‹, ›Generativität‹ und ›Genealogie‹, so geschieht dies hier, indem eine Entscheidungssituation konstruiert wird, auf die Isengrin nun entlang eines den Rezipient_innen ebenfalls geläufigen und auf Struktur- und Repräsentationsebene verankerten Handlungsmusters reagiert. Die Konsultation des Rats verweist auf die Sphäre adligen Herrschaftshandelns,50 wobei mich in erster Linie die Beteiligung der Ehefrau und Mitregentin in Form des consortium regni interessiert.51 49 Dass Scantecler beim abschließenden Gerichtstag die Tötung Pintes nicht verhindern kann und sie dann einfach ihrem Schicksal überlässt, spricht meines Erachtens nicht dagegen, sondern ist der übergeordneten Erzählkonstruktion des endgültigen Untergangs der Ordnung geschuldet. Immerhin bietet er noch – erfolglos – an, sich selbst anstelle von Pinte töten zu lassen (»neina, herre, si ist mir als min lip / ezzet mich vnde lazet si genesen!«, RF, V. 1942–1944). 50 Vgl. Dietl, Cora: ›Violentia‹ und ›potestas‹. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ›Reinhart Fuchs‹. In: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in

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Die im Rat der Herrscherfamilie Wolf gemeinschaftlich und einstimmig getroffene Entscheidung bezieht sich auf die Kategorie ›Genealogie‹, denn Reinhart Fuchs wird zum gevater genommen und damit formal zu einem Familienmitglied gemacht: si wurden alle des in ein, / daz er in zv gevatern nam do (RF, V. 404f.). Damit erscheint der Begriff in einer Doppelbedeutung von ›Freundschaft‹ zwischen den beiden Männern – als gevater redet Reinhart Fuchs Isengrin im Folgenden regelmäßig an – und Patenschaft des Fuchses in Bezug auf die Wolfssöhne (daher auch die entsprechende Anrede in RF, V. 1206).52 Allerdings mit der Besonderheit, dass im Rahmen der Vergewaltigung sowohl der Erzähler als auch Reinhart Fuchs Hersant als dessen gevateren (RF, V. 1174, 1203) bezeichnen. Damit wird ein Näheverhältnis etabliert, das geschlechtlich zunächst unmarkiert und indifferent gedacht wird, auf der Ebene von ›Genealogie‹ eine gegenseitige Beistands-Verpflichtung im Außenverhältnis beinhaltet und sich mindestens im Bereich des Emotionsausdrucks als (mhd.) minne, also einer Form des nicht sexuell konnotierten Wohlwollens, äußern sollte. Wichtig ist zudem, dass die Familie Wolf damit deutlich über die eigentliche Anfrage von Reinhart Fuchs hinausgeht, der nur ein Kriegerbündnis zwischen zwei Männern vorgeschlagen hatte. Die Einladung zur Aufnahme einer Nähebeziehung zu seiner Frau geht also von Isengrin selber aus. In Frage steht nun, wie sich in diesem Machtgefüge ›Animalität‹ und ›Geschlecht‹ überkreuzen. Meine Vermutung ist, dass sich die Möglichkeit zur Übertragung des consortium regni-Konzepts vom Mensch auf das Tier deshalb anbietet, weil die Geschlechterdifferenz sich beim Wolf nicht in gleicher Deutlichkeit auf dem Körper abzeichnet, wie bei Huhn und Hahn53 und Geschlechtsidentität dementsprechend durch Habitus oder Investierung markiert werden muss (was bei Hersant und Isengrin im Folgenden dann in schmerzhafter Weise durch Vergewaltigung und Kastration auch vorgenommen wird). In gegenläufiger Weise kann der Mitregentin im Hinblick auf ihre machtbezogene Positionierung im Außenverhältnis eine geschlechtsindifferente Herrschaftsfähigkeit zugesprochen werden, gerade weil sie auf anderen Differenzachsen der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. v. Lähnemann, Henrike u. Linden, Sandra. Berlin, New York 2009, S. 41–54; Schul, Susanne: Von eime tiere wilde und vom »FlamingoKiller«: ›Hegemoniale Tierlichkeit‹ im Tierepos und im Zoo-Krimi. In: Reflexionen des Politischen in der europäischen Tierepik. Hg. v. Glück [Anm. 5], S. 60–92. 51 Vgl. Fößel, Amalie: The Political Traditions of Female Rulership in Medieval Europe. In: The Oxford Handbook of Women and Gender in Medieval Europe. Hg. v. Bennett, Judith M. u. Mazo Karras, Ruth. Oxford 2013, S. 68–83, hier S. 69–73, 79–81. 52 Vgl. hierzu DWB, Bd. 6, Sp. 4640–4666; DRW IV, Sp. 627f. 53 Aufschlussreich ist hier die Darstellung im »Buch der Natur« Konrads von Megenberg, der Hahn, Huhn und Kapaun je ein einzelnes Kapitel widmet, während Fuchs und Wolf abgehandelt werden, ohne dass in irgendeiner Weise auf Geschlechterdifferenzen Bezug genommen wird.

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eindeutig als weiblich markiert ist. Sobald die Pole ›menschlich‹ und ›tierlich‹ durch diese Überkreuzung aufeinander bezogen worden sind, wird das Verhältnis von Reinhart Fuchs, Isengrin und Hersant entlang der Konzepte von Gevatterschaft und Mitregentschaft ausgestaltet. Im Innenverhältnis nämlich gilt weiterhin, dass Weiblichkeit durch eine normative Positionierung der in Machtverhältnisse eingebundenen Kategorie ›Geschlecht‹ konstruiert wird, die sich durch das Fehlen von Macht und Gewaltfähigkeit auszeichnet. Eben deshalb kann Isengrin nun Reinhart Fuchs für die Zeit seiner und seiner Söhne Abwesenheit in einem ritualisierten Übergabeakt die Verfügungsgewalt und Schutzverpflichtung gegenüber seiner Frau übertragen: sin wip nam er bi der hant / vnde bevalch si Reinharte sere / an sine trewe vnde an sine ere /RF, V. 416–418). Da für das Konzept der Gevatterschaft auf der Differenzachse ›Sexualität‹ ein Nichtbegehren normativ ist, lässt der Autor seine Figur nun mit dem Sprechen in der Sprache der Hohen Minne des Minnesangs auf ein literarisch ausgeprägtes Konzept der Geschlechterbeziehungen zurückgreifen. Dessen Besonderheit besteht bezogen auf ›Macht/Gewalt‹ in einer Intersektion von ›Geschlecht‹ und ›Begehren‹, bei der die für das zeitgenössische Konzept des männlichen Adels entscheidenden Zuschreibungen von Begehren und Machtausübung in ihr Gegenteil verkehrt werden: Der Werbende weist der Umworbenen freiwillig die Macht zur Annahme oder Ablehnung des nur verbal artikulierten männlichen Begehrens zu und verzichtet im Falle der Ablehnung sowohl auf die gewaltsame Durchsetzung seines Begehrens als auch auf eine emotionale Abwendung von der Umworbenen. So ist es auch hier (RF, V. 421ff.). Nur lehnt die umworbene Hersant die Werbung nicht wie im Minnesang deswegen ab, weil die damit einhergehende Repositionierung auf der Differenzachse ›Sexualität‹ die als normativ verstandene Intersektion von Adel, Weiblichkeit und Monogamie auflösen, sie also ihr gesellschaftliches Ansehen verlieren würde. Vielmehr wehrt sie die Werbung mit dem Hinweis auf ein adliges Männlichkeitsideal ab, das durch am Körper sichtbare Gewaltfähigkeit gekennzeichnet ist: »min herre hat so schonen lip, / daz ich wol frvndes schal enpern. / wold aber ich deheines gern, / so werest dv mir doch zv shwach« (RF, V. 430–433). Um zu verstehen, was dieser Ablehnungsgrund mit Hersants Klage um ihren Mann und mit ihrer Vergewaltigung durch Reinhart Fuchs zu tun hat, muss man nun noch die sich sofort anschließende Rückkunft des eben von seiner Frau noch als mit an seinem Körper ablesbarer Gewaltfähigkeit gepriesenen Isengrin ansehen. Der kommt nämlich ohne Beute von seinem Raubzug zurück und klagt Hersant gegenüber : »mirn wart nie svlcher not kvnt«, / er sprach: »ieglicher hirte hat sinen hvnt.« (RF, V. 447f.). Das heißt nichts anderes, als dass Isengrin eingesteht, dass seine männliche Gewaltfähigkeit gegen die Hunde der Hirten nicht ankommt. Demgegenüber kann jetzt Reinhart Fuchs beweisen, dass es darauf gar nicht ankommt, und erbeutet mit einer List, nämlich dem Vortäuschen von

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(gerade nicht als ›männlich‹ konnotierter) Schwäche, einen ganzen Schinken von einem Bauern. Isengrin und Hersant fressen den Schinken aber vollständig auf, bevor Reinhart Fuchs zurück ist und brechen damit das durch die Gevatterschaft begründete triuwe-Verhältnis zwischen den dreien. Auf die diesbezügliche Beschwerde von Reinhart Fuchs hin verweist Isengrin ihn an di gevattern din (RF, V. 492). Hersant, die eine höchst aufschlussreiche Antwort gibt: »nein ich«, sprach si, »Reinhart, / iz dvchte mich vil svze. / daz dir got lonen mvze! / vnde zvrne dv niht, / wenne mirs nimmer me geschiht.« (RF, V. 494–498). Hersant, die auf das Minnebegehren noch mit einer schroffen Absage geantwortet hatte, die auf die am Fuchskörper nicht wahrnehmbare Gewaltfähigkeit zielte, erwidert nun im sprachlichen Register der höfischen, sich in Bezug auf die strukturellen Machtverhältnisse in Geschlechterbeziehungen normgerecht unterordnenden Dame. Dies ist insofern ironisch zu verstehen, als sie weiß, dass Reinhart Fuchs ihr körperlich unterlegen wäre, sollte er wirklich auf den Ausdruck der ZornEmotion in Form körperlicher Gewalt ihr gegenüber zurückgreifen.54 Von hier bekommen die dann folgenden Gewalthandlungen gegen Hersant und Isengrin, die Reinhart Fuchs jeweils mit einer List gegen die beiden einfädelt, ohne selber körperliche Gewalt auszuüben, eine ganz eigene Logik. Isengrin hat Reinhart Fuchs über dessen Vorschlag hinaus durch eine Gevatterschafts-Beziehung in seine Familie hineingenommen, die damit verbundene Treueverpflichtung dann aber sofort verletzt, kann sich also nicht beklagen, wenn er nun regelmäßig auf genau dieser Ebene ausgetrickst wird. Außerdem ist er offensichtlich nicht in der Lage sein eigenes Handeln und das seines Gegners zu reflektieren und entsprechende Verhaltensänderungen vorzunehmen. Erst nach der Vergewaltigung seiner Frau kündigt er die Gevatterschaft explizit auf und strengt einen Prozess vor dem König an. Hersant wiederum zeigt in ihrer Reaktion auf das Minnewerben, dass sie einseitig auf ein Männlichkeitskonzept fixiert ist, das durch eine auf die Intersektion von ›Sexualität‹ und ›Geschlecht‹ bezogene geschlechts- und machtbezogene Positionierung gekennzeichnet ist, deren äußerer Ausdruck eine am Körper ablesbare Gewaltfähigkeit ist. Außerdem lässt ihr Argument, sie würde Reinhart Fuchs seiner mangelnden Gewaltfähigkeit wegen als Sexualpartner auch dann nicht berücksichtigen, wenn sie einen suchen würde, durchblicken, dass sie prinzipiell zum Ehebruch bereit wäre, wenn ihr Mann den genannten Anforderungen nicht mehr genügen sollte.55 Beide Wölfe übersehen dabei, dass körperliche Gewaltanwendung lediglich 54 Dem entspricht dann später im Prozess vor dem Löwen-König die Argumentation des Dachs’ Krimel, der Reinhart Fuchs verteidigt, indem er darauf hinweist, dass dieser schon allein aufgrund seiner körperlichen Unterlegenheit gar nicht in der Lage sei, die Wölfin zu vergewaltigen (RF, V. 1390f.). 55 Damit lässt sich auch erklären, dass der Vorwurf, sie habe mit Reinhart Fuchs Ehebruch begangen, von anderen Figuren durchaus ernst genommen wird (RF, V. 577–606) und auf

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eine von mehreren Möglichkeiten ist, bezogen auf Macht- und Gewaltverhältnisse dominant zu sein. Die andere Möglichkeit, die dann Reinhart Fuchs nutzt und die den beiden Wölfen nicht zur Verfügung steht, ist ein geschicktes Agieren im Rahmen symbolischer Repräsentationen verbunden mit der prinzipiellen Hintergehbarkeit entsprechender Zeichen. In diesem Sinne ließe sich nun jede der einzelnen Listen daraufhin ansehen, in welcher Weise Reinhart Fuchs auf diese Weise Gewalt ausübt, dabei in den wenigsten Fällen dies auch wirklich selber unter Einsatz des eigenen Körpers tun muss und der Text so zwar sicherlich ein warnendes Exempel einer zerfallenden Ordnung ist. Gleichzeitig ist Reinhart Fuchs aber auch ein Paradebeispiel für die Möglichkeit der Selbstermächtigung eines Mannes, der nicht dem Normativ körperlich gewaltfähiger Maskulinität entspricht. Dies wird in der hier vorgeschlagenen Lesart besonders an der Vergewaltigung von Hersant deutlich, die natürlich gerade dadurch auffällt, dass sie explizit und ohne jede negative Kommentierung seitens der Erzählstimme präsentiert wird. Wesentlicher als die grundsätzliche Frage nach sexualisierter Gewalt scheint mir jedoch zu sein, dass nach der von mir vorgeschlagenen Lesart eben gerade nicht jene Männlichkeitskonstruktion als überlegen dargestellt wird, bei der eine am Körper ablesbare physische Gewaltfähigkeit für die machtbezogene Positionierung von entscheidender Bedeutung ist. Vielmehr liegt für die Rezipient_innen ein wesentlich problematischeres Identifikationspotential vor, insofern nicht nur sexualisierte Gewalt qua überlegener Körperkraft legitimiert wird, sondern eben auch eine Ausübung sexualisierter Gewalt, die sich zur Kompensation von Körperkraft-Defiziten anderer Mittel bedienen darf. Anders gesagt: Nicht einmal vor körperlich unterlegenen Männern sind Frauen sicher : vern Hersante schande was niht cleine, / si beiz vor zorne in die steine, / ir kraft konde ir nicht gefrvmen. (RF, V. 1181–1183). Das Perfide an dieser Argumentation ist, dass sich damit die Klage von Hersant um den verlorenen Schwanz ihres Mannes gegen sie selbst kehrt. ***

Und Reinhart Fuchs? Hat er keine Frau, keine Kinder? Offensichtlich durchaus, nur treten sie als Figuren nie in Erscheinung, denn der Eber verlangt vor dem königlichen Gericht die Ächtung von Reinhart Fuchs mit den Worten: »ich verteile im ere vnde gvt / vnde zv echte sinen lip / vnde zv einer witwen sin wip / vnde ze weisin div kint sin.« (RF, V. 1752–1755). Damit ist von allen fünf Paarbeziehungen im »Reinhart Fuchs« nur diese nicht durch Figurenhandeln ausgestaltet; wenn Reinhart Fuchs in seinen Bau zurückkehrt, ist nie die Rede davon, dass er auf seine Frau trifft und mindestens Kochen kann er auch alleine (RF, dem Hoftag dementsprechend vorgeschlagen wird, man solle sie zusammen mit Reinhart Fuchs aufknüpfen (RF, V. 1835–1846).

Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs »Reinhart Fuchs«

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V. 645–647). Welche Beziehung das Ehepaar Fuchs führt, lässt sich ausschließlich aus der Brunnenepisode56 erschließen: Reinhart Fuchs kommt mit der Absicht Hühner zu reißen an ein Kloster, vor dem er einen Brunnen vorfindet, in den er hineinsieht. Zur Verwunderung des Erzählers ist es diesmal Reinhart Fuchs, der genarrt wird, und in seinem Spiegelbild im Brunnen-Wasser seine Frau zu erblicken meint, denn: diu was ime lieb alsam der lib (RF, V. 840). Diese emotionale Verbundenheit hindere Reinhart Fuchs jedoch nicht daran, so der Erzähler, auch noch eine Geliebte zu haben, wande minne git hohen mvot (RF, V. 843). Damit ist die Beziehung zwischen Fuchs-Mann und Fuchs-Frau entlang der im literarischen Diskurs höfischer Literatur diskutierten Idee einer Trennung von Ehe und Minne konstruiert, wie man sie am explizitesten im »Frauendienst« Ulrichs von Liechtenstein formuliert findet. Auffällig ist jedoch, dass die stärkere emotionale Bindung für Reinhart Fuchs zu seiner Ehefrau besteht, denn diese meint er in seinem eigenen Spiegelbild zu erkennen und springt diesem Phantasma dann auch in die Arme: Reinhart lachete darin, / do zannete der scate sin. / des wister ime michelin danch, / vor liebe er in den brvnnen spranc. / dvrch starke minne tet er daz, / do wurdin im diu oren naz. (RF, V. 845–850). Die vier anderen Ehepaare, gleich ob menschlich oder tierlich, bilden jeweils vier verschiedene Modelle der Paarbeziehung ab, wobei die der menschlichen Figuren im Rahmen makrostruktureller Normative einer außertextlichen Rezipient_innen-Welt zwar Abweichungen vorführen, aber keine grundsätzlichen Verschiebungen bei den Intersektionen der Differenzachsen vornehmen. Gegenstand der Diskussion ist dort jeweils die Intersektion von ›Geschlecht‹, ›Sexualität‹, ›Stand‹, und ›Genealogie‹ bezogen auf Macht- und Gewaltverhältnisse. Auch in den tierlichen Paarbeziehungen wird ›Geschlecht‹ als eine in diesem Sinne machtrelevante Kategorie zum Experimentierfeld von Verschiebungen, allerdings sind diese nur zum Teil mit der außertextlichen Realität menschlicher Paarbeziehungen kompatibel. Einmal bewegt sich die zugrundeliegende Beziehung der Polygynie deutlich außerhalb des zeitgenössisch Zulässigen, im anderen Fall ist die Egalisierung der Geschlechterdifferenz hinsichtlich ›Macht/ Gewalt‹ zwischen den Partnern radikal. Außerdem ist die Schilderung von sexualisierter Gewalt derart explizit und plakativ-verhöhnend, dass sie scheinbar nur durch den Einsatz tierlicher Figuren erträglich wird. Bei Reinhart Fuchs hingegen spielt sich die Paarbeziehung erzählerisch gar nicht mehr zwischen zwei Figuren ab, sondern wird in die Figur selber verlegt. Entscheidend scheint mir dabei, wie beim Wolf auch, die am Körper nicht sofort 56 Vgl. zum Verständnis der Brunnenepisode ausführlich Witthöft, Christiane: Der Schatten im Spiegel des Brunnens. Phänomene der Immersion in mittelalterlichen Tierepen und Fabeln (›Reinhart Fuchs‹). In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 167 (2012), S. 124–146.

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erkennbar markierte Geschlechtsidentität zu sein, welche die Verwechslung mit dem eigenen Spiegelbild erst möglich macht und eben deswegen einer entsprechenden Tierfigur bedarf. Doch Isengrin reagiert gerade nicht ansatzlos mit einem Sprung in den Brunnen, sondern beginnt erneut, seiner vermeintlich dort sitzenden Ehefrau sein Leid zu klagen: er begonde Hersante sin laster sagen / vnde von sinem schaden clagen. / vil lvte hvlete Ysengrin, / do antworte im der don sin. (RF, V. 877–880). Wie in allen vorangegangenen Episoden ist die Emotionalität des Wolfs ausschließlich auf sich selbst und sein Leid bezogen, das Gegenüber ist ihm zwar auch ein Spiegel seiner eigenen Verfasstheit, vor allem aber erwartet er ein auf seinen Emotionsausdruck reagierendes Handeln. Dies ist nur möglich, wenn die Unterscheidung von Ich und Du unbedingt erhalten bleibt. Beim Wolfsehepaar wie bei allen anderen Paarbeziehungen sind Emotionsausdruck und Handeln in ihrer je spezifischen Überlagerung von ›Geschlecht‹, ›Animalität‹ und Emotionalität immer in Form einfacher Reiz-Reaktions-Abläufe aufeinander bezogen. Reinharts Sprung in den Brunnen jedoch ist durch nichts weiter motiviert, als durch den Wunsch nach Nähe zur geliebten Frau. Es gibt keine auf die vorhergehende oder nachfolgende Handlung bezogene Motivation, kein primäres Begehren, das jenes nach der Frau nach sich ziehen würde, kein Listhandeln, keine Verstellung. Es ist ausschließlich ein Begehren nach der Verbindung mit dem Gegengeschlechtlichen, das sich jedoch im Sprung als die Verbindung mit dem Selbst herausstellt. Dieses männliche Phantasma der selbstreferentiellen Inkorporation des Weiblichen ist aber nur in Tierfiguren zu realisieren, weil es sonst in Konflikt mit der für das Mittelalter normativen Intersektion von ›Geschlecht‹ und ›Sexualität‹ und so unter einen Homosexualitätsverdacht geraten würde. Und dieses Phantasma wird hier als so wirkmächtig vorgeführt, dass Reinhart selbst dann, als er im Brunnen seinen Irrtum erkennt, sich dieser Situation ohne weiteres Handeln oder Reflektieren hingibt: in dem brvnen er lange swam, / vf einen stein er do qvam, / da leit er vf daz hovbet. / swer des niht gelovbet, / der sol drvmme niht geben. / Reinhart wande sin leben / weizgot da versprungen han. (RF, V. 851–857). Intersektional gesprochen wird mit dem Sprung in den Brunnen der paradoxe Fall konstruiert, dass die Differenzachse ›Geschlecht‹ plötzlich in einen Punkt zusammenfällt, in dem es keine Geschlechterdifferenz mehr gibt – außer in der eigenen Imagination.

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Gekreuzte Lebenswege, gebrochene Identitäten. Intersektionale Betrachtungen zu Konrad Flecks »Flore und Blanscheflur«1

I.

»Flore und Blanscheflur« intersektional? Vorüberlegungen

Soziale Ungleichheit kann für mittelalterliche – oder weiter gefasst, vormoderne – Gesellschaften als akzeptiertes Ordnungsprinzip gelten, insofern diese Gesellschaften u. a. ständisch stratifiziert waren.2 Ist der sozialwissenschaftlichen Intersektionalitätsforschung nicht zuletzt die Aufdeckung verborgener oder verschleierter Ungleichheiten und deren Zusammenwirken ein Anliegen, will sie sowohl »Diskriminierungen, Abwertungen und Gewalterfahrungen als auch […] strukturelle Privilegien und Gewaltausübungen«3 in den Blick nehmen, so kann diese Zielsetzung nicht unproblematisch für die Untersuchung mittelalterlicher Quellen übernommen werden. Die Verwendung intersektionaler Ansätze setzt in diesem Kontext darüber hinaus nicht nur die konsequente Historisierung der betrachteten Kategorien voraus, sie erfordert vielmehr eine Erarbeitung der jeweils relevanten Unterscheidungen aus dem Material, soll 1 Flore und Blanscheflur : eine Erzählung. Hg. v. Sommer, Emil. Quedlinburg, Leipzig 1846. Zitate aus dem Primärtext im Folgenden markiert mit FB. 2 Einen kurzen aber prägnanten Überblick zur Begründung und Diskussion der »hierarchische[n] Ordnung der [mittelalterlichen] Gesellschaft« bietet u. a. Knapp, Fritz Peter : Grundlagen der europäischen Literatur des Mittelalters. Eine sozial-, kultur-, sprach-, ideenund formgeschichtliche Einführung. Graz 2011, S. 220–225. Vgl. zum Ordo-Gedanken auch die Ausführungen bei Menke, Petra: Recht und Ordo-Gedanke im Helmbrecht. Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 59ff., die hier zahlreiche (auch literarische) Beispiele zur Problematik anführt. Dabei ist zu beachten, dass »[d]ie ständische Stratifizierung der Gesellschaft […] allerdings auch in der Frühen Neuzeit [und u. E. auch im Mittelalter] von funktionalen Differenzen sowie von kulturellen und sozialen Faktoren durchdrungen« war, Griesebner, Andrea u. Hehenberger, Susanne: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften? In: Intersectionality und Kritik. Neu Perspektiven für alte Fragen. Hg. v. Kallenberg, Vera, u. a. Wiesbaden 2013, S. 105–124, hier S. 113. 3 Schnicke, Falko: Terminologie, Erkenntnisinteresse, Methoden und Kategorien – Grundfragen intersektionaler Forschung. In: Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen. Hg. v. Klein, Christian u. Schnicke, Falko. Trier 2014 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft Bd. 91), S. 1–32, hier S. 11.

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nicht die Möglichkeit des »Entdecken[s] und Ernstnehmen[s] von Kategorien, die in gegenwärtigen Zusammenhängen geringe oder gar keine Relevanz zu haben scheinen«4, vergeben werden. Kann hierbei auf eine Reihe von Vorarbeiten auf dem Feld der Frauen- und Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit zurückgegriffen werden,5 so stellt sich für den konkreten Untersuchungsgegenstand, den Liebes- und Abenteuerroman »Flore und Blanscheflur«, eine weitere Herausforderung, gilt es hier doch nicht solche Zeugnisse auszuwerten, die einen klaren Bezug zur historischen Lebensrealität herstellen (oder dies zumindest behaupten), sondern einen literarischen Text zu analysieren, dessen Schreibanlass und Gehalt ganz anders gelagert sind. Welche Erkenntnisse kann eine solche Untersuchung über die Verhandlung von Ungleichheiten im späteren Mittelalter liefern? In welcher Art und Weise lassen sich theoretische und methodische Überlegungen intersektionaler Forschung für einen solchen Gegenstand nutzbar machen? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen wollen wir unserer eigentlichen Beschäftigung mit dem Material voranstellen. Schon ein erster Blick auf Konrad Flecks »Flore und Blanscheflur« lässt erahnen, inwiefern die Untersuchung dieses Werks geeignet ist, unser Verständnis mittelalterlicher Vorstellungen von Ungleichheit zu erweitern. So findet sich in der »Neuen Deutschen Biographie« eine knappe Zusammenfassung des Romans mit den Worten: Bei spannender Handlung, die bis in den Orient führt, geht es um die Kraft der wahren Liebe, die schon zwei Kinderherzen ergreift; die Schranken zwischen dem heidnischen Königssohn und der christlichen Kriegsgefangenen müssen vor ihr schwinden, sie überwindet durch ihre Kraft und Reinheit alle Hindernisse und Gefahren.6

Ungleichheiten zwischen den beiden Protagonist_innen stehen folglich im Mittelpunkt des Textes, können mithin als konstitutive Elemente seiner Handlung betrachtet werden, insofern sie als zu überwindende Widerstände der 4 Griesebner, Andrea u. Lutter, Christina: Mehrfach relational: Geschlecht als soziale und analytische Kategorie. In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 2,2 (2002), S. 3–5, hier S. 3. 5 Siehe dazu bereits die Hinweise bei Griesebner/Hehenberger [Anm. 2], Griesebner/ Lutter [Anm. 4], die Fallstudie von Hohkamp, Michaela: Im Gestrüpp der Kategorien: zum Gebrauch von »Geschlecht« in der Frühen Neuzeit. In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 2,2 (2002), S. 6–17, oder die Arbeiten von Gleixner, Ulrike: »Das Mensch« und »der Kerl«. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700–1760). Frankfurt a. M. 1994 (Geschichte und Geschlechter Bd. 8), und Ulbrich, Claudia: Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Wien 1999 (Aschkenas: Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden. Beiheft Bd. 4). Die genannten geschichtswissenschaftlichen Beispiele nutzen dabei primär Gerichtsakten als Untersuchungsmaterial. 6 Wolff, Ludwig: Fleck, Konrad. In: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 227f. http:// www.deutsche-biographie.de/ppn118533797.html [letzter Aufruf: 13. 01. 2015].

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treibenden »Kraft der wahren Liebe« entgegenstehen.7 Die hier angeführte mehrfache Ungleichheit »zwischen dem heidnischen Königssohn und der christlichen Kriegsgefangenen«,8 ihre Verschiedenheit in geschlechtlicher, religiöser wie ständischer Hinsicht,9 verweist bereits auf Überschneidungen, Zusammen- wie Wechselwirkungen der relevanten Kategorien und legt die Anwendung intersektionaler Forschungsansätze nahe. Versteht man »Literatur immer auch [als] ein Probehandeln«, als den »Versuch, einen Spielraum zu schaffen, in dem Unvordenkliches gedacht und Unanschauliches zur Anschauung gebracht werden kann«,10 eröffnet die Untersuchung des Fleck’schen Romans interessante Perspektiven. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht dann nicht etwa die Frage, welche strukturellen Privilegien und Diskriminierungen im Untersuchungszeitraum existierten und in welcher Form diese sich gesellschaftlich auswirkten, vielmehr rückt die zeitgenössische Betrachtung und Deutung dieser Ungleichheiten in den Blick. Es ist folglich zu erörtern, inwiefern der Roman darauf hinwirkt, einen »Raum der Reflexion und Imagination«, der »[a]us der Konfrontation zwischen der realen Welt und der fiktiven Welt […] erwächst«,11 zu konstituieren und welche Inhalte er für diese Reflexion liefert. Auf welche Art und Weise und zu welchem Ende erzählt Konrad Fleck die unterschiedliche soziale Verortung seiner Hauptfiguren? Wie positioniert sich der Erzähler gegenüber diesen Ungleichheiten, werden sie legitimiert oder in Frage gestellt, und welche Verfahren werden dazu genutzt? Um uns diesen Fragen zu nähern, ist zunächst genauer zu bestimmen, wie die soziale Verortung der Figuren im Roman unter Einbeziehung des historischen Kontexts zu fassen ist. Dabei sind insbesondere die im Text aufgeworfenen Kategorien zu historisieren. Da in der Forschung bereits verschiedentlich Überlegungen zum Problem der Historisierung angestellt wurden, verzichten wir an dieser Stelle auf eine grundsätzliche Erörterung und fassen zunächst die wesentlichen Positionen in aller Kürze zusammen. Für die mediävistische Forschung – in ihrer geschichts- wie literaturwissenschaftlichen Ausrichtung – kann 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Die Verschiedengeschlechtlichkeit der Protagonist_innen erscheint für einen Liebesroman des Mittelalters zwar nicht völlig alternativlos, bedarf u. E. an dieser Stelle aber keiner näheren Problematisierung. Vgl. zur Thematisierung gleichgeschlechtlicher Liebe in der mittelalterlichen Literatur und darüber hinaus u. a.: Boswell, John: Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality. Gay People in Western Europe from the Beginning of the Christian Era to the Fourteenth Century. Chicago 1980, insb. das Kapitel »The Triumph of Ganymede«, S. 243ff. 10 Kraß, Andreas: Einführung: Historische Intersektionalitätsforschung als kulturwissenschaftliches Projekt. In: Durchkreuzte Helden. Das »Nibelungenlied« und Fritz Langs Film »Die Nibelungen« im Licht der Intersektionalitätsforschung. Hg. v. Bedekovic, Natasˇa, Kraß, Andreas u. Lembke, Astrid. Bielefeld 2014. S. 7–47, hier S. 18. 11 Ebd.

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bislang noch nicht von einer umfassenden Rezeption intersektionaler Ansätze gesprochen werden, wie auch insgesamt in den beiden Disziplinen die ursprünglich aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich stammenden Konzepte nur in Grundzügen zur Anwendung kommen.12 In den letzten Jahren lässt sich jedoch ein vermehrtes Interesse am Begriff der Intersektionalität verzeichnen. Dies zeigt sich insbesondere an zwei Sammelbänden aus dem Jahr 2014.13 Wurde der Begriff der Intersektionalität bislang nur vereinzelt rezipiert, so fanden doch zugleich in der historischen Frauen- und Geschlechterforschung konkrete Ansätze des Umgangs mit der zugrundeliegenden Problematik, also der Einbeziehung verschiedener sozialer Kategorien und ihrer jeweiligen Bedeutung, Anwendung. Andrea Griesebners Überlegungen zum »Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie« stellen in Anlehnung an Pierre Bourdieus Konzept des sozialen Raumes hierzu seit Längerem eine fundierte Vorgehensweise zur Verfügung.14 Trotz einer gewissen Nähe beider Konzepte grenzen sich die mit diesem Ansatz arbeitenden Historikerinnen jedoch klar von der Intersektionalitätsforschung ab, »da sie einerseits untrennbar mit dem Identitätsbegriff verwoben ist […] und andererseits weder Erklärungen für die Gewichtung von Kategorien noch für eine ›integrale Perspektive‹ auf soziale Kategorien entwickeln« könne.15 Die Denkfigur der Interdependenz hingegen bietet nach Ansicht der Autorinnen, der wir uns hier anschließen, eine nützliche Arbeitsgrundlage, da mit dieser die wechselseitige Relationalität sozialer Kategorien erfasst und analysiert werden kann. Welche Kategorien sind im hier untersuchten Material nun in ihrer Relationalität zu betrachten? Der kurze inhaltliche Abriss des Romans verwies bereits auf drei bedeutsame Kategorien: ›Geschlecht‹, ›Stand‹ und ›Religion‹. Diese sollen im Folgenden hinsichtlich der jeweils in der Erzählung genutzten Unterscheidungen 12 So konstatiert Kraß [Anm. 10], S. 17–18 eine bislang nur geringe Rezeption in der Literaturwissenschaft und erkennt nur erste Ansätze der Anwendung in historischer Perspektive, S. 26–27. Eine Erklärung für diesen Umstand mag, so Schnicke [Anm. 3], S. 15 in der disziplinären Konzentration intersektionaler Theoriebildung zu finden sein. Dabei kamen insbesondere in der Geschlechtergeschichte vergleichbare Überlegungen zur Anwendung, auch wenn diese sich nicht (explizit) der Forschungsrichtung der Intersektionalität zurechnen, s. Schnicke [Anm. 3], S. 9–10. 13 Die hier maßgeblich als theoretische und methodische Anknüpfungspunkte dienen: Kraß [Anm. 10], Schnicke [Anm. 3]. 14 Griesebner, Andrea: Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit. In: Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Hg. v. Aegerter, Veronika u. a. Zürich 1999 (Schweizerische Historikerinnentagungen / Schweizerische Tagung für Geschlechtergeschichte, Band 9), S. 129–137, hier S. 129, zur Anlehnung an Bourdieu S. 133f; ergänzend dazu auch das Plädoyer für diesen Ansatz von Griesebner/Lutter [Anm. 4]. 15 Griesebner/Hehenberger [Anm. 2], S. 111, zur Begründung der Abgrenzung S. 105–111.

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betrachtet werden. Da der vorliegende Beitrag sich primär mit der Ungleichheit der beiden Protagonist_innen befasst, werden sie darüber hinaus als binäre Unterscheidungen operationalisiert. Dass eine derartige Operationalisierung der Kategorien immer auch blinde Flecken erzeugt und damit Forschungsperspektiven verstellen kann, sei hier kritisch angemerkt. Es ergeben sich drei Zuschreibungspaare zur Bestimmung der Differenz: Für die Kategorie ›Geschlecht‹ die Unterscheidung ›männlich/weiblich‹16 für den ›Stand‹ ›frei/unfrei‹ und für die ›Religion‹ ›christlich/heidnisch‹. Wird ›Geschlecht‹ gemeinhin überzeitlich und überkulturell als relevante Kategorie betrachtet und als Teil der klassischen soziologischen Trias (gender, class, race) regelmäßig in intersektionalen Untersuchungen herangezogen, so ist mit dem ›Stand‹ bereits eine Kategorie benannt, die nur für bestimmte Zeiträume soziale Bedeutung besitzt – ja überhaupt nur in diesen im engeren Sinne existiert. In der historisch orientierten Intersektionalitätsforschung wurde sie korrespondierend zu bzw. als Ersatz der Kategorie ›Klasse‹ eingebracht.17 Florian Schmid schlägt ergänzend vor, hier den »Rang« hinzuzufügen, um zu verdeutlichen, dass die Beschränkung auf die Differenz von Adel, Klerus und Bauern insbesondere für die Betrachtung der höfischen Literatur als Beschreibung potenziell zu kurz greift. Nimmt diese doch in ihrem zumeist vorherrschenden Fokus auf die ritterlich-höfische Gesellschaft seltener außerhalb stehende Personen in den Blick, diskutiert jedoch umso häufiger Fragen des Rangs innerhalb der eigenen Gruppe.18 Obwohl auch im untersuchten Roman der Rang bzw. die konkrete Position innerhalb der höfischen Hierarchie bedeutsam erscheint, kann er hier im Hinblick auf die Leitfrage nach der Ungleichheit von Flore und Blanscheflur nur nachrangig behandelt werden. Neben den drei u. E. im Text zentralen sind zumindest zwei weitere Kategorien von nachgeordneter Relevanz 16 Mit dieser Beschränkung soll keinesfalls nahegelegt werden, dass mittelalterliche Vorstellungen von Geschlecht auf ein binäres Modell begrenzt gewesen seien, ebensowenig soll diese verkürzte Darstellung auf eine überzeitlich wirksame Geschlechterordnung verweisen, u. E. erscheint es vielmehr unzweifelhaft, dass sich ›mittelalterliche‹ Vorstellungen geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen und körperlicher Erscheinungen wesentlich von den uns zeitgenössischen Konzepten unterscheiden. Einen kurzen Überblick zu zentralen Forschungsfragen und -feldern der mediävistischen Genderforschung bietet: Bennewitz, Ingrid: Zur Konstruktion von Körper und Geschlecht in der Literatur des Mittelalters. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hg. v. Bennewitz, Ingrid u. Kasten, Ingrid. Münster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter Bd. 1), S. 1–10; historisch bietet Hergemöller, Bernd-Ulrich: Masculus et femina. Systematische Grundlinien einer mediävistischen Geschlechtergeschichte. Hamburg 2005, einen nützlichen Überblick. 17 S. Kraß [Anm. 10], S. 28–29. 18 Schmid, Florian: (De-)Konstruktion von Identität in der ›Nibelungenklage‹. Überlegungen zu einem intersektional-narratologischen Zugriff auf mittelalterliche Texte. In: Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen. Hg. v. Klein, Christian u. Schnicke, Falko. Trier 2014 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft Bd. 91), S. 61–86, hier S. 64.

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aufzuführen: Das ›Alter‹ – operationalisiert in der Unterscheidung ›minderjährig/ volljährig‹ – und die ›familiäre Position‹ – operationalisiert als ›Elternteil/Kind‹.19 Hinsichtlich des betrachteten Textes konzentriert sich die Untersuchung auf die Vorgeschichte des Romans. Diese Begrenzung des Materials gründet wesentlich in der Tatsache, dass die untersuchten Kategorien sozialer Ungleichheit primär in diesem Erzählabschnitt des Romans thematisiert und relevant gesetzt werden. Wird zu Beginn des Romans die unterschiedliche soziale Verortung der Protagonist_innen als Hinderungsgrund für die Erfüllung ihrer Minnebeziehung unmittelbar zum Gegenstand der Erzählung gemacht, so verschiebt sich dieser Fokus im Rahmen der Gesamterzählung deutlich zu einer nur mittelbaren Bedeutung ihrer Unterschiede. Die Eltern Flores, des männlichen Protagonisten, suchen die als unangemessen erachtete Minnebeziehung durch eine räumliche Trennung des Paares zu beenden, die fortan zum wesentlichen Hinderungsgrund ihrer Erfüllung wird. Im Mittelpunkt der Handlung steht damit nicht mehr die zugrundeliegende Problematik der Minne zwischen ›heidnischem‹ Königssohn und christlicher Sklavin, sondern vielmehr die schlichte räumliche Entfernung zwischen Geliebtem und Geliebter, mithin die Unkenntnis des Aufenthaltsorts des/r jeweils Anderen. Ist die folgende Handlung damit auf der Erzählebene durch die Interessen der jeweiligen Figuren motiviert – das Interesse an der Trennung seitens der königlichen Eltern, das Interesse an der Vereinigung seitens der Liebenden – so lässt sich auf der Ebene der literarischen Tradition eine weitere Begründung ausmachen. Während in der höfischen Literatur für die Erzählung von der Überwindung räumlicher Distanzen und den damit verbundenen Gefahren des Reisens gut etablierte und erprobte Erzählmuster zur Verfügung standen,20 die insbesondere den Rezeptionsgewohnheiten des höfischen Publikums entsprachen, fehlen vergleichbare Vorbilder für eine Erzählung der Überwindung sozialer Distanzen.21 Im Sinne der Erzählbarkeit der Proble19 Insbesondere bei der letzten Unterscheidung erscheint eine feinere Differenzierung (Vater/ Sohn/Ehemann/Mutter/Tochter/Ehefrau/Schwester/Bruder/etc.) grundsätzlich plausibel, da diese Kategorie jedoch nur am Rande in den Blick gerät, wird hier bewusst auf eine solche verzichtet. Andere Vorschläge für Kategorien, die in der Intersektionalitätsforschung nutzbar gemacht wurden, erscheinen im Text nicht von wesentlicher Bedeutung, sodass sie hier nicht zur Anwendung kommen. 20 Als besonders verbreitete Muster des Typs seien das Brautwerbungsschema und das Artusschema zu nennen, nahe liegt hier selbstverständlich auch das Muster der von Konrad Fleck gewählten Gattung, also des Liebes- und Abenteuerromans (oder auch »Minne- und Aventiureromans«), vgl. einführend zu den Charakteristika dieser Muster Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Berlin, Boston 2012, S. 191ff. bzw. S. 241ff. 21 Hier lassen sich vielmehr geeignete Gegenbeispiele finden, also solche Erzählungen, die die Unüberwindbarkeit sozialer Schranken thematisieren. So z. B. der Meier Helmbrecht Wernhers des Gartenaere, s. dazu die Ausführungen bei Menke [Anm. 2], zum Ordo-Gedanken S. 59ff., zur Frage der Akzeptanz des eigenen Geburtsstandes und der Folgen der Auflehnung Helmbrechts, S. 86ff. u. a. Einschränkend ist hier allerdings festzustellen, dass

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matik liegt eine Verschiebung der Darstellung aus dem sozialen in den geographischen Raum nahe, die Ursache der räumlichen Trennung bleibt dabei jedoch im Hintergrund präsent und wird am Ende der Erzählung, im Zuge einer Auflösung der sozialen Trennung, erneut zentral aufgegriffen. Die Untersuchung erfolgt im Weiteren in vier Schritten. So sollen zunächst die ausgewählten Kategorien der Ungleichheit innerhalb der Vorgeschichte herausgearbeitet werden. Dabei ist zu ermitteln, in welcher Form sie im Text eingeführt und wie sie näher bestimmt, also mit Zuschreibungen versehen und relevant gesetzt werden. In einem nächsten Schritt geraten dann Wechsel- und Zusammenwirken der Kategorien in den Blick. Hier ist insbesondere zu analysieren, inwiefern das Zusammentreffen verschiedener Kategorien zu Verschiebungen und Umdeutungen beiträgt. Bevor im letzten Teil der Untersuchung eine Synthese der Überlegungen unternommen und die zentralen Untersuchungsfragen beantwortet werden, gilt es, die Wirkung der Minne zwischen den Protagonist_innen näher zu betrachten. Werden soziale Ungleichheiten als primäres Hindernis der Minneerfüllung benannt, so ist hier zu fragen, inwiefern die Minne der beiden zugleich ein geeignetes Mittel zur Aufhebung oder zumindest Irrelevantsetzung dieser Ungleichheiten ist.

II.

Pränatale Überkreuzungen. Ungleichheiten und Gemeinsamkeiten in der Vorgeschichte

Der Vorgeschichte kommt im »Floreroman«, wie in der mittelalterlichen Literatur überhaupt, die wesentliche Funktion zu, den Rezipienten auf die folgende Erzählung hin zu konditionieren:22 Dabei wird eine Differenz zwischen den Protagonisten etabliert, die bereits über die Elterngeneration produziert und hervorgehoben wird: Die im narrativen Vorraum eingeführten Ungleichheitskategorien gefährden in ihrer rigiden Setzung die Minneeinheit von Flore und Blanscheflur, scheinen jedoch gleichermaßen in ihrer verschränkenden Kreuzung bereits ein Infragestellen dieser festen Strukturen anzudeuten. Dazu werden die in der Vorgeschichte relevanten Kategorien ›Geschlecht‹, die Überwindung sozialer Ungleichheiten in gewisser Hinsicht als verbreitetes Merkmal der Gattung des Liebes- und Abenteuerromans aufgefasst werden kann, s. Schulz [Anm. 20], S. 284–285, dabei hebt Schulz hier jedoch auf die Bedeutung des »sozialen Aufstieg[s] innerhalb des Adels« ab, also auf eine Differenz im Sinne des »Rangs« (dazu Schmid [Anm. 18]), nicht aber im Sinne des hier in den Blick genommenen Standesunterschieds als Differenz von Freiheit/Unfreiheit. 22 Vgl. näher zur konditionierenden Funktion des Erzählrahmens mittelalterlicher Erzählungen in: Bendheim, Amelie: Wechselrahmen. Medienhistorische Fallstudien zum Romananfang des 13. Jahrhunderts. Heidelberg 2017 (Studien zur historischen Poetik Bd. 22).

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›Stand‹ und ›Religion‹ zunächst in Form klarer Dualismen etabliert, die sie als stabil und den Text folglich als geradlinig erscheinen lassen. Bereits der voranstehende prologus praeter rem streicht in Form einer antonymischen Gegenüberstellung (Flire was ein heiden, / Blanschefl0r crist#ne, FB, V. 324) die binäre Differenzierung der Religionszugehörigkeit heraus. Die sich anschließende, nähere semantische Bestimmung folgt dem klassischen Muster der chanson de gesteStoffe, das den ›Heiden‹ eine deutlich abwertende Beurteilung zukommen lässt.23 Im zeittypischen Kreuzzugsszenario werden sie durch die Darstellung ihres brutalen Agierens im Kampf negativ gezeichnet: diu heiden, so formuliert der Fleck’sche Text, agieren in der kriegerischen Auseinandersetzung ohne Mitleid, wenn sie mit gwalt daz lant begriffen (FB, V. 374) und dabei liezen nieman genesen (FB, V. 378).24 Dass es sich bei ihren Gegnern um eine unbewaffnete und wehrlose Schar christlicher Pilger handelt,25 lässt die Aggressivität des Vorgehens besonders fragwürdig erscheinen.26 Der Text schildert, wie sie angetrieben durch ihren Zorn27 mit grimme (FB, V. 413) ihre Pferde anspornen und %lten […] verzern mit roube und ouch mit brande die stete in dem lande innen zwÞnzec m%len (FB, V. 384–387).

23 Im altfrz. »Chanson de Roland« etwa verdammt Karl die Sarazenen, indem er sie der »lignage de Cain« zuordnet, s. Das altfrz. Rolandslied. Hg. v. Foerster, Wendelin. Amsterdam: 1976, V. 300 bzw. 222. Abweichungen von dieser negativen Sicht, wie sie etwa im Wolfram’schen »Willehalm« artikuliert werden, sind demgegenüber als Ausnahmen zu bewerten, wie auch Barbara Sabel deutlich macht: »Wolfram von Eschenbach stellt wie Locke oder Voltaire dem intoleranten Schwarz-Weiss-Denken der Zeitgenossen ein tolerantes Modell gegenüber […]« (Sabel, Barbara: Toleranzdenken in mittelhochdeutscher Literatur. Wiesbaden 2003, S. 323). 24 Dass die Beteiligten der kämpfenden Schar (niun hundert ritter […] unde mÞ, FB, V. 401), die im Gefolge König Fenix’ in den Kampf ziehen, entlastend als guote […] knehte (FB, V. 405) bezeichnet werden können, lässt sich einzig damit begründen, dass sie gehorsam den Befehlen ihres Herrschers folgen: die t.ten will unde rehte / daz in der künec gebit (FB, V. 406f.). Damit wird jedoch zugleich das ›Böse‹ auf den ›Heidenkönig‹ zentriert. S. zur Frage der Rechtfertigung kriegerischer Tötungsdelikte sofern diese im Gehorsam gegenüber einem legitimen Herrscher erfolgen Hehl, Ernst-Dieter : Kirche, Krieg und Staatlichkeit im hohen Mittelalter. In: Staat und Krieg. Vom Mittelalter bis zur Moderne. Hg. v. Rösener, Werner. Göttingen 2000, S. 17–36, hier S. 34–36 (auch mit dem Hinweis der legitimen Gefolgschaftsforderung durch ›heidnische‹ Herrscher). 25 Der Text spricht von einer bilger%ne schar (FB, V. 410), von Christen, die ze gewer niht tohten (FB, V. 382). 26 Angesichts verbreiteter Kriegspraktiken des Zeitraums mögen die geschilderten Verhaltensweisen nicht zwangsläufig als problematisch erscheinen, s. dazu Kaeuper, Richard W.: Chivalry and Violence in Medieval Europe. New York 1999, S. 176–185, im hier vorliegenden Kontext ist jedoch von einer deutlich negativen Charakterisierung auszugehen. 27 Sie gew%ste alsus ir zorn (FB, V. 414).

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Die Sympathie des Erzählers liegt auf Seiten der Christen, deren Schicksal – die muosten leider strecken / ir houbet gegen den swerten (FB, V. 416f.) – und Unterlegenheit – der [der Vater der Pilgerin] wollte sich h.n gewert, / leider di enmohter (FB, V. 426f.) – er mehrfach bedauert. Die Betonung von Leid und Schmerz, die sich im clagen (FB, V. 436) und weinen (FB, V. 437) der Tochter über den Tod des Vaters offenbart, führt zu einer narrativen Ausgestaltung der christlichen Perspektive, aus der der kriegerische Erfolg der ›Heiden‹ zur schändlichen Tat abgestuft wird: ich w#n nie frouwe leides mÞre / von grizen schulden gewan (FB, V. 438f., Herv. der Autor_innen). Die ›heidnische‹ Religion erscheint im Zuge der Aufnahme der christlichen Sklavin nicht nur als das Andere, sondern letztlich auch als das negativ konnotierte Fremde. Die Fremdheit wird zunächst zwar als wechselseitig beschrieben (auch das Welsche scheint der Königin selts#ne (FB, V. 532) und auch die Christin wird als frömde (FB, V. 539) bezeichnet), nur in Bezug auf das ›Heidnische‹ jedoch erfährt sie eine dezidiert ablehnende Bewertung: Der mit dem ›Heidnischen‹ verknüpften Bedrohung (wan s% die heiden vorhte, FB, V. 547) steht die französische Sprache als ins Positive abweichend gegenüber, die entsprechend als süeze und si höveschlich beschrieben wird. Sich quasi dem Ungenügen der eigenen Muttersprache bewusst, bittet die Königin darum, diese Sprache der christenfrowe zu erlernen (s% bat sich franzois lÞren, FB, V. 537). Interessant ist diesbezüglich zudem die enge Verknüpfung, die die religiöse Fremdheit mit der kulturellen Fremdheit erfährt bzw. die Höherbewertung des Christlichen, die mit der Höherbewertung der abendländischen (welschen) Kultur einhergeht: So wird die Problematik der sprachlichen Verständigung28 doch zuerst und in auffälliger Weise damit behoben, dass der Königin gestattet wird, ihre Religion zu leben, woraufhin erst im zweiten Schritt die sprachliche Annäherung erfolgt (diu künig%n / in welschen dicke wider s% sprach, FB, V. 540f.), um dann abermals den Blick auf die Gefangene als Christin zu richten.29 Nicht zur Debatte steht dabei, was als höfische Norm zu verstehen ist. Fleck kontrastiert also nicht etwa verschiedene Modelle adliger Lebensweise, sondern setzt die ihm vertraute Hofkultur als allgemeingültige voraus.30 ›Heidnische‹ Königin und christliche Gefangene verfügen über dieselben Verhaltensmuster (die frouwen höveschl%che 28 S% h.te niemen kunder, / dem s% möhte verjehen / waz ir ze leide was geschehen, / wan s% enkunde nieman gemerken noch wol verst.n (FB, V. 515–520). 29 Diu krist#ne sich beriet / mit wiu s% der unkunden diet / möhte gelieben sich (FB, V. 534ff.). 30 Er folgt damit durchaus geläufigen Mustern, nach denen zeit- und kulturunabhängig einheitliche Maßstäbe für ideales Herrscherhandeln und adlige Lebensart angesetzt werden. Vgl. dazu z. B. die Überlegungen bei Membrives, Eva Parra: Wolframs Frauen. Eine Analyse unhöfischer Verhaltensweisen im deutschen Mittelalter. In: Revista de Filolog&a Alemana 9 (2001), S. 13–34, hier insb. S. 20ff. am Beispiel von Wolfram’s Belakane.

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t.ten, FB, V. 514). Auf dieser Gemeinsamkeit beruht dann auch folgerichtig die ›Einsicht‹ der Königin in die höfische Überlegenheit der französischen Sprache. Deutlich tritt die Abwertung des ›Heidnischen‹ auch im Moment der als zeitgleich geschilderten Geburt ihrer Kinder hervor : Der Freudentag fällt auf einen christlichen Feiertag (palmistern, FB, V. 577), wobei der krist#ne nicht nur morpho-syntaktisch über die Initialposition im Satz eine Vorrangstellung zugesprochen wird,31 sondern sie auch eine Tochter gebiert alz ez got gebit (FB, V. 582), während der Erzähler über das zunächst geschlechtlich ›neutralisierte‹ und an zweiter Stelle genannte ander kint (FB, V. 584) keine Aussage trifft. So bleibt in auffälliger Weise das Geschlecht des Thronfolgers, aus dem bekanntlich innerweltliche Folgen resultieren, unmarkiert, und auch die Freude über die Geburt des Heldenjungen beschränkt sich auf das intradiegetische Figurenpersonal.32 Die Erzählung als solche registriert, so ließe sich folgern, nur die positiven Empfindungen einer spezifischen Figurengruppe, ohne dass daraus eine allgemeine Freude erwachsen würde, die der Rezipient zu teilen aufgefordert wird. Das ›heidnische‹ Umfeld der Vorgeschichte wird so erneut abgegrenzt und dabei als defizitär markiert. Auch in Bezug auf die Kategorie ›Geschlecht‹ erfolgt von Beginn an eine markante binäre Separation. Zunächst in der einleitend konventionell formulierten Minnelehre, in der Folge dann in der dem Prolog nachgeschobenen Szenerie im Baumgarten. Diese präsentiert dem Rezipienten eine ideale Erzählsituation, in der ritter unde frouwen den idyllischen Ort inmitten der Natur betreten, um einer Geschichte zu lauschen. Die stehende Wendung verweist auf das Geschlechterschema der ritterlich-höfischen Gesellschaft, indem sie dem Mann zu seinem ›Mannsein‹ über die Standes- und Tätigkeitszuschreibung (er ist eben nicht nur Mann, sondern auch ritter) Aktivität und Handlungsfähigkeit zuschreibt, während die weibliche Geschlechtshülle weitestgehend auf die allgemeine geschlechtliche Markierung als Frau reduziert bleibt.33 Diese hier nur lexikalisch angedeutete Differenzierung wird in der Vorgeschichte noch deutlicher, wenn die Geschlechter im Sinne einer hierarchisch geordneten Domi31 Vgl. FB, V. 578, FB, V. 582 und FB, V. 585. 32 Di enwas d. nieman / alles des gesindes, / er enfröwete sich des kindes (FB, V. 586–588). 33 Der mhd. Begriff ›frouwe‹ ist zwar nicht gänzlich frei von Standesmarkierungen, weist aber keine Handlungs- bzw. Tätigkeitszuschreibung und Rollenbetonung im engen Sinne (vgl. etwa mhd. amme, künigin) auf. Die Zuschreibung von Aktivität als männliches Geschlechtsmerkmal und Passivität als weibliches kann für den Zeitraum als weit verbreitet angesehen werden, deutlich findet sich diese Vorstellung zum Beispiel im »Welschen Gast« Thomasins von Zerclaere, vgl. dazu Weichselbaumer, Ruth: Normierte Männlichkeit. Verhaltenslehren aus dem Welschen Gast Thomasins von Zerclaere. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hg. v. Bennewitz, Ingrid u. Kasten, Ingrid. Münster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter Bd. 1), S. 157–177, hier S. 164–165.

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nanzstruktur zueinander in Beziehung gesetzt werden. Handlungsaktivität geht nun einzig von männlichen Figuren aus: So gewinnt der künic von heidenlande (FB, V. 359) als Heerführer erfolgreich Kriege34 und ihm obliegt sowohl in seiner Position als Herrscher, der über Beute und Gewinn des Feldzugs verfügt,35 als auch in jener als Vater, der dem Sohn zunächst gestattet, dass er mit seiner Freundin Blanscheflur gemeinsam unterrichtet wird,36 die Entscheidungsgewalt, die ihn als in einer überlegenen Position ausweist. Das Wirkungsfeld der Frau beschränkt sich demgegenüber auf den affektiven Bereich, wenn als guoter frouwen site (FB, V. 454) das tr0ren unde weinen (FB, V. 451) benannt wird und sie auf das ihr zugefügte griz herzeleid (FB, V. 455) einzig mit Tränenausbrüchen reagieren kann.37 Denn, so wird im Erzählerkommentar explizit angemerkt, andere Mittel bleiben dem weiblichen Geschlecht versagt: si enmügen sich anders rechen (FB, V. 459). Selbst die Gefühlsäußerungen unterstehen der steuernden Kraft und Kontrolle des Mannes, der aufgefordert wird für ihr ›emotionales Wohl‹ zu sorgen, indem er daz gemache, / daz ein frouwe lache (FB, V. 463f.). Als gefangene Sklavin, die sich namenlos und damit identitätslos in die Gewalt des männlichen Herrschers begeben muss, wird das stereotype binäre Schema noch einmal auf die Spitze getrieben, indem der Frau nicht nur der statisch-rezeptive Part zugeschrieben, sondern sie auf den Status eines rein sachlichen Objekts reduziert wird, dem sich ein bestimmter Wert zuschreiben lässt: den künic d0hte der gewin / an der frowen daz beste (FB, V. 444f., Herv. der Autor_innen). Als solches kann sie im erzählten Raum von fremder Hand nach Belieben verschoben und der Königin als Geschenk mitgebracht werden.38 Die etablierte kategoriale Verschränkung von Geschlecht und Stand, sprich Weiblichkeit und Sklaventum/Unfreiheit sowie Männlichkeit und Adel/Freiheit, markiert eine zunächst unhinterfragte Zweiteilung, die sich an konventionelle, gesellschaftliche Ordnungsmuster anlehnt. Die Elternvorgeschichte präsentiert damit einleitend eine narrative Anfangswelt, die vertraute Denkmuster bestätigt und dem Rezipienten einen gemeinsamen Erfahrungsraum öffnet, der an seinen Erwartungshorizont39 anknüpft.

34 Der künec von heidenlanden / fuorte von serjanden / samet ime über mer / ein vil kreftigez her / 0f der krist#nen schaden (FB, V. 359–363). 35 Er teilte […] in ze line / beidiu silber unde golt / […] und ander s%ne gewinne (FB, V. 500–503). 36 ›[…] / Ich wil dine friundin / heizen lÞren alse dich.‹ / sin wille der was veterlich; / des er in bat daz leister (FB, V. 658–661). 37 Vgl. FB, V. 457f. 38 Er wollte s% durch minne / bringen der küniginne (FB, V. 475f.). 39 Hans-Georg Gadamer erfasst mit dem Begriff ein Bündel an soziohistorischen und kulturellen Faktoren, die im Moment der Konfrontation mit dem Text beim Rezipienten hervor-

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III.

Christliche Sklavin, ›heidnischer‹ König. Die Kategorien und ihr Wechselspiel

Im Zuge der Integration der christlichen Sklavin an den ›heidnischen‹ Königshof aber (und hier liegt der wesentliche Punkt) wird dieses vertraute Anfangsbild aufgelöst und damit die kategoriale Stabilität noch im vorgeschichtlichen Rahmen gebrochen bzw. nivelliert. Die damit verbundene, sich nun herauskristallisierende veränderte Perspektive soll anhand der Frage, welche Privilegien in der Folge mit einer kategorialen Zuordnung verbunden sind, deutlich werden: Was gestattet der Text einer christlichen Sklavin, was einem ›heidnischen‹ König? Dabei führt, so eine erste These, die Überkreuzung verschiedener Kategorien und die so entstehende ambivalente Figurenzeichnung zwar nicht zu einer völligen Verkehrung bestehender, fester Muster, doch aber zu deren Relativierung. Die kategoriale Zuordnung wird aus ihrer Eindeutigkeit, die sie in der anfänglichen Setzung erhielt, herausgeschoben und bedingt ein Hinterfragen ihrer Ordnungsstrukturen, die letztlich andere Parameter als übergeordnet hervortreten lässt. Durch die Verschränkung der Kategorien ›Weiblichkeit‹ und ›unfreier Stand‹ ist die Mutter Blanscheflurs einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt. Obwohl ihr damit standesrechtlich kein Anspruch auf Teilhabe an der höfischen Lebensform zukommt, wird ihr diese dennoch gestattet: Als ›privilegierte Gefangene‹ wird sie mit der Königin im wahrsten Sinne des Wortes, gleichgesetzt, indem sie neben ihr Platz nehmen darf: […] sw. diu küniginne saz, / si saz b% ir diu krist#ne (FB, V. 530f.). Auch der ›Heidenkönig‹ Fenix selbst bezeichnet sie als einer frowen gel%ch (FB, V. 469), Aussehen und Benehmen – ir geschaft was edelich / und ir geb#rde lobesam (FB, V. 470–472) – lassen es zu, sie mit der eigenen adeligen Partnerin zu vergleichen. Die Synchronisation der Geburt ihrer Kinder (der selben z%ten (FB, V. 580) / ze einer stunde, FB, V. 591) führt zu einem Übereinanderblenden beider Schicksale, die damit – bei allen zuvor genannten Differenzen – gleichermaßen in den Fokus der Betrachtung rücken und auch gleich viel Aufmerksamkeit im Erzählverlauf beanspruchen. Mit der Akzeptanz der Sklavin als (fast) vollwertigem Hofmitglied geht auch die Aufwertung der Beurteilung des ›heidnischen‹ Herrschers einher. Trotz seines religiösen ›Mankos‹ lässt ihn die Interaktion mit der andersgläubigen Fremden als moralisch vorbildlich hervortreten. Die ihr entgegengebrachte Toleranz und Nächstenliebe belegen, dass er christliche Verhaltensmuster vertritt, die auf eine Bewertung der Person unabhängig von (kategorialen) Parametern wie ›Standeszugehörigkeit‹ oder ›Konfession‹ abzielen. Zugleich verliert die Kategorie ›Gegerufen werden. Auf diese Weise, so Gadamer, werde die Textaufnahme zu einer »gemeinsame[n] Sache« (Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Tübingen 1972, S. 392).

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schlecht‹ im Zuge des Integrationsprozesses an Kontur, indem Fenix nun nicht mehr über seine aktiv-kriegerische Bewährung definiert wird, sich nicht mehr durch die nach außen hin sichtbare Bewegung in der ritterlichen Tat im Kampf, sondern durch die sich primär im Inneren vollziehende Bewegung des Gemüts ausweist. Weitgehend untypisch für die Charakterisierung der männlichen handlungstragenden Figur treten nun innere Regungen und Gefühle hervor, auf denen seine Entscheidungsfindung basiert: In s%nes herzen ahte (FB, V. 468) erkennt der König das edle Wesen der Gefangenen und durch minne (FB, V. 475) nimmt er sie der Königin als Geschenk mit. Die zuvor verhältnismäßig strikt aufgebaute geschlechtliche Markierung von Handlungsfeldern wird hier aufgelockert, indem mitfühlende Emotionalität als nicht mehr rein weibliches Charakteristikum ausgewiesen wird.40 Fenix tritt aus dem kriegerischen Bewährungsraum heraus, in einen Bereich ein, den die Erzählung zuvor als weiblich konnotiert ausgewiesen hatte.41 Abgeschwächt wird eine an der Geschlechterordnung orientierte Bewertung auch dadurch, dass die rechte, christliche Religion über die Figur der Mutter der zukünftigen Protagonistin inseriert und damit über die weibliche Abstammungslinie in die Genealogie ›eingepflanzt‹ wird.42 Die finale Konversion des Helden (er toufte sich di Þrste, FB, V. 7825) und der ehemals ›heidnischen‹ Bevölkerung trägt somit wesentlich zur positiven Herrschaft am Ende bei. Dass eine konventionelle Hierarchisierung zurückgenommen wird und die Geschlechter (nun) gleichermaßen Einfluss auf den Handlungsgang nehmen,43 40 Dabei können emotionale Äußerungen für den Zeitraum keinesfalls als grundsätzlich ›unmännlich‹ markiert verstanden werden. Auch wenn die Fähigkeit zur Affektkontrolle als eine Kernkompetenz höfischer Männer eingefordert wurde, vgl. Weichselbaumer [Anm. 33], S. 165–166, hier S. 169, gibt es zahlreiche Beispiele legitimer Emotionsäußerungen durch Männer, so z. B. die Zurschaustellung von Trauer oder Wut in politischen Kontexten, s. dazu u. a. Dinzelbacher, Peter : Warum weint der König? Eine Kritik des mediävistischen Panritualismus. Badenweiler 2009, zur Beschäftigung mit Emotionen in der Mediävistik: Althoff, Gerd: Tränen und Freude. Was interessiert Mittelalter-Historiker an Emotionen? In: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), S. 1–12. 41 Auch dieses ›abweichende‹, in der Vorgeschichte geprägte Männlichkeitsmuster wird in der Haupterzählung übernommen, wenn der Held in der ›Schachspielepisode‹ durch reflektiertes und listiges Vorgehen, nicht aber durch heroische, kriegerische Bewährung, sein Ziel erreicht. 42 Möglicherweise handelt es sich hierbei aber auch ›nur‹ um eine Konsequenz der Wertung der Religionen, bei der das Christentum durch den Erzähler als überlegener Glaube betrachtet wird. 43 Vgl. hierzu auch die Anmerkungen von Jutta Eming, die bereits in allgemeiner Form in Bezug auf den Liebes- und Abenteuerroman konstatiert, dass »von einer prinzipiellen Offenheit dessen auszugehen ist, was wir geschlechtstypisch nennen« (Eming, Jutta: Geschlechterkonstruktionen im Liebes- und Reiseroman. In: Manl%chiu w%p, w%pl%ch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters (Internationales Kolloquium der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft und der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg, Xanten 1997). Hg. v. Bennewitz, Ingrid u. Tervooren, Helmut. Berlin 1999, S. 159–181, hier S. 160).

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zeigt sich des Weiteren im aufkeimenden Konflikt um die Minnebeziehung der Kinder. Hier nun sucht Fenix in seiner Verzweiflung Rat bei der Gattin – »Gen.de, frouwe, ich suoche r.t, wan ez uns kumberl%chen st.t, mir und ouch iu daz zuo. n0 r.tent mir waz ich tuo […]« (FB, V. 891–894) –

deren Anweisungen44 er zustimmt (di sprach der künec »daz lobe ich«, FB, V. 1014) und unmittelbar im Anschluss in wörtlicher Übernahme Folge leistet: Er sieht von einer Ermordung der Geliebten ab, um Flore stattdessen zu verkünden, er müsse sich zum Zwecke der schulischen Bildung von der Heimat (und damit auch von Blanscheflur) entfernen.45 Die intersektionalen Kreuzungen in den Figuren der Eltern stellen noch vor der Einführung der Protagonist_innen als Helden ihrer eigenen Geschichte klassische kategoriale Strukturschemata in Frage. Herrschaft und Teilhabe am adeligen Leben, als hier relevante Formen der Privilegierung, lassen sich nicht mehr allein über die Zugehörigkeit zu einer Kategorie, heiße sie ›Stand‹ (adelige Herkunft) oder ›Geschlecht‹ (Männlichkeit), begründen. Dieser Zuordnung tritt vielmehr ein Legitimationssystem an die Seite, das verstärkt mit moralischen Komponenten, mit Tugendhaftigkeit und vorbildlichem Verhalten operiert.46 Dass der hier anklingende Denkimpuls jedoch nur als ›Vorstufe‹ der sich zwischen Flore und Blanscheflur entwickelnden Minneeinheit zu betrachten ist, soll in den folgenden Ausführungen deutlich werden. Der Text, so ließe sich folgern, plausibilisiert einleitend ein Ungleichheitssystem, um über die intersektionale Kreuzung in der Vorgeschichte in die völlige Auflösung kategorialer Setzungen zu steuern: Um das Eine, die absolute Einheit der Minne, denken zu können, muss, so scheint durch diesen Erzählverlauf begründet, das Andere, der Unterschied der Liebenden, erst erfasst und abgegrenzt werden.47 44 Diese werden in durchaus dominanter Weise geäußert und in repetitiver Form artikuliert, etwa: […] vernement mich / und tuont als ich iuch w%se (FB, V. 930f.); […] n0 vernement: / m%n rat ist […] (FB, V. 941f.); ir sulnt […] (FB, V. 956); dar zuo suln wir […] (FB, V. 964); […] vernement mÞ, / wie diz dinc mit fuoge ergÞ (FB, V. 976f.); daz erkennent unde nement es war (FB, V. 977); dar zuo sulent ir im [ref. auf Flore] sagen (FB, V. 1009). 45 Vgl. FB, V. 1020ff. 46 Die in der Vorgeschichte geprägte Perspektive stellt die Tugendhaftigkeit dem Kriterium des Standes als mindestens gleichwertig bei. Dass diese Setzung bis in die Haupterzählung hinein bestehen bleibt, zeigt auch die Begründung des Emirs, der, trotz seines grundsätzlich schändlichen Wesens Blanscheflur ohne ihre adelige Herkunft zu hinterfragen zur Frau erwählt: si wil ich iuch ze w%be nehmen. / ir muget wol ze frouwen zemen / disem lande und disem liute (FB, V. 1725ff.). 47 Vgl. zu diesem Gedankengang Hannah Arendt, die notiert: »Wenn wir dieses Eine denkend erfassen, definieren möchten, so müssen wir dieses Anderssein (alteritas), diesen Unterschied berücksichtigen« (Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, das

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IV.

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Black-Box Minne. Aufhebung der Ungleichheiten?

In der Minneeinheit der Protagonisten werden nun folglich die separierenden Anfangsmodelle völlig aufgelöst: Flore muss weder, dem Schema der hohen Minne verpflichtet, Dienst leisten, noch muss sich Blanscheflur, dem klassischen Rollenprofil der höfischen Dame entsprechend, dem Mann unterordnen; und auch die Privilegierung über den adeligen Stand wird zurückgenommen, wenn sich Königssohn und Sklaventochter auf gleicher Ebene in der Minne begegnen. Es erfolgt eine kategoriale Einebnung, die der Dichter im Prolog, wenn auch hier in Bezug auf das eigene Publikum, bereits implizit vorzubereiten scheint: In der Anrede an den Rezipienten verweist er auf die bestehende Unterteilung (eigen vs. fr%), setzt die benannte Ungleichheit jedoch in direktem Anschluss irrelevant, indem er seinen Text an ein breites Publikum adressiert und entsprechend – dem klassisch-rhetorischen Topos der captatio benevolentiae folgend48– auch von allen Lob einfordert: er s% eigen oder fr%, der des n0 geruoche daz er von disem buoche disiu m#re verneme, ob im dar an nicht missezeme […] (FB, V. 130–134).

Anhand der drei zentralen Stationen des Erzählverlaufs (Einheit – Trennung – Wiedervereinigung), die das ›blasenförmige‹ Grundmodell des Liebes- und Abenteuerromans konstituieren,49 soll deutlich werden, was es bedeutet, wenn konträre Identitäten nun in der Minne zu einer sich selbst genügenden Einheit verschmolzen werden und wie sich diese ›black-box‹50 im Kontext der gesellschaftlichen Anforderungen und Konventionen behauptet. Wollen. München 1998, S. 182). Sehr konkret wird diese Vorstellung auch in den Worten Abrogast Schmitts: »Wer das Süße vom Sauren nicht unterscheiden kann, kann auch keine Lust am Süßen empfinden« (Schmitt, Abrogast: Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte. In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hg. v. Stierle, Karl-Heinz. München 1996, S. 528–563, hier S. 543). 48 Die hier favorisierte Lesart zielt in erster Linie darauf ab, die Passage in ihrem semantischen Gehalt und im Hinblick auf den Fortgang der Erzählung ernst zu nehmen und nicht unter einem Pauschalhinweis auf etwaige rhetorisch-konventionelle Formelhaftigkeit abzutun. Die hier in Bezug auf den Hörer vorgenommene kategoriale Einebnung lässt sich bereits als ein erster Verweis auf die in der Vorgeschichte ebenfalls erfolgende und im Minne-Idyll verschärft zutage tretende Nivellierung von Ungleichheiten betrachten. 49 Vgl. Röcke, Werner : Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hg. v. Mertens, Volker. Stuttgart 1984, S. 395–423. 50 Black-box soll hier als System verstanden werden, dessen innere Strukturen undurchschaubar und unkalkulierbar bleiben und das sich lediglich über Output und Input erschließen lässt. Diese Begriffsbestimmung ist rückzuführen auf die von Glanvill in der Kybernetik etablierte Definition der black-box als ›unknown world‹ über die es weiter heißt: »A

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Die Wahl für den Anderen, für Blanscheflur – und eben nicht für eine ›heidnische‹ Prinzessin – gründet einzig auf dem emotionalen Wert der geteilten Minne. Dabei ist die Entscheidung für den Zusammenschluss ein durchaus reflexiver, bewusster Prozess, der stufenweise von einem allgemeinen, theoretischen Verständnis der Minne51 zum sinnlichen Gewahrwerden der eigenen Liebe führt: Diese bezeugen sich die Kinder sowohl in schriftlicher Form (an ir tävel%n sie schriben […] / von minnen vil und anders niht: / d. von was gar ir getiht, FB, V. 820–824), als auch über körperliche Zuwendung (in wünnecl%cher fröuden pflege / underkusten sie sich t0senstunt, FB, V. 752f.). Die Minneeinheit mit dem vermeintlich Unpassenden, wird bereits in ihrem Anfangsstadium zusätzlich verstärkt, indem die Bindung als unhinterfragbare Notwendigkeit betrachtet wird: So muss auch Flores Vater erkennen, dass eine Trennung der Liebenden als völlig undenkbar erscheint, wenn er betont, dass sein Sohn .ne s% niht wesen mac (FB, V. 917), während der junge Liebende selbst erklärt: mir geschach nie si leide / si der s% von mir sundert (FB, V. 1044f.) und dem beifügt, sich nicht mehr zu helfen zu wissen (joch weiz ich m%n deheinen r.t, FB, V. 1039), wenn es denn zu einer räumlichen Trennung des Paares kommen sollte, swenn Blanschefl0r hie best.t, / und ich var in ellende (FB, V. 1040f.).52 Die Argumente des Vaters, der durch die Minneverbindung sowohl die persönliche Ehre des Sohnes als auch die gesellschaftliche Herrschaft bedroht sieht, basieren demgegenüber gerade auf kategorialen Parametern, deren (intersektionale) Kreuzung in der Bindung in keiner Weise toleriert werden kann.53 Er referiert dazu tendenziell abwertend mit dem Begriff ›maget‹54 auf Blanscheflur und weist sie damit deutlich als dem niederen Stand zugehörig aus (ein dinc daz mir niht wol behaget, / daz m%n sun dise maget / minnet sunder m.ze, FB,

51 52 53 54

blackbox is an unknown machine which is assumed to be determinable but in which the determinable mechanism is hidden from view« (Glanville, Ranulph: The Form of Cybernetics: Whitening the Black Box. In: General Systems Research. A Science, a Methodology, a Technology. Annual North American Meeting Papers. Louisville 1997, S. 35–42, hier S. 35). Die Minne der Protagonisten entspricht diesem Bild insofern, als sie sich ebenfalls und mit ihren eigenen Funktionsmechanismen von der sie umgebenden Gesellschaft abgrenzt, die ihrerseits keinen Zugriff auf sie hat. Sie lesen diu buoch von minnen (FB, V. 713), um ihm die wesentlichen Kenntnisse über die Liebe zu entnehmen: Alse di den kinden wart / ze rehte kunt der Minnen art (FB, V. 743f.). Und auch Blanscheflur sieht im Fall einer Trennung nur den Tod als Ausweg: ›[…] dar umbe wil ich kiesen / den tit, unde mac ez s%n.‹ / di zich s% 0z ir griffel%n / […] / s% wolte sich erstechen (FB, V. 1242–1247). Hier zeigt sich, dass die in der Vorgeschichte herausgestellte Toleranz noch keine vollkommene ist, reicht sie doch nur bis zu dem Punkt, an dem die eigene Herrschaft direkt von ihr beeinflusst wird. Mhd. ›maget‹ kann sich neutral auf Jungfräulichkeit beziehen, unseres Erachtens ist der Begriff hier jedoch als Bezeichnung für ›Dienerin‹ zu verstehen und referiert noch einmal in betonter Form auf den Status der Figur als Tochter einer Sklavin.

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V. 899–901). Zudem nimmt er Bezug auf das geltende Recht der Brautwahl durch die Herrschereltern, das durch die freie, eigeninitiierte Beziehung zur Geliebten gefährdet wird: des fürhte ich daz er l.ze / […] / elliu w%p von unser Þ (FB, V. 902–904). Dass für Flore die angeführten Gründe jedoch keinerlei Relevanz besitzen, zeigt seine Reaktion, mit der er nicht etwa versucht dem Vater im Wortgefecht durch Gegenargumente Paroli zu bieten,55 sondern einzig die Minne als alles überbietende Kraft nennt, die ihm genügt, um die Einheit mit der Geliebten zu behaupten. Auch im Zuge der örtlichen Trennung des Paares wird diese aufrechterhalten: So versichert Flore, dass das geistige Band, das die beiden vereint, auch über die räumliche Distanz nicht abgeschnitten werden könne: er [der Vater Flores] mac uns wol gescheiden / doch mac er niht erleiden / mir iuwer werden minne (FB, V. 1281ff.). Im Gegensatz zu Flore ist sich Blanscheflur, wie sie in der Fremde zu bekennen gibt, der sie trennenden Unterschiede bewusst,56 benennt sowohl die religiöse – »[…] ich [bin] crist#ne/und er ungetoufet« (FB, V. 1784f.) – als auch die ständische Ungleichheit: »wir sint geborn ungel%che; wan er ist eines küneges kint, so enweiz ich wer m%n m.ge sint, biderbe oder sm#he« (FB V. 1794–1797).

Der Umgang mit diesem Wissen führt jedoch zu einem analogen Resultat, indem die benannte kategoriale Setzung mit der zweifach wiederholten Phrase »waz dar umbe?« (FB, V. 1784/1808) umgehend wieder in Frage gestellt und auf die davon unbeeinträchtigte Zusammengehörigkeit verwiesen wird. Blanscheflur bestätigt damit gleichermaßen das Fortwirken ihrer nun zur »amour du loin« verschobenen Liebe, indem sie die gedankliche Präsenz Flores betont – »des w#r ich unsinne, / verg#z ich s%ner minne« (FB, V. 1813f.) – und metonymisch ihr Herz als raumüberwindendes Verbindungsstück zum Geliebten benennt, das Nähe trotz Distanz ermöglicht: »m%n herze wil sich einen tac / von im niht scheiden« (FB, V. 1806f.). So sind es auch für sie nicht äußere Positionierungen, auf die sich die Minne gründet, sondern – in ihrer Auswahl zwar konventionelle, in ihrer Zuordnung jedoch – persönliche Qualitäten, denen Blanscheflur dem ›heidnischen‹ Königssohn eine schier endlose Kette zuzuschreiben weiß: »er ist unwandelb#re, stolz, biderbe unde guot, 55 Denkbar wäre etwa der Versuch Blanscheflur als Angehörige des ›heidnischen‹ Herrscherverbundes zu betrachten, da ihre Mutter bereits in engstem Kontakt zur Königin lebte. 56 Flore teilt zwar dieses Wissen, das ihm im Streit mit dem Vater noch einmal direkt vor Augen geführt wurde, blendet es selbst aber völlig aus, indem er es nicht in seine Argumentation einbezieht.

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hövesch, tiure und wol gemuot, wol verwizzen, baz gezogen« (FB, V. 1820–1824).

Ein kurzer Blick auf die dritte Etappe der Wiedervereinigung soll genügen, um auch hier die dramatisch gesteigerte Verteidigung der Einheit und der besonderen Verbundenheit des Paares zu demonstrieren. Sie wird eingeleitet durch die Anagnorisis der Protagonisten im Minneturm des Emirs, die durch den wagemutigen wie auch kühn reflektierten Einsatz Flores zustande kommt, der den Torwächter im Schachspiel besiegt, um in der Folge im Blumenkorb versteckt ins Schlafgemach der Geliebten zu gelangen: Das Moment des Wiedersehens (di underkanten sie sich, / die gelieben, zehant, FB, V. 5834f.) führt zu überschwänglicher Freude, die im Topos vom Verstummen in der Gegenwart des bzw. der Geliebten anschaulich wird:57 […] ir deweders kunde / ein wort ze langer stunde / gesprechen noch sich verrihten (FB, V. 5855–5857). Sie macht den zuvor erduldeten Trennungsschmerz augenblicklich hinfällig, mit liebe n.ch leide, so heißt es im Text, […] verg.zen sie gar / alles des in leides war (FB, V. 6088ff.).58 Im Angesicht des Todes59 erhält die Minneeinheit dann noch einmal eine finale Steigerung, indem sie zur existenziellen Notwendigkeit erhoben wird: Das gegenseitige Bekenntnis der Liebenden für den anderen sterben zu wollen, führt in einen wortwehsel%che[n] str%t (FB, V. 6766), der den Tod gegenüber der verlorenen Liebe als eine Nichtigkeit, ein wint (FB, V. 6533)60, erscheinen lässt. Aus dem privaten in den öffentlichen Raum verlagert61, kann sich die Minne letztlich gegenüber der Gesellschaft behaupten, die einstimmig für die Freisprechung des Paares plädiert: wan sie riefen alle »gen.de, herre, ez ist z%t. […] 57 Vgl. zum Unsagbarkeitstopos: Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen, Basel111993, S. 168–171. 58 Beide Protagonist_innen artikulieren und bestätigen damit in personeller Weise diesen Gedanken auch noch einmal gesondert. So bekennt Flore: wan haet ich t0sentstund erliten / den tit umb iuwer minne, / […] / daz duhte mich wol an geleit / und waer ein kleiniu arbeit / wider dirre wünne (FB V. 6002–6007), während Blanscheflur in ähnlichem Tonfall bekennt: swaz ouch mir leides ie geschach, / des h.n ich gar vergezze (FB V. 6014f.). 59 Der Amiral droht nach dem Auffinden des Paares in seinem Turm damit, sie zu töten – […] s%n ungefüeger zorn / was si unm.zen griz / daz in übel tuondes niht verdriz / vor leide, daz im geschach / do er sie sament ligen sach (FB V. 6554–6558) – hatte er sich doch Blanscheflur zu seiner Frau auserwählt: […] ich s% m%me l%be / h.te erkorn ze w%be (FB V. 6571f.). 60 Sie d0hte in dem sinne / der tit erliten als ein wint. / ezn wurden nie getriuwer kint (FB, V. 6532–6534). 61 Waren in den Disput zu Beginn vornehmlich der Königsvater und dessen Sohn unmittelbar involviert, wird er nun vor einem breiten Publikum ausgetragen: gr.ven, künege, herzogen / und daz liut von der stat gezogen / in den boumgarten / und 0f den hof durch warten / d. der jungelinge (FB ,V. 6539–6543).

Intersektionale Betrachtungen zu Konrad Flecks »Flore und Blanscheflur«

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war zuo frumet iu daz swert? vergebent, herre, vergebent. joch ist es wol daz sie lebent. […]« (FB, V. 7216–7222).

Die umstehende Menge greift dazu erstmals selbst auf das in der ›black box‹ verfochtene und geltende Legitimationsmuster der Liebenden zurück, das auf der Basis äußerer Schönheit,62 innerer Tugendhaftigkeit und triuwe,63 intersektionale Kreuzungen in der Minne unproblematisch werden lässt und das sich auf diese Weise in der Erzählung zu behaupten vermag. Denn es überzeugt letztlich auch den Amiral von einer Verurteilung abzusehen: Di was wol gen.den z%t. / der amiral schiet den str%t, / di sie vil geb.ten (FB, V. 7299ff.).

V.

Die Ordnung hinter dem Geschehen

Wie lässt sich diese Geschichte nun verstehen? Handelt es sich um einen – neuzeitlich formuliert – emanzipatorischen Text, der die inneren Qualitäten der Protagonist_innen über gesellschaftliche Zuschreibungen erhebt? Legitimiert Konrad Fleck Verstöße gegen die Konventionen der ritterlich-höfischen Gesellschaft, sofern sie durch die emotionale Verbundenheit zweier Menschen begründet werden? Erscheint eine solche Lesart in gewisser Hinsicht durchaus attraktiv, so sind doch einige Einschränkungen und Kontextualisierungen notwendig, um ein differenziertes Bild der hier erzählten Welt zu gewinnen. Wir wollen zunächst noch einmal kurz aufgreifen, in welcher Art und Weise soziale Ungleichheiten im Text relativiert und mitunter aufgehoben, zumindest aber zeitweise irrelevant gesetzt werden. Die thematisierten Kategorien sozialer Ungleichheit werden zu Beginn mit einer relativ klaren Wertung eingeführt. So besteht eine narrative Bevorzugung der christlichen gegenüber der ›heidnischen‹ Perspektive. Dem als fremd markierten ›Heidentum‹ wird ein klar positiv konnotiertes Christentum entgegengesetzt, das mit der (französischsprachigen) höfischen Kultur zusammengedacht erscheint. Die Kategorie ›Stand‹ wird im Wesentlichen über die Differenz frei/unfrei verhandelt; hierbei sind der Unfreiheit klar größere Handlungsbeschränkungen und geringere gesellschaftliche Teilhabe eingeschrieben. Die Kategorie ›Geschlecht‹ wird zunächst konventionell dargestellt: Während Frau62 […] nieman d. ensaz / der in möhte s%n gehaz (FB, V. 6805–6807), denn, so wird argumentiert, sie wunderschAne w.ren / und daz zuo kunden geb.ren / als unervorhtecl%che (FB, V. 6801ff.). 63 Nie zuvor, versichert zunächst ein Herzog dem Amiral, habe man von alsi grizen minnen / noch von si gel%chen sinnen (FB, V. 7019f.) zweier Kinder gehört, was in der Folge in der rhetorischen Frage des Publikums ›[…] waz Þren w#net ir hie vinden / an disen zwein jungen kinden?‹ (FB, V. 7223f.), erneut aufgegriffen wird.

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Sein stark reaktiv und emotional, affektiv erscheint, wird dem Mann-Sein Aktivität und Entscheidungsgewalt zugeordnet. Das Konzept der höfischen Minne wird als zentrales Moment der Geschlechterbeziehungen eingeführt. In ihrem Wechsel- und Zusammenwirken wird die Eindeutigkeit dieser Kategorien jedoch relativiert. Positiv und negativ bewertete Zuordnungen stoßen in den Figuren zusammen und lassen die zunächst scharf gezogenen Kontraste verschwimmen. Die Kategorien werden darüber hinaus in ihrer Geltung in Frage gestellt. Dabei geht es insbesondere um die Maßstäbe der Zuordnung. So wird das höfische Verhalten der christlichen Sklavin zur Begründung ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, der ›heidnische‹ Herrscher bedient sich dem Handlungsmuster der Nächstenliebe, die zuvor etablierte geschlechtliche Zuweisung von Emotionalität wird aufgebrochen, die Entscheidungsposition des männlichen Herrschers durch den entscheidenden Ratschlag der Königin beeinflusst.64 Die Synchronisation der Geburt der Protagonist_innen erzeugt eine Gleichzeitigkeit der Ungleichen, die die unmittelbare Gegenüberstellung zum zentralen Erzählmoment erhebt. Ist damit bereits eine erste Auflösung vollzogen, so erfolgt die wesentliche Angleichung der Protagonist_innen im Zuge der Minne. Hier wird absolute Einheit durch die Schicksalsmacht der Minne als die Ungleichheiten beseitigendes Movens etabliert. Sie setzt kategoriale Bewertungen und deren gesellschaftliche Begründung – in den Augen der Liebenden – vollständig irrelevant. Ihre Ungleichheit wird dabei jedoch zu keinem Zeitpunkt völlig ausgeblendet, sondern als ein im Verhältnis zur Minne geringer zu wertendes thematisiert; soziale und räumliche Distanz werden gleichermaßen als untergeordnet erachtet. Im letzten Schritt wird auch die Unterscheidung Leben/ Tod als finale Differenz im Verhältnis zur Minne als irrelevant betrachtet. Die Bereitschaft der Protagonist_innen diese Unterscheidung für unbedeutend zu erklären, entwickelt schließlich die notwendige Überzeugungskraft, um eine gesellschaftliche Anerkennung der Minnebeziehung zu erreichen. Dass die Minne-black-box durch den gesamten Erzählverlauf in unveränderter Beständigkeit und ungehindert von gesellschaftlichen Konventionen aufrechterhalten werden kann, wird dabei auf verschiedenen Ebenen begründet. Zum einen auf der bereits ausgiebig analysierten Figurenebene der Protagonist_innen, die das 64 Damit entspricht die Darstellung durchaus der geläufigen Herrschaftsvorstellung, indem die Königin an der Herrschaft teilhat und insbesondere als Ratgeberin aktiv wird, um den König zur Barmherzigkeit zu mahnen. S. dazu Rogge, Jörg: Mächtige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert) – Zusammenfassung. In : Mächtige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.– 14. Jahrhundert). Hg. v. Zey, Claudia. Ostfildern 2015 (Vorträge und Forschungen Bd. 81), S. 437–457, hier S. 442. Rogge stellt auch kurz den Typus der weiblichen Herrschaft in ehelicher Partnerschaft vor, S. 448–449, und hebt die Bedeutung der Herrscherinnen bei der Vermittlung von Ehen hervor, S. 444.

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Ideal des ›Füreinander-bestimmt-Seins‹ bis ins Extrem steigern und dabei bewusst von kategorialen Setzungen Abstand nehmen. Doch auch die Erzählperspektive bestätigt die enge Verbundenheit, indem die Kinder bereits zu Beginn, noch während sie in den wagen l.gen (FB, V. 602), durch plurale Referenz morpho-syntaktisch als Einheit erfasst werden: die jungelinge […] pfl.gen (FB, V. 599ff.), se […] l.gen (FB, V. 602), sie macheten (FB, V. 603), se iewederz lacheten (FB, V. 604), se ein ander minneten (FB, V. 607). Ihr tritt das Schicksal als einflussnehmende und übernatürliche Kraft an die Seite, das sich in der bereits angesprochenen synchronisierten Geburt der Kinder, wie auch im Unvermögen des Einzelnen, sich der Minne zu entziehen, äußert. Über den in personifizierter Form erscheinenden minnen got (FB, V. 610) erfolgt die Begründung der Gefühlsregung der Kinder zueinander, ihm ordnen sich die Protagonist_innen bedingungslos unter : So insistiert Blanscheflur, es sei ihr unmöglich, vom Geliebten abzulassen, denn, so die Protagonistin, »[…] ob ich wolte, ich enmac« (FB, V. 1805).65 Werden im Zuge der mit Schicksalsmacht ausgestatteten Minne hier soziale Unterschiede zwischen den Protagonist_innen irrelevant gesetzt und faktisch eingeebnet, so zielt die Erzählung doch keinesfalls auf eine grundsätzliche Auflösung dieser Unterschiede ab. Die Betonung des Schicksals markiert einen Sonderfall, der nicht als Exempel oder Präzedenzfall gelten kann. Die Positionierung Blanscheflurs als Christin im ›heidnischen‹ Umfeld, verleiht ihr als Gegengewicht zur ständisch und geschlechtlich angelegten Unterordnung hier eine positive Markierung. Betrachtet man den präsentierten Sonderfall in seiner erzählerischen Einbettung, so fällt auf, dass der Roman der Minne der Protagonist_innen eine entscheidende Rolle im geschichtlichen Geschehen zuschreibt. Aus der Verbindung von Flore und Blanscheflur geht eine Tochter hervor : dar n.ch sie gewunnen samt eine maget, diu was genamt Berhte mit dem fuoze. […] von der Berhten, als man saget, und von Pipp%ne got durch die gn.de s%ne lie Karlen werden geborn, den er dar zuo h.te erkorn 65 Der Text macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass es sich um eine Unterordnung aus Einsicht in die Notwendigkeit handelt, denn: di begundens sich verst.n / man sol wesen undertan / der minne, der s% haben wil (FB, V. 615–617), und markiert diese Einsicht gar als Ergebnis besonderer Verstandeskraft, die durch den minnen got verliehen werde (FB, V. 610f).

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daz er gewaltecl%che berihte roemesch r%che. (FB, V. 307–318)

Noch bevor die eigentliche Erzählung ihren Lauf nimmt, werden die beiden Protagonist_innen somit als Großeltern Karls des Großen identifiziert und erhalten eine Schlüsselposition in der Geschichte des christlichen Abendlandes. Die kontingent erscheinende Ereignisfolge von der Gefangennahme der Mutter Blanscheflurs bis zur Erfüllung der Minnebeziehung der gleichzeitig geborenen Kinder dient folglich einem schon zu Beginn definierten Handlungsziel und erzeugt auf diese Weise Finalität.66 Formuliert Konrad Fleck die Frage, wie diu liebe under in nam so guot ende (FB, V. 320–321), so stellt er als Ziel der Erzählung eben jenes ›wie‹ in den Vordergrund.67 Dabei erscheint insbesondere die genealogische Verknüpfung Karls mit einem ›heidnischen‹ Königssohn und einer Sklavin einer Plausibilisierung zu bedürfen. Der Text erzeugt die Möglichkeit einer solchen Verbindung zunächst durch den Umstand, dass die Aufhebung der Ungleichheiten zwischen den Minnenden durch ihre Angleichung nach oben erfolgt. Dabei werden beide Protagonist_innen durch einen Wechsel ihrer Gruppenzugehörigkeit hin zur als höherwertig erachteten Gruppe gewissermaßen aufgewertet und auf eine gemeinsame Stufe gehoben. Der ›heidnische‹ Königssohn wird durch seine Taufe zum christlichen Herrscher konvertiert, die christliche Sklavin durch die Ehe zur christlichen Königin erhöht. Die Rechtfertigung dieses Aufstiegs bleibt dabei jedoch unausgesprochen. Vergleicht man die finale Aufwertung der Protagonist_innen mit Aufwertungsvorgängen im Verlauf der Erzählung, so erscheint vor allem die Frage des Bewertungsmaßstabs relevant. Wird bereits Blanscheflurs Mutter aufgrund ihrer höfischen Verhaltensweise gesellschaftliche Teilhabe zuerkannt, so lässt sich darin ein Rückgriff auf das Konzept des Tugendadels erkennen. Versteht man die (potenziell) über den Tod hinausgehende Bereitschaft zur Minnetreue der Protagonist_innen als einen besonderen Ausdruck höfischer Tugend, so erscheint es plausibel, in eben dieser spezifischen Tugendhaftigkeit der Minnenden die Legitimation ihrer Aufwertung zu sehen. Dass der Tugendadel der Vorfahren sich wiederum im Sinne eines Geblütsadels auf nachfolgende Generationen – und damit den Nachkommen Karl – übertragen lässt, kann als vergleichsweise verbreitetes Argumentationsmuster bezeichnet werden.68 66 S. dazu u. a. Haferland, Harald: Kontingenz und Finalität. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hg. v. Herberichs, Cornelia u. Reichlin, Susanne. Göttingen 2010, S. 337–363, hier S. 349. 67 Dass die »›Ob-überhaupt‹-Spannung hinter der ›Wie‹-Spannung zurücksteht«, kann für die vormoderne Literatur als konventionelles Schema aufgefasst werden, Schulz [Anm. 20], S. 296–297 – mit unmittelbarem Bezug auf »Lugowskis ›mythisches Analogon‹«. 68 S. zum Verhältnis von Tugend- und Geblütsadel in der Vorstellungswelt ›des‹ Mittelalters in einführender Perspektive Knapp [Anm. 2], S. 235–237, s. auch die Bemerkungen bei Schulz

Intersektionale Betrachtungen zu Konrad Flecks »Flore und Blanscheflur«

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In der Untersuchung von Wechsel- und Zusammenwirken verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheit zeigt sich der Roman Konrad Flecks als interessantes Beispiel für die Nutzung des »Raum[s] der Reflexion und Imagination«69 zwischen Fiktion und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Die zunächst als gesellschaftliche Ordnung störende und potenziell auflösende Macht auftretende Minne wird im Zuge ihrer historischen Einbindung zur Grundlage und Legitimation gesellschaftlicher Ordnung, insofern sie als Voraussetzung für die Geburt eines mustergültigen Herrschers gestaltet wird.

[Anm. 20], S. 97ff., zur Weitergabe von Eigenschaften und Handlungen im Zuge der Fortpflanzung. 69 Kraß [Anm. 10], S. 18.

Peter Somogyi

ey saelec wîp, fürht ir mich? – Die Figur der mittellosen Witwe in Reinbots von Durne »Der heilige Georg« aus einer Perspektive der Interdependenz

Kimberl8 Crenshaw prägte für den Effekt von Mehrfachdiskriminierung den Begriff der »intersektionalen Unsichtbarkeit«. Gemeint ist, dass mit der systematischen und multiplen Überblendung von Ungleichheitskategorien, Menschen mit mehrfach marginalisierten Identitätszuschreibungen unsichtbar werden.1 Im Folgenden möchte ich ein Beispiel intersektionaler Unsichtbarkeit aus der mittelhochdeutschen Literatur präsentieren und eine Figur vorstellen, die sowohl von Seiten der Forschung als auch vom mittelalterlichen Text vernachlässigt und damit in doppelter Hinsicht mit Unsichtbarkeit gestraft ist: die Figur der namen- und mittellosen Witwe in Reinbots von Durne »Der heilige Georg«. Reinbot verfasste seine höfische Bearbeitung der Georgslegende im Auftrag des Wittelsbacher Herzogpaares Otto II. von Bayern und seiner Gemahlin Agnes vermutlich anlässlich der Hochzeit der bayerischen Herzogstochter Elisabeth mit dem staufischen Kronprätendenten Konrad IV. von Hohenstaufen im Jahr 1246.2 Über die empirische Person Reinbot von Durne ist hingegen nichts bekannt.3 Durch das Milieu des Herzogshofes lassen sich jedoch 1 Vgl. Purdie-Vaughns, Valerie u. Eibach, Richard P.: Intersectional Invisibility : The Distinctive Advantages and Disadvantages of Multiple Subordinate-Group Identities. In: Sex Roles 59 (2008), S. 377–391. 2 Vgl. Vollmann-Profe, Gisela: Der Prolog zum »Heiligen Georg« des Reinbot von Durne. In: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Festschrift für Hans Fromm. Hg. v. Grubmüller, Klaus. Tübingen 1979, S. 320–341, hier S. 337–339; Williams-Krapp, Werner : Art. Reinbot von Durne. In: 2VL 7 (1989), Sp. 1156–1161, hier Sp. 1156f. 3 Wilhelm, Friedrich: Reinbot von Dürne. In: PBB 35 (1909). S. 360–383 versucht aus dem Georgsroman Angaben über den Autor und seine Herkunft zu rekonstruieren. Ott, Manfred: Der mittelalterliche Dichter Reinbot von Durne. Anmerkungen zu seiner Herkunft. In: Walldürner Heimatblätter 51 (2006), S. 12f. folgt dieser Stoßrichtung. Die empirische Person Reinbot stamme nach Ott mit großer Wahrscheinlichkeit ab von dem Ministerialengeschlecht der edelfreien Herren von Durne gleichen Namens. Die Ortsangabe ze Werde (V. 1558) identifiziert er als Wertheim und lokalisiert Reinbot im dortigen – im Jahre 1151 gegründeten – Zisterzienserkloster Bronnbach. Unwesentlich besser sieht es im Fall von Reinbots Vorlagen aus. Die lateinischen Quellen benennt Haubrichs, Wolfgang: Georgslied

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Peter Somogyi

Rückschlüsse auf die primäre Kommunikationssituation ziehen. Es handelt sich beim »Heiligen Georg«, den Prologzeilen mit dem Fürstenpreis Ottos (V. 34–38) nach zu urteilen, um höfische Repräsentationsliteratur. Reinbots Georgsroman ist kompositorisch zweiteilig aufgebaut:4 Der erste Teil zeigt Georg in einem männlich-homosozialen kriegerischen Raum als vollkommenen höfischen Ritter und christlichen Kreuzzugskämpfer (V. 105–1496). Als solcher steht er vor dem Christenverfolger Dacian für seinen Glauben ein, indem der zweite Teil von seiner Leidensgeschichte als ritterlicher Märtyrer am heterosozial strukturierten Herrscherhof (V. 1497–6124) berichtet. Dieser zweite Teil ist untergliedert in sechs Konfrontationen mit dem ›heidnischen‹5 Souverän, zwei Gefangenschaften, vier Marterepisoden sowie den Märtyrertod Georgs durch Enthauptung. Die Begegnung mit der unterprivilegierten Witwe findet im heterosozial organisierten Teil, im Rahmen der zweiten Gefangenschaft des Heiligen statt (V. 1801–2200). Weiterhin erhält die Witwe zwei Episoden, in denen sie Georg anmahnt (V. 2424–2463) und schließlich sogar beschimpft (V. 3000–3146). Ich möchte den Blick vom mittelalterlichen Text vorerst ab- und zu modernen Forschungspositionen hinwenden und zugleich die Ziele dieses Beitrags benennen. Die Forschungslage zum Phänomen Witwentum ist disparat. Sozialund Georgslegende im frühen Mittelalter. Texte und Rekonstruktionen. Königsstein im Taunus 1979 (Theorie-Kritik-Geschichte 13), S. 301. Ob mit Ferdinand Vetter eine verlorene altfranzösische Vorlage angenommen werden darf, ist hier nicht zu entscheiden, vgl. Der heilige Georg des Reinbot von Durne. Mit einer Einleitung über die Legende und das Gedicht hg. v. Ferdinand Vetter. Halle a. d. Saale 1896, S. LXV–LXIII. Ich zitiere im Folgenden den mittelhochdeutschen Text nach der Ausgabe Reinbot von Durne: Der Heilige Georg. Hg. v. Kraus, Carl von. Heidelberg 1907 (Germanistische Bibliothek Dritte Abteilung / Kritische Ausgaben altdeutscher Texte 1). 4 Seidl, Stephanie: Blendendes Erzählen. Narrative Entwürfe von Ritterheiligkeit in deutschsprachigen Georgslegenden des Hoch- und Spätmittelalters. Berlin, Boston 2012 (MTU 141), S. 73–182 konnte aufzeigen, dass die Zweiteilung des Textes in einen miles- und einen martyrTeil, wie sie Strohschneider, Peter : »Georius miles« – »Georius martyr«. Funktionen und Repräsentationen von Heiligkeit bei Reinbot von Durne. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hg. v. Meyer, Matthias u. Ziegeler, Hans-Joachim Tübingen 2002, S. 781–811 vorgeschlagen und damit ältere Gliederungen, wie jene von Feistner, Edith: Reinbot von Durne: Georgslegende. In: Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hg. v. Brunner, Horst. Stuttgart 1993 (RUB 8914), S. 311–325 abgelöst hat, aufgrund der Überblendung der Figuren Ritter und Heiliger nicht aufrechterhalten werden kann. Die Gliederung des mittelhochdeutschen Textes in zwei Teile ist aus einer genderorientierten Sicht aber durchaus sinnvoll. Ich schlage eine Einteilung in einen männlich-homosozial organisierten (Georg bei seinen Brüdern) sowie in einen heterosozial organisierten Teil (am Hof Dacians) vor. 5 Die Markierung in einfachen Anführungszeichen soll auf die Stigmatisierung Andersgläubiger aus christlicher Sicht aufmerksam machen, welche der mittelalterliche Diskurs als Differenzmarker produziert. Hierbei handelt es sich um keine naturalisierte »Gegebenheit«, sondern um eine Zuschreibung, die sich durch kulturalisierende, rassialisierende und z. T. klassifizierende Logiken konstituiert.

Die Figur der mittellosen Witwe in Reinbots von Durne »Der heilige Georg«

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historische Untersuchungen zu Witwen sowie Arbeiten zu verwitweten Figuren liegen bereits vor.6 Betrachtet man dagegen die Forschungen zur mittelhochdeutschen Literatur, geraten aufgrund der Quellenlage zumeist nur ständisch privilegierte Witwen in den Blick.7 Die mittellose Witwe als Nebenfigur des Georgstoffes ist bislang nicht als Untersuchungsgegenstand ausgewählt worden.8 Ihre Unsichtbarkeit hinterlässt Leerstellen mit offenen und nicht gestellten, aber relevanten Fragen nicht nur bezüglich der Konstruktion von Geschlecht, sondern ebenso nach Operationsmodi des Textes. Antworten auf drei themengeleitete Fragen sollen am Ende meiner Ausführungen stehen. Die eine betrifft eine texttheoretische Fragestellung, die anderen beiden hingegen gendertheoretische Erkundigungen: 1. Welche textuelle Funktion erfüllt diese scheinbar nebensächliche Figur? 2. Welche Rolle spielt die Kategorie gender in Reinbots höfischer Legendenbearbeitung? 3. Lassen sich daran über einen interdependenten Zugang Erkenntnisse in Bezug auf zwischengeschlechtliche Verhältnisse erschließen?

I.

Zentrale Forderungen der Intersektionalitätsforschung

Die Intersektionalitätsforschung fokussiert die Wechselbeziehungen von gesellschaftlich erzeugten Ungleichheiten, die sie mit Hilfe modellhafter Kategorien beschreibt. Es geht um die Frage, wie durch die Verflechtung von beispielsweise class, gender und race gesellschaftliche Differenzierungen erzeugt werden.9 6 Exemplarisch seien hier genannt: Widowhood in Medieval and Early Modern Europe. Hg. v. Cavallo, Sandra u. Warner, Lyndan. New York 1999 (Women and Men in History); Constructions of Widowhood and Virginity in the Middle Ages. Hg. v. Carlson, Cindy L. u. a. New York 1999 (The New Middle Ages); Jussen, Bernhard: Der Name der Witwe. Erkundungen zur Semantik der mittelalterlichen Bußkultur. Göttingen 2000 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 158); vgl. Fischer, Doreen: Witwe als weiblicher Lebensentwurf in deutschen Texten des 13. bis 16. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2002 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1820); Kruse, Britta-Juliane: Witwen. Kulturgeschichte eines Standes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2007. 7 Vgl. bes. Gerhards, Gisela: Das Bild der Witwe in der deutschen Literatur des Mittelalters. Diss. masch. Bonn 1962; vgl. Taylor, Irmgard C.: Das Bild der Witwe in der deutschen Literatur. Darmstadt 1980, bes. S. 15–28; Greenfield, John: Wolframs zweifache Witwe. Zur Rolle der Herzeloyde-Figur im »Parzival«. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hg. v. Meyer, Matthias u. a. Tübingen 2002, S. 159–173. 8 Ausführlicher betrachtet in der Georgsforschung einzig Seidl [Anm. 4], S. 166–170 u. S. 173–176 die Witwenepisode. 9 Die von der Intersektionalitätsforschung verwendeten Kategorien als Identitätsmarker sind moderne Konstruktionen, vgl. Klinger, Cornelia u. Knapp, Gudrun-Axeli: Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz: Verhältnisbestimmung von Klasse, Geschlecht, ›Rasse‹/

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Peter Somogyi

Für den folgenden Beitrag stütze ich mich auf die theoretische Konzeptualisierung, die Katharina Walgenbach für die Kategorie gender vorgeschlagen hat. Ihr Modell lädt dazu ein, gender nicht mit Überkreuzungsmetaphern zu fokussieren, um Interdependenzen zwischen den jeweiligen Kategorien herauszustellen, sondern die Kategorie gender selbst als interdependente zu verstehen.10 So kann die Suggerierung eines »genuinen Kerns« von Kategorien – und damit jede fehlgeleitete Essentialisierung auf der theoriebasierten Metaebene – hinterfragt werden, um das Problem einer Masterkategorisierung für die Analyse zu vermeiden und die Kategorie gender (und damit jede weitere Kategorie) zu dezentrieren.11 Walgenbachs Ansatz ist hilfreich, um die Priorisierung jeglicher Ungleichheitskategorien zu vermeiden.12 Ebenso lässt sich mit diesem Vorgehen zeigen, wo kategorienintern innerhalb der interdependent konzeptualisierten Kategorien Dominanz generiert wird. Notwendig bleibt eine theoretische Positionierung in der Debatte um die Kategorien-Anwendung.13 Die Auswahl und Relevanz von Differenzierungskategorien möchte ich analysestrategisch im und am Text Reinbots erarbeiten.14 Zunächst jedoch soll die Figur der mittellosen Witwe vorgestellt werden.

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Ethnizität. In: Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Hg. v. Klinger, Cornelia u. a. Frankfurt a. M. 2007 (Politik der Geschlechterverhältnisse 36), S. 19–41, hier S. 34. Um die Konstruiertheit der Kategorien zu markieren, werden sie in einfache Anführungszeichen gesetzt. Vgl. Walgenbach, Katharina: Gender als interdependente Kategorie. In: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Hg. v. Walgenbach, Katharina u. a. Opladen, Farmington Hills 2007, S. 23–64, hier S. 24. Dagegen Degele, Nina u. Winker, Gabriele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. 2. unver. Aufl. Bielefeld 2010, S. 19. Die Autorinnen setzen gender als Strukturkategorie, »d. h. als Ursache sozialer Ungleichheit, die sich nicht auf andere Ursachen reduzieren lässt.« Schnicke, Falko: Terminologie, Erkenntnisinteresse, Methode und Kategorien – Grundfragen intersektionaler Forschung. In: Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen. Hg. v. Klein, Christian u. a. Trier 2014 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 91), S. 1–32 bezweifelt, dass mit dem Konzept der Interdependenz die Vorstellung von einem genuinen Kern von Kategorien tatsächlich aufgegeben ist. Dagegen ist einzuwenden, dass auf der Theorieebene durch die Konzeptualisierung der Kategorien als in sich bereits zugleich rassialisierte, klassifizierte und sexualisierte, der genuine Kern dezentriert und damit aufgehoben ist. Dies fordert Yuval-Davis, Nira: Jenseits der Dichotomie von Anerkennung und Umverteilung: Intersektionalität und soziale Schichtung. In: Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Hg. v. Lutz, Helma u. a. Wiesbaden 2010 (Geschlecht & Gesellschaft 47), S. 185–199, hier S. 199. Die Frage ist, wie viele Kategorien für die Analyse verwendet werden sollen? Vgl. dazu Kerner, Ina: Questions of Intersectionality : Reflections on the current debate in German Gender Studies. In: European Journal of Women’s Studies 19 (2012), S. 203–218. Mit diesem Vorgehen folge ich Knapp, Gudrun-Axeli: Verhältnisbestimmungen: Geschlecht, Klasse, Ethnizität in gesellschaftstheoretischer Perspektive. In: Überkreuzungen: Fremdheit,

Die Figur der mittellosen Witwe in Reinbots von Durne »Der heilige Georg«

II.

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Die Figur der mittellosen Witwe

Die Inhaftierung des Heiligen im Haus der armen Witwe fernab des HerrscherHofes findet sich bereits in der lateinischen Tradition des Georgstoffes.15 Am Anfang der Episode erläutert Reinbots Erzähler genauer als die lateinischen Vorlagen die soziale Positionierung der Figur : nu was ein man niuwes tit. / des w%p hÞt vleisch, milch noch brit (V. 1915f.). Im Verlauf der Erzählung erhält sie drei Auftritte, in denen sie grammatikalisch als weiblich markiert ist, aber den lateinischen Vorlagen gemäß in Namenlosigkeit verbleibt.16 Ihr Name wird von der Genusbezeichnung w%p17 sowie dem sozialen Stand und ihrer Aufgabe als Bewirterin des Heiligen substituiert. Die geschlechtsbezogene Bezeichnung ist durch eine Religionszugehörigkeit erweitert, die nach christlichen Wertmaßstäben dem Bereich des Unorthodoxen zugerechnet wird. Georg erkundigt sich nach ihrem Glauben: »frou, an wen geloubet ir? / daz sult ir mich wizzen l.n« und erhält als Antwort: »herre, zwÞne got ich h.n: / Erculem und Apollen« (V. 1956–1959). Mit dem religiösen Glauben der Witwe, welcher als Abweichung von der christlich-orthodoxen Lehre markiert ist, geht als Folge ein Mangel an ökonomischem Kapital einher (V. 1960–1963).18 Die Armut erläutert Reinbots Erzähler durch intertextuelle Verweise auf die ex-negativo-Beschreibung, mit der Hartmann von Aue im »Erec« die heruntergekommene Herberge des Koralus beschreibt (V. 1920–1927).19 Das arme h0s der Witwe ist derart verelendet, dass d. diu katze noch diu m0s / sich niender inne moht ernern (V. 1896–1897). Diese Hinweise auf Mittellosigkeit werden verstärkt durch die Beschreibung der Dachsäule als dürr und faulig (V. 2004; V. 2084). Die religiöse Verortung bedingt nicht nur Armut und damit die gesellschaft-

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Ungleichheit, Differenz. Hg. v. Klinger, Cornelia u. a. Münster 2008 (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 23), S. 138–170, hier S. 143. Die lateinischen Vorlagen gliedern sich in eine *X–lat.– sowie in eine Y-Version. Editionen beider Texte liefert Haubrichs [Anm. 3], S. 406–473 (*X–lat.); S. 474–499 (Y-Version). Abwechselnd wird sie von Reinbots Erzähler als witwe (V. 1937), als das arme w%p (V. 2143; V. 2458; V. 3106; V. 3123) als saelec wip (V. 1945; V. 1949;), als h0ses frouwe (V. 2075), als frou (V. 1956; V. 2090; V. 2094; V. 3114; V. 3141), diu frouwe (V. 2116; V. 2139), als wirtin Georgs (V. 2098) oder als h0ses wirtin (V. 1935) bezeichnet. Vgl. zu den begrifflichen und semantischen Relationen von w%p, Schulz, James A.: No Girls, no Boys, no Families: On the Construction of Childhood in Texts of the German Middle Ages. In: JEPG 94 (1995), S. 59–81, hier S. 62–66. Weiterführend auch Wolf, Beat: Vademecum medievale. Glossar zur höfischen Literatur des deutschsprachigen Mittelalters. Bern u. a. 2002, S. 144f. Vgl. Seidl [Anm. 4], S. 167. Auf den Hartmann-Verweis macht Die legent vnd dz leben des hochgelopten manlichen ritters sant joergen. Kritische Neuedition und Interpretation einer alemannischen Prosalegende des heiligen Georg aus dem 15. Jahrhundert. Hg. v. Schmitz, Markus. Freiburg i. Breisgau 2012 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 49), S. 309f. aufmerksam.

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Peter Somogyi

liche Positionierung der Witwe, sondern ebenso die mehrfache Gebrechlichkeit ihres kleinen Sohnes (V. 2124–2129, V. 2134–2137). Reinbots Text konstruiert die Figur also in drei Rollen: 1. Frau, 2. Witwe, 3. Mutter. Mit der expliziten Hervorhebung ihrer Religionszugehörigkeit, ihrer Armut sowie ihrer grammatikalischen Markierung als Frau, welche die Rollen als Witwe und Mutter in sich vereint, lassen sich für eine Analyse drei moderne Kategorien ableiten: 1. religion 2. class 3. gender. Reinbots Legendenroman bietet keine terminologische Entsprechung. Wie Judith Klinger betont, stellen die »Kategorien und Differenzierungsmuster interpretatorische Abstraktionen« dar.20 Diese gilt es den mittelalterlichen Bedingungen anzupassen, um methodische Anachronismen zu vermeiden.21

III.

Historisierung der Kategorien

James A. Schultz weist in seiner Studie über die höfische Liebe darauf hin, dass durch regulatorische Schemata wie Hof und Stand in der Literatur des hohen Mittelalters grammatikalisch Körper erzeugt werden, bei denen moderne morphologische Vorstellungen keine Rolle spielen. Der Differenzmarker zwischen den Geschlechtern sei in ihrem Verhalten zu suchen, folglich in dem, was von ihnen erwartet wird.22 Das Geschlecht stellt für die Zeit des hohen und späten Mittelalters keine individuell tragende Identitätskategorie dar23 und bei der 20 Klinger, Judith: Ent/Fesselung des fremden Heros. S%vfrit zwischen Exorbitanz und Assimilation. In: Durchkreuzte Helden. Das ›Nibelungenlied‹ und Fritz Langs Film ›Die Nibelungen‹ im Licht der Intersektionalitätsforschung. Hg. v. Bedekovic, Natasa u. a. Bielefeld 2014 (GenderCodes 17), S. 259–301, hier S. 272. 21 Darauf macht Beattie, Cordelia: Introduction: Gender, Power, and Difference. In: Intersections of Gender, Religion and Ethnicity in the Middle Ages. Hg. v. Beattie, Cordelia u. a. Basingstoke 2010, S. 1–11, hier S. 2 aufmerksam. 22 Vgl. Schultz, James A.: Courtly Love, the Love of Courtliness, and the History of Sexuality. Chicago, London 2006, S. 91. 23 Mit dieser foucaultistisch geprägten Annahme soll der mittelalterliche Mensch weder als »soziokultureller Primat« (den Begriff entlehne ich von Müller, Stephan: Ritual und Authentizität: Institutionelle Ordnungen des Mittelalters im Spiegel höfischer Literatur. In: Zeitschrift für Semiotik 23 [2001], S. 169–183, hier S. 171) begriffen werden, noch sollen moderne Fantasien von einem von regulatorischen Schemata freien gender als Utopie in die historische Vergangenheit projiziert werden, davor warnt Butler, Judith: Revisiting Bodies and Pleasures. In: Theory, Culture & Society 16 (1999), S. 11–20. Auch soll damit nicht die polymorphe Verwendung von Geschlechtskategorien und -bildern im Mittelalter, vgl. Bynum, Caroline: Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin. In: Historische Anthropologie 4 (1996), S. 1–33, hier S. 15 vereinheitlicht und simplifiziert werden. Vielmehr soll mit dieser Annahme der Blick für diskursive Arten der geschlechtlichen Hervorbringung sensibilisiert werden, die nicht einfach moderne Konstruktionsmodi in der historischen Analyse redupliziert und damit transhistorisiert, vgl. dazu auch Hal-

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mittelalterlichen Geschlechterdifferenz handelt es sich demnach um keine absolute.24 Dennoch wird in moraltheologischen sowie medizinischen Diskursen das Männliche als Orientierungsmaßstab für die Geschlechter konstruiert, bei dem die Frau ihre »Geschlechtsidentität nur in Relation zum männlichen Standard«25 erhält. Identität konstituiert sich unter differenten Macht-WissensKonstellationen anders als in der Moderne.26 Es spielen dafür geburtsständische Merkmale eine tragende Rolle. Mit Klinger ist festzuhalten: »Für die mittelalterliche Ständegesellschaft sind […] grundsätzlich andere Mechanismen der Konstitution personaler Identität zu verzeichnen, die sie zuerst als kollektive hervorbringen.«27 Diese kollektive Hervorbringung bezeichnet auch und besonders die soziale Positionierung, die eng verwoben ist mit der Wahrnehmung von gender.28 Die moderne Kategorie class sollte aufgrund der mittelalterlichen Ständehierarchie durch social status ersetzt werden.29 Die trifunktional organisierten ordines, eingeteilt in oratores, bellatores und laboratores, werden als göttliche Ordnungen verstanden,30 die auf sozialen Ungleichheiten basieren und nicht mit modernen

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perin, David M.: Forgetting Foucault: Acts, Identities and Sexualities. In: Representations 63 (1998), S. 93–120. Vgl. Walker Bynum, Caroline: Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters. Frankfurt a. M. 1996 (es 1731). Weiterführend auch Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a. M., New York 1992 und Cadden, Joan: Meanings of Sex Difference in the Middle Ages: Medicine, Science and Culture. Cambridge 1993. Studt, Birgit: Helden und Heilige. Männlichkeitsentwürfe im frühen und hohen Mittelalter. In: Historische Zeitschrift 276 (2003). S. 1–36, hier S. 4. Vgl. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. In: Foucault, Michel: Die Hauptwerke. Mit einem Nachwort von Honneth, Axel u. Saar, Martin. Frankfurt a. M. 2008, S. 1021–1151. Ebenso Ders.: Überwachen und Strafen. In: ebd., S. 701–1019. Klinger, Judith: Gender-Theorien. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hg. v. Benthien, Claudia u. Velten, Hans Rudolf. Hamburg 2002 (rowohlts enzyklopädie), S. 267–297, hier S. 273. Die Kategorie ›gender‹ möchte ich nicht als unveränderlich und biologisch begründet verstehen, sondern mit Judith Butler als Effekt eines performativen Konstruktionsprozesses, bei dem das biologische Geschlecht von den sozialen Bedeutungen ersetzt wird, vgl. Butler, Judith: Einleitung. In: Dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt a. M. 1997 (es 1737 NF 737), S. 19–49, hier S. 26. Dieser Aspekt lässt sich mit den Befunden von Schultz für eine historische Analyse kombinieren. Schultz spricht für die mittelhochdeutsche Literatur von aphrodisischen Körpern, die nicht aufgrund des biologischen Geschlechts getrennt seien. Das, was die Geschlechter unterscheidbar mache, sei ›gender‹. Seine Analyse zeigt auf, wie das biologische Geschlecht in der Wahrnehmung über den höfischen Habitus in ›gender‹ aufgeht, vgl. Schultz [Anm. 22], S. 29–47. Vgl. Farmer, Sharon: Introduction. In: Gender and Difference in the Middle Ages. Hg. v. Farmer, Sharon u. Pasternack, Carol Braun Minnesota 2003, S. IX–XXVII, hier S. XIIIf. Vgl. Duby, Georges: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus. Frankfurt a. M. 1986 (stw 596). Weiterführend auch Oexle, Otto Gerhard: Die funktionale Dreiteilung als Deu-

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Definitionen von Diskriminierung gedacht werden sollten.31 Die Subordination von ständisch unterprivilegierten Personengruppen macht sich innerhalb des mittelalterlichen Diskursfeldes als ein Distinguierungsakt des Adels kenntlich. Dieses Distinktionsverlangen bestimmt auch die höfische Literatur. Schultz benennt dieses Verlangen mit dem Wort »Aristophilie«:32 dem Begehren weniger nach dem Geschlecht als mehr nach dem Stand. Die Kategorie religion fungiert dabei im Sinne der trifunktionalen Ständeordnung als Differenzierungskategorie für gesellschaftsübergreifende Hierarchisierungen innerhalb der christlichen Welt in einen geistlichen sowie laikalen Bereich, aber ebenso als Abschluss gegen andere Glaubensrichtungen. Auf diese Weise konnte auch die muslimische – als ›heidnisch‹ konzipierte – Welt aus christlicher Sicht mit dämonischen und negativen Merkmalen versehen werden.33 Für Reinbots Witwenfigur habe ich drei Kategorien für eine Analyse abstrahiert. Diese tangieren ihre Sichtbarkeit. Die Kategorie social status wird über religion bereits in sich heterogen konstituiert, wenn der religiöse Glaube die ständische Markierung der Witwe bedingt. Dadurch dezentriert sich auch die Kategorie gender, die in den verschiedenen Frauenrollen über den sozialen Status sowie religion greifbar wird. Aufgrund ihrer ständischen Positionierung wird sie als Figur vor allem nur durch Zuordnung zu einem Mann sicht- und erzählbar. Im Folgenden möchte ich die Invisibilisierungsstrategien anhand der Figurenkonstellationen aufzeigen. Hier hilft es, die Logik der vollbrachten Wundertaten zu betrachten. Es wird sich dabei herausstellen, dass die stark marginalisierte Figur der Witwe in einer Perspektive der Interdependenz dennoch einen eminent wichtigen Faktor im Gesamtkontext der Wunderhandlungen darstellt, insbesondere dann, wenn sie als narrativer Funktionsträger untersucht wird. Es ist auffallend, wie sich sukzessiv aufbauende Empowermentstrukturen zeigen, die zugleich einen nicht unbeträchtlichen Handlungsspielraum ermöglichen.

tungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters. In: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. Hg. v. Schulze, Winfried u. a. München 1988 (Schriften des Historischen Kollegs 12), S. 19–51. 31 Vgl. Klinger [Anm. 20], S. 262f. 32 Schultz [Anm. 22], S. 79. 33 Vgl. Bartlett, Robert: Medieval and Modern Concepts of Race and Ethnicity. In: Journal of Medieval and Early Modern Studies 31 (2001), S. 39–56, hier S. 42.

Die Figur der mittellosen Witwe in Reinbots von Durne »Der heilige Georg«

IV.

131

Verunsichtbarung in zwischengeschlechtlichen Konstellationen

Georg wird von dem ›heidnischen‹ Souverän nach seiner Kerkerhaft im Haus der armen Witwe inhaftiert, »um den Heiligen durch demonstrativen Entzug seiner standesgemäßen Umgebung zu demütigen.«34 Diese durch die Kategorie social status motivierte Strafe rückt die mittellose Witwe über den männlichen Heiligen in das Feld der Sichtbarkeit und damit des Erzählens. Die nach Hartmanns Vorbild gestaltete Beschreibung ihrer Behausung markiert Reinbots Erzähler sogleich als Spott (V. 1928–1932). Die Armut der mittellosen Figur dient ihm dabei als Zielscheibe, was er mit einer biographischen Bemerkung quittiert, die Wolframs von Eschenbach Armutsklage im »Parzival« nachempfunden ist.35 Auch dieser intertextuelle Bezug zur höfischen Literatur ist ständisch codiert und der Spott ist vor der Folie einer hierarchisch organisierten Gesellschaft – in deren Diskurse sich der Text einschreibt und diese zugleich mitproduziert – zu verstehen. Das Geschlecht der Witwe ist dabei nicht von ihrer ständischen Situierung zu trennen. Reinbots Erzähler merkt an, dass die Unterkunft der Würde eines Adligen unangemessen sei (V. 1985). Dies thematisiert auch des Heiligen friunt und trist, der engel Cherub%n (V. 1988f.), welcher unvermittelt erscheint. Der Engel wiederholt den abfälligen Spott des Erzählers auf der Figurenebene, wenn er Georg fragt: »welch marschalc herbergt dich hie? / der geherbergt keinen fürsten nie« (V. 1999f.). Mit der Bezeichnung als Marschall, eines der vier Hofämter, die mit Männern besetzt wurden,36 wird die Witwe durch die Kategorie gender nicht nur maskulinisiert, sondern auch höfisiert, was in Anbetracht ihrer Position und ihres Geschlechts ironisch zu verstehen ist. Die Witwe ist nämlich weder männlich, noch Inhaberin eines Hofamtes, schon gar nicht gehört sie der Sphäre des Hofes an, was durch die topographische Lokalisierung ihrer Behausung außerhalb des Hofes markiert wird. Der Cherubim gemahnt Georg denn auch an seine adlige Position (V. 1991). Die spöttische Bemerkung des Engels geht auf Kosten der besitzlosen Frau. Besonders deutlich wird dies, wenn Georg vor Dacian die Rede des Engels rekapituliert (V. 2229–2232). Die sich im Haus der Witwe ereignenden Speise- und Maiwunder zielen einzig auf die ständische Rehabilitierung des christlichen Heiligen (V. 2001–2006). Die faulige Dachsäule wird in einen blühenden, duftenden Baum (V. 2020–2030) transformiert und 34 Feistner, Edith: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20), S. 141. 35 Vgl. Feistner [Anm. 34], S. 142. 36 Vgl. Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme. In: ZfdA 114 (1992), S. 414–492, bes. S. 438f.

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»verwandelt die Szenerie in eine typisch höfische Maienlandschaft.«37 Auch die für Georg dargebrachten Speisen in Form von Himmelbrot und Obst nehmen den Geschmack ständisch gehobener Spezereien an (V. 2106–2112). Die göttlichen Wunder vollziehen sich am sozial hochstehenden Mann, ihm ze fröuden und ze spil (V. 2228) sowie zu seiner Ehre und verschwinden, sobald der christliche Heilige den Ort des Wunders verlässt (V. 2285–2290). Nicht die verarmte Frau, sondern der privilegierte Mann steht im Fokus. Die Witwe verbleibt nach dem Weggang Georgs im mittellosen Status Quo. Sie partizipiert zwar an den Wundern, doch ist sie nicht das Objekt, an dem diese vollbracht werden. Sie verschwindet hinter der männlichen Referenzfigur. Allerdings bildet ihre Unsichtbarkeit im umgebenden sozialen Rahmen der Erzählung die Vorbedingung fu¨ r das Wunder, wodurch sie unweigerlich ins Feld der Sichtbarkeit gerückt wird. Weitere Wunder ereignen sich in ihrer direkten Nähe. Nachdem sie Georg von ihrem schämlichen Leid, dem mehrfachen Gebrechen ihres Sohnes, berichtet, bittet er, ihm das Kind zu bringen. Ihren Sohn legt der fürst 0f s%niu bein (V. 2145) und befiehlt im Namen des christlichen Gottes, ihn gesunden zu lassen. Der Effekt der heiligen Rede ist, dass daz kint gehirte und gesach / und was mit alle gesunt (V. 2150f.). Georg ist der Mittler, durch den die Wunder Gottes sich in der Welt manifestieren.38 Das Resultat der Heilung wiederum ist die Konversion der Witwe zum Gott Georgs, den sie in einem öffentlichen Redeakt preist (V. 2157–2163). Das Wunder aber ereignet sich abermals an einer männlichen Figur.39 Im Verlauf der Handlung gibt Georg vor, den ›heidnischen‹ Göttern opfern zu wollen. In Wahrheit geht es ihm um den Exorzismus der Abgötter aus ihren Götterstatuen. Zu diesem Anlass befiehlt er der Witwe, ihren gesundeten Knaben zu ihm zu schicken, damit er – als öffentliches Zeichen des göttlichen Heilungswunders – Georg hilft, die Abgötter aus ihren Statuen zu vertreiben und deren Schwäche offenzulegen. Die Witwe gestaltet aus dem Bettlaken ihres Sohnes für sein Erscheinen bei Hof ein Hemd (V. 3143–3146). Im Folgenden geschieht ein zweites Wunder. Die Kleidung aus dem ärmlichen Bettlaken des Kindes verwandelt sich in höfisches Ornat (V. 3149–3156). Betrachtet man das Heilungswunder in der Logik der höfischen Investitur, ist es auffallend, dass die 37 Seidl [Anm. 4], S. 175. 38 Die Szenerie ruft vor allem neutestamentliche Assoziationen hervor, insofern dort immer die Armen und Unterprivilegierten zum Ort der positiven Heimsuchung durch Christus werden. Die offenkundige Christusanalogie in Reinbots Text wurde herausgearbeitet von Schwarz, Monika: Der heilige Georg – Miles Christi und Drachentöter. Wandlungen seines literarischen Bildes in Deutschland von den Anfängen bis in die Neuzeit. Univ. Diss. Köln 1972, hier S. 78–85. 39 Dagegen Lembke, Astrid: Erzählte Heiligkeit. St. Georg in mittelalterlicher Dichtung. Berlin 2008, S. 61. Sie sieht die Wunder im Haus der armen Witwe und die Heilung des Sohnes als »auf Frauen« bezogene Wunder.

Die Figur der mittellosen Witwe in Reinbots von Durne »Der heilige Georg«

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ständische Einkleidung erst vollzogen wird, sobald der Leib unversehrt ist: die höfischen Insignien schmücken einen intakten l%p. Auch literarisierte Körper männlicher Feudaladliger sind in ihren Darstellungen intakt, Ritter sind zumeist »able bodyied«.40 Die höfische Vorstellung von Unversehrtheit zeigt, dass nur ein intakter Körper höfisch sichtbar gemacht werden kann und nur er ist es wert, höfische Auszeichnung zu erfahren. Der l%p des Witwensohnes wird damit zur Bühne, auf der höfische Phantasmen religiös motiviert aufgeführt werden und zum Vorschein kommen. Der Eingriff des christlichen Heiligen kann ihn modifizieren, neu konstruieren und transformieren. Die anmutige Erscheinung des Kindes löst denn auch nichts weniger als Bewunderung bei der höfischen Versammlung aus (V. 3157–3160).41 Mit diesem Akt wird der Knabe durch vestimentäre Transformation nobilitiert, indem ihm höfische Insignien zugesprochen werden. Wo der unständische Jüngling doppelt exponiert ist, verbleibt die Witwe mittellos im Hintergrund. Auch nach ihrer Konversion zum christlichen Glauben, dessen Absenz ihre soziale ökonomische Lage tangiert, wird nur die als männlich markierte Nachkommenschaft belohnt, wobei sich Reinbots Erzähler über eine Statuserhöhung des Knaben ausschweigt. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Konversion zwar zentral und möglich ist, aber nichts am bestehenden – ständisch gedachten – Sozialsystem ändert. Die Witwe jedoch verschwindet hinter der Nobilitierung ihres männlichen Nachkommen. Ihre Unsichtbarkeit wird an dessen Kleidung aufgezeigt: Das von ihr hergestellte Hemd wird höfisch überformt und mit ihrem ärmlichen Bettlakenstoff verschwindet sie hinter dem Glanz des für den Hof akuraten Ornats. Mit dem Hervorheben ihrer produktiven Potenz als Näherin aber wird der unständischen Figur ein Handlungsspielraum zugesprochen, mit dem ihre textfunktionale Rolle aufgebaut wird, da die Wunder Gottes offensichtlich darauf angewiesen sind, immer eine auf die Witwe bezogene Substanz (ihr Haus, das Bettlaken) vorzufinden, an denen die Wunder vollbracht werden können. Sie erfüllt in der Wunderhandlung eine wesentliche Funktion, indem sie eine Grundlage für die Wunder bereitstellt.

40 Der literarisierte Ritterkörper »ist zuallererst ein nicht-deformierter, integrer Leib«, siehe Schulz, Armin: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik. Tübingen 2008 (MTU 135), S. 217. 41 Der Knabe wird mit dem Wort lise (anmutig) beschrieben: einmal vor der höfischen Transformation, was vermutlich auf das Heilungswunder anspielt (V. 3147) und abermals danach (V. 3162).

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V.

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Verunsichtbarung in gleichgeschlechtlichen Konstellationen

Für einen Vergleich weiblich markierter Figuren ist die ständisch privilegierte Königin aussagekräftig, die ein strukturelles Gegengewicht zur armen Witwe darstellt. Nachdem Georg sich bereit erklärt hat, den Abgöttern des Herrschers zu opfern, wird er der Königin mit den Worten übergeben: »edel frouwe, Þrt in [Georg, PS] sus, / als ez zuo im s% gewant« (V. 2400f.). Die vormals ungebürtige Behandlung im Haus der Witwe soll durch eine ständisch angemessene wieder gut gemacht werden. Die Sphäre unständischer Weiblichkeit außerhalb des Hofes wird verlassen und eine Sphäre privilegierter Weiblichkeit inmitten des königlichen Machtzentrums betreten, nämlich die Kemenate der Königin. Neben dem Hinweis höfischer Prachtentfaltung in den Gemächern (V. 2466–2484) ist allein schon die Präsenz der Königin exorbitant. Sie wird abwechselnd als frouwe (V. 2547), liebe frouwe (V. 2847), keiserin (V. 2489; V. 3613), künigin (V. 2462; V. 2796; V. 2819; V. 2895; V. 2917), reine küniginne (V. 2804) und edel küniginne w%s (V. 2902) bezeichnet. Diese die ständische Positionierung markierenden Bezeichnungen laufen zusammen in ihrem Eigennamen Allexandr%n. (V. 2860). Auch die Königin wird mit ›heidnischem‹ Glauben eingeführt, wenn innerhalb ihrer Gemächer dem Gott Apollen Lieder gesungen werden (V. 2485–2488). Dies scheint ihre soziale Position aber nicht zu tangieren. Wie am Beispiel der Witwe aufgezeigt, ändert die richtige religiöse Gesinnung nichts daran, dass es auch im unorthodoxen Glauben eine richtige, also ständische Weltordnung geben kann. Eine Differenzierung in Bezug auf religion kann social status nicht beugen. Die höfische Soiree42 in den Gemächern der Königin endet nach einem langen und ausführlichen Religionsdisput (V. 2529–2691) in der Bekehrung Alexandrinas. Die Königin erbittet sogleich die Taufe (V. 2834–2836). Ein Nebel umgibt die Konvertitin, in dem ein klares Licht erscheint. Sie wird mit dem Tau des Heiligen Geistes begossen (V. 2837–2849). Dieser Akt scheint so unerhört, dass er von einer fiktiven Zuhörer_inneninvektive unterbrochen werden muss. Es geht um die Frage der Taufpatenschaft, wie der/die fiktive Rezipient_in einwirft (V. 2857–2861). Reinbots Erzähler erläutert, dass Gott selbst die Patenschaft übernimmt (V. 2875f.). Der Taufakt wird als ein an Alexandrina vollzogenes Wunder deklariert (V. 2903) und Georg kann sie nun als heilic frou (V. 2904) ansprechen.43 Im Vergleich mit der Witwe ist auffällig, dass adlige Figuren durch 42 So bezeichnet Schmitz [Anm. 19], S. 316 das Zusammentreffen zwischen Georg und Alexandrina. 43 Alexandrina gehört als Heilige zum christlichen Kanon, vgl. Kaster, Karl Georg: Alexandra von Nikomedien. In: Lexikon der christlichen Ikonographie 5 (1973), Sp. 89f. Auffallend an dieser Stelle ist die Bezeichnungsstrategie von Reinbots Erzähler. Wo Alexandrina die heilic frou wird, kann die männliche Referenzfigur die Witwe, noch vor ihrer bevorstehenden

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ein Religionsgespräch vom rechten Glauben u¨ berzeugt werden können, nichtadlige dagegen mu¨ ssen ein Wunder erleben.44 Das Taufwunder mit der leibhaftigen Präsenz Gottes bezeichnet Markus Schmitz denn auch als »besondere Auszeichnung« einer »Nebenperson der Georgslegende«.45 Alexandrina wird Objekt des Wunders, das sich direkt an ihr ereignet. Eine weitere Wundertat (V. 4455) wird an Alexandrina vollzogen. Als sich die Königin öffentlich zum christlichen Glauben bekennt (V. 3580–3598) und ihren Gatten in einer langen Schimpftirade entehrt (V. 4134–4215), lässt dieser sie als Strafe an ihren Brüsten aufhängen (V. 4247f.). Die verletzte Physis der heilic frou wird von Georg geheilt, indem er sie an sich drückt und Gott um Hilfe bittet (V. 4442–4446). Alexandrinas l%p wird in einen Zustand der Unversehrtheit zurückversetzt. Die geschädigte Physis wird in ihrer Konstruiertheit kenntlich gemacht, indem sich Phantasmen von Schönheit, Jugend und sündenloser Unverbrauchtheit mit dem richtigen Glaubensbekenntnis in ihr einschreiben und dergestalt (re)produzieren. Es handelt sich bei dem Heilungsakt um ein augenfälliges Wiederherstellen der königlichen, jetzt auch heiligen Jungfräulichkeit.46 Damit ist Alexandrina das Objekt eines zweiten Wunders. Im Eintreten für ihren Glauben erleidet sie den publiken Märtyrertod durch Enthauptung (V. 4681f.). Der Märtyrertod ist die Krone des Einstehens für die christliche Religion, der durch zwei Engel, welche Alexandrina empfangen, abgesichert wird. Georg und der Königin werden im Reich Gottes zwei hÞrgesidel wunnicl%ch / und d. b% zwi liehte krine r%ch (V. 4665f.) zugesprochen. »Alexandrina verkörpert eine umfassende Bekehrungsgeschichte«47, die der armen Witwe hingegen versagt bleibt. In einem direkten Vergleich fällt auf, dass die ständisch privilegierte Frauenfigur die Bevorzugung erhält. Sie bekommt das erzählerische Privileg zugesprochen, einen Namen zu erhalten. Unmittelbar nach ihrer Konversion wird ihr der Taufakt zuerkannt, bei dem die höchste transzendente Instanz – Gott – als Pate fungiert. Diese besonderen Auszeichnungen bleiben der unständischen Frau versagt. Sie erhält weder Taufe, noch einen Taufpaten. Wo Gott

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Konversion, als saelec bezeichnen (V. 1945). Hierbei handelt es sich um eine auszeichnende Anrede, wie sie ebenfalls in der Rechtfertigungsrede der maget in Hartmanns von Aue »Der arme Heinrich« zur Bezeichnung der Mutter verwendet wird, vgl. Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. Hg. v. Mertens, Volker. Frankfurt a. M. 2008 (DKV im Taschenbuch 29), hier V. 681. Vgl. dazu Brinker, Klaus: Formen der Heiligkeit. Studien zur Gestalt des Heiligen in mittelhochdeutschen Legendenepen des 12. Und 13. Jahrhunderts. Bonn 1968, S. 149. In der gelehrten Tradition wurde z. T. angenommen, dass Wunder für die rustici, jedoch nicht für die Gelehrten gedacht und notwendig seien, vgl. Signori, Gabriela: Wunder. Eine historische Einführung. Frankfurt a. M. u. New York 2007, S. 33f. Vgl. Schmitz [Anm. 19], S. 321. Vgl. Lembke [Anm. 39], S. 122. Strohschneider [Anm. 4], S. 799 (Anm. 46).

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die Königin durch sein Eingreifen nobilitiert, lösen sich die von dem Heiligen gewirkten Wunder nach dessen Weggang im Haus der Witwe auf und sie verbleibt im sozialen Prekariat. Und wo die Königin für ihren Glauben die Märtyrerkrone erhält, und ihre Physis sogar in den Zustand kindlicher Schönheit und spiritueller Jungfräulichkeit transformiert, wird die Witwe mit keinerlei Nobilitierung bedacht. Die bisherigen Ausführungen konnten zeigen, dass die Kategorie gender von dem in den Vordergrund gerückten sozialen Status dezentriert wird und dieser zusätzlich von der Kategorie religion bestimmt ist. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen primär ständische Privilegien sowie Glaubenszugehörigkeit, Geschlecht erscheint sekundär. Es wird jedoch sinnfällig, wenn es als Standesoder Religionsgeschlecht operationalisierbar gemacht werden kann. Obwohl es nicht als primäre Positionierungskategorie der Figuren dargestellt wird, entscheidet die Kategorie dennoch über die Vergabe von Privilegien, bei der männlich markierte und ständische Figuren den Vorrang erhalten. Es bleibt jetzt zu erörtern, welche texttheoretischen Antworten die Witwenfigur für die moderne Forschung in Bezug auf Reinbots Legendenroman geben kann.

VI.

Überlegungen zur textfunktionalen Rolle der Witwe

Zur Betrachtung ihrer textfunktionalen Rolle ist es wichtig, die zwei Episoden in Augenschein zu nehmen, in welchen die Witwe nach der Begegnung mit dem Heiligen in ihrer Behausung und der Heilung des Knaben begegnet. Beide Episoden (V. 2424–2463; V. 3000–3146) sind strukturell in die Handlungsszene von Georgs vorgetäuschtem Götzenopfer und scheinbarer Konversion zu den Göttern Dacians eingebunden. An ihnen ist zudem das sich aufbauende Empowerment der unständischen Frau und damit einhergehend sind Spielräume des Agierens aufzeigbar. Wird nach der textuellen Funktion der Mahn- und Scheltrede der Witwe gefragt, lässt sich dies anhand der Logik legendarischen Erzählens festmachen. Die mittelalterliche Legendenerzählung beruht auf schematischer Verbindlichkeit, einem Akt des Narrativierens, der von finaler, statt von kausaler Motivation bestimmt ist. Das heißt mit Elke Koch gesprochen: »Vom Heiligen kann in der Legendendichtung des Mittelalters nicht erzählt werden, dass er (oder sie) nicht heilig ist bzw. ›wird‹.«48 Die Handlungsepisoden werden so ausgerichtet, dass sie

48 Koch, Elke: Erzählen vom Tod. Überlegungen zur Finalität in mittelalterlichen Georgsdichtungen. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hg. v. Reichlin, Susanne u. Herberichs, Cornelia. Göttingen 2010, S. 110–130, hier S. 112.

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von Beginn an auf das festgelegte Ziel hinauslaufen.49 Im Falle von Märtyrerlegenden ist das Ziel die Hinrichtung des Märtyrers.50 Im Rahmen finaler Erzählmotivation und einem damit verbundenen Totalitätskonzept der Erzählung stellt sich das Problem der Kontingenzbewältigung.51 Wenn der Zufall aufgrund göttlicher Providenz ausgeschlossen oder stark determiniert ist,52 bleibt zu fragen, wie und ob Kontingenz konzipiert wird. Die Überlegungen Kochs, lieber von erzählbaren Alternativen, statt von Zufallsbegriffen auszugehen,53 scheinen mir ein Weg, Kontingenz gewinnbringend zu konzeptualisieren. Auf diese Weise ist es möglich, Spielräume virtueller Möglichkeiten innerhalb der Erzählung zu fokussieren: »Mit dem Aspekt der Alternative wird […] auf ein Konzept rekurriert, in dem Kontingenz durch einen Horizont von zeitgleichen Möglichkeiten bedingt ist.«54Als ein Beispiel von Alternativen und zeitgleichen Möglichkeiten möchte ich die für die ›heidnischen‹ Götter vorgetäuschte Opferung Georgs betrachten. Mit der Eröffnung eines potentiellen Raumes, der von der finalen Erzählmotivierung abgelehnt wird, entsteht ein retardierendes Moment, um die denkbare, jedoch abgelehnte Alternative zu bewältigen. Der Akt der Opferung als virtuelle Möglichkeit des »Was wäre wenn« wird in der finalen Erzähllogik der Georgslegende gerade nicht realisiert. Die Retardation wird vielmehr benutzt, um über grundsätzliche Fragen höfischer Ethik sowie der christlichen Religion zu reflektieren. Die Scheltrede findet sich bereits in den lateinischen Versionen der Legende, wird jedoch in der mittelhochdeutschen Bearbeitung ausführlicher ausgestaltet.55 Die Argumentationsmuster zeigen lehrreiche Züge auf, wenn etwa adlige Grundwerte sowie christliche Glaubensgrundsätze, ebenso das Verhalten christlicher Glaubensmitglieder und durch das mehrmalige Wiederholen die vollbrachten Wunder als göttliche Machtbeweise en detail erläutert werden. Die Argumentation der Witwe vermittelt in knappen Worten die ethischen Grundsätze und allgemeingültigen Richtlinien

49 Vgl. Hammer, Andreas: Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden. In: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hg. v. Friedrich, Udo u. a. Berlin 2014 (Literatur-Theorie-Geschichte. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 3). S. 173–197, hier S. 174f. 50 Vgl. Feistner [Anm. 34], S. 26–33. 51 Vgl. auch Haferland, Harald: Kontingenz und Finalität. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hg. v. Herberichs, Cornelia u. Reichlin, Susanne. Göttingen 2010, S. 337–363. 52 Vgl. Haug, Walter: Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. In: Kontingenz. Hg. v. Graevenitz, Gerhard von u. Marquard, Odo. München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. 151–172, hier S. 153. Haug spricht von einem »Kontingenzrest«, da eine Determinierung des menschlichen freien Willens im christlichen Kosmos ausgeschlossen ist. 53 Vgl. Koch [Anm. 48], S. 111f. 54 Koch [Anm. 48], S. 112. 55 Vgl. Brinker [Anm. 44], S. 156.

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der kurial geprägten ritterlichen Morallehre sowie christlich-religiöse Grundgehalte. Als die Witwe von der bevorstehenden Opferung hört, gelangt sie zum Palas, wo Georg bereits mit der Königin weilt (V. 2427–2429). Sie bittet ihn, von der Opferung für die ›heidnischen‹ Götter abzusehen (V. 2436f.) und gemahnt ihn an die vollbrachten Wundertaten (V. 2438f.). Die Witwe rekapituliert diese Wunder nun im Herrschaftsbereich der ›heidnischen‹ Macht, bei Hof: die Transformation ihres Hauses (V. 2441–2445), die Speisung des Heiligen (V. 2446–2448) und schließlich die Heilung ihres Kindes (V. 2449–2451). Warum wird abermals wiederholt, was bereits zu hören und zu lesen war? Diese Passage dient m. E. dazu, die Rolle des Heiligen als überlegen zu stabilisieren sowie die Wundertaten als christliche zu legitimieren, indem ihre christlich-transzendente Provenienz bestätigt wird (V. 2452–2454). Dergestalt können die Wunder gegen mögliche Skepsis am göttlichen Eingriff in die Immanenz immunisiert werden. Die ambigen Wunderzeichen werden vereindeutigt und als miracula bestätigt. Wenn der ›heidnische‹ Souverän die Wunder im Haus der Witwe als Werk seiner Götter deklariert (V. 2214–2217) oder Jesus zum höfischen Zauberer erklärt (V. 2292f.),56 zeigen sich wunderkritische Tendenzen.57 Das theologische Dilemma der Aneignung göttlicher miracula von Gegnern des christlichen Glaubens sowie deren Fehlinterpretation wird durch die Hervorhebung dieser Wunder auf der Figurenebene durch die Rekapitulation entkräftet und vom Makel der ›heidnischen‹ Missinterpretation befreit. Vor dem Hintergrund der christlich begründeten Wunder kann die Witwe in ihrer Rede resümieren: »den [Jesus/Gott, PS] welt ir [Georg, PS] nu verkiesen, iuch selben verliesen: des muoz geunÞrt s%n iuwer l%p.« (V. 2455–2457)

Diese Formulierung zielt auf die ständische Position des Heiligen ab: seine Þre, die »Norm des Adels«58. Der Treuebruch zu Gott wird folglich als Unehre interpretiert. Auf diese Weise werden transzendente Bindungen über ständische Markierungen fokussiert, gleichzeitig transparent und zugleich kommensurabel 56 Zu dieser Stelle vgl. Erlein, Stefan: ›höfisch‹ im Mittelhochdeutschen. Verwendung eines Programmworts der höfischen Kultur in den deutschsprachigen Texten vor 1300. Frankfurt a. M. 2010 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 22), S. 176f. 57 Vgl. Lembke, Astrid: Glanz und Schrecken. Wirkweise des Wunders in mittelalterlichen Legenden. In: Begegnung mit dem Wunder in Märchen, Sagen und Legenden. Märchen als Brücke für Menschen und Kulturen. Hg. v. Lox, Harlinda u. a. Krummwisch bei Kiel 2011 (Tagungsband der Europäischen Märchengesellschaft 36), S. 41–65, hier S. 48f. 58 So die Überschrift in Otfried Ehrismanns höfischen Wortgeschichten zum Begriff Þre, vgl. Ehrismann, Otfried: Ehre und Mut. ffventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. München 1995, S. 65–70, hier S. 65.

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gemacht.59 Dergestalt ist die verarmte Witwe moralische Mahnerin, eine Erzählkommentatorin, über deren Figur die dargestellten Wunder bestätigt und wunderkritische Diskurse zum Schweigen gebracht werden. Die unhöfische, ehemals ›heidnische‹ Frau wird im Sinne des christlichen Glaubens sehend und kann an das ständische Ethos des Heiligen appellieren. Dies bedeutet weder eine Statusumkehrung noch -erhöhung, jedoch eine Aufwertung der Witwe insofern, als sie nach ihrer conversio über religion aus ihrer sozialen – nach der Ständelehre gottgewollten – Erniedrigung temporär ins Feld der Sichtbarkeit geholt wird. Reinbots Erzähler vollzieht dies in dem Maße, wie für die Figuren der dargestellten Welt die virtuelle Absage des Protagonisten an den christlichen Gott inszeniert ist. Der religiöse Glaube der Witwe eröffnet in Relation zum scheinbaren Glaubensabfall der männlichen Referenzfigur einen Handlungsspielraum, der es ermöglicht, gegen die scheinbare Apostasie des christlichen Heiligen vorzugehen. Die dritte Szene, die dem armen w%p vergönnt ist, findet unmittelbar vor der vorgetäuschten Opferung vor versammeltem Hof des Herrschers statt. Aus der moralischen Mahnerin des Heiligen wird seine Beschimpferin.60 Die Wandlung der armen Witwe von der tumben (V. 2130f.) ›Heidin‹ zur sprachgewandten Christin scheint der Hinweis si kunde harte wol ir amt (V. 3013) zu markieren. Das Motiv der Anklage steht unter dem Signum des adligen Ehrbegriffs und greift das in der Mahnung der Witwe vormals gebrauchte Muster (V. 2455–2457), den religiösen Abfall mit dem weltlichen Sozialwert des Adels per se kenntlich zu machen, in den Worten »werder Geor% von Palast%n, / hiut zergÞt diu Þre d%n« (V. 3005f.) wieder auf. Die Argumentation ist rhetorisch geschickt gegliedert.61 Zuerst werden Ehre und Reichtum des versammelten ›heidnischen‹ Hofes gepriesen (V. 3019f.). Mit diesen elementaren Merkmalen wird hövescheit in die Formel Ehre und Reichtum gebracht. So kann auf einen diesen Begriffen inhärenten Wert rekurriert werden, nämlich die Tugend (V. 3021–3023). In der argumentativ aufgearbeiteten Atomisierung adliger Sozial- und Prestigewerte wird zum einen die Gültigkeit dieser Werte anhand der Kategorie social status als 59 Vgl. dazu Seidl [Anm. 4], S. 117–119. 60 Die Szene wirkt von der Verfluchung Parzivals von Seiten Cundries beeinflusst, vgl. von Kraus [Anm. 3], S. 268 (Anmerkung zu Vers 3004ff.). 61 Die Schimpftirade der Witwe lässt sich folgendermaßen strukturieren: 1.) Lob des Adels und der Tugenden der versammelten Hofgesellschaft (V. 3014–3024); 2.) Vergleich mit bösen Gesellen, die das Gute mit Bösem vergiften. Diese schädigen die Ritterschaft (V. 3025–3036); 3.) Georg als treuloser Mann, der von seinem Wort abkommt und Gott die Treue bricht, mit Begründung christlicher Glaubensgrundlagen (V. 3037–3049); 4.) Inkongruenz zwischen Georgs Handlungen und seiner Gesinnung (V. 3050–3058); 5.) Aufkündigung der Treue zu Georg und Beschimpfung des Heiligen (V. 3059–3072); 6.) Erneute Rekapitulation der vollbrachten Wundertaten (V. 3073–3098); 7. Glaubensgrundlagen und Bekenntnis der Witwe zum christlichen Glauben (V. 3099–3104).

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verbindende Norm über Religionsdifferenzen hinweg auch am Hof des ›heidnischen‹ Herrschers postuliert62 und zum anderen eine Bewertungsfolie geschaffen, mit der Georgs religiöser Treuebruch begrifflich gefasst werden kann. Die vorgetäuschte Opferung des Heiligen wird so als Verletzung der höfischen Norm begriffen, so dass Georg ein Zentralwert, die triuwe, abgesprochen wird: »er [Georg] ist ein triuweliser man, / gemischet gar mit kunterfeit« (V. 3038f.). triuwe bezeichnet eine ständische Forderung. Sie kann en bloc als Inbegriff von moralischer Vollkommenheit gelesen werden.63 Mit dem von der Witwe vorgebrachten, übertragenen Bild des ins Essen gemischten Giftes (V. 3032f.) wird der triuwelose man rhetorisch als boeser geselle gefasst und konturiert. So kann geschlussfolgert werden: Wie vergiftete Speise ihre güete verliert, machen boese gesellen krank (V. 3034). Die Aussage wird umgehend spezifisch verengt und exemplarisch auf den »allgemeinen Begriff adliger Lebensform«64 bezogen, nämlich den Begriff der ritterschaft, der für ›Heiden‹ wie Christen gleichermaßen gilt: »alsi verliust diu ritterschaft / von boesem gesellen hie ir kraft« (V. 3035f.). Der boese geselle ist der an die ›heidnischen‹ Götter opfernde Georg und die »adlige Lebensform« verliert hier, am Hof Dacians, ihre Gewalt. Georg verstößt mit seinem religiösen Treuebruch gegen die Normen der Ritterschaft. Mit den Versen 3040f. setzt eine Zäsur im Monolog der Witwe ein. Wurden bislang weltlich-adlige Wertmaßstäbe sowie religiöse Werte und deren Verletzung reflektiert, so leitet der Satz »er [Georg, PS] swuor gester manigen eit / b% ritters triuwen 0f s%n sÞl« (V. 3040f.) über zu religiös dominanten Glaubensgrundsätzen. Beide Satzterme referieren semantisch auf den eit, den Georg schwur, dass er »ein got 0z IsrahÞl wolt minnen unde meinen, und ander got deheinen, wan den Mar%a sider truoc und den man an ein kriuze sluoc.« (V. 3042–3046)

Der religiös markierte Wortbruch, der zugleich adlige Normen verletzt, wird erweitert zu einer Erläuterung christologischer Glaubensgrundlagen und damit der christlichen Soteriologie: den Glauben an die Inkarnation Gottes in Men62 Vgl. Schmitz [Anm. 19], S. 321. Vgl. auch Brinker [Anm. 44], S. 158. 63 Vgl. Murray, Merit: miles – ritter – chevalier. Zum Verständnis und Selbstverständnis des Rittertums in Mittel- und Westeuropa um 1200. Univ. Diss. Berlin 2001, S. 88. 64 Bumke, Joachim: Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert. 2. Aufl. mit einem Anhang: Zum Stand der Ritterforschung 1976. Heidelberg 1977 (Beihefte zum Euphorion 1), S. 97 (Anm. 38). Eine grobe Darstellung adliger Lebensformen bietet Zotz, Thomas: Ritterliche Welt und höfische Lebensformen. In: Fleckenstein, Josef: Rittertum und ritterliche Welt. Berlin 2002, S. 173–229.

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schengestalt, wie er sich im Symbol des Kreuzes – dem Symbol der Erlösung – manifestiert. Die gegenseitige Bedingtheit von Stand und religiöser Gesinnung mit ihren inhärenten Normen wird vom armen w%p mit dem Vermerk konkludiert: »hiute h.t er [Georg, PS] zwÞne got. / des muoz er s%n iur aller spot« (V. 3047f.). Mit Georgs vorgetäuschtem Götzenopfer können die Konsequenzen von Apostasie durchgespielt werden, die anhand ständischer und damit religionsübergreifend verbindlicher Normen als Versündigung an der ritterschaft markiert werden: Religionsabfall führt zu Verspottung.65 Die bereits Verspottete droht dem ständisch privilegierten Mann ihrerseits mit Spott. Der triuwelose man gibt die Treuebindung zu seinem Gott auf, die als ein auf Gegenseitigkeit basierendes Verhältnis im Sinne weltlich-feudallogischer Mechanismen dargestellt ist. Mit ihrem öffentlichen Bekenntnis zum christlichen Glauben sowie dem Beharren, »swaz mir der künic getuon mac, / des ergetzet mich der künic oben« (V. 3102f.), stellt sich die unständische Frau gegen den ständischen Mann und bezeugt jene constantia mentis, die dem ritterlichen Heiligen abzugehen scheint. Auch an dieser Stelle findet keine soziale Statuserhöhung der Witwe statt. Ein interessanter Befund lässt sich im Vergleich mit der heiligen Königin erzielen. Nach der Exekution von 12000 Konvertiten verflucht Alexandrina ihren Gatten (V. 4134–4215).66 Mit getriuwel%cher krefte / si begund in [Dacian, PS] sÞre str.fen (V. 4150f.) aufgrund seiner Verstocktheit, mit der er die Christen martert. Alexandrina wird mit dem christlichen Glauben ein Spielraum des Handelns eröffnet, denn sie »beträgt sich also ganz und gar nicht gemäß der ihr ursprünglich zugedachten Rolle als Ehefrau und Dame«.67 Die ständisch und religiös privilegierte Frau kündigt ihrem ständisch privilegierten, aber ›heidnischen‹ Mann Bett und Freundschaft mit wüsten Verwünschungen auf. Ihre Schimpftirade ist über die Kategorie religion strukturiert, indem mit dem christlichen Glauben ständisch geprägte Rollenmuster gegenüber dem religiös anders markierten aufgehoben werden. Auch die Beschimpfung seitens der Witwe ist primär über die religiöse Verortung motiviert. Der sukzessive Aufbau ihrer Ermächtigung und zugleich ihrer temporären Aufwertung – beginnend mit ihrer Funktion, eine Basis für die Wunder in ihrem Haus zu bilden – über die moralische Mahnerin zur Beschimpferin des Heiligen, wird über ihre Position als christliche Konvertitin geleistet. Dabei erhält sie einen Handlungsspielraum, der auch einer ständisch gehobenen Frauenfigur gewährt wird. Ohne de facto ständisch erhoben worden zu sein, agiert sie im Modus religiöser Lizenz – wie Alexandrina – gegen männliche Handlungsbefugnis. Der Ermächtigungsspiel65 Vgl. auch Brinker [Anm. 44], S. 157f. 66 Einen Vergleich mit den lateinischen Vorlagen dieser Episode bietet Seidl [Anm. 4], S. 136–139. 67 Lembke [Anm. 39], S. 122.

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raum wird in Reinbots Text allerdings nur in dem Maße konstruiert, wie die religiöse Alterität des Gegenübers markiert ist. Die plötzliche Metanoia der Witwe von der tumben zur wissenden Frau ist nicht figurenpsychologisch motiviert, sondern vielmehr strukturell zu begreifen: Reinbots Text deckt seine internen Normgefüge durch die unständische Figur als Kommentatorin der dargestellten normativen Konstellationen auf. Indem die Witwe aufgrund ihrer ständischen und geschlechtlichen Markierung zum Objekt höfischer Distinktionsakte wird, ist es anhand von religion über ihre Figur möglich, adlige, religiöse und geschlechtliche Privilegien zu reflektieren.

VII.

Die Konstruktion von Dominanz

Die Beschimpfung Georgs wird als Kränkung seiner männlichen Ehre herausgestellt (V. 3114–3116).68 Mit der Frage der Witwe, was des Heiligen »mänl%cher sch%n« (V. 3050) und »s%n starkiu w%tiu brust« (V. 3054) taugen, weil »eins hasen herz ist drin gejagt« (V. 3055), lassen sich zugleich Fragen nach männlicher Genderidentität formulieren. Der mittelalterliche Text entwickelt diese aufgrund der scheinbaren Inkongruenz zwischen Taten und der inneren Gesinnung Georgs. Die Dichotomie von vollkommenem Leib und Geisteshaltung wird betont:69 In dem idealen männlichen Körper schlummert ein feiges Herz. Das Hasenherz entspringt dem apostatischen Abfall von Gott (V. 3056–3058) und Georgs zageheit wird als »ein Mangel an Mut und Zuversicht im geistlichen Sinne«70 interpretiert. Die Attribute männlicher Idealität werden Georg von Seiten der Witwe nicht zuerkannt, da seine inneren Qualitäten nicht mit seinen Handlungen identisch scheinen. Die Konsequenzen dieser Inkongruenz und des dadurch resultierenden Vergehens am christlichen Gott sind der Verlust von wirde (V. 3060, V. 3070), ebenso von sÞl (V. 3072) und l%p (V. 3072). Die unständische Witwe kündigt dem ständischen Mann Friede und Freundschaft (V. 3059), die sich als Folge der geschädigten Innen-Außen-adaequatio ergibt. Da die Alternative der Opferung im finalen Erzählschema narrativ bereits als nicht einlösbar markiert wird, ist die virtuelle Inkongruenz Georgs in der finalen Erzählmotivation immer schon Kongruenz. Des Protagonisten Exorbitanz wird auch vielfach hervorgehoben, zum 68 Vgl. Schmitz [Anm. 19], S. 323. 69 Ähnliche Überlegungen konzipieren christlich-theologische Diskurse. Diese werden im höfischen Roman beispielsweise in der Kongruenz von Körper und Seelenvermögen durch Rückgriff auf die antike Kalokagathia-Tradition befriedet, vgl. Gerok-Reiter, Anette: Körper – Zeichen. Narrative Steuermodi körperlicher Präsenz am Beispiel von Hartmanns Erec. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Hg. v. Wolfzettel, Friedrich. Tübingen 2007, S. 405–430. 70 Brinker [Anm. 44], S. 157.

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einen in den Siegen in den brutalen Glaubenskriegen innerhalb des männlichhomosozialen Teils (V. 131–184; V. 455–508), zum anderen in seiner männlichen Schönheit »nach neuestem building des heilig-höfischen body«71 (V. 4759–4761), bei dessen Anblick sogar eine fiktive Nonne des Benediktiner-Nonnenklosters Geisenfeld die Mette vergessen würde (V. 5328–5336). Schon bei der ersten Begegnung der Witwe mit dem Heiligen betont sie die enorme Schönheit Georgs (V. 1950–1954): er ist dermaßen prächtig, dass die noch ›heidnische‹, tumbe Frau ihn für einen Engel hält. Der christliche Protagonist wird von Reinbots Erzähler als Figur inszeniert, die mit Martin Dinges als »dominante Männlichkeit« beschreibbar ist.72 Sein Begriff, den er für historische Diskussionen um männliche Geschlechterentwürfe geprägt hat, ist angelehnt an den Terminus der »hegemonialen Männlichkeit« von Raewyn Connell,73 mit dessen Hilfe sich eine kulturell ausgehandelte, übergeordnete männliche Position in der Moderne bezeichnen lässt. Da Dinges weder auf Inhalte, noch auf konkrete Darstellungsmodi dieses vormodernen Männlichkeitstyps eingeht,74 muss dieser präzise erörtert werden. Dieses Vorhaben ist durch eine Konzeptualisierung des Dominanzbegriffs zu leisten. Hierzu möchte ich mich interdependenzlogisch auf die Definition von Walgenbach stützen. Im Falle von Machtrelationen schlägt sie vor, den Begriff der Macht durch denjenigen der Dominanz zu ersetzen, worunter sie »ein relativ stabiles, hierarchisch strukturiertes Machtgefüge, das mehr als das Machtverhältnis zwischen zwei Individuen umfasst«75, versteht. Dieses Gefüge durchzieht diverse soziale Bereiche und prägt Lebensrealitäten. Dominanzverhältnisse seien durch materielle Strukturen und Ausbeutungsbeziehungen hervorgebracht und zugleich in diese eingebettet. Walgenbach macht einen Dominanzbegriff stark, der mit einem kulturell stabilisierten und gesellschaftlich legitimierten Zugang zu Privilegien – im Sinne einer gruppenspezifischen Befä71 Haubrichs, Wolfgang: Sankt Georg in Martern, Krieg und andern Nöten. Ein Romanheiliger verschriftet und verkörpert sich. In: Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Zwischen Mittelalter und Neuzeit. Hg. v. Neumann, Michael u. Schneider, Almut. Regensburg 2005, S. 46–65, hier S. 57. 72 Vgl. Dinges, Martin: »Hegemoniale Männlichkeit« – ein Konzept auf dem Prüfstand. In: Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute. Hg. v. Dinges, Martin. Frankfurt a. M. u. New York 2005 (Geschichte und Geschlechter 49), S. 7–33, hier S. 20. 73 Vgl. Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit. Hg. u. mit einem Geleitwort versehen von Müller, Ursula. 3. Aufl. Wiesbaden 2006. 74 Modelle dominanter Männlichkeit werden dahingehend spezifiziert, dass sie »weder zwingende Bezüge auf Heterosexualität enthalten, noch den Anspruch erheben, daß sie auf Männer aller Stände oder Schichten übertragbar sind«, Dinges [Anm. 72], S. 18. 75 Walgenbach [Anm. 10], S. 56. Damit richtet sie sich gegen eine repressive Definition von Macht, wie sie bspw. WEBER, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Vollst. Nachdr. d. Erstausg. 1922. Tübingen 1972, S. 28 konzipierte.

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higung – analogisierbar ist, die in sozialen Kämpfen ausgefochten wird. Walgenbachs Vorschlag vollzieht den Übergang von sozialen Praktiken über symbolische sowie kulturelle Ordnungssysteme hin zu den in ihnen generierten Verknüpfungen untereinander, um die (Re)Produktion von Dominanz offenzulegen. Diese Definition von Dominanz ist für eine literarische Analyse produktiv, wenn man sie auf übergeordnete, narrative Normzusammenhänge öffnet: Sie strukturieren die dargestellte Welt, durch sie werden Figuren in ihrer jeweiligen Verknüpfung mit ihnen zur Darstellung gebracht und auf diese Weise wird gender interdependent mitbestimmt. Für die Frage, wie sich Dominanz in Reinbots höfischer Märtyrerlegende konstituiert, ist an die bisherige Analyse anzuschließen, wonach 1. Geschlecht nicht als unhintergehbare Struktur- und Identitätskategorie beschrieben ist; 2. über die Figur der mittellosen Frau als Textkommentatorin zwei normative Pole der Erzählung aufgedeckt werden konnten, die sich in Anlehnung an Schultz überspitzt als »aristophile Religiophilie« reformulieren lassen: gemeint sind ständische und religiöse Verortungsbestimmungen. Die nobilitas carnis76 – der Geburtsadel – spielt im »Heiligen Georg« eine eminent wichtige Rolle in der Herrschafts- und Adelskonzeption. Genealogische Rückführungen fungieren als Fundament von Georgs Herrschaftslegitimation, wenn seine herausragende Stellung über patrilineare Allianzfiliationen bestimmt wird (V. 105–130).77 Geburt dient als genealogischer Ausweis von Exklusivität und Adel als Zugehörigkeitsmerkmal sowie Abgrenzungsprinzip. In dem die Vererbung der väterlichen Tugend auf Georg und seine Brüder inszeniert wird (V. 115–126), findet der Geburtsadel ein Komplement im Tugendadel, der nobilitas mentis oder nobilitas morum.78 Ein Ritter darf mitnichten nur soviel wert sein, wie seine Rüstung wert ist, schon gar nicht ein heiliger. Der adlige Herr ist stets zu tugendhaftem Handeln verpflichtet,79 worauf schon in einem Beda Venerabilis zugeschriebenen Proverbium hingewiesen wird: Nemo nobilis nisi quem nobilitat virtus.80 Wie anhand der Schimpfrede der Witwe aufgezeigt, erhält tugent eine wichtige Funktion in Bezug auf die Adels76 Vgl. dazu Knapp, Fritz Peter : Nobilitas Fortunae filia alienata. Der Geblütsadel im Gelehrtenstreit vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. In: Fortuna. Hg. v. Haug, Walter u. Wachinger, Burghart. Tübingen 1995, S. 88–109. 77 Vgl. auch Seidl [Anm. 4], S. 89–96. 78 Die nobilitas morum ist nach Lubich, Gerhard: »Tugendadel«. Überlegungen zu Verortung, Entwicklung und Entstehung ethischer Herrschaftsnormen der Stauferzeit. In: Rittertum und höfische Kultur der Stauferzeit. Hg. v. Laudage, Johannes u. Leiverkus, Yvonne. Köln u. a. 2006 (Europäische Geschichtsdarstellungen 12), S. 247–289, hier S. 270 die aktive Umsetzung der nobilitas mentis. 79 Vgl. Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 11. Aufl. München 2005 (dtv 30170), hier S. 421. 80 »Niemand ist adlig, den nicht die Tugend adelt«, zitiert nach Lubich [Anm. 78], S. 269.

Die Figur der mittellosen Witwe in Reinbots von Durne »Der heilige Georg«

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konzeption. Der mittelalterliche Tugendbegriff umfasst dabei ein ganzes semantisches Bündel an Zuschreibungen.81 In Reinbots Text wird Tugend über hohe Abstammung mit religiösen Gehalten funktionalisiert (V. 122–127). Durch die Umwertung des höfischen aventiure-Begriffs zum Kreuzzugskampf mit der Alternative Vernichtung oder Bekehrung (V. 1223) des religiös Anderen, wird die nobilitas mentis des Adligen verlängert zur constantia mentis des christlichen Streiters für den christlichen Gott, die sich besonders in den Marterepisoden zeigt. Georg wird zunächst im männlich-homosozialen Teil monologisch82 als superiorer, heiliger Kreuzzugskämpfer, dargestellt, indem Dominanz inhaltlich auf den adligen, mit dem Schwert mordenden Glaubensstreiter bezogen ist. Der Gegenentwurf konstituiert sich dabei als das von der christlichen Norm Abweichende. Am heterosozial strukturierten Hof des ›heidnischen‹ Souveräns wird Männlichkeit dialogisch in zwischengeschlechtlichen Konstellationen inszeniert, wobei auf der Inhaltsebene der soziale Status und christlicher Glaube Dominanz generieren. Der Gegenentwurf zur Dominanz verläuft inhaltlich über religiöse und ständische Verortungen. Die Verteilung von Privilegien durch interdependent konzeptualisierte Kategorien wird jeweils über ein (als solches markiertes) Gegenteil ausgehandelt: je deprivilegierter dieses ist, umso deutlicher tritt hervor, was innerhalb der Narration durch christlich-kuriale Normen als dominant bestimmt wird. gender wird dabei in der Vergabe von Privilegien instrumentalisiert: Diese sind vornehmlich ständischen und unständischen männlichen Figuren zugedacht, wenn die religiöse Gesinnung den Normen entspricht. Sowohl ständische als auch unständische weiblich markierte Figuren hingegen erhalten über die normative religiöse Verortung einen Raum des Agierens, in dem sie Normabweichungen sanktionieren. Die Konstellation Georg/Witwe ist für die Definition dominanter Männlichkeit in dieser Hinsicht sehr ertragreich. Wo Georg über die Kategorien gender (Mann), social status (adlig), religion (christlicher Heiliger) mit Privilegien ausgestattet ist, wird die Witwe über die gleichen Kategorien spiegelbildlich inszeniert: gender (Frau), social status (nicht adlig, arm), religion (›heidnisch‹ / Konvertitin). Nicht aufgrund ihrer geschlechtlichen Markierung bildet die mittellose Frau das Andere zum christlichen und adligen Mann, sondern auf81 Vgl. v. a. das kleine Kapitel »Höfische Tugend« in Bumke [Anm. 79], S. 416–430. Vgl. weiterführend zu älteren Positionen den Sammelband Ritterliches Tugendsystem. Hg. v. Eifler, Günter. Darmstadt 1970 (Wege der Forschung LVI). 82 Zum Konzept monologischer und dialogischer Männlichkeit, vgl. Gaunt, Simon: Gender and Genre in Medieval French Literatur. Cambridge 1995. Zu Begrenztheit aber auch zum Potenzial des Konzepts, vgl. Meyer, Matthias: Monologische und dialogische Männlichkeit in Rolandsliedsliedversionen. In: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Hg. v. Baisch, Martin u. a. Göttingen 2003 (Aventiuren 1), S. 25–50.

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grund ständischer und temporär religiöser Abweichung. Indem sie nicht nur die Grundlagen für christliche Wunderzeichen bietet, sondern auch die Notwendigkeit der Konversion zum normativen Glauben aufzeigt, werden ihr Handlungsmöglichkeiten gewährt, anhand derer sich diese Normen reflektieren und Normdevianzen angreifen lassen. Wenn folglich Georg die Witwe bei ihrem ersten Aufeinandertreffen in ihrem Haus fragt: »ey saelec w%p, fürht ir mich?« (V. 1945), scheint mir die Frage von immenser Bedeutung, verdichten sich in ihr doch jene Normsetzungen, die Reinbots Text durchziehen und die Evaluation der Figuren bedingen: sowohl privilegierte, adlig-ständische Positionierung, als auch die Emphase christlicher Religiosität. Beides wird in der Figur Georgs – so das zentrale Ergebnis der Untersuchung von Stephanie Seidl – überblendet und macht den ritterlichen Heiligen in der textuellen Welt als Mann zu einem »inkommensurablen Spektakulum«.83 Die Antwort von Seiten der mittellosen, anfänglich von der religiösen sowie der adligen Sphäre distinguierten Frau, die vor solch einer ostentativ zur Schau gestellten dominanten Männlichkeit zum Verschwinden gebracht wird, kann nur lauten: »ja, lieber herre, si tuon ich« (V. 1946).84

83 Dies entlehne ich von Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur. In: Ders.: Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit. Aus dem Französischen von Scheffel, Helmut. Frankfurt a. M. 2006 (es 2471), S. 9–69, hier S. 53. 84 Für anregende Gespräche, Hinweise und Korrekturen danke ich Julia Magdalene MüllerKirchenbauer, Lorenz Becker, Felix Florian Müller und den Herausgeber_innen dieses Bandes.

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Begehren, Macht und Raum: »Die halbe Birne« Konrads von Würzburg

Normative Zuschreibungen von (Geschlechts-)Identitäten in literarischen Texten zu hinterfragen, ist eine Aufgabe, der sich besonders die literaturwissenschaftliche Mediävistik immer wieder stellt. Es sind dazu in Vergangenheit Kategorien und Methoden der feministisch geprägten Geschlechterforschung, der Genderforschung in der Nachfolge Judith Butlers und der Queer Theory operationalisiert worden.1 Aktuell wird auch das produktive Potenzial von Ansätzen aus der Intersektionalitätsforschung für die Betrachtung literarischer Texte des Mittelalters diskutiert.2 Eine leitende intersektionalitätstheoretische Annahme ist, dass sich aus der Überkreuzung verschiedener Identitätszuschreibungen komplexe Machteffekte ergeben, die sowohl Zugehörigkeit als auch Differenz generieren.3 Die intersek1 Eine aktuelle Übersicht über die Rezeption von Gender- und Queer Studies in der Mediävistik finden sich im kürzlich erschienenen Beitrag von: Sieber, Andrea: Gender Studies. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hg. v. Ackermann, Christiane u. Egerding, Michael. Berlin, New York 2015, S. 103–139 und Kraß, Andreas: Kritische Heteronormativitätsforschung (Queer Studies). In: Ackermann u. Egerding [Anm.1], S. 317–348. Zudem einschlägig: Klinger, Judith: Gender-Theorien: Ältere deutsche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hg. v. Benthien, Claudia u. Velten, Hans Rudolf. Reinbek 2002, S. 267–297; Kraß, Andreas: Queer lesen. Literaturgeschichte und Queer Theory. In: Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik. Hg. v. Frey Steffen, Therese u. a. Würzburg 2004, S. 233–248; Kraß, Andreas: Kritische Heteronormativitätsforschung. Der queer turn in der germanistischen Mediävistik. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 128.1 (2009), S. 95–106; Winst, Silke: Gender Studies in der literaturwissenschaftlichen Mediävistik: Eine kulturwissenschaftliche Perspektive. In: querelles-net. Rezensionszeitschrift für Frauen- und Geschlechterforschung Nr. 7 (2002), Literaturwissenschaften I. 2 Vgl. Schul, Susanne: HeldenGeschlechtNarrationen: Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in Nibelungen-Adaptionen. Frankfurt a. M. 2014 (MeLiS. Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Romanistik 14) sowie die einzelnen Beiträge in: Durchkreuzte Helden. »Das Nibelungenlied« und Fritz Langs »Die Nibelungen« im Licht der Intersektionalitätsforschung. Hg. v. Bedekovic´, Natasˇa u. a. Bielefeld 2014 (GenderCodes). 3 Der Begriff selbst wurde Anfang der 1990er Jahre durch einen Beitrag der Juristin Kimberl8

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tionalen Ansätze greifen zunächst die aus der Triple-Oppression-Theory stammende Trias ›class, race, gender‹ auf, fokussiert dabei jedoch verstärkt die Wechselwirkungen dieser Dimensionen und die Frage nach ihrer jeweiligen dynamischen Aufeinanderbezogenheit, welche wiederum zu ihrer Veränderung, Verstärkung oder Abschwächung führen kann.4 Prinzipiell sind Kategorien von Interesse, die Ungleichheit produzieren; so wurden auch Aspekte wie Sexualität, Alter, Nationalität, Religiosität oder körperliche und mentale (Un-)Versehrtheit in den theoretischen Diskurs integriert und als Analysekategorien weiter ausdifferenziert. Die Frage danach, wie sich Intersektionalitätstheorien zur narrativen Verfasstheit von Identitätskonstruktionen und Differenzierungslogiken verhalten, ist auch für die Analyse von literarischen Begehrensstrukturen interessant. ›Begehren‹ als Begriff hat trotz oder gerade wegen der ihm eigenen wiederholt beklagten Unschärfe zunehmend Eingang in die mediävistische Forschung gefunden.5 Die Betrachtung literarischer Begehrensstrukturen bietet meines Erachtens potentiell Raum für die Untersuchung von Subtexten, die jenseits einer »heteronormativen Zeichenökonomie«6 angesiedelt sind. Auch die moderne Kategorie der heterosexuellen Matrix ist nicht ohne Weiteres auf mittelalterliche Crenshaw etabliert: Williams Crenshaw, Kimberl8: Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color. In: Stanford Law Review 43, no. 6 (1991), S. 1241–1299; die angloamerikanische soziologische Forschung, die Intersektionalität im Anschluss an Crenshaw theoretisiert hat, wird seit einiger Zeit auch im deutschsprachigen Raum rezipiert und weitergedacht – exemplarisch verweise ich hier auf die Sammelbände Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Hg. von Klinger, Cornelia u. a. Frankfurt a. M. 2007; Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik 2. Hg. v. Knapp, Gudrun-Axeli u. Wetterer, Angelika. Münster 2007; Überkreuzungen: Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Hg. v. Klinger, Cornelia u. Knapp, Gudrun-Axeli. Münster 2008; Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts. Hg. v. Lutz, Helma u. a. Wiesbaden 2010; Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Hg. v. Walgenbach, Katharina u. a. Opladen u. a. 22012. Außerdem sei auf die virtuelle Forschungsplattform http://portal-intersektionalitaet.de/startseite/ verwiesen, die zentrale Thesen und Schlüsseltexte der Intersektionalitätsdebatte bündelt und die Vernetzung verschiedener intersektionaler Perspektiven anregen will. 4 Vgl. besonders Degele, Nina u. Winker, Gabriele (2007): Intersektionalität als Mehrebenenanalyse. URL: http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/ueberblickstexte/dege lewinker/ [Letzter Zugriff: 22. 07. 2016], S. 2. 5 Vgl. etwa Eming, Jutta: Der Kampf um den Phallus: Körperfragmentierung, Textbegehren und groteske Ästhetik im Nonnenturnier. In: The German Quarterly 85.4 (2012), S. 380–400; dies.: Begehren und kein Ende. Zur Konjunktur eines Begriffs in der gegenwärtigen Mediävistik. In: Imago. Interdisziplinäres Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik, Band 2. Gießen 2013, S. 115–125; Michaelis, Beatrice: (Dis-)Artikulation von Begehren. Schweigeeffekte in wissenschaftlichen und literarischen Texten. Berlin, New York 2011 (TMP 25); Reichlin, Susanne: Ökonomien des Begehrens, Ökonomien des Erzählens. Zur poetologischen Dimension des Tauschens in Mären, Göttingen 2009 (Historische Semantik 12). 6 Kraß, Andreas: Queer Studies – eine Einführung. In: Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies). Hg. v. dems. Frankfurt a. M. 2003, S. 7–28, hier S. 22.

Begehren, Macht und Raum: »Die halbe Birne« Konrads von Würzburg

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Texte zu übertragen. Ein Vorschlag besteht darin, die Dimension ›Begehren‹ aus der triadischen Struktur von sex-gender-desire herauszulösen und damit methodisch aus der Verklammerung mit Sexualität und Heteronormativität zu lösen.7 Im Folgenden fasse ich Begehren als ein dynamisches Moment auf, das im performativen Vollzug Möglichkeiten für die Variation von (Geschlechts-) Identitäten bietet. Diese Perspektive knüpft grundsätzlich an die methodischen Implikationen des Queer Reading an, das als spezifisches Lektüreverfahren auf die Dekonstruktion binärer Konstruktionen von ›Geschlecht‹ abzielt.8 Ein intersektionelles Queer Reading kann bei der Analyse literarischer Begehrensstrukturen insofern als produktive perspektivische Öffnung verstanden werden, als neben Sexualität und Geschlecht weitere identitätsformierende Kategorien als von Machtrelationen durchsetzte, kulturelle Konstrukte in den Fokus rücken. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, Strategien der Differenz- und Kohärenzerzeugung sowie damit verbundene Normalisierungsprozesse, die in der Intersektionalitätsforschung untersucht werden, als Machteffekte zu entschlüsseln.9 Die skizzierte produktive Unbestimmtheit des Begehrens-Begriffs birgt meiner Ansicht nach insbesondere im Hinblick auf Texte, die der mittelalterlichen Versnovellistik zugeordnet werden, ein Erkenntnispotenzial, das bei Weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Dies zeigt die der handschriftlichen Überlieferung nach Konrad von Würzburg zugeschriebene Erzählung »Die halbe Birne«10, in der sich drastische Verstöße gegen höfische Verhaltenscodes auf 7 Vgl. Klinger [Anm. 1] sowie Bausch, Constanze u. a.: Begehrende Körper und verkörpertes Begehren. Interdisziplinäre Studien zu Performativität und gender. In: Praktiken des Performativen. Paragrana 13 (2004), S. 251–309, hier S. 283f. 8 Im Kontext der germanistischen Mediävistik liegen bereits Arbeiten und Einzelstudien zu Texten vor, etwa von Kraß, Andreas: Das erotische Dreieck. Homosoziales Begehren in einer mittelalterlichen Novelle. In: Ders. [Anm. 6], S. 277–297; Meyer, Matthias: Queer Readings – Queere Lektüren. Ein Versuch. In: Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen. Hg. v. Babka, Anna u. Hochreiter, Susanne. Göttingen 2008, S. 205–218 und Michaelis, Beatrice: Von tarnkappe, nagele und gÞr – Das Nibelungenlied, oder was hat Sex mit Nation und Kanon zu tun? In: Babka u. Hochreiter [Anm. 8], S. 129–149. 9 Zum Konnex von Queer Theory und Intersektionalität vgl. Dietze, Gabriele u. a. (2012): Queer und Intersektionalität. URL: http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/ ueberblickstexte/dietzehaschemimichaelis/ [Letzter Zugriff: 22.07. 2016]. 10 Im Folgenden zitiert nach: Novellistik des Mittelalters. Hg., kommentiert und übersetzt von Grubmüller, Klaus. Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 178–207. Nach wie vor umstritten ist die Frage der Zuschreibung des Textes zum Œuvre Konrads von Würzburg, auf die im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden kann. Die Positionen der Debatte fasste zuletzt Satu Heiland zusammen in Dies.: Visualisierung und Rhetorisierung von Geschlecht. Strategien zur Inszenierung weiblicher Sexualität im Märe. Berlin, Boston 2015 (LTG 11), S. 194f. sowie der Beitrag von Feistner, Edith: Kulinarische Begegnungen – Konrad von Würzburg und ›Die halbe Birne‹. In: Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift für Horst Brunner. Hg. v. Klein, Dorothea. Wiesbaden 2000, S. 291–304.

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signifikante Weise mit homosozialen und queeren Begehrensstrukturen verschränkt finden. Vor diesem Hintergrund ist »Die halbe Birne« auf das dynamische Verhältnis der Kategorien ›Geschlecht‹, ›Körper‹ und ›Stand‹ im Kontext von ›Begehren‹, ›Macht‹ und ›Raum‹ hin zu befragen, ohne dass dabei von vornherein eine vorausliegende Hierarchie der Aspekte unterstellt wird. Um das Erkenntnispotenzial eines intersektionalen Queer Readings für die Differenzierung literarischer Begehrensstrukturen auszuloten, stehen jene Machtrelationen im Fokus der folgenden Analyse, die durch das Begehren der Figuren im Kontext höfischer Normen stimuliert werden und die sich im Spannungsfeld von Rachebegehren und triangulärem Begehren situieren lassen.

I.

»Die halbe Birne«

Ein König veranstaltet auf Wunsch seiner wunderschönen Tochter ein Turnier, bei dem sie den Tapfersten zu ihrem Ehemann nehmen will. Auch der Ritter Arnolt, im Minnedienst geübt und erfolgreich, erscheint mit seinem Gefolge, um die Königstochter für sich zu gewinnen. Sowohl der König als auch seine Tochter finden schnell Gefallen an dem vornehmen und im Kampf erfolgreichen Ritter und so wird er als Tischgast an die abendliche Tafel geladen. Statt die Birne, die der Dame und Arnolt zum Dessert gereicht wird, zu schälen und zu zerlegen, zerteilt er sie grob mit einem Messer und wirft sich eine der Birnenhälften in den Mund. Die empörte Königstochter verspottet ihn am Folgetag öffentlich für diesen Fauxpas. Arnolt sinnt auf Rache und berät sich mit seinem Knappen. Am Abend legt er sich in Gestalt eines Narren – mit geschorenem Haar und Asche im Gesicht – vor den Schlafraum der Jungfrau, bis er bemerkt und zur Unterhaltung in die Kammer gebeten wird. Der Anblick des nackten Narren erregt die Königstochter und es gelingt ihr unter Zurufen und mit Hilfe ihrer Kammerfrau Irmengart ihr Begehren zu befriedigen. Nach dem Akt wird der Narr kurzerhand aus der Kammer geworfen. Die Königstochter setzt am nächsten Turniertag wieder zu ihrem Spottgesang an, woraufhin Arnolt beginnt, ihre eindeutigen Zurufe aus der vergangenen Nacht zu zitieren. Sie verstummt sogleich und auch Irmengart erkennt, dass ihrer beider Ehre nun auf dem Spiel steht. Als einzige Möglichkeit, sich zu rehabilitieren erscheint die sofortige Eheschließung mit dem Ritter, dem von da an mit der Königstochter auch Land und Leute unterstellt sind. Abschließend rät der Erzähler den guoten w%ben (V. 488) sich vor ungezähmt-wollüstigem Verhalten zu hüten und warnt den saelic man (V. 499) vor Fehlverhalten im Minnedienst, das zu einem derartigem Ehrverlust führen kann, wie er Arnolt widerfahren ist. Die Forschung hat »Die halbe Birne« vornehmlich im Hinblick auf normative

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Aspekte diskutiert.11 Mit der Problematik von Begehren und Sexualität haben sich dagegen Mireille Schnyder12 und Satu Heiland13 befasst. Schnyder hat mit Blick auf Machtstrukturen sexuelles Begehren im Kontext der Kemenatenszene untersucht und den Aspekt der Obszönität als zentral für die Sinnkonstitution des Textes herausgestellt. Heiland betrachtet dagegen die Demaskierung genereller weiblicher Triebhaftigkeit als zentralen Aspekt des Textes14 und fokussiert in ihrer Interpretation insbesondere die explizite Darstellung sexueller Handlungen in der Kemenatenszene als Visualisierung weiblicher Lust.15 Die folgende Analyse ist von der Frage danach geleitet, wie sich Verstöße gegen Normen und dadurch destabilisierte Machtverhältnisse zu in den Text eingeschriebenen Begehrensstrukturen ins Verhältnis setzen lassen. Die Dimension ›Raum‹ spielt für den Bedeutungsaufbau des Textes eine zentrale Rolle, sie wurde im Rahmen der mediävistischen Intersektionalitätsforschung bereits eingeführt. Andreas Kraß beschreibt den Raum als »Rahmen, der bestimmte Achsen der Ungleichheit aktiviert, der bestimmte Merkmale privilegiert oder marginalisiert. Der Raum ist zugleich jene Dimension, in der sich die körperbezogenen Subjekte begegnen, in der sie durch sozialen Kontakt Machtverhältnisse aushandeln.«16 Im Fokus steht deshalb die Mehrfachcodierung von Begehren im Wechselspiel mit (dem jeweiligen) Raum. Der Hof als normative Instanz wird auf vielfache Weise zu einem Raum der Transgression. Es lassen sich zudem mehrere örtliche Gegebenheiten innerhalb des Hofes voneinander abgrenzen, die zum Schauplatz verschieden akzentuierter Transgressionen werden: der öffentliche Austragungsort des Turniers, der semiöffentliche Raum, in dem das Essen stattfindet, und die verborgene aber dennoch dem Hof zugehörige Kemenate. Zum einen ist zu fragen, auf welche Weise das jeweilige Begehren im Spannungsfeld von Werbung und Rache ein produktives Potenzial für die Aushandlung von Machtrelationen zwischen den beiden Figuren entfaltet. Zum anderen gilt es, das Wirken von Macht in der Verschränkung mit Raum und Sexualität zu differenzieren sowie nach deren Bedeutung für die Konstitution von (Geschlechts-)Identitäten zu fragen. Es soll gezeigt werden, wie sich vor 11 So beispielsweise Müller, Jan-Dirk: Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ›Halber Birne‹, JOWG 3 (1984/85), S. 281–311; Grubmüller [Anm. 10], S. 829ff. und Feistner [Anm. 10]. 12 Schnyder, Mireille: Die Entdeckung des Begehrens. Das Märe von der halben Birne. In: Beiträge 122 (2000), S. 263–278. 13 Heiland [Anm. 10], zur »Halben Birne«, S. 194–210. 14 Ebd., S. 209. 15 Vgl. Ebd., S. 209f.: »Wie züchtig sich die Frau nach außen hin auch geben mag – in ›Wirklichkeit‹ braucht es nur den Anblick eines Phallus, und schon wird sie von ihrer Lust übermannt und greift, wenn nötig, zu außergewöhnlichen Mitteln.« 16 Kraß [Anm. 2], S. 17.

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diesem Hintergrund sowohl die Machtpositionen der Protagonist_innen als auch der beiden Helfer_innenfiguren verschieben und auf welche Weise Differenz und Zugehörigkeit generiert werden.

II.

Rachebegehren

Das in diesem Text signifikante Begehren nach Rache – sowohl Arnolts als auch das der Königstochter – bleibt bis zuletzt Angelpunkt der gesamten Erzählung. Es wird ausgelöst durch zwei Ehrverletzungen innerhalb eines normsensiblen Bereiches, des Hofes. Aus diesem Grund sind hier zunächst jene Textpassagen von Interesse, die eine Rachehandlung provozieren. Arnolt ist ein ritter an gebürte vr% (V. 34) und ein ebenso erfolgreicher wie junger Minnediener (V. 36–37): er bluote als ein berndez zw%c / an Þren und an tugent (V. 38–39). Als solcher begehrt er, sich auszuzeichnen. Die volle Pracht, in der Arnolt zu stehen scheint, kommt auch in seiner Erscheinung zum Ausdruck, so erwähnt der Erzähler eine grasgrüne Satteldecke aus Samt und einen Waffenrock aus demselben Material (V. 46–49). Der Glanz erstreckt sich darüber hinaus auch auf sein Gefolge, das ebenso vil ritterl%ch (V. 50) ist wie er selbst. Jene vom Erzähler beschriebene Vorbildlichkeit manifestiert sich in Arnolts anmutigem und siegreichem Auftreten beim Turnier und wird so für die Königstochter lesbar: daz kunde hart wol gespehen diu junge küniginne und ged.hte in irme sinne vil dicke, wer er möhte s%n. (V. 54–57)

Gleiches gilt für den König – Arnolts Siegeszug beim Turnier weckt auch sein Interesse. So wird der Ritter zu einer ersten Projektionsfläche höfischer Normen und damit gleichzeitig in die normative Struktur des Hofes hineingeholt. Das heißt zum einen, dass sich zunächst die Vorstellungen des Königs und seiner Tochter von einem höfischen Ritter in Arnolt spiegeln und sie in der beiderseitigen Affizierung einander die Zugehörigkeit zum Hof und damit die Teilhabe an gleichen Wertvorstellungen bestätigen. Zum anderen wird Arnolt auf diese Weise zu einem Mitglied der hier tafelnden höfischen Gesellschaft, denn er ist nun gegenüber den anderen Turnierteilnehmern exponiert. Dies manifestiert sich in der Einladung, mit König und Königstochter bei Tisch zu sitzen – eine Ehre, der sich Arnolt in besonderem Maße als würdig erweisen muss. Dass die Situation bei Tisch hochgradig störanfällig ist, erschließt sich, wenn man die Entwicklung der Handlung im ersten Teil des Textes heuristisch unter den Ge-

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sichtspunkten eines rite de passage betrachtet.17 In diesem Zusammenhang wäre jenes Bankett mit dem König und seiner Tochter für Arnolt die Schwellenphase, in der sich der ›Übergang‹ vom Minnediener und Turnierritter zum potentiellen Thronfolger hätte vollziehen können. Anzumerken ist, dass das Begehren Arnolts nach Ruhm beim Turnier und in Folge dessen der Nähe der Königstochter hier noch im Kontext der Werbung steht und als Minnebegehren gelten kann. Der Wechsel gelingt allerdings nicht an dieser Stelle, sondern wird in die Kammer verschoben. Bemerkenswert ist zudem, dass das Zerteilen der Birne zum Dessert vom Erzähler selbst als höfische Verhaltensnorm markiert wird: ze jungest kom ein trahte für der besten biren, die man kür 0f allem ertr%che. die teilte man gel%che, zwein und zwein eine. dar zuo wart ein cleine kæses dar gehouwen. daz mac man noch wol schouwen 0f r%cher herren tische. (V. 75–83)

Die Reaktion der Königstochter auf das grobe Verschlingen der halben Birne markiert vor allem, dass der Hof eine, wenn auch geringe, Verletzung der Ordnung – und dazu gehören auch die Tischsitten18 – ahnden muss, um nicht selbst als normgebende Instanz in Frage zu stehen. Gleichzeitig wird hier der Bedeutungszusammenhang von Essen und Sexualität aufgerufen – dies kann als Vorausdeutung auf das Folgeszenario in der Kemenate gelesen werden. Dem Zorn der Prinzessin – so heißt es, als Arnolt die Birne verschlingt: des wart im vil

17 Gemeint ist hier die dreiteilige Struktur des rite de passage (Trennungsphase, Schwellen- und Transformationsphase, Inkorporationsphase), wie sie der Ethnologe Victor Turner im Rekurs auf die anthropologischen Forschungsarbeiten Arnold van Genneps formuliert hat. Vgl. Turner, Victor: The Ritual Process – Structure and Anti-Structure. London 1969. Dabei liegt zwischen der Trennungsphase, in der der oder die zu Transformierende(n) aus ihrem sozialen alltäglichen Rahmen herausgelöst und entfremdet werden, und der Inkorporationsphase, die die Transformierten wieder in die Gesellschaft eingliedert, der Zustand der Liminalität. Da sich die zu Transformierenden in dieser Phase in einem Zustand befinden, der, wie Turner schreibt, »betwixt and between the positions« (S. 95) liegt, besteht in eben diesem ›Dazwischen‹ die Möglichkeit, »völlig neue, zum Teil verstörende Erfahrungen« zu machen. Vgl. dazu ausführlich Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004, S. 305. 18 Ausführlich zu den Tischsitten im Märe Kellner, Beate: Zur Kodierung von Gewalt in der mittelalterlichen Literatur am Beispiel von Konrads von Würzburg ›Heinrich von Kempten‹. In: Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Hg. v. Braungart, Wolfgang. Bielefeld 2004 (Bielefelder Schriften zu Linguistik und Literaturwissenschaft 20), S. 75–103.

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gehezzer / des r%chen küniges tohter (V. 92–93) – folgt ihre Schmährede auf dem Turnierplatz: »ei schafaliers, werder helt, der die biren unbeschelt halben in den munt warf, waz er zühte noch bedarf! ei schafaliers ungefuoc, der die halbe biren nuoc!« […] »hiute und iemer laster hab er, der die halbe biren az. er ist an hovezühte laz.« (V. 103–114)

Hier sind Rachebegehren und der Machtanspruch der Königstochter unmittelbar miteinander verschränkt. Aus ihrer Perspektive stellt Arnolts Verhalten eine Herabwürdigung des Hofes dar und bestätigt gleichzeitig, dass sie ihm in ihrer höfischen Kompetenz überlegen ist.19 Für Arnolt sind ihre Worte in zweifacher Form problematisch. Zwar zielen sie inhaltlich auf den Normverstoß bei Tisch und markieren so die höfische Etikette, der die Königstochter selbst unterstellt ist. Darüber hinaus jedoch wird der Ausspruch im Rahmen der höfischen Öffentlichkeit getätigt und ist deshalb in besonderer Weise performativ wirksam. Das heißt, Arnolt wird nicht lediglich von der Königstochter gescholten, sondern sein Fehlverhalten wird als Makel seiner höfischen Identität ausgestellt und seine Vorbildlichkeit, die sich zuvor in Auftreten und Erscheinung manifestiert hat, durch den Sprechakt destruiert. Darauf lässt auch die Reaktion Arnolts schließen, denn er verlässt augenblicklich das Turnier : vil schiere er do erkande daz laster und die schande, die im diu küniginne bot. darumbe wart er schamerit vor allen, die d. w.ren. er enwuste, wie er solte geb.ren. vor zorne er wider heim fuor. (V. 115–121)

Auffällig ist, dass Arnolt, wie auch vor ihm die Königstochter, zornig wird. Dadurch werden an dieser Stelle das Fehlverhalten bei Tisch und die Schmährede als Demütigungen parallelisiert, denn auch Arnolt sinnt auf Vergeltung der öffentlichen Bloßstellung: 19 Zum Verhältnis von Zorn und Norm vgl. aktuell Freienhofer, Evamaria: Verkörperungen von Herrschaft. Dynamiken von Zorn, Macht und Herrschaft in narrativen Texten des 12. Jahrhunderts (Rolandslied, Gesta Frederici, König Rother). Berlin, New York 2016 (TMP 32).

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harte tobel%ch er swuor b% allen gotes bilden, er wolte sich verwilden an Þren und an guote, biz er die gemuote, diu in geschendet hæte. (V. 122–127)

Er bittet daraufhin seinen Knappen um Rat, wie er daz vergulte, / daz in diu frouwe schulte / durch si kleine misset.t (V. 135–137). Sowohl die Schmährede der Königstochter als auch das folgende Täuschungsmanöver Arnolts sind von einem Rachebegehren motiviert, dem eine Ehrverletzung vorausgegangen ist. Es ist nicht das gemeinsame Essen, das die Königstochter dazu veranlasst, Arnolt weiterhin besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, sondern seine Verfehlung bei Tisch. Die öffentliche Schelte zielt daher auf die Herabsetzung Arnolts, die damit verbundene Genugtuung und die Distanzierung von solchem Verhalten ab. Aus dieser Perspektive ist die Abfolge der Rachehandlungen beider Figuren als ein komplexes Machtgefüge aufzufassen. Die Abwertung des je anderen zu Gunsten der eigenen Rehabilitation wird im wahrsten Sinne ›begehrt‹. Dieses wechselseitig dynamische Verhältnis kulminiert schließlich in der Annäherung der beiden Figuren und geht über die Annahme einer bloßen Überbietungslogik hinaus. Der Plan des Knappen, die Verkleidung Arnolts und seine Wirkung auf die Hofgesellschaft werden ausführlich beschrieben (V. 140–207) und sind dabei niemals abgelöst vom Rachegedanken. Arnolt ist von seinem Rachebegehren angetrieben. Den Schaden der Königstochter zur Rehabilitation seiner eigenen Entehrung begehrt er so sehr, dass er bereit ist, in eine Rolle zu schlüpfen, die innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung des Hofes marginal ist. Eine Schlüsselposition kommt in diesem Zusammenhang dem Knappen Arnolts, Heinrich, zu. Er ist es, der den Zorn über die Ehrverletzung seines Herren kanalisiert und die Rachehandlung erst hervorbringt. Das Eindringen des Narren Arnolt in den Raum des Hofes ist also zum einen als Rehabilitationshandlung des Ritters Arnolt zu betrachten, zum anderen verkehrt sich an dieser Stelle das Machtgefüge von Ritter und Knappe. Denn nicht nur, dass Arnolt den Rat des Knappen sucht, vielmehr befolgt er die Anleitung zur Verkleidung, ohne dass dieser ihm den genauen Zweck, den die Maskerade haben soll, erklärt: »swaz .ventiure iu geschiht, des versw%get mir niht, swenne ir herwider kumet, wan iu m%n r.t wol frumet.« Di volget er vil dr.te s%me w%sen r.te. (V. 171–176)

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Dies ist mit Blick auf die Verbindung von Ritter und Knappen mehrdeutig. Die äußerliche Verwandlung – Arnolt verkleidet sich nicht nur, sondern ihm werden darüber hinaus die Haare nach tœrl%chen siten (V. 178) geschnitten – ist zwar temporär aber nicht minder kohärent. Dies manifestiert sich nicht zuletzt in der Wahrnehmung anderer am Hof. So heißt es beide w%p unde man / ers.hen in für einen gief (V. 184–185). Die Maskerade ist geglückt, Arnolt wird nicht erkannt. In diesem Zustand verfügt der Knappe, der einzig den Ausgang des Planes zu kennen vorgibt, über die höfische Identität Arnolts und tritt so aus seinem Status als Untergebener heraus. Es wird an dieser Stelle deutlich, dass das Rachebegehren im Modus der Verkleidung sowohl eine Transgression des Raumes ermöglicht als auch eine punktuelle Destabilisierung des Machtgefüges zwischen den beiden Figuren bewirkt. Es ist der Knappe, der Arnolt durch seinen Plan den Zugang zur Kemenate der Königstochter eröffnet. Erst als Arnolt zurückkehrt und Heinrich allez daz vil rehte, / daz im des nahtes widerfuor (V. 402–403), berichtet, weiht er ihn in den Rest des Planes ein und legt ihm so jene Worte in den Mund, die er am Folgetag beim Turnier auf die Schmährede der Königstochter erwidern soll: d. wider ruofet ir wol zwir : »stüpfa, frouwe Irmengart, durch d%ne w%pliche art, diu von geburt an erbet dich, si reget aber der tire sich.« (V. 422–428)

Zu fragen wäre, wie sehr die hierarchische Struktur zwischen den Figuren ins Wanken geraten ist. Nicht nur überantwortet sich Arnolt seinem Knappen Heinrich, indem er in einer desolaten Verfassung dessen Rat sucht, mehr noch, er setzt sich nach der Blamage bei Hof erneut der Gefahr aus, sich selbst der Lächerlichkeit preiszugeben, denn zum Zeitpunkt der Verkleidung kann weder für ihn noch Heinrich das Gelingen des Planes vorhersehbar gewesen sein. Die Umsetzung des Planes ist also für Arnolt mit einem erheblichen Risiko verbunden, seine ritterliche Identität vollends zu zerstören und statt seiner Ehre nichts als Spott zu ernten. Diese potentielle Gefahr wird jedoch auch durch das unbedingte Verlangen nach Rache ausgeblendet. Das Rachebegehren gegenüber der Prinzessin bestimmt Arnolt selbst noch, als er schon in Gestalt des Narren vor ihrem Schlafgemach liegt, ohne dabei jedoch von einem sexuellen Begehren abgelöst zu sein: ein wunnecl%chez palas, d. diu juncfrouwe inne slief, d. vür leite sich der gief, swenne ez begunde nahten. durch daz begund er gahten,

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ob diu minnecl%che in ir heimel%che begienge keiner slahte dinc, d. mite si der snürrinc ze laster möhte bringen. mit si get.nen dingen lac er zuo allen z%ten d. gerner vil dan andersw.. (V. 208–220)

Die zur Rachehandlung zählende Maskerade ermöglicht Arnolt eine Position, von der aus es ihm gelingt, der Prinzessin zu schaden und die mit dem Dimension des Raumes eng verbunden ist. Die Kemenate ist vor diesem Hintergrund als ein ›Dazwischen‹20 zu denken, das sich zwar innerhalb des Hofes befindet, in dem jedoch andere Verhaltensregeln gelten als im öffentlich-repräsentativen Teil. Diese sind allerdings hier nicht klar definiert. Da der Narr vorgibt, nicht richtig sprechen zu können, das Gesehene und Erlebte also scheinbar nicht aus diesem Zwischenraum herauszutragen vermag, wird er geduldet und vielmehr noch in eine Form des Liebesspiels abseits aller höfischen Normen einbezogen. Darauf komme ich noch zurück. Zunächst ist festzuhalten, dass das Begehren Arnolts nach der Königstochter und das Begehren nach der Wiederherstellung seiner ritterlichen Ehre miteinander verschränkt sind und deshalb strukturell analog zum Rachebegehren der Prinzessin nach dem Vergehen bei Tisch zu setzen ist. Die enge Verknüpfung von Rachebegehren, sexuellem und Minnebegehren der beiden Hauptfiguren wird mit Blick auf den Ausgang des Textes explizit. Die Schmährede des Ritters vermag die Königstochter nicht noch einmal zu überbieten und so geht sie auf Anraten ihrer Kammerzofe die Ehe mit Arnolt ein. Die Rachehandlungen der beiden können in diesem Kontext als Aushandeln von Machtpositionen gelesen werden. Obwohl Arnolt nun Land und Leute unterstellt sind, seine Ehre also öffentlich wiederhergestellt ist, wirken auch für ihn der sexuelle Übergriff seiner Frau vor der Ehe und die damit verkehrten Machtverhältnisse nach: doch was er arcwænic der frouwen bœse tücke, durch daz ungelücke, daz im des nahtes do geschach, di man in stüpfete und stach in der kemen.ten. (V. 481–486)

Entgegen der These, dass es sich beim Vergehen der Königstochter um die größere Verfehlung stellvertretend für das weibliche Geschlecht handelt und die 20 Zum Begriff des ›Dazwischen‹ vgl. Fischer-Lichte [Anm. 17], S. 68f.

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höfischen Normen desavouiert werden,21 nimmt der Erzähler im Epimythion eine weniger polarisierende Perspektive ein, wenn es heißt: Dar umbe wil ich r.ten allen guoten w%ben, daz si die zühte tr%ben, die reinen w%ben wol gezemen, und ein sælic bilde nehmen an der küniginne, wie sie betruoc diu minne, di si den list eröugete, d. mite si erzöugete ir manne die grize leckerheit. des wart ir ungemüete breit: er was ir ieme mÞ gehaz. (V. 487–498)

Die Kritik gilt nicht der Lustbefriedigung der Prinzessin, sondern ihrer sich daraus ergebenden geschwächten Machtposition in der Ehe. Es ist nicht das gegenseitige sexuelle Begehren, sondern vielmehr das Rachebegehren, über das sich in letzter Konsequenz die eheliche Gemeinschaft konstituiert. Das bedeutet zum einen, dass im Moment der Rachehandlung die Rehabilitation der eigenen Ehre über eine andere Person begehrt wird, zum anderen findet durch die Rachehandlung eine Neupositionierung der beiden Figuren statt, sie wird im Modus des Rachebegehrens ausgehandelt. Die Protagonistin indes steht, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, quer zu einem solchen Entwurf, denn auch ihre Funktion innerhalb des komplexen Machtgefüges, das sich im Modus des Rachebegehrens entfaltet hat, ist äußerst ambivalent.

III.

Trianguläres Begehren oder die Dekonstruktion des erotischen Dreiecks?

Wie sehr der Aspekt der Sexualität mit diesem Machtgefüge verknüpft ist und inwieweit eben jene räumlich abgegrenzte Struktur der Kammer im Zusammenspiel mit dem Rachebegehren Tendenzen erkennen lässt, die Geschlechtergrenzen im Raum nivellieren, wird bei genauerer Betrachtung der Kemenatenszene deutlich. Als der vor der Tür liegende Narr von einer der Kammerzofen entdeckt und auf Anweisung der Königstochter in die Kemenate gebracht wird, bereitet er den Damen durch sein Gebaren allerlei Vergnügen und auch bei Arnolt zeigt die aufgeheizte Stimmung erste Effekte: 21 Vgl. insgesamt besonders Müller [Anm. 11], aber auch Grubmüller [Anm. 10], S. 832.

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vil gemel%che er daz begienc, biz an dem geb0re diu starke nat0re ir kraft begunde öugen. daz muoste sich erzöugen an s%nem ebenalten, der vor lac gevalten und sich krampf als ein wurm. der hate sich 0f einen sturm bereit mit aller s%ner ger. er stuont mit 0fgerihtem sper. (V. 272–282)

In Anbetracht der bis zu diesem Zeitpunkt gelungenen Maskerade Arnolts als Narr muss auffallen, dass er über seine Virilität dagegen nicht verfügen kann. Dies steht im unmittelbaren und starken Kontrast zu seiner selbstinszenierten Stumm- und Taubheit.22 Betrachtet man die sexuelle Potenz als Körperzeichen des adligen Mannes, ist festzuhalten, dass Arnolt nicht wirklich seinen Stand wechselt, sondern es sich um ein Als-ob-Spiel handelt. Das heißt, es findet hier eine punktuelle Statusentgrenzung statt, die gleichzeitig verbunden ist mit Geschlecht, denn die Dar- und Ausstellung seiner – zwar der ritterlichen Identität zugeordneten – Potenz wäre wiederum anders als im Modus der Narrenverkleidung nicht denkbar. Nur weil die Damen Arnolt für einen Narren halten und er so in die Kemenate gelangt ist, wird eine derart direkte Fokussierung seines Genitals erst möglich. Es kann also nur bedingt von einer Nivellierung der Geschlechtergrenzen die Rede sein, vielmehr findet eine Wiederaneignung statt. Die ritterliche Potenz – gekoppelt an sexuelles Begehren – übermannt im wahrsten Sinne die angenommene Narrenidentität und hätte an diesem Punkt die Inszenierung auffliegen lassen können.23 Insofern kann die Verkleidung des Narren durchaus auch als Inszenierung von gender verstanden werden, die jedoch an dem Postulat des Textes, die starke nat0re (V. 274) zeige sich an Arnolt, scheitert, da auf diese Weise ritterliche Tüchtigkeit und sexuelle Potenz miteinander verknüpft werden. Da Arnolt jedoch seine Maskerade fortführt und die Königstochter und ihre Kammerfrauen nichts zu merken scheinen, wirkt sich das Folgeszenario zunächst durchaus destabilisierend auf seine Geschlechts22 Ein vermeintlich tauber oder stummer Mann, der zum Objekt der Begierde mehrerer Frauen wird, ist ein bekanntes Schwankmotiv und findet sich etwa in Giovanni Boccaccios »Decamerone« in der ersten Geschichte des dritten Tages. 23 Wie komplex dieser Zusammenhang ist, zeigt sich auch in den Ausführungen Schnyders: »Nun stellt sich nicht einfach das Würmchen auf und wird zum Wurm, sondern durch die kraft der nat0re wird das Würmchen ganz wunderbar in metonymischer Verschmelzung zum Ritter, der mit 0fgerihtem sper (V. 282), bereit zum Kampf, dasteht. Im verkleideten, zum Toren verkÞrten (V. 142) Ritter, treibt die nat0re den Ritter wieder heraus, offenbart sie hinter der Maske die eigentliche Identität und Qualitas.« (Dies. [Anm. 12], S. 270).

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und ständische Identität aus. Man könnte demnach noch einen Schritt weitergehen und fragen, ob die sich derart vordergründig zeigende männliche Potenz nicht auch als von der ritterlichen Identität abgelöst aufgefasst werden kann. Dies würde die These von einer Entgrenzung ebenfalls stützen, denn ein solches ›Auftreten‹ des Penis wäre, wenngleich ein Ritter traditionell über sexuelle Potenz verfügt, im Rahmen seines Standes keinesfalls möglich. Die Diskrepanz von sexueller und höfischer Identität manifestiert sich auch im Auge der Königstochter, deren Aufmerksamkeit sich ausschließlich auf das entblößte Genital des Narren richtet: daz wart der küniginne s0r. frou VÞnus und ir sun Am0r begiengen an ir wunder. si enbran als ein zunder von der angesihte, daz dem tumben wihte der eilfte vinger was ersworn. si sach den selben minnedorn und leit vil senecl%che nit. (V. 283–291)

Diese Schilderung ihrer Wahrnehmung steht zum einen in Kontrast zu der Erscheinung des Toren – so verweist der Erzähler mehrfach auf das unhöfische Gebaren Arnolts, der nackt und ungewaschen (V. 265) als ein tumber snürrinc (V. 268) vor der Königstochter sitzt und dem dabei s%n vil lanc geschirre (V. 263) auf dem schmutzigen Boden hängt. Zum anderen wird hier ein Vokabular aufgegriffen, welches in seiner Metaphorik der höfischen Inszenierung des Sichverliebens folgt, jedoch in der ausschließlichen Fokussierung des Penis ad absurdum geführt wird, sodass es höfisch normierte Verhaltenscodes desavouiert. Festzuhalten ist, dass das sexuelle Begehren der Prinzessin also geweckt ist und dies führt wiederum dazu, dass sie ihre Dienerinnen bis auf eine fortschickt (V. 292–294). Zurück bleiben sie selbst, Arnolt und […] ein altez kamerw%p. / durchriben was der selben l%p. / Irmengart was sie genant (V. 297–299). An diesem Punkt konstituiert sich eine neue Sphäre – der innerhöfische und ohnehin schon im Verborgenen liegende Raum verengt sich ein weiteres Mal. Die Königstochter ist der prekären Situation gewahr und sucht Rat bei ihrer vertrauten Kammerzofe: »si hilf mir, daz ich swache den kumber, den ich dulde. von des tiren schulde brinne ich alsi sÞre, daz beide l%p und Þre h%naht an der w.ge st.t, ob m%n wille niht erg.t.« (V. 304–310)

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Das destruktive Potential des sexuellen Begehrens wird hier zunächst unmittelbar als Ehrverlust imaginiert, gleichzeitig aber wird die Erfüllung dieses Begehrens als existentielles Bedürfnis benannt. Die Königstochter hat offenkundig sexuelles Interesse an einem nur vermeintlich nicht standesgemäßen Partner.24 Der Körper des Ritters einerseits und das Begehren der Königstochter andererseits werden unmittelbar sexualisiert dargestellt – dem minnedorn (V. 290) steht hier die Prinzessin in ihrer nit (V. 291) gegenüber und in Kontrast zu ihrer höfischen Identität. Das heißt, im Modus des Begehrens befinden sich beide Figuren in einem ›Dazwischen‹, in dem sich eine sexuelle Dynamik entfaltet, die in eine trianguläre Struktur eingebettet ist. Im Vorlauf dieser Szene bestand bereits ein ähnliches Gefüge, denn nur durch den Rat des Knappen ist es Arnolt gelungen, nach seiner Blamage in die Gemächer der Königstochter zu gelangen und noch dazu seine Ritterlichkeit auf diese Art auszustellen. Während Arnolt der Knappe Heinrich ratend zur Seite stand, schlägt hier die Dienerin ihrer Herrin vor, den Narren dazu zu bringen, ihr gefällig zu sein. Darüber hinaus weiß sie auch mit Blick auf die auf dem Spiel stehende Ehre zu beruhigen: »er ist der aller beste gouch, der ie wart getœret: er ensprichet noch enhœret, er ist ein rehter stumbe.« (V. 326–329)

Dies ist nur auf den ersten Blick ein lediglich gut gemeinter Hinweis der Kammerzofe. Vielmehr wird an dieser Stelle der Ritter-Narr diskursiv seiner Selbstäußerungsfähigkeit beraubt, die Stumm- und Taubheit wird hier für Arnolt als Gelingensbedingung seiner Maskerade etabliert – Arnolt ist in den Augen der Kammerfrau nur dann ein Narr, wenn er sich verhält, als sei er taub und stumm. Dies wird durch den Nachsatz diz hirte wol der tumbe. (V. 330) explizit. Auf diese Weise wird das Rachebegehren hier explizit mit sexuellem Begehren verschränkt und Arnolt im Einvernehmen mit Kammerzofe und Königstochter zu einem taubstummen Lustobjekt: di lac der ungefüege stampf, daz er sich als ein igel rampf und smuckt sich zuo einander. vil gerne bekander der küniginne leckerheit, als ich d. vor h.n geseit, durch daz er si geschante. dar umbe er sich nicht wante, sam er si wolde gr%fen an. 24 Das Spiel mit Wissen und Nichtwissen ist eine zentrale Erzählstrategie des Textes. Diesem Aspekt kann an dieser Stelle leider nicht weiter nachgegangen werden.

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d. lac von minnen unde bran diu minnecl%che künig%n und leit vil senecl%chen p%n, daz der tumbe gouch lac und der minnen niht enphlac, diu guoten w%ben sanfte tuot. (V. 341–355)

Signifikant ist an dieser Stelle, dass das durch die Erektion artikulierte sexuelle Begehren Arnolts zugunsten des Rachebegehrens umgedeutet wird. Er regt sich nicht und liegt teilnahmslos bei der Königstochter. Statt seinem Trieb zu folgen findet er Gefallen daran, sich der vor Begierde brennenden Prinzessin zu entziehen. An diesem Punkt wird eine weitere Facette der Rache erkennbar : Dadurch, dass sich der Narr dem körperlichen Vollzug entzieht, wird die nit (V. 323) der Königstochter noch größer. Mit Blick auf die Machtstrukturen entfaltet sich hier ein äußerst ambivalentes und komplexes Netz zwischen den drei Figuren, das sich weiter verdichtet, als die Königstochter die Kammerzofe erneut um Hilfe bittet. Diese willigt sofort ein, legt den Toren zwischen die Beine ihrer Herrin und greift beherzt zu einem Stecken, um das Liebesspiel in Gang zu bringen: dannoch lac er unde grein als ein alter hovewart, bizz diu frouwe Irmengart einen stap erkripfete und mit der gerten stüpfete. daz kam ir di ze heile. des tiren hinderteile gap si stich über stich, biz er begunde regen sich. des wart ir fröude manicvalt. (V. 368–377)

Die Position der Kammerfrau ist hier zwiespältig. Zwar kann ihr Verhalten nach wie vor im Kontext des Dienstes an der Herrin gewertet werden, dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sie aktiv am Geschlechtsakt beteiligt ist.25 Dies vereindeutigt sich mit Blick auf die folgende Szene. Arnolt entzieht sich ein weiteres Mal di ez in die w%se kam, / daz die vröuden zuo sigen (V. 380–381). Die bisher latente trianguläre Begehrensstruktur kulminiert in den Zurufen der Königstochter als Konsequenz aus der Regungslosigkeit Arnolts: 25 Schnyder beschreibt dies als »seltsame Einmütigkeit«, in der die beiden Frauen agieren und fügt an: »Die ganze Szene ist so beschrieben, dass das Subjekt der Lust sich immer sowohl auf die Königstochter wie auf die Magd Irmingard beziehen kann.« (Dies. [Anm. 12], S. 272). Heiland beschreibt das Szenario als »homoerotische[n] Konstellation zwischen Zofe und Toren, […]. Mithilfe einer Rute, die zweifellos als Phallussymbol zu verstehen ist, penetriert sie – auf sinnbildlicher Ebene – den Mann anal.« (Dies. [Anm. 10], S. 203).

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»stüpfa, maget Irmengart durch d%ne w%pliche art, diu von geburt an erbet dich, si reget aber der tire sich!« (V. 385–388)

Neben der massiven gender-distinkten Zuschreibung durch d%ne w%pliche art (V. 386) wird hier ein Ebenenwechsel markiert – der verhinderte Orgasmus und die damit verknüpfte Dynamik führt dazu, dass Irmengart als Dritte ins Liebesspiel miteinbezogen wird. Dabei tritt sie in ihrem Aktionspotential an die Stelle Arnolts, ohne dass dieser aus dem Geschehen ausscheidet. Sie wird, wie die nachfolgende Kommentierung der Tätigkeit Irmengarts durch den Erzähler deutlich macht, zum ›Motor‹ des Geschehens und leistet dabei nicht nur ihrer Herrin einen Dienst: diu maget di gewerte die frouwen des si gerte. si menete und gupfete si stach unde schupfete, biz in der frouwen minnen art beiden alsi tiure wart, daz in diu süezekeit zerran. (V. 389–395)

Mit Blick auf trianguläre Begehrensstrukturen ist diese Szene mehr als vielschichtig. Es ist sicherlich richtig, davon zu sprechen, dass sich hier »Homo- und Heterosexualität überschneiden (2 Frauen / männlich agierende Magd und Ritter)«26, jedoch mit Blick auf den skizzierten Zusammenhang von Sexualität und Macht könnte man vielleicht noch einen Schritt weitergehen. Auch in diesem Kontext vorrangig die Minne degradiert zu sehen durch die »sexuelle Attraktion bis hin zum leblosen Mechanismus, der von außen bedient werden muß«27, verstellt den Blick auf das komplexe trianguläre Spannungsverhältnis, das sich hier zwischen Arnolt, Irmengart und der Königstochter entfaltet. Der regungslose Narr ist nicht nur ein »Spielzeug«28, sondern vor allem ein Werkzeug zur Produktion von Sex. Doch nicht seiner allein wird sich ›bedient‹ und er damit zum Objekt degradiert, sondern vielmehr bilden Arnolt und Irmengart mittels des Steckens eine Einheit, deren dynamisches Zentrum Irmengart ist. Mit Blick auf die Begehrensstruktur kann man an dieser Stelle durchaus von einer Denaturalisierung des Sexes sprechen29 – sowohl für sie als auch für die Königs26 27 28 29

Schnyder [Anm. 12], S. 273. Müller [Anm. 11], S. 293. Schnyder [Anm. 12], S. 272. Um dies zu erhellen, wird an dieser Stelle auf den Begriff der Kontrasexualität verwiesen. Als Kritiken herrschender Sexualitätsformen im Kontext von Macht, normativen Körperinszenierungen und sexuellen Praktiken hat Beatriz Preciado in ihrem im Jahr 2000 erschienenen Kontrasexuellen Manifest experimentell neue Formen von Sexualität als Gegenent-

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tochter wird Arnolt, wie sich am zweifachen Orgasmus zeigt, zu einem Medium der sexuellen Befriedigung. Der Höhepunkt des Liebesspiels ist dennoch polyvalent. Es lässt sich schwer sagen, durch wen oder was genau die Königstochter schließlich sexuelle Befriedigung erfährt; das gilt auch für Irmengart. Hinzu kommt, dass sich im Höhepunkt durch die Zurufe, die Irmengart involvieren, körperlicher Vollzug und verbale Stimulierung überkreuzen. Signifikant ist in diesem Zusammenhang die Fokussierung auf das körperliche Lustempfinden der Königstochter, welches schließlich sowohl die Ambivalenz der bestehenden Geschlechterverhältnisse als auch des Zeichengebrauchs beziehungsweise der Kommunikation offenlegt. So ist der Sprechanteil der Königstochter in der Kemenate im Vergleich zu ihrem vorherigen Auftreten deutlich erhöht und kulminiert in den lauten Zurufen, die als Geständnis ihrer Lust gewertet werden können. Sie stellen einen Modus der Selbstthematisierung dar, der als Subjektivierungstendenz gelesen werden kann.30 Im Kontrast dazu scheint Arnolt als stummer Narr mehr und mehr in der Apparatur der Lustbefriedigung zu verschwinden und aufzugehen, bis er schließlich aus dem Palast geworfen wird (V. 396–397). In diesem Zusammenhang wird nicht nur ersichtlich, dass ›Sex‹ als ein von Machtverhältnissen durchsetztes kulturelles Produkt31 dargestellt wird, sondern dass dieser Text punktuell zum Schauplatz für die Dekonstruktion heteronormativer Denk-, Sprach- und Handlungsweisen wird.32

IV.

Fazit und Ausblick

Die Analyse hat gezeigt, dass in Konrads von Würzburg »Die halbe Birne« Begehren, Macht und Raum in einem komplexen Spannungsverhältnis stehen, das Stand, Körper und Geschlecht dynamisiert. Vor diesem Hintergrund ist nicht nur eine vorgängige Hierarchisierung von Identitätskategorien zu verwerfen, sondern darüber hinaus die Konsistenz der jeweiligen Kategorie zu hinterfragen. würfe zur Heterosexualität entwickelt. Vgl. Kontrasexuelles Manifest. Berlin 2003. Mit Blick auf den vorliegenden Text wäre es meines Erachtens lohnend, die Kammerzofe und den Narren in Kombination als eine kontrasexuelle Technologie zu begreifen und unter diesem Gesichtspunkt zu untersuchen. 30 Hinzu kommt, dass in den Zurufen selbst Wissen über sexuelle Praktiken eingeschrieben zu sein scheint. 31 Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991, S. 206. Diesem erklärungsbedürftigen Aspekt muss an anderer Stelle nachgegangen werden. 32 Vgl. dazu auch Spreitzer, Brigitte: Störfälle. Zur Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion von Geschlechterdifferenz(en) im Mittelalter. In: Manl%chiu w%p, w%pl%ch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. v. Bennewitz, Ingrid u. Tervooren, Helmut. Berlin 1999, S. 249–263, besonders S. 256.

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Eine von den methodischen Implikationen von Queer Reading und intersektionalen Ansätzen geleitete Lektüre ist insofern plausibel, als auf diese Weise erst das (de-)stabilisierende Moment von Begehren für normative Setzungen fokussiert werden kann. So lässt sich insbesondere mit Blick auf die beiden Nebenfiguren sagen, dass sich im Kontext von Macht und Begehren sowohl ständische als auch geschlechtliche Ordnungsstrukturen verändern können. Zudem hat sich ansatzweise gezeigt, dass Begehren auch Spielräume für die Selbstthematisierung des Subjekts eröffnen und in Konfrontation mit kollektiven Ordnungsstrukturen diskursiv Subjektpositionen hervorbringen kann. Die Untersuchung eben dieser Subjektpositionen wäre für eine historische Intersektionalitätsforschung lohnenswert, da sie sich so als Machteffekte verschiedener Identitätskategorien systematisch differenzieren ließen.

Lorenz Becker

Kreuzweise(n): Der Körper als Zentrum diskursiver Verschränkungen im Märe vom »Rosendorn«

I.

Dimensionen des Körpers

Mitte der 1990er-Jahre fragt Caroline Walker Bynum in einem viel zitierten Aufsatz: »Warum das ganze Theater mit dem Körper?« und stellt gleich zu Beginn klar, dass es falsch sei, den Körper zum Thema zu machen, da er »entweder überhaupt kein eigenes Thema« sei, oder »so gut wie alle Themen«1 umfasse. Und in der Tat sind die Dimensionen des Körpers ebenso vielgestaltig wie die in der theoretischen Auseinandersetzung unterschiedlichster Disziplinen eingenommenen Perspektiven auf den Körper. Jede Zeit, deren Gedanken uns überliefert sind, hat sich mit dem Phänomen des menschlichen Körpers auseinandergesetzt und ihn in spezifischer Weise für sich beschrieben.2 In den letzten Jahrzehnten wurde dem Körperthema vor allem in den Geschichts-, Kultur- und Kunstwissenschaften sowie in der Soziologie große Aufmerksamkeit geschenkt und damit auch in der an diesen Fächern orientierten Literaturwissenschaft.3 Grundsätzlich können zwei Dimensionen von Körperlichkeit unterschieden 1 Bynum, Caroline Walker : Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin. In: Historische Anthropologie 4 (1996), S. 1–33, hier S. 1. 2 Vgl. hierzu den ausführlichen, als Monographie angelegten Forschungsüberblick von Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000 (Historische Einführungen 4). 3 Vgl. bspw. Fragments for a History of the Human Body. Hg. v. Feher, Michel u. a. 3 Bde. New York 1989; The Body. Social Process and Cultural Theory. Hg. v. Featherstone, Mike. London, Newbury Park u. a. 1991; Körper-Geschichten. Hg. v. van Dülmen, Richard. Frankfurt a. M. 1996 (Studien zur historischen Kulturforschung 5); Körper – Gedächtnis – Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung. Hg. v. Öhlschläger, Claudia u. Wiens, Birgit. Berlin 1997 (Geschlechterdifferenz & Literatur 7); Körper-Konzepte. Hg. v. Brück, Cornelia u. Funk, Julia. Tübingen 1999 (Literatur und Anthropologie 5); Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hg. v. Benthien, Claudia u. Wulf, Christoph. Reinbek bei Hamburg 2001 (re 55642); Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt a. M. 2001; The Body. Hg. v. Hodder, Ian u. Sweeney, Sean T. Cambridge 2002.

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werden. Die erste und offensichtlichste ist die biologisch-fleischliche Dimension oder auch die ›Natur‹ des Körpers, die notwendig für die Umwelt sichtbar ist. Neben dieser steht – oftmals in starker Konkurrenz – die sozial verschränkte, gesellschaftlich abhängige Dimension, die ›Kultur‹ des Körpers.4 Diese Differenzierung, die auf den ersten Blick durchaus einleuchtend wirken mag, ist vor allem aus geschlechtertheoretischer Perspektive dekonstruiert worden. Dabei wird die Existenz einer dem Kulturellen vorgängigen materiellen Körperlichkeit bestritten.5 Essentialistische Positionen verstehen immaterielle Phänomene dagegen als unveränderlich und a priori vorhanden, was besonders im Kontext des Diskurses um Geschlecht und Geschlechtsidentität erhebliche Probleme aufwirft, so z. B. »wenn auch die Zweigeschlechtlichkeit als historische und das heißt anthropologische und damit kulturübergreifende Konstante«6 postuliert wird, wodurch diese als originär und natürlich betrachtet wird und damit jede andere Form von Geschlechtlichkeit Gefahr läuft, den Stempel des Widernatürlichen und Minderwertigen zu erhalten. Das Mittelalter stellt bezüglich der Körperthematik einen bedeutenden Interessensschwerpunkt für die Literaturwissenschaft dar.7 Jacques Le Goff und Nicolas Truong haben festgestellt, dass auch wenn man im Mittelalter eine starke Veränderung in den körperlichen Gewohnheiten wie die Unterdrückung oder sogar Verbannung der Schauplätze des Körpers aus der Antike konstatiert – der Körper […] paradoxerweise zum Kern der mittelalterlichen Gesellschaft [wurde].8

Wenn also jene Schauplätze des Körpers aus der Antike – gemeint sind hier stark etabliertes Körpertraining und differenzierte Schönheitsideale9 – in der Kultur des Mittelalters keinen Platz mehr hatten, worin bestand dann dieser ›KörperKern‹ der Gesellschaft? Deutlicher wird dies in der Ausformulierung des von Le 4 Auf die Natur-Kultur-Dichotomie geht auch Andrea Schallenberg mit Blick auf Geschlechterkonstruktionen ein. Vgl. Schallenberg, Andrea: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen. Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 7), S. 47–51, hier S. 48. Vgl. auch Bynum [Anm. 1], S. 4–6. 5 Für eine ausführliche Darlegung der Debatte vgl. Lorenz [Anm. 2], S. 15–31. 6 Lorenz [Anm. 2], S. 23. 7 Dezidiert mit dem mittelalterlichen Körper befassen sich u. a. Schnitzler, Norbert u. Schreiner, Klaus: Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. v. dens. München 1992; Framing medieval bodies. Hg. v. Kay, Sarah u. Rubin, Miri. Manchester, New York 1994; The Body in Parts. Fantasies of Corporeality in Early Modern Europe. Hg. v. Hillman, David u. Mazzio, Carla. New York, London 1997; Dinzelbacher, Peter : Körper und Frömmigkeit in der Mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte. Paderborn, München u. a. 2007; Le Goff, Jacques u. Truong, Nicolas: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter. Aus dem Französischen von Warttmann, Renate, Stuttgart 2007. 8 Le Goff u. Truong [Anm. 7], S. 36. 9 Vgl. ebd.

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Goff und Truong angesprochenen Paradoxon: Das Christentum hat den Körper »zugleich glorifiziert und unterdrückt, gepriesen und gedemütigt.«10 Den Körper als Kern der mittelalterlichen Gesellschaft setzen beide Autoren also vor allem mit der christlichen Religiosität in Verbindung.

II.

Diskurs – Intersektionalität

Michel Foucault, einer der bedeutendsten Vertreter des Konstruktivismus, denkt den Körper hingegen als einen Effekt von Diskursen, was wiederum zur Folge hat, dass der Körper analysierbar wird und Auskunft geben kann über eben jene produktiven Diskurse, die ihn in seiner Form hervorgebracht haben. Wenngleich Foucault für das Mittelalter eine vor allem repressive Macht der Diskurse annimmt, sind diese insofern als produktiv zu verstehen, als auch Verbote und Anweisungen, gewisse körperliche Momente zu unterdrücken, einem Körper seine jeweilige Gestalt verleihen. Um diese Diskurse, die den Körper durchkreuzen, beschreiben zu können, müssen sie identifizierbar sein. Wie genau ist ein Diskurs beschaffen? Foucault selbst, der den Begriff geprägt hat wie kein anderer, definiert ihn wie folgt: »Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören.«11 ›Diskurs‹ meint damit nicht bloß das Sprechen – Schreiben sei darunter subsumiert – über eine bestimmte Sache, sondern eben auch Handlung. Diese diskursiven Handlungen, so Foucault, müssen als »Praktiken behandelt werden, die sich überschneiden und manchmal berühren, die einander aber auch ignorieren oder ausschließen.«12 An Handlungen können Diskurse sowie deren Verschränkung mit- und untereinander erkennbar sein. Auch lassen sich Handlungen als explizit vom Diskurs abweichend und sich damit der diskursiven Macht entziehend identifizieren; ›richtig‹ und ›falsch‹, Ordnung und Unordnung kommen durch Handlungen zum Ausdruck. Durch den Aspekt der Handlung deutet sich schon die Evidenz von Körperlichkeit für Diskurse an. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang aber, wenn man einen Teilaspekt von Foucaults prominenter Diskurs-Macht-Relation hinzuzieht. Foucault beschreibt eine Macht, »die auf unmittelbar körperliche oder über Werkzeuge vermittelte Fertigkeiten verweist.«13 Es muss also gefragt werden, ob

10 Ebd., S. 33. 11 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Köppen, Ulrich. Frankfurt a. M. 1981 (stw 356), S. 176. 12 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Seitter, Walter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 2010, S. 34. 13 Foucault, Michel: Subjekt und Macht. In: Ders.: Analytik der Macht. Hg. v. Defert, Daniel

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die Macht den Körper aus bestimmten Diskursen herauslöst und/oder ihn an neue Diskurse bindet, allgemeiner also: inwiefern der Körper eine Neupositionierung im Netz der Diskurse erfährt. Unterschiedlichste Diskurse, denen nicht selten eine Identität stiftende Kraft eigen ist, können am Körper sichtbar werden und dort aufeinandertreffen. Oft stehen diese Diskurse in engem Zusammenhang mit Normen und Gesetzen, welche deren Qualität im sozialen Kontext definieren. An Körpern können also nicht nur Kategorien und Diskurse selbst abgelesen werden, sondern auch, inwiefern sie einer oder mehreren Normen folgen oder eben auch davon abweichen. Wie aber schlagen sich Diskurse am Körper nieder und in welcher Form sind sie an diesem ablesbar? Diskurse bestimmen die Identitäten von Individuen, durchdringen den Körper und erzielen damit gewisse Effekte von (De-)Privilegierung oder (Un-)Sichtbarkeit im sozialen Gefüge. Um diese Effekte präzise beschreiben zu können, soll die Diskurstheorie Foucaults mit dem aus der Soziologie stammenden Paradigma der Intersektionalität verknüpft werden, das auch den Körper immer wieder mit beleuchtet. Eine Engführung von Intersektionalität und Diskursanalyse scheint gerade im Hinblick auf literarische Darstellungen sozialer Interaktion mit einem Schwerpunkt auf dem Körper gewinnbringend zu sein. Der Begriff der Intersektionalität beschreibt zunächst kontaktspezifische, gegenstandsbezogene und an sozialen Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d. h. von Herrschaftsverhältnissen), symbolischer Repräsentation und Identitätskonstruktion.14

Dies sind nun Aspekte eines primär soziologischen Paradigmas, das für moderne Gesellschaften und für real existente Problemfelder konzipiert wurde. Um es auf Literatur im Allgemeinen und auf die des Mittelalters im Speziellen anzuwenden, bedarf es einer gewissen Operationalisierung. Zunächst einmal soll Literatur als vorrangig kulturelle und soziale Repräsentation verstanden werden bzw. davon ausgegangen werden, dass weder die Identitätsebene noch die der gesellschaftlichen Struktur ohne gewisse Repräsentationen in Form von in irgendeiner Weise vermittelten Normen und Werten auskommt. Literatur ist natürlich nicht die Realität, doch kann sie eine fiktive erschaffen. »Der Literatur«, so Andreas Kraß, wohnt die genuine Fähigkeit zur Konstruktion imaginärer Welten inne, die Teil der realen Welt sind und sie in entscheidender Weise mit prägen. Literatur ist […] immer u. Ewald, FranÅois unter Mitarbeit v. Lagrange, Jacques. Frankfurt a. M. 2005 (stw 1759), S. 240–263, hier S. 251f. 14 Degele, Nina u. Winker, Gabriele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2010, S. 14.

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auch ein Probehandeln, der Versuch, einen Spielraum zu schaffen, in dem Unvordenkliches gedacht und Unanschauliches zur Anschauung gebracht werden kann.15

Gerade deshalb sollte man an Literatur nicht mit einem vorgefertigten Analyseinstrumentarium in Form einer festen Anzahl von Kategorien herangehen, sondern vielmehr ein die Kategorien betreffendes offenes Analyseraster anlegen, das induktiv aus den vorliegenden Texten gewonnen wird. Für den Körper bedeutet dies im vorliegenden Zusammenhang der mittelalterlichen Märendichtung bspw., dass er nicht – wie bei Winker und Degele – als eine Kategorie neben anderen verstanden werden soll, sondern im Anschluss an Kraß »als übergreifende Dimension, die alle Kategorien – wenn auch in je verschiedener Weise – betrifft.«16 Auch Susanne Schul wählt den Körper nicht als eine den anderen gleichwertige Kategorie, sondern als einen »›Aushandlungsort‹ der differenzmarkierenden Kategorien […], der in den medialen Inszenierungen zur Produktion und Repräsentation von Differenz eingesetzt werden kann.«17 Damit wird »der Körper in der einen oder anderen Form stets als Garant oder Medium einer Kategorie«18 verstanden, ähnlich wie er als Kollektivsymbol für verschiedene Diskurse fungiert. Ein weiterer Punkt, den es zu berücksichtigen gilt, wenn man mittelalterliche Literatur auf intersektionale Verschränkungen hin untersucht, ist der der Alterität sozialer Kategorien. Kaum eine der modernen Kategorien darf hierbei simpel übertragen werden. Die Einbettung der Kategorien in den jeweiligen historischen Diskursrahmen ist von Nöten, um keine voreiligen Schlüsse über mögliche Diskriminierungsweisen zu ziehen. Auf diese Problematik hat vor allem Judith Klinger hingewiesen. In einem Aufsatz zum »Nibelungenlied« gibt sie zu bedenken, dass die zeitgenössische Intersektionalitätsforschung von einem demokratischen Grundprinzip ausgehe, das nicht ohne weiteres auf jede Zeit übertragbar sei. Mittelalterliche Gesellschaftskonzepte setzten dagegen prinzipielle Ungleichheit voraus. Die Denkfigur einer idealtypisch dreigliedrigen Ständeordnung der Bauern, Adligen und Kleriker wird durch stabile, gleichsam naturwüchsige Unterschiede fundiert,

15 Kraß, Andreas: Einführung: Historische Intersektionalitätsforschung als kulturwissenschaftliches Projekt. In: Durchkreuzte Helden. Das »Nibelungenlied« und Fritz Langs Film »Die Nibelungen« im Licht der Intersektionalitätsforschung. Hg. v. Bedekovic, Natasˇa u. a. Bielefeld 2014 (GenderCodes 17), S. 7–47, hier S. 18. 16 Kraß [Anm. 15], S. 14. 17 Schul, Susanne: HeldenGeschlechtNarrationen. Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in Nibelungenlied-Adaptionen (MeLiS 14), Frankfurt a. M. 2014, S. 60. 18 Kraß [Anm. 15], S. 14.

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deren Zusammenwirken nach göttlichem Beschluss erst eine harmonische Ordnung ermöglicht und Machtprivilegien legitimiert.19

Da der Untersuchungsgegenstand nicht die gesellschaftliche Realität ist, sondern eben literarische Texte, gilt es zuletzt auch hier, unterschiedliche Analyseebenen zu differenzieren, um eine möglichst exakte Beschreibung der verschränkten Kategorien sowie der daraus resultierenden Effekte zu gewährleisten. Hierfür sollen die drei bereits im Zusammenhang mit dem Körper angesprochenen Ebenen noch einmal kurz systematisiert werden. Wie auch Susanne Schul spreche ich hierbei von Makro-, Meso- und Mikroebene bzw. von Kontext-, Narrations- und Interaktionsebene.20 Auf der Mikro- oder Interaktionsebene ist die Figurenhandlung sowie die erzählte Welt zu verorten. Mit der Meso- oder Narrationsebene sollen Erzählstrukturen sowie Gattungskonventionen in den Blick genommen werden, während außerhalb des Textes liegende realgesellschaftliche Normen, Werte und andere Einflüsse auf der Makro- oder Kontextebene21 anzusiedeln sind. Ein diskurstheoretisch orientierter Intersektionalitätsansatz scheint mir besonders geeignet, den Körper in all seinen Verflechtungen in der mittelalterlichen Literatur zu beschreiben. Während eine Herangehensweise über Diskurse den Körper in den je verschiedenen prägenden inner- und außerliterarischen Wissenszusammenhängen sichtbar macht, ermöglicht eine Betrachtung mithilfe des Konzepts der Intersektionalität ein Verständnis des Körpers hinsichtlich der einzelnen aber dennoch miteinander gekreuzten Identitätskategorien und Rollen. Auf diese Weise wird ein möglichst breiter Erkenntnishorizont aufgespannt, vor dem nun das Märe vom »Rosendorn« Beachtung finden soll.

III.

»Der Rosendorn« (I)

Mit dem »Rosendorn« soll ein Märe fokussiert werden, das von der freiwilligen Abspaltung eines Körperteils erzählt und verstärkt überkreuzte Identitätskategorien in den Mittelpunkt rückt sowie »die Isolierung der Sexualität als Problem

19 Klinger, Judith: Ent/Fesselung des fremden Heros. S%frit zwischen Exorbitanz und Assimilation. In: Durchkreuzte Helden. Das »Nibelungenlied« und Fritz Langs Film »Die Nibelungen« im Licht der Intersektionalitätsforschung. Hg. v. Bedekovic, Natasˇa u. a. Bielefeld 2014 (GenderCodes 17), S. 259–301, hier S. 261. Einige Beispiele für die Historisierung von Kategorien bietet Kraß [Anm. 15], S. 27–34. 20 Vgl. Schul [Anm. 17], S. 58. 21 Diese Kategorie wird selbstverständlich in dem Bewusstsein verwendet, dass auch die ›Realität‹ des Mittelalters uns nur durch Schriftstücke und andere Artefakte zugänglich ist.

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oder vielmehr ihre Integration in die Person als Aufgabe«22 erkennt. Letztlich und wie sich in der folgenden Analyse noch genauer herauskristallisieren wird, kommen im »Rosendorn« sechs zu berücksichtigende und analysierbare Identitätskategorien zum Tragen, die sich in unterschiedlichen Formierungen kreuzen. Zwei Kategorien stechen dabei unmittelbar heraus, nämlich ›Geschlecht‹ im Sinne der Dichotomie ›männlich/weiblich‹ und ›Sexualität‹ als ein zwischengeschlechtlich ausgerichtetes Begehren. Von Bedeutung sind weiterhin die Kategorien ›Höfischheit‹ – die durch erwähnten Tugendreichtum in Gegenüberstellung mit Verwilderung aufgerufen wird – sowie ›Religion‹ aufgrund der narrativen Ausgestaltung des Rosengartens und der strengen virginalen Keuschheit der Protagonistin. Zuletzt tragen noch die beiden Kategorien ›Aussehen‹ und ›Alter‹ zu ihrer Identitätsbildung bei. Es soll untersucht werden, wie stark diese Identitätskategorien an den Körper der Protagonistin geknüpft sind und inwiefern unterschiedliche Überkreuzungsformationen für den Stand der Frau in der erzählten Welt des Märe Bedeutung erlangen. Überliefert ist der »Rosendorn« anonym in zwei Textzeugen (Rosendorn I: Dresden, Sächsische Landesbibliothek, M 68; Rosendorn II: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, cod. K 408). Beide stammen etwa aus der Mitte des 15. Jahrhunderts (Rosendorn I: 1447, Rosendorn II: 1430–1435).23 Die Fassungen weichen nur leicht voneinander ab, doch konzentriert sich die Fassung I durch eine geringere Rahmenhandlung und einige wenige Details stärker auf das Körperliche, weshalb diese der folgenden Analyse zugrunde liegt, Fassung II jedoch an Punkten entscheidender Abweichungen zusätzlich Berücksichtigung findet. Während die Fassung II mit einer Traumsequenz des Erzählers beginnt, die für die hier zu leistende Analyse nicht von Bedeutung ist, eröffnet Fassung I nach einer kurzen Wahrheitsbeteuerung direkt mit der eigentlichen Handlung. Erzählt wird von einer Jungfrau, die einen Kräutergarten besitzt, der völlig von der Außenwelt abgeschlossen ist. In diesem Garten befindet sich auch eine große Rosenhecke. Jeden Morgen betritt die Jungfrau diesen Garten in völliger Nacktheit, begießt sich mit selbstgebranntem Rosenwasser, das sie im Anschluss immer unter die Rosenhecke schüttet. Vermutlich aus diesem Grund will der Erzähler eines Tages einen Teil dieser Rosenhecke aus dem Garten stehlen, doch kommt es nicht dazu, da er durch eine wundersame Begebenheit abgehalten wird. Durch ein Loch in der Mauer beobachtet er, wie die Frau mit ihrer Vagina, die plötzlich spricht, in Streit darüber gerät, welche Attribute und Körperteile wohl ausschlaggebend dafür seien, dass Frauen den Männern gefallen. In diesem 22 Grubmüller, Klaus: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter : Fabliau – Märe – Novelle. Tübingen 2006, S. 223. 23 Vgl. Schröder, Werner : Der Rosendorn. In: 2VL 8 (1992), Sp. 182–185, hier Sp. 182.

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Streit entzweien sich die beiden im wahrsten Sinne des Wortes, die Vagina wird von ihrer ›Besitzerin‹ verstoßen und bewegt sich von ihr losgelöst durch die erzählte Welt. Während die Frau nun keinerlei Erfolg bei den Männern hat und man mit Fingern auf sie zeigt, wird die Vagina für eine Kröte gehalten und mit Füßen getreten. Diese Situation löst sowohl bei der Frau als auch bei der Vagina umfassende Reue aus, woraufhin sich beide wiederfinden und vereinigen. Zuletzt berichtet der Erzähler noch, dass die Frau von ihm einen Rat habe erhalten wollen, wie sie es zukünftig vermeiden könne, dass ihre Vagina allein auf Wanderschaft gehe. Der Rat des Erzählers ist der, die Vagina fest zu nageln. Damit richtet er sich zum einen an die Jungfrau im Text aber anschließend auch an alle anderen Männer und empfiehlt, das Geschlechtsteil ihrer Frauen anzunageln, da sonst dieses und damit auch die Liebe davonlaufe. Der Körperteil, der im »Rosendorn« im Vordergrund steht, ist die Vagina der Protagonistin, die gewissermaßen selbst als eine eigenständige Figur angesehen werden kann, da sie spricht, hört, sieht und über Bewegungsautonomie verfügt. Anhand dieser Kriterien könnte man den Text dem sechsten der von Fischer definierten Themenkreise, dem der Priapeia, zuordnen, deren Merkmal »die zentrale, manchmal sogar personenhafte Rolle« sei, »die dem Genitale zugewiesen wird.«24 Tatsächlich aber nimmt Hanns Fischer den »Rosendorn« nicht nur nicht in die Reihe der priapeiischen Texte auf, er verwehrt ihm allgemein die Gattungsbezeichnung ›Märe‹ und zählt ihn stattdessen zu den sogenannten Grenzfällen, da der Text »die Bedingung ›menschliches Personal‹ (und zusätzlich in gewissem Umfang die Bedingung ›Vorgang‹) nicht hinreichend«25 erfülle. Denkt man aber an das berühmtere, breiter rezipierte und stärker beforschte Nonnenturnier, das als männliches Pendant zum »Rosendorn« gelten kann und von Fischer als Märe und Priapeia gehandelt wird,26 so sehe ich hier keinen Grund diese Bezeichnungen nicht auch für den »Rosendorn« anzunehmen.27 In jedem Fall sind die Frau und ihre Vagina sowie der Zwist zwischen ihnen die Struktur gebenden Merkmale dieses Märe und sollen so auch durch die Analyse führen.

24 Fischer, Hanns: Studien zur deutschen Märendichtung [1968]. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Besorgt v. Janota, Johannes. Tübingen 1983, S. 97. 25 Fischer [Anm. 24], S. 75. 26 Vgl. ebd., S. 97. 27 Diese Ansicht vertritt auch Schröder [Anm. 23], Sp. 184. Ausführlich diskutiert er die Gattungsfrage in seinem Aufsatz: Von dem Rosen Dorne ein gut red. In: Ders.: Kleinere Schriften. Band 7. 1958–1994. Klassisch, Nachklassisch, Unklassisch. Deutsche Dichtung im 13. Jahrhundert und danach. Stuttgart, Leipzig 1995, S. 478–501. Vgl. auch Schirmer, KarlHeinz: Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle. Tübingen 1969 (Hermaea 26), S. 250–252.

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III.I

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Eine nackte Frau im Garten

Das Märe vom »Rosendorn« beginnt mit einer Beschreibung der Protagonistin und ihrer alltäglichen Tätigkeit: Es hett ain junkfrau erzogen ainen schönen wurzgarten; den hett si lieb und zarten. si hieß in schon umbfriden, das weder oben noch niden darein nichts komen chunde. si flaiß sich zu aller stunde guter wurz und guter kraut; (die waren ir lieb und traut.) (RD I, V. 6–14)28

Diese Einleitung ist formell märentypisch und inhaltlich untypisch zugleich. Formal imitiert sie ein Schema, mit dem viele Mären eröffnen: ain man hett ain schön wib, / dffl im waz lieb sam sin lib.29 Dieses Beispiel aus dem berühmten »Schneekind« zeigt eine Formel, die in den ersten Versen einer ganzen Reihe von Kurzerzählungen Verwendung findet30 und im »Rosendorn« variiert ist. Es wird den Rezipient_innen nicht ein Mann vorgestellt, dem eine Frau zugeordnet wird, die ihm ausgesprochen wichtig ist, sondern eine Frau, die einen Garten liebt. Sie pflegt die Kräuter und anderen Pflanzen des Gartens sehr sorgsam und vor allem ist der Garten auf ihr Geheiß hin so umfriedet, dass nichts und niemand dort hineingelangen kann. Es hat den Anschein, als pflege die Jungfrau eine keusche, der Außenwelt abgewandte Lebensweise, sie »hat sich mit ihrem Garten eine eigene Welt abseits des Hofes geschaffen, in der sie allein und nach eigenen Regeln lebt.«31 Auch ihre Situierung in einem rundum abgegrenzten Garten und ihre Konzentration auf die Pflanzen lässt m. E. auf die sexuelle Unberührtheit 28 Hier und im Folgenden zitiert nach [Anonymus:] Der Rosendorn (I+II). In: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts. Hg. v. Fischer, Hanns. München 1966, S. 444–461. Gemäß seiner hier bereits erwähnten Einordnung des »Rosendorn« als Grenzfall bezüglich der Gattungszuweisung, findet sich der Text in der von Fischer herausgegeben Anthologie lediglich in einem Anhang, der den »typischen Grenzsaum« repräsentieren soll, »der zwischen Märe und anderen Gattungen der Kleindichtung vermittelt.« (S. X). 29 [Anonymus:] Das Schneekind (B). In: Novellistik des Mittelalters. Hg., übersetzt u. kommentiert v. Grubmüller, Klaus. Berlin 2011 (DKV TB 47), S. 82–93, hier S. 82, V. 5f. 30 Weitere ganz ähnliche Eröffnungen finden sich u. a. in der »Buhlschaft auf dem Baume«, in Herrands von Wildonie »Die Treue Gattin« oder auch im »Begrabenen Ehemann« vom Stricker. 31 Schlechtweg-Jahn, Ralf: Geschlechtsidentität und höfische Kultur. Zur Diskussion von Geschlechtermodellen in den sog. priapeiischen Mären. In: Manl%chiu w%p, w%pl%ch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. v. Bennewitz, Ingrid u. Tervooren, Helmut. Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh 9), S. 85–109, hier S. 104.

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ihres Körpers schließen. Hinzu kommt, dass der Zusammenhang von Jungfrau und Rosengarten »zentral auf die ikonographische Vorlage der Madonna im Rosenhag [verweist]; der wurzgarten mit seinen zahllosen duftenden Heilkräutern und Blumen evoziert den hortus conclusus aus dem Canticum canticorum«32. Außerdem weckt die Beschreibung Assoziationen mit dem »Rosengarten zu Worms« oder auch mit dem »Rosenroman«, die jeweils von Gärten erzählen, die gut beschützt sind und in Verbindung mit Liebesthematiken stehen.33 Die Keuschheit der Jungfrau wird damit über Elemente hergestellt, die literarischen Stoffen sowie religiösen und biblischen Diskursen entstammen. Durch diese Art der narrativen Ausgestaltung des Gartens werden hier bereits drei Kategorien virulent, welche die Identität der Frau bestimmen. Es sind dies ›Geschlecht‹, ›Religion‹ und ›sexuelle Praxis‹, durch die zunächst das stabile Bild einer keuschen Jungfrau gezeichnet wird. Gleichzeitig aber erzählt der Text, dass die Frau einer bestimmten Pflanze – einem weißen Rosendorn – ganz besondere Aufmerksamkeit schenkt: auch het die junkfrau erkorn ainen weissen rosendorn; der was prait und dick, das er für der sunnen plick zwelf rittern hett schatten geben. er was umb und umb eben in ainen raif gebogen joch höcher dann ain man gezogen. (RD I, V. 15–22)

Diese Beschreibung der Rosenhecke erweckt den Eindruck einer Beziehung zwischen Frau und Pflanze. Die Jungfrau, deren hüpscheit (RD I, V. 28) kurz darauf auch expliziert wird, hat den Rosendorn laut Text erkorn,34 ihn also für sich erwählt. Damit rekurriert der Text auf den höfischen Dienstgedanken, also das Umwerben einer schönen Frau durch einen Mann, der dann entweder ab32 Wenzel, Edith: Zers und fud als literarische Helden. Zum ›Eigenleben‹ von Geschlechtsteilen in mittelalterlicher Literatur. In: Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hg. v. Benthien, Claudia u. Wulf, Christoph. Reinbek bei Hamburg 2001 (re 55642), S. 274–293, hier S. 277. Sie bezieht sich hier auf 4,12 im Hohelied Salomos: »Meine Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.« Wenzel führt weiter aus: »In der christlichen und jüdischen Bibelexegese fungiert dieser Garten als Schauplatz der Symbiose von mystischer Seele bzw. reiner Braut mit ihrem Bräutigam bzw. Jesus Christus.« (S. 279). 33 Vgl. hierzu und zu einer ganzen Reihe weiterer entlehnter Motive Schirmer [Anm. 29], S. 254–257 sowie Gsell, Monika: Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales. Frankfurt a. M., Basel 2001 (Nexus 47), S. 270. 34 Edith Wenzel liest das Wort erkorn als ein aufwertendes Attribut zu junkfrau, mir jedoch scheint die Variante, es als Verb zu lesen, plausibler. Vgl. Wenzel [Anm. 32], S. 277. Monika Gsell liest es auch als Verb. Vgl. Gsell [Anm. 33], S. 270.

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gewiesen oder auserwählt wird. Die Reinheit dieser besonderen Beziehung wird durch die herausgestellte Farbe der Rose – weiß – betont und auch die Hecke erfährt eine descriptio, wie sie selbst für die Menschen in den schwankhaften Mären selten zu finden ist: Ihre Größe wird herausragend als prait und dick und kurz darauf noch einmal als höcher dann ain mann beschrieben und ihr Vermögen, Schatten zu spenden, zusätzlich mittels des Vergleichs mit zwölf Rittern verdeutlicht. Diese Maskulinisierung der Rosenhecke, die sich allein schon in der phallischen Bezeichnung Rosendorn niederschlägt, dauert an, ja wird noch gesteigert, wenn berichtet wird, in welcher Weise die Jungfrau diesem Gewächs begegnet. auch hett die minnekliche magt ainen sitten, des si zu allen zeiten pflag. under der kamer, da si lag und slief, in den wurzgarten si gie; des die junkfrau nit enlie, alle morgen gieng si darein, ee die liecht sunn erschain, in den wurzgarten, nackent und ploß. mit roswasser si sich begoß. das tät si darnach in ain glas under den dorn auf das gras. (RD I, V. 32–42)

Allmorgendlich tritt die Jungfrau in vollständiger Nacktheit vor den Rosendorn. Durch das Aufeinandertreffen des sichtbar weiblichen Körpers und der mit männlichen Attributen versehenen Pflanze wird die jeweilige Geschlechtlichkeit noch einmal unterstrichen. Auch die schon angeklungene Beziehung erhält noch einen deutlichen Marker durch die Vereinigung, welche die Jungfrau herstellt, wenn sie das Rosenwasser, das zunächst über ihren Körper geflossen ist, auf die Wurzeln des Rosendorns gießt. Sie pflegt den Rosendorn wie ihren eigenen Körper, »wodurch sich eine Art narzisstisch-autoerotisch geladene Wechselbeziehung zwischen Jungfrau und Körper/Garten entfaltet.«35 Damit wird die Figurenidentität der keuschen Jungfrau über die Konfrontation mit dem maskulinisierten Rosendorn, der gleichzeitig auch ihrem Körper entspricht und eine gewisse sexuelle Komponente mitführt, um die Kategorie ›Sexualität‹ erweitert. In diesem Zusammenhang tritt auch die Kategorie ›Schönheit‹ hinzu, die als visuelle Kategorie ein erkennendes Gegenüber benötigt. Wie genau die Jungfrau zwischen Diskursen und Identitätskategorien verortet ist, zeigt der Blick auf die drei Ebenen. Auf der Mikroebene ihrer Figurenidentität finden wir eine Jungfrau, die abgeschottet von der Außenwelt auf den ersten Blick eine keusche Lebensweise 35 Gsell [Anm. 33], S. 271.

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verfolgt. Gleichzeitig aber wird über die Interaktion der Frau mit dem Rosendorn eine sexuelle Dimension aufgerufen, die aber insofern problematisch ist, als sie sodomitische Züge aufweist.36 Das sie zunächst auszeichnende idealtypische Identitätsmerkmal der Unberührtheit wird kontrastiert mit einem sexuell aufgeladenen und in gewisser Weise auch in Handlung umgesetzten Begehren nach einer Rosenhecke. Damit kollidiert das Figurenkonzept der Jungfrau sowohl mit den Anforderungen der Makro- als auch der Mesoebene. Während moraltheologische Diskurse ein keusches Leben proklamieren bzw. Geschlechtsverkehr und sexuelles Begehren allenfalls in ehelichen Beziehungen und dort auch nur als eheliche Pflicht der Fortpflanzung halber tolerieren, kennt die Gattungskonvention des Märe diese Anforderung vor allem in Bezug auf die Frauenfiguren gerade nicht. Dieser Anforderung vermag aber die nackte, sich mit dem Rosendorn vereinigende Frau auch nicht gerecht zu werden, da sie sich damit Männern entzieht und ihr Begehren zusätzlich falsch ausrichtet. Die Überkreuzung der Kategorien ›Geschlecht‹ und ›Religion‹ auf der einen Seite und der Kategorien ›Sexualität‹ und ›Schönheit‹ auf der anderen, erzeugt also – bezieht man die Perspektiven aller drei Ebenen mit ein – eine sozial äußerst prekäre Figur, deren Status in der Weise nicht haltbar zu sein scheint, was im weiteren Verlauf des »Rosendorn« unmittelbar am Körper sichtbar wird.

III.II

Die Vagina spricht

Die soeben dargestellte Problematik wird nun auch auf der Ebene der Narration virulent und führt zu einer äußerst grotesken Situation. Eingeleitet wird die Szenerie aus einer voyeuristischen Perspektive des Erzählers, der beim Versuch, Rosen aus dem Garten zu stehlen, durch ain löchlin (RD I, V. 46) in dessen Inneres blickt und dabei fremde mer (RD I, V. 48) hört und beobachtet, wie ain wunder da geschach (RD I, V. 52). Um dieses Wunder schon gleich ein Stück weit erklärbar zu machen, greift der Erzähler auf angeblich allgemein bekanntes, medizinisch anmutendes Wissen zurück, indem er sagt: es ist den lüten wol erkand, das menig wurz ist gut, der si ainem stummen in den mund tut, der redet und spricht wol, was ain man reden sol. (RD I, V. 62–66)

36 Als sodomitisch verstehe ich hier im mittelalterlichen Sinn jegliches sexuelle Verhalten, das nicht der Fortpflanzung in der Ehe dienlich ist. Vgl. hierzu auch Hergemöller, BerndUlrich: Unzucht. In: LexMA 8 München (1997), Sp. 1275f.

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Einige Pflanzen – so der Erzähler – besitzen die Fähigkeit, Stumme zum Sprechen zu bringen, wenn man sie den Betroffenen oral einflößt. Diesen Wirkungszusammenhang macht er auch für das verantwortlich, was er in dem Garten beobachtet hat: das ward an der junkfrau schein (RD I, V. 67). Nun ist jedoch nicht von einer Stummheit der Jungfrau berichtet worden und um diese selbst geht es auch gar nicht. Vielmehr zeigt sich eine Wirkung andernorts am Körper der Frau: Von ainer wurz fugt sich das, / das die fud zu ir frauen sprach (RD I, V. 74f.). Die Vagina spricht. Warum sie dies tut, erklärt sie selbst noch einmal: da han ich / ain wurz in meinem mund (RD I, V. 86f.). Das illustre Phänomen scheint exakt der vom Erzähler geschilderten Funktionsweise zu folgen. Wenn also die Vagina plötzlich reden kann und Stummheit durch die orale Aufnahme von Pflanzen heilbar ist, muss dies heißen, dass die fud eine wurz in ›ihrem Mund‹ hat. Man kann hier eine weitere unkeusche und illegitime sexuelle Handlung vermuten, die noch einmal den schwierigen Status der Jungfrau zwischen Keuschheit und sexuellem Begehren betont. Es verweist darauf, was nun im Disput zwischen Frau und Vagina Thema sein wird und auch den Kern des Märe darstellt. Die Vagina hat ein Problem, sie fühlt sich vernachlässigt: »ir schaffent eu gar gut gemach überall an euerm leib. das ich da beleib, da ir mir immer er noch gut mit euerm willen selten tut!« (RD I, V. 76–80)

Die Vagina kritisiert, dass die Jungfrau sich stets ihrem restlichen Körper aufmerksam zuwende und ihn pflege, und fragt sich, weshalb sie überhaupt noch bei ihr bleibe, wo sie doch völlig vernachlässigt werde. Nach einer kurzen Verwunderung der Frau fährt die Vagina fort: »mich dunkt das gar ze vil, das ir euch hand so wol und ich des nit niessen sol, das man euch so schon an aller stat lieb durch meinen willen hat, ob ir mein enbernd, das ir dester unwerder wernd.« (RD I, V. 90–96)

Sie ist erbost darüber, dass die Frau so ein angenehmes Leben führt, das aber keine die Vagina befriedigenden Anteile beinhaltet, also keinen sexuellen Verkehr mit Männern. Ebenso stellt sie die These auf, dass die Frau immer nur ihres Geschlechtsteiles wegen begehrt worden sei, und behauptet, dass sie ohne Vagina bedeutend weniger wert sei. Damit unterteilt sie in ihrer Rede die Frau in ein weibliches Genus und einen weiblichen Sexus und weist diesen beiden Bereichen

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eine klare Hierarchie zu. Allein wenn das biologische Geschlecht, der Sexus, vorhanden sei, bestehe überhaupt die Möglichkeit, dass auch der übrige Teil der Frau bei potentiellen Werbern Beachtung findet. Gleichzeitig formuliert damit die Vagina eine scheinbare Vorliebe der Männer, die sich weniger auf die schöne Dame als vielmehr und vor allem auf den sexuellen weiblichen Part konzentrierten. Die Antwort der Jungfrau folgt sofort: die frau sprach: »wie mag das sein? das man mir durch den willen dein dieni, das gelaub ich nicht, die weil man mich so schön sicht. ich hör doch ie sprechen die man, das si mich gern sechen an und das si gern dienen mir. nun wänstu leicht, es sei von dir. ich han es dafür, ob man dich sech, das man dir doch nit lobes jäch, wenn du pist praun und darzu ruch, preit gefleckot an dem puch, das ich scham davon han, ob man dich solt sehen an. du pist zwar dem ungelich, das man mir dieni durch dich.« (RD I, V. 97–112)

Die Jungfrau formuliert nun eine nahezu exakte Gegendarstellung zu der von der Vagina vertretenen Position. Sie vertritt die Ansicht, dass gerade die Schönheit ihres für die Öffentlichkeit sichtbaren Körpers verantwortlich dafür ist, dass Männer sie wahrnehmen und ihr ihren Dienst erweisen wollen. Doch geht es ihr nicht allein um den Unterschied von Genus und Sexus als vielmehr um die Schönheit an sich. Der Grund nämlich, weshalb sie sich dagegen wehrt, die Vagina als ausschlaggebend für das Werben der Männer anzusehen, ist weniger die primär sexuelle Dimension dieses Körperteils als dessen angebliche Hässlichkeit: braun, rau bzw. pelzig und fleckig. Diese Attribute dienen hier dazu, das Körperteil von der Schönheit der Frau abzugrenzen und bereits vor einer dezidierten Fragmentierung über das Medium der Sprache sowie den Fakt des eigenen Sprachvermögens der Vagina eine Dissoziation herbeizuführen.37 Damit stehen sich zwei Auffassungen gegenüber, die sich scheinbar unvermittelbar uneinig darüber sind, welche Identitätskategorien – Schönheit oder 37 In Heinrich Wittenwilers Ring finden sich dieselben Attribute, wenn Mätzli sich lautstark und autoaggressiv mit ihrer Vagina auseinandersetzt. Vgl. Heinrich Wittenwiler: Der Ring. Text – Übersetzung – Kommentar. Nach der Münchener Handschrift. Hg., übers. und erl. v. Röcke, Werner unter Mitarbeit v. Goldenbaum, Annika. Mit einem Abdruck des Textes nach Edmund Wießner. Berlin, Boston 2012, S. 70, V. 1564–1568.

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auf Männer ausgerichtete Sexualität – dafür verantwortlich sind, dass eine Frau eine positive Sichtbarkeit gegenüber den werbenden Männern erlangt. Interessanterweise wird die Härte dieser bipolaren Situation gerade von der Vagina relativiert. Über den Vorwurf, ihr Aussehen würde jeglicher Vorstellung von Schönheit widersprechen und löse Scham bei der Jungfrau aus, beginnt sie von zorn […] sich strauben (RD I, V. 114) und kontert: »wann euer schöni vil lobes hat, mein breuni mir auch nit übel stat. ain ietlich ding man loben sol nach seiner farb, stat si im wol. ich sol sein praun und darzu ruch, wol geflecket an dem buch, brait zu dem nellen, dick und ho. das sol mein gestalt wesen also. so süllent ir haben, fraue mein, röseloten liechten schein, minneklich und wol gestalt.« (RD I, V. 119–129)

Im Gegensatz zur Frau, die sich selbst Schönheit zuspricht, ihrer Vagina aber explizit Hässlichkeit attestiert, nimmt die Vagina eine ungewöhnlich überlegte und vermittelnde Sichtweise auf die Kategorie der Schönheit ein. Beinahe erinnert es an eine Toleranzrede, wenn die Vagina fordert, einem jeden ding die Farbe und das Äußere zuzugestehen, das es besitzt. Damit spielt sie nicht nur sich in den Vordergrund, indem sie noch einmal alle bereits von der Jungfrau genannten Attribute positiviert, sondern gesteht auch der Jungfrau ihre Schönheit zu, die sich konstituiert durch typische Charakteristika wie rosenrote Hautfarbe und eine anmutige Gestalt. Nachdem sie damit also den Vorwurf der Hässlichkeit von sich gewiesen hat, kehrt sie zur Frage zurück, wer von ihnen beiden nun die werbenden Männer anzieht: »des lobes wirt euch zugezalt, und das allessant ist von mir. vil liebü frau, wend ir von euer schöni wissen dank, euch wer auch der dienst krank, den man durch euer schöni tät. ich wen, das man euch selten bät durch euer schön umb euern leib. es ward nie so schönes weib, hett si der fud nicht, ir schön wer gar entwicht.« (RD I, V. 130–140)

Die Vagina gesteht der Frau ihre Schönheit in vollem Umfang zu und räumt auch ein, dass diese von den Männern gelobt wird. Dass dies überhaupt geschehe,

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führt sie aber auf die Existenz des Genitals, also auf die Möglichkeit zum sexuellen Akt zurück und betont noch einmal, dass alle Schönheit einer Dame nichts wert sei, wenn es die Vagina nicht gäbe. Darum beklagt sie auch, dass sie ständig unter dem allerswechost wat (RD I, V. 144) verschwinden muss und fordert für sich ain klaines häftelein (RD I, V. 149) als Schmuck und Aufwertung. Indem sie die sexuelle Komponente so stark macht, destabilisiert die Vagina die kulturellen Konstrukte von Liebe und Weiblichkeit und weist auf die scheinbar natürliche Basis hin.38 Das Motiv der in einen oberen und einen unteren Part geteilten Frau findet sich bereits bei Andreas Capellanus. In seinem bedeutenden Traktat »De Amore« treten ein Mann und eine Frau in einer Diskussion gegeneinander an und verhandeln die Frage, welcher der beiden Teile vom Werber im Minnedienst zu fokussieren sei.39 Hierbei vertritt dauerhaft der Mann die Position, dass der obere Teil einer Frau, also die Schönheit, der begehrenswerte sei, während die Frau für den unteren Teil, ergo die sinnliche Lust plädiert. Damit kann man für den »Rosendorn« – speziell für die Szene der abgeschiedenen Jungfrau in ihrem Garten – konstatieren, dass hier die Jungfrau die männliche Sprecherrolle innehat, während der Vagina die der Frau zukommt.40 Interessanterweise ist es bei Andreas der männliche Sprecher, der den Versuch einer vermittelnden Position unternimmt und sich dabei auf die natürliche Struktur der Liebe beruft: »Ja, die logische Ordnung der Liebe fordert sogar dies, daß einer zuerst die ergötzlichen Wonnen des oberen Teils mit viel beharrlichem Insistieren erreicht, dann aber sukzessive zu den unteren fortschreitet.«41 Die Priorität des oberen Teils macht er zudem durch eine Metapher des Körpers deutlich, wenn er erklärt, dass mittels eines Rumpfes ohne Kopf eine Person nicht identifizierbar sei, ein Kopf ohne Rumpf hingegen sofort Auskunft über die Person geben könne.42 Die Position des Mannes kann damit als die der Makroebene, vor allem aber als die jener Gattungen betrachtet werden, die sich den höfischen Idealen verschrieben haben. Damit ist jene ideale Vorstellung von der höchsten höfischen Liebe als 38 Vgl. hierzu auch Gsell [Anm. 33], S. 285. 39 Vgl. Andreas Aulae Regiae Capellanus: De Amore. Libri Tres. Text nach der Ausgabe von E. Trojel. Übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen v. Knapp, Fritz Peter. Berlin, New York 2006, S. 322–335; I, 6, 533–549. Die Parallelen zwischen Andreas’ Traktat und dem »Rosendorn« erläutert auch Gsell sehr ausführlich. Vgl. Gsell [Anm. 33], S. 262f. 40 Ralf Schlechtweg-Jahn argumentiert ähnlich: Die Tatsache, dass eine Wurzel »zu einem Instrument der Selbstbefriedigung« wird, sieht er als ausschlaggebenden Grund dafür, dass die Jungfrau in ihrer Welt »auch noch die aktive, ›männliche‹ Rolle in der Sexualität« übernimmt (Schlechtweg-Jahn [Anm. 31], S. 105). 41 Andreas [Anm. 39], S. 168; I, 6, 545: Immo rationis istud ordo poscit amandi, ut superioris primo partis aliquis ad multam instantiam lasciva solatia consequetur, postmodum vero gradatim ad inferiora procedat. 42 Vgl. Andreas [Anm. 39], S. 334f.; I, 6, 548.

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einer sexuell unerfüllten, reinen ›Liebe im Geiste‹ gemeint, eine amor purus, die beim Erblicken und Betrachten, aber spätestens bei der keuschen Berührung des anderen Körpers innehält.43 Die Aussagen der Frau hingegen korrespondieren mit dem in der Schwankdichtung typischen Frauenbild des lüsternen, stark auf den sexuellen Akt ausgerichteten ›Weibes‹. Eine gewisse Umkehrung dieser Position, vor allem bezüglich des Mannes, findet sich im Märe »Die Heidin«. Hier wird einem Liebhaber von der Geliebten freigestellt, ob er den Teil oberhalb oder unterhalb des Gürtels besitzen wolle. Sein erster Impuls tendiert zum unteren Teil. Allerdings ruft er sich die Ordnung der Liebe ins Gedächtnis, was ihn dazu bewegt, den oberen Teil zu wählen mit dem Hintergedanken, dass der Weg zum unteren Teil dann nicht mehr weit sei. Und tatsächlich bewahrheitet sich diese Vermutung nach kurzer Zeit und gewisser Überlistung: Die Liebe ist erst vollständig, als beide Teile involviert sind.44 Im »Rosendorn« wie auch bei Andreas deutet sich bereits an, dass der Text keine Ideale einzelner Identitätskategorien diskutieren oder konstruieren möchte, sondern auf deren Überkreuzungsweisen und die daraus resultierenden Effekte abzielt, die sich im nächsten Teil des Märe sogleich offenbaren.

III.III Trennungszeit Die Jungfrau ist über die Rede der Vagina so erbost, dass sie diese stark beschimpft: »pfui dich, la dein klaffen sein! […] var hin von mir, gottes haß, du vertailtes swarzes kunder, rauch als ain merwunder. […] ich wil zwar besechen das, oder mich die leut baß haben oder dich.« (RD I, V. 153–169)

Sie befiehlt der Vagina, zu schweigen, zu verschwinden, doch vor allem beschimpft sie sie als swarzes kunder und als merwunder. Damit weist sie ihr einen tierischen, ja monströsen Status zu, der jeglicher Menschlichkeit entbehrt. Auch 43 Vgl. Duby, Georges: Frauen im 12. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1999, S. 591. Zum Ursprung der Begriffe der amor purus und amor mixtus vgl. Andreas [Anm. 39], S. 282–301; I, 6, 470–497. 44 Vgl. [Anonymus:] Die Heidin (B). In: Novellistik des Mittelalters. Hg., übersetzt u. kommentiert v. Grubmüller, Klaus. Berlin 2011 (DKV TB 47), S. 364–469, bes. S. 436–463.

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bei Andreas wird dieser Vergleich für den unteren Teil der Frau herangezogen. So behauptet der männliche Diskutant: Denn was die Wonnen des unteren Teils betrifft, sind wir von den unvernünftigen Tieren in nichts verschieden, sondern die Natur selbst vereint uns mit ihnen durch diesen Teil. Die Wonnen aber des oberen Teils sind eigens der menschlichen Natur zugeteilt und allen anderen Lebewesen von der Natur selbst verweigert.45

Die Jungfrau im »Rosendorn« zieht damit sprachlich eine Grenze an ihrem Körper und differenziert ihn entlang der Gegensatzpaare Mensch – Tier, Natur – Kultur sowie Vernunft – Unvernunft; sie möchte die Probe aufs Exempel machen, wer von ihnen beiden mehr Erfolg bei den Leuten, nicht einmal nur bei den Männern, hat. Dies hat zur Folge, dass nun das geschieht, was bereits die ganze Zeit in der Diskussion zwischen Jungfrau und Vagina angelegt war : mit mengen zächern schied si sich, / die fud von der fraue (RD I, V. 170f.). Es findet eine Körperfragmentierung statt, die Vagina löst sich von der Frau ab und läuft davon: gen ainer grienen aue / hub sich die fud, ward wild (RD I, V. 172f.). Dass sie in die Natur läuft und wild wird, greift noch einmal auf den bei Andreas vorhandenen Gedanken einer tierischen Natürlichkeit zurück, die dem bloßen weiblichen Geschlecht eigen sei. Gleichzeitig bewegt sie sich aber in Richtung einer Aue, also hin zu einem schönen Ort, an dem man eigentlich Kultur und Liebe erwarten würde. Damit ist bereits räumlich der Misserfolg angelegt, den die Vagina bald zu spüren bekommen soll. Über die Jungfrau erfahren wir, dass sie sich ohne Umschweife unters Volk mischt, um ihre neue Körperverfassung am lebenden Objekt zu testen: si wolt ain schüler treuten, der ir vil gedienet hett. die junkfrau des schülers bett laistet in dem sinne, das si wolt werden inne, ob ir dienti der schüler durch ir jugent, durch ir schön oder durch ir tugent,46 oder ob er wer

45 Andreas [Anm. 39], S. 324–327; I, 6, 536: Quantum enim ad partis pertinet inferioris solatia, a brutis in nullo sumus animalibus segregati, sed eis nos hac parte ipsa natura coniungit. Superioris vero partis solatia tanquam propria humanae sunt attributa naturae et aliis animalibus universis ab ipsa natura negata. 46 Trotz des oder in diesem Vers erscheint mir die Trias jugent, schön und tugent als ein zusammengehöriger Komplex, der als Ganzes der fud gegenübergestellt wird. Im »Rosendorn« (II) findet sich an dieser Stelle auch kein oder, sondern eine einfache Reihung: ob er ir dient umb ir jugent, / durch ir schön, durch ir tugent (RD II, V. 179f.).

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durch die fud ir diener. also bewag si sich dar. (RD I, V. 178–187)

Sie begibt sich gezielt zu einem Studenten, der sie schon mehrfach umworben hat und kommt seinem Bitten nach, um – wie es explizit heißt – herauszufinden, weshalb er ihr Minnedienst leistet, ob es wegen der typisch höfischen Attribute Jungendlichkeit, Schönheit und Tugend und damit aufgrund der Identitätskategorien ›Alter‹, ›Aussehen‹ und ›Höfischheit‹ geschehe, oder aufgrund ihrer Vagina. Die Identitätskategorien, die durch den Erzählverlauf bereits an die bekannten Körperregionen geknüpft sind, werden hier durch die Jungfrau als ein sich gegenseitig ausschließendes ›Entweder-Oder‹ konstruiert, die Möglichkeit einer Überkreuzung scheint nicht gegeben. Das desillusionierende Ergebnis des Tests lässt nicht lange auf sich warten: der schüler ward schier gewar, das die frau der fud nit hett. chläglich der schüler tet, der ir ze dienst pflag lang zeit und mengen tag, und ward offenlich gesagt, das nit fud hett die magt. (RD I, V. 188–194)

Es stellt sich heraus, dass der Student zum einen sehr schnell bemerkt, dass ihre Vagina abhandengekommen ist und dass er dies zum anderen auch als problematisch ansieht und dazu noch der Öffentlichkeit preisgibt. Nicht einmal mehr die Kategorie der Schönheit, die zu Anfang noch mit zwischengeschlechtlichem Begehren verbunden wird, vermag den Studenten zu affizieren. Insgesamt scheint die Frau für ihn ohne Vagina nicht mehr begehrenswert zu sein, sie »wird dadurch zu eine[r] trieblos liebenden, also zur Verkörperung eines minneethischen Ideals, dessen Verabsolutierung nun in ihren Folgewirkungen der Lächerlichkeit ausgesetzt wird.«47 Berücksichtigt man, dass dieser Werber ein Student ist und dass wir uns in der Gattung des Märe befinden, so mag dessen Reaktion wenig verwundern, hat Hanns Fischer die Figur des Studenten doch zum typischen Märenpersonal gerechnet, dass vor allem auf sexuelle Lust und listiges, ehebrecherisches Handeln fixiert ist.48 Dass die Defizienz der Frau aber über die Logik des schwankhaften Märe hinaus Bestand haben soll, wird schon deutlich, wenn man an dieser Stelle die Variante II des »Rosendorn« anschaut. Hier konfrontiert die Jungfrau ihren fragmentierten Körper nicht mit der Figur eines Studenten, sondern mit der eines Ritters (vgl. RD II, V. 176–186), zu dessen Merkmalen auch in der Märendichtung für gewöhnlich nicht sexuelle Lüstern47 Dicke, Gerd: Mären-Priapeia. Deutungsgehalte des Obszönen im ›Nonnenturnier‹ und seinen europäischen Motivverwandten. In: PBB 124 (2002), S. 261–301, hier S. 288. 48 Vgl. Fischer [Anm. 24], S. 121f.

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heit gehört.49 Wie allgemeingültig und betrachterunabhängig hier eine Defizienz des Körpers und der Frau aufgerufen werden soll, wird noch deutlicher, wenn es weiter heißt: da ward si genant die fudlos über alle land und ward ain fingerzaigen auf sie: »sechent, die fudlos ist hie.« und wa si gieng für die man, so cherten si die augen herdan, recht als er si nit säch. also laid si menig smäch von armen und von reichen. si lept als untrostleichen, das ir das leben begund laiden. (RD I, V. 195–205)

Die Jungfrau stößt aufgrund ihrer fehlenden Vagina im ganzen Land und bei allen Männern auf Ablehnung. Die kulturell erzeugte und anerkannte Weiblichkeit, mitkonstituiert von Schönheit und Tugend, reicht allein nicht aus, um einen Status der Sichtbarkeit zu erlangen, wobei doch gerade diese Attribute die für die Öffentlichkeit wahrnehmbaren sind. Obgleich die Vagina – selbst wenn sie vorhanden wäre – dem Blick des breiten Publikums ohnehin verwehrt bliebe, gibt ihr Fehlen am Körper der Frau den Anlass, sie landauf, landab und über Standesgrenzen hinweg zu diffamieren und zu marginalisieren. Denn damit fehlt ihr jegliche sexuelle Komponente. Und die Vagina? Der geht es laut Erzählerbericht nicht besser : Nun wil ich euch beschaiden, wie der fud ir ding ergie. wa si sich sechen lie, da war es ir missepotten, wann man het si für ain krotten. do gieng sie vil dick den mannen ze plick und wartet gen inen irs grüssen. da ward si mit den füssen gestossen vil sere. (RD I, V. 206–215)

Auch die Vagina als Objekt heterosexuellen Begehrens wird nicht als das wahrgenommen, was sie sein will, ja nicht einmal als das, was sie ist. Man hält sie für eine Kröte, ihr wird also lediglich ein tierischer Status zuerkannt, wie es die Jungfrau bereits getan hatte und wie es auch bei Andreas verhandelt wird. Hinzu kommt, dass »in der abendländischen Kultur […] die Kröte fast ausschließlich 49 Vgl. Fischer [Anm. 24], S. 119f.

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negativ besetzt [ist].«50 Nicht selten nimmt sie »innerhalb der christlich-moraldidaktischen Ikonographie die Rolle eines Lastertiers«51 ein und wird auf der Vagina sitzend dargestellt. Dementsprechend abweisend, sogar offensiv negativ wird sie behandelt, wenn sie versucht, die Blicke der Männer einzufangen. Es zeigt sich, dass die Identität der Vagina, sofern man denn in diesem Fall von einer sprechen kann, gänzlich zerstört und damit nicht wieder erkennbar ist, während die der Frau ›nur‹ ein starkes Defizit besitzt. Immerhin sorgt hier der obere Teil der Frau dafür, dass man sie noch als eine solche, wenn auch als fudlos, erkennt. Schnell wird aber beiden klar, dass ihre jeweilige Situation wenig zukunftsträchtiges Potential besitzt, wenn es darum geht, eine gewisse Anerkennung aus dem sozialen Umfeld zu erhalten. Reue und die Suche nach der Vollständigkeit des Körpers sind das Ergebnis.

III.IV Wiedervereinigung So parallel, wie die Zeit der Trennung für die Jungfrau und die Vagina geschildert wird, erfährt man nun über einen jeweiligen Klagemonolog, wie sehr die beiden ihre Trennung bereuen. Die Vagina kommt als erste zu Wort: sich begund ir trauren mere, und zu ir selber si sprach: »……………………………… da mir mein tummer mut geriet, das ich von meiner frauen schiet. man hett mich doch paß pi ir. si hat war gesait mir. nun muß ich laster dulden. nach meiner frauen hulden wil ich gern ringen.« (RD I, V. 216–225)

Sie bereut, dass sie davongelaufen ist, vor allem aber gesteht sie der Jungfrau zu, recht gehabt zu haben und bezieht den Misserfolg bei den Männern allein auf sich. Sie wünscht sich zu der Jungfrau zurück und möchte sich um deren Wohlwollen bemühen, um über sie aus ihrer Unsichtbarkeit heraustreten zu können. Mittels der motivischen Nähe zum Minnedienst wird hier eine gewisse Unterordnung von Sexualität unter die Schönheit und Tugend deutlich gemacht. Ganz ähnlich gestaltet sich die Reaktion der Frau: da begund auch die frauen zwingen manig grossü schmachait, 50 Gsell [Anm. 33], S. 298. 51 Gsell [Anm. 33], S. 299f.

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die si von den leuten lait, und gedacht in iren sinnen: »möcht ich mein fud wider gewinnen, so hett ich der sälden tail.« (RD I, V. 226–231)

Auch die Jungfrau gerät durch die Reaktion ihrer Umwelt ins Grübeln und ist sich sicher, dass das Glück ihr wieder zuteil wird, wenn ihre Vagina zurückkehrt. Obwohl der Text die Fragmentierung des Körpers hier noch beibehält, verweist er gleichzeitig auf die notwendige Zusammengehörigkeit und Abhängigkeit von Sexualität und Geschlecht. Indem Jungfrau und Vagina die Schuld bei sich selbst sehen und im jeweils nicht anwesenden Teil das Objekt des Begehrens vermuten, findet eine gegenseitige Aufwertung sowohl des weiblichen Genus als auch des Sexus statt. Doch auch die physische Wiedervereinigung lässt nicht lange auf sich warten, beide begeben sich auf die Suche nacheinander, finden sich und werden je minneklich enpfangen (RD I, V. 238). Wie ein Paar im Liebes- und Abenteuerroman, das nach der Trennungszeit wieder zueinander findet, klagen sie sich gegenseitig ihre schlimmen Erlebnisse. Damit ist nun erst einmal der Status, der vor der Trennung bestand, wiederhergestellt, mit dem einzigen Unterschied, dass weder Vagina noch Jungfrau sich selbst für das Objekt männlicher Begierde halten, sondern die jeweils andere. Das Märe ist jedoch noch nicht am Ende angelangt. Die Jungfrau sucht nämlich Rat, wie sie eine erneute Ablösung ihrer Vagina verhindern kann und lässt interessanterweise hierfür ausgerechnet nach dem Erzähler schicken und äußert ihm gegenüber ihr Problem:52 »nun gib mir deinen raut. mein ding mir kummerlich staut. mein fud was mir entrunnen. die han ich wider gewunnen. da bedarf ich deiner ler zu, wie ich meinen dingen tu, das ich innen pring die man, das ich mein fud wider han, und ler mich si wol behalten (wann du kanst sinne walten), das ich si müg behalten mit sinne, das si mir nit me entrinne.« (RD I, V. 247–258)

52 Zur Beobachter-Rolle des Erzählers und seine Einbeziehung in die Geschichte vgl. Ziegeler, Hans-Joachim: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen. München, Zürich 1985, S. 77f. Ziegeler sieht die »Einbeziehung des Dichter-Ichs in der Schluß-Passage des ›Rosendorn‹« als »formal – nicht inhaltlich!« (S. 78, Anm. 16).

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Die Bitte der Frau gliedert sich in zwei Teile, von denen der offensichtliche, wie die Vagina an einem erneuten Fluchtversuch gehindert werden könne, plötzlich zweitrangig ist. Die erste Frage bezieht sich darauf, wie den Männern – oder auch allgemeiner, den Leuten – vermittelt werden könne, dass sie nun wieder über eine Vagina verfüge. Erst im Anschluss daran appelliert sie an die Macht des Erzählers, sinne zu walten, und fordert ihn auf, dafür zu sorgen, dass ihre Vagina zukünftig an Ort und Stelle bleibt. Im Zuge der körperlichen Fragmentierung haben die Öffentlichkeit im Allgemeinen und männliche Geschlechtspartner im Besonderen vehement an Bedeutung für die Frau gewonnen. Lebte sie zu Beginn noch abgeschottet von der Außenwelt in einem Garten, widmete sich ausschließlich einer weißen Rosenhecke und verursachte willentlich eine Spaltung ihres Körpers, strebt sie nun nicht bloß eine dauerhafte Rehabilitation körperlicher Intaktheit und damit weiblicher Identität an, sondern zusätzlich und vor allem eine Sichtbarkeit gegenüber anderen. Zusätzlich geschieht dies alles bereits über die direkte Hinwendung zu einem Mann und zwar zu dem Mann, der kurz zuvor noch explizit von ihr durch die Umfriedung des Gartens getrennt war und sie nur heimlich beobachten konnte. Dieser Mann wird nun miteinbezogen, um den Status der Frau zu restituieren. Seinen Rat, das si die fud zu dem leib / vil vast nageln hieß / und das nit enließ (RD I, V. 260–262), möchte sie sofort befolgen und bittet den Erzähler, dies zu tun. Es scheint mir gerade im Kontext der Gattung Märe nicht überstrapaziert, im nageln eine sexuelle, phallische Konnotation zu lesen. Dieser Bitte kommt der Erzähler äußerst hilfsbereit nach. Er berichtet: do tet ich, des si mich bat: hinwider an die alten stat satzt ich die fud, als ich wol kund. ainen nagel sazestund ich vil vast dardurch traib. die fud immer mer belaib. (RD I, V. 265–270)

Die Distanz zwischen Jungfrau und Erzähler wird damit völlig überwunden. Durch ihre offensive Ansprache wird er aus einer heimlichen Beobachterposition herausgelöst und zu einem unmittelbaren Umgang mit ihrem Körper verpflichtet. Und erst das von einem Mann ausgeführte ›Nageln‹ – genauer : der Nagel – hat zur Folge, dass Frau und Vagina wieder zusammengeführt werden und dauerhaft verbunden sind. Aus diesem Einzelfall zieht der Erzähler schließlich folgendes Resümee: Also raut ich ainem ietlichen man, der ie liebes weib gewan, das er seinem weib nagle die fud zu dem leib,

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das ir die fud icht entrinn, oder er ist versaumpt seiner minn. (RD I, V. 271–276)

Er gibt damit letztlich die Antwort auf die im »Rosendorn« so aufwändig diskutierte Frage, welcher Teil einer Frau denn nun der entscheidende sei. Beide Teile sind von Bedeutung, der eine darf sich nicht vom anderen lösen und um dies zu garantieren, sollte ein jeder Mann die Teile aneinander nageln.

IV.

Fazit

Es konnte gezeigt werden, wie stark die Überlagerung unterschiedlicher Diskurstraditionen und die daraus resultierenden Identitätskategorien voneinander abhängen und miteinander wirken. Anleihen aus der Diskurstheorie sowie aus der Intersektionalitätsforschung haben dazu beigetragen, das kulturwissenschaftlich hochkomplexe Phänomen des Körpers und seine Einbettung in der Literatur auf unterschiedlichen Ebenen beschreibbar zu machen. Über die Topik des Rosengartens wird der Jungfrau eine keusche Identität verliehen, die zum einen zwar den Idealen von Enthaltsamkeit der Makroebene sowie denen höfischer Weiblichkeit entspricht, allerdings schon in ihrer Konstruktion problematisch erscheint, da sie eine sexuelle Komponente enthält, deren Ausrichtung zusätzlich nicht der Norm entspricht. Innerhalb der ideal-höfischen Sphäre des Gartens scheint der durch die Vagina vertretene Sexus der Jungfrau eindeutig zu viel zu sein, doch ändert sich dies prompt mit der Fragmentierung des Frauenkörpers. Diese führt beide in die Welt hinaus und zeigt, dass die Männer weder pure Schönheit der Frau noch pure vaginale Penetration anstreben. Während in der anfänglichen Idealwelt die Überkreuzung der Identitätskategorien Tugend und Schönheit einerseits und Sexualität andererseits Probleme erzeugt, ist in einer von Männern geprägten Welt plötzlich die singuläre Stellung von kulturell erzeugter bzw. natürlicher Geschlechtlichkeit problematisch. Jungfrau wie Vagina werden mit Herabwürdigung gestraft, keine der beiden wird mehr so wahrgenommen, wie sie es sich wünscht. Um die beiden Protagonistinnen aus ihrem marginalisierten Status herauszuführen, reicht es am Ende nicht, dass sie sich wiederfinden und sich beide einig sind, aufeinander angewiesen zu sein. Hier muss der Erzähler – ein Mann – noch nachhelfen und nageln, um alles an Ort und Stelle zu fixieren. Über den Körper der Dame werden damit auf der Identitätsebene Vorstellungen von Liebe, Sexualität und Weiblichkeit separiert, diskutiert und am Ende wieder zusammengeführt. Die »Notwendigkeit […] der Integration von Perso-

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nalität und Sexualität« werden »harmonistisch gelöst«53. Doch reicht ebendiese harmonische Zusammenführung nicht aus; erst die Penetration durch einen Mann – hier sogar Defloration – garantiert die Beständigkeit einer vollkommenen Weiblichkeit. Im »Rosendorn« setzt sich die vollständige, unproblematische und sichtbare Identität einer Frau nicht nur aus Schönheit und sexuellem Potential zusammen, sondern auch aus ihrem Verhältnis zum Mann. Die Teile für den ›Bausatz Frau‹ mögen vorhanden sein, doch benötigt es auch den Zimmermann, der diese zusammensetzt, um ihnen zu angemessener Sichtbarkeit zu verhelfen.54

53 Grubmüller [Anm. 22], S. 223f. 54 Für hilfreiche Hinweise und Gespräche danke ich Felix Florian Müller, Peter Somogyi, Elke Koch und Tilo Renz.

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›Heiden‹, Riesen, Gotteskrieger*in: Intersektionale Differenzierungsprozesse in den spätmittelalterlichen Prosaepen »Herzog Herpin« und »Loher und Maller«

Sich gegen andersgläubige Gegner im Kampf zu behaupten, ist ein zentrales Verhaltensmodell christlicher Protagonisten in mittelalterlichen Heldenepen. Für adlige Herren – denn es sind fast ausschließlich Männer, die kämpfen – ist es wichtig, ihre militärische Überlegenheit unter Beweis zu stellen: Auf diese Weise konstituiert und verfestigt sich ihre Identität. Die Gewalt ist gegen Kontrahenten gerichtet, deren Glauben nicht der christliche ist: Die Kategorie des Glaubens bzw. der Religion ist so mit der Formierung adliger, meist männlicher Identität verflochten. Diese Parameter gelten über einen langen Zeitraum für viele literarische Texte und sind auch in den spätmittelalterlichen Prosaepen »Herzog Herpin« und »Loher und Maller« aktiv. Diese beiden Texte sind im 15. Jahrhundert im Umkreis des Saarbrücker Hofes der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken entstanden. Sie sind über genealogische und chronologische Verknüpfungen miteinander verbunden und bilden zusammen mit der »Königin Sibille« und dem »Huge Scheppel« einen Epen-Zyklus.1 Die beiden Texte, um die es im Folgenden gehen wird, thematisieren in besonderem Maße – aus christlicher Perspektive – den Antagonismus zwischen Christen und Andersgläubigen: Auch wenn es bei Weitem nicht die einzigen Konflikte sind, die die Prosaepen diskutieren, so erzählen sie doch immer und immer wieder vom kulturellen und militärischen Zusammenprall der christlichen Protagonisten mit Widersachern, die über religiöse Differenz definiert werden.2 Dieser Konflikt bildet 1 Vgl. grundsätzlich von Bloh, Ute: Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: ›Herzog Herpin‹, ›Loher und Maller‹, ›Huge Scheppel‹, ›Königin Sibille‹. Tübingen 2002 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 119), Bastert, Bernd: Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum. Tübingen 2010 (Bibliotheca Germanica 54) und Gaebel, Ulrike: Chansons de geste in Deutschland. Tradition und Destruktion in Elisabeths von Nassau-Saarbrücken Prosaadaptationen, http://www.diss.fu-berlin.de/2002/8/gaebel [Letzter Zugriff: 24. Juli 2016]. 2 Vgl. grundsätzlich zur Darstellung Andersgläubiger in den Prosaepen Großbröhmer, Maren: Erzählen von den Heiden: Annäherungen an das Andere in den Chanson de gesteAdaptionen »Loher und Maller« und »Herzog Herpin«. Berlin 2017 (Philologische Studien

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mithin ein wirksames Erzählmodell, über das die Formierung von – aus Textperspektive – ›eigener‹ Identität und die Konturierung des ›Anderen‹ verhandelt werden.

I.

Methodische Grundlagen

Edward Said hat bereits 1979 in seiner Studie zum – modernen – ›Orientalismus‹ dargelegt, dass ›der Orient‹, wie er in Europa wahrgenommen wird, eine europäische Erfindung ist, die aus kolonialistischen, rassistischen und imperialistischen Impulsen und Sichtweisen gespeist wird.3 Es existiere – so Said – ein spezifischer europäischer Diskurs (im Foucaultschen Sinne), der den Orient unterwirft und ihn dabei allererst hervorbringt.4 Dabei sage dieser Diskurs mehr über das Selbstverständnis europäischer Kulturen aus, die sich als überlegen inszenierten und ihren hegemonialen Anspruch in spezifischen ›orientalistischen‹ Repräsentationen geltend machten, als über den Islam (den Said in besonderem Maße betrachtet).5 Said unterstreicht die gegenseitige Abhängigkeit der kulturellen Konstrukte ›des Westens‹ und ›des Orients‹. Das ›Andere‹ – in Gestalt des ›Orients‹ – begreift er als konstitutiv für die Formierung ›westlicher‹ Identitäten. Said hebt hervor, dass es ihm nicht um die »correctness of the representation« – etwa des Islam – gehe, sondern um die sprachliche Spezifik ›orientalistischer‹ Darstellungen (»style, figures of speech, setting, narrative devices, historical and social circumstances«6), um zu zeigen, mit welchen Mitteln ein Diskurs seine Wirkmacht und Langlebigkeit entfaltet. Mit seinen kulturwissenschaftlichen Arbeiten hat Edward Said den postcolonialism in den anglophonen Geisteswissenschaften mitetabliert. Die postcolonial studies verknüpfen politische Kritik an hegemonialen Ansprüchen der Kolonialmächte mit einer Kulturkritik an den Auswirkungen des Kolonialismus. Sie beschreiben neben diskursiven Machtstrukturen die Effekte des Kolonialismus für die Identität kolonialisierter Kulturen, aber auch auf das Selbstverständnis der Kolonialmächte. Kulturelle Wahrnehmungen und sprachliche Oppositionen werden besonders in den Blick genommen und dekonstruiert. Postcolonialism verweist als Begriff nicht einzig auf ein temporales ›Nach‹ dem Kolonialismus, sondern – wie Gilbert und Tompkins es formulieren – »postcolonialism is, rather, an engagement with, and contestation of, colonialism’s

3 4 5 6

und Quellen 261). Leider war es mir nicht mehr möglich, diese Dissertation in meinen Aufsatz einzuarbeiten. Vgl. Said, Edward: Orientalism. New York 1979. Vgl. ebd., S. 3. Vgl. ebd., S. 16f. Beide Zitate ebd., S. 21.

Intersektionale Differenzierungsprozesse in spätmittelalterlichen Prosaepen

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discourses, power structures, and social hierarchies«7. In der englischsprachigen Mediävistik gilt die postkoloniale Theorie bereits als produktiver methodischer Ansatz:8 postcolonial verweist in diesem Kontext nicht mehr konkret auf das Koloniale, sondern steht grundsätzlich für eine kulturkritische Textanalyse, die Begegnungen von Kulturen hinsichtlich der Wirkmacht von Wissensproduktion und kulturellen Repräsentationen untersucht, Postulate kultureller oder religiöser Dominanz kritisch betrachtet und damit verbundene Modelle der Identitätsformation beschreibt. Im Folgenden möchte ich den (gewaltsamen) Kulturkontakt zwischen Christen und Andersgläubigen, wie er im »Herzog Herpin« und im »Loher und Maller« verhandelt wird, aus dieser Perspektive analysieren. Zusammen mit der Kategorie Religion bzw. – im weiteren Sinne – kultureller Zugehörigkeit wirken noch weitere Kategorien, die Identitäten und Differenzierungen stiften und in den Texten auf spezifische Machtverhältnisse bezogen sind. Insofern ist ein intersektionaler Blick auf die Texte lohnend:9 Verschiedene »Differenzkategorien«10 sind hinsichtlich ihrer identitätsstiftenden Wirkung zu betrachten. Dabei ist die »Überkreuzung oder Überschneidung von Kategorien«11 zu veranschlagen, »die sich wechselseitig verstärken, abschwächen oder auch verändern können«12. Die Kategorien, die ich im Anschluss vorstelle und die die folgende Analyse leiten, orientieren sich an den Handlungsmodellen und Entwürfen von Identität, die die literarischen Texte hervorbringen. Im Zusammenspiel von Kategorien und textuellen Verfahren erfolgen Zuschreibungen von Identität und 7 Gilbert, Helen u. Tompkins, Joanne: Post-colonial Drama: Theory, Practice, Politics. London, New York 1996 (Performance Studies: Literature), S. 2. 8 Vgl. etwa Frakes, Jerold C.: Vernacular and Latin Literary Discourses of the Muslim Other in Medieval Germany. New York 2011 (The New Middle Ages) und The Postcolonial Middle Ages. Hg. v. Cohen, Jeffrey Jerome. New York, Houndsmills 2001 (The New Middle Ages). Für die germanistische Mediävistik vgl. Ott, Michael: Postkolonial Lektüren hochmittelalterlicher Texte. Publiziert am 15. 05. 2012. http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/ index/index/docId/24790 [Letzter Zugriff: 24. Juli 2016]. 9 In der mediävistischen Literaturwissenschaft ist der intersektionale Ansatz insbesondere in den Beiträgen im Sammelband Durchkreuzte Helden. Das »Nibelungenlied« und Fritz Langs Film »Die Nibelungen« im Licht der Intersektionalitätsforschung. Hg. v. von Bedekovic´, Natasˇa u. a. Bielefeld 2014 (GenderCodes 17) sowie von Schul, Susanne: HeldenGeschlechtNarrationen: Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in Nibelungen-Adaptionen. Frankfurt a. M. u. a. 2014 (MeLiS 14) und von Schul, Susanne: Abseits bekannter Pfade: Mittelalterliche Reise-Narrative als intersektionale Erzählungen. In: Intersektionalität und Forschungspraxis – Wechselseitige Herausforderungen. Hg. v. Bereswill, Mechthild u. a. Münster 2015 (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 43), S. 96–144, fruchtbar gemacht worden. 10 Winker, Gabriele u. Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 22010, S. 8 und öfter. 11 Walgenbach, Katharina: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen u. a. 22012, S. 48. 12 Winker u. Degele [Anm. 10], S. 10.

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Differenz. Narrative Positionierungsprozesse und Zuweisungen, die je nach situativem Kontext variabel sind, können spezifische Handlungsmöglichkeiten hervorbringen (oder einschränken).13 Bei einer historischen Perspektive auf literarische Texte ist zu beachten, dass intersektionale Analysekategorien zu historisieren sind. Kategorien wie Religion und Gender sind maßgeblich für mittelalterliche Prozesse der Identitäts- und Differenzbildung, ›funktionieren‹ aber anders als in der Moderne und sind mit anderen Bedeutungsspektren, Handlungsspielräumen und situativen Wertungen ausgestattet.14 Eine Historisierung der Gender-Kategorie15 hat insbesondere den Kontext von an Gewalt gebundenen Handlungsmodellen, wie sie in den Prosaepen zentral sind, zu berücksichtigen. In mittelalterlicher Deutung war identitätsbildende Gewaltausübung gemeinhin ausschließlich adligen Herren zugänglich, während adlige Damen kein Waffenrecht besaßen und mithin nicht als Rechtssubjekte galten. In vielen mittelalterlichen Texten wird diese Trennung jedoch unterlaufen.16 Dies geschieht auch im »Herzog Herpin«, in dem die Herzogin Alheyt exorbitante Waffentaten vollbringt, die eigentlich mit männlicher Kampfesstärke zusammenhängen. Gender orientiert sich hier an einem Handlungsmodell von ›Männlichkeit‹, das performativ17 und auch für Agierende offen ist, deren Genderzuordnung zunächst eine andere ist. Allerdings gilt diese Gender-Konstellation ausschließlich innerhalb des Adels, ist also ständisch gebunden, womit eine weitere historische Differenz der Analyse-Kategorie benannt ist.18 Die hier betrachteten Prosaepen diskutieren zudem – wie eingangs bereits gesagt – die Kategorie der Religion. Mit literarischen Darstellungskonventionen des christlichen wie des nicht-christlichen Glaubens entwerfen die Texte spezifische Deutungen, Machtstrukturen und Wertungsmechanismen. Dabei lassen sich Ansätze erkennen, die Repräsentant*innen des ›anderen‹ Glaubens zu rassisieren, wenn – wie Beatrice Michaelis darlegt – »Hautfarben, Physiognomien 13 Vgl. dazu grundsätzlich Böth, Mareike: Verflochtene Positionierungen: Eine intersektionale Analyse frühneuzeitlicher Subjektivierungsprozesse. In: Bereswill u. a. Münster [Anm. 9], S. 78–95. Zum Zusammenhang von sozialen Praktiken und sozialen Positionierungen vgl. Schul 2015 [Anm. 9], insbes. S. 100. 14 Vgl. etwa Kraß, Andreas: Einführung: Historische Intersektionalitätsforschung als kulturwissenschaftliches Projekt. In: Bedekovic´ u. a. [Anm. 9], S. 7–47, hier S. 27–34. 15 Vgl. grundsätzlich Klinger, Judith: Gender-Theorien: Ältere Deutsche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hg. v. Benthien, Claudia u. Velten, Hans Rudolf. Reinbek 2002, S. 267–297. 16 Vgl. Klinger, Judith: Ent/Fesselung des fremden Heros. S%vrit zwischen Exorbitanz und Assimilation. In: Bedekovic´ u. a. [Anm. 9], S. 259–301, insbes. S. 273–279. 17 Vgl. grundsätzlich Klinger, Judith: Ohn-Mächtiges Begehren. Zur emotionalen Dimension exzessiver manheit. In: Machtvolle Gefühle. Hg. v. Kasten, Ingrid. Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 24), S. 189–217. 18 Vgl. Klinger [Anm. 15] und Klinger [Anm. 16].

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und weitere somatische Merkmale«19 in Bezug zu religiösen und kulturellen Praktiken gesetzt werden. Obgleich die Kategorie ›Rasse‹ – die in jeglichem Kontext als sozio-kulturelle Konstruktion zu begreifen ist – im Mittelalter nicht existiert, gibt es in mittelalterlicher Literatur »Vorstellungen, die man aus heutiger Perspektive als protorassistisch oder ›rassisierend‹ bezeichnen kann«20. Im »Loher und Maller« und im »Herzog Herpin« – wie auch in anderen Texten – existieren jedoch analoge Textstrategien, die sich diesen Termini querstellen und die Alterität mittelalterlicher Identitätskonstruktionen hervorkehren. Denn nicht nur Vertreter*innen des ›fremden‹ Glaubens werden etwa über ihr Schwarz-Sein gekennzeichnet, sondern dies gilt zuweilen auch für christliche Protagonist*innen. In diesen Zusammenhängen wirkt Schwarz-Sein nicht rassisierend, sondern ist mit anderen Bedeutungen aufgeladen und in spezifischen Handlungsräumen verortet. Insofern fehlt nicht nur die Existenz einer mittelalterlichen Kategorie ›Rasse‹, sondern es kann zudem keinesfalls von grundsätzlichen oder einheitlichen Formen von ›Rassisierung‹ in vormodernen Texten ausgegangen werden. Stattdessen sind stets der situative Kontext und die spezifischen Bedeutungen zu berücksichtigen, in denen Schwarz-Sein oder andere ›Somatisierungen‹ wirken. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass bei der intersektionalen Analyse vormoderner Texte nicht nur Kategorien zu historisieren sind, sondern auch ihr »Zusammenspiel[]«21, über das sich spezifische Bedeutungen erst herstellen. Michaelis spricht davon, dass rassisierende Aussagen erst in »Koartikulation mit anderen Kategorien«22 in Erscheinung treten. Wenn ›Rasse‹ nicht als mittelalterliche Kategorie veranschlagt wird, dann ist von einem Zusammenspiel verschiedener Subjekt-Positionierungen auszugehen, das nur punktuell rassisierende Effekte hervorbringt. Neben der Historisierung bekannter Kategorien ist außerdem die Existenz von Kategorien und Differenzierungsmustern zu veranschlagen, die in mittelalterlichen Texten wirksam sind, in modernen Subjektpositionierungen jedoch nicht auftreten.23 Dazu gehört die Riesenhaftigkeit/Exorbitanz, die in den beiden Prosaepen eine zentrale Rolle spielt: Exorbitanz, die »Figuration eines Heldentypus, dessen Selbstmächtigkeit sich gesellschaftlicher Verbindlichkeit […] sperrt«, manifestiert sich insbesondere in der hohen »körperlich-kriege19 Michaelis, Beatrice: In/Kommensurabilität. Artikulationen von ›Rasse‹ im mittelalterlichen Nibelungenlied und in Fritz Langs Film Die Nibelungen. In: Bedekovic´ u. a. [Anm. 9], S. 147–163. 20 Kraß [Anm. 14], S. 31. Vgl. dazu in Zusammenhang mit Farbcodierungen Schausten, Monika: Suche nach Identität: Das »Eigene« und das »Andere« in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln u. a 2006 (Kölner Germanistische Studien 7), S. 70–109. 21 Kraß, [Anm. 14], S. 7–47, hier S. 27. 22 Michaelis [Anm. 19], S. 155. 23 Vgl. Klinger [Anm. 16], S. 260–272.

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rische[n] Potenz und Waffenfähigkeit« eines Helden.24 In ihr zeigt sich die besondere Qualitität und Herrschaftsfähigkeit des unvergleichlichen Helden; sie grenzt ihn von anderen Adligen ab. Da Exorbitanz die Singularität des Einzelnen hervorhebt, stellt sich dieses Phänomen Prozessen der Verallgemeinerung und der ›Gruppenbildung‹, die durch eine Kategorisierung vorgenommen werden, eigentlich quer, und ist deshalb eher als Differenzierungsmuster denn als tatsächliche ›Kategorie‹ zu bezeichnen. Allerdings sind Kategorien ebenfalls Differenzierungsmodelle, die in mittelalterlichen Texten durchaus nicht immer an Formen der Verallgemeinerung gekoppelt sind, sodass aus dieser Perspektive keine grundsätzliche Unterscheidung von Kategorie und Differenzierungsmuster vorliegt.25 Grundsätzlich bringt Exorbitanz identitäre Differenzierungen hervor, die nicht in einem Kontext von ›Diskriminierung‹ zu verorten sind, sondern Distinktion und Exzeptionalität hervorbringen.26 Damit ist eine weitere Besonderheit vormoderner intersektionaler Entwürfe benannt, auf die insbesondere Judith Klinger hingewiesen hat: Während es das Anliegen der modernen Intersektionalitätsforschung ist, Formen von (moderner) Diskriminierung aufzudecken und zu kritisieren, sind diese keinesfalls mit mittelalterlichen Formen von Ungleichheit gleichzusetzen. Stattdessen ist der historische Kontext hinsichtlich spezifischer Herrschafts- und Beziehungsstrukturen zu berücksichtigen, in denen Ungleichheit auch und gerade mit positiv gewerteter Singularität zusammenhängen kann.27 Meine Entscheidung für eine Doppelbenennung des Phänomens Riesenhaftigkeit/Exorbitanz resultiert daraus, dass analoge Entwürfe christlicher und andersgläubiger Identitäten mit unterschiedlichen Darstellungsstrategien und Wertungsmechanismen verkoppelt sind. Die überlegene Gewaltsamkeit der christlichen Held*innen bringt Exorbitanz hervor, die zwar körperlich begründet ist, sich aber nicht notwendigerweise in somatischen Spezifika manifestiert, die als ›gewaltig‹ oder gar ungeheuerlich wahrgenommen werden. Körperliche Riesenhaftigkeit eignet in den Prosaepen dagegen den ›herausragenden‹ Repräsentanten der ›fremden‹ Religion. Riesenhaftigkeit ist eine spezifisch leibliche Konfiguration religiöser Differenz, in der sich weitere Vorstellungen des Monströsen buchstäblich verkörpern. Ob damit eine andere Spezies 24 Klinger [Anm. 16], S. 269. 25 Vgl. grundsätzlich Klinger [Anm. 16]. 26 Vgl. dazu ebenfalls Klinger [Anm. 16]. Schnicke, Falko: Terminologie, Erkenntnisinteresse, Methode und Kategorien – Grundfragen intersektionaler Forschung. In: Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen. Hg. von Klein, Christian u. Schnicke, Falko. Trier 2014 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 91), S. 1–32, verweist auch für moderne Analysen von Intersektionalität darauf, dass nicht nur zwischen Diskriminierungen und Ungleichheiten zu unterscheiden ist, sondern zudem »Normalisierungs- und Privilegierungsmechanismen« (S. 5) in den Blick zu nehmen sind. 27 Vgl. Klinger [Anm. 16], S. 260–272.

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entworfen wird oder das Riesenhafte noch auf das ›Menschliche‹ bezogen ist, verhandeln die Texte nicht explizit. Deutlich wird die Sonderstellung der riesenhaften Protagonisten jedoch allemal, wenn sie sowohl durch ihre enorme Kraft als auch durch die Terminologie (risen) von anderen Kämpfern abgerückt werden. Der Körper bildet ein weiteres Konzept, das für die intersektionale Analyse bedeutsam ist: Die drei Kategorien und Differenzierungsmuster – Religion, Gender und Riesenhaftigkeit/Exorbitanz – sind jeweils mit spezifischen KörperInszenierungen verknüpft. Der Körper ist mithin nicht vorrangig als eigenständige Kategorie einer intersektionalen Analyse zu begreifen, sondern – wie Andreas Kraß betont – als »übergreifende Dimension, die alle Kategorien […] betrifft«28. Religion, Gender und Riesenhaftigkeit/Exorbitanz überkreuzen einander und generieren spezifische Identitäten, Machteffekte und Wertungshierarchien. Dies sind entsprechend die Achsen, anhand derer meine Textanalyse verlaufen wird. Neben den Verflechtungen der Differenzkategorien und der Identitäten, die sie hervorbringen, werden im Folgenden auch Strategien des Othering betrachtet, die in den Texten wirksam werden. Im Rahmen der Critical WhitenessForschung hat Maureen Maisha Eggers verschiedene Praktiken aufgelistet, die diskursiv ein Machtwissen über ›Andere‹ und ›Fremde‹ generieren: Dabei handelt es sich um Markierung, Differenzierung, Positionierung und Ausgrenzung ›fremder‹ Subjekte.29 Dieses Analysemodell kann auch literarische Strategien mittelalterlicher Texte beschreiben: Hier gilt es jedoch ebenfalls – wie bei der Betrachtung der Differenzkategorien und ihrer Überschneidungen – spezifisch mittelalterliche Konstellationen zu berücksichtigen. Das ›Andere‹ wird in diesem Konstruktionsprozess nicht nur untergeordnet oder ausgegrenzt, sondern zuweilen ganz unmittelbar in die – aus Textperspektive – ›eigenen‹ Identitätsentwürfe integriert.30 28 Kraß [Anm. 14], S. 14, Hervorhebung im Original. 29 Vgl. Eggers, Maureen Maisha: Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland. In: Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Hg. v. Ders. u. a. Münster 22009, S. 56–72. Eggers trennt die vier Ebenen methodisch, betont jedoch ihre Verschränkung und Bezüge untereinander. 30 Auf die Konversion als einer Möglichkeit des Wechsels von Identität kann ich hier nicht näher eingehen. Sowohl im »Herpin« als auch im »Loher« gibt es diverse Protagonist*innen, die zum Christentum konvertieren. Dies gilt vor allem für ›heidnische‹ Prinzessinnen. Die Konstellation, dass andersgläubige Herrschertöchter sich aus ihrem Familienverband lösen und christlichen Glauben annehmen, findet sich in diversen chansons de geste und Epen. Vgl. grundsätzlich Remensnyder, Amy G.: Christian Captives, Muslim Maidens, and Mary. In: Speculum 82 (2007), S. 642–677, und Ramey, Lynn Tarte: Christian, Saracen and Genre in Medieval French Literature. New York, London 2001 (Medieval History and Culture 3), weiter Daniel, Norman: Heroes and Sarazens. An Interpretation of the Chansons de Geste. Edin-

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II.

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›Heiden‹: Religion und punktuelle ›Rassisierung‹

»Herzog Herpin« und »Loher und Maller« folgen der Bezeichnungskonvention, die in christlich perspektivierten Texten mittelalterlicher Literatur und Historiographie dominiert: Sämtliche Nichtchristen werden mit dem »undifferenzierten Sammelbegriff«31 heiden bezeichnet.32 Dieser Terminus transportiert die abwertende Einstellung33 christlicher Hegemonialität gegenüber nichtchristlichen Religionen und setzt zudem religiöse Differenz per se als Gegenmodell zum Christentum.34 Wie in vielen literarischen Texten ist auch hier der historische Referenzrahmen, auf den sich das ›Heidentum‹ beziehen lässt, der Islam. Allerdings sind die heiden nicht an tatsächlichen muslimischen Glaubensinhalten oder rituellen Handlungen erkennbar, stattdessen werden sie in einem Arsenal negativer Stereotypen, literarischer Konventionen und verzerrter Darstellungen des Islam verortet.35 Deshalb existieren in der Forschung unterschiedliche Bezeichnungskonventionen. Armin Schulz etwa erklärt, dass er bei der Analyse mittelalterlicher Texte nicht von Muslimen spreche, »weil die abendländischen Erzählungen des Mittelalters den Monotheismus der ›Konkurrenz‹ nicht wahrhaben wollen«36 und die in den Texten dargestellten Glau-

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burgh 1985, S. 78–93 u. S. 192–202, und Frakes [Anm. 8], bes. S. 75–77 u. S. 79–82. – Die Texte imaginieren jedoch nicht nur eine Konversion zum Christentum. Im »Loher« findet sich zudem eine Konversion zum Islam: Vgl. Winst, Silke: Vom christlichen Ritter zum muslimischen Helden: Konkurrierende Glaubens- und Handlungsmodelle im spätmittelalterlichen Prosaepos Loher und Maller. In: Die Welt und Gott – Gott und die Welt? Zum Verhältnis von Religiosität und Profanität im »christlichen« Mittelalter. Hg. v. Vavra, Elisabeth u. Hundsbichler, Helmut (In Vorbereitung). Goerlitz, Uta u. Haubrichs, Wolfgang: Einleitung. In: Integration oder Desintegration? Heiden und Christen im Mittelalter. Hg. v. Dens. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 156 (2009), S. 5–11, hier S. 6. Vgl. auch das Kapitel »Saracens as Pagans« in Tolan, John V.: Saracens. Islam in the Medieval European Imagination. New York 2002, S. 105–134. Vgl. Gensichen, Hans-Werner : Art. Heidentum. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Müller, Gerhard. Berlin, New York 1985, Bd. XIV, S. 590–601, hier S. 593. Vgl. grundsätzlich Frakes [Anm. 8] zur theoretischen und methodischen Kritik am bisherigen Umgang der Forschung mit der Thematik und zur Anwendbarkeit methodischer Ansätze aus der postkolonialen Theorie. Vgl. weiter Bauschke, Ricarda: Der Umgang mit dem Islam als Verfahren christlicher Sinnstiftung in Chanson de Roland / Rolandslied und Aliscans / Willehalm. In: Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext. Hg. v. Friede, Susanne u. Kullmann, Dorothea. Heidelberg 2012, S. 191–215, zu christlichen Diffamierungsstrategien. Vgl. dagegen die Sammlung deutschsprachiger Aufsätze in Goerlitz u. Haubrichs [Anm. 31] ganz anderer methodischer Provenienz, etwa zur Darstellung des Eigenen und des Anderen. Vgl. Gensichen [Anm. 33], S. 594, der darauf hinweist, dass auch umgekehrt aus islamischer Sicht die Ungläubigen negativiert werden. Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Berlin, Boston 2012, S. 80, Anm. 7.

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bensgrundsätze den historischen Gegebenheiten nicht entsprechen. Dagegen spricht sich Jerold C. Frakes dezidiert für eine Bezeichnung der heiden bzw. Saracens als Muslime aus, denn »they are in terms of cultural identity never divorced – whether from the medieval or the modern audience – from an essential cultural connection to Islamic identity.«37 Wenn ich im Folgenden den Begriff ›heidnisch‹ benutze, dann stets kursiv oder in Anführungszeichen; der Terminus bezieht sich allein auf die mittelalterliche Textpraxis und soll die Spezifik der literarischen Darstellung und Textkonstellationen verdeutlichen. Der Begriff ›Muslime‹ kommt dagegen in den Texten nicht vor, ich benutze ihn als Gegenbegriff zu ›Heiden‹, um die historische Referentialität nicht aufzugeben. Wenn ich von ›Nichtchristen‹ und ›Andersgläubigen‹ spreche, rückt die Setzung einer christlichen Perspektive, die von den Texten vorgenommen wird, in den Vordergrund, die in diesen Fällen stets kritisch mitzudenken ist. Die beiden Prosaepen »Herzog Herpin« und »Loher und Maller« legen die Opposition Christen vs. ›Heiden‹ als ein zentrales Moment den Formationen von Identität, die sie verhandeln, zugrunde. Aufgrund der Zuschreibung von Differenzmerkmalen erfolgt eine Positionierung nicht nur ›fremder‹ Subjekte, sondern auch der Religion der Gegner. Nach Maureen Maisha Eggers steht eine solche »Positionierungspraxis«38 stets in Zusammenhang mit Hierarchiebildung und Einbindung des ›Fremden‹ in Machtstrukturen. Für die beiden spätmittelalterlichen Texte gilt, dass die Vorzugsstellung der christlichen Religion, der die Protagonisten anhängen, insbesondere über die Gegenbildlichkeit der fremden Religion greifbar wird. Der Anspruch auf christliche Dominanz ergibt sich aus dem Postulat der Rechtmäßigkeit des Glaubens, der auch an Wirksamkeit und Effektivität geknüpft ist, insbesondere an Gottes Kampfeshilfe, die zum Sieg des christlichen Kämpfers führt. Als Gegenteil entwerfen die Texte einen defizitären Glauben, der durch verschiedene Stereotype gekennzeichnet ist, die sich auch in anderen mittelalterlichen Texten finden. So beten etwa im »Herzog Herpin« die ›Heiden‹ eine Trias von Göttern bzw. aptgöden39 (HH, 483,17) an, die eben keine Trinität40 bilden: Mahon, Apollo, Derbergan (HH, 483,17). Oft wird auch nur auf einen oder zwei Götter41 37 Frakes [Anm. 8], S. 39. 38 Eggers [Anm. 29], S. 57. 39 Ich zitiere nach der Ausgabe: Herzog Herpin. Kritische Edition eines spätmittelalterlichen Prosaepos. Hg. von Bastert, Bernd unter Mitarbeit von Häberlein, Bianca u. a. Berlin 2014 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 51). Im Folgenden beziehen sich die Seiten- und Zeilenangaben hinter den Zitaten auf diese Ausgabe. 40 Ricarda Bauschke hat die entsprechende Trias in der »Chanson de Roland« als »heidnische Trinität« bezeichnet, betont aber, dass die ›heidnischen‹ Götter keine Einheit bilden. Zudem hat sie die Ursprünge der Götter – neben dem Islam – in der antiken und der ägyptischen Tradition bestimmt (Bauschke [Anm. 34], S. 197). 41 Vgl. weiter HH, 118,1; 139,5 und 10; 141,18–20; 142,17f.; 455,6; 522,6f; 537,6; 551,23 u.

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oder allein auf Machmet bzw. Mahon verwiesen.42 Im »Herzog Herpin« sind es einmal sogar vier gode (HH, 605,4), deren Namen an dieser Stelle allerdings nicht genannt werden. In welcher Zahl die Götter auch jeweils erscheinen, ihre Unterlegenheit unter den christlichen Gott ist sicher. Dabei postulieren die Texte nicht nur die Minderwertigkeit der anderen Religion, sondern entwerfen eine Religion, die nicht islamischen Glaubensgrundsätzen entspricht,43 wenn etwa der monotheistische Islam als polytheistische »Mischreligion«44 dargestellt wird, oder Machmet bzw. Mahon als Gott verehrt wird, während der Prophet Muhammad im Islam nicht als Divinität gilt. Die Texte bedienen sich weiterer Darstellungskonventionen, mittels derer die ›fremde‹ Religion zum minderwertigen Gegenpol zum Christentum gemacht und derart in einer hegemonialen Struktur positioniert wird. So beten die ›Heiden‹ Standbilder ihrer Götter an (obgleich im Islam ein Abbildungsverbot Gottes herrscht).45 Im »Loher« kommt im ›heidnischen‹ Gottesdienst eine Statue Machmets zum Einsatz: Das bilde was verguldet vnd was inwendig hole. So ymant dar inn stunt zu˚ reden, so stunde es, als ob das bilde redt46 (LM, 354,4–6). Der Priester Callifis versteckt sich im Standbild und predigt, als ob er Gott selbst wäre. Damit ist neben dem Vorwurf der Idolatrie ein weiteres Stereotyp benannt, nämlich der Vorwurf, dass Betrug die Basis des anderen Glaubens bilde. Hinzu kommt, dass die ›Heiden‹ nicht beständig in ihrem Glauben sind, sondern sich bei Niederlagen von ihren Göttern abkehren und diese sogar demütigen. So wird im »Herpin« berichtet: Als der konnig sach, das {sin roß} doit was, do wart er sere bedrübet. Er verleuckent Derbergan vnd Mahon vnd sprach: »Ir falschen gode, wann ich nü wyder heym kommen, so wil ich mit eyme güden stecken üwer heubt gar zurslagen « (HH, 537,4–8). Im »Loher« wird die Schilderung der Anbetung von Standbildern indes von einem christlichen Pendant flankiert: Das in Frankreich eingefallene Heer König Gormans stößt in einem Kloster auf ein Kruzifix. Die Eindringlinge machen sich über den Gekreuzigten lustig, erhalten aber keine Antwort.

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601,17. 147,4 und 466,25 werden Mahon vnd Iupiter genannt. Im »Loher« taucht Apoll nicht auf, Derbergan nur zweimal: Die heyden rieffen an ir göte Machmet vnd Derbergan (LM, 402,7f.). Der Name Derbergan erscheint noch einmal 372,15. Ich zitiere nach der Ausgabe: Loher und Maller. Kritische Edition eines spätmittelalterlichen Prosaepos. Hg. v. von Bloh, Ute unter Mitarbeit von Winst, Silke. Berlin 2013 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 50). Im Folgenden beziehen sich die Seiten- und Zeilenangaben hinter den Zitaten auf diese Ausgabe. Vgl. nur LM, 44,1; 53,10; 352,26; 393,2. Vgl. dazu Bauschke [Anm. 34]; Frakes [Anm. 8], bes. S. 33–35. Bauschke [Anm. 34], S. 197. Vgl. etwa HH, 147,5–15; LM, 354,2–355,3. Ich zitiere nach der in [Anm. 41] angegebenen Edition.

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Ir einer sprach: »Gesich zu, er wil vns nit antwürten. Wir wöllen yn machen kallen.« Sye gedygen mit exten vnd mit swerten an yn vnd hyewen yn herabe. Da geschach eyn groß wünder zeychen: Wo sye das crucifix traffent, da ging das blu˚t her vss. Von dem zeychen würden darnach vyl heiden bekert. (LM, 376,16–22)

Der Gegensatz zwischen Christen- und ›Heiden‹tum beruht hier mithin nicht darauf, ob Standbilder angebetet werden oder nicht, sondern in der Wirksamkeit der kultischen Praxis. Während die Statue Machmets – durch den Betrug des Priesters – nur den Anschein erweckt, reden zu können, manifestiert sich am Kruzifix Göttlichkeit durch ein Blutwunder. Das blutende Abbild verweist zum einen auf zentrale christliche Glaubensinhalte, zum anderen vermittelt es über körperliche Präsenz und Fassbarkeit des Leidens Christi eine Authentizität des christlichen Glaubens, die auch für Andersgläubige direkt zugänglich ist. Der »Herzog Herpin« setzt den Islam zusätzlich herab, wenn er von den Todesumständen Mahons erzählt. Herzog Herpin behauptet: » […] üwer got Mahon, der ist viel snöder dan die ander gode vnd wil uch sagen war vmb: Er wart vff eyner mysten von eyme swin erwurget, dar vmb essen die heyden noch keyn swy¨nen fleysch. « Da die andern crysten den hertzogen horten, sy begonden alle sere zu lachen vnd sprachen alle über lute: »Ir hant war gesagt! « (HH, 479, 23–480,3).47

Der »Herpin« greift hier auf eine klerikale Tradition polemischer MuhammadBiographien48 zurück, die im 12. Jahrhundert entstanden sind.49 Dazu gehören die »Vita Mahumeti« Embricos von Mainz, die »Vita Machometi« von Adelphus sowie die in den »Dei Gesta per Francos« Guiberts de Nogent enthaltene Lebensgeschichte Muhammads. In allen drei Biographien wird erzählt, dass Muhammad von Schweinen verschlungen wird.50 Diese Texte partizipieren an einem gelehrten Diskurs, der seinerseits weit verbreitete Vorstellungen inkorporiert.51 Eine Textstrategie kommt zum Einsatz, die korrektes Wissen (das 47 Ähnlich noch einmal HH, 560,11–13. 48 Vgl. Tolan [Anm. 32], S. 137. 49 Muhammad-Biographien entstanden bereits früher, aber die aus dem 12. Jahrhundert teilen spezifische Charakteristika (vgl. Tolan [Anm. 32], S. 139). 50 So heißt es in der »Dei Gesta per Francos«: Cum subitaneo ictu epylenseos sepe corrueret, quo eum superius diximus laborare, accidit semel, dum solus obambulat, ut morbo elisus eodem caderet et inventus dum ipsa passione torquetur a porcis in tantum discerpitur, ut nullae eius preter talos reliquiae invenirentur. (Guibert de Nogent: Dei Gesta per Francos et cinq autres textes. Hg. v. Huygens, Robert B.C. Turnhout 1996 [CCCM 127 A], I, S. 99,382–387; Übersetzung: Guibert de Nogent: The Deeds of God through the Franks. Trans. Levine, Robert. Woodbridge 1997, S. 33: »Since he often fell into a sudden epileptic fit, it happened once, while he was walking alone, that he suddenly fell into a fit; while he was writhing in this agony, he was devoured by pigs, so that nothing could be found but his heels.«) Zum Zusammenhang von Nahrungstabu und sexuellem Exzess, der mit Schweinen assoziiert wird, vgl. Levine, Robert: »Satiric Vulgarity in Guivbert de Nogent’s Gesta Dei per Francos.« In: Rhetorica 7 (1989), S. 261–273, hier S. 268f. 51 John V. Tolan hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese Texte nicht vornehmlich als

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Nahrungstabu) mit »verfälschende[n] Aspekten«52 (den Todesumständen) kombiniert. Diese Strategie wird dazu benutzt, um den anderen Glauben lächerlich zu machen und ihn herabzusetzen.53 Letztlich ist aber auch die Geschichte von Muhammads Tod ein verzerrtes Spiegelbild christlicher Sinnstiftung: So wie der Tod Christi zentrale Vorstellungen und Bedeutungen des christlichen Glaubens sinnfällig macht, wird auch der Tod Muhammads in eine bedeutungsstiftende – freilich abwertende – Erzählung überführt, die ein muslimisches Nahrungstabu erklären soll.54 Diese spezifisch christlichen sinnstiftenden Strategien sowie die oben genannte Analogisierung von ›Götzenbild‹ und Kruzifix zeigt indes gleichzeitig, dass die vordergründigen Oppositionen Christentum vs. ›Heidentum‹ nicht klar voneinander zu trennen sind und sich stattdessen gegenseitig durchdringen, eine Überkreuzung also auch innerhalb einzelner Analysekategorien stattfinden kann und nicht nur zwischen ihnen.55 Die Frage, inwiefern Wissen über den Islam den Autorinnen und Autoren der Texte zugänglich war oder nicht, ob also die Darstellung von Muslimen mit Ignoranz oder mit bewusster Entstellung zu erklären ist,56 ist bei einer Textanalyse, wie Said sie vorgeschlagen hat oder wie sie aus der Perspektive der Critical Whiteness-Forschung vorgenommen wird, zweitrangig. Stattdessen ist von einer diskursiven Formation des ›fremden‹ Glaubens auszugehen, die sich aus verschiedenen Missverständnissen, Vorstellungen und literarischen Konventionen speist.57 Nicht die Gegenüberstellung von Unkenntnis und Wissen bzw. Wahrheit und Fehlerhaftigkeit ist zentral. Stattdessen ist zu betonen, dass diskursive Formationen als institutionell verankerte Redeweisen Aussagensysteme hervorbringen, die spezifische Sinnzusammenhänge produzieren. Diese strukturieren ihrerseits Wirklichkeit. Insofern wirken literarische Texte – als Teil der diskursiven Formation, die Aussagen über den Islam und Muslime hervor-

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gelehrte oder klerikale einzuordnen seien, sondern dass »a real (if limited) ›learned‹ knowledge of Islam and of Muhammad’s life is inextricably mixed with imaginary ›popular‹ images« (Tolan [Anm. 32], S. 137). Bauschke [Anm. 34], S. 199. Für die »Chanson de Roland« hat Bauschke [Anm. 34], S. 199, diese Strategie beschrieben. Eine weitere spezifische Form des ›Heidentums‹ im »Herpin« ist der Teufelsbund, wie ihn Gombaus eingeht. Vgl. HH, 527,18–559,17. Vgl. Schnicke [Anm. 26], S. 6f. Diese Sichtweise steht im methodischen Zusammenhang, der die Wirksamkeit von Analysekategorien nicht so sehr im Kontext von Intersektionalität (Überkreuzung), sondern von Interdependenz (den Kategorien inhärenten gegenseitigen Abhängigkeiten und Durchdringungen) sieht. Vgl. dazu auch Schul 2014 [Anm. 9], S. 50–56. Tolan [Anm. 32], S. 106, etwa spricht von »a propagandistic effort«, »[t]his is not mere literary convention«. Vgl. Said [Anm. 3], S. 60–62, sowie Daniel, Norman: Islam and the West. The Making of an Image. Oxford 1960 u. Southern, Richard W.: Western Views of Islam in the Middle Ages. Cambridge, Mass. 1962.

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bringt – auf Deutungsmuster und Verstehensmodelle von Welt ein. Sie sind Teil eines komplexen Prozesses der Produktion und Aneignung von Wirklichkeit, in diesem Fall: der Wahrnehmung von Muslimen und Islam über Literatur. Hinsichtlich der Prozesse von Identitäts- und Differenzbildung, die mit der Kategorie der Religion verknüpft sind, ist festzuhalten: Eine zentrale Strategie zur Konstituierung christlicher Identität ist die, sich vom religiös definierten ›Anderen‹ abzugrenzen. Im »Herzog Herpin« und im »Loher und Maller« – und in anderen mittelalterliche Texten – wird das ›Andere‹ ganz spezifisch über Gegenbildlichkeit erzeugt. Muslime sind jedoch nicht als sie selbst als religiöse Widersacher relevant, sondern als Negativbilder der Christen. Religiöse Glaubensinhalte und Praktiken der ›Heiden‹ erlangen nur insofern Bedeutung, als sie als Zerrbild zum positiven christlichen Pendant erscheinen. Tatsächliche historische Konstellationen sind für die Texte zweitrangig, stattdessen existieren diskursive und literarische Muster, wie das ›Heidentum‹ dargestellt und in einer Machtstruktur positioniert und untergeordnet wird. Ihre Wirksamkeit und ihre longue dur8e resultieren wohl aber auch daraus, dass Zutreffendes und Herabsetzendes miteinander verwoben wird.58 In den textuellen Prozessen der Zuschreibung von Identität und Differenz manifestieren sich indes »inhärente Spannungen und Überschneidungen«59 innerhalb der Kategorie ›Religion‹, die die von den Texten behauptete, vordergründige Oppositionalität der Religionen gleichzeitig unterlaufen: Das ›Heidentum‹ wird einerseits als die ›andere‹, inferiore Religion entworfen, andererseits ist dieses ›Andere‹ nicht in tatsächlichen Glaubensinhalten oder Praktiken verankert, sondern stets ein negatives Zerrbild des Christlichen. Dergestalt zeigt sich, dass über die Kategorie ›Religion‹ miteinander konkurrierende und einander überkreuzende Positionierungen vorgenommen werden. Diese sind gelegentlich mit der Darstellung somatischer Spezifika verknüpft: Obwohl in den beiden Prosaepen – anders als in anderen Texten60 – ›Heiden‹ nur selten mit Schwarz-sein in Verbindung gebracht werden, wirkt eine solche quasi rassisierende Text-Strategie zuweilen auch hier. Die Zuschreibung von somatischen Differenzen, die an religiöse und kulturelle 58 Strohschneider, Peter : Fremde in der Vormoderne: Über Negierbarkeitsverluste und Unbekanntheitsgewinne. In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hg. v. Becker, Anja u. Mohr, Jan. Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), S. 387–416, hat für das »Rolandslied« beschrieben, wie religiöse »Differenz zur Eigenposition« (S. 399) als abweichend wahrgenommen und abgewertet wird, aber nicht auf das ›Andere‹ als »deutungsungewiss und interpretationsbedürftig, ja womöglich irreduzibel Fremdes« (S. 399) verweise, sondern dies letztlich als »bekannt und vertraut« (S. 400) inszeniert werde. 59 Klinger [Anm. 16], S. 271. 60 Vgl. etwa Belakane im »Parzival« oder die ›Heiden‹ im »Rolandslied«. Vgl. zur Analyse von Schwarz-Sein bei Wolfram Frakes [Anm. 8], S. 64–86.

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Praktiken gekoppelt sind, gehört – nach dem Modell von Eggers – zur Markierungspraxis, bei der Subjekte und Gruppen »mit Eigenschaften belegt«61 werden, die sie in Opposition zur als ›weiß‹ gedachten Gruppe62 stellen. So heißt es im »Loher und Maller«, die schwarze Bevölkerung von der more lant (LM, 162,11) gelicht den hellyschen tüffelen (LM St. 164,1f.). Während also zunächst davon die Rede ist, dass die Schwarzen den Teufeln gleichen, wird diese Differenz im Anschluss übersprungen, wenn dieselben Personen als swartze […] tüfel (LM, 164,3) bezeichnet werden. Dass die Konstruktion von Schwarz-Sein nicht nur in der Moderne stets an eine Bewertung gekoppelt ist, ist in der Forschung verschiedentlich gezeigt worden. So schreibt etwa Geraldine Heng zu spätmittelalterlichen Vorstellungen von Farbe: »blackness is not neutral, but negatively valenced«63. Jerold C. Frakes erörtert, dass für mittelalterliche Texte durchaus von einer ›rassistischen‹ Einstellung ausgegangen werden kann: Diese sei nicht – wie in der Moderne – an (pseudo-) biologische, sondern an theologisch-ontologische Kategorien geknüpft: »the state of being ›White and Christian‹ thus differs in an absolute sense from the state of being ›black and Muslim‹«.64 Obgleich in mittelalterlichen Texten das christliche Äthiopien als eine Bedeutung für ›Morland‹ überliefert ist,65 ist im »Loher« Morland oder Moriande eine Stadt, deren Herrscher (ein mohr, LM, 343, 1)66 und Einwohner ›Heiden‹ sind. Während more im ersten Zitat explizit mit Schwarz-Sein in Verbindung gebracht wird, geschieht dies hier nur implizit. Dort heißt es von zehn ›heidnischen‹ Prinzessinnen: Ihr uier waren mörine, die anderen sechß, so nicht mörine waren, die waren sehr schön (LM, 344,14–16). Der Begriff mörine wird lakonisch mit Hässlichkeit gleichgesetzt; in Zusammenhang mit dem obigen Zitat ergibt sich diese daraus, dass die Mädchen schwarz sind.67 61 Eggers [Anm. 29], S. 57. 62 In mittelalterlichen Texten wird weiße Hautfarbe freilich vorrangig als Adelsmerkmal gedacht. Vgl. etwa Kraß [Anm. 14], S. 31. Dieses gilt – z. B. im »Loher und Maller« – auch für die ›Heiden‹, denn – wie bereits gesagt – ist das Schwarz-Sein hier kein vorherrschendes oder durchgängiges Kennzeichen für die Vertreter*innen der ›fremden‹ Religion. 63 Heng, Geraldine: The Romance of England: Richard Coer de Lyon, Saracens, Jews, and the Politics of Race and Nation. In: Cohen [Anm. 8], S. 135–171, hier S. 163, Anm. 7. 64 Frakes [Anm. 8], S. 68. 65 Dies hat Uta Goerlitz für den »Herzog Ernst« gezeigt: vgl. Goerlitz, Uta : »… Ob sye heiden synt ader cristen…« Figurationen von Kreuzzug und Heidenkampf in deutschen und lateinischen »Herzog Ernst«-Fassungen des Hoch- und Spätmittelalters (HE B, C und F). In: Goerlitz u. Haubrichs [Anm. 31], S. 65–104, hier S. 80. Vgl. auch Szklenar, Hans: Studien zum Bild des Orients in vorhöfischen deutschen Epen. Göttingen 1966 (Palaestra 243), S. 155. 66 Vgl. auch LM, 357,14f. 67 Im »Herzog Herpin« erscheint Mörlant (HH, 654,4) ebenfalls als ›heidnisches‹ Herrschaftsgebiet, hier wird der Terminus allerdings nicht mit Schwarz-Sein in Verbindung

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Im »Herpin« hat der ›heidnische‹ König Otmase zwar einen schwarzen Leib, wird aber nicht als mor bezeichnet: Dem […] waren sin ougen rot, sin antlitze stunde yme als eyn düffel, sin fleyß was swartz als ein back offen, sin lip was kromp vnd vngeschaffen, solichs dufels glichen was nyrgen in aller heydenschafft (HH, 704,21–25). Auch hier wird zunächst die Ähnlichkeit mit einem Teufel evoziert, die sich – neben dem schwarzen Leib – aus den roten Augen und den Körperkonturen ergibt, die normativer Leiblichkeit widersprechen.68 Nachdem Oleybaum Otmase getötet hat, wird offenbar, dass letzterer dem Teufel nicht nur glich: Der Teufel fährt aus Otmases Körper heraus in einen Fisch, der fortan sein Unwesen in den Gewässern treibt, bis auch er getötet wird. Otmases Aussehen korrespondiert mithin nicht nur mit seiner Bosheit und Bedrohlichkeit, sondern ist eine konkrete Verkörperung des Teuflischen. Eine solche Dämonisierung oder die Ausstattung mit teuflischen Zügen markiert Andreas Kraß ebenfalls als »rassisierende Tendenz«.69 Neben den oben besprochenen Negativbewertungen des Schwarz-Seins, die sich auf Hässlichkeit und Gottlosigkeit religiöser Gegenspieler beziehen, dient in beiden Prosaepen für christliche Protagonisten das geschwärzte Äußere als Mittel, ihre Identität zu wechseln: So verstellt Maller seine Identität und reibt sich mit Kräutern ein,70 um sich als ›Heide‹ ins Lager der Gegner einzuschleichen und Loher zu befreien.71 Lewe gelangt mit geschwärztem Gesicht als falscher Pilger verkleidet nach Ryge, um Florentyne wiederzusehen.72 Sowohl Lewe als auch Maller beherrschen die heydische[] sprach (HH, 454,8; vgl. LM, 42,10f.). Insofern bedienen sich die Protagonisten identitärer Wechsel73 und Zonen des Übere

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69 70

71 72 73

gebracht. Mörlant könnte auch in sprachlicher Verbindung zu mor – Meer – stehen und damit eine quasi-geographische Angabe sein. Zu Dis/Ability als Kategorie intersektionaler Analyse vgl. Kraß [Anm. 14], S. 34, sowie Bedekovic´, Natasˇa: Behinderte. Helden. Ability und Disability in Fritz Langs Film Siegfried. In: Bedekovic´ u. a. [Anm. 9], S. 121–145. – Auffällig ist, dass Otmase aufgrund seiner Körpergestalt nicht etwa durch einen »Mangel an Handlungsfähigkeit« (Kraß [Anm. 14], S. 34) gekennzeichnet ist, sondern stattdessen von seiner Handlungsmacht erzählt wird. Kraß [Anm. 14], S. 33. Vgl. LM, 41,24f. Allerdings wird nicht explizit gesagt, dass Mallers Äußeres nun schwarz ist, sondern dass es durch die Kräuter verändert wird: Maller hatt sich so verstalt mit krüde, da e mit er sin antlitz vnd hende geriben hette, das yne nieman erkennen mochte. So kunde er der heyden gebere vnd ouch die sprach wol. Wer yn gesach, der meynt nit anders, dann das er eyn heyden were (LM, 42,8–12). Vgl. LM, 42,12–51,24. Yderman gloubt Lewen, dann sin antlitze was swartze (HH, 291,14f.). Zum Wechsel von Identität im »Loher und Maller« vgl. von Bloh, Ute: Gefährliche Maskeraden. Das Spiel mit den Status- und Geschlechterrollen (›Herzog Herpin‹, ›Loher und Maller‹, ›Königin Sibille‹, ›Huge Scheppel‹). In: Zwischen Deutschland und Frankreich. Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken. Hg. v. Haubrichs, Wolfgang u. Hermann, Hans-Walter. St. Ingbert 2002 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 34), S. 495–515 u. Winst, Silke: Narration

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gangs, um ihre Ziele zu erreichen. Das Schwärzen wird strategisch eingesetzt, wodurch gleichzeitig Grenzen zwischen Körperinszenierungen des ›Eigenen‹ und des ›Anderen‹ aufgerufen und durchlässig werden. Dass Schwarz-Sein nicht nur im Kontext rassisierender Konstruktionen steht, ist auch an weiteren Beispielen ablesbar. Im Schwarz-Sein kann sich am Körper auch eine Ferne von adliger Identität abbilden, die aus Entbehrung resultiert und/oder eine – auch positiv gewertete – Distanz zu gewohnten Lebensumständen abbildet. Im »Herpin« verswertzet vnd verstalt (HH, 136,23) Herzogin Alheyt [i]r schone antlitze, das sere wyß was (HH, 136,22f.), als sie sich auf Anraten einer himmlischen Stimme auf einen Misthaufen begibt, um dort bei den Schweinen ihr Leben zu fristen. Dies ist sowohl eine Maßnahme dafür, dass sie nicht erkannt wird, als auch ein Zeichen für den Abstand zu adliger Lebensführung und Identität.74 Die Anlagerung an den christlichen Körper zeigt erneut, dass die literarischen Texte keine strikt aufeinander bezogenen Oppositionen weiß und christlich vs. schwarz und ›heidnisch‹ entwerfen. Die Askese, die mit dem geschwärzten Äußeren zusammenhängt, wird äußerst positiv beurteilt und steigert Alheyts Identität hin zu Heiligkeit. Überdies zeigt die Episode Alheyts Überlegenheit über Mahon, da Alheyt auf dem Misthaufen nicht von den Schweinen verspeist wird. Die Bewertungen des Schwarz-Seins sind also durchaus ambivalent und changieren je nach Bedeutungsebene. Neben dem textuellen Zusammenhang, der – aus moderner Sicht – rassisierende identitäre Zuweisungen vornimmt (und zwar in Zusammenhang mit der Kategorie der Religion), existieren situative Kontexte, in denen Schwarz-Sein anders funktioniert und an andere Bedeutungen geknüpft ist: Es kann als körperlicher Indikator eine Ferne von adliger Identität kennzeichnen sowie als strategisch eingesetztes Mittel körperlicher Verstellung dienen. Zudem bilden Schwarz-Sein und Weiß-Sein in anderen mittelalterlichen Texten nicht notwendig eine unveränderliche Positionierung ab: Verschiedentlich wird erzählt, dass die Konversion zum Christentum mit einem ›Farbwechsel‹ der Protagonisten einhergehen kann.75 Wenn dies auch nicht in den beiden Prosaepen geschieht, so wird doch deutlich, dass körperliche

im späten Mittelalter. Serialität und Komplexität im Prosaepos ›Loher und Maller‹. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 134 (2012), S. 220–239, hier S. 229–232. 74 Im »Herzog Herpin« gibt es noch eine weitere Bedeutungsebene von Schwarz-Sein: Lewe trifft einen Schildknecht, der abgemagert und swartz (HH, 180,19) ist, dann er hat zwoilff iar o geryeden vngeruget. Er was vber mere gewest bitz gen Galilee vnd was zwurnent in eyme iar zu Romen gewest vnd was ouch zum heylygen grabe gewest (HH, 180,19–22). Schwärze ist hier Resultat einer mühseligen Reise und ungenügenden Essens. 75 Vgl. nur Frakes [Anm. 8], S. 88–94, zu verschiedenen Beispielen und ihrer Analyse.

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Zuschreibungen und deren Bewertung nicht mit analogen Konstruktionen in modernen Kontexten zu verrechnen sind.

III.

Riese vs. Gotteskrieger*in: Die Umbesetzungen von Erzählmustern in Zusammenhang mit Riesenhaftigkeit/Exorbitanz und Gender

Eine auffällige Darstellungskonvention in den beiden Prosaepen – insbesondere im »Herzog Herpin« – besteht darin, dass ›heidnische‹ Gegner als Riesen imaginiert werden. Die militärischen und religiösen Widersacher werden mithin durch ihre leibliche Spezifik, ihre extreme Körperkraft und Bedrohlichkeit besonders in Szene gesetzt. Damit lagern die Texte Qualitäten an die Riesen an, die auch für christliche, adlige Herren identitätsbildend sind und Herrschaftsfähigkeit verbürgen. Gleichzeitig aber sind die Riesen – wohl in Bezug auf die biblische Tradition – »Verkörperungen des Bösen«76. Was die Riesen als solche kennzeichnet, benennt der »Loher und Maller« nicht explizit; von besonderer Körpergröße ist nicht die Rede. Einer der Riesen reitet auf einem Pferd: Da auch nichts von der Riesenhaftigkeit des Pferdes gesagt wird, der Riese also wohl ein gewöhnliches Ross besitzt, ist die Körpergröße hier entweder nicht das entscheidende Kriterium riesischer Identität oder kann in verschiedenen literarischen Situationen ›variieren‹.77 Im »Loher und Maller« gibt es nur eine Stelle, an der einer der Protagonisten gegen einen Riesen kämpft: Die Andersgläubigen – vnder den was vil risen (LM, 180,1) – belagern Rom und Loher kommt mit seinem Heer dem Papst zu Hilfe. Maller wird von einem der Riesen entführt, der ihn zum Abendessen braten will. Maller, der sich sonst stets durch überlegene Gewaltsamkeit auszeichnet, kann dem Riesen zunächst nichts entgegensetzen. Seine vergeblichen Versuche, sich zu befreien, kommentiert der Riese mit: »din zabellen enhilff dich nit. Du must noch hynt myn spise syn!« (LM, 180,15f.). Dass Maller zunächst unterlegen bleibt, markiert die überlegene Körperkraft des Riesen. Auf dem Weg zum Zelt gedacht [Maller] an syn clein brot messer, daz zoch er heymlich vss vnd stach den rysen durch synen ruck in syn hertze (LM, 180,19–21). Mit dem ysern kolben (LM, 180,22f.) des Riesen stürzt sich Maller daraufhin wieder ins Kampfgetümmel. 76 Habiger-Tuczay, Christa: Zwerge und Riesen. In: Dämonen, Monster, Fabelwesen. Hg. v. Müller, Ulrich u. Wunderlich, Werner. St. Gallen 1999 (Mittelaltermythen 2), S. 635–658, hier S. 645. Vgl. auch Ahrendt, Ernst Herwig: Der Riese in der mittelhochdeutschen Epik. Güstrow 1923, S. 2. 77 Vgl. Schulz, Katja: Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga. Heidelberg 2004 (Skandinavistische Arbeiten 20). Sie zeigt, dass Riesen nicht notwendigerweise groß sein müssen, vgl. z. B. S. 62.

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In dieser kurzen Passage werden verschiedene Erzählstrategien deutlich, mit denen das Prosaepos arbeitet. Die tatsächlichen Ausmaße des Riesen-Körpers werden nicht explizit gemacht, sodass die Riesenhaftigkeit von Mallers Widersacher einerseits aus seiner Körperstärke resultiert, denn der sonst stets überlegene Maller ist zunächst handlungsunfähig. Andererseits rekurriert die ›Riesenhaftigkeit‹ des Gegners auf weitere ›Monstrositäten‹: Zum einen gehört der Riese zu den ›Heiden‹, zum anderen erscheint er zusätzlich als Kannibale. Insofern manifestiert sich das Monströse nicht so sehr auf der Ebene des Körperlichen als auf der Ebene der Religion und kultureller Speise-Praktiken.78 Eine weitere textuelle Strategie besteht im Einsatz situativer Komik,79 die die Begegnung des christlichen Protagonisten mit dem ungeheuren Gegner erzählbar und für die Rezipierenden aushaltbar macht. Mit der Konfrontation verschiedener Sinnbereiche und Handlungsregister wird die Szene ins Komische überführt: So kann sich der zunächst hilflose Maller mit einem kleinen Messer gegen einen riesischen Gegner behaupten. Entgegen den Erwartungen, die aufgrund des Kontextes von Krieg und Kampf aufgerufen werden, siegt Maller hier nicht mit einer tatsächlichen Waffe, sondern mit einem Essgerät.80 Dies wiederum verweist auf den Kannibalismus des Riesen. Und schließlich wird – als weitere Strategie – die christliche Identität mit der des andersgläubigen Rivalen verkoppelt: Maller bemächtigt sich der Keule des Riesen. Diese Waffe hat eine lange literarische Tradition bei der Kennzeichnung von ›Riesentum‹.81 Dass Maller nun mit der riesischen Waffe kämpft, verbildlicht eine »Grundstruktur«82, die sich auch in anderen mittelalterlichen erzählenden Texten findet: »[D]er Ritter wird dem ähnlich, was er bekämpfte«83. Kann dies in einigen hochmittelalterlichen Texten problematisch werden und in eine Identitätskrise führen, ist für Maller die Aneignung der Keule – und mit ihr riesischer Identität – ganz unkompliziert. Die Komponenten überdimensionaler Kraft und entfesselter Gewalt kann Maller mühelos inkorporieren, da seine Identität bereits zuvor an ein hohes Aggressionspotential und ungezügelte Gewaltsamkeit gekoppelt war. Diese bereits be78 Die spezifische Verknüpfung von Riesen und Religion erfolgt auch darüber, dass alle Riesen im »Herpin« auf verschiedene Weise mit dem Teufel in Verbindung gebracht werden. Vgl. HH, 83,11; 457,2f; 473,10; 518,16f. u. 458,22f. 79 Vgl. zur Komik in den vier Prosaepen, die im Umkreis der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken entstanden sind, Gaebel [Anm. 1], S. 269–284. 80 Gaebel [Anm. 1] geht davon aus, dass in den Prosaepen das Komische durch die »temporäre Herabsetzung des Helden« (S. 282) produziert werde. 81 Vgl. Ahrendt [Anm. 76], S. 108–110. Vgl. grundsätzlich zu Riesen Cohen: Jeffrey Jerome: Of Giants. Sex, Monsters, and the Middle Ages. Minneapolis, London 1999 (Medieval Cultures 17). 82 Matejovski, Dirk: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt a. M. 1996 (stw 1213), S. 149. 83 Matejovski [Anm. 82], S. 149.

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stehende Exorbitanz Mallers wird nun direkt an ›Riesenhaftigkeit‹ gekoppelt, da er in der Lage ist, den Riesen zu besiegen und nun mit der riesischen Waffe kämpft. Die vom Text zuvor behauptete Grenze zwischen Christen und ›Heiden‹ wird durchlässig: Der Sieg gegen den Riesen führt auf der Ebene der Gewaltsamkeit zu einer Verähnlichung der Konkurrenten, die zur Steigerung von Mallers kriegerischer Identität führt. Die Praxis der Ausgrenzung wird hier in eine Aneignung der positiven Attribute des Gegners überführt. Das Differenzierungsmuster der Riesenhaftigkeit/Exorbitanz zeigt mithin ebenfalls inhärente Überkreuzungen, da genaue Zuordnungen (christliche Exorbitanz vs. ›heidnische‹ Riesenhaftigkeit) im Erzählen aufgelöst werden. Im »Herzog Herpin« häufen sich Kämpfe der Protagonisten gegen ›heidnische‹ Riesen. Der erste dieser Kämpfe sticht durch die Besonderheit hervor, dass es eine adlige Dame ist, die gegen den Riesen ins Feld zieht. Herzogin Alheyt, Ehefrau von Herzog Herpin, lebt inkognito als Küchenjunge am Hofe des spanischen Königs in Tollet. Als die Stadt belagert wird und sich niemand bereit erklärt, gegen den Riesen Luciant zu kämpfen, spricht eine himmlische Stimme zu Alheyt und beauftragt sie im Namen Gottes, den Riesen zu töten. Da Tollet ›heidnisch‹ ist und die Belagerer ebenfalls, wird auf der Ebene des Glaubens eine doppelte Distanz des Widersachers zur Protagonistin hergestellt. Dieser Riese ist explizit durch seinen riesenhaften Wuchs gekennzeichnet: Luciant ist fünffczehen [schühe] lang (HH, 83,10f.), also etwa 3,50 m groß.84 Alheyt zögert nicht und zieht in den Kampf. Sie ist von Anfang an mit der adäquaten Riesen-Waffe, einem eysen kolben (HH, 93,2), ausgestattet, mit dem sie den schlafenden Riesen auf sein schinpain (HH, 93,2) haut. Der Kampf kommt allerdings nur schleppend in Gang: Luciant nimmt sie gar nicht ernst und möchte lieber weiterschlafen. Der durch körperliche Übermacht gekennzeichnete Riese reagiert zunächst gerade nicht mit der zu erwartenden Gewaltsamkeit: Durch die konterkarierten Erwartungen kommt erneut ein Element der Komik zum Tragen. Erst nach langen Beschimpfungen und sich hinziehendem Schlagabtausch, bei dem Alheyt den Riesen verstümmelt und selbst mer dann hundert straich (HH, 96,20f.) einstecken muss, kann sie den Riesen mit einem Messer (ein spitzig messer, HH, 98,7) und Gottes Hilfe töten. Auch in diesem Fall bemächtigt sich die Kämpferin der Waffe des Riesen, hier seines Schwertes. Da Alheyt heimlich gegen den Riesen ausgezogen ist, also niemand die Auseinandersetzung mitangesehen hat, schneidet die Siegerin dem Riesen die Zunge heraus und bewahrt sie auf. Als ein 84 Allerdings ist zu beachten, dass ›Schuh‹ – ein alternativer Terminus zu ›Fuß‹ – keine einheitliche Längenangabe ist, sondern stark variieren kann. Der Fuß bezeichnet meist eine Länge von ca. 300 mm (Kahnt, Helmut u. Knorr, Bernd: Alte Maße, Münzen und Gewichte: ein Lexikon. Mannheim 1987, S. 98) bzw. von 250 bis 600 mm (Pfeiffer, Elisabeth: Die alten Längen- und Flächenmaße: ihr Ursprung, geometrische Darstellungen und arithmetische Werte. 2 Teile. St. Katharinen 1986 [Sachüberlieferung und Geschichte 29], Teil 1, S. 15).

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›heidnischer‹ Ritter den Sieg für sich beansprucht, besiegt die Herzogin ihn in einem Zweikampf. Später kämpft sie noch ein weiteres Mal: gegen den König Marciles, der das gegnerische Heer anführt. Mit Alheyts Riesenkampf wird ein bekanntes Erzählmuster aufgerufen, wie es ähnlich in Gottfrieds »Tristan« erscheint: Dieses Erzählmuster ist ursprünglich jedoch nicht an den Kampf gegen einen Riesen, sondern gegen einen Drachen gekoppelt.85 Die spezifischen Elemente stimmen überein, etwa dass der siegreiche Protagonist nach dem Kampf dem Monster die Zunge herausschneidet, während ein Betrüger sich als Drachentöter ausgibt. Einmal abgesehen von dem Umstand, dass die Beweisfunktion der Riesen-Zunge im »Herpin« eingeschränkt ist und der gerichtliche Zweikampf nicht verhindert wird, sind die auffälligsten Abweichungen das Geschlecht der Protagonistin sowie die Art des Gegners. Der Bezwinger des Monsters ist weiblich und der Drache ist gegen den Riesen ausgetauscht worden. Gleichwohl wird in diesem Zusammenhang die mythische Qualität des Widersachers sowie auch der gesamten Erzählsequenz greifbar. J.R.R. Tolkien klassifiziert die Drachentötung »as the chief deed of the greatest of heroes«86 : In der von Tolkien betrachteten Erzähltradition (»Beowulf« und altnordische Texte) kann sich die Exorbitanz des Heros letztlich nur im Drachenkampf vollständig manifestieren. Im »Herzog Herpin« nun wird das Drachenkampf-Erzählmuster auf den Riesenkampf übertragen. Obgleich die außerordentliche Größe und Bedrohlichkeit der Widersacher erhalten bleibt, findet eine Umbesetzung auf zwei Ebenen statt: zum einen verändert sich die monströse Morphologie des Feindes und zum anderen wird diese als spezifischer Signifikant für religiöse Devianz gesetzt. Die Exorbitanz, die sich aus dem Sieg über diesen Gegner ergibt, wird im »Herpin« explizit an Weiblichkeit gekoppelt. Diese spezifische ›Gender‹-Konstellation hebt den ersten Riesenkampf von den folgenden – und auch vom Kampf im »Loher und Maller« – ab. Sind gewaltsame Auseinandersetzungen gemeinhin männlichen Kämpfern vorbehalten, ist hier der Vertreter christlicher Hegemonie weiblichen Geschlechts. Auf der Textoberfläche steht dies im Zusammenhang mit Alheyts Cross-dressing. Nachdem sie und ihr Ehemann Herzog Herpin vom Karlshof verbannt und getrennt wurden, zieht sie als Schutz männliche Kleidung an. Der fremde, ›heidnische‹ Hof, an dem sie sich dann aufhält, scheint damit einen Bereich zu markieren, an dem weitere Grenzüberschreitungen möglich werden. Das Außerordentliche des von Gott geforderten Riesenkampfes liegt im »Herpin« darin, 85 Vgl. Hammer, Andreas: Tradierung und Transformation. Mythische Erzählelemente im »Tristan« Gottfrieds von Straßburg und im »Iwein« Hartmanns von Aue. Stuttgart 2007, S. 112f. 86 Tolkien, J.R.R.: Beowulf: The Monsters and the Critics. In: The Monsters and the Critics and Other Essays. London 1990, S. 5–48, hier S. 16.

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dass »the greatest of heroes« (Tolkien) weiblich sein kann. Das geographisch fremde Land und der durch Größe, fremden Glauben, ungeheure körperliche Macht und Kampfeskraft überdeterminierte Konkurrent eröffnen exzeptionelle Handlungsmöglichkeiten, bei der genderbezogene Einschränkungen außer Kraft gesetzt werden. Der Sieg über den riesenhaften andersgläubigen Gegner führt Alheyts Exorbitanz vor : Ihre Körperstärke und Kampfesmacht, aber auch ihr Mut sind so außerordentlich, dass sie den Riesen bezwingt. Auffällig ist hier, dass Alheyt sich zwar die riesische Waffe des besiegten Gegners aneignet, dass es sich dabei aber nicht um eine Keule, sondern um ein Schwert handelt: Die Konstituierung weiblicher Exorbitanz ist mit dem Erwerb der spezifisch männlich-adligen Waffe verknüpft, wodurch die Überkreuzungen innerhalb der Gender-Kategorie – und nicht die Existenz einer starren Opposition von Männlichkeit vs. Weiblichkeit – im Handlungsspielraum des Schlachtfeldes sinnfällig werden. Während gemeinhin ausschließende Markierungen hinsichtlich der Möglichkeiten, Gewalt auszuüben und Waffen zu tragen, an die Kategorie Gender gekoppelt sind, wird hier Weiblichkeit mit christlich legitimierter Gewaltsamkeit und Exorbitanz zusammengeschlossen. In den beiden weiteren Kämpfen, die sie besteht, bestätigt und verfestigt Alheyt jeweils ihre körperlich-kämpferische Überlegenheit. Damit verschwindet jedoch der weibliche Körper nicht etwa aus dem Text, sondern ruft Begehren hervor. Alheyt gelingt es erst, die hartnäckige Königstochter Florij abzuweisen, als sie ihren Körper nackt präsentiert. Während Alheyt beim Kampf gegen den Riesen Luciant mit einer Rüstung gewappnet ist (vgl. HH, 92,6), wird nun der weibliche Leib unverhüllt zur Schau gestellt.87 Hatte der kampffähige und siegreiche Kämpfer weibliches Begehren hervorgebracht, wird dieses durch den Anblick weiblicher Nacktheit stillgestellt. Nachdem Alheyt Florij über ihre Identität aufgeklärt und von ihr standesgemäß neu eingekleidet worden ist, bricht indes erneut Begehren aus: Der Anblick der schönen Dame führt dazu, dass sich nun Florijs Vater – der König von Spanien – für Alheyt interessiert und sie heiraten möchte.88 In dieser Erzählsequenz begründet körperliche Gewaltsamkeit zunächst den Ausbruch des Begehrens. Die Inszenierung weiblicher Nacktheit stellt Begehren dagegen still; erst die höfisch gekleidete Alheyt erweckt erneute Begehrlichkeiten. Exzeptionelle Gewaltsamkeit und weibliche 87 Da zoch die hertzogynne ir cleider alle vß vnd stunt nackent vor Florij (HH, 131,14f.). Auf dem Bild der »Herpin«-Handschrift Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 46 Noviss. 28, um 1455, Bl. 12v, wird die nackte Alheyt gezeigt. Vgl. von Bloh [Anm. 73], S. 507f., zur gestörten Geschlechterordnung und zum Störfaktor der weiblichen Sexualität im »Herzog Herpin«. Vgl. zu Alheyt auch Gaebel [Anm. 1], S. 251–256. 88 Die religiöse Differenz, die zwischen Alheyt und der Königsfamilie besteht, ist nicht mit dem Ausbruch des Begehrens verkoppelt, da Alheyt vorgibt, dass sie sich vom christlichen Glauben abgewendet hat (vgl. HH, 132,10–12).

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Körperlichkeit werden so über das Begehren zunächst zusammengeschlossen, dann aber voneinander entkoppelt. Während die Konfrontation mit dem ungeheuren Gegner zunächst ›ungeheuerliche‹ Handlungsmöglichkeiten und neue identitäre Bestimmungen des Christlichen generiert, werden diese mit einer direkten Zurschaustellung weiblicher Leiblichkeit beendet. Gleichwohl führt die vorherige Verschränkung von Weiblichkeit und Exorbitanz zur Steigerung sowohl von Alheyts Identität als auch christlicher Überlegenheit. Herzog Herpin – Alheyts Gatte – kämpft später am selben Ort gegen den Riesen Oryble, den Bruder des Riesen, den Alheyt getötet hatte. Beide Widersacher schlagen mit Äxten aufeinander ein, sind mithin waffenmäßig von Anfang an gleichgestellt. Der Riese wird gefangengenommen und dem König von Spanien überantwortet. Zuvor aber muss Herpin mit seinen wenigen christlichen Mitstreitern gegen ein riesiges Heer von andersgläubigen Widersachern kämpfen: [D]a quamen yne zu helffe von gotz verhenckeniß der heyliger herre sant Georgen vnd sante Iacob vnd sante Dionisius vnd viel ander heyligen, die warhen alle wieß gewappent (HH, 488,3–6).89 Riesenkampf und Schlacht stellen sich an der Textoberfläche in eine Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen, in denen die Protagonisten mit Hilfe Gottes bzw. des Weißen Ritters gegen ihre Feinde siegen können. Anders als bei Alheyts Riesen-Kampf, in dem ausschließlich die beiden Identitäten der einzelnen Kämpfer religiös figuriert sind, wird der christlich-religiöse Deutungsrahmen der Handlung in der eben beschriebenen Herpin-Sequenz ausgeweitet, da es nun um zwei Heere geht, die aufeinandertreffen. Das Grundprinzip ist jedoch ähnlich: Die Überlegenheit der christlichen Religion wird mit der Überlegenheit christlicher Gewaltsamkeit überblendet und Gottes Macht als militärische Unterstützung imaginiert. Trotz der Unterschiede wird Herpins RiesenKampf strukturell mit dem Alheyts verbunden: etwa durch die Analogie der Ausgangspositionen (sowohl Herpin als auch Alheyt befinden sich mehr oder weniger unfreiwillig in Tollet; die Riesen belagern jeweils die Stadt), die verwandtschaftliche Verbindung der Riesen (sie sind Brüder) sowie das Begehren, das sowohl Alheyt als auch Herpin bei der Königstochter Florij auslösen. Dieses Begehren wird in beiden Fällen frustriert, da Alheyt sich als Frau zu erkennen gibt und Herpin bei seiner Hochzeit mit Florij seine erste und rechtmäßige Gattin Alheyt wiedererkennt und dann mit ihr und nicht mit Florij zusammenbleibt. 89 Dieses Heer von weiß gewappneten Heiligen verweist auf verschiedenen Ebenen (Farbe, Funktion) auf den Weißen Ritter, einem Wiedergänger, der im »Herzog Herpin« eine herausragende Rolle einnimmt und der – von Gott geschickt – den Protagonisten wiederholt militärische Hilfe leistet. Beim Weißen Ritter handelt es sich um einen toten Ritter, der seine Zeche nicht bezahlen konnte und den der Wirt deshalb in den Rauchfang seines Wirtshauses gehängt hatte. Lewe bezahlt von seinem letzten Geld die Bestattung (vgl. HH, 191,25–195,3).

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Lewe, Herpins und Alheyts Sohn, kämpft sogar drei Mal gegen ›heidnische‹ Riesen. Zwei Kämpfe umrahmen Herpins Kampf gegen Oryble. Auf der Insel Rodiß hält ein ›heidnischer‹ Riese ein adliges Mädchen namens Margelly gefangen. Sie möchte gern Christin werden und verbündet sich mit Lewe, der das gesamte Gefolge des Riesen erschlägt und schließlich auch diesen selbst.90 Den nächsten Riesen trifft Lewe auf einer Burg zwischen Zypern und Spanien: Er treibt Zoll von den Reisenden ein. Auch dieser Riese hat sich unrechtmäßig eine Frau angeeignet, sie ist mit ihm gegen ihren Willen verheiratet und zudem Christin.91 Den Riesen kann Lewe erst nach vielerlei Gebeten besiegen. Diese Kämpfe nun folgen einem anderen Modell des Riesenkampfes als dem, das in der Alheyt-Episode zum Tragen kommt. Gleichwohl wird erneut ein Drachenkampfmuster aufgerufen: Lewes Auseinandersetzungen verweisen auf den Drachenkampf der hochmittelalterlichen Georgslegende,92 in der der Protagonist einer Königstochter zu Hilfe kommt, die dem Drachen ausgeliefert wird, und die nach dem Sieg über den Drachen getauft wird. In diesem Muster wird eine andere Verbindung zur Thematik des Glaubens durchgespielt: Hier geht es vornehmlich darum, eine bedrohte bzw. gefangene Prinzessin zu befreien, die entweder bereits Christin ist oder es gern werden möchte. Der Drache ist in diesem Erzählzusammenhang bereits in ein religiöses Bedeutungsgefüge eingepasst, er figuriert als »teuflisches Ungeheuer«93, dem die Macht des christlichen Glaubens entgegengestellt wird. Der Zusammenprall von christlichem Erlöser und ›heidnischem‹ Widersacher wird hier mithin in einen anderen literarischen Kontext gestellt als dies bei Alheyts Kampf gegen den Riesen der Fall ist. Diese Konstellation gilt nicht nur für Lewes Riesenkämpfe, sondern auch für Herpin: Neben den bereits erwähnten strukturellen Verbindungen zwischen Herpins und Alheyts Kampf existiert auch ein Bezug von Herpins Riesenkampf zum Muster der Georgslegende. So gibt es auch hier die Verbindung der bedrohten Prinzessin zum Christentum, denn Florij hasset ouch der heyden gloube, dann sy gloubt heymlich an got (HH, 473,11f.).94 Eine weitere Parallele 90 Vgl. HH, 452,9–460,8. 91 Vgl. HH, 518,3–529,4. 92 Vgl. »De sancto Georgio«. In: Jacobus de Voragine: Legenda Aurea. Lateinisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und hg. v. Nickel, Rainer. Stuttgart 1988, S. 192–196. Vgl. grundsätzlich Lembke, Astrid: Erzählte Heiligkeit. St. Georg in mittelalterlicher Dichtung. Berlin 2008 (Reihe Hochschulschriften 23). 93 Hammer, Andreas: Der heilige Drachentöter : Transformationen eines Strukturmusters. In: Helden und Heilige: Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters. Hg. v. Hammer, Andreas u. Seidl, Stephanie. Heidelberg 2010 (GRM Beiheft 42), S. 143–179, hier S. 174. 94 Zum Zeitpunkt, an dem Alheyt gegen den ›heidnischen‹ Riesen gekämpft hatte, war noch keine Rede davon, dass Florij dem Christentum zugeneigt ist oder dass sie dem Riesen ausgeliefert werden soll.

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besteht darin, dass – wie in der »Legenda Aurea« – das Volk den Herrscher darum bittet, seine Tochter dem Drachen/Riesen zu geben, da sonst alle dem Untergang geweiht sind.95 Im Gegensatz zum Drachenkampf, wie er etwa in Gottfrieds »Tristan« erzählt wird, liegt das Spezifische dieses Drachenkampfmusters – neben dem Bezug zur Prinzessin – darin, dass der Drachenkämpfer hier bereits christlicher Heilsbringer ist, so dass Lewes und – in abgewandelter Form – Herpins Kämpfe gegen die Riesen schon über das ursprüngliche Erzählmuster auf dieser Bedeutungsebene anzusiedeln sind.96 Alheyts Kampf gegen den Riesen dagegen beruht zwar grundsätzlich ebenfalls auf dem Antagonismus der christlichen Kämpferin gegen den ›heidnischen‹ Riesen. Doch sie kämpft für einen ›heidnischen‹ König und es geht an dieser Stelle nicht um die Taufe einer bedrohten Prinzessin, so dass die grundlegende Semantik deutlich anders gelagert ist als in den Kämpfen Lewes und Herpins: Alheyts Riesen-Kampf konstituiert allererst weibliche Exorbitanz. Lewes dritter Riesenkampf unterscheidet sich noch einmal von den bisher besprochenen Kämpfen: Lewe siegt gegen den mächtigen ›heidnischen‹ Teufelsbündner Gombaus. Damit kann er Karl dem Großen in einer ausweglosen militärischen Situation helfen und zugleich den Tod seines Vaters – Gombaus hat Herpin zwischenzeitlich ermordet – rächen. Gombaus wird zwar nicht explizit als Riese bezeichnet, aber die Größenangabe, er sei wol fünffczehen schuwe lang (HH, 606,3f.), markiert nicht nur seine immense Körpergröße, sondern rekurriert auch auf die Größe des Riesen, gegen den Alheyt kämpfte.97 In der anschließenden großen Schlacht der Christen gegen die Andersgläubigen siegen die Christen, wiederum mit Hilfe des Weißen Ritters.98 Die Riesenkämpfe verdeutlichen sowohl die literarische Provenienz spezifischer Formen des ›Heidnischen‹ als auch die Wirksamkeit literarischer Modelle, Vorstellungen und Wahrnehmungsmuster zu generieren. In diesem Prozess wird nicht nur die monströse Identität der ›heidnischen‹ Gegner konturiert, sondern diese wird mit der Identitätskonstitution der Protagonisten verknüpft. Grundsätzlich transportieren die Riesenkämpfe im »Herpin«, die auf einer Umbesetzung des ersten Drachenkampfmusters beruhen, eine Verschiebung von mythischer (Drache) zu religiöser Deutung (›heidnischer‹ Riese), wobei das Mythische als Bestandteil des religiösen Gegenmodells erhalten bleibt. Das zweite Drachenkampfmuster, das einen Bezug zur Georgslegende aufweist, modifiziert die bereits vorhandene religiöse Deutungsebene. In beiden Fällen wird der 95 Vgl. »De sancto Georgio« [Anm. 92], S. 192–194. 96 Auf einen weiteren Riesen trifft Lewe im Eyfflinger Wald bei seinem Eintritt in der Anderswelt (HH, 560,18–564,15.), dieser zählt jedoch nicht zu den ›Heiden‹ und hat als Wächter des Eingangs in die Anderswelt eine andere Funktion als die Riesen, die ›Heidentum‹ verkörpern. 97 Vgl. [Anm. 84]. 98 Vgl. HH, 597,17–614,7.

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Drache zum Riesen. In beiden Fällen werden zudem Strategien des Othering eingesetzt, die dem Gegner naturalisierte Differenzmerkmale (monströse Körperlichkeit) zuschreiben und ihn so in einer Machtstruktur positionieren. Dieser Vorgang ist jedoch ambivalent: Da der Gegner aufgrund seiner Körperstärke fast unüberwindlich ist, oszillieren die Positionen der Machtstruktur zunächst, bevor sie mit dem Sieg des Christen vereindeutigt werden. Der christliche Held wird vom Riesen abgesetzt, seine Vollkommenheit wird vor der Monstrosität des Gegners erkennbar.99 Gleichzeitig aber, darauf hat Jeffrey Jerome Cohen hingewiesen, bestehen deutliche Parallelen zwischen dem Ritter und dem Riesen: So verfügen Riesen – trotz ihrer gigantischen Größe – letztlich über eine erkennbare menschliche Gestalt. Noch wichtiger aber ist Cohens folgende Beobachtung: Both g8ant and chevalier live by force; their superiority is connected to their physical strength, and their life is defined by their relationship to other bodies within a hierarchy that gives them meaning. The knight is necessary to preserve order, and yet he poses an immense danger if he himself cannot be adequately controlled by the systems of power that have produced him.100

Insofern werden hier nicht nur Strategien der Ausgrenzung greifbar, sondern auch Ambivalenzen und Anverwandlungen zwischen Ritter und Riese, da ihre Identitäten über z. T. analoge Prinzipien konstituiert, Differenzierungsprozesse dagegen stillgestellt werden. Christ und ›Heide‹, Ritter und Monster stehen somit in gegenseitiger Abhängigkeit, ja sogar Nähe zueinander,101 sodass gegnerische Identität sich hier durchaus auch über Ähnlichkeit formiert. Über die Riesenkämpfe konstituiert sich zudem Genealogie:102 Herzogin Alheyt und Herzog Herpin sowie ihr Sohn Lewe kämpfen gegen Riesen und demonstrieren so auch auf erzählstruktureller Ebene genealogische Zusammengehörigkeit. Eine Steigerung ergibt sich für Lewes Identität über die Verdoppelung bzw. Verdreifachung der Kämpfe. Männliche Identität und dynastische Abfolge werden so über die Kämpfe hervorgebracht. Über die zusätzliche Verknüpfung der Erzählstruktur von Herpins und Alheyts Riesenkampf wird zudem eine Bindung der Eltern auf struktureller Ebene erzeugt. Während die Kämpfe von Herpin und Lewe bereits über das Erzählmuster in einem christlichen Bedeutungsrahmen verankert sind, betont Alheyts Kampf exorbitante Gewalt und Heroik, die mit weiblicher Identität verknüpft werden. Weibliches Kriegertum wird – ebenfalls dreifach – gegen den Riesen, gegen den 99 Vgl. Cohen [Anm. 81], S. 134. 100 Cohen [Anm. 81], S. 78. 101 Vgl. dazu grundsätzlich auch Uebel, Michael: Unthinking the Monster : Twelfth-Century Responses to Saracen Alterity. In: Monster Theory. Reading Culture. Hg. v. Cohen, Jeffrey Jerome. Minneapolis 1996, S. 264–291. 102 Zum Erzählen über Familie im »Herzog Herpin« vgl. Herz, Lina: Vater, Mutter, Kind. Kernfamilie als Erzählmuster am Beispiel des »Herzog Herpin«. Diss. masch. 2015.

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betrügerischen Ritter und in der anschließenden Schlacht gegen König Marciles unter Beweis gestellt. Diese ungewöhnliche Darstellung weiblicher Exorbitanz und Gewaltsamkeit untermauert Lewes Identität als hervorragender christlicher Krieger : Nicht nur sein Vater, auch seine Mutter zeichnet sich durch überragende, von Gott getragene Kriegertaten aus. Die identitäre Komponente christlicher Vorbildlichkeit wird bei Alheyt noch einmal zusätzlich aufgerufen: Nach ihren Siegen folgt sie einer weiteren Aufforderung der himmlischen Stimme und verbringt ihre nächsten Jahre – wie oben bereits erwähnt – unerkannt und schmutzig auf einem Misthaufen bei den Schweinen.103 So wird nicht nur die drohende Heirat mit dem König von Spanien abgewendet, sondern weibliche Identität mit einer weiteren nicht-kriegerischen christlichen Lebensform verkoppelt: mit einem Leben in Demut, Armut und Buße. Der Text bestätigt, dass sy wart darnach heylig vnd ir name sante Alheyt (HH, 140,22f.). Zugleich wird der exzeptionelle Handlungsraum, in dem sich weibliche Exorbitanz entfalten konnte, zurückgenommen; weibliche Exorbitanz aus höfischer Gesellschaftlichkeit ausgeschlossen. Dies rekurriert auf andere literarische Entwürfe von Exorbitanz, die die »Integrationsfähigkeit«104 singulärer Identitäten in Frage stellen oder diese ganz aus den Herrschaftsverbänden ausschließen. Doch nicht nur Alheyt wird aus der Gesellschaft entfernt; im »Loher und Maller« zieht sich Maller in den Wald zurück, um ein Einsiedlerdasein zu führen. Auch hier entfernt sich der exorbitante Held aus dem Sozialverband.105

IV.

Fazit: Intersektionale Überkreuzungen und ambivalente Positionierungen

»Herzog Herpin« und »Loher und Maller« erzählen vom kulturellen und gewaltsamen Zusammenprall von Christentum und ›Heidentum‹. Die Kategorie der Religion positioniert den Islam als ›Heidentum‹ vordergründig als untergeordnete, minderwertige Opposition zum Christentum. Gleichzeitig produzieren die Texte Analogien zwischen den Religionen, ihren Praktiken und Bedeutungszusammenhängen, sodass letztlich inhärente Verschränkungen zwischen den Konzepten ihre Trennung und gegensätzliche Deutung unterlaufen. Eine körperliche Dimension, die mit dieser Kategorie zusammenhängt, ist die des Schwarz-Seins: Damit nimmt der Text zwar vereinzelt quasi rassi103 Vgl. HH, 135,1–137,5 und 140,11–25, ferner 495,22–509,13. 104 Klinger [Anm. 16], S. 267. Sie beschreibt diese Prozesse anhand von Brünhild und Siegfried im »Nibelungenlied«. 105 Mallers Entscheidung beruht auf seiner Reue darüber, dass er so viele Christen getötet hat (den Tod von ›Heiden‹ bereut er selbstverständlich nicht). Auch ihm sagt eine Stimme, auf welche Art er künftig leben soll (vgl. LM, 254,14–24).

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sierende Positionierungen der Repräsentant*innen der anderen Religion vor, doch es werden auch Modelle körperlich gedachter Differenz inszeniert, die in anderen Sinngebungen verankert sind, wenn etwa spezifisch christliche Lebensformen – Alheyts Askese – an Schwarz-Sein gekoppelt sind. Insgesamt verfügt die somatische Markierung über Schwarz-Sein über nur eingeschränkte Wirksamkeit, aber ein breites Bedeutungsspektrum, sodass weder von einer Kategorie ›Rasse‹ noch von einheitlicher oder übergreifender rassisierender Bedeutungsproduktion gesprochen werden kann. Wird eine rassisierende Positionierung vorgenommen, so geschieht dies im Kontext der Diskussion von Religion und kultureller Zugehörigkeit. Dass sowohl ›Heid*innen‹ als auch Christ*innen ›schwarz‹ sein können, zeigen die Überkreuzungen, die den Prozessen der Identitäts- und Differenzbildung inhärent sind. Ein weiteres Differenzierungsmuster, das in den Epen zum Tragen kommt, ist das der Riesenhaftigkeit/Exorbitanz. Es ist mit der Kategorie der Religion verschränkt, da ›Heidentum‹ und Riesenhaftigkeit in ihrer ›Monstrosität‹ aufeinander verweisen und sich wechselseitig verstärken. Die Bedrohlichkeit andersgläubiger Krieger, die als Riesen dargestellt werden, steht insbesondere über die körperliche Ebene der Riesenhaftigkeit im Kontext der Markierung, Naturalisierung und Ausstoßung, der ein hegemoniales Wissen über den ›Anderen‹ hervorbringt. Wenn Religion und Kultur mit monströser Körperlichkeit und exzessiver Gewalt verknüpft werden, finden jedoch auch Umbesetzungen statt. Im Zweikampf zwischen einem herausragenden christlichen Helden und einem riesischen Gegner treten Verschränkungen, Spannungen und Überschneidungen hervor, die etwa durch die körperliche Dimension der Identitäts- und Differenzzuschreibungen produziert werden: Die ›heidnischen‹ Gegner werden durch ihre überdimensionale Größe und/oder extreme Körperkraft gekennzeichnet, doch verfügen auch die christlichen Helden über enorme Leibesstärke und Kampfesmacht. Diese Analogien und Differenzierungen bewerten die Texte unterschiedlich: Während sich in der Riesenhaftigkeit der ›Heiden‹ ihre Monstrosität verkörpert, erweisen die christlichen Protagonist*innen mit dem Sieg über die riesischen Widersacher ihre besondere Herrschaftsfähigkeit. Ihre Exorbitanz und Singularität aber rückt sie zugleich in die Nähe der bezwungenen Riesen, insbesondere wenn sie mit den Waffen der Riesen ganz deutlich riesische Gewaltsamkeit und Leibesstärke vereinnahmt haben. Über Religion und Riesenhaftigkeit/Exorbitanz werden christliche und ›heidnische‹ Identitäten formiert, voneinander abgesetzt, zugleich aber miteinander verschränkt. Das spezifische Handlungsmuster, mit dem über die Begegnung von Christen und ›Heiden‹ erzählt wird, ist der Kampf. Da das Tragen von Waffen und die Ausübung von Gewalt adlig-männliche Privilegien sind, wird damit zunächst ein Handlungsraum strukturiert, der exklusiv männlich ist. Doch diese genaue Zuordnung wird im »Herzog Herpin« aufgebrochen: In der geographischen

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Fremde und in der Konfrontation mit der ›anderen‹ Religion eröffnen sich Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten, die von gewöhnlichen Konstellationen abweichen. Exorbitanz, Christlichkeit und Weiblichkeit werden zusammengeschlossen und als singulärer – exorbitanter – Fall affirmiert. Insofern überkreuzt die Gender-Kategorie herkömmliche Muster christlicher Identitätsbildung. Sie hebt zudem hervor, wie die Texte vielfältige und komplexe Formen von Identitäts- und Differenzbildung verhandeln. Insgesamt generiert der Raum des Schlachtfeldes oder des Kampfplatzes spezifische Handlungsmöglichkeiten, die immer auch direkt an die Herstellung von Macht – durch Gewaltausübung – gekoppelt sind. Insofern sind Machtverhältnisse, deren Beschreibung die Intersektionalitätsforschung betreibt, stets unmittelbarer Bestandteil der hier entworfenen Differenzierungsprozesse. Dass die riesenhaften, religiös markierten Gegner über ungeheure körpergebundene Macht und Stärke verfügen, zeigt die Fragilität von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die immer wieder neu hergestellt werden müssen. Mit dem Sieg der Christen wird die christliche Machtposition zwar jeweils etabliert, doch gerade in der quasi seriellen Aufeinanderfolge der Kämpfe im »Herzog Herpin« zeigt sich nicht nur ungeheure (körperliche) Anstrengung, die damit verbunden ist, sondern auch die unablässige Notwendigkeit, diesen Machtanspruch immer wieder neu durchzusetzen, womit das Prozesshafte auch der Machtverhältnisse, die über die Differenzierungsmechanismen hergestellt, greifbar wird. Überdies setzen die Prosaepen insbesondere die Wirkmacht literarischer Muster in Szene, wenn etwa der »Herzog Herpin« Erzählmuster von Drachenkämpfen aufnimmt und variiert, um vom ›Heidentum‹ zu erzählen. Wenn die Texte die ›fremde‹ Religion auch negativieren und ›heidnische‹ Identität als unzureichend und bedrohlich imaginiert wird, so wird gleichwohl die Produktivität und Wirksamkeit der literarischen Muster deutlich, die spezifische identitäre Formationen hervorbringen. Die Texte eröffnen einen narrativen Raum, in dem nicht nur ›heidnische‹, sondern auch christliche Identität explizit zur Disposition steht. Insofern verhandeln die Texte bei aller Voreingenommenheit hinsichtlich christlicher Dominanz immer auch die gegenseitige Abhängigkeit religiöser und kultureller Identitäten. Die Literarisierung und Mythisierung der andersgläubigen Gegner zeigt zudem die Konstrukthaftigkeit dessen, was als Islam gesehen wird und wie Muslime wahrgenommen werden. Dass diese Vorstellungen kulturell generiert sind und sich aus literarischen Mustern speisen, macht sie jedoch nicht weniger wirkungsvoll und nicht weniger bedrückend: Vorstellungen von Bedrohlichkeit und Minderwertigkeit des Islam sind langlebig und wirkmächtig, wie die Moderne zeigt.

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…dise greüsenliche und fremde geschoff…:1 Zur Kategorie race in Thürings von Ringoltingen »Melusine«

Die Wahrnehmung von Fremdheit bewirkt meist Abwehr und Furcht. Auch das Titelzitat scheint dies zu zeigen, wenn Melusine als ein fremdes, bedrohliches Wesen bezeichnet wird, obwohl sie doch der Ausgangspunkt einer durchaus vorbildhaften Genealogie ist: Thüring beschreibt in seiner »Melusine« den Aufstieg eines Adelshauses, dessen Stammmutter die Fee Melusine ist. Diese hatte ihrem Gemahl Reymund versprochen, dass sie ihm mit Rat zur Seite stehen wolle, so dass ihm nichts zu seinem Glück fehlen sollte, nähme er sie zur Frau. Doch Melusine verlangt von ihm die Einhaltung des Tabus, sie am Samstag nicht zu sehen, das Reymund, durch einen Verwandten misstrauisch gemacht, schließlich bricht. Doch nicht nur die feenhafte Figur Melusine selber ist in Bezug auf die Kategorie race interessant, sondern auch in den Söhnen, die sie mit Reymund gezeugt hat, scheint sich ein Rest jener bedrohlichen Fremdheit fortzupflanzen. Thüring knüpft mit seiner »Melusine« an einen französischen Sagenstoff an, der erstmals 1387 bis 1393 von Jean d’Arras im Auftrag des Herzogs Jean de Berry in französischer Prosa aufgeschrieben wurde.2 »Le Roman de Melusina ou l’Histoire de Lusignab« ist die älteste überlieferte Erzählung der »Melusine« des Hauses Lusignan. Kurz darauf entstand das Versepos »Mellusine« von Coudrette, 1 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 98,4. Im Folgenden wird der Erstdruck als älteste, Text und Bild kombinierende Fassung nach der Edition von Jan-Dirk Müller mit Seiten- und Zeilenangabe zitiert: Thüring von Ringoltingen: Melusine. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. v. Müller, JanDirk. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 9–176. Vgl. auch die von Andr8 Schnyder herausgegebene Ausgabe als Teilfaksimile: Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel. Richel um 1473/74. Hg. v. Dem. in Verbindung mit Rautenberg, Ursula. Bd. I: Edition, Übersetzung und Faksimile der Bildseiten, Bd. II: Kommentar und Aufsätze, Wiesbaden 2006. Eine ausführliche Bibliographie dokumentiert die Forschung zum deutschen Prosaroman und zu seinen französischen Vorgängerwerken; den Band beschließt ein Verzeichnis der Eigennamen nach dem Erstdruck. 2 Vgl. Backes, Martina: Fremde Historien. Untersuchungen zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte französischer Erzählstoffe im deutschen Mittelalter. Tübingen 2004, S. 12.

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dessen Auftraggeber – Guillaume LarchevÞque VII., Seigneur de Parthenay und sein Sohn Jean II., Seigneur de Mathefelon – entfernte Nachfahren des Geschlechts der Lusignan3 und Gefolgsleute des Herzogs von Berry waren.4 Beide Texte sind also Gründungs- und Abstammungsgeschichten einiger französischer Hochadelsfamilien, in denen ein Geschlecht legitimiert wird, und beide Fassungen gehen auf dieselbe Vorlage zurück, die sich jedoch nicht erhalten hat. Die Vorlage Thürings wiederum muss wohl die Versdichtung Coudrettes gewesen sein, denn die Kopenhagener Handschrift 423 (O) der »Melusine« vom Ende des 15. Jahrhunderts steht laut Karin Schneider dem Text Thürings am nächsten.5 Die älteste handschriftliche Fassung der »Melusine« stammt von 1456, der früheste Druck, der hier als Textgrundlage dient, wurde 1474 in Augsburg hergestellt.6 Über die Wesensart der Protagonistin wird das potentielle Publikum dieses Drucks nicht lange im Unklaren gelassen: Bereits in der Vorrede, also noch bevor die eigentliche Narration überhaupt beginnt, wird Melusine als different markiert, wenn mitgeteilt wird, dass sie an jedem Samstag in ein Meerwunder verwandelt werde.7 Dementsprechend soll es im Folgenden um die Frage gehen, in welcher Weise diese explizit benannte Andersartigkeit der Figur als Fremdheit konstruiert ist, wie sich deren Wahrnehmung auf Figuren- und Rezipientenebene spiegelt und im Laufe der Geschichte vielleicht auch verändert. Ein intersektionaler Zugriff bietet sich dazu besonders an, weil die Konstruktion von ›Fremdheit‹ ein komplexes Phänomen ist, dessen Analyse nur bei einer angemessenen Berücksichtigung beteiligter Differenzkategorien gelingen kann. Als Masterkategorie wurde dazu die Kategorie race gewählt, die trotz der mit ihr verbundenen Schwierigkeiten, in vormodernen Kontexten zur Anwendung zu kommen, gut geeignet erscheint, um die Konstruktion von Fremdheit in ihrer intersektionalen Verschränkung von gender, ›Stand‹ und ›Religion‹ zu analysieren.8 3 Vgl. ebd., S. 13. 4 Vgl. ebd., S. 166. 5 Vgl. Thüring von Ringoltingen: Melusine. Hg. v. Schneider, Karin. Berlin 1958 (Texte des späten Mittelalters 9), S. 19–28. 6 Die handschriftliche Überlieferung setzt sich neben der Drucküberlieferung fort, soll aber hier nicht berücksichtigt werden. Vgl. zu Entstehung und Überlieferungsgeschichte sowie Quellen, Vorlagen und Wirkung den Kommentar in: Müller [Anm. 1], S. 1012–1030, hier S. 1012. Vgl. zur handschriftlichen Überlieferung auch Ertzdorff, Xenja von: Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts in Deutschland. Darmstadt 1989, S. 63. 7 Vgl. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 11,4f. 8 Vgl. zu Intersektionalität im vormodernen Kontext u. a. Schul, Susanne: HeldenGeschlechtNarrationen. Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in Nibelungen-Adaptionen. Frankfurt a. M. 2014 (Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik, Amerikanistik, Germanistik und Romanistik 14), hier S. 50–60; Kraß, Andreas: Einführung: Historische Intersektionalitätsforschung als kulturwissenschaftliches Projekt.

Zur Kategorie race in Thürings von Ringoltingen »Melusine«

I.

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Theoretische Einordnung

Innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung der 70er und 80er Jahre entstand eine Debatte darüber, in welcher Weise auch mehrdimensionale Formen der Diskriminierung angemessen analysiert und dargestellt werden könnten. Ausgangspunkt war ein ›Mainstream-Feminismus‹, der den Anspruch hatte, für alle Frauen zu sprechen, dabei aber Diskriminierungsfaktoren wie beispielsweise ›Behinderung‹, ›Klasse‹, ›Religion‹ oder aber ›Rasse‹ außer Acht ließ.9 Konkret heiße dies, so die amerikanische Juristin Kimberley Crenshaw, dass eine farbige, arbeitslose, homosexuelle Frau eine andere Diskriminierung erfahre, als eine weiße, heterosexuelle Frau der Mittelklasse, denn schwarze Frauen seien anders von Sexismus betroffen als weiße. Crenshaw antwortete damit auf die Identitätspolitiken der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der zweiten Frauenbewegung, die ein kollektives Subjekt Frau annahmen und kritisierte die Antidiskriminierungsgesetze, die entweder zugunsten von Frauen In: Durchkreuzte Helden. Das »Nibelungenlied« und Fritz Langs Film »Die Nibelungen« im Licht der Intersektionalitätsforschung. Hg. v. Bedekovic´, Natasˇa u. a. Bielefeld 2014, S. 7–47, hier S. 27–34; Griesebner, Andrea u. Hehenberger, Susanne: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften? In: Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven auf alte Fragen. Hg. v. Kallenberg, Vera u. a. Wiesbaden 2013, S. 105–124; Schnicke, Falko: Terminologie, Erkenntnisinteresse, Methode und Kategorien – Grundfragen intersektioneller Forschung. In: Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen. Hg. v. Klein, Christian u. Dems. Trier 2014 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 91), S. 1–33; Klinger, Judith: Gender-Theorien: Ältere deutsche Literatur. In: Germanistik als Literaturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hg. v. Benthien, Claudia u. Velten, Hans Rudolf. Reinbek 2002, S. 267–297; Werner, Lukas: Relationalität als Schnittmenge oder vom Nutzen der Intersektionalitätsforschung für die Erzähltheorie. Überlegungen zur Melusine des Thüring von Ringoltingen. In: Klein u. Schnicke [Anm. 8], S. 101–120. 9 Vgl. zur theoretischen Ausrichtung von race u. a. Becker-Schmidt, Regina: ›Class‹, ›Gender‹, ›Ethnicity‹, ›Race‹. Logiken der Differenzierung, Verschränkung von Ungleichheitslagen und gesellschaftliche Strukturierung. In: Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Hg. v. Klinger, Cornelia u. a.. Frankfurt a. M., New York 2007, S. 56–83; Walgenbach, Katharina: Gender als interdepedente Kategorie. In: Gender als interdepedente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Hg. v. Ders. u. a.. Opladen, Farmington Hills 2012, S. 23–64; Lochrie, Karma: Heterosyncrasies. Female Sexuality When Normal Wasn’t. Minneapolis 2005; Schulz, James A.: Heterosexuality as a Threat Medieval Studies. In: Journal of the History of Sexuality 15.1 (2006), S. 14–29; Michaelis, Beatrice: Farbspiele in ›Kudrun‹ und ›Parzival‹. In: Farbe im Mittelalter. Materialität – Medialität – Semantik 2. Hg. v. Bennewitz, Ingrid u. Schindler, Andrea. Berlin 2011, S. 493–503; Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 16. Auflage mit einem neuen Vorwort, Wiesbaden 2006; Stepan, Nancy Leys: Race and Gender: The Role of Analogy in Sience. In: Anatomy of Racism. Hg. v. Goldberg, David Theo. Minneapolis, London 1990, S. 38–57; Stolcke, Verena: Is Sex to Gender as Race is to Ethnicity? In: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Hg. von Walgenbach, Katharina u. a. Opladen 2007, S. 23–64.

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oder von Schwarzen entworfen wurden, wobei implizit der Konstruktion von ›Frau‹ eine weiße Mittelschichts-Weiblichkeit zugrunde liege und der Konstruktion von ›Schwarz‹ eine afroamerikanische Männlichkeit. Crenshaw versucht in der Folge konkurrierende Identitätskategorien zu verbinden, die sie im Bild der Straßenkreuzung (engl. intersection) zu erfassen suchte, auf der das diskriminierte Subjekt im Schnittpunkt verschiedener ›Verkehrsströme‹ verunglücke, ohne dass es dabei einen allein verantwortlichen Unfallverursacher gebe.10 Die daraus entstandene soziologische Forschung auf Grundlage einer Intersektionalitätstheorie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Wechselwirkung verschiedener Kategorien der Diskriminierung, Differenz und Differenzierung wie gender, class, race oder sexuality zu analysieren und neu zu bewerten.11 Dabei sind die Kategorien nicht starr, sondern interagieren, können sich wechselseitig verstärken, abschwächen oder verändern. Dabei birgt gerade die hier als Ausgangspunkt gewählte Differenzkategorie race einige Schwierigkeiten, die es im Umgang mit ihr zu beachten gilt. Besonders schwierig erscheint die Abgrenzung von race und ethnicity, die hier zunächst in einer näheren Bestimmung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden soll. Während race in Deutschland aufgrund der seit der NS-Vergangenheit problematischen deutschen Übersetzung des Begriffs mit ›Rasse‹ zunehmend durch ethnicity ersetzt wird,12 existieren in der nordamerikanischen Soziologie beide Begriffe nebeneinander. Helma Lutz und Norbert Wenning trennen in ihren dreizehn Differenzlinien beispielsweise ›Ethnizität‹ und ›Rasse‹, setzen letztere jedoch mit Hautfarbe gleich.13 Mathias Bös hat zahlreiche Lehrbücher in Bezug auf Definitionen dieser Kategorie untersucht und merkt an, dass eine präzise Definition der Begriffe meist nicht gegeben werde oder gegeben werden könne.14 Vielmehr werde davon ausgegangen, dass ein intuitives Verständnis von race und ethnicity herrscht.15 Ein Rückgriff auf ältere Theorien kann hier vielleicht hilfreich sein. So definiert Max Weber im dritten Kapitel von »Wirtschaft und Gesellschaft«, das den Titel »Ethnische Gemeinschaften« trägt, den Begriff ›Rasse‹ durch die Inbe-

10 Vgl. Griesebner u. Hehenberger [Anm. 8], S. 106. 11 Vgl. Winker, Gabriele u. Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009, S. 10f. 12 Vgl. ebd., S. 14. 13 Vgl. Lutz, Helma u. Wenning, Norbert: Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatte. In: Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Hg. v. Dens. Opladen 2001, S. 20. 14 Vgl. Bös, Mathias: Rasse und Ethnizität. Zur Problemgeschichte zweier Begriffe in der amerikanischen Soziologie. Wiesbaden 2005, S. 23. 15 Vgl. ebd.

Zur Kategorie race in Thürings von Ringoltingen »Melusine«

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zugsetzung zu einem Gemeinschaftshandeln.16 Nach Weber zeichne sich »Rassenzugehörigkeit« durch den »Besitz gleichartiger, ererbter und vererblicher Anlagen«17 aus, er spricht in diesem Zusammenhang vom »äußeren Habitus«, der das Andersartige in Bezug zum Eigenen ausmache. Dabei meint Weber hier zunächst einfach die äußere Erscheinung von Menschen, geht also von einem anderen Habitus-Konzept aus als dem, das in aktuellen Debatten mit Bezug auf die Arbeiten Pierre Bourdieus oder Norbert Elias’ in aller Regel gemeint ist. Nach Bourdieu ist ›Habitus‹ das gesamte Auftreten einer Person und sei primär von der gesellschaftlichen Position, die Angehörige einer sozialen Gruppe in einer Sozialkultur einnehmen, geprägt.18 Es finde also eine Überlagerung von Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsschemata statt, die den Habitus ausmachten und so aus der sozialen Positionierung einer Person hervorgehe und sie dabei gleichzeitig auch wiederum hervorbringe und sichtbar mache.19 Während sich nach Bourdieu Habitus und soziale Positionierung gegenseitig hervorbringen und demnach auch alles Äußerliche oder am Körper Wahrnehmbare das Ergebnis kultureller Formung ist, trennt Weber zwischen Sitten und ererbten Anlagen, die er als Habitus bezeichnet. Diese ererbten Anlagen führten aber nur dann zu einer Gemeinschaft, wenn sie auch von der Gruppe als gemeinsames Merkmal wahrgenommen würden. Demzufolge sei es nötig, ein Gegenüber zu haben, gegen das die Abgrenzung möglich ist. Eine solche Abgrenzung habe allerdings auch immer eine Wertung zur Folge; so werde der Andersartige entweder verachtet oder abergläubisch verehrt, wobei Abwehr die Norm sei.20 Race ist also nach Max Weber primär durch biologische Merkmale geprägt und steht damit dem nationalsozialistisch missbrauchten Rassen-Begriff sehr nahe. Dennoch wird auch bei ihm race nicht klar von ethnicity unterschieden, race scheint eher eine Sonderform der ethnischen Gemeinschaft zu sein. Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Aehnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, […] 16 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. [Grundriss der Sozialökonomik] Tübingen 1947, S. 216. 17 Ebd. 18 Vgl. Lenger, Alexander u. a.: Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven. Hg. v. Dens. Wiesbaden 2013, S. 11–41, hier S. 14. 19 Vgl. ebd. Vgl. zum Verhältnis von sozialer Positionierungen und Praktiken Böth, Mareike: Verflochtene Positionierungen: Eine intersektionale Analyse frühneuzeitlicher Subjektivierungsprozesse. In: Intersektionalität und Forschungspraxis: Wechselseitige Herausforderungen. Hg. v. Bereswill, Mechthild u. a. Münster 2015 (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 43) S. 78–95; Schul, Susanne: Abseits bekannter Pfade: Mittelalterliche Reisenarrative als intersektionale Erzählungen. In: Bereswill u. a. [Anm. 19], S. 96–114. 20 Vgl. Weber [Anm. 16], S. 216.

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ethnische Gruppe nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinsamkeit objektiv vorliegt oder nicht.21

Eine ethnische Gemeinschaft zeichne sich durch gemeinsame Merkmale wie Aussehen, Sitten und Erfahrungen (äußerer Habitus) aus, sie müsse aber keine gemeinsamen, vererbten Merkmale haben.22 Allerdings ist das Aussehen, der äußere Habitus, bei Weber auch ein entscheidendes Merkmal von race. Eine Gemeinschaft, eine »ethnische Gruppe« im Sinne von ethnicity, entstehe aber nur dann, wenn Merkmale subjektiv als gemeinsames Merkmal von einer Gruppe empfunden würden. So kann der Glaube an eine gemeinsame Abstammung, eine Blutsverwandtschaft, unabhängig davon, ob diese biologisch wirklich gegeben ist, ein ethnisches Gemeinschaftshandeln auslösen, da der Glaube daran ausreiche, um eine Gruppenzugehörigkeit und eine Abgrenzung zu einem Gegenüber entstehen zu lassen. Auch die aktuelle Forschung tut sich schwer damit, race und ethnicity trennscharf zu definieren. Race wird dabei meist auf körperliche Merkmale zurückgeführt, die nicht veränderbar sind, wie beispielsweise die Hautfarbe, während dies bei ethnicity zwar auch eine Rolle spielen kann, der Fokus aber eher auf einer gemeinsamen Geschichte und auf einer gemeinsamen, nicht primär biologischen, Herkunft liegt. Eine weitere Unterscheidung wird in der Regel darin gesehen, dass race sich eher dadurch auszeichne, dass Identität durch Dritte konstruiert wird, was immer mit Macht- und Wertverhältnissen zu tun hat.23 Auch ethnicity könne diese Merkmale aufweisen, werde jedoch eher dadurch bestimmt, dass Prozesse der Identitätsbildung selbstreferentiell sind und auf eine positive Selbstbeschreibung zielen, beispielsweise durch Aufwertung der eigenen Sprache, kultureller Eigenheiten und Traditionen. In Anlehnung an diese Definitionsversuche ließe sich zusammenfassen, dass race als ein biologisches und durch Vererbung weitergegebenes Differenzkriterium konstruiert wird, während ethnicity eher historisierend, auf Handlungen und Kultur der Gruppe bezogen verstanden wird. Entscheidend für die Abgrenzung als intersektional wirksame Differenzierungskategorien ist demnach die Frage, ob im Verständnis der Individuen und Gruppen eine nicht hintergehbare Verankerung im Biologischen existiert oder nicht.

21 Ebd., S. 219. 22 Vgl. Bös [Anm. 14], S. 22. 23 Vgl. ebd., S. 24.

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II.

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Operationalisierung für vormoderne Texte

Es erscheint sinnvoll, die Kategorie race für das Mittelalter nicht vorab zu definieren, sondern sich zunächst einige mittelhochdeutsche Beispiele für die Kategorie race anzusehen, um nach Gemeinsamkeiten in gattungsgeschichtlicher Hinsicht zu fragen und diese in Zusammenhang mit Thürings »Melusine« zu setzen. In der mittelalterlichen Literatur begegnen uns Wesen wie Zwerge, Riesen und Meerwunder, die moderne Rezipient_innen als Fabelwesen bezeichnen würden, obwohl sie teilweise ›menschlicher‹ gezeichnet sind, als nicht-christliche Figuren, die teilweise kaum noch menschliche Züge aufweisen. Es stellt sich die Frage, wie man all diesen Figuren gerecht werden soll. Können beispielsweise Riesen in demselben Maße als Vertreter einer andere ›Rasse‹ bezeichnet werden? Stellt die Gruppe der ›Heiden‹ eine eigene ›Rasse‹ dar? Dafür würde sprechen, dass Riesen oder Zwerge durch den Erzähler und andere Figuren als unveränderbar und ›biologisch‹ begründet normabweichend beschrieben und bezeichnet werden. Bei der Einschätzung der ›Heiden‹ kommt hingegen die Schwierigkeit ihrer Religion hinzu, die sie bereits von der christlichen Norm trennt, so dass von einer Verschränkung von ›Religion‹ und race auszugehen wäre. Insofern wird das Problem einer unzweideutigen Einordnung kaum zu lösen sein und nicht nur im Fall der ›Heiden‹ auftreten, denn auch bei Brünhild, der Königin von Island im »Nibelungenlied«, wird die Frage nach race in anderer Form erneut auftreten. Hinzu kommt, dass es auch innerhalb einer vermeintlichen ›Rasse‹ zu starken Abweichungen kommen kann und dies sogar in ein und demselben Text. Als Beispiele können die ›Heidendarstellungen‹ im »Willehalm« Wolframs von Eschenbach dienen, da hier ein sehr weit gefächertes Bild der ›Heiden‹ gezeichnet wird.24 des künec Gorhandes her / mit stehlinen kolben streit / ze vuoz, ir deheiner reit. / si waren aber sus so snel, / die mit dem hürninen vel, / si gevolgeten wilde und orsen wol.25

Wie bereits angesprochen können auch Eigenschaften wie eine bestimmte Religionszugehörigkeit zumindest Teil einer Konstruktion von ethnicity sein. Die ›Heiden‹ stammen nicht aus derselben Umgebung, hier Frankreich, wie der Held, der hier die Norm bildet. Zudem sind die oben geschilderten Figuren Träger von 24 Vgl. zum »Willehalm« Wolframs von Eschenbach u. a. Winterhalter, Tanja: Der Fremde – das Fremde: Das Bild des Heiden Rennewart in Wolframs ›Willehalm‹. Hamburg 2011; Heinzle, Joachim: Noch einmal: Die Heiden als Kinder Gottes in Wolframs ›Willehalm‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie (117) 1998, S. 75–80. 25 Hier und im Folgenden zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Willehalm. 3., durchgesehene Auflage. Text der Ausgabe von Schröder, Werner. Übersetzung, Vorwort und Register von Kartschoke, Dieter. Berlin, New York 2003, hier V. 35,20–25.

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wahrnehmbaren physischen Merkmalen, die von der Norm abweichen: Sie haben hürnines vel und sie sind besonders schnell. Wenn nun davon ausgegangen werden kann, dass diese Figuren der Spezies Mensch angehören, so könnte hiermit durchaus race oder ethnicity beschrieben werden. Doch sie unterscheiden sich deutlich von der Schilderung der Figur Rennewart, der auch den ›Heiden‹ zugerechnet wird. man kos der muoter ere / an im, diu sölhe vruht gebar. / al sin antlütze gar / ze wunsche stount und al diu lide. / sin clarheit warp der wibe vride: / ir neheiniu haz gein im truoc / […] er was des unberoubet, / sin blic durh rost gap sölhiu mal / als do den jungen Parzival / vant mit siner varwe glanz / der grave Karnahkarnanz / an venje in dem walde.26

Auch hier wird ein ›Heide‹ beschrieben. Im Gegensatz zur Beschreibung des Heers von König Gorhandes ist jedoch nicht von einem Wesen mit Hornhaut die Rede, das sich außergewöhnlich schnell bewegen kann. Vielmehr ist der hier beschriebene junge Adelige besonders schön, so schön sogar, dass er mit Parzival, dem schlussendlich heilsbringenden Gralssucher, verglichen wird. Zudem deutet der Verweis auf der wibe vride darauf hin, dass sich Rennewart kenntnisreich in einem kulturellen Umfeld des Hofes bewegt. Nichts in dieser Beschreibung ist mit der des ›Heidenheers‹ zu vergleichen und es findet sich auch nichts in dieser Textstelle, was darauf hinweist, dass hier von einer anderen race gesprochen wird. Dieses Beispiel kann zum einen zeigen, dass es innerhalb einer Positionierung durch race Differenzen gibt, zum anderen aber auch, dass andere Kategorien wie gender und ›Stand‹, in der konkreten Positionierung Ritter die Kategorie race überlagern und verändern können. Während die Kategorie ›Stand‹ die Figur in die Nähe Parzivals und somit der Norm rückt, werden die Fußsoldaten König Gordands mit tierlichen Attributen versehen und so in die Nähe des Animalischen gerückt. Wie geht man aber mit diesen Differenzen um? Erst durch einen intersektionalen Fokus können Differenzen innerhalb der Kategorie race greifbar gemacht werden. Ein weiterer Punkt, der den Umgang mit der Kategorie race bei der Analyse mittelalterlicher Literatur schwierig macht, ist die hohe Varianz der Figuren innerhalb der Texte. Sind Figuren wie Riesen, Zwerge oder ›Heiden‹ im Vergleich zu einer Figur wie beispielsweise Brünhild aus dem »Nibelungenlied« mit dieser Kategorie überhaupt zu fassen?27 Brünhild ist in Bezug zu »Melusine« aufgrund

26 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche übertragen von Spechtler, Franz. Klagenfurt 2016, hier V. 271,6–21. 27 Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B. Hg. v. Schulze, Ursula. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Grosse, Siegfried. Stuttgart 2011. Vgl. hier besonders die ffventiuren 6 und 7.

Zur Kategorie race in Thürings von Ringoltingen »Melusine«

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der Überkreuzung ihres gender interessant.28 Brünhild ist, wie auch Melusine, die einzige Figur ihrer race, es taucht keine weitere auf, die alle ihre Merkmale trägt. Ist es also nur ein Zauber beispielsweise und keine biologisch am und im Körper verankerte Eigenschaft, der sie für kurze Zeit, nämlich nur bis zu ihrer Entjungferung durch Gunther, von der Norm abweichen lässt? Doch davon erfahren die Rezipient_innen nichts. Weiter könnte man argumentieren, dass die Kategorie gender, hier Jungfrau, die Normabweichung veranlasst, wobei dabei wieder zu berücksichtigen wäre, dass auch Jungfräulichkeit als ein ›biologisches‹ Merkmal konstruiert wird. Natürlich konstituieren diese Aspekte die Figur, doch können wir mit Sicherheit sagen, dass Brünhild die einzige ihres Reiches ist, die übermenschliche Kräfte hat? Auch hierzu schweigt der heldenepische Text. Auch gibt er keine Hinweise darüber, ob nur jungfräuliche Frauen besonders kräftig sind, vergleichbar etwa mit den Amazonen, oder auch jungfräuliche Männer. Die Kraft mit der Jungfräulichkeit in Verbindung zu bringen scheint durchaus plausibel, vor allem da Brünhild ihre Kraft mit dem Ende ihrer Jungfräulichkeit verliert, doch auch damit nimmt sie eine Sonderstellung ein, denn Kriemhild beispielsweise hat als Jungfrau keine übermäßigen Kräfte. Hinzu kommt, dass Brünhild auch räumlich außerhalb der Norm angesiedelt wird. Am Beispiel Brünhilds lässt sich auch hier gut erkennen, wie wichtig andere Differenzkategorien für das Bild von race sind. Schließlich sorgt die Relation zwischen gender und Körper dafür, dass angenommen werden kann, dass Brünhild zu einer normabweichenden race gehöre, denn ihre Körperkraft und deren Bedeutsamkeit für ihren Stand und ihre Herrschaftspotenz passt nicht zu ihrem gender als adlige Frau. Astrid Lembke beschreibt den dominanten Herrschaftstypus im »Nibelungenlied« wie folgt: »Der traditionelle Herrschaftstypus der höfischen Welt ist im Nibelungenlied allein Männern vorbehalten. Die Macht höfischer Frauen speist sich aus der Herrschaft ihrer Väter, Brüder und Ehemänner.«29 Brünhild wäre demnach keine Vertreterin des traditionellen Herrschaftstypus, weicht daher von der Norm ab. Lembke ordnet Brünhild ebenso wie Siegfried dem heroischen Herrschaftstypus zu und merkt an, dass sie auch nach ihrer Integration in den Wormser Hof, die sie ihre Identität kostet und Siegfried sein

28 Vgl. zur Brünhild-Figur im »Nibelungenlied« aus einer intersektionalen Perspektive u. a. Schul [Anm. 8], S. 253–289; Schul, Susanne: »So hielt dies Buch mich fest. […] Und [ich] las das Lied von Siegfried und Kriemhild«: Heroisches Erzählen im Nibelungenlied und in Nibelungen-Adaptionen. In: Hebbel-Jahrbuch 72 (2017), S. 32–65; Lembke, Astrid: Umstrittenen Souveränität. Herrschaft, Geschlecht und Stand im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen. In: Bedecovic´ [Anm. 8], S. 51–73 und Roth, Ninja: Erste Begegnungen. Paarbeziehungen und Grenzüberschreitungen im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen. In: Bedecovic´ u. a. [Anm. 8], S. 189–208. 29 Lembke [Anm. 28], S. 55.

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Leben, noch Teile heroischen Charismas besitze.30 Sie führt als Beleg Strophe 1097 der 19. Aventiure an: Brünhild diu schœne mit übermüete saz.31 Doch übermüete ist keinesfalls positiv konnotiert. Selbst wenn dieser Vers als Restbestand Brünhilds heroischer Herrschaft gelesen werden kann, wird er ihr vom Erzähler negativ ausgelegt und zeigt nur ihre Fremdheit in der höfischen Welt des Wormser Hofes. Diese Fremdheit ähnelt der Melusines im Bad, wie noch zu zeigen sein wird. Die verschiedenen race unterscheiden sich voneinander schließlich nur durch den Grad ihrer Normabweichung: Während Brünhild sich eher nahe der Norm bewegen würde,32 wären Riesen dagegen weiter von ihr entfernt zu verorten. Dennoch ist race auch in mittelalterlicher Literatur kein statisches Konstrukt. Veränderungen innerhalb der eigenen race sind genauso möglich, wie Veränderungen in der Differenz zur Norm. So könnte man fragen, ob Feirefiz33 nach seiner Taufe seine race nicht eigentlich ablegt und sich der Norm anpasst.34 Äußerliche Merkmale treten dabei in den Hintergrund oder verschwinden gänzlich bzw. werden auf der Ebene der Narration zum Verschwinden gebracht: Feirefiz’ Farbe wird weder vom Erzähler noch von den Figuren nach seiner Taufe jemals wieder erwähnt. Er ist nun nicht mehr von der Norm zu unterscheiden, wie auch Melusines Sohn Anthoni, dessen körperliches Merkmal schließlich umgedeutet wird, wie noch zu zeigen sein wird.

III.

Die Kategorie race als Analyseinstrument in Thürings von Ringoltingen »Melusine«

Mit »Willehalm«, »Parzival« und dem »Nibelungenlied« wurden Beispiele für race in verschiedenen Gattungen – Kreuzzugsepik, höfischer Roman und Heldenepik – betrachtet, ohne dass sich eindeutige Bezüge zwischen Gattung und race hätten finden lassen: Die Formen von race variieren innerhalb der Texte und Gattungen. Ich möchte mich im Folgenden nun einem frühneuzeitlichen Text zuwenden: Thürings von Ringoltingen 1456 entstandener »Melusine« in der

30 31 32 33 34

Vgl. ebd., S. 62. Nibelungenlied B, Str. 1097,1. Norm ist hier als typisches Muster intersektionaler Überschneidungen zu definieren. Wolfram von Eschenbach: Parzival, V. 793,4–823,30. Vgl. zum Fremden in Wolframs von Eschenbach »Parzival« u. a. Karg, Ina: Bilder von Fremde in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹. Das Erzählen von Welt und Gegenwelt. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. v. Bachorski u. a. Trier 1993, S. 23–43; Raucheisen, Alfred: Orient und Abendland: ethisch-moralische Aspekte in Wolframs Epen ›Parzival‹ und ›Willehalm‹. Frankfurt a. M. 1997.

Zur Kategorie race in Thürings von Ringoltingen »Melusine«

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Fassung des Erstdrucks.35 Besonders auffällig ist hier, wie sich race wandeln kann und in neuen Situationen immer wieder betont, abgeschwächt und überblendet wird, was sich erst in einer intersektionalen Perspektive als spezifische Überlagerungen verschiedener Differenzkategorien herausarbeiten lässt.36 Wie in den mittelalterlichen Texten ist race auch hier kein statisches Konzept: Der Erzähler berichtet nicht davon, dass Melusine ein Meerwunder ist, er spricht davon, dass sie in eines verwandelt wird. Wie im Laufe des Romans erzählt wird, hat Melusine ihre Gabe, als welche die Verwandlung in ein Meerwunder hier bezeichnet wird, von ihrer zauberkundigen Mutter Presine als Strafe erhalten: das sy´ sol seZn vnd werden alle samstag von dem nabel hin vnder ein schlang oder wu˚rm.37 Durch den Begriff der ›Gabe‹ erhält Melusines race eine weitere Dimension, denn man könnte durchaus argumentieren, dass hier überhaupt nicht von race gesprochen werden kann, da die körperliche Verwandlung doch von einer Art Zauber hervorgerufen wird. Melusine wäre demzufolge nichts weiter als ein verzauberter oder verfluchter Mensch. Für eine race-Positionierung spräche allerdings, dass sie körperliche Merkmale, die anscheinend von ihrer Verwandlung in ein Meerwunder herrühren, an ihre Söhne weitergibt und zwar durch biologische Vererbung im Rahmen geschlechtlicher Reproduktion. Sie ist bei der Verwandlung also passiv. Auch werden das Tabu und die Geheimhaltung der Verwandlung in eine Schlange betont und nicht die Verwandlung an sich. Es ist also anzunehmen, dass die Strafe oder der Fluch eher darin besteht, sich einen geheimen Raum zu schaffen und diesen aufrecht zu erhalten, was Presine nicht gelang. Wie ist also Melusines race zu beschreiben? Sie kann zum einen von der Norm durch ihre Herkunft unterschieden werden, denn sie stammt von einer Zauberin ab, deren Ehe ebenfalls von einem Tabu geprägt ist. Zum anderen verwandelt sich 35 Die älteste handschriftliche Fassung stammt von 1456, der früheste Druck aus dem Jahr 1474. 36 Vgl. zur »Melusine« von Thüring von Ringoltingen u. a. Müller, Jan-Dirk: Melusine in Bern. Zum Problem der ›Verbürgerlichung‹ höfischer Epik im 15. Jahrhundert. In: Literatur – Publikum – historischer Kontext. Hg. v. Kaiser, Gert. Bern u. a. 1977, S. 29–77; Müller, JanDirk: Text und Paratext. ›Melusine‹-Drucke des 16. Jahrhunderts. In: Zeichensprache des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Hg. v. Rautenberg, Ursula u. a. Berlin, Boston 2013, S. 17–31; von der Lühe, Irmela: Die Frau als Naturwesen im Volksbuch von der ›Melusine‹. In: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität der Frauen. Hg. v. Gruppe Berliner Dozentinnen. Berlin 1977, S. 220–229; Junk, Ulrike: ›So müssen Weiber sein‹. Zur Analyse eines Deutungsmusters von Weiblichkeit am Beispiel der ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen. In: Der frauwen buoch. Versuche zu einer feministischen Mediävistik. Hg. v. Bennewitz, Ingrid. Göppingen 1989, S. 327–352; StörmerCaysa, Uta: Melusines Kinder bei Thüring von Ringoltingen. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 121 (1999), S. 239–261; Bock, Nicolas: Der Blick auf den Körper: zur verlorenen Ehre der ›Melusine‹ Thürings von Ringoltingen. In: Körper – Kultur – Kommunikation. Bern 2014, S. 231–255. 37 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 139,36f.

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Melusine jeden Samstag vom Nabel abwärts in einen (frnhd.) wurm, also ein drachenähnliches Geschöpf. Ganz deutlich wird, dass Melusines race wandelbar ist. Inszeniert wird sie in einem Andersraum, nämlich an einem brunnen genant der turst brunn.38 Wir haben es hier mit einem außerhöfischen Ort zu tun, der ¨ r39 zudem durch Reymunds Vetter als Schauplatz fremder wunder vnd abentew beschrieben wird. In dieser für eine höfische Dame ungewohnten Umgebung, e denn daran, dass sie adelig ist, lässt der Erzähler keinen Zweifel (dreZ schon junckfrawen hochgeboren von adelicher gestalt40), übersieht Reymund Melusine zunächst gänzlich. Als er ihrer schließlich gewahr wird, erschrickt er : Da Reymund die schon junckfraw ersach erschrack er / vnd west nit ob er lebendig oder e tod was / oder ob das ein gespenst oder fraw war.41 Reymund nimmt Melusine bereits beim ersten Kontakt als fremd wahr, wobei Fremdheit nicht unbedingt mit race einhergehen muss. Fremdheit wird hier zum einen durch den inszenierten Raum ausgelöst, der als entrückt gekennzeichnet ist, und zum anderen durch gender. Reymund erschreckt sich nicht nur, weil er, wie der Erzähler betont, so in sein Leid vertieft ist, dass er die Damen nicht sieht, sondern er erschreckt sich, weil er an einem Ort mitten im Wald, auch wenn dieser durch einen Brunnen kultiviert scheint, nicht mit der Anwesenheit von Damen rechnen muss. Daraus ergibt sich auch sein Zweifel, ob das ein gespenst e oder fraw war. Durch gespenst öffnet sich ein weiteres Deutungsfeld, dass bei D’Arras und Coudrette noch viel deutlicher vorhanden ist, nämlich das verlockende, teuflische Trugbild,42 der Dämon. Reymund fragt sich, ob das, was er sieht, ein Dämon sein könnte oder doch eine Frau. Erst als er sich ihren Körper genauer ansieht, kommt er zu dem Schluss, dass sie doch eine Frau sein müsse, und zwar eine Adelige. ›Stand‹ und gender werden auf dem Körper abgebildet. Der Zweifel Reymunds, ob er es hier nicht doch mit einem Dämon zu tun hat, bleibt bestehen, bis Melusine ihre christliche Gesinnung beteuert. Do nun ReZmond hort das sZ von gott redte da gewan er besundern trost zu˚ ir / vnd gedacht in seinem herczen Nun mag ich ettwas trostes haben das die junckfraw kein gespenste noch keins vngelaubens / sunder von Christlichem blu˚t kommen vnd nicht vngelaubig seZ […].43

Es ist das Zusammenspiel anderer Kategorien wie gender, ›Raum‹ und ›Religion‹, die race hier erst konstruieren. Es ist auffällig, dass vom Erzähler in dieser Szene Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 22,4f. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 33,6. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 22,6f. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 22,16–23,1. Vgl. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, 38. Auflage. Stuttgart 1992, S. 66 [gespanst]. 43 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 24,13–18. 38 39 40 41 42

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zu keinem Zeitpunkt äußerliche Merkmale erwähnt werden, die race aufrufen könnten, sondern auf diese Weise eher ethnicity hervorgehoben wird. Der Leser bekommt schließlich erst durch Reymunds Reaktion (und somit durch die Fremdwahrnehmung einer Figur) eine Idee davon, dass Melusine als different markiert ist und nicht der Norm entspricht. Ganz deutlich wird hier der Aspekt des Blutes aufgenommen und damit ›Religion‹ auf eine andere Ebene gehoben. Christentum ist hier nicht länger ausschließlich spiritueller Verbund, sondern eine Gemeinschaft des Blutes. ›Religion‹ erhält hier also eine biologische Komponente der Vererbung und Abstammung. Auch in der folgenden Textstelle ist es die Fremdwahrnehmung, die Melusine von der Norm scheidet. Reymunds Bruder, der Graf vom Forst, kommt an einem Samstag nach Lusignan und bemängelt, dass Melusine sich nicht zu ihren Gästen begibt. reZmund lieber pru˚der ich besorg ir seZt beczaubert / vnd das ist ein gancz lantmer / vnd spricht menigklich < /> ir seZt nit wol bedacht das ir nit süllent noch getürrent ¨ rem gemahel nachfragen wo sZ oder wie sZ sich halte an dem samstag / vnd ist ein ew fremde sach das ir nit süllent wissen was ir gewerb thu˚n oder ir lassen seZ / vnd ich mu˚ß es eüch sagen < /> ir habt sein grosse vnere vnd vil nachrede dann ettliche meinen sZ treib bu˚breZ […].44

Der Graf vom Forst argumentiert hier zunächst gender und ›Stand‹ betreffend. Das Reymund beczaubert sei, kann auch so verstanden werden, dass eine Frau ihn verzaubert hat und er nun nicht mehr so handeln kann, wie es seinem gender und seinem Stand zustünde, mit dem Wissen um das Geheimnis Melusines und der daraus resultierenden Macht über sie. Vermittelt wird also, dass es nicht richtig sei, einer Frau derartige Freiheiten zu gewähren. Das Adjektiv fremde kann als ›auffallend‹, ›befremdlich‹ gelesen werden. Damit ist nicht die Figur Melusine gemeint und auch nicht in erster Linie ihr Verhalten, sondern zunächst Reymunds Umgang mit dem Verstoß gegen normative Vorgaben zu den Geschlechterverhältnissen im Adel. So agiert nicht nur Melusine wider ihr gender, auch Reymund tue dies, so der implizite Vorwurf. Reymunds gender und ›Stand‹ fallen hier jedoch zusammen, denn er ist nicht nur ein Mann, der seine Frau beherrschen muss, er ist auch ein Landesherr. Seine Passivität wird damit nicht nur zum Problem für sein gender auf der Mikroebene der Identitätskonstruktion, sondern durch den normativen Bezug auf ›Stand‹ auch für die Legitimität seiner Herrschaft und die durch ihn als Herrscher repräsentierte Gemeinschaft, denn das ganze Land spricht bereits über ihn. Weiter besteht der Vorwurf der Untreue seitens Melusine. Doch im Verlauf des Monologs nimmt die Argumentation des Grafen vom Forst eine andere Richtung: 44 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 96,13–21.

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Ettliche sprechen / es seZ ein gespenst / vnd ein vngeh[wr wesen vmb sZ. Diß sag ich eüch als meinem lieben pru˚der / vnd rat eüch das ir gedenckent zu˚ wissen was ir gewerb seZ < /> das ir nit zu˚ einem toren gemacht werdent / vnd ir von ir geeffet werdent.45

Die Anspielung auf eine Differenz in Bezug auf race wird genutzt, um sie in einem weiteren Schritt auf gender zu spiegeln. Die Wahrnehmung von race wird an dieser Stelle mehrfach gefiltert: Im ersten Schritt erkennen diejenigen, die hier als Etliche bezeichnet werden, etwas, das Melusine umgibt und das nicht der christlich-höfischen Norm entspricht. Sie bezeichnen nicht Melusine selbst als ein gespenst / und ein vngeh[wr wesen, sondern formulieren nur, dass ein solches sie umgebe. Es folgt eine implizite Verortung, während eine direkte Bewertung Melusines zunächst ausbleibt. Erst der Graf vom Forst überträgt die Aura des Gespensts direkt auf Melusine und lässt sie damit selbst zu einem werden. Während die ersten Betrachter Melusines Normbruch vielleicht als Markierung der Differenz in Bezug auf race erkannt haben, begreift der Graf sie nicht, und obwohl er race und gender auf einander bezieht, löst er die race-Markierung schließlich zugunsten von gender vereindeutigend auf. Für den Grafen vom Forst ist es also naheliegender, die Fremdheit als weibliches Fehlverhalten zu deuten, statt als Ausdruck einer Positionierung durch race. Wie bei Brünhild wird dies von den anderen Figuren als Fremdheit wahrgenommen. Der Graf vom Forst benutzt Gespenst und vngeh[wr wesen allerdings, um die Diskrepanz im gender hervorzuheben. Als Reymund daraufhin schließlich das Tabu bricht und Melusine im Bad sieht, von dem nabel hinab do was sy ein grosser langer veZntlicher ¨ rer wurmes schwancz,46 scheint es nicht die Entdeckung der race vnd vngehew seiner Gemahlin zu sein, die ihn bekümmert, sondern die Sorge der Entdeckung des Tabu-Bruchs. Erst durch das Fehlverhalten des Sohnes Goffroy, in dem sich Melusines race fortzusetzen scheint, kommt es zum Bruch: Reymund leitet die Verantwortung für dieses Fehlverhalten nicht nur direkt von Melusine ab, sondern vielmehr von ihrer race: Dein sam noch dein geschlecht thu˚t nymmer mer gu˚t.47 Auch hier wird ganz deutlich, dass von race die Rede ist und nicht etwa von ethnicity, denn Reymund fürchtet eine biologisch begründete, nicht beeinflussbare Vererbung der race Melusines und will sie schließlich auch im Verhalten des Sohnes erkannt haben. Schon hier findet eine Ableitung von biologischen Merkmalen durch beobachtbares Figurenverhalten statt. Reymund verdammt Melusine also nicht aufgrund ihrer race, sondern weil sie diese an seine Nachkommenschaft weitergegeben hat. Dass Melusine damit Unrecht getan wird, zeigt der Erzähler, indem er sie frumme fraw48 nennt. 45 46 47 48

Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 96,21–26. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 97,18–20. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 114,17–115,1. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 114,13f.

Zur Kategorie race in Thürings von Ringoltingen »Melusine«

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Melusines race zeichnet sich nur bedingt am Körper ab, nämlich erst, als Reymund sie tatsächlich in Gestalt des Meerwunders im Bad sieht, primär wird ihre race aber durch die Wahrnehmung der anderen Figuren bestimmt. Dies geschieht vor allem, indem sie in anderen Kategorien wie gender oder ›Stand‹ von der Norm abweicht und dabei so fremdartig wirkt. Kategorien wie ›Religion‹ werden hingegen benutzt, um diese Fremdheit wieder zu minimieren. Auch der Körper Melusines reguliert ihre race wieder, denn Melusine wird von der Erzählerstimme stets als schön und jung bezeichnet, was wiederum Kategorien wie ›Stand‹ und gender näher an die Norm rückt und damit race verschleiert. Damit bewegt sich Melusine in einem Spannungsfeld der Kategorien, bis schließlich die äußerlichen Merkmale ihrer race, die sie im Bad trägt, aufgedeckt werden, sich also körperlich materialisieren. Anders als Melusine sind ihre Söhne alle mit einem dauerhaft sichtbaren Makel gezeichnet, der zwar bei der Einführung der Figuren ausgeführt wird, aber bei anderen Figuren nicht im Geringsten zur Wahrnehmung von Fremdheit führt. Darnach gewan sZ einen sun genant Anthoni / der selb bracht auff die welt einen leowen griff an seinem backen / diser was auch rauch von hare / vnd hett lang vnd scharff negel e an seinen fingern / vnd was so graussamlich gestalt das kein man in sach er must in 49 fürchten.

Das Merkmal, dass Anthoni trägt, zeichnet sich nur am Körper der Figur ab. Innen und außen passen aber nicht überein – vnd was so graussamlich gestalt das e kein man in sach er must in fürchten – bezieht sich lediglich auf seine Äußerlichkeit. Weiter wird er als mit ritterlichen mu˚tt ausgestattet und mannlich50 beschrieben, so dass sein furchteinflößendes Äußeres durchaus positiv auf kämpferische Qualitäten verweisen könnte. Auch als Fürstin Christina zur Hochzeit mit Anthoni geraten wird, wird er als manlich Ritter51 bezeichnet. Anthoni ist innen gut und äußerlich von graussamlich gestalt. Die Fremdheit Melusines hingegen, die bei den anderen Figuren durch die Übertretung, beispielsweise ihrer gender-Grenzen, aber auch durch Hellsichtigkeit52 hervorgerufen wird, und Melusines race bedingt, bildet sich schließlich, wenn auch zunächst nur für Reymund sichtbar, am Wurmschwanz ab, den sie in der samstäglichen Verwandlung bekommt. Im Fall von Anthoni soll der Leser jedoch enttäuscht werden, denn in der späteren aventiure wird sein Makel, der loewen 49 50 51 52

Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 49,1–5. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 64,24f. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 72,3. e Ach edel vnd schone junckfraw / mich kann nit verwundern das ir meinen namen wissent / ¨ ch Ze bekannt hab […] (Thüring von Ringoltingen, wann mich bedunckt nit das ich ew Melusine, S. 23,21–23).

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Nicola Neußel-Fischer

griff, nicht mehr erwähnt. Grund für die narrative Ausblendung von race bei Anthoni – und nicht nur bei ihm, sondern bei allen Söhnen Melusines, mit Ausnahme von Goffroy, dem eine Sonderstellung im Roman zukommt – ist die Darstellung der Figur als Kämpfer und Landesherr, von dem ein historisch belegbares Geschlecht abstammen soll. Es darf nicht vergessen werden, dass die »Melusine« zugleich Gründungs- und Stammesgeschichte des Hauses Lusignan ist. Doch der loewen griff verschwindet nie ganz: […] Aller liepster gemahel meines vatters vnd aller meiner vordren wappen gepürt mir nit ze lassen Aber ich han ein warzaichen an dise welt bracht mit dem leowen griff den ich an meinem backen han / darumb mich manigs mensch zu˚ wunder vnd selczamkeit beschawet hat / deßhalb so will auff meinem helm zu˚ einer losunge fu˚ren vnd auch ¨ ch zu˚ willen sein / seZder das ir in [wrem haben eine leowen / vnd vmb so vil will ich ew wappen auch fu˚rent den leowen.53

Anthoni berichtet hier von der Fremdwahrnehmung seines Makels. Die Rezipient_innen erfahren so zum ersten Mal von dieser Fremdwahrnehmung, denn im Text wird der loewen griff vom Erzähler nicht mehr erwähnt und auch die Figuren beschreiben Anthoni nicht mit dem Makel, sondern verwenden Attribute des Kämpfers, so dass race hier in eine bekannte und normgerechte Intersektion von ›Stand‹ und gender überführt wird. Das Merkmal, das, wie Reymund es ausdrückt, Melusine durch ihren sam an ihre Söhne vererbt, wird in einen höfischen Kontext übertragen und so schließlich ein Zeichen von Herrschaft. Die Kategorie race wird damit in ethnicity überführt. Das Löwenmal ist nicht länger ein biologisches Merkmal von race, wie zuvor bei Melusine, sondern in seiner bildlichen Form des Wappens nur noch ein Merkmal von Handlung und Kultur sowie von Macht und Herrschaftspotenz.

IV.

Schlussbetrachtung

Das Anliegen der vorangegangenen Ausführungen war es aufzuzeigen, wie sich race in Texten des Mittelalters und schließlich in einem frühneuhochdeutschen Text abbildet und in Überkreuzung mit anderen Kategorien verändert. Race wird in der »Melusine« durch die Wahrnehmung anderer Figuren greifbar. Melusines race wird dabei stets durch ein Gefühl des Fremden wahrnehmbar und steht meistens mit einer übermäßigen oder ungewöhnlichen Übertretung der Norm in einer anderen Differenzkategorie in Verbindung, beispielsweise der Normtransgression ihrer weiblichen gender-Rolle. Weiter lässt sich sagen, dass Melusines race sehr eindeutig auf ihrem Körper abgebildet wird und deswegen 53 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 76,17–34.

Zur Kategorie race in Thürings von Ringoltingen »Melusine«

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verborgen werden muss. Die Abstammung von Melusines race ist bei ihren Söhnen durch körperliche Zeichen zwar dauerhaft sichtbar, tritt jedoch fast gänzlich hinter andere Kategorien wie ›Stand‹ oder gender zurück, weil sie sich auf der Ebene kultureller Repräsentationen wesentlich unproblematischer als positives körperliches Zeichen normativer Intersektionen dieser Kategorien interpretieren lassen, als dies bei Melusines Drachenschwanz möglich wäre. Besonders deutlich wird am Beispiel der Melusine aber der Unterschied von race und ethnicity : Während Melusines Äußeres nur im samstäglichen Bad ihre race abbildet, ist sie im Inneren allgegenwärtig. Dies ändert sich schließlich in der nächsten Generation, die dauerhaft durch ein äußeres Merkmal gezeichnet ist, das aber weder vom Erzähler, noch von den Figuren weiter erwähnt wird und durch die Interpretierbarkeit als Körperzeichen einer normativen Intersektion von gender und ›Stand‹ schließlich in der heraldischen Abbildung von race nach ethnicity überführt wird. Durch diese Übertragung wird eine neue Identität und Kultur geschaffen, die Melusines race nur noch als Fundament und Ausgangspunkt aufweist. Besonders interessant wird es schließlich, bedenkt man, dass die Auftraggeber von Jean D’Arras und Coudrette, der Herzog von Berry bzw. die Familie Panthenay, dies in gleicher Weise tun, indem sie Melusine als Ahnfrau in ihre Familiengeschichte einsetzen und damit die ursprünglich normbrechendbeängstigende Fremdheit der angeblichen Herkunft zu einem normstabilisierenden Ausweis der eigenen Erwähltheit und Besonderheit wandeln. Dadurch wird Identitäts- und Kulturbildung in Gang gesetzt, die nichts mehr mit race, aber viel mit ethnicity zu tun hat.

Susanne Schul

(V)Erlesene Animalität: Intersektionale Emotionalisierungsprozesse im spätmittelalterlichen Heldenepos

Bis an den fünften morgen der künigdegen rait. die strasse und auch die steige er vil gar vermaid. aller hande wildes sach er vil manige schar, sein ross begunde müeden, des ward er traurig gar. (Wd A, 455) Da muote in hart sein starke arbait. an allen seinen freuden was im widersait. in begraif grosse swäre, des enkunde er nicht bewaren, daz er in der wilde muoste one strasse farn. (Wd A, 456) »Nu müess es got erbarmen« sprach der Wolff Diettrich. »ich lass in disem walde alles mein künigreich.« da zoch er ab di brünne und warf si auf ein ron. mit trauriklichem muote so schied er darvon. (Wd A, 457)1

Sein erstes Einzelabenteuer erweist sich für Wolfdietrich, den Helden des gleichnamigen epischen Textes, als eine deutlich krisenhafte Erfahrung.2 Es führt den jungen Königssohn in den Bereich der weglosen Wildnis, die als ein Raum des Undomestizierten und Ungeordneten, der Animalität und der ständigen Gefährdung entworfen wird. Hier erleidet der Held nach der Trennung von 1 Die Fassung A des »Wolfdietrich«-Epos wird nach folgender Ausgabe zitiert und mit der Abkürzung »Wd A« versehen: Otnit. Wolf Dietrich. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg. und übers. v. Fuchs-Jolie, Stephan u. a. Stuttgart 2013. 2 Vgl. zur Stoff- und Überlieferungsgeschichte der »Wolfdietrich«-Dichtung u. a. Neumann, Friedrich: Zur Geschichte des Wolfdietrich. In: Germania 28 (1883), S. 346–358; de Vries, Jan: Die Sage von Wolfdietrich. In: GRM 66 (1958), S. 1–18; Bäcker, Linde: Die Sage von Wolfdietrich und das Gedicht Wolfdietrich A. Univ. Diss. Mainz 1958, S. 31–82; Hoffmann, Werner : Mittelhochdeutsche Heldendichtung. Berlin 1974 (Grundlagen der Germanistik 14), S. 133–158; Dinkelacker, Wolfgang: [Art.] Wolfdietrich. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 7. Berlin 1989, Sp. 58–67; Heinzle, Joachim: Wolfdietrich. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. v. Killy, Walter. Bd. 12. Gütersloh, München 1992, S. 399–401; Miklautsch, Lydia: Montierte Texte – hybride Helden. Zur Poetik der Wolfdietrich-Dichtungen. Berlin, New York 2005 (Quellen und Forschungen 36), S. 36–76.

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seinen Gefährten nicht nur eine soziale Deklassierung und radikale Vereinzelung, sondern er und sein Pferd müssen schon bald um ihr Überleben fürchten. Als Wolfdietrich aus dem Erbfolgekrieg gegen die eigenen Brüder als Unterlegener hervorgeht, zieht er allein aus, um Unterstützung für sich und seine Männer zu finden. Doch während er zuerst noch vor Handlungseifer strotzt, erweist sich die Suchfahrt schon bald als eine körperliche und emotionale Grenzerfahrung. Es entsteht eine neuartige Wahrnehmungssituation, wenn männlicher Bewährungsdrang, heroische Leistungsfähigkeit und ritterlich-höfische Erziehung völlig ins Leere laufen. Stattdessen erweist sich eine umfassende Niedergeschlagenheit des Helden als die dominante Verfasstheit. Wolfdietrich empfindet sogar seine Rüstung, eines der wenigen väterlichen Erbstücke und materielles Zeichen seiner Standeszugehörigkeit, als so schwer, dass er sie ablegen muss. mit trauriklichem muote (Wd A, 457,4) destruiert er sich auf diese Weise selbst als Königssohn, Ritter und Heros.3 Verlusterfahrung, Handlungsunfähigkeit und emotionale Verunsicherung provozieren nun einen Prozess der Selbstreflexion. Wolfdietrich holt einen Brief hervor, der eine zentrale Episode seiner Kindheitsgeschichte festhält, und konfrontiert sich im lauten Verlesen selbst mit seiner ambivalenten Positionierung: In ihr überlagern sich ständische Privilegierung, animale Signatur, göttliches Erwählt-Werden und radikaler Ausschluss aus der höfischen Gemeinschaft.4 Die 3 Vgl. zur Emotionalisierung ›trauriger‹ Helden-Figuren u. a. Blank, Walter : Der Melancholikertypus in mittelalterlichen Texten. In: Mittelalterliche Menschenbilder. Hg. v. Neumeyer, Martina. Regensburg 2000 (Eichstätter Kolloquium 8), S. 119–145; Sieber, Andrea: Lancelot und Galahot: Melancholische Helden? In: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Hg. v. Baisch, Martin u. a. Göttingen 2003 (Aventiuren 1), S. 209–232; Ackermann, Christiane u. Ridder, Klaus: Trauer – Trauma – Melancholie. Zum »Willehalm« Wolframs von Eschenbach. In: Trauer. Hg. v. Mauser, Wolfram u. Pfeifer, Joachim. Würzburg 2003 (Freiburg Literaturpsychologische Gespräche, Jahrbuch für Literatur und Psychologie 22), S. 83–108; Koch, Elke: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 2006; Mecklenburg, Michael: Traurig töten. Depressionsabwehr in der historischen Dietrichepik. In: Melancholie – zwischen Attitüde und Diskurs. Konzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Sieber, Andrea u. Wittstock, Antje. Göttingen 2009, S. 159–178; Klinger, Judith: Ohn-Mächtiges Begehren. Zur emotionalen Dimension exzessiver manheit. In: Machtvolle Gefühle. Hg. v. Kasten, Ingrid. Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 24), S. 189–217. Vgl. zur Verhältnisbestimmung von Praktiken und Emotionen bes. Reckwitz, Andreas: Praktiken und ihre Affekte. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Heft 1/2 (2015), S. 27–45, hier S. 35–41. 4 Vgl. zur Hybridität von Helden-Figuren u. a. Fuchs, Stephan: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik im frühen 13. Jahrhundert. Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31); Schulz, Armin: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: ›Willehalm von Orlens‹ – ›Partonopier und Meliur‹ – ›Wilhelm von Österreich‹ – ›Die schöne Magelone‹ Berlin 2000 (Philosophische Studien und Quellen 161); Kraß, Andreas: Der bastardierte Ritter. Zur Dekonstruktion höfischer Identität im Großen Wolfdietrich. In: Ordnung

Intersektionale Emotionalisierungsprozesse im spätmittelalterlichen Heldenepos

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Lektüre eröffnet als eine reflexiv-affektive Praktik einen Interferenzmodus, der die Möglichkeiten und Bedingungen der Selbst- und Fremdpositionierung des Helden als ein performatives ›Werden‹ sichtbar macht.5 Somit stellt sich im Folgenden die Frage, wie sich emotionale Dispositionen auf ein Selbstverhältnis im heldenepischen Erzählen auswirken. Einerseits bildet sich eine Heldenidentität im Vollzug sozialer Praktiken, vornehmlich durch männlich-adelige Gewaltfähigkeit, kämpferische Herausforderung und deren normative Ordnung. Andererseits umfasst sie aber auch hyperbolische Handlungsformen, die zur Gefährdung der höfischen Gemeinschaft beitragen. Dabei verbindet sich ein heroischer Tatendrang spannungsreich mit Charakteristika der adeligen Repräsentationskultur, körperlicher Disziplinierung und einem ständischen Eliteanspruch, der sich durch Formen sozialer Kontrolle sowie Distinktion auszeichnet.6 Die Befähigung, sich reflektiert zu jenen Ordnungen zu verhalten, in und Unordnung in der Literatur des deutschen Mittelalters. Hg. v. Harms, Wolfgang u. a. Stuttgart, Leipzig 2003, S. 165–178; Kratz, Bernd: Von Werwölfen, Glückshauben und Wolfdietrichs Taufhemd. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 211 (1974), S. 18–30; Miklautsch [Anm. 2], S. 102–113; Friedrich, Udo: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Göttingen 2009, S. 321–335; Schuler-Lang, Larissa: Wildes Erzählen – Erzählen vom Wilden. ›Parzival‹, ›Busant‹ und ›Wolfdietrich D‹. Berlin 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte 7), S. 249–310; Schul, Susanne: »Wolfsbegegnung mit Folgen«: Interspezifische Fürsorge-Relationen in der Wolfdietrich-Epik, in: Forschungsschwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« (Hg.): Vielfältig verflochten. Interdisziplinäre Beiträge zur Tier-Mensch-Relationalität, Bielefeld 2017, S. 223–241; Klinger, Judith: Der Wolf. In: Tiere: Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters. Hg. v. Ders. u. Kraß, Andreas. Köln u. a. 2017, S. 139–162. 5 Vgl. Reckwitz [Anm. 3], S. 43; Ders.: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2006, S. 36 u. S. 42; Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen. Frankfurt a. M. 2012, S. 28–71, hier S. 69; Freist, Dagmar : Diskurse – Körper – Artefakte – eine Annäherung. In: Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung. Hg. v. Ders. Bielefeld 2015, S. 9–32, hier S. 12f. 6 Vgl. zur Charakteristik des heroischen Helden u. a. Bumke, Joachim: Höfischer Körper – Höfische Kultur. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hg. v. Heinzle, Joachim. Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 67–102, hier S. 97f.; von See, Klaus: Held und Kollektiv, in: ZfdA 122/1 (1993), S. 1–35; Mecklenburg, Michael: Parodie und Pathos. Heldensagenrezeption in der historischen Dietrichepik. Univ. Diss., Berlin 1998. München 2002 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 27), S. 14–32; Lienert, Elisabeth: Rede und Schrift: Zur Inszenierung von Erzählen in mittelhochdeutscher Heldenepik. In: Eine Epoche im Umbruch: Volkssprachliche Literatur 1200–1300. Cambridger Symposium 2001. Hg. v. Bertelsmeier-Kierst, Christa u. a. Tübingen 2003, S. 123–138; Kerth, Sonja: »Auf Wiedersehen, Helden«? Überlegungen zum Heldentypus in der späten Heldendichtung, Emotion, Gewalt und Widerstand. In: Spannungsfelder zwischen geistlichem und weltlichem Leben in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Köb, Ansgar u. Riedel, Peter. München 2007 (Mittelalter Studien 9), S. 31–45; Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hg. v. Braun, Manuel u. a. Berlin, Boston 2012, S. 322–364; Schul, Susanne: HeldenGeschlechtNarrationen. Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in Nibelungen-Adaptionen. Frankfurt a. M. 2014 (Medien –

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denen sich die eigene Identität formiert, zählt dagegen nicht zu den Eigenschaften, die heroische Männlichkeitsentwürfe auszeichnen. Dass aber auch hier ein Abweichen von der Regel möglich ist, soll im Folgenden anhand intersektionaler Fallanalysen des »Wolfdietrich«-Epos A gezeigt werden. Für die »Wolfdietrich«-Dichtung, deren Entstehungszeitraum in der ersten bzw. zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts angenommen wird, beginnt die Schwierigkeit einer Rekonstruktion der Heldenidentität bereits mit einer textgeschichtlichen Unbestimmtheit, ist doch der Stoff in vier, zum Teil erheblich divergierenden Hauptfassungen überliefert. Die Fassung A, die im Fokus der Analyse steht, ist als ein unvollständiges Unikat vom Anfang des 16. Jahrhunderts im »Ambraser Heldenbuch« von Hans Ried erhalten.7 Sie gilt als die älteste Version des Stoffes und steht inhaltlich wie strukturell in einem engen Zusammenhang zur »Ortnit«-Dichtung.8 In der Fassung A wird die Heldenidentität in einem Spannungsfeld von Wildheit und Zivilisiertheit verortet und mit höfischen, heroischen und legendarischen Erzählschemata verknüpft. Um im Folgenden der wechselseitigen Konstitution und Konstruktion des Helden im narrativen Differenzierungsprozess nachzugehen, eignet sich besonders die Verknüpfung von intersektionalitäts- und emotionstheoretischen Ansätzen. Es gilt zu untersuchen, 1.) welche Koordinaten einer hybriden Heldenidentität zwischen Selbstverhältnis und sozialer Zuschreibung entworfen werden, 2.) welche Verknüpfungen von Emotionalität und Reflexion hierbei zum Tragen kommen und 3.) wie sich ein Erzählschema des heroischen Selbst im Prozess des Wieder- und Weitererzählens wandelt.

Literaturen – Sprachen in Anglistik, Amerikanistik, Germanistik und Romanistik 14), hier S. 290–303. 7 Die »Wolfdietrich«-Dichtung ist in sechzehn Handschriften und Fragmenten überliefert, die allerdings überwiegend erst aus dem Ende des 15. Jahrhunderts stammen. Außerdem zeichnet sich die Überlieferung durch einen Medienwechsel zu Druckexemplaren aus, die in sechs Auflagen aus dem 15. und 16. Jahrhundert erhalten sind. Fassung A: »Ambraser Heldenbuch«, 1504–1517, Unikalüberlieferung, unvollständig in 606 Strophen erhalten, geschrieben von Hans Ried im Auftrag Kaiser Maximilians; Fassung B: Drei Textzeugnisse, zum Teil fragmentarisch, zweite Hälfte 15. Jh. und erste Hälfte 16. Jh.; Fassung C: Nur in Fragmenten überliefert, erste Hälfte 14. Jh.; Fassung D: Längste Fassung, in der Mehrheit der Textzeugnisse vertreten, zehn Handschriften des 15. Jahrhunderts und sechs von 1479–1590 gedruckte Auflagen des »Heldenbuchs«. Vgl. Riecke, Anne-Beate: Überlieferungsgeschichtliche Studie zum mittelhochdeutschen ›Wolfdietrich‹. Berlin (masch.) 1992 und bes. Miklautsch [Anm. 2], S. 36–76. 8 Der Überlieferungskontext in Verbindung mit »Nibelungenlied«, »Klage« und historischer Dietrichepik weist auf vielfältige Rezeptionsinteressen hin, bezieht sich aber auch auf die der Sammlung zugrundeliegende Sammlung und Dokumentation älterer Texte mit deutlichem ›historischem‹ Hintergrund. Vgl. Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. München 1982, S. 196f.; Miklautsch [Anm. 2], S. 40f.

Intersektionale Emotionalisierungsprozesse im spätmittelalterlichen Heldenepos

I.

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Selbstverhältnis und soziale Zuschreibung: Intersektionalität und heldenepisches Erzählen

Die Textanalyse folgt den theoretischen Grundannahmen intersektionaler Theorieansätze, die davon ausgehen, dass gesellschaftliche Strukturen ebenso wie Selbst- bzw. Identitätszuschreibungen grundsätzlich von mehreren Dimensionen (sozialer) Differenz geprägt sind. Diese können, so die zentrale Prämisse, als soziale Konstruktionen aber nicht isoliert voneinander betrachtet werden, sondern es gilt sie in ihren Überschneidungen (intersections) und Wechselverhältnissen (Interdependenzen) zu reflektieren.9 Der Begriff intersection, den die U.S.-amerikanische Rechtswissenschaftlerin und Mitbegründerin der Critical Race Theory Kimberl8 Crenshaw durch das Bild der Straßenkreuzung in die Debatte eingebracht hat, wird im Folgenden als Analyseinstrument genutzt. Was dieses räumliche Modell einzufangen sucht, ist eine mehrdimensionale Erfahrung von Differenz, die in ihrer jeweiligen Spezifik und mit Bezug auf ihre wechselseitige Beeinflussung untersucht werden muss.10 Indem sich der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken mehrerer Kategorien (sozialer) Ungleichheit bzw. in der vorliegenden Analyse kulturhistorischer Positionierung richtet, lassen sich ihre jeweiligen Relationierungen zueinander untersuchen, ohne bestimmte Hierarchisierungen oder additive Ver-

9 Vgl. u. a. Walgenbach, Katharina: Gender als interdependente Kategorie. In: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Hg. v. Ders. u. a. Opladen 2007, S. 23–64; Knapp, Gudrun-Axeli: ›Intersectionality‹ – ein neues Paradigma der Geschlechterforschung? In: Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung. Hg. v. Casale, Rita u. Rendtorff, Barbara. Bielefeld 2008, S. 33–53; Dies.: Resonanzräume – Räsonierräume: Zur transatlantischen Reise von Race, Class und Gender. In: Gender Mobil? Geschlecht und Migration in transnationalen Räumen. Hg. v. Lutz, Helma. Münster 2009, S. 215–233; Degele, Nina u. Winker, Gabriele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009; Hageman-White, Carol: Intersektionalität als theoretische Herausforderung für die Geschlechterforschung. In: Intersektionalität zwischen Gender und Diversity : Theorien, Methoden und Politiken der Chancengleichheit. Hg. v. Smykalla, Sandra u. Vinz, Dagmar. Münster 2011, S. 20–33; Knapp, Gudrun-Axeli: »Intersectional Invisibility«. Anknüpfungen und Rückfragen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung. In: Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Hg. v. Lutz, Helma u. a. Wiesbaden 2010, S. 223–243; Walgenbach, Katharina: Intersektionalität – eine Einführung. 2012: Online Publikation: http://www.portal-intersektionalität.de [Letzter Zugriff: 10. 10. 2016]; Intersektionalität und Forschungspraxis: Wechselseitige Herausforderungen. Hg. v. Bereswill, Mechthild u. a. Münster 2015 (Forum Frauen- und Geschlechterforschung). 10 Vgl. u.a. Crenshaw, Kimberl8 W.: Die Intersektion von »Rasse« und Geschlecht demarginalisieren. Eine Schwarze feministische Kritik am Antidiskriminierungsrecht, der feministischen Theorie und der antirassistischen Politik. In: Lutz u.a. [Anm. 9], S. 33–54, hier S. 46; McCall, Leslie: The Complexity of Intersectionality. In: Signs 30/3 (2005), S. 1771–1800.

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hältnisse bereits vorauszusetzen.11 Dieser Anspruch ist als die besondere methodische Herausforderung des Ansatzes zu verstehen. Gleichzeitig ist er dabei innovativ, da er verschiedene Analyseebenen integriert und ein Ausbrechen aus binären Paradigmen einfordert.12 Mit dem Insistieren auf das ›inter‹ bzw. auf das Geschehen auf der Kreuzung gilt es die wechselseitige Konstitution und Konstruktion sozialer Kategorien zu analysieren. Dies führt zu einer Komplexitätssteigerung des Reflexionspotentials, deren spezifischer Wirkungsradius für die narrativen (An-)Ordnungen des heldenepischen Erzählens kritisch zu überprüfen ist.13 Eine intersektionale Perspektive für die Untersuchung literaturund kulturwissenschaftlicher Fragestellungen fruchtbar zu machen, verlangt somit nach einer Neuausrichtung. Es gilt die analytischen Koordinaten zu verschieben, so dass soziale und narrative Positionierungs- und Differenzierungsprozesse unter geänderten Vorzeichen zu betrachten sind – nämlich als historisch bedingte und medial vermittelte Konstellationen.14 Narrative Diffe11 Vgl. zum Verhältnis von sozialen Positionierungen und sozialen Praktiken u. a. Schul [Anm. 6], S. 50–60; Schul, Susanne: Abseits bekannter Pfade: Mittelalterliche Reisenarrative als intersektionale Erzählungen. In: Bereswill u. a. [Anm. 9], S. 96–114, hier S. 98–101; Böth, Mareike: Verflochtene Positionierungen: Eine intersektionale Analyse frühneuzeitlicher Subjektivierungsprozesse. In: Bereswill u. a. [Anm. 9], S. 78–95, hier S. 91. Degele und Winker richten den Fokus in ihrem einführenden Abendvortrag zur Wiener Tagung »Intersectionality – Theorien, Methoden, Empirien« (2009), aus der der Band »Intersektionalität revisited« (2011) hervorgegangen ist, auf eine wissenschaftskritische Ebene eines »doing intersectionality« und betiteln hiermit ihre gesellschafts- und gendertheoretisch begründete Methodologie. Vgl. hierzu auch Lutz, Helma u. Davis, Kathy : Geschlechterforschung und Biographieforschung. Intersektionalität als biographische Ressource am Beispiel einer außergewöhnlichen Frau. In: Biographieforschung im Diskurs. Hg. v. Völter, Bettina u. a. Wiesbaden 2005, S. 228–247. 12 Vgl. zur spezifischen Mischung von Konkretheit, Offenheit und Abstraktionspotential, die sich mit Intersektionalität-Ansätzen verbindet u. a. Knapp, Gudrun-Axeli: Die Bestimmung und Abgrenzung von ›Intersektionalität‹. Überlegungen zu Interferenzen von ›Geschlecht‹, ›Klasse‹ und anderen Kategorien sozialer Teilung. In: Erwägen – Wissen – Ethik, 24,3 (2013), S. 341–354, hier S. 351; Davis, Kathy : Intersectionality in Transatlantic Perspective. In: Knapp, Gudrun-Axeli u. Klinger, Cornelia (Hg.): ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Münster 2008, S. 19–35; Dies.: Intersektionalität als »Buzzword«. Eine wissenschaftssoziologische Perspektive auf die Frage: »Was macht die feministische Theorie erfolgreich?« In: Lutz u. a. [Anm. 9], S. 55–68. 13 Vgl. Bereswill, Mechthild: Komplexität steigern: Intersektionalität im Kontext von Geschlechterforschung. In: Dies. u. a. [Anm. 9], S. 210–230, hier S. 224–129. 14 Vgl. zur historischen und narratologischen Operationalisierung u. a. Schul [Anm. 6], S. 50–60; Schul [Anm. 11], S. 98–101; Böth [Anm. 11], S. 80–82; Knüttel, Katharina u. Seelinger, Martin: Intersektionalität und Kulturindustrie: Eine Einleitung. In: Intersektionalität und Kulturindustrie. Zum Verhältnis sozialer Kategorien und kultureller Repräsentationen. Hg. v. Dens. Bielefeld 2011, S. 7–24; Kraß, Andreas: Einführung: Historische Intersektionalitätsforschung als kulturwissenschaftliches Projekt. In: Durchkreuzte Helden. Das »Nibelungenlied« und Fritz Langs Film »Die Nibelungen« im Licht der Intersektionalitätsforschung. Hg. v. Bedekovic´, Natasˇa u. a. Bielefeld 2014, S. 7–47, hier S. 27–34; Klinger, Judith: Ent/Fesselung des fremden Heros. S%vrit zwischen Exorbitanz und Assimilation.

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renzentwürfe werden dabei als diskursive Effekte angesehen, die typisierte Identitäts- und Fremdheitsbilder einerseits aufgreifen und (re-)produzieren, sie jedoch im fiktionalen Möglichkeitsraum auch unterlaufen und überschreiten können.15 Bezug nehmend auf das sozialwissenschaftliche Mehrebenenmodell von Nina Degele und Gabriele Winker erfolgt eine literatur- und kulturwissenschaftliche Reformulierung,16 die eine intersektionale Mehrebenenanalyse mit praxeologischen Untersuchungskonzepten verbindet.17 Während Degele und Winker eine kapitalistische Gegenwartsgesellschaft fokussieren und für ihre intersektionale Perspektive drei Untersuchungsebenen (›Struktur‹, ›Identität‹, ›Repräsentation‹) unterscheiden, verfolgt der vorliegende Beitrag die Einordnung und Analyse von fiktionalen Differenzierungsprozessen im Rahmen vormoderner Gesellschaftsordnung. Das bedeutet, Verwandtschaft und Genealogie sowie die Stellung innerhalb der Ständegesellschaft und eines christlich geprägten Weltbilds bestimmen die sozialen Unterscheidungen, die als narrative Darstellungsmuster auch Eingang in fiktionale Weltentwürfe finden. Hierbei geht höfische Literatur mit extraliterarischen Diskursen aber weder einseitig affirmierend noch einseitig kritisch um, sondern kann sie gleichsam ›spielerisch‹ dekonstruieren, indem deren Elemente aus ihren pragmatischen Geltungszusammenhängen herausgelöst und neu geordnet werden. Dementsprechend wird hier die kulturelle Repräsentation selbst zum Ausgangspunkt der Analyse gemacht. Sie setzt an den konkreten Phänomenen an, die das spätmittelalterliche Heldenepos auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt: Erstens auf einer Interaktionsebene, die die Figurenhandlung auf einer Mikroebene untersucht, zweitens auf einer Narrationsebene, die sich mit der narrativen Konstruktion und Textstruktur befasst, und drittens auf einer Kontextebene, die In: Bedekovic´ u. a. [Anm. 14], S. 259–301; Griesebner, Andrea u. Hehenberger, Susanne: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften? In: Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven auf alte Fragen. Hg. v. Kallenberg, Vera u. a. Wiesbaden 2013, S. 105–124; Degenring, Folkert: »A man to whom everthing in life had come easily«: Eine intersektionale Skizze zu John Lanchesters Roman Capital. In: Bereswill u. a. [Anm. 9], S. 134–153, hier S. 135–137 u. S. 141–143; Schnicke, Falko: Terminologie, Erkenntnisinteresse, Methode und Kategorien – Grundfragen intersektionaler Forschung. In: Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen. Hg. v. Klein, Christian u. Dems. Tier 2014 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 91), S. 1–33. 15 Vgl. Schul [Anm. 11], S. 98f. 16 Vgl. zur intersektionalen Mehrebenenanalyse Degele u. Winker [Anm. 9], S. 11f. u. S. 18f. Degele und Winker beziehen hierbei die repräsentationsorientierten Debatten um das performative Hervorbringen und Verfestigen von Normen und Werten rund um die Arbeiten von Judith Butler in ihre Analyse ein (vgl. S. 21); vgl. auch Degele, Nina u. Winker, Gabriele: Intersectionality as Multi-Level Analysis. Dealing with Social Inequality. In: European Joural of Women’s Studies 1 (2011), S. 51–66. 17 Vgl. Schul [Anm. 11], S. 112; Böth [Anm. 11], S. 91.

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kulturhistorische Bedingungen auf einer Makroebene einbezieht. Durch diese Ausrichtung geraten sowohl die gesellschaftliche Einbettung der Symbolproduktion und Symbolrezeption als auch der historisch spezifische Umgang mit vielfältigen Konstruktionen von Differenz und Hierarchie mit in den Blick.18 Das bedeutet, dass die identitätsprägenden Kategorien und sozialen Dimensionen, die die vorliegende Untersuchung fokussiert, dem Text selbst entstammen; sie werden nicht in ihn hineingelesen oder ihm aufoktroyiert. Denn von Beginn an wird im »Wolfdietrich«-Epos A die Frage provoziert, inwieweit sich Kategorien wie ›Geschlecht‹, ›Alter‹, ›Stand‹, ›Genealogie‹, ›Erziehung‹, ›Religion‹, ›Spezies‹ und ›Dis/Ability‹ überlagern und welcher Wirkungsradius sozialen Dimensionen wie Körper- und Raumwahrnehmung, Gewalt- und Herrschaftsfähigkeit zukommt.19 Hierbei geht die Analyse induktiv von einer nach oben offenen Anzahl von Kategorien aus und die Auswahl bzw. die Gewichtungen derselben leiten sich aus den unterschiedlichen Analyseebenen ab, denn sie sind abhängig von situationsbedingten, kulturhistorischen und perspektivgeleiteten Faktoren.20 Die je spezifischen Erfahrungen des Helden dienen als Deutungsmuster, in denen sich Ungleichartigkeit und Ungleichwertigkeit des Wahrnehmens und Erkennens in der höfischen Gemeinschaft und in der Fremde spiegeln. Die Bezugnahme auf das eigene Erleben des Außerordentlich-Werdens und auf die fortdauernde Bewährung in riskanten Umgebungen eröffnet ein Wieder- und Weitererzählen einer hybriden Identität. Dieses wird im heldenepischen Text durch eine Vielzahl einander kreuzender, ergänzender, aber auch widersprechender Differenzierungen bestimmt und der Held wird als Montage verschiedener Positionen innerhalb hierarchischer Verhältnisse etabliert.21 Dem doing difference-Ansatz von Candace West und Sarah Fenstermaker folgend wird davon ausgegangen, dass die Markierung von Nähe und Distanz, von Vertrautem und Fremdem, von Zugehörigkeit und Ausschluss erst durch die sozialen Praktiken der handelnden Figuren entsteht und dass diese wiederum von den sozialen Zuordnungen derselben abhängig sind.22 Demzufolge gilt es Identitäten als relational bestimmt und interaktional vermittelt zu beschreiben. Narrativ entworfene Körper treten dabei als Quelle der Hervorbringung und der kreativen Anordnung sozialer wie kultureller Inszenierungsprozesse in Erscheinung. 18 Vgl. Schul [Anm. 11], S. 98f. 19 Vgl. Schul [Anm. 6], S. 58; Walgenbach 2007 [Anm. 9], S. 7; Griesebner u. Hehenberger, [Anm. 14], S. 107. 20 Vgl. Degele u. Winker [Anm. 9], S. 11f.; Hagemann-White [Anm. 9], S. 23. 21 Vgl. Knapp [Anm. 9], S. 243; Bereswill [Anm. 13], S. 211f.; Schnicke, [Anm. 14], S. 13f. 22 Vgl. West, Candace u. Fenstermaker, Sarah: Doing Difference. In: Doing Gender, Doing Difference. Inequality, Power, and Institutional Change. Hg. v. Dens. New York 2002, S. 55–80.

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Sie sind als ›Aushandlungsorte‹ zu verstehen, auf die Zuschreibungen und Strukturen einwirken und durch die Positionierungen zur Aufführung gebracht werden. Sie kommen somit sowohl als ›Konstruktionsträger‹ als auch ›Konstruktionsinstrument‹ einer Verkörperung in den Blick, die zur Repräsentation und zur Produktion von Differenz eingesetzt werden kann.23 Auf diese Weise werden Spannungen zwischen Selbst- und Fremdpositionierungen offengelegt, die die Bedingungen der Genese und Aufrechterhaltung von Zugehörigkeit reflektieren sowie Funktionsweisen und Folgen von Ausschlussmechanismen entfalten.24 Indem die hybride Heldenidentität im Folgenden nicht als ein bloßer Struktureffekt der Gattungskonventionen begriffen, sondern ihre Genese in einem situationsgebundenen und fortdauernden doing untersucht wird, erweisen sich Selbstverhältnis und soziale Zuschreibung als ko-konstitutiv.25

II.

Wirkmächtige Schwermut: Intersektionale Emotionalisierungsprozesse

Die Schwermut, die Wolfdietrich im Handlungsverlauf mehrfach in Bedrängnis bringt, wird im Folgenden zum Ausgangspunkt gemacht, um Interdependenzen von erlebter Emotion, Selbstkonstitution und gesellschaftlicher Wertsetzung im heldenepischen Erzählen zu fokussieren. Es gilt Emotionalisierungsprozesse als wirkmächtige Bedingungen der Heldengenese zu identifizieren und zu untersuchen, wie sie sich auf intra- und intersubjektive Formationen der Unterscheidung auf Selbst- und Fremdbezug auswirken. Auf einer figuralen Ebene 23 Vgl. zum Körper als ›Aushandlungsort‹ Schul [Anm. 6], S. 45–51; zur Dimension ›Körper‹ auch Kraß [Anm. 14], S. 14; zu Verkörperungspraktiken u. a. Villa, Paula-Irene: Verkörperung ist immer mehr. Intersektionalität, Subjektivierung und der Körper. In: Lutz u. a. [Anm. 9], S. 203–223, hier S. 203f.; Bublitz, Hannelore: Sehen und Gesehenwerden – Auf dem Laufsteg der Gesellschaft. Sozial- und Selbsttechnologien des Körpers. In: Body Turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Hg. v. Gugutzer, Robert. Bielefeld 2006 (Materialitäten 2), S. 341–362, hier S. 345; Alkemeyer, Thomas u. a.: Einleitung. In: Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Hg. v. Dems. u. a. Bielefeld 2013, S. 9–32, hier S. 15f.; Böth, Mareike: »…daß mein leib mein seye.« Selbstpositionierungsprozesse im Spiegel erzählter Körperpraxis in den Briefen Lieselottes von der Pfalz (1652–1722). In: Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung. Hg. v. Freist, Dagmar. Bielefeld 2015, S. 221–243. 24 Vgl. von Moos, Peter : Einleitung. Persönliche Identität vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hg. v. Dems. Köln u. a. 2004 (Norm und Struktur 23), S. 1–42, hier S. 20–23; Sosna, Anette: Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200. Erec, Iwein, Parzival, Tristan. Stuttgart 2003, S. 58f. u. S. 63f.; Müller, Jan-Dirk: Identitätskrisen im höfischen Roman um 1200. In: von Moos [Anm. 24], S. 297–323. 25 Vgl. West u. Fenstermaker [Anm. 22].

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rückt damit eine emotionale Praxis in den Fokus, die darauf verweist, wie sich Figuren bestimmte emotionale Muster ›habituell‹ aneignen. Als Verkörperung markieren sie zum einen unintendierte und unbewusste Formungen, zum anderen sind sie aber auch als bewusstes Handlungsrepertoire bedeutsam für die Strukturen, die individuelle Beziehungen und Gruppenbindungen prägen.26 Andreas Reckwitz betont: »Jede soziale Ordnung im Sinne eines Arrangements von Praktiken ist auf spezifische Weise immer auch eine affektive Ordnung, jede soziale Praktik ist auf ihre jeweils charakteristische Weise affektiv gestimmt und findet insofern eine affektive Dimension in sich eingebaut.«27 Emotionen sind in diesem Sinne sowohl konstitutiv für die Etablierung und Dauerhaftigkeit als auch für die Veränderung von Werte- und Bezugssystemen.28 Erzählende und erzählte Differenzmarkierung stehen dabei in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit, da sie einerseits den Prozess des Erzählens selbst und andererseits einzelne Elemente in der Erzählung präsent halten. Eine Konzentration auf die Mikroebene schärft dabei den Blick für ein mehrfach relationales Gefüge, so dass emotionale Äußerungen in ihrem jeweiligen Kommunikations- und Beziehungsmodus verortet, gewichtet und gedeutet werden können. Literarische Repräsentationen von Emotionen sind hierbei weder auf neurobiologische Vorgänge zu reduzieren noch als rein kulturelle Konstruktionen zu betrachten. Vielmehr verschränken sich im Erzählen von Emotionen kulturell Vermitteltes und subjektiv Erlebtes. Der kulturhistorische Kontext bildet dabei den Rahmen, 26 Vgl. Knapp [Anm. 9], S. 229. Vgl. mit Bezug auf vormoderne Texte u. a. Kasten, Ingrid: Subjektivität im höfischen Roman. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Hg. v. Fetz, Reto. Berlin, New York 1998 (European cultures 11), S. 394–413, hier S. 400–402; Mecklenburg [Anm. 3], S. 169f.; Klinger [Anm. 3], S. 190f.; Koch [Anm. 3], S. 19–23. 27 Reckwitz [Anm. 3], S. 35. 28 Vgl. zur historischen und literaturwissenschaftlichen Emotionalitätsforschung u. a. Zur Geschichte der Gefühle. Hg. v. Benthien, Claudia u. a. Köln 2000; Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Kasten, Ingrid u. a. Stuttgart 2002; Kasten, Ingrid: Emotionalität und der Prozess männlicher Sozialisation. Auf den Spuren der Psycho-Logik eines mittelalterliche Textes. In: Querelles 7 (2002), S. 52–71; Trepp, Anne-Charlott: Gefühl oder kulturelle Konstruktion? Überlegungen zur Geschichte der Emotionen, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 7 (2002), S. 86–103; Winko, Simone: Über Regeln emotionaler Bedeutung in und von literarischen Texten. In: Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hg. v. Jannidis, Fortis u. a. Berlin, New York 2003 (Revisionen 1), S. 329–348; Eming, Jutta: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts. Berlin 2006; Dies.: Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft. In: JLT 1,2 (2007), S. 251–273; Mecklenburg, Michael: Evolution – Emotion – Literatur. Studien zur Scham in mittelhochdeutschen Erzähldichtungen. Göttingen 2017 (TRAST) [in Vorbereitung]; Emotionen in Geschlechterverhältnissen. Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel. Hg. v. Flick, Sabine u. a. Bielefeld 2009; Schnell, Rüdiger : Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer History of Emotions. Göttingen 2015. Vgl. zu einer Praxeologie der Affekte bes. Reckwitz [Anm. 3], S. 35–41.

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in dem Emotionen gestaltet, artikuliert und mit Sinn versehen werden können. Dies geschieht in erster Linie durch Sprache, aber auch durch körperliche Expression von Mimik und Gestik. Intersektionale Emotionalisierungsprozesse werden im Folgenden als eine spezifische Form differenzmarkierender Praxis betrachtet, die eine Selbstthematisierung von Gefühlen im Rahmen sozialer Zuschreibungen verortet, der gleichzeitig durch gattungsspezifische Konventionen und literarische Traditionen geprägt wird.29

II.I

»dein sun sol cristen werden« (Wd A, 26,2): Identitätsstiftende Koordinaten des Heldenentwurfs

Im heldenepischen Erzählen wird die Herkunfts- und Kindheitsgeschichte Wolfdietrichs als eine Form der Biographisierung entworfen, die das Außerordentlich-Werden von seinen Anfängen her erzählt. Diese disponiert den Helden von Beginn an als eine hybride Figur, in der sich animalisch-wilde Veranlagung, dynastische Herkunft und göttliches Erwählt-Werden kreuzen. Wolfdietrich wird als dritter Sohn Hugdietrichs, des ›heidnischen‹ Königs von Kunstenobl, während dessen Abwesenheit geboren. Hugdietrichs Herrschaft im oströmischen Kulturraum gilt als prekär, da sie zwischen der Großmacht der Hunnen und der des byzantinischen Reiches beständig gegen äußere Anfeindungen verteidigt werden muss. Gleichzeitig gefährden aber auch innerständische Konflikte, Verrat und Herrscherwillkür den ›heidnischen‹ Hof.30 Während Hugdietrich einerseits als mächtiger Herrscher und gefürchteter Kämpfer erscheint, entwickelt die Erzählinstanz bereits ab der ersten Strophe eine Wertungshierarchie, die seine Handlungsbefähigung in Frage stellt. Hierbei tritt eine religiöse Differenzmarkierung in den Vordergrund: Auf Kunstenobl ze Kriechen ein gewaltiger künig sass, an dem tugent noch ere noch manheite nie vergass sein maister und sein schepfer, der in da werden liess. an im gebrast nicht mere wan daz er ein haiden hiess. (Wd A, 1)

29 Vgl. hierzu u. a. Michael Mecklenburg, der in seiner Habilitationsschrift »Evolution – Emotion – Fiktion« eine terminologische Unterscheidung »zwischen einem Gesamtkomplex von miteinander verknüpften psychischen und physischen Prozessen (›Emotion‹), sowie deren Ausdruckseite einerseits (›Emotionsausdruck‹) und deren bewusster Wahrnehmung (›Gefühl‹) andererseits« vornimmt (Mecklenburg [Anm. 28], S. 71 u. S. 80). 30 Vgl. zum Anschlag des untreuen Herzog Saben auf die Standhaftigkeit und Tugend der Königin, während sich Hugdietrich auf dem Kriegszug befindet: Wd A, 4–18. Vgl. zur triuweuntriuwe-Thematik und zum falschen Ratgeber Saben im Gegensatz zum treuen Dienstmann Berchtung: Wd A, 129–162; Miklautsch [Anm. 2], S. 108–111.

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Der Held wird noch vor seiner Geburt der genealogischen Abstammung entsprechend in einem Antagonismus zwischen ›Heidentum‹ und Christentum verortet. Denn seine Mutter, eine hunnische Prinzessin, die in Fassung A keinen Namen trägt, besitzt zwar als schöne, tugendhafte, geistreiche und treue frawe gender- und standesbezogene Qualitäten,31 doch in ihrer religiösen Ausrichtung weicht sie von der Glaubensnorm des Königshofs ab: si was ein heidinne und gelaubte doch an got: / wo si vor vorchte mochte da leistete sie sein gebot (Wd A, 19,3f.). Dem Analogiedenken des Mittelalters folgend kann nur derjenige außerordentlich werden, der besonderen Entstehungsbedingungen entstammt. Die Helden-Mutter ist es, die das Ungewohnte, das Fremdartige – hier den emotional motivierten christlichen Glauben – in das Beziehungsgefüge einbringt.32 Eines Nachts kurz vor der Entbindung erhält sie von einer Stimme die göttliche Weisung, ihr Kind taufen zu lassen: »Dein man und du seit haiden, doch tregst ein kindelein: / got wil dich nicht erlassen, es muoss cristen sein« (Wd A, 21,2). Die Königin folgt bereitwillig diesem Gebot und schleicht sich mit dem Neugeborenen heimlich davon, um es von einem Einsiedler in einem abgeschiedenen Wald taufen zu lassen. Im Vollzug der Taufe wird ihre Unerfahrenheit im christlichen Glauben allerdings offenkundig: Er hiess si vleissiklichen got willekomen sein. »dein sun sol cristen werden: gibe mir das kindelein.« si werte sich des lange: das kind si im doch liess. si sach das hart ungerne, daz ers in das wasser stiess. (Wd A, 26)

Das fremdartige Ritual beunruhigt die Mutter, so dass sie ihr Kind nur widerwillig hergeben kann. Denn sie verfügt nicht über das Wissen von der Relevanz und Geeignetheit des Eintauchens, auf das sich das transformative Potential der Taufe gründet. Für sie bleibt das göttliche Einwirken im Verborgenen, das sich an den Handlungsvollzug bindet: die ez im hulfen taufen, der ensach si laider nicht (Wd A, 27,2). Das Ritual stiftet zum einen Verwandtschaft, indem es den Getauften der göttlichen Einheit zuordnet. Zum anderen wird jedoch auch eine Trennung im ambivalenten Verhältnis zwischen Gott und Mensch über die

31 Vgl. Wd A, 3. 32 Vgl. Brinker-von der Heyde, Claudia: Geliebte Mütter – Mütterliche Geliebte. Rolleninszenierung in höfischen Romanen. Bonn 1996 (Studien zu Germanistik, Anglistik und Komparatistik, Bd. 123), S. 40f.; Tuczay, Christa Agnes: Helt und kühner degen – Untadelige Männlichkeit zwischen Aggression und Angst im literarischen Diskurs. In: Ich bin ein Mann! Wer ist es mehr? Männlichkeitskonzepte in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Hindinger, Barbara u. Langer, Martin-M. München 2011, S. 43–65, hier S. 48f.; Weitbrecht, Julia: Genealogie und Exorbitanz. Zeugung und (narrative) Erzeugung von Helden in heldenepischen Texten. In: ZfdA 142,3 (2012), S. 281–309.

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einzigartige Schöpfermacht hervorgehoben.33 Denn im Taufakt konstituiert sich der kindliche Held als göttlich Erwählter, in dem sich Körperoptimierung und Körperpotenzierung ergänzen. Zuerst rüstet der Einsiedler das Kind mit einem seidenen Taufgewand aus, das ihn sein ganzes Leben lang in gefahrvollen Situationen schützen soll. Als die Mutter befürchtet, dem Kind könne das Gewand schnell zu klein werden, betont der Einsiedler : »es wirt in seinem alter ein ungefüeger man / wie enge aber es dich dunke, so legt ers doch wol an« (Wd A, 29,3f.). Das Taufgewand besitzt die Fähigkeit sich dem Heldenkörper anzupassen und mit ihm zu wachsen. Es macht ihn im Kampf unverwundbar für alle Arten von Waffen ebenso wie für Wasser oder Feuer.34 Die Grenzverläufe zwischen textilem Artefakt und Heldenkörper, zwischen geformter und organischer Materie werden damit fließend gestaltet und lassen sich nicht durch eine vorausgesetzte Substanz erfassen. Der Held wird durch das krafttragende und vitale Artefakt wie durch eine zweite Haut mit einem göttlichen Schutz imprägniert, so dass Gott, Held und Taufgewand als KoAktanten der zu erwartenden Exzeptionalität entworfen werden. Der Königin wird die Aufgabe des Aufbewahrens des Gewands und des situationsspezifischen Ausstattens des Heldensohnes zugewiesen: Da sprach er zu der frawen »sei dir lieb das kindelein, so behalt es uns an sein alter das taufgewante sein. ich wil dir sagen, frawe, waz im darvon geschicht, und sei dir lieb das kindelein, so verleuse das gewant nicht. (Wd A, 28) Wenn du in in sorgen sendest,

so leg es an seinen leib.« (Wd A, 29,1)

Die Imagination des zukünftigen Gewalthandelns des Neugeborenen lässt bereits hier gender-, standes- und raumbezogene Handlungsmuster deutlich her33 Vgl. Ackermann u. Ridder [Anm. 3], S. 92f.; Haug, Walter : Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Darmstadt 1985, S. 182. 34 Vgl. Wd A, 30. Besonders Bruno Latour sensibilisiert in jüngerer Zeit durch die AkteurNetzwerk-Theorie für eine Symmetrie der Handlungsträgerschaft von humans und nonhumans. Er weist hierbei auf den ›agentiven‹ Status hin, der Artefakten, Dingen und Räumen in sozialen Praktiken zukommt. Vgl. hierzu Latour, Bruno: On Actor-Network Theory. A Few Clarifications, in: Soziale Welt 47 (1996), S. 369–381, hier S. 373; Ders.: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin 1991; Ders.: Eine neue Soziologie für die Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a. M. 2007, S. 122f. Vgl. zur ANTund der Bedeutung von Artefakten in vormoderner Literatur u. a. Sahm, Heike: Gabe und Gegengabe, Raub und Vergeltung. Reziprozität in der mittelhochdeutschen Epik. In: ZfdPh 133 (2014), S. 419–438; Ott, Michael R.: Die Tafel des Gregorius als schrifttragendes Artefakt. In: Zeitschrift für Germanistik 25 (2015), S. 253–267, hier S. 260. Das E-Journal »Kulturen des Heroischen« widmet dem Verhältnis von heroischem und artefaktbezogenem Handeln ein Themenheft: helden. heroes. h8ros. Bd. 4,1 (2016): Heroes and things – Heroisches Handeln und Dinglichkeit: https://freidok.uni-frei burg.de/data/12365 [Letzter Zugriff: 01. 05. 2017].

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vortreten. In ihnen werden männlich-adeliger Bewährungsdrang und kämpferische Mobilität mit weiblich-adeligem Unvermögen zum eigenständigen Gewalthandeln und Ortsgebundenheit konfrontiert. Hieran bindet sich ein genderspezifisches Emotionalisierungsmuster, da sich die Intensität der Mutterliebe in der Intensität der Sorge um das Wohlergehen des Kindes spiegelt. Die Königin wird sich von ihrem Sohn mehrfach lösen und ihn in sorgen in die Bewährung entsenden müssen, aber sie weiß nun um sein göttliches Geleit. Doch nicht nur das Taufgewand wird in den Prozess des Held-Werdens eingebunden, sondern das Kind bekommt darüber hinaus von seinem Taufvater außerordentliche Kräfte verliehen, die sich mit zunehmendem Alter beständig steigern: »Ich wil dir sagen mere, wie lange es dir sol leben. ich wil immer zum jare eines mannes sterke geben. von der gotes gabe wirt er fünfzigk jar alt und fünfzig mannes sterke hat sein leib gewalt. (Wd A, 31) Du solt umb in nicht sorgen: er kumt vil dicke in not, er kumt auch vil ofte, daz im nahen ist der todt. und wil dir sagen mere, daz er mit sein aines handt ein schöne küniginne erstreitet und ein landt.« (Wd A, Str. 32)

Der heroische Körper wird im Heranwachsen und im heroischen Handeln erst hervorgebracht, ist somit Produkt von Prozessen der Materialisierung, deren physische Exorbitanz eine deutlich christliche Motivierung erhält. Die Gattung der Heldenepik gestaltet die Differenzkategorie ›Religion‹ sehr unterschiedlich aus. Während sich die Protagonisten höfischer Romane wie selbstverständlich innerhalb einer christlich-höfischen Norm bewegen, fehlt den heroischen Helden »traditionell diese religiöse Absicherung ihres Tuns«35. Deshalb wird im heldenepischen Erzählen wiederholt der Versuch unternommen, sie nachträglich in einem christlichen Kontext zu verorten. Wolfdietrichs Heldengenese entwirft sein Erwählt-Werden als eine Verschränkung zwischen Alter, Stand, Geschlecht und Religion, die sich in den Heldenkörper einschreibt und das Kind mit schützender Hilfe und christlichen Tugenden ausstattet. Der Einsiedler prophezeit der Königin, dass ihr Sohn durch diese außerordentliche physische Durchsetzungskraft, nicht durch sein dynastisches Erbe, seine Herrschaftsbefähigung demonstrieren und die Hand einer Königin samt Königreich erstreiten werde. Auf diese Weise trägt bereits das Kind die Veranlagung zu sozialer Anerkennung ebenso wie zu sozialer Bedrohung in sich.36

35 Kerth [Anm. 6], S. 32. Vgl. hierzu auch Tuczay [Anm. 32], S. 48f. 36 Vgl. Hirschauer, Stefan: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns. In: Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Hg.

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II.II

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»da du under disen wolfen bist beliben gesunt« (Wd A, 111,3): Tier-Mensch-Interaktion und sozialer Ausschluss

Als Hugdietrich von dem jahrelangen Feldzug zurückkehrt, begegnet er voller Freude seinem schönen Sohn: da truog man im entgegne den wunniklichen knecht. / das kind was also schöne, daz ers vil gerne sach, / und freute sich sein herze des im sein muoter jach (Wd A, 37,2f.). Die Königin spart allerdings in ihrer Erzählung den göttlichen Schutz aus, unter dem das geliebte Kind steht. Die gender- und statusbezogenen Handlungsmodi, die sich hierbei an die Position und Funktion der Königin binden, sind erneut durch ihre Rolle als HeldenMutter definiert:37 Da wuochs der junkherre. des phlag sein muoter wol mit muoterlicher trewe, als ein frawe irem kinde sol. als vil gern lieb den frawen ir junge kindel sindt, derselb was ir lieber dann andre ir kind. (Wd A, 34)

Der dritte Königssohn sticht allerdings nicht nur durch diese exklusive MutterKind-Beziehung hervor, sondern mit zunehmendem Alter zeigt er eine animalisch-wilde Veranlagung, die sich unter anderem in gewalttätigem Handeln manifestiert. Durch seine körperliche Attraktion zieht der Heranwachsende alle Blicke am Hof auf sich. Gleichzeitig erweist er sich in seinem Benehmen aber als überaus ungezügelt.38 Dies wird besonders in seinem Umgang mit Tieren deutlich, bspw. im gewaltbereiten Konkurrenzhandeln um Nahrung: Da satzt man den klainen, daz er bei der tavele stuond, da er gelaufen mochte, als noch die kindel tuond, da gab man im durch liebe brot in sein handt: welch hundt im aber das zuckte, den warf er an die want. (Wd A, 38)

Während der kindliche Bewegungsdrang innerhalb der höfischen Norm noch Anerkennung findet, widerspricht die Demonstration seiner exorbitanten Körperkraft gegenüber dem Tier aber derselben. Das ungewöhnliche Verhalten verunsichert nicht nur die weisen (Wd A, 39,2) am Hof, sondern lockt auch Neugierige an: »vil ungefüege sterke hat dein vierthalbes jar« / durch des kindes wunder fuor vil der leute dar (Wd A, 39,3f.). Der junge Heldenkörper erhält dabei den Status eines Schauobjektes, das auf die Schaulustigen gleichermaßen faszinierend wie beunruhigend wirkt. Die kindliche Gewaltfähigkeit im Alter von nur dreieinhalb Jahren und die damit verbundene Nähe zur Animalität tritt als v. Hörning, Karl H. u. Reuter, Julia. Bielefeld 2004, S. 73–91, hier S. 75. Vgl. hierzu auch Miklautsch [Anm. 2], S. 102; von See [Anm. 6], S. 6; Klinger [Anm. 3], S. 194f. 37 Vgl. Brinker-von der Heyde [Anm. 32], S. 39f. 38 Vgl. Kratz [Anm. 4], S. 18; Friedrich [Anm. 4], S. 335; Schul [Anm. 4], S. 226f.; Klinger [Anm. 14], S. 274f.

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eine Form abweichender Selbstmächtigkeit hervor, während der providenzielle Ursprung der Kraft das Geheimnis der Königin bleibt. Die dezidierte Altersangabe ruft ein soziales Stufenmodell auf, das Kindern ihrem jeweiligen Lebensalter entsprechend bestimmte Fürsorge-Relationen, Schutzräume, Fähigkeiten oder Pflichten zuspricht bzw. auferlegt. Bis zu ihrem siebten Lebensjahr erhalten adelige Kinder demnach ihre Anleitung ausschließlich von Frauen und erst danach werden Jungen durch männliche Erzieher auf ihr ritterliches Leben vorbereitet. Die vorzeitige Gewaltfähigkeit als Zeichen der Vermännlichung des Kinderkörpers offenbart eine fortgeschrittene Entwicklung, die allerdings nicht mit einer gleichermaßen ausgebildeten Affektregulierung einhergeht. Die Diskrepanz von übermäßiger Anmut – als höfischem Signal – und von übermäßiger Aggression – als heroischem Signal – irritiert das körperbezogene Ordnungsdenken des Hofes und markiert eine Transgression gemeinschaftlicher Normen:39 Wer do des kindes sterke bei der schöne an sach, der segenete sich durch wunder. zu dem künige maniger sprach die wort, als man da sprichet, die gar unnütze sint: »her künig, nu haisset in tödten: er ist des übeln teufeln kindt. (Wd A, 40) Ir solt das gelauben, er ist von dem teufel kumen. wa her solt er dise sterke han genomen? läst du den teufel wachsen, dir wirt sorge davon bekant: kumt er zu seinen jaren, er verderbet leut und lant.« (Wd A, 41) Der künig dise märe hort ungerne sagen. da begunde er an dem kinde schone und seinen leib clagen, daz ers verrechen solte, das gieng im an sein leben: vor ungeheurn dingen er wolt im nicht fride geben. (Wd A, 42)

Die Stärke des Kindes schürt Zweifel und Ängste am Hof und bringt ihm den Verdacht der Teufelsabstammung ein. Hierbei nähern sich Christentum und ›Heidentum‹ in ihren Affektpolitiken einander an, wenn der Verdacht des dämonischen Einflusses gleichermaßen zur Abwertung und Aussonderung führt und sogar die Tötung des Unheil versprechenden Kindes legitimiert. Der König folgt dieser einseitigen Wertung, so dass sich seine anfängliche Freude ins Gegenteil verkehrt. Er beginnt die Geburt des Sohnes zu beklagen und fürchtet den 39 Vgl. zum Stufenmodell der Lebensalter u. a. Isidor von Sevilla: Etymologiae. Die Enzyklopädie von Isidor von Sevilla. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Möller, Lenelotte. Wiesbaden 2008, S. 436–441. Buch XI: Von Menschen und Monstern, II: Von den Lebensaltern der Menschen, 1–37. Vgl. hierzu auch Arnold, Klaus: Kindheit im europäischen Mittelalter. In: Zur Sozialgeschichte der Kindheit. Hg. v. Martin, Jochen u. Nitschke, August. München 1986, S. 443–468, hier S. 449f.; Schulz [Anm. 6], S. 89; von See [Anm. 6], S. 5f.; Kerth [Anm. 6], S. 34f.

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Verlust des eigenen Ansehens: »mein ere muos ich verliesen und das kindelein. / auch sprechen alle leute daz es nie wurde mein« (Wd A, 43,3f.). Wolfdietrichs Anteilhabe am ›Andersartigen‹ wird als soziale Kategorisierung ›übersichtbar‹ gemacht und als ein Kreuzungspunkt zwischen Alter, Stand, Geschlecht, Religion und Spezies markiert. Die Legitimität seiner Geburt wird hinterfragt und eine Gefährdung der höfischen Gemeinschaft suggeriert. Herrschaftliche Rivalitäten, verdächtige Genealogie, der Vorwurf mangelnder Adelsart und eine animale Signatur machen aus dem legitimen Königssohn einen dämonisierten Außenseiter.40 Auf Rat des intriganten Herzogs Saben hin entführt der König das aus seiner Sicht nun ebenfalls »unraine kindelein« (Wd A, 75,3), während die Königin schläft, und übergibt es seinem Dienstmann Berchtung von Meran, der es töten soll.41 Doch der Versuch, dem Kind das Leben zu nehmen, scheitert. Denn als Berchtung den Arm zum Schwertstreich erhebt, gerät seine Entschlossenheit ins Wanken, sein herze verzagt und die Kraft versagt ihm: Das schwert begunde er schawen, da was sein herze verzagt. das habt ir wol gehöret, vil dicke das gesagt: wem got sein leben wil fristen, nicht laides dem geschicht. sein hende es wolten töten, do gestats sein herze nicht. (Wd A, 87) Da sprach er wider sich selben »wie ist mir so geschehen? ich han vor meiner hende wol hundert man gesehen, die ich alle ertödet han und mit meiner handt erschlagen. daz ich nu bin so blöde, das will ich gote clagen.« (Wd A, 88)

Berchtung ist von dieser Willens- und Handlungsunfähigkeit, die seinem Selbstbezug zur männlich-adeligen Gewaltfähigkeit radikal widerspricht, gänzlich verwirrt und beklagt im Selbst-Gespräch die eigene Schwäche: »daz ich nu bin so blöde, das wil ich gote clagen« (Wd A, 88,4). Er kann diese zageheit nicht einordnen und überantwortet deshalb das Überleben des Kindes Gottes Willen. Er setzt es an einer Quelle aus, konfrontiert es mit der Gefahr des Naturraums und überlässt es wilden Tieren zum Fraß. Doch eine wundersame Interspezies-Interaktion bestätigt den besonderen Schutz, unter dem der kindliche Held steht. Denn er wird von einem Rudel hungriger Wölfe nicht angegriffen, sondern stattdessen kurzzeitig in ihre tierliche Gemeinschaft integriert:42 40 Vgl. Knapp [Anm. 9], S. 228; Miklautsch [Anm. 2], S. 103. 41 Saben übt an der Königin, die ihn zurückgewiesen hat, auf eine perfide Weise Rache und zwar, indem er sich gegen ihr Kind wendet und vorschlägt es töten zu lassen (vgl. Wd A, 43–58). 42 Vgl. Schul [Anm. 4], S. 229f.; Friedrich [Anm. 4], S. 328f; Hermann Schneider weist hierbei auf Parallelen zu den Kindheit-Jesu-Erzählungen hin (vgl. Ders.: Der echte Teil des Wolfdietrich der Ambraser Handschrift (Wolfdietrich A). Halle 1931, 21968 (ATB28), S. XIV).

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Mit jammer sprach der weise »dir ist der leib vil unbenomen. dir müessen dise zaichen von gotes güete kumen, ich wil das wol gelauben, und wärest du des teufels barn, du wärest von den wolfen erstorben und verfarn.« (Wd A, 105)

Das Staunen über das ›Andersartige‹, das am Hof noch zur Dämonisierung des Jungen geführt hatte, wird nun in seinen Interaktionen mit Tieren als transformatives Potential wahrgenommen, das dem Kind das Leben rettet. Berchtung unterzieht den Jungen daraufhin einer Abstammungsprüfung. Er fertigt ein Holzkreuz an und der Junge muss sich im Umgang mit diesem bewähren:43 Für es in die erde er das creuze stiess. das kind das was so geheuer, daz es es nicht stecken liess. es schawte es in manigen enden, vil lang es ansach und het es in der hende, daz es nicht zerbrach. (Wd A, 109)

Berchtung kann beobachten, wie das Kind das religiöse Artefakt furchtlos betrachtet und ist überzeugt: »Ich sihe wol daz der teufl an dir unschuldig ist« (Wd A, 110,1). Gleichzeitig bleibt die konkrete religiöse Zuordnung für ihn uneindeutig, sodass die Grenzen zwischen Christentum und ›Heidentum‹ verschwimmen: »ich wäne du seiest cristen, dich hat erschaffen Crist / bist aber du ein haiden, doch wil ichs lassen sein« (Wd A, 110,2f.). Die Erzählinstanz hingegen lässt keinen Zweifel aufkommen, sondern beteiligt das Publikum in einem kollektiven Appell an Berchtungs Werturteil. Eine generalisierende Sentenz untermauert das göttliche Erwählt-Sein des Kindes:44 das habt ir wol gehörtet, vil dicke das gesagt: / wem got sein leben wil fristen, nicht laides dem geschicht (Wd A, 87,2f.). Bereits die Heldenkindheit zeigt, dass eine Beziehung zu Gott immer auch im Zeichen der Differenz steht und mit Verlusterfahrungen einhergeht. Während die höfische Gemeinschaft das ›Andersartige‹ durch Strategien des Ausschlusses zu regulieren sucht, werden diese im heldenepischen Erzählen wiederholt durch die göttlich motivierten Heldeneigenschaften konterkariert. So widersetzt sich Berchtung bewusst dem Tötungsbefehl des Königs und bringt damit nicht nur sich selbst, sondern auch seine Familie und seine Gefolgsleute in Gefahr. Um sie zu schützen, muss das Überleben des Kindes vor der Hofgemeinschaft geheim gehalten werden. Deshalb übergibt der Dienstmann den Jungen an ein Wildhüterehepaar und der Königssohn wächst unerkannt in einer Grenzsphäre zwischen Zivilisation und Wildnis ohne höfische Erziehung auf.45 43 Vgl. Wd A, 108–112. 44 Vgl. Miklautsch [Anm. 2], S. 104; Kraß [Anm. 4], S. 166f.; Friedrich [Anm. 4], S. 330f. 45 Vgl. zum Zusammenwirken von Privilegierung und Differenzierung u. a. Schul [Anm. 11], S. 103f.; Schnicke [Anm. 14], S. 13f.

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III.

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Im Verlesen ein Selbst entwerfen: Soziale Positionierung und artefaktbezogene Praktiken

Die außergewöhnlichen Umstände von Wolfdietrichs Ausschluss und seiner Errettung lässt Berchtung in einem Brief festhalten. Durch den Akt der Verschriftlichung entsteht ein Artefakt, das fundamentale Wirkung auf die Erzählwelt ausübt und sie im Folgenden immer wieder strukturiert.46 Im heldenepischen Text wird das Verlesen des Briefes als eine bedeutsame Ressource der Aushandlung und Transformation der Heldenidentität inszeniert. Sein transformatives Potential erhält einen weit gefassten Wirkungsradius, wenn es durch Formwandel, Ordnungswandel und Re-Konfiguration auf die Figurenebene Einfluss nimmt und durch Wiederholung, Neukombination und Variation die Ebene der Textorganisation prägt. In diesem Sinne bilden figurale Körper, Artefakte und ihre affektiv-räumlichen Settings Netzwerke, in denen sich soziale Praktiken entwickeln, reproduzieren und verändern. Mit der Brieflektüre kommen spannungsreiche Beziehungen von Übergang und Rückbindung zum Vorschein, indem sie die Wahrnehmung, das Verhalten und die Emotionen der Figuren präfiguriert, irritiert und stimuliert. Auf diese Weise treten jeweils unterschiedliche Deutungsdimensionen des Helden in den Fokus.47 Hierbei stellt der Brief »gleichsam die eine Hälfte des Dialoges«48 dar, bei dem sich der Adressatenkreis jedoch wiederholt wandelt und der in der Lektüre immer wieder 46 Vgl. Lieb, Ludger : Spuren materialer Textkulturen. Neun Thesen zur höfischen Textualität im Spiegel textimmanenter Inschriften. In: Höfische Textualität. Festschrift für Peter Strohschneider. Hg. v. Keller, Beate u. a. Heidelberg 2015, S. 1–20, hier S. 17; Ders. u. Ott, Michael R.: Schrift-Träger. Mobile Inschriften in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters. In: Schriftträger – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften. Hg. v. Kehnel, Annette u. a. Berlin u. a. 2015 (Materiale Textkulturen 6), S. 17–38, hier S. 18 u. 22–26. 47 Vgl. Reckwitz, Andreas: Affektive Räume: Eine praxeologische Perspektive. In: E-Motions. Transformationsprozesse in der Gegenwartskultur. Hg. v. Mixa, Elisabeth u. Vogl, Patrick. Wien, Berlin 2012, S. 23–44, hier S. 33; Hirschauer [Anm. 36], S. 74; Schatzki, Theodore R.: Materiality and Social Life. In: Nature and Culture 5 (2010), S. 123–149, hier S. 135; Schmidt [Anm. 5], S. 63; Hahn, Hans Peter : Dinge als Zeichen – eine unscharfe Beziehung. In: Spuren und Botschaften: Interpretationen materieller Kultur. Hg. v. Veit, Ullrich u. a. Münster 2003, S. 329–51, hier S. 31; Ders.: Vom Eigensinn der Dinge. In: Bayrisches Jahrbuch für Volkskunde (2003), S. 13–22, hier S. 14. 48 Voßkamp, Wilhelm: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: DVLG 45 (1971), S.80–116, hier S. 82. Vgl. hierzu auch Oehri, Martina: Dinge, die die Welt bewegen. Zur Kohärenz im frühneuzeitlichen Prosaroman. Bern 2015 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700), S. 44f.; Strowick, Elisabeth: Materielle Ereignisse: Performanztheoretische Konzepte von Materialität. In: Prima Materia: Beiträge zur transdisziplinären Materialitätsdebatte. Hg. v. Köhler, Sigrid G. u. a. Königstein/Taunus 2004, S. 27–47, hier S. 38; Muschick, Martin: Minne in Briefen: Studien zur Poetik des Briefwechsels in der Erzählliteratur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Heidelberg 2013, S. 13f.; Lieb [Anm. 46], S. 8.

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neue Kommunikationsprozesse anstößt. Dies geschieht durch eine Korrelation zwischen An- und Abwesenden, zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Eine besondere Aufmerksamkeit bekommen Imagination und Emotionalisierung durch die Übertragung von schriftlicher Materialität in eine mündliche Performanz.49 Im heldenepischen Text entsteht hierdurch ein wiederkehrendes, raffendes und synthetisierendes Wieder- und Weiterzählen des Held-Werdens: Zum einen dient der Brief bei Berchtungs Gerichtsverhandlung am Königshof als ein Rechtsdokument, welches das Überleben des Kindes beglaubigt, seine außerordentliche Positionierung bestätigt und eine Reintegration initiiert. Zum anderen ermöglicht er als Abstammungszeugnis ein Zusammenführen von Mutter und Sohn, indem Wolfdietrich durch die Lektüre seine genealogische Herkunft ebenso wie die damit verbundenen emotionalen Beziehungsmuster reaktiviert. Darüber hinaus reizt der Brief den Helden dazu, – wie bereits angedeutet –, in der Wildnis in einem schwermütigen Moment der Selbstreflexion zu verweilen. Es zeigt sich dabei, wie im spätmittelalterlichen Heldenepos die Schrift gegenüber dem Körper zunehmend an Legitimation gewinnt. Der Brief fungiert sowohl als Zeichenträger des Ausschlusses als auch als Marker von Zugehörigkeit und Privilegierung und als Objekt der Distinktion erzeugt er eine affizierende Wirkung.50

III.I

»fraw künigine, nu haisset sehen, was an ewrem briefe stee« (Wd A, 199,4): Memoria und Reintegration des Außerordentlichen

Als die Königin das Fehlen ihres jüngsten Sohnes bemerkt, verdächtigt sie sofort ihren Ehemann, am Raub ihres Kindes beteiligt gewesen zu sein. In einem expressiven Emotionsausdruck, der die Intensität ihrer Mutterliebe, der Ver49 Vgl. Nickisch, Reinhard M. G.: Brief. Stuttgart 1991 (Sammlung Metzler 2060), S. 199; Ordner-Buchberger, Claudia: Briefe schreiben im 16. Jahrhundert. Formen und Funktionen des epistolaren Diskurses in den italienischen libri de lettere. München 2003, S. 183; Ehlich, Konrad: Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation. In: Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Hg. v. Günther, Hartmut. Berlin, New York 1994 (Handbuch zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 10,1), S. 18–41, hier S. 30. 50 Vgl. zum Verhältnis von höfischem Körper und Schrift ausführlich Wenzel, Horst: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 195–204; Wenzel, Edith u. Wenzel, Horst: Die Tafel des Gregorius. Memoria im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Haferland, Harald u. Mecklenburg, Michael. München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 99–114, hier S. 102f. Vgl. zu Artefakten als Affektgeneratoren Reckwitz [Anm. 3], S. 42–45.

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zweiflung und der Trauer nach außen trägt, fordert sie Aufklärung ein.51 Während Hugdietrich jegliche Schuld von sich weist und von der Anklage abzulenken sucht, indem er die virulente Frage nach der außerehelichen Vaterschaft erneuert, spricht sich die Königin selbst von jedem Verdacht der Untreue frei. Sie droht dem König mit Sanktionen und setzt ihren Körper als gender- und standesspezifisches Druckmittel ein, indem sie sich weigert, wieder in sein Ehebett zu kommen: »Ietzo sprichstu rechte« also sprach die künigin. »ich hans von dhainem mann erworben: es was dein. du hast michs auch beraubet. das erbarme got! wenn es die welt gefraischet, so bist du der leute spot, (Wd A, 127) und bist auch zu ainem künige immermer enwicht. so man ander künige preiset, so hat man dich vernicht.« und gib dirs mein trewe, daz du mirs hast benomen, darumb ich an dein bete wil nimmermehr komen. (Wd A, 128)

Durch die Anklage der Königin wird aber nicht nur Hugdietrichs dynastische Potenz, sondern gleichzeitig auch sein königlicher Rang und sein öffentliches Ansehen bis über die Grenzen des eigenen Herrschaftsgebiets hinaus gefährdet. Um dem zu entgehen, bedarf es einer heimlichen Umdeutung des tatsächlichen Intrigengeschehens. Deshalb weist Saben alle Verantwortung dem unfreiwilligen Helfer Berchtung zu. Um seine untrewe (Wd A, 132,4) öffentlich anzuklagen, lädt ihn der König unter einem Vorwand an den Hof. Der Einladung folgt Berchtung mit seinen treuesten Rittern. Doch vorher lässt er die wundersamen Umstände des Überlebens des Königssohns aufschreiben:52 Da gedacht im der weise »es mag so nicht gesein. ob mich beginnet fragen mein herre umb sein kindelein, so muos ich haissen schreiben wavon es sei genesen, ob er icht des holder seinem kinde welle wesen.« (Wd A, 138)

Berchtung erahnt, dass der Empfang beim König etwas mit seiner Rolle bei der Entführung und vermeintlichen Tötung des Kindes zu tun hat. Er erwartet vom König eine Bitte um Auskunft, so dass der Brief der Versicherung und Vermittlung der wundersamen Ereignisse dient. Im Verschriftlichungsprozess wird Hugdietrich somit zwar als Adressat aufgerufen, doch bleibt der konkrete Wirkungsradius der schriftlichen Kommunikation unbestimmt. Berchtung scheint mit Komplikationen am Hof zu rechnen, denn er lässt von einem getrewen (Wd 51 Vgl. Küsters, Urban: Klagefiguren. Vom höfischen Umgang mit der Trauer. In: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. Hg. v. Kaiser, Gert. München 1991 (Forschung zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 12), S. 9–75, hier S. 13f.; Koch [Anm. 3], S. 55–62. 52 Vgl. Wenzel u. Wenzel [Anm. 50], S. 104.

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A, 139,1) von erst unz zu dem letsten alles bedeuticliche (Wd A, 139,4) dokumentieren, so dass der Brief auch zum Zeugnis der Intrige wird, für den Fall, dass er sich nicht selbst erklären kann. Er trägt die Brieftafeln bei sich und transportiert somit das geheime Wissen um den erwählten Helden an den Königshof. Doch bei seiner Ankunft wird Berchtung direkt angeklagt und gefangen genommen.53 Durch den Einfluss des falschen Ratgebers Saben regieren am Hof Intrige und Gewalt, so dass sich Hugdietrich durch seine beeinträchtigte Urteilsfähigkeit als unfähiger Landesherr offenbart. Nach einer viermonatigen Gefangenschaft Berchtungs beruft Hugdietrich eine Gerichtsverhandlung ein, um den Dienstmann für den Kindsmord zu bestrafen; den Vorsitz übernimmt Saben. Doch die Königin hegt berechtigte Zweifel an Berchtungs Schuld, sucht ihn auf und fleht ihn an, ihr vom Verbleib ihres Kindes zu erzählen: »[…] sage mir die märe, ob das kind habe sein leben« (Wd A, 175,4). Als die Königin schon vor ihm auf die Knie sinken will, erfüllt Berchtung ihre Bitte und übergibt ihr den Brief als materielle Beglaubigung des Überlebens: »Ir claget dann ander swäre, ir solt das kind nicht clagen. fraw, ich liess es lembtig ir solts aber nieman sagen: in meiner vänknüss ich dest sanfter slief, daz ich in lebentig wiste. nu nemet hi disen brief. (Wd A, 178) Den solt ir mir behalten, ich solle sterben oder genesen, und wenn ich euch ewrer trewe ermane, so haisset in lesen.« (Wd A 179,1f.)

Als Berchtung vor Gericht nun seine Unschuld unter Beweis stellen will, scheut Hugdietrich vor einem Gerichtskampf zurück. Stattdessen macht sich Berchtung eine artefaktbezogene Praxis zu Nutze und fordert die Königin auf, den Brief verlesen zu lassen: Einem caplane gab die fraw den brief dar. si sprach »nu nemet des briefes durch meinen willen war.« si sprach »ir solt mir sitzen hie vil nahen bei. herr pfaffe, nu sagt mir rechte was daran geschriben sei. (Wd A, 203) Und sagt ir mir nicht rechte was an dem briefe stee, ich nim euch ewr pfarre und tuo euch darzuo vil wee. und solt in sagen so laute daz man in wol vernem, hab iemand misseraten, daz er sich hewte schem.« (Wd A, 204)

Die Königin droht mit harter Strafe, wenn nicht rechte und laut gelesen werde. Der Brief fungiert in der Verhandlung somit als Substitut des Absenders und ersetzt Berchtungs Stellungnahme, obwohl er gleichzeitig anwesend ist. Nicht die 53 Vgl. Ehlich [Anm. 49], S. 30f.; Lieb [Anm. 46], S. 3f.; Miklautsch [Anm. 2], S. 108 u. S. 234.

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Ko-Präsenz des Augenzeugen tritt als Wahrheitsgarant hervor, sondern die Autorität des geschriebenen Wortes und die Expertise des vorlesenden Geistlichen bürgen für eine Gewissheit:54 Da sprach der pfaffe laute »an disem briefe stat geschriben, daz unser junkherre noch lembtig ist beliben. es genas aber nie so kaume ein klaines kindelein.« »das sind vil guote märe« sprach aber die künigein. (Wd A, 205) »Frau, es ist von dem künige unserm herrn komen, daz dem klainen kinde der leib solt sein benomen. der gebot es Berchtunge, daz er im neme den leib, oder er hienge vor Lilienporte sein kind und auch sein weib. (Wd A, 206) Mein herre aus seinem bete das kindelin verstal und gab es Berchtunge. der truog es durch den sal. da fourt ers aus der burge, da es ertöt solt haben sein handt, da enmocht er vor der trewe, die er in seinem herzen vant.« (Wd A, 207)

Das Verlesen erweckt in einem rückbezüglichen System die Erlebnisse und vergegenwärtigt die Erfahrungen der Privilegierung und Ausstoßung gleichermaßen. Hierbei verbleiben die schriftlichen Aussagen aber nicht allein im Sinnhorizont des Absenders, sondern der Lesende und die Zuhörenden – besonders die Königin – beteiligen sich durch Befürwortung, Kommentierung oder Widerspruch aktiv an der Konkretisierung der Worte.55 Auf dem Weg der narrativen Assoziation wird das Intrigengeschehen reproduziert und die Schuld des Königs offengelegt. Für diese schandhafte Tat fordert die Königin eine Schamreaktion als soziale Emotion ein.56 Zum einen beglaubigt der Brief Berchtungs Unschuld im Gerichtsverfahren und kennzeichnet die Treuebindung zum Helden als ein zentrales Handlungsmuster des heldenepischen Erzählens. Zum anderen führt die Lektüre aber auch die traumatische Erfahrung der Aussetzung und Isolation ebenso wie den mehrfachen Tötungsversuch vor Augen, in dem Flora und Fauna zu Komplizen für Berchtungs Tat werden sollten. Die außerordentliche Befähigung des Kindes

54 Vgl. Wenzel [Anm. 50], S. 195f.; Miklautsch [Anm. 2], S. 235. 55 Vgl. Schnicke [Anm. 14], S. 12f.; Wenzel u. Wenzel [Anm. 50], S. 104; Nickisch [Anm. 49], S. 199. 56 Vgl. Gvozdeva, Katja u. Velten, Hans Rudolf: Einleitung. In: Scham und Schamlosigkeit: Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne. Hg. v. Dens. Berlin, Boston 2011, S. 1–26, hier S. 3f.; Seidler, Günther H.: Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham. Stuttgart 2001; Krause, Burkhardt: scham(e), schande und Þre: Selbstwahrnehmung – zwischen Affekt und Tugend. In: Emotions and Cultural Change. Gefühle und kultureller Wandel. Hg. v. Dem. u. Scheck, Ulrich. Tübingen 2006, S. 21–75; Mecklenburg [Anm. 28].

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errettet es jedoch, denn es widersetzt sich in seinem Verhalten jedweder Erwartungshaltung:57 »Er fuort es ze einem brunnen, der stuond rosen vol. er wolt daz es sich het ertrenket – das bewarte es aber vil wol. het es gesuochet die rosen, es wär gevallen darein. da huob sich von dem brunnen das klaine kindelein. (Wd A, 208) Ungas und ungetrunken sass es allain einen tag in regen und in winte, daz sein laider niemand phlag. an aller schlachte hilfe sass es als ein waiselein.« »des muos es got ergetzen« also sprach die künigein. (Wd A, 209)

Durch den betonten Mangel an Fürsorge, der hier als ein Zusammenhang von Gebären und Nähren erscheint, wird die zuvor innige Mutter-Kind-Beziehung in Erinnerung gerufen. Gleichzeitig werden aber auch Trennungsschmerz und Verzweiflung der Königin reaktiviert, wenn ihr Sohn als ein waiselein (Wd A, 209,3) in Erscheinung tritt. Auch die Erzählinstanz weist vorher bereits auf diese gender-, körper- und standesbezogene Verknüpfung hin, wenn die Ausnahmebeziehung, die das Trinken an der Brust der Mutter verkörpert, nun durch den nährenden Gott ersetzt wird: der phlag sein wol mit trewen, sein hilf es nicht betrog. / das weib was im ze verre, der brüstlin es sog (Wd A, 97,3f.).58 Eine göttlich initiierte Tier-Mensch-Beziehung behütet das Kind in der Wildnis, wenn aus der Begegnung mit den wilden Wölfen statt einer Gewalteskalation eine Form der Vergemeinschaftung hervorgeht: »Da sass es undern wolfen, fraw, ein lange nacht. wolt got kaines todes do an im han gedacht so wers do erstorben. die wolfe teten ime nicht. wie kaume es sich gefüege, es hat noch an freuden pflicht. (Wd A, 210) Berchtung stuond so nahen, daz er die wunder sach daz also menige zaichen an dem kinde geschach. da huob er von der erde das klaine kindelein und kust auch vil dicke den lieben herren sein.« (Wd A, 211)

Die Frage der Relationalität, die in der sozialen Organisation des Wolfsrudels auf das Verhältnis der Rudelmitglieder zueinander abzielt, wird hier um die Frage nach einer Verhältnisbestimmung von Mensch und Tier erweitert. Das Kind wird in das Rudel integriert, sucht aber auch selbstbestimmt seinen Platz darin.59 Ein 57 Vgl. Friedrich [Anm. 4], S. 328f.; Schuler-Lang [Anm. 4], S. 276. 58 Vgl. Brinker-von der Heyde [Anm. 32], S. 219f. 59 Vgl. Wd A, 102–106. Vgl. zum Interspezies-Beziehungsgefüge Schul [Anm. 4], S. 229. Vgl. hierzu bes. Ullrich, Jessica: Who cares for animals? Interspezies-Fürsorge in der zeitgenössischen Kunst. In: Figurationen: Animal traces, 1/15 (2014), S. 78–98, hier S. 95; Balgar, Karsten: Leiblichkeit und tierliche Agency. Die Handlungsfähigkeit von Tieren im Kontext

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Distanzmodell transformiert sich hin zu einer außerordentlichen Näherelation, die Berchtung im vergangenen Erfahren ebenso wie der Geistliche im gegenwärtigen Verlesen als göttliches Eingreifen interpretieren. Das Wolfsrudel übernimmt in der Beziehung in doppelter Weise einen fürsorgenden Part, zum einen, indem es das Kind über die Nacht hinweg in ihre schützende Gemeinschaft aufnimmt, und zum anderen, indem es den Jungen hierdurch vor Berchtungs Tötungsplan bewahrt. Hierbei wird die Ambivalenz der Wahrnehmung im Umgang mit Animalität augenfällig; eine Ambivalenz, die auf eine Grenzposition der Wölfe und des Heldenkindes gleichermaßen abzielt. Gender-, Alters-, Heils-, Standes-, Körper- und Speziesgrenzen werden auf diese Weise aufgerufen und zur Disposition gestellt.60 Das wunder des Überlebens veranlasst Berchtung dazu, wie es der Geistliche in der Lektüre betont, das Kind zu verschonen und ihm einen Namen zu geben, der die adelige Herkunft und die animale Signatur verknüpft. Im Namen Wolfdietrich bildet sich die hybride Identität des Helden ab: »Er sprach ›wie mir gelinge, dir ist der leib ernert. ich waiss wol daz die zaichen von guoten dingen fert. du erstirbest nimmer, du gewinnest künigreich.‹ davon ward er gehaissen, der Wolff herr Diettereich.« (Wd A, 212)

Der König gibt nach dem Verlesen des Briefes seine Rolle am Mordkomplott öffentlich zu, beschuldigt aber den falschen Ratgeber, ihn dazu angezettelt zu haben und hierfür wird Saben zum Tode verurteilt. Die Vollstreckung des Urteils überlässt das Herrscherpaar allerdings Berchtung, der den Herzog schließlich begnadigt:61 Da sprach der künig mit witzen ze Berchtunge von Meran »ich vieng dich ze unrechte, ich bin selbe schuldig daran. ich bin selber schuldig an meinem lieben suon. nu riche dich wie du wellest: mich hiess es Saben tuon.« (Wd A, 214)

Der Brief fungiert in der Gerichtsszene als ein medialer Beziehungsträger, dem deskriptive, argumentative und affizierende Funktionen zukommen. Er bindet in der Vergangenheit eingenommene und mit besonderer Legitimität versehene Positionen, gegenwärtige Positionierungskonflikte und zukünftige Ansprüche zusammen. Hierbei wird der Ausschluss des wundersamen Kindes aus der höfischen Gemeinschaft als ein identitäts-, handlungs- und strukturbezogener Kreuzungspunkt markiert, auf den die narrative Textorganisation immer wieder von Leiblichkeitskonzepten. In: Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies. Hg. v. Kurth, Markus. Bielefeld: transcript 2016, S. 137–148, hier S. 138. 60 Vgl. Schul [Anm. 4], S. 229. 61 Vgl. Miklautsch, [Anm. 2], S. 110f.

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Bezug nimmt.62 Die Verschriftlichung des Außerordentlichen leistet die sinnbildliche Bewahrung dessen, was als sozial ausgegrenzt erscheint; sie spricht zwar das Kind vom Verdacht einer Teufels-Abstammung frei, doch eröffnet sie gleichzeitig eine konfliktbehaftete Reintegration des Helden.

III.II

»Ich han vil recht erfraget, von wann ich bin bekomen« (Wd A, 308,1): Genealogische Veranlagung, heroische Befähigung und Sozialisation

Als Wolfdietrich nach der Konfliktbeilegung an den Königshof zurückkehrt, sticht er erneut heraus. Zum einen wird wieder seine physische Präsenz augenfällig – »nun secht wo er dort geet, / der lengist und der grössist, der under in allen steet!« (Wd A, 233,3f.) – und zum anderen verstößt er abermals durch gewalttätiges Verhalten gegen die höfische Norm. Nicht das Wunder des Überlebens unter Wölfen tritt hervor, sondern vielmehr eine defizitäre Position des Kindes, das sich kein höfisch-normiertes Verhalten aneignen konnte. Die mehrfache Verkehrung der Eltern-Kind-Beziehung – vom Vater verstoßen, von den Wölfen kurzzeitig integriert und von den Wildhütern gefürchtet – verdeutlicht die soziale Vereinzelung des Jungen. Selbst als Hugdietrich versucht, sich ihm anzunähern, stößt Wolfdietrich ihn von sich.63 Um den Hof vor dem unkontrollierten Gewaltpotential zu bewahren, wird der Junge zur höfischen Erziehung an Berchtung übergeben. Hugdietrich rüstet ihn zwar mit Pferd, Harnisch und Schwert aus, doch bleibt der jüngste Königssohn weiterhin vom Erbanspruch ausgeschlossen. Bereits hier kündigt sich der spätere Erbfolgekrieg an, in dem Wolfdietrich gegen die eigenen Brüder kämpfen wird.64 Trotz der kurzzeitigen Rückführung an den Hof von Kunstenobl bleibt dem Jungen seine königliche Abstammung verborgen; er wächst ohne Kenntnis seiner Herkunft auf und hält Berchtung und seine Frau für seine Eltern. Nach dem Tod Hugdietrichs wird die Erbfolgefrage virulent und der untreue Saben nutzt die Gelegenheit zur Rache und erneuert den Bastardvorwurf gegen den jüngsten Königssohn. Wiederum wird Wolfdietrich durch einen Ausschluss aus der höfischen Gemeinschaft, durch dynastischen Statusverlust und Verarmung bedroht: Zu den junkhern sprach er do alle zeit »ir solt vil rechte wissen, herre, wer ir seit.

62 Vgl. Wenzel u. Wenzel [Anm. 50], S. 104. 63 Vgl. Wd A, 237. Vgl. hierzu Friedrich [Anm. 4], S. 331; Kratz [Anm. 4], S. 18; Schul [Anm. 4], S. 239f. 64 Vgl. Wd A, 65–70 u. 241–243.

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von ewr muoter valsche ist der dritte künig enwicht: den si euch da zelet ze bruoder, der ist ewr bruoder nicht. (Wd A, 266) Si trachtet auf ewr eere baide nacht und tag und ist stäte an dem rate wie si euch verderben mag. verstosset si von der burge, si ist auf ewrem schaden hie, und nemt ir alles das erbe daz ir ewr vater lie.« (Wd A, 267)

Die Königssöhne verstoßen ihre Mutter vom Königshof und sie flieht zu Berchtung, der sie bei sich aufnimmt. Nun bekommt der Brief als Platzanweiser im genealogischen Gefüge eine zentrale Rolle zugewiesen. Als Berchtung Wolfdietrich seine tatsächliche Herkunft offenbart, gerät der junge Held in einen Treuekonflikt zu den verschiedenen Bezugsgruppen, sucht seine angeborene art zu ergründen und konfrontiert den Ziehvater mit seiner inneren Zerrissenheit: »seit ir mein vater heute und wardt sein gester nicht?« (Wd A, 294,4). Berchtung überreicht ihm das väterliche Schwert als materielles Zeichen seiner dynastischen Herkunft wie seines herrschaftlichen Erbanspruchs und entsendet ihn zu seiner Mutter : »nu frage die frawen, die gestern herein do reit: / die kennet wol dein geschlächte und saget dir die warhait« (Wd A, 296,3f.). Wolfdietrich beklagt das Gefühl der Entwurzelung, artikuliert somit die Störung seines Selbstverhältnisses und gerät darüber in gewaltigen Zorn. Seine animale Veranlagung und mangelnde Affektkontrolle wird erneut als eine mögliche Gefahr identifiziert und zwar für die Sicherheit der eigenen Mutter : er troug vil zorniklichen das schwert in seiner handt: hin gie er in das münster, da er sein muoter vant. (Wd A, 298,3f.) Er sprach »nu saget mir, frawe und haisset ir ein künigein, wisset ir ob ir erkennet den lieben vater mein? seit aber ir mein muoter und bin ich ewr kind, ir solt mich dahin weisen da meine freundt sind.« (Wd A, 299) »Ir vart so zorniklichen« sprach die frawe guot, »und bin doch des gelaubig daz ir mir nicht entuot: ich kann dir nicht beweisen nu mer der freunde dein, wann ich bin dein muoter und du mein kindelein.« (Wd A, 300) »Mag aber ein kindt von muoter on vater komen?« »entraun« sprach die fraw, »des hab ich nicht vernomen. von vater und von muoter wirt wol ein kind geborn. den vater den aber du hettest, den hast du laider verloren.« (Wd A, 301)

Wolfdietrich hat keine Erinnerung an seine leiblichen Eltern. Der Wunsch diese Leerstelle zu füllen und eine Zugehörigkeit – besonders zum unbekannten Vater – zu erleben, treibt den jungen Helden an. Erneut tritt die Autorität des geschriebenen Wortes hervor, um die Helden-Identität zu formen und der Ab-

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stammungsgeschichte der Mutter Glaubwürdigkeit zu verleihen. An die Materialität der Wachstafel knüpft sich hierbei sowohl das Motiv des Erinnerns und Gedenkens als auch des körpergebundenen Einschreibens:65 Si sprach »ir seit geleret, nu nemet den brief in die hant.« sein leben und sein sterben er daran geschriben vant; wie Berchtung in ernerte, an dem brief er das las, wavon er was verraten und wavon er genas. (Wd A, 304) Da naigte er seiner muoter das haubet in die schos. do ward ir baider wainen und auch ir jammer gros: er halstes und kusstes, ir claider wurden nass. durch seines maisters liebe des swertes er vergass. (Wd A, 305)

Die Familien- und Ausschlussgeschichte ist auf der Tafel lesbar eingeprägt und begegnet Wolfdietrich als externalisierte Botschaft. Der junge Held nimmt das Selbst-Bild an, das er im Sich-selbst-laut-Vorlesen erzeugt, erfasst das Beziehungswissen, das der Brief ihm vermittelt, und nähert sich mit dieser Zuwendung zur Schrift auch seiner eigenen Mutter wieder an. Aussprechen und Hören der geschriebenen Worte reaktiviert die Mutter-Kind-Bindung, die sich in einem unmittelbaren Emotionsausdruck entlädt. Die Inkorporation des erlesenen Wissens drückt sich in Wolfdietrichs physischer Reaktion, im Weinen, Klagen, Küssen und Umarmen aus. Die emotionale Praxis erzeugt und festigt somit die bereits verloren geglaubte Nähebeziehung. Der Zorn ist verraucht, das Schwert ist vergessen und mit ihm die Sehnsucht, den leiblichen Vater als Quelle der Veranlagung und des Rangs ausfindig zu machen. Sie tritt hinter der erlesenen und erlebten Treuebindung zu seinem Retter, Lehrmeister und Ziehvater Berchtung zurück. Das Wissen um seine dynastische Herkunft geht mit einer bewussten Hinwendung Wolfdietrichs zum Rittertum einher : »bin ich von edlem künne, ich will auch tuo darnach« (Wd A, 295,4). Während Berchtungs Erziehungsmethoden seine animale Veranlagung zu bändigen suchen und er den jungen Helden durch Fesseln und Körperstrafe zum höfischen Benehmen abrichten will, transformiert ihn erst der in der Lektüre gewonnene Selbstbezug zum höfischen Ritter.66 Der Verrat der Brüder treibt ihn an, die eigene Herrschaftsbefähigung im Kampf unter Beweis zu stellen. Hierbei tritt die Kategorie ›Alter‹ in den Vordergrund, wenn sie die komplexe Dynamik zwischen Gender-, Standes- und Herrschaftsverhältnissen akzentuiert. Denn obwohl Berchtung den jungen Helden zu 65 Vgl. zur Materialität des Briefes Wd A, 306,1. Vgl. hierzu Wenzel u. Wenzel [Anm. 50], S. 106f.; Lieb [Anm. 46], S. 12f. 66 wenn in her Berchtung wolte umb sein ungefüege slahen, / so muost er in immer rechte binden unde vahen (Wd A, 253,3f.). Vgl. Friedrich [Anm. 4], S. 331; Schul [Anm. 4], S. 239f.

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bremsen sucht, erklärt sich Wolfdietrich selbstständig für waffenfähig, will die Mutter rächen und sein Recht erstreiten:67 Mit jammer sprach der alte »du hast mannhait unde tugent – zu deinem grossen leibe hast du zu claine jugent. es schadet deinen helden und deiner kinthait, daz du strebest alze fruo nach seneder arbait.« (Wd A, 310) »Du solt mich des nicht irren alle die weil ich tüge. ich versuoch in meiner jugende was ich erwerben müge. es müssen meine brüeder meine veinde sein, si lassen mir mein erbe und auch der muoter mein.« (Wd A, 312) »ich wil entrawn vechten umb mein selbs künigreich. ich erlaube mirs selber« sprach Wolff Diettrich. (Wd A, 316,3f.)

Obgleich es ihm an Erfahrung fehlt, führt der übermütige Held seine Gefolgsleute in den Kampf: »zwar ich geruowe auch nimmer, ich gewinne ein künigreich« (Wd A, 309,3). Der Erbfolgekrieg mündet jedoch in einer schweren Niederlage, fordert zahlreiche Opfer und führt zu einer jahrelangen Belagerung. Der erzwungenen Untätigkeit sucht Wolfdietrich zu entkommen, indem er alleine auszieht, um Beistand bei Kaiser Ortnit zu finden.68 Seine Mutter stattet den Helden für diese gefährliche Suchfahrt nun erstmals mit seinem Taufgewand aus und sendet ihn unter göttlichem Schutz auf den Bewährungsweg:69 »Du hast über dein herze der selden dach geschlauft. das sind die selben claider, da du inne bist getauft. du solt an got gelauben, so wirt dir dein künigreich.« »nu geruoch er mich behüeten« sprach Wolf herr Diettreich. (Wd A, 435)

III.III vil schier da ward er irre, das muost im wesen laid (Wd A, 451,4): Selbstreflexion, Re-Kategorisierung und Transformation Die Suchfahrt durch die Wildnis ist – wie eingangs betont – durch eine Überkreuzung von Disparatem gekennzeichnet. Übermäßiger Handlungseifer und kriegerische Potenz treten innerhalb weniger Verse hinter Antriebshemmung und Kraftverlust zurück, die den jungen Helden und sein Pferd gleichermaßen erfassen. Das Reiten führt zwischen Mensch und Tier zu einer emotional aufgeladenen Nähe. Ähnlich wie bei den Wölfen ist auch die Held-Pferd-Beziehung 67 Vgl. Wenzel u. Wenzel [Anm. 50], S. 102f.; Lieb [Anm. 46], S. 17; Oehri [Anm. 48], S. 5. 68 Vgl. zu intertextuellen Verbindungen des Ortnit- und Wolfdietrich-Stoffes Miklautsch [Anm. 2], S. 6–22 u. 178–186. 69 Weder das väterliche Schwert, noch das Taufgewand kommen im Kampf gegen die eigenen Brüder zum Einsatz (vgl. Wd A, 323–326).

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gleichermaßen durch Dominanz- und Fürsorgemarker bestimmt: im mochte nicht gehelfen, waz er im schlege sluog. / so lieb was im sein rosse, daz er den satel truog (Wd A, 460,3f.).70 Der Sattel dient sowohl als Hierarchiesignal als auch als Übergangssphäre, die einen Austausch zwischen Pferd und Reiter ermöglicht. Wenn Wolfdietrich diesen nun selbst trägt, gibt er den lenkenden Part im Beziehungsgefüge auf und stattdessen tritt eine Vergemeinschaftung in den Fokus. Hunger, Durst und schwermütige Stimmung zeigen bei beiden Aktanten physische Auswirkungen und verdrängen alle motivationalen Handlungen. Ungerüstet, niedergeschlagen und müde zieht Wolfdietrich zu Fuß weiter, um seinen entkräfteten Gefährten zu schonen:71 Hart barmikliche er von dem geswerbe floch über rane und über staine sein ross er mit im da zoch, da het er im der müede vil gerne gemachet buos, wol dreier raste lange gieng er neben im ze fuos. (Wd A, 459)

Dem jungen Helden bleibt nur die Flucht vor einer zunehmenden Verwirrung,72 die sich sowohl im Äußeren als auch im Inneren abzeichnet. Er sucht der weglosen Wildnis ebenso wie seinem gestörten Selbstgefühl zu entkommen. Entworfen wird eine Dramaturgie des zerrissenen Helden, in der sich Formen der Selbstreflexion, des Erinnerns und der Re-Kategorisierung mit einer außergewöhnlichen Raum- und Zeitwahrnehmung verknüpfen.73 Die heroische Mobilität mündet in Verzweiflung, die den Helden mit seiner eigenen Vergänglichkeit und einer möglichen Verdammnis konfrontiert. So wähnt er sich in seiner Erschöpfung bald im Konflikt mit teuflischen Gegnern:

70 Vgl. Haraway, Donna: When Species Meet, Minneapolis, London 2008, S. 4f.; McHugh, Susan: Literary animal agents. In: PMLA 124/2 (2009), S. 487–495, hier S. 487f.; Balgar [Anm. 59], S. 143f. 71 Vgl. Friedrich [Anm. 4], S. 237–239; Borgards, Roland: Tiere und Literatur. In: Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Hg. v. Dems. Stuttgart 2016, S. 225–245, hier S. 230f.; Rieger, Stefan: Tiere und Medien. In: Borgards [Anm. 71], S. 30–37, hier S. 33f.; Krüger, Gesine u. a.: Animate History : Zugänge und Konzepte einer Geschichte zwischen Menschen und Tieren. In: Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History. Hg. v. Dens. Stuttgart 2014, S. 9–33; Schul [Anm. 11], S. 98–101. 72 Bereits Fuchs-Jolie u. a. verweisen im Kommentar darauf, dass geswerbe zu swerben »sich wirbelnd bewegen« gehört und sich als »Durcheinander« oder »Geschwurbel« (vgl. DWB) sowohl auf eine Außen- wie Innenwahrnehmung beziehen lässt (vgl. Fuchs-Jolie, Stephan u.a: Kommentar. In: Dies. [Anm. 1], S. 664). 73 Vgl. zu Emotionalität und Raumerfahrung Reckwitz [Anm. 47], hier S. 37f. Vgl. zum Topos der Wildheit u. a. Hufeland, Klaus : Das Motiv der Wildheit in mittelhochdeutscher Dichtung. In: ZfdPh 95 (1976), S. 1–19; Hoffmann, Werner : die vindaere wilder maere. In : Euphorin 89 (1995), S. 129–150; Herchert, Gaby : Vom Topos der Wildheit. In: Topik und Argumentation. Hg. v. Dörpinghaus, Andreas u. Helmer, Karl. Würzburg 2004, S. 151–170.

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»Ich wän wol daz die teufel ich hör Luciferen schreien sein ross das traib er nidere vor hunger und vor durste

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mir hie vil nahent sint. und alle sein kindt.« die leiten hin ze tal. si bede teten manigen val. (Wd A, 463)

Hierbei geraten Wolfdietrichs Wahrnehmungsmuster zunehmend aus dem Gleichgewicht, so dass es ihm nicht mehr gelingt, die fremde Umgebung richtig einzuordnen. Während das laute Schlagen des Meerwassers gegen eine Steinwand für ihn teuflische Stimmen zum Leben erweckt und der steile Abstieg in ein tiefes Tal Höllenassoziationen aufruft, eröffnet das nachfolgende räumliche Setting eines locus amoenus mit Anger, Blumen, Gras und Linde, erfüllt von süßen Düften eine paradiesähnliche Sphäre, die Pferd und Reiter zum Innehalten einlädt: Mit vallen und mit strauchen so kam er an den sant auf die eben erden nider an das lant. da stuond ein grüene linde, darunter ein anger was: im gieng unz an die gürtele die bluomen und das gras. (Wd A, 466) Es gab geschmack vil süessen die rosen und der klee. »o wol mich« sprach der Krieche, »wie halt es mir ergee, got hat meinem rosse waide alhie beschert. mir ist vil dest sanfter daz es sich ernert. (Wd A, 467) Es wirt hie von dem anger fürbas nicht gezogen. nu wil auch ich hie slafen auf meinem satelbogen. sol ich vor hunger sterben, so lig ich hie lieber todt dann auf der bösen erde: dits grase ist rosenrot.« (Wd A, 468)

Trotz seiner Entkräftung zeigt Wolfdietrich erneut eine Nähebeziehung zum Animalen, wenn er sich besonders um das Wohlergehen seines Pferdes sorgt. Gleichzeitig wird hierdurch aber auch die Differenzbeziehung zwischen Mensch und Tier markiert, wenn nur das Pferd aufgrund seiner tierlichen Eigenart in diesem Naturraum überlebensfähig ist. Wolfdietrich wird weiterhin von senenden sorgen (Wd A, 469,4) geplagt. Der Held sieht sich dem Tod nahe und fällt in einen kummervollen Erschöpfungsschlaf. So wird der beständige Handlungsdrang gänzlich stillgestellt und der Fokus richtet sich stattdessen auf eine Figuration der Anderswelt hin aus. Ein ungehewres w%p, eine Tier-Mensch-Hybride, steigt vom Meeresgrund auf, um den schlafenden Helden in Augenschein zu nehmen:74

74 Vgl. Hempen, Daniela: Grenzüberschreitungen: Begegnungen mit der wilden Frau in dem mittelhochdeutschen Epos Wolfdietrich B. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 89 (1997), S. 18–30, hier S. 20; Schleissner, Margaret: Die wilde Frau in der mittelhochdeutschen Epik. In: Begegnung mit dem ›Fremden‹. Grenzen –

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der Wolff herr Diettreiche. (Wd A, 469,4)

Der durst und auch der hunger het im nach benomen den leib. aus des meres grunde gieng ein ungehewres weib. si trug an irem leibe von schuopen ein haut. si sach auch dem geleiche sam si wäre des teufels braut (Wd A, 470) mit langem wassermiese so gar bewachsen was, als in dem wasser wachset vil ungefüeges gras. ir hiengen von dem kinne die gran unz auf den fuoss. wie ungestalt si wäre, si het dannoch senften gruos. (Wd A, 471)

Innerhalb weniger Verse wird das ungehewre weib deutlich konturiert; und zwar als sozial, räumlich, heilsgeschichtlich, körperlich, genealogisch, gender- und speziesbezogen normabweichend. Tierähnliches Äußeres, Verletzung weiblicher Rollenmuster und der fremdartige Lebensraum bergen in sich ein bedrohliches Potential und schließen diese Frau – der Wertung der Erzählinstanz folgend – offenkundig aus dem Bereich christlich-höfischer Normalität aus. Diese Perspektivlenkung rückt nah an die spätere Wahrnehmung des erwachenden Helden heran, so dass eine Engführung von personaler und kollektiver Differenzmarkierung entsteht. In ihr erfolgt erneut – wie schon bei Wolfdietrich zuvor – eine Dämonisierung des Andersartigen und führt eine wechselseitige Potenzierung sich überkreuzender Kategorien vor Augen. Wie um dies zu bestätigen, lässt die Erzählinstanz den Blick an dieser (Un-)Gestalt hinabwandern: Si was an allen enden vil schleimig und nass. ir har gieng über die versen und dannoch fürbas. ir was die augengruobe wol einer spannen weit, wol zwaier vinger tiefe, alda das auge leit. (Wd A, 472) Ir mundt was als ein schaffel, ir zen wol spannen lang, ir füesse als ein schaufel, vil unselig was ir gang. ir was auch ir stirne wol einer ellen brait. da si den degen weckte, das was dem degen vil lait. (Wd A, 473)

Die Ästhetik eines solchen inkommensurablen Körperentwurfs wird als eine Form der Vermessung vorgeführt. Es entsteht ein Konglomerat von Proportionen, Materialitäten und Bewegungsmustern, die jede Vorstellung eines harmonischen Gesamtbildes sprengen: zu groß, zu lang, zu breit, zu weit und dabei zu unchristlich, zu unkultiviert und zu tierlich. Das ungehewre weib vereinigt in sich Anteile verschiedener Typologien der Abweichung, so dass sich Merkmale der Wildleute mit denen von Altersdarstellungen überlagern und die BeschreiTraditionen – Vergleiche. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Hg. v. Iwasaki, Eijiro. Tokyo 1990, S. 67–74, hier S. 67f.; Miklautsch [Anm. 2], S. 135–138.

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bungen deformierter Körperbilder dem Adamskindermythos nahestehen.75 Hierbei eröffnet die Zuordnung fraw (Wd A, 477,3) eine unmittelbare genderund standesbezogene Erwartungshaltung. In ihr gilt Schönheit als das normbildende Ideal, das den Angehörigen der höfischen Gesellschaft vorbehalten bleibt und als Korrelation von außen und innen auch ethisch-moralische Qualitäten repräsentiert. Eine aus ihrer körperlichen Normabweichung abzuleitende Standes- oder Tugendferne trifft auf diese außergewöhnliche fraw aber gerade nicht zu.76 Ganz im Gegenteil, sie ist eine Meereskönigin, die sich auf höfisches Verhalten versteht, wie die Erzählinstanz betont: wie ungestalt si wäre, sie het dannoch senften gruos (Wd A, 471,4).77 Der anschließende Perspektivwechsel, der die Wahrnehmung der Frau aufgreift, macht außerdem deutlich, dass sie eine feudale Gesellschaftsstruktur repräsentiert, sich höfischer Konventionen bedient und das männliche Bewährungsmuster der .ventiure kennt. Sie betrachtet und beurteilt den ruhenden Helden genau, so dass Geschlecht, Jugend, Tatendrang, Schönheit und ständische Ebenbürtigkeit im Selbst-Gespräch als ihre normgebenden Kriterien offengelegt werden: Si trat über den Kriechen und zoch im aus sein schwert. si sprach »nu wais et nieman wes du hast begert. du suochest abentewr« sprach das wilde weib: »er wär doch hart übele, wer dir nu näme deinen leib.« (Wd A, 474) »Nu hast du in deiner jugende vil wunnekliche glide. und wesste ich ob du edel wärest, ich geb dir gerne fride.« sein schwert das barg si vil schiere, wan das kunde si wol. si verbarg sich selb hinder eines baumes hol. (Wd A, 475)

75 Dieses ätiologische und genealogische Erklärungsmuster körperlicher Normabweichung, das die Entstehung von Monstra darauf zurückführt, dass Adams Töchter dessen Verbot, von bestimmten Kräutern zu essen, übertreten und daraufhin körperlich gezeichnete Kinder geboren hätten, ist im Mittelalter vertraut. Vgl. z. B. Wiener Genesis, V. 1060–1065. Vgl. hierzu u. a. Friedrich [Anm. 4], S. 118 u. S. 144; Ernst, Ulrich: Haut-Diskurse. Semiotik der Körperoberfläche in der Erzählliteratur des hohen Mittelalters. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Hg. v. Wolfzettel, Friedrich. Tübingen 2007, S. 149–200, hier S. 166f. 76 Vgl. Gerok-Reiter, Annette: Auf der Suche nach der Individualität in der Literatur des Mittelalters. In: Individuum und Individualität im Mittelalter. Hg. v. Aertsen, Jan u. Speer, Andreas. Berlin 1996, S. 748–765, hier S. 756; Dies: Waldweib, Wirnt und Wigalois: Die Inklusion von Didaxe und Fiktion im parataktischen Erzählen. In: Dichtung und Didaxe. Hg. v. Lähnemann, Henrike u. Linden, Sandra. Berlin, New York 2009, S. 155–172; Haupt, Barbara: Der schöne Körper in der höfischen Epik. In: Körperinszenierung in mittelalterlicher Literatur. Hg. v. Ridder, Klaus. Berlin 2002, S. 47–73. 77 Vgl. Bleumer, Hartmut: Das wilde w%p. Überlegungen zum Krisenmotiv im Artus und im Wolfdietrich B. In: Natur und Kultur im Mittelalter. Hg. v. Robertshaw, Alan u. a. Tübingen 1999, S. 77–89, hier S. 85f.; Schulz, Armin: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik. Tübingen 2008, S. 163f.; Schwietering, Julius: Natur und art. In: ZfdA 91 (1961/62), S. 108–137.

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Mit seinem Schwert raubt sie dem schlafenden Helden nun auch das letzte Artefakt seiner ritterlichen Existenz. Als Wolfdietrich erwacht, stürzt ihn die Erkenntnis dieses Verlusts und der daraus resultierenden Wehrlosigkeit in gänzliche Niedergeschlagenheit. Die narrative Konstruktion des verwundbaren im Gegensatz zum kämpferischen Körper bringt intra-kategoriale Über- und Unterordnungen in Gender- und Standesverhältnissen zum Ausdruck. Das laute Vorlesen des Briefes, den Wolfdietrich auf seiner Reise bei sich trägt, dient in Erwartung des nahenden Todes als Akt der Selbstauflösung nun als artefaktbezogene Praxis der Selbstvergewisserung:78 Da nam er seinen briefe mit jammer in die handt. alle sein swäre er daran geschriben vant. die fraw leise horte unz daz er gar aus gelas alles daz an dem briefe von im geschriben was. (Wd A, 477)

Die verlesene Erinnerung aktiviert eine Differenzmarkierung, eine schmerzliche Anerkennung dessen, was Wolfdietrich als mehrfachen Ausschluss und als eine Vergeblichkeit der Reintegration erfahren musste. Dies erneuert gleichermaßen die Verlusterfahrungen des Familienverbands, der Herrschaftsnachfolge und der Kriegergemeinschaft und so gilt es abschließend, die eigene Positionierung im sozialen Gefüge zu hinterfragen, die immer wieder zwischen menschlicher und animaler Signatur, zwischen göttlichem Erwählt-Werden, Ritterschaft und Heldentum changiert. Das Erinnern führt zur Verinnerlichung und es kommt zu einem Wechselverhältnis zwischen Projektion und Introjektion.79 Ohne es zu ahnen, konfrontiert sich der Held aber nicht nur selbst mit all sein swäre er daran geschriben vant (Wd A, 477,2), sondern das ungehewre weib (Wd A, 470,2) belauscht ihn heimlich dabei. Die Verknüpfung von Verkörperungs-, Emotionalisierungs- und Wahrnehmungsstrategien erzeugt eine spannungsreiche Konstellation, wenn die fraw aus dem Verborgenen heraus an der krisenhaften Selbstvergewisserung des Helden Anteil hat. Es entsteht zum einen ein Moment der freiwilligen Fremdkontrolle, wenn sich der Held seiner Selbst, seiner Ausschluss- und Rettungserfahrungen vergewissert, indem er die schriftliche Fremderzählung befragt. Zum anderen erfolgt parallel eine zweite aber unfreiwillige Fremdkontrolle, welche die verborgene küniginne im Zuhören 78 Vgl. zur Bedeutung weiterer textbezogenen Praktiken u. a. Lieb [Anm. 46], S. 14f.; Hilgert, Markus: Textanthropologie. Die Erforschung von Materialität und Präsenz des Geschriebenen als hermeneutische Strategie. In: Mitteilungen der deutschen Orient-Gesellschaft zu Berlin 142 (2010), S. 87–126, hier S. 90. 79 Vgl. Ackermann u. Ridder [Anm. 3], S. 90f.; Strasser, Petra: Trauer versus Melancholie aus Psychoanalytischer Sicht. In: Trauer. Hg. v. Mauser, Wolfram u. Pfeifer, Joachim. Würzburg 2003 (Freiburg Literaturpsychologische Gespräche, Jahrbuch für Literatur und Psychologie 22), S. 37–52, hier S. 40.

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vornimmt. Auf diese Weise kommen Komplexität, Fragilität und Konstruiertheit sozialer Positionierung in den Blick: Da alle sein swäre gelas der Wolff herr Diettreich, da gesprach aus dem baume die küniginne reich mit grimlichen muote die küniginne sprach »wer hat dir erlaubet ditz ligen und den gemach!« (Wd A, 478)

Der Brief dient aber nicht allein der Reaktivierung der Verlust- und Krisenerfahrung, sondern wird zum materiellen Katalysator des Transformativen.80 Denn die Differenzerfahrung, die Wolfdietrich in der Lektüre reproduziert, eröffnet ihm auch eine Neustrukturierung. Die Meereskönigin teilt im Zuhören nicht nur seine Zerrissenheit, sondern die Erzählung seiner dynastischen Herkunft motiviert sie auch dazu, sich ihm zu offenbaren: Vil schiere da blickt er umbe. da im die frawe ward erkant, da fiel im vor forchten der brief aus der handt. der Krieche sprach mit forchten »was mag es dir geschaden? ich bin mit ungemache an dise stat geladen. (Wd A, 479) Du magst mit senften worten mir wol sprechen zuo, und lass mich des geniessen, daz ich dir nichtes tuo. ist aber die grüne linde und dieser anger dein?« »ja er ist mein aigen« sprach die künigein. (Wd A, 480)

Das Erblicken des Andersartigen löst bei Wolfdietrich ein solches Erschrecken aus, dass ihm der Brief, als Beglaubigung seines eigenen Außerordentlich-Seins, aus der Hand fällt.81 Obwohl sich der Held fürchtet, versucht er aber sofort eine Nähekommunikation aufzubauen, indem er seine friedlichen Absichten beteuert und um Hilfe bei der Suche nach seinem Schwert bittet. Um seine Zerrissenheit weiß die Meereskönigin aber nicht nur durch das verlesene Wissen, sondern die innere Bewegung, welche die Suchfahrt und die Lektüre in ihm ausgelöst hat, ist äußerlich wahrnehmbar : »ich sich wol« sprach die frawe, »dir gewirret etwas nu sage« sprach die frawe, »was ist aber dein not? du hast gesundes herze und leist doch schiere todt. (Wd A, 482,2–4) Es ist doch vil übele, ob du verderben solt. ich trawte dir wol gehelfen, wär ich dir anders holt.« (Wd A, 483,1f.)

80 Vgl. u. a. Die Sprache der Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur. Hg. v. Tietmeyer, Elisabeth u. a. Münster 2010; Miller, Daniel: Why Some Things Matter. In: Material Culture. Why Some Things Matter. Hg. v. Dems. London 1998, S. 3–21. 81 Vgl. Lieb [Anm. 46], S. 15; Hilgert [Anm. 78], S. 102.

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Wolfdietrich sucht den Widerspruch von Einheit und Ausschluss herunterzuspielen. Denn von einer inneren wie äußeren Instabilität gilt es sich im Sinne einer angemessenen Außenwahrnehmung zu distanzieren; deshalb schiebt er seine Entkräftung als Begründung vor: »mir gewirret an dem herzen noch an dem leibe nicht. es kumt von arbaite, das man mich blöden sicht. (Wd A, 483,3f.) Got, seit ich sol ersterben, so lass es schiere sein! iedoch genäs ich villeichte, het ich speise und wein. zu meiner erznei gehöret lützel maisterschaft. der durst und auch der hungere benimt mir mein craft.« (Wd A, 484)

Ohne auf diese Verhüllungstaktik näher einzugehen, bietet die Meereskönigin ihm ihre Hilfe an, doch zuvor gilt es noch ihre jeweiligen identitätsstiftenden Koordinaten abzugleichen. Während Wolfdietrich auf ihre religiöse Positionierung im christlichen Bezugsrahmen drängt, reizt es die fraw, mehr von seiner Herkunfts-, Standes- und Rangzugehörigkeit zu erfahren: »Ich erkenne wol die salben, die dein herze haben sol. dreissig tausent ritter die ernerte ich aine wol.« mit jammer sprach der Krieche »si ist ein gehewr weib. und ob du an got glaubest, so erner mir meinen leib.« (Wd A, 485) »Mir ist vil unmäre, ob du toter hie geleist. mein hilfe frümd dich vil klaine, du sagest mir wer du seist.« (Wd A, 486,1f.)

Wolfdietrich ist nun gefordert, sein Selbst zu erzählen. Er berichtet von seiner königlichen Abstammung, von der Verstoßung durch die eigenen Brüder und dem hieraus resultierenden Erbfolgekampf. In der Klage um das eigene Scheitern und die Aussichtslosigkeit seiner Lage treten sowohl sein gestörter Selbst- als auch der beeinträchtigte Gemeinschaftsbezug deutlich hervor. In der Trauer um die gefallenen Gefolgsleute und im Bericht von der andauernden Belagerung erneuern sich seine Verlustängste. Entgegen der vorhergehenden Bagatellisierung – »es kumt von arbaite, das man mich blöden sicht« (Wd A, 483,4) – nimmt Wolfdietrich den Zusammenhang zwischen seinem emotionalen Zustand und dessen Ursachen bewusst wahr und kann ihn auch präzise benennen.82 Dass diese Selbst-Erzählung eines zerrissenen Helden der höfisch-ritterlichen Männlichkeit aber keineswegs schadet, sondern sogar Begehren wecken kann, zeigt die Reaktion der Meereskönigin: »wil du genesen gerne, so tuo des ich dich bit: / Daz du mich nemest ze weibe, ich gib dir dreu königreich« (Wd A, 488,4f.). Als Bewältigungsstrategie aktiviert sie ein anderes dominantes, männlich-adeliges Handlungsmuster, nämlich das des Gewinns von Frau und Land. Die 82 Vgl. Mecklenburg [Anm. 3], S. 166.

Intersektionale Emotionalisierungsprozesse im spätmittelalterlichen Heldenepos

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Meereskönigin verspricht ihm zum einen Genesung durch ihr heilkundiges Wissen und bestätigt auf diese Weise seine Interpretation einer krankhaften Abweichung, die es zu behandeln gilt. Zum anderen eröffnet sie ihm aber auch die Möglichkeit, sich aus dem Zirkel des negativen Selbstbezugs zu befreien, und zwar durch die Entfaltung von Herrschaftsgewalt und Handlungsmacht, die ihn befähigen würden, seine Gefolgsleute zu befreien: »wilt du mir volgen, si kument wol aus der not« (Wd A, 488,2). Dies lehnt Wolfdietrich jedoch vehement ab und nutzt – wie die Erzählinstanz zuvor – Dämonisierungsstrategien, um seine heftige Weigerung zu legitimieren: »nain ich, auf mein treu« sprach Wolff Diettreich. »nu la mich alhie sterben, ich enruoch was mir geschicht. des übeln teufels muoter kumt an meinen armen nicht. (Wd A, 489,2–4) Das ich dir versage so schiere, das la dir nicht wesen zorn. ich han dich und alle frawen unz an meinem todt versworn.« (Wd A, 490,1f.)

In der Tabuisierung einer Ehebindung verknüpft er gender-, religions-, standes-, körper- und speziesbezogene Differenzierungsmuster. Er verschiebt allerdings den Wirkungsradius seiner Ablehnung vom Einzelfall hin zur genderbezogenen Generalisierung, nur um im nächsten Moment bereits auf ihre spezifische Andersartigkeit zurückzukommen: »näm aber ich alle frawen, dannoch muos ich dich verschweren: / Der teufel aus der helle käme wol zu der hochzeit.« (Wd A, 490,4f.) Um ihren Zorn zu bändigen, verweist er auf die Schädigung der eigenen Ehre, die durch den geforderten Treuebruch gegenüber den Gefolgsleuten entstehe, und formuliert stattdessen einen Todeswunsch zur Untermauerung der Alternativlosigkeit. Der Blick richtet sich nun darauf, wie sich die fraw selbst in der Dynamik dieser intersection interpretiert und auf die Ungleichheitserfahrung reagiert. Denn sie begegnet der Instabilität der Beziehung, die auf dem Ausschluss des Andersartigen basiert, mit einer Praxis des Gleichartig-Machens: vor freuden ward ir mündel wol dreier spannen weit. sust trat si auf hoher : die fraw schöner was. si schleufet sich aus den schuopen und warf si auf das gras. (Wd A, 491,2–4)

Die fraw markiert ihren agentiven Status mit ihrem überbreiten Lächeln und passt dann ihre Verkörperung als komplexen Vermittlungsmodus der Ungleichheit durch Mimesis seinen regulativen Normen an.83 Hierhin offenbart sich ein performatives Potential. Denn wie Wolfdietrich sich von der Rüstung als Zeichen des Standes oder von dem Taufgewand als Zeichen des Erwählten zu trennen vermag, so löst sich die Meereskönigin vom dem materiellen Signum 83 Vgl. Villa [Anm. 23], S. 214f.

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Susanne Schul

ihrer Andersartigkeit. Sie schlüpft aus ihrer Schuppenhaut, wirft sie von sich und zum Vorschein kommt eine unvergleichlich schöne Dame: Si leuchtete aus allen weiben als die sunne liecht. / aller magde schöne was gen ir gar nicht (Wd A, 492,1f.). Diese Annäherung an die für Wolfdietrich vertrauten Gender-, Standes-, Tugend- und Körperdimensionen eröffnet die Chance eines reziproken Begehrens. So zeitigt das Erblicken des schönen Körpers sofortige Wirkung auf den Helden und vermag die Niedergeschlagenheit zu vertreiben: »Mein muot ist mir gehöhet, du gevellest mir so wol. / nu erbarms got von himele, daz ich dich nicht nemen sol« (Wd A, 493,1f.). Wolfdietrich widersteht allerdings ihrer Anziehungskraft und stellt den Männerbund über den Ehebund. Die Meereskönigin erweist sich aber trotz der Zurückweisung als seine Retterin, Heilerin und Helferin und zeigt dem Helden den Weg aus der inneren wie äußeren Verwirrung hin zur Fortführung der Bewährungsfahrt: »du wirdest nimmer irre« sprach die küniginne reich. / nu ist aber aus den sorgen der Wolff herr Diettereich (Wd A, 505,3f.).

VI.

(V)Erlesene Animalität: Ein Fazit

Das »Wolfdietrich«-Epos A ermöglicht es, mehrfache Verschiebungen und Neuordnungen, aber auch Stabilisierungen von Differenz auf der Handlungsund Strukturebene aufzuzeigen. Hierbei verweilt der heldenepische Text aber nicht bei zweigliedrigen Oppositionsbildungen, sondern führt mehrgliedrige Relationierungen vor. Auf diese Weise werden skalierte Übergänge zwischen den Extremen ermöglicht und eindeutige Zuweisungen beginnen sich auf dem Bewährungsweg des Helden aufzulösen. In Ortnits Reich angekommen, zeigt sich die Landesherrschaft als vakant und Wolfdietrich offenbart sich Ortnits Witwe als ein ellend man84, ganz ohne Gefolgsleute, Erbe oder Herrschaftsanspruch. Eine Drachen-.ventiure bietet ihm aber die Gelegenheit, sich als Einzelkämpfer zu beweisen und sich als Herrschaftsanwärter hervorzutun. Ein Sieg verheißt ihm herrschaftliche Selbstbestimmung sowie Teilhabe an und Anerkennung in der höfischen Gemeinschaft.85 Doch der Held kann diese Herausforderung nur bestehen, da er Anteil an einem außerordentlichen Mensch-Tier-Artefakt-GottEnsembles hat. Abermals erweist sich der Weg durch die Wildnis als so anstrengend, dass Wolfdietrich erschöpft einschläft und die Annäherung des Gegners nicht einmal bemerkt: der wurm gachte bald zuo im durch den tan

84 Wd A, 544,2. 85 Ortnit ist bei dem Versuch, das Reich von der Drachenplage zu befreien, von den Drachen getötet worden.

Intersektionale Emotionalisierungsprozesse im spätmittelalterlichen Heldenepos

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(Wd A, 584,2). Aber der Held steht unter Gottes Schutz und sein tierlicher Gefährte eilt ihm zu Hilfe:86 das ross das brach den zaum und lief den wurm an. es traib in von dem herren mit streite in den tan. (Wd A, 586,3f.) Wann es den wurm wilden getraib verre dan, so lief es zu dem herren, als ich vernomen han. und wolt in gern wecken, das tuon ich euch bekant. es schluog in mit dem fuosse auf des schildes rant. (Wd A, 587) »Wee, daz ich nicht han gewachet« sprach der küene man, »ja het ich dir geholfen, als du mir hast getan. ich sichs an deinem swaisse, du bist gewesen in not. wer got und dein hilfe nicht gewesen, wir weren bede tot.« (Wd A, 590)

Das Pferd tritt anstelle des Helden als Aktant der kämpferischen Bewährung in Erscheinung, es setzt sich vil küene unde schnell (Wd A, 588,4) gegen den Drachen zur Wehr und rettet ihrer beider Leben. Der kampfversehrte Tierkörper, nass von bluote (Wd A, 589,4), steht ebenso für die Intensität der Gefährdungssituation wie der interspezifischen Treuebeziehung ein. Wolfdietrich bringt das Angewiesen-Sein auf diese ›erlesene‹ Animalität unmittelbar zum Ausdruck: »Nu han ich deiner trewe und auch der hilfe dein / genossen daz ich heute han das leben mein« (Wd A, 591,1f.). Die spezifische Held-Pferd-Relation markiert dabei eine Offenheit für verbalen und non-verbalen Austausch und schafft ein Bewusstsein für eine wechselseitige emotionale Involviertheit. Einerseits evozieren und stabilisieren die interspezifischen Beziehungen im Heldenepos somit Grenzmarkierungen, sie schaffen aber andererseits auch Übergangsbereiche, in denen ein mehrdeutiges, gemeinsames ›Werden‹ reflektiert wird, das sich über die Interaktionen hinausgreifend in die Heldenidentität einschreibt.87 Wolfdietrichs außerordentliche Handlungsbefähigung – mit ihren animalen, heroischen wie höfischen Anteilen – zeigt sich dabei besonders durch das Eingreifen und Lenken Gottes bestimmt. So sichert ihn im nachfolgenden Drachenkampf sein krafttragendes Taufgewand vor dem Angriff und der Held kann mit göttlichem Schutz die gefährlichen Gegner bezwingen.88 Die artefaktbezogenen Praktiken erhalten im heldenepischen Erzählen demzufolge sowohl eine konstitutive Bedeutung für die Heldenidentität als auch für diejenigen Be86 Vgl. Borgards [Anm. 71], S. 230f.; Rieger [Anm. 71], S. 33f. 87 Vgl. Haraway [Anm. 70], S. 36f; McHugh [Anm. 70], S. 487f.; Balgar [Anm. 59], S. 143f. 88 Durch die Kombination von Taufgewand, von Ortnits besonderer Rüstung und seinem Schwert, die Wolfdietrich beide in der Drachenhöhle findet, ergibt sich nun eine weitgehende Unverwundbarkeit und exorbitante Kampfbefähigung des Helden (Vgl. Wd k, 238–247). Da diese Schlusspartie des »Wolfdietrich«-Epos in der Fassung A nicht überliefert ist, bezieht sich die Analyse hier auf die Fassung k des »Dresdner Heldenbuchs«.

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Susanne Schul

ziehungsgefüge, in denen Wolfdietrich sich bewegt. Denn nun findet er sich an einem weiteren Knotenpunkt seiner Helden-Biographie wieder. Der Bewährungsweg mit all seiner Schwermut hat ein Ende, im Drachenkampf hat er seine Herrschaftsbefähigung bewiesen, Frau und Land errungen und kann nun ausziehen, um seine Gefolgsleute zu befreien: In Krichen seiner dinstmane er doch der nie vergas (Wd k, 308,2). Die intersektionale Analyse hat gezeigt, dass diese Konstitution von Differenz und Ungleichheit als Ergebnis verwobener, oft widersprüchlicher, kulturhistorischer, sozialer und narrativer Prozesse zu verstehen ist. Die Frage danach, in welcher Weise Differenzkategorien sich hierbei gegenseitig verstärken oder relativieren, ermöglichte eine kritische Erschließung mehrdimensionaler Zusammenhänge. Gleichzeitig wurden sie durch die Rekonstruktion dieser Zusammenhänge selbst hinterfragt, ausdifferenziert und historisiert. Eine Theoriebildung aus dem literarischen Material heraus lässt sich somit als ein Austarieren zwischen heldenepischem Text, gattungs- und kulturhistorischem Kontext und intersektionaler Fragestellung beschreiben. Auf diese Weise rücken die verkörperten interdependenten Praktiken und ihre emotionalen Dispositionen ebenso wie die mit ihnen verbundenen Funktionen im sozialen und narrativen Aushandlungsprozess in den Fokus.89 Es hat sich gezeigt, dass emotionale Praktiken dabei wiederholt als Bearbeitungsmodi einer Krisenerfahrung in Erscheinung treten. Die Verbindung von Erzählakt, figuralem Gefühl und Emotionsausdruck übernimmt wesentliche kommunikative Funktionen und bietet auch die Möglichkeit, soziale Beziehungsmuster zu transformieren. Im Wieder- und Weitererzählen der Heldenidentität werden Heterogenität und Vielheit, Widersprüche und Brüche als ein literarisches Programm im heldenepischen Erzählen ausgezeichnet. Denn mit dem wiederkehrenden lauten, öffentlichen oder heimlichen Ver- und Erlesen des Briefes erlangen die Figuren im Nachfühlen, Erkennen, Mitteilen und Austauschen das Potential für eine bedeutungssuchende und bedeutungsgewinnende Re-Kategorisierung. Die Analyse hat ihr Augenmerk dabei zum einen auf die Wechselwirkung von Privilegierungs- und Ungleichheitsmarkern gerichtet und zum anderen das spannungsvolle Ineinander von Selbst- und Fremdpositionierung hinterfragt. Die Untersuchung der Heldenidentität hat gezeigt, wie diese in Bewegung gerät, wenn Selbstverhältnisse, religiöse Ordnungen, materiellkörperliche Dimensionen, tradierte Herkunfts- und Machtbeziehungen sowie Mechanismen des Ein- und Ausschlusses zunehmend uneindeutig werden. Hierbei wird deutlich, wie in der Immanenz der höfischen Gemeinschaft das Andersartige immer wieder eine Regulation einfordert, während es im Gegen89 Vgl. Bereswill [Anm. 13], S. 219; Knapp [Anm. 12], S. 350f.; Reckwitz [Anm. 3], S. 39; Böth [Anm. 11], S. 91; Villa [Anm. 23], S. 207.

Intersektionale Emotionalisierungsprozesse im spätmittelalterlichen Heldenepos

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satz dazu in der Tier-Mensch- oder Gott-Mensch-Interaktion als Befähigung des Helden hervortritt. So wird eine ›(v)erlesene‹ Animalität wiederholt zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit der hybriden Disposition des Helden gemacht, die sich zwischen einem Erwählt-, Animal-, Heroisch- und Höfisch›Werden‹ mehrfach hin und her bewegt.

Mareike Böth

Wege zum Glück: Intersektionalität und die kulturelle Semantik des Glücks in Bernardin de Saint-Pierres Kolonialroman »Paul et Virginie« (1788)

Aventiuren, wie sie im vorliegenden Band diskutiert werden, gelten als zentrale höfisch-weltliche Erzählform der altfranzösischen und mittelhochdeutschen Literatur des Mittelalters.1 Doch in einem weiteren Sinn handelt es sich bei Aventiure-Vorstellungen um ein Grundcharakteristikum von Kultur: Denn jede uns bekannte Gesellschaft imaginiert ihre eigenen Aventiuren, macht sich Vorstellungen von den Bewährungsproben, in denen sich die Protagonist_innen zu beweisen haben und von den Preisen, die für ihr erfolgreiches Bestehen ausgelobt werden.2 Und jede Gesellschaft formuliert ihre Aventiure-Vorstellungen in bestimmten Genres, die definieren, welche Herausforderungen überhaupt erzählbar sind und in welcher Form dies zu geschehen hat. Als Kennzeichen der europäischen Aventiuren des ausgehenden 18. Jahrhunderts gilt, dass sie aus Europa heraus und aus einer veränderten Perspektive wieder dorthin zurückführen. Denn neben den vor allem seit dem 17. Jahrhundert vielfach erzählten Robinsonaden3 avancieren spätestens mit den gegen Ende des 18. Jahrhunderts äußerst populären Reisebeschreibungen von Louis Antoine de Bougainville (1729–1811) und Georg Forster (1754–1794) die Überseegebiete zu den innerweltlichen Sehnsuchtsorten der Europäer_innen.4 Die Berichte eignen sich die ›Fremde‹ an, indem sie sie als Gegenutopie zur 1 Vgl. Kasten, Ingrid u. Merstens, Volker : Art. »Aventure (.ventiure)«. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1. München, Zürich 1980, Sp. 1289–1290; Kropik, Cordula: Art. »Aventiure«. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Burdorf, Dieter u. a., Stuttgart, Weimar3 2007, S. 63–64. 2 In der mittelalterlichen Artusdichtung bestehen die Proben klassischerweise aus »Kämpfe[n] mit zuweilen fabelhaften Wesen« und führen zur »Werterhöhung des Ritters und/oder zur Bestimmung seines Platzes in der Gesellschaft.« Vgl. Kropik [Anm. 1], S. 63. 3 Vgl. etwa Plummer, Patricia: Art. »Robinsonade«. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Burdorf, Dieter u. a., Stuttgart, Weimar3 2007, S. 656. 4 Vgl. Hall, Anja: Paradies auf Erden? Mythenbildung als Form von Fremdwahrnehmung. Der Südsee-Mythos in Schlüsselphasen der deutschen Literatur. Würzburg 2008 (Epistema 638), S. 77; Küchler Williams, Christiane: Erotische Paradiese. Zur europäischen Südseerezeption im 18. Jahrhundert. Göttingen 2004 (Das achtzehnte Jahrhundert 10), S. 81–89.

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Mareike Böth

Entwicklung der europäischen Zivilisation erzählen. Fest verwoben in diese utopischen Imaginationen ist der Begriff des Glücks, bzw. der Glückseligkeit, der im späten 18. Jahrhundert als eine Art semantische Klammer zahlreiche epochal relevante Diskurse zusammenbindet: vom Versuch, Wohlstand in der staatlichen Ökonomie herzustellen, über Debatten um eine vernünftige und zugleich sinnlich zu empfindende Religion bis hin zu den genuin aufklärerischen Vorstellungen von der Selbstbestimmung des ›bürgerlichen‹ Menschen.5 In allen diesen diskursiven Feldern sind Glückssemantiken untrennbar mit Prozessen der sozialen Positionierung verknüpft: Denn als ›Konzept vom guten Leben‹ verweist Glück unweigerlich auf Lebensmöglichkeiten oder -unmöglichkeiten der Einzelnen in einer auf bestimmte Weise strukturierten Gesellschaft.6 Die besondere Relevanz des Glückskonzepts liegt dabei in seiner affektiven Komponente begründet, denn als erwünschtes Gefühl resultiert ›Lebensglück‹ aus der Zufriedenheit der Einzelnen mit dem ihnen angewiesenen Platz in der Gesellschaft. So verstanden eröffnen die in einer bestimmten Gesellschaft existenten Redeweisen vom Glück den Blick auf die (diskursiven) Prozesse der sozialen Platzierung der Einzelnen, die im Zentrum des theoretischen und empirischen Interesses der Intersektionalitätsforschung stehen.7 Ein anschauliches Beispiel hierfür ist etwa die im 18. Jahrhundert populäre Formel ›sein Glück machen‹.8 Sie umschreibt die explizite Suche nach Heraus-

5 Vgl. dazu etwa McMahon, Darrin M.: Happiness. A History. New York 2006; Zwierlein, Cornel A.: Das Glück des Bürgers. Der aufklärerische Eudämonismus als Formationselemente von Bürgerlichkeit und seine Charakteristika. In: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Hg. v. Friedrich, Hans-Edwin u. a.. Tübingen 2006, S. 71–113; Böth, Mareike: Vom Projektieren und Planen des Glücks. Praxeologien des ›unternehmerischen Selbst‹ im Glücksdiskurs des späten 18. Jh.. In: Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns. Hg. v. Haasis, Lucas u. Rieske, Constantin. Bielefeld 2015, S. 183–197. 6 Vgl. dazu auch Böth, Mareike: Zum Glück fähig. Intersectional (in)visibilities in Glücksratgebern des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In: Verschränkte Ungleichheit. Praktiken der Intersektionalität. Hg. v. Bähr, Matthias Bähr u. Kühnel, Florian. Münster 2017 (ZHF Sonderheft) [im Druck]. 7 Vgl. hierzu folgende ausgewählte Titel der Intersektionalitätsforschung Winker, Gabriele u. Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheit. Bielefeld 2009; Kerner, Ina: Alles intersektional? Zum Verhältnis von Rassismus und Sexismus. In: Feministische Studien 1 (2009), S. 36–50; Phoenix, Ann: Psychosoziale Intersektionen: zur Kontextualisierung von Lebenserzählungen Erwachsener aus ethnisch sichtbar differenten Haushalten. In: Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts (Gesellschaft und Geschlecht 47). Hg. v. Lutz, Helma u. a.. Heidelberg 2010, S. 165–182; Griesebner, Andrea u. Hehenberger, Susanne: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften?, in: Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven für alte Fragen. Hg. v. Kallenberg, Vera, Meyer, Jennifer u. Müller, Johanna M., Wiesbaden 2013, S. 105–124, hier S. 122. 8 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Wilhelm Grimm, 16 Bde. In 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961, Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Art: »glückmachen«, http://woerterbuchnetz.

Intersektionalität und die kulturelle Semantik des Glücks in »Paul et Virginie«

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forderungen, die es erlauben sollen, die eigene soziale Position zukünftig zu verbessern. Trotz einer offenkundigen Möglichkeit des Scheiterns ist sie getragen von der emotionalen Aufforderung, die Gewissheit zu fühlen, die Herausforderungen Kraft eigener Fähigkeiten und Anstrengungen meistern zu können. Und wo ließe sich Ende des 18. Jahrhunderts eine größere Herausforderung dieser Art suchen und finden als in den Kolonien? Denn der Auszug in die koloniale ›Fremde‹ gilt zeitgenössisch als direktester ›Weg zum Glück‹. Der europäisch-westliche Diskurs suggeriert dabei, dass das ›Glück-Machen‹, also das Streben nach dem Glück im Hier und Jetzt, wie es bekanntermaßen auch in der amerikanischen Verfassung (1776) heißt, jedem Menschen unabhängig von seiner jeweiligen Positionierung im Sozialen, von Standes- und Klassenzugehörigkeit, von Ethnie, Geschlecht, Alter oder Religion qua Naturrecht zusteht. Doch diese Verhältnisbestimmung zum Suchen und Finden des Glücks erweist sich bei näherem Hinsehen als bloße Rhetorik. Denn in der Tiefenstruktur unterstellt der europäisch-westliche Diskurs den Akteur_innen je nach ihrer Positionierung in der Welt auch eine spezifische Glücksbefähigung.9 Eine intersektionale Perspektive scheint daher in hohem Maße produktiv, um diesem Zusammenhang zwischen der Positionierung von Akteur_innen im sozialen Raum im Spannungsfeld der verschiedenen Kategorien sozialer Differenzierung10 und der daraus erwachsenden Legitimität ihrer Ansprüche auf Glück zu untersuchen. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, den zeitgenössischen Wegen zum Glück auf die Spur zu kommen und dabei zu fragen, wie die vielgestaltige kulturelle Semantik des Glücks mit Momenten der intersektionalen Positionierung von Akteur_innen verwoben ist. Aus Sicht der an diskursiv hergestelltem Glückswissen des 18. Jahrhunderts und den Ein- und Ausschlüssen, die es produziert, interessierten Historikerin ist hierfür kaum eine Textsorte besser geeignet als literarische Repräsentationen im engeren Sinne, die die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, glücklich zu werden, in einem Experimentierraum vordenken und erproben.11 de/DWB/ [Letzter Zugriff: 07. September 2016]. Zum ›Machen‹ des Glücks bei Knigge vgl. Böth [Anm. 5], S. 191–193. 9 Böth [Anm. 6]. 10 Vgl. hierzu aus Perspektive der Frühneuzeitforschung: Griesebner, Andrea u. Hehenberger, Susanne: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept fu¨ r die Geschichtswissenschaften? In: Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven fu¨ r alte Fragen, Hg. v. Kallenberg, Vera u. a..Wiesbaden 2013, S. 105–124; Böth, Mareike: Verflochtene Positionierungen. Eine intersektionale Analyse frühneuzeitlicher Selbstbildungsprozesse. In: Intersektionalität und Forschungspraxis. Wechselseitige Herausforderungen (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 43). Hg. v. Bereswill, Mechthild u. a.. Münster 2015, S. 78–95. 11 Die Positionierung der Figuren im literarischen Text eröffnet einen Zugang zum Verständnis potentiell glücksverheißender Positionierungen in der Gesellschaft. Vgl. zur Konzeption von

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I.

Mareike Böth

Vom Glücksuchen: Bernardin de Saint-Pierre (1737–1814) auf der Île de France

Einen solchen Experimentierraum eröffnet in besonders eindrücklicher Weise der 1788 erstmals erschienene Roman »Paul et Virginie« des französischen Autors Bernardin de Saint-Pierre, der – obwohl inzwischen eher unbekannt – als einer der meistgedruckten Texte der französischen Literaturgeschichte gelten darf.12 Die auf der französischen Kolonie 6le de France, dem heutigen Mauritius, spielende Pastorale13 erzählt die tragisch endende Liebesgeschichte der inmitten der idyllischen mauritischen Landschaft aufgewachsenen ›Naturkinder‹ Paul und Virginie, deren europäische Wurzeln zum Hindernis für ihr ›wahres‹ Glück werden. Nicht zuletzt diese Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Glückskonzepten machte das Faszinosum des Textes aus, der in zahllosen Neuauflagen und Übersetzungen,14 dramatischen Bearbeitungen sowie als Kinderbuch erschien. Schon bevor Flaubert 1856 seine Madame Bovary über der Lektüre von »Paul et Virginie« träumen ließ,15 war der Roman weithin bekannt und fand beispielsweise in Konversationslexika der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Erwähnung.16

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Literatur als Experimentierraum etwa Ette, Ottmar : Lager Leben Literatur. Emma Kann und Jorge Seprfflm in Gurs im Spannungsfeld von Erleben und Erzählen. In: Raum und Gefühl. Der spatial turn und die neue Emotionsforschung. Hg. v. Lehnert, Gertrud. Bielefeld 2011, S. 229–258, hier S. 239: »So schaffen die Literaturen der Welt in ihren je spezifischen Kontexten einen Erprobungs- und Experimentierraum von und für Lebensformen und Lebenswissen, der vom Gilgamesch-Epos bis in die Gegenwartsliteratur reicht […].« Vgl. Cook, Malcolm: Bernardin de Saint-Pierre. A life of Culture. London 2006, S. 3. Kennzeichen des Genres ist die auf antiken Vorbildern basierende Idealisierung des einfachen Landlebens. Vgl. Art. »genre pastoral«. In: Larousse Dictionnaire mondial des litt8ratures. http://www.larousse.fr/encyclopedie/litterature/pastoral/175913 [Letzter Zugriff: 18. Februar. 2016]. Zu »Paul et Virginie« als Pastorale vgl. Racault, Jean-Michel: Etudes sur Paul et Virginie et l’œuvre de Bernardin de Saint-Pierre (Publications du Centre de Recherches Litt8raires et Historiques Universit8 de la R8union). Paris 1986, S. 177–200; als globale Pastorale vgl. Peters, Karin: Acadia Goes Overseas. Pastoral and Planetary Consciousness in Bernardin Saint-Pierre’s Paul and Virginia. In: Globalizing Literary Genres. Literatur, History, Modernity. Hg. v. Habjan, Jernej u. Imlinger, Fabienne. New York 2016, S. 90–109, bes. S. 95. Dt. Übers.: Paul und Virginie. Von Bernardin de Saint-Pierre. Aus dem Französischen neu übersetzt v. Kaiser, A[?]. Leipzig 1844. Vgl. Flaubert, Gustave: Madame Bovary (1856), premiHre partie, chapitre VI. S. auch Cook [Anm. 12], S. 16, Anm. 16. Vgl. [Anonym.], Art. Mauritius. In: Damen-Conversations-Lexikon Bd. 7. Hg. v. Herloßsohn, Carl.. Leipzig 1836, S. 152–153, hier S. 152: Mauritius sei ein »Feenland für die Idylle geschaffen, durch die herrliche Geschichte von Paul und Virginie, die noch jetzt im Munde aller seiner Bewohner lebt verewigt«. »Paul et Virginie« war offenbar global ein Publikumserfolg. Im Artikel zu Haiti, in: Damen-Conversations-Lexikon Bd. 5. Hg. v. Herloßsohn, Carl. Leipzig 1835, S. 122–123, hier S. 123 heißt es: »Ihre [der Einwohner Haitis, MB] glühende Phantasie umfaßt mit Liebe die großartigen Romane Bernhardin’s de St. Pierre,

Intersektionalität und die kulturelle Semantik des Glücks in »Paul et Virginie«

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Doch ›Glück‹ ist nicht nur für seinen bekanntesten Roman, sondern auch für die Biographie von Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre, dem 1737 in der Normandie geborenen Verfasser von »Paul et Virginie«, von entscheidender Bedeutung. In Le Havre aufgewachsen besuchte er zunächst die Jesuitenschule in Caen und studierte seit 1758 ob seiner mathematischen Begabung Straßenund Brückenbau an der Pcole royale des ponts et chauss8es.17 Schon früh war Bernardin von der Seefahrt und der Entdeckung fremder Welten fasziniert. Die Lektüre von Daniel Defoes »Robinson Crusoe« beschrieb er in seinen autobiographischen Schriften retrospektiv als inspirierende Erfahrung.18 Prägenden Einfluss hatte sicherlich auch die Reise in die französische Karibikkolonie Martinique, auf die er seinen Onkel, einen Schiffskapitän, 1749 im Alter von zwölf Jahren begleitete.19 Nach dem Studium trat Bernardin ins Militär ein und arbeitete in diesem Rahmen 1761 als Ingenieur und Geograph auf Malta. Schon recht bald wurde er jedoch wieder entlassen.20 Nach rastlosen Wanderjahren durch Nord- und Osteuropa kehrte Bernardin im Juni 1766 nach Paris zurück, wo er in den nächsten Monaten vergeblich versuchte, sich zu etablieren.21 In dieser Situation riet ihm Pierre-Michel Hennin, ein befreundeter Diplomat, er solle seine Kenntnisse und Fähigkeiten in der Geographie und der Mathematik nutzen, um in den Überseekolonien ein Vermögen zu erwerben (procurer une fortune),22 statt weiterhin mittellos in Europa auszuharren.23 Wie sehr Reich-

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und wer bei ihnen auf Bildung Anspruch macht, muß sie kennen. Man wird in Haiti kein Haus finden, wo man von Paul und Virginie nicht wüßte, Kreolinnen und Negerinnen würden die Unbekanntschaft mit einem Gemälde unverzeihlich finden, das alle Reize der tropischen Welt in entzückenden und bis jetzt unübertroffenen Farben malt.« Vgl. Cook [Anm. 12], S. 14; Thibault, Gabriel-Robert: Science de l’ing8nieur et th8ologie naturelle dans l’œuvre de Bernardin de Saint-Pierre. In: Autour de Bernardin de Saint-Pierre: les 8crits de les hommes des LumiHres / l’Empire. Hg. v. Seth, Catriona u. Wauters, Pric. Rouen 2010, S. 140–156. Vgl. Cook [Anm. 12], S. 10 u. 12; Souriau, Maurice: Bernardin de Saint-Pierre d’aprHs ses manuscrits. Paris 1905, S. 18. Vgl. Cook [Anm. 12], S. 13. Vgl. abgewogener König, Torsten: Naturwissen, Ästhetik und Religion in Bernardin de Saint-Pierres Ptudes de la Nature (Europäische Aufklärung 24). Frankfurt a. M. 2010, S. 143, schildert, dass die Reise den Wunsch des jungen Bernardin bestärkt habe, in die Heimat zurückzukehren und dort weiter zur Schule zu gehen. Die näheren Umstände sind unbekannt. Vgl. Cook [Anm. 12], S. 14. Zu den problematischen Aufstiegschancen im Militär des Ancien R8gime vgl. Opitz-Belakhal, Claudia: Militärreformen zwischen Bürokratisierung und Adelsreaktion. Das französische Kriegsministerium und seine Reformen im Offizierskorps von 1760–1790. Sigmaringen 1994 (Beihefte der Francia 34), S. 40; Lucas, Colin: Nobles, Bourgeois and the Origins of the French Revolution. In: Past & Present 60 (1973), S. 84–126, bes. S. 104. Vgl. Cook [Anm. 12], S. 14; König [Anm. 19], S. 144–146. Dies war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch immer der Königsweg zu sozialem Aufstieg, gerade da eine Karriere in Militär, Verwaltung oder am Hof zunehmend aussichtsloser geworden war, was sich an Bernardin de Saint-Pierres Lebenslauf geradezu paradigmatisch zeigt. Vgl. Lucas [Anm. 20], S. 111.

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tum mit sozialem Aufstieg und dieser mit Glück assoziiert sind, zeigt der zeitgenössisch vieldeutige französische Begriff ›fortune‹ eindrücklich.24 Denn wenn Bernardin im nächsten Jahr an der Realisierung des ihm angeratenen plan de fortune arbeitete, so ist mit dem avisierten Aufstieg auch der Gewinn des persönlichen Glücks umschrieben.25 Anfang 1768 war es schließlich soweit und Bernardin konnte die größte ›Aventiure‹ seines Lebens in Angriff nehmen:26 Im bretonischen Lorient bestieg er ein Schiff, das ihn zu den französischen Inseln im Indischen Ozean brachte, wo er im Auftrag des Königs als Planungsingenieur tätig werden sollte.27 Indem Bernardin dieses Wagnis einging, entsprach er ziemlich genau jenem Menschentypus, den man zeitgenössisch – nicht ohne gewissen Spott – einen Projektmacher oder Aventurier zu nennen pflegte.28 23 Vgl. Pierre-Michel Hennin an Bernardin de Saint-Pierre, GenHve, 6. 8. 1766. In: Correspondance de J.-H. Bernardin de Saint-Pierre, prec8d8e d’un suppl8ment aux m8moires de sa vie. Hg. v. Aimé-Martin, L[?]. Bd. 1. Brüssel 1826, Nr. 25, S. 74: Vous avez des avances dans les sciences qui peuvent vous rendre utile dans les colonies: la g8ographie et la m8canique. […] J’aimerais mieux pour moi que vous fussiez fix8 dans ce pays; mais si rien ne se d8cide promptHment, allez en Amerique, aux grandes Indes s’il le faut, pour employer le reste de votre jeunesse / vous procurer une fortune qui vous dedomage des peines que vous avez essuy8es. S. dazu auch Cook [Anm. 12], S. 29–30. Zu Pierre-Michel Hennin s. Davies, Simon: PierreMichel Hennin: le correspondant le plus fidHle de Bernardin de Saint-Pierre. In: Autour de Bernardin de Saint-Pierre: les 8crits de les hommes des LumiHres / l’Empire. Hg. v. Seth, Catriona u. Wauters, Pric. Rouen 2010, S. 13–19. 24 Zu den Bedeutungsvarianten von ›fortune‹, die zwischen Glück (›bonheur‹) und Glücksgütern (»biens de fortune«), wie etwa Reichtum und Aufstieg (»avancement et etablissement favorable«) schwanken vgl. Féraud, Jean-FranÅois: Dictionaire critique de la langue franÅaise Bd. 2. Marseille 1787, S. 277. Deutlich wird die Nähe vom ›Erwerben des Vermögens‹ und dem ›Glücklich-Sein‹ auch im Brief Hennins an Bernardin, GenHve, 6. 8. 1766. In: Correspondance [Anm. 23], Nr. 25, S. 74–75: […] ce sera pour moi une joie extrÞme que d’apprendre que vous commencez / Þtre heureux. Ce sont les sentimens auxquels vous reconna%trez toujours votre sincHre ami. 25 Vgl. Bernardins Antwort an Hennin, Ville-d’Avray, 15. 8. 1766. In: Correspondance [Anm. 23], Nr. 26, S. 76: Je suis 8galement sensible aux conseils que vous me donnez sur le plan de ma fortune et de mes ouvrages. 26 Cook [Anm. 12] betitelt ein Kapitel in seiner Bernardin-Biographie passend »Early Adventures«. 27 Bernardin wurde im November 1767 zum capitaine-ing8nieur du Roi / l’Ile-de-France ernannt. Vgl. Correspondance [Anm. 23], Nr. 31, S. 91–93; Cook [Anm. 12], S. 30. 28 Projektmacher fungiert als abwertende Bezeichnung, für jene Personen im Umfeld der Höfe, die ihre Projektpläne oder Erfindungen als profitabel ausgaben, um an Geld zu kommen. S. dazu Brakensiek, Stefan, Projektemacher. Zum Hintergrund ökonomischen Scheiterns in der Frühen Neuzeit. In: Fiasko. Scheitern in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Kulturgeschichte des Misserfolgs. Hg. v. Dems. u. Claridge, Claudia. Bielefeld 2015, S. 39–58. Vgl. Krajewski, Markus: Über Projektemacherei. Eine Einleitung. In: Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns. Hg. v. Krajewski, Markus. Berlin 2004, S. 7–25, hier S. 7; Stanitzek, Georg: Der Projectmacher. Projektionen auf eine »unmögliche« moderne Kategorie. In: Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der

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Bernardins Glücks-Aventiure verlief allerdings von Beginn an mehr als holprig: Offenbar sollte er eigentlich in geheimer Mission auf Madagaskar eingesetzt werden. Noch auf dem Schiff überwarf er sich jedoch mit dem Leiter der Mission und entschied, sich auf der 6le de France niederzulassen.29 Die unbewohnte, von den Niederländern Mauritius benannte Insel wurde 1715 von Frankreich in Besitz genommen und seit den frühen 20er Jahren kolonisiert.30 Unter Führung des Gouverneurs Mah8 de la Labourdonnais und unter Ausbeutung schwarzer Sklaven, vornehmlich aus Madagaskar und Mosambique,31 war die heutige Hauptstadt Port Louis seit 1735 als Hafen- und Handelshauptstadt ausgebaut worden.32 Beruflich fand Bernardin auf der 6le de France keine ihn zufriedenstellende Tätigkeit; er beschäftigte sich vor allem mit Naturstudien bis er die Insel zwei Jahre später einigermaßen desillusioniert wieder verließ. In einem Brief an Henin schrieb er, wie sehr er sich nach der Rückkehr nach Frankreich sehne, denn auf der 6le de France gäbe es nichts, was seinen Glücksambitionen hätte förderlich werden können.33 Als Ingenieur hatte Bernardin in Übersee also sein Glück nicht machen können. Sein in der Kolonie erworbenes Erfahrungswissen aber ließ sich in Europa dennoch zu Geld machen, denn nachdem er sich in Paris niedergelassen hatte, begann Bernardin mit dem Schreiben der auf dem europäischen Buchmarkt äußerst beliebten ›Kolonialphantasien‹.34 1773 veröffent-

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Vorform des Scheiterns. Hg. v. Krajewski, Markus. Berlin 2004, S. 29–48, hier S. 30; Böth [Anm. 5]. Bernardin spricht in seinen Briefen selbst von seinen ›Projekten‹. Vgl. Cook [Anm. 12], S. 20. Vgl. wie genau sich dies zutrug, kann laut Cook [Anm. 12], S. 30 nicht mehr nachvollzogen werden. Vgl. Arno, Toni u. Orian, Claude: Ile Maurice: une soci8t8 multiraciale. Paris 1986, S. 20 u. S. 24–26; vgl. Piat, Denis: Mauritius on the spice route. Singapore 2010, S. 13–14. Als Bernardin die Insel erreichte, waren etwa 80 % der etwa 43000 Einwohner der Insel schwarze Sklaven. Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 1778. Vgl. Kent, Raymond K.: Madagaskar and the islands of the Indian Ocean In: General History of Africa, Bd. 5: Africa from the Sixteenth to the Eighteenth Century. Hg. v. Ogot, Bethwell A.. Berkeley 1992, S. 866. Arno u. Orian [Anm. 30], S. 29 u. S. 171 geben die schwarze Bevölkerung im Jahr 1767 mit etwa 15000 an. Vgl. Schicho, Walter : Afrika. In drei Bänden. Band 1: Zentralafrika, Südliches Afrika und die Staaten im Indischen Ozean. Frankfurt a. M. 1999, S. 35–49, bes. S. 36–37; Kent [Anm. 31], S. 892–894. Zunächst waren Mauritius (6le de France) und La R8union (Bourbon) von der französischen Compagnie des Indes verwaltet worden. Nach deren Zusammenbruch 1767 wurden sie direkt der französischen Krone unterstellt. Bernardin an Hennin, Port-Louis, 18. 4. 1770. In: Correspondance [Anm. 23], Nr. 38, S. 115: Je d8sire avec ardeur de retourner en France; il n’y a rien ici qui puisse flatter l’ambition ou la fortune. Im selben Brief berichtet er : […] je suis occup8 du soin de faire racommoder les b.timens civils, voil/ ma fonction. Vgl. dazu auch König [Anm. 19], S. 147 u. S. 150. Zum Begriff: Zantop, Susanne M.: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870) (Philologische Studien 158). Berlin 1999, S. 10–11. Bernardins Werke sind damit, wie Prasad Pratima: Colonialism, Race, and the French Romantic Imagination. New

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lichte er eine Reisebeschreibung nach dem Vorbild der kürzlich erschienenen »Voyage autour du monde« de Bougainvilles.35 1784 folgten seine »Ptudes de la nature«, in der er eine umfassende und systematische Naturgeschichte vorzulegen versuchte.36 In der dritten Auflage dieser vierbändigen Naturstudien (März 1788) erschien als Beigabe zum letzten Band der kleine Roman »Paul et Virginie«, der unerwartet zum Publikumserfolg wurde37 und seinen Autor zum ›gemachten Mann‹ werden ließ. 1792 wurde Bernardin Intendant des Jardin du Roi und Initiator des dortigen Zoos, 1803 Mitglied und später Präsident der Acad8mie FranÅaise.38 Trotz seiner literarischen und beruflichen Erfolge zu Lebzeiten gehört er allerdings zu den weitgehend vergessenen Autoren, wie bereits Jean Fabre in seiner Studie zu »Paul et Virginie« (1980) beklagt.39

II.

Von ungleichen Glücksvoraussetzungen: Die Figurenkonstellation in »Paul et Virginie«

Die Rahmenhandlung von »Paul et Virginie« beginnt mit einer aus der Perspektive eines Ich-Erzählers erfolgenden Beschreibung der Lage und Landschaft

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York 2009, S. 23 zu Recht darstellt, allesamt Teil kolonialer Wissensproduktion. Andere Autoren plädieren hingegen für eine Lesart, die von kulturell hybriden Einflüssen ausgeht. S. dazu weiterführend Bongie, Chris: Islands and Exiles. The Creole Identities of post/colonial literature. Stanford 1998, S. 79–125, bes. S. 95. Cook [Anm. 12], S. 31–40. Von Bougainvilles Entdeckungen hatte Bernardin schon während seines Aufenthaltes auf der 6le de France Kenntnis, wie ein Brief an Hennin vom 6. 12. 1768, in: Correspondance [Anm. 23], Nr. 35, S. 102–103, zeigt. Vgl. hierzu auch König [Anm. 19], S. 148–149. Vgl. hierzu König [Anm. 19], bes. S. 149–153. Bernardin de Saint-Pierre, Jacques-Henri: Ptudes de la Nature. Paris 1788, S. 85–262. Zur Publikationsgeschichte vgl. Fabre, Jean: Paul et Virginie, pastorale. In: LumiHres et Romantisme. Pnergie et nostalgie de Rousseau / Mickiewicz. Hg. v. Fabre, Jean, Paris2 1980, S. 225–257, hier S. 228–229 u. S. 233; Veyrenc, Marie-Th8rHse: Edition Critique du Manuscrit de Paul et Virginie de Bernardin de Saint-Pierre intitul8 Historie de Melle Virginie de la Tour. Paris 1975, S. 51–52, zum Manuskript S. 13–16, zwischen 1777 und 1780 müssen Bernardins Arbeiten am Roman soweit abgeschlossen gewesen sein, dass er den Text zur Lesung in den Salon der Madame Necker gab. Zu den Zusammenhängen der »Ptudes« und »Paul et Virginie« vgl. König [Anm. 19], S. 296–313. »Paul et Virginie« sollte ursprünglich unter dem Titel »Tableau de la Nature« veröffentlicht werden. (S. 297) Vgl. Delon, Michel: Art. »Bernardin de Saint-Pierre, Jacques Henri«. In: Dictionnaire des Litt8ratures de Langue franÅaises, A-F. Hg. v. de Beaumarchais, J.-P. u. a.. Paris 1984, S. 248–250, hier S. 248; Cook, Malcolm: Saint-Pierre, Jacques Henri Bernardin de 1737–1814. In: Encyclopedia of the Romantic Era 1760–1850 Bd. 2. Hg. v. Murray, Christopher John. New York, London 2004, S. 982–983; Cook [Anm. 12], S. xi. Vgl. Fabre [Anm. 37], S. 226. Auch wenn mit der Biographie des englischen Romanisten Malcom Cook [Anm. 12] (2006) inzwischen ein Standardwerk zu Bernardins Leben vorliegt, hat diese Einschätzung bis heute Gültigkeit.

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der 6le de France, die an den Topoi der zeitgenössischen Reiseliteratur orientiert ist. Doch schon zu Beginn werden die Glücksassoziationen, die die detailliert beschriebene idyllische Natur40 beim europäischen Publikum auslösen musste, konterkariert vom Bild der in der Landschaft im Herzen der Insel situierten Überreste zweier Hütten,41 die davon zeugen, dass an diesem Ort nur die Geschichte eines verlorenen Glücks spielen kann. Erzählt wird diese im Folgenden von einem alten Mann, dessen Bekanntschaft der Ich-Erzähler bei einem Ausflug ins Inselinnere macht und den er zum Schicksal des Ortes befragt. Der bejahrte Mann, der barfuss auf einen Stock von Ebenholz gestützt geht, wird im Rekurs auf sein schneeweißes Haar, seine Kleidung nach der Sitte der älteren Bewohner der Insel und sein aufrichtiges, würdiges Ansehn42 qua Alter und damit verbundener Lebenserfahrung43 positioniert. Auch wenn sich aus diesen äußerlichen Beschreibungen zunächst noch nicht eindeutig auf seine ethnische Zugehörigkeit schließen lässt, liegt die Vermutung nahe, dass er zur ersten Generation der Franzosen gehört, die die Insel kolonisierten. Sein langer Aufenthalt dort privilegiert ihn vor anderen Europäern wie sein hohes Alter ihn als besonders ›weise‹ erscheinen lässt. Beides macht ihn zum idealen Erzähler der folgenden Geschichte, in der es um zwei Familien gehen wird, die selbst glücklich, allein arm und unbekannt auf der Insel lebten.44 Doch der alte Mann äußert Zweifel, ob die Geschichte dieser Menschen bei Europäern auf einer am Wege nach Ostindien gelegenen Insel überhaupt auf Interesse stoßen könnte.45 In den Worten des alten Mannes wird der Ich-Erzähler damit implizit als Europäer positioniert, der auf der 6le de France wohl nur das Glück des Erfolgs und des Reichtums suchen könne. Doch bittet der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung den Alten inständig, die Geschichte des ›anderen‹ Glücks der Natur und der Tugend zu erzählen, die sich hier zugetragen habe. Denn von diesem höre selbst der von den Vorurtheilen der Welt

40 Vgl. PV [Anm. 14], S. 1–2. Die Natur wird mehrfach als still und friedvoll bezeichnet. Ptudes [Anm. 37], S. 86: Un grand silence regne dans leur enceinte oF tout est paisible, l’aire, les eaux et la lumiere [sic!]. 41 Vgl. PV [Anm. 14], S. 1–2; Ptudes [Anm. 37], S. 85: les ruines de deux petites cabanes. 42 PV [Anm. 14], S. 2–3; Ptudes [Anm. 37], S. 87: (…) un homme d8ja sur l’.ge. Il 8toit, suivant la coutume des anciens habitans, en petite veste et en long caleÅon. Il marchoit nus-pieds, et s’appuyoit sur un b.ton de bois d’8bene. Ses cheveux 8toient tout blancs, et sa physionomie noble et simple. 43 Vgl. PV [Anm. 14], S. 3; Ptudes [Anm. 37], S. 87: […] voitre air et / votre discours, que vous avez acquis une grande exp8rience. 44 PV [Anm. 14], S. 3; Ptudes [Anm. 37], S. 87: […] deux familles qui y avoient trouv8 le bonheur. 45 PV [Anm. 14], S. 3; Ptudes [Anm. 37], S. 87–88: Leur histoire est touchante; mais dans cette %le, situ8e sur la route des Indes, que Europ8ens peut s’int8resser au sort de quelques particuliers obscurs? Qui voudroit mÞme y vivre heureux, mais pauvre et ignor8?

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verdorbenste Mensch – sprich ein Europäer – nur zu gern reden.46 Dieses unverkennbar an Rousseau47 erinnernde Natur- und Tugendglück erscheint damit aus europäischer Perspektive als utopisches Glück, das nur am ou-topos – wörtlich: dem Nicht-Ort48 – er- und gelebt werden kann. In und mit diesen Positionierungen des Ich-Erzählers und des alten Mannes werden die Lesenden gezielt nicht nur als Europäer_innen positioniert, sondern auch als Glückssuchende angesprochen, die durch die Lektüre in die Lage versetzt werden, beide Glücksangebote (Natur/Tugend vs. Erfolg/Reichtum) gegeneinander abzuwägen. Die beiden in der knappen Rahmenerzählung angesprochenen Glückskonzepte prägen auch die folgende aus der Retrospektive erzählte Geschichte, die die eigentliche Romanhandlung darstellt. Als homodiegetischer Erzähler, der selbst als Nebenfigur Teil der Handlung ist,49 fungiert nun der alte Mann. Die Binnenerzählung beginnt mit dem – in auffälliger Ähnlichkeit zu Bernardin de Saint-Pierre selbst – aus der Normandie stammenden jungen Monsieur de la Tour, der sich in seiner Heimat bis dato vergeblich um eine Anstellung und um Unterstützung von seiner Familie bemüht hatte und nun auf die 6le de France gekommen war, um sein Glück auf dieser Insel zu versuchen.50 Anders als sein Nachname vermuten lässt, war de la Tour (ebenfalls wie Bernardin) aber kein Edelmann, im Unterschied zu seiner aus einer alten und reichen Familie kommenden Frau, die ihn auf die Insel begleitet hatte.51 Die sozialen Unterschiede 46 PV [Anm. 14], S. 3; Ptudes [Anm. 37], S. 88: […] croyez que l’homme mÞme le plus d8prav8 par le pr8jug8s du monde aime / entendre parler du bonheur que donne la nature et la vertu. 47 Vgl. Treml, Alfred K.: Zurück zur Natur? Rousseaus Naturbegriff im Emile. In: Universitas 43 (1988), S. 799–813; Dietmar Rieger : Die Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Französische Literaturgeschichte. Hg. v. Grimm Jürgen. Stuttgart, Weimar 1999, S. 183–232, hier S. 210–211 u. S. 218; Mornet, Daniel: Le Sentiment de la nature en France. De J.-J. Rousseau / Bernardin de Saint-Pierre. New York 1907, ND 1971, S. 435–441. Bernardin de Saint-Pierre war mit Rousseau bestens bekannt. Vgl. dazu Engelhard, Klaus, Art. »Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre. Ptudes de la nature«. In: Kindlers Lexikon Literatur. Hg. v. Arnold, Heinz Ludwig, Stuttgart, Weimar3 2009, Bd. 2, S. 390; Cook [Anm. 38], S. 982; Prasad [Anm. 34], S. 21. 48 Beim Utopie-Begriff handelt es sich um eine Wortschöpfung des englischen Lordkanzlers Thomas Morus in dessen Nachfolge sich die literarische Gattung der Utopie herausbildet, für die zunächst die Reise in zeitlich synchrone andere Räume konstitutiv ist. Vgl. Hölscher, Lucian: Art. »Utopie«. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland Bd. 6. Hg. Brunner, Otto u. a., Stuttgart 1990, S. 733–788, hier S. 733–734. 49 Vgl. Genette, G8rard: Die Erzählung. Übers. v. Andreas Knop, 3. Aufl., Paderborn 2010, S. 157–164. 50 PV [Anm. 14], S. 4; Ptudes [Anm. 37], S. 88: En 1735, un jeune homme de Normandie, appel8 M. de la Tour, aprHs avoir sollicit8 en vain du service en France et des secours dans sa famille, se d8termina / venir dans cette %le, pour y chercher fortune. 51 PV [Anm. 14], S. 4; Ptudes [Anm. 37], S. 88: […] qu’il n’8toit pas gentilhomme.; Elle 8toit d’une ancienne et riche maison […].

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zwischen den Ehepartnern, hier als Konglomerat aus genealogisch-ständischen Ehrvorstellungen und ökonomischen Ressourcen ausgestaltet, markieren ihre Verbindung als Verletzung der Standesgrenzen. Die ungleiche Ehe wird hier allerdings im Kontext des bürgerlichen Liebeseheideals der Zeit inszeniert,52 wenn bemerkt wird, dass Monsieur de la Tour seine Frau zärtlich liebte und von ihr ebenso wieder geliebt wurde.53 Damit wird die Frage nach dem legitimitätsstiftenden Potential von aus Liebe geschlossenen ehelichen Verbindung aufgeworfen, ohne an dieser Stelle bereits eine eindeutige Antwort zu formulieren. Auf der 6le de France angekommen, bleibt Madame de la Tour zunächst in Port Louis, während ihr Mann sich zum Sklavenhandel nach Madagaskar aufmacht, um sich auf der 6le de France niederlassen zu können.54 Ökonomische Ausbeutung der schwarzen Bevölkerung wird hier wie selbstverständlich als erster Schritt zum Machen des Glücks im Sinne des Erwerbs von Reichtum und Erfolg in den Kolonien präsentiert. Doch die Pläne Monsieur de la Tours werden von einem schweren Fieber durchkreuzt, dass ihn bald nach der Ankunft in Madagaskar ereilt und wenig später das Leben kostet. Als Kennzeichen und besonderes Risiko dieses Todes außerhalb des Herkunftslandes inszeniert der Text den Verbleib von de la Tours Erbe. Denn seine Habseligkeiten wurden nicht etwa geordnet seiner Witwe übergeben, sondern nach seinem Ableben verstreut.55 Madame de la Tour findet sich nun im Status einer besitz- und rechtlosen Witwe wieder, noch dazu schwanger, in einem Land, in dem sie fortan ohne jegliches soziales Kapital (Credit und Empfehlungen)56 auskommen musste. Der Prozesscharakter der Kategorie ›Stand‹ wird hier überdeutlich, denn Madame de la Tours adelige Abkunft kann in ihrem Lebensumfeld fern der Heimat offenbar nur nützlich werden, wenn sie unmittelbar in Praktiken der Netzwerkbildung umgesetzt wird. Aus dem Unglück dieser problematischen Situation heraus vermag Madame de la Tour jedoch Muth57 zu schöpfen, so resümiert der Erzähler und lenkt den 52 Zum bürgerlichen Liebeseheideal vgl. Dumas, Maurice: Le Mariage Amoureux. Histoire d’un lien conjugal sous l’Ancien R8gime. Paris 2004; Trepp, Anne-Charlott: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840. Göttingen 1996. 53 PV [Anm. 14], S. 4; Ptudes [Anm. 37], S. 88: Il avoit avec lui une jeune femme qu’il amoit beaucoup, et dont il 8toit 8galement aim8. 54 Vgl. PV [Anm. 14], S. 4; Ptudes [Anm. 37], S. 88–89: Il la laissa au Port-Louis de cette %le, et il s’embarqua pour Madagascar, dans l’esp8rance d’y acheter quelques noirs, et de revenir promptement ici former une habitation. 55 PV [Anm. 14], S. 4; Ptudes [Anm. 37], S. 89: Les effets qu’il avoit emport8s avec lui furent dispers8s apr8s sa mort, comme il arrive ordinairement / ceux qui meurent hors de leur patrie. 56 PV [Anm. 14], S. 5; Ptudes [Anm. 37], S. 89: cr8dit et recommendation. 57 PV [Anm. 14], S. 5; Ptudes [Anm. 37], S. 89: Ne voulant rien solliciter auprHs d’aucun homme, aprHs la mort de celui qu’elle avoit uniquement ami8, son malheur lui donna du courage.

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Blick auf die Geschlechtsbezogenheit des bisher die Geschehnisse grundierenden Glückskonzepts. Denn während Monsieur de la Tour auszog, um sein Glück zu machen und damit auch zum Glücksmacher58 für seine Frau zu werden, kann Madame de la Tour für ihr eigenes Glück erst aus dem Unglück ihrer Witwenschaft heraus Verantwortung übernehmen. Es ist die gescheiterte Aventiure Monsieur de la Tours, die Dynamiken für die weitere Handlung des Romans freisetzt. Folgerichtig schlägt Madame de la Tour einen anderen ›Weg zum Glück‹ ein als ihr Mann, indem sie sich ein kleines Stück Grund und Boden im Inneren des Landes nimmt, das sie bewusst als naturnahes Refugium von der Welt versteht. Zusammen mit ihrer Sklavin, ihrem einzigen Besitz, wie der Text ausweist,59 versucht sie, dieses urbar zu machen, um dadurch ihren Lebensunterhalt zu erwerben.60 Dass Madame de la Tour nicht wie ihr Mann nach Reichtümern, sondern lediglich nach den nothwendigen Gütern strebt, sei von der Vorsehung so dann durch das ›Glück der Freundschaft‹ belohnt worden, das weder Rang noch Reichthum versprechen könne.61 Denn schon bald sollte sie die Bekanntschaft von Marguerite machen, einer aus der Bretagne kommenden Tochter gewöhnlicher Bauersleute, die sich zufällig am selben Ort im Landesinneren niedergelassen hatte, wo sie mit einem schwarzen Sklaven, den sie für geringes und erborgtes Geld gekauft hatte62, ein Stück Land bebaut. Marguerites einfache soziale Herkunft wird dabei als Garant für ihr Lebensglück inszeniert, denn ihre Eltern liebten [sie] herzlich und sie wäre gewiss glücklich geworden, hätte sie nicht törichterweise den Liebesbetheuerungen eines benachbarten Edelmannes Glauben geschenkt.63 Der Versuch, qua Heirat aufzusteigen, ist Marguerite also zum Verhängnis geworden, so legt der Erzähler nahe, wenn er berichtet, der Edelmann habe sie verlassen und verweigert für das uneheliche gemeinsame Kind, einen Sohn namens Paul, 58 Vgl. Grimm, Jacob u. Grimm, Wilhelm: »Glückmacher«. Deutsches Wörterbuch 16 Bde, 32 Teilbde., Leipzig 1854–1961, http://woerterbuchnetz.de/DWB/. [Letzter Zugriff: 7. September 2016]. 59 PV [Anm. 14], S. 5; Ptudes [Anm. 37], S. 89: (…) et n’ayant pour tout tout bien du monde, qu’un n8gresse, dans un pays oF elle n’avoit ni credit, ni recommendation. 60 PV [Anm. 14], S. 5; Ptudes [Anm. 37], S. 89: Elle r8solut de cultiver avec son esclave, un petit coin de terre afin de se procurer de quoi vivre. 61 PV [Anm. 14], S. 5; Ptudes [Anm. 37], S. 90: Mais la Providence, qui vient / notre secours lorsque nous ne voulons que les biens n8cessaires, en r8servoit un / madame de la Tour, que ne donnent ni les richesse, ni la grandeur ; c’8toit une amie. 62 PV [Anm. 14], S. 6; Ptudes [Anm. 37], S. 90–91: Un vieux noir, qu’elle avoit acquis de quelques deniers emprunt8s, cultivoit avec elle, un petit coin de ce canton. 63 PV [Anm. 14], S. 5–6; Ptudes [Anm. 37], S. 90: Dans ce lieu, depuis un an, demeuroit une femme, vive, bonne et sensible; elle s’appeloit Marguerite. Elle 8toit n8e en Bretagne, d’une simple famille de paysans, dont elle 8toit ch8rie, et qui l’auroit rendue heureuse, si elle n’avoit eu la foiblesse d’ajouter foi / l’amour d’un gentilhomme de son voisinage qui lui avoit promis de l’8pouser.

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aufzukommen. Auf der 6le de France sucht Marguerite nun ihren Fehltritt in den Kolonien, ferne von der Heimat, zu verbergen, wo sie ihren guten Ruf, die einzige Mitgift eines armen und ehrlichen Mädchens, verloren hatte.64 Die Vorsehung hatte beide Frauen also in eine ähnliche Lebenslage gebracht, ihre eigentliche gesellschaftliche Positionierung und ihre Lebenswege sind jedoch diametral zueinander konzipiert. Neben den Positionsbestimmungen qua Stand und ökonomischem Status erfährt in der Erzählung die bereits erwähnte Dimension der emotionalen Qualität der jeweiligen sozialen Beziehungen Relevanz. Madame de la Tour – die der Text durchgängig in dieser Höflichkeitsformel adressiert – adelig, aber ohne Liebe erzogen, heiratet in einfachere Verhältnisse aus ›wahrer Liebe‹; Marguerite aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen, aber einer liebevollen Familie kommend, sieht sich in ihren Hoffnungen auf eine standesaufwertende Heirat durch ›falsche Liebe‹ getäuscht. Obwohl der Text mit den möglichen Interpretationen dieser Lebenswege spielt, vertritt er zunächst subtil – an späterer Stelle aber explizit65– die konservative Botschaft, dass wahres (Beziehungs-)Glück nur innerhalb der Grenzen der Standeszugehörigkeit zu finden sei. Auf der Narrationsebene wird Marguerites Versuch, sich durch Heirat über ihren Stand zu erheben, als persönliche Schwäche (foiblesse [sic!]) ausgelegt, als Verfehlung (faute), aus der heraus sie sich der Leidenschaft (passion) des Edelmanns hingegeben habe. Diese eindeutigen Bewertungen einer unsittlichen, noch dazu die Standesgrenzen verletzenden weiblichen Sexualität setzen sich auch auf der Ebene der handelnden Figuren fort, wenn Marguerite später selbst reuig bekennt, ihr Loos verdient zu haben – im Unterschied zu Madame de la Tour, die verständig gehandelt habe, aber trotzdem unglücklich geworden sei.66 Die Lebensläufe beider Frauen sind als Identifikationsangebote unterschiedlicher ›Wege zum Glück‹ für die Lesenden konzipiert. Dabei wird, im Fall von Madame de la Tour, auch die zufällige Dimension des Glücks betont, welches sich selbst bei tugendhaftem Handeln nie zur Gänze kalkulieren lässt. Doch die zunächst sehr eindeutigen Positionierungen verblassen im Fortgang der Erzählung, wenn die beiden Frauen ihr Leben zunehmend in Gemeinsamkeit bestreiten. Mit Hilfe der ›männlichen Autorität‹ ihres Nachbarn, des nun greisen Mannes und Erzählers, teilen die Frauen die Talfläche unter sich auf und lassen 64 PV [Anm. 14], S. 6; Ptudes [Anm. 37], S. 90: […] aller cacher sa faute aux colonies, loin de son pays, oF elle perdu la seule dot d’une fille pauvre et hinnette, la r8putation. 65 Vgl. PV [Anm. 14], S. 13: Der Keim des Unglücks beider Frauen habe demnach einzig darin bestanden, dass die eine sich über ihren Stand erhoben habe und die andere unter denselben hinabgesunken sei. Vgl. Ptudes [Anm. 37], S. 98: […] l’une se rappelant que ses maux 8toient venus d’avoir n8glig8 l’hymen, et l’autre, d’en avoir subi les lois; l’une, de s’Þtre 8lev8e au dessus de sa condition, et l’autre d’en Þtre descendue; […]. 66 PV [Anm. 14], S. 6; Ptudes [Anm. 37], S. 91: ›Pour moi, dit-elle, j’ai m8rit8 mon sort. Mais vous, Madame, … vous [sic!] sage et malheureuse.‹

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dabei das Los entscheiden. Der Alte baut für Madame de la Tour auf ihrem Grund und Boden eine Hütte, so dass sich die beiden gleichzeitig einander nahe waren und sich doch auf ihrem Eigenthume befanden. Während in Bezug auf Eigentumsfragen also für klare Verhältnisse gesorgt wird, wird die Beziehung zwischen beiden enger, als Madame de la Tour wenig später eine Tochter zur Welt, die den sprechenden Namen Virginie erhält. Als Taufpatin fungiert Marguerite, die an der Wiege ihrer Patentochter der Hoffnung Ausdruck verlieh, diese möge, anders als sie selbst aus Tugend glücklich werden.67 Im Folgenden werden auch die beiden ›Sklaven‹ charakterisiert, die mit den europäisch-christlichen Namen Domingo und Marie benannt werden. Überaus positiv hervorgehoben wird beider Arbeitsamkeit in der Häuslichkeit des Refugiums, die den europäischen Lesenden fast vergessen lässt, dass auch die beschriebenen Arbeitsverhältnisse (genauso wie die Arbeit auf Plantagen) auf der Grundlage des herrschenden Systems der Sklaverei stehen und Domingo und Marie vom Erzähler an anderer Stelle mehr als eindeutig als Besitz ihrer Herrinnen bezeichnet werden. Von einem sein Wissen über Afrika gezielt zur Schau stellenden Autor wird Domingo durch seine Zugehörigkeit zu den Jalof68 charakterisiert, die aus den westafrikanischen Gebieten des heutigen Senegals kommend Mitte des 18. Jahrhunderts einen kleinen Teil der auf der 6le de France lebenden schwarzen Sklaven ausmachten.69 Der Blick auf Domingo, der das Land mit Erfahrung, Fleiß und gutem Willen bebaute,70 entspricht dem Topos des ›edlen Wilden‹ (›bon sauvage‹), der in den Reise- und Missionsberichten des Jahrhunderts, später auch durch die Schriften Rousseaus, weite Verbreitung gefunden hatte.71 Domingo und Marie hatten bei Virginies Geburt – man darf annehmen: christlich – geheiratet und ihre Beziehung in eine für die europäischen Lesenden 67 Vgl. PV [Anm. 14], S. 10: ›Sie wird tugendhaft sein‹ […]› und wird glücklich sein. Ich kannte das Unglück nicht, ehe ich vom Pfade der Tugend abwich.‹ Ptudes [Anm. 37], S. 94: ›Elle sera vertueuse, dit-elle, et elle sera heureuse. Je n’ai connu le malheur, qu’en cessant de l’Þtre.‹ 68 Vgl. PV [Anm. 14], S. 10: Domingo, war vom Stamme der als willig und gutmüthig gerühmten Jolofs und zwar alt, allein noch rüstig. Er besaß Erfahrung und natürlichen Verstand. Ptudes [Anm. 37], S. 94: Domingue, 8toit un noir Jalof, encore robuste, quoique d8ja sur l’.ge. Il avoit de l’experience et un bon sens naturel. An anderer Stelle wird Angola als Domingos Herkunftsort benannt. PV [Anm. 14], S. 43; Ptudes [Anm. 37], S. 128. 69 Vgl. Arno u. Orian [Anm. 30], S. 29. Zum zeitgenössischen Wissen zu den Jalofs vgl. bspw. de La Harpe, Jean-FranÅois: Abr8g8 de l’histoire g8n8rale des voyages, 32 Bde, hier Bd. 2. Paris 1780, S. 186–199 u. 247–258. 70 PV [Anm. 14], S. 11; Ptudes [Anm. 37], S. 95: Il faisoit tous ces ouvrages avec intelligence et activit8, parce qu’il les faisoit avec zele [sic!]. Vgl. König [Anm. 19], S. 301–302. 71 Vgl. Stackelberg, Jürgen von: Jean-Jacques Rousseau. Der Weg zurück zur Natur. München 1999, S. 42–44; zum an Rousseau angelehnten Glücksbegriff in »Paul et Virginie« vgl. Mauzi, Robert: L’id8e du bonheur dans la litt8rature et la pens8e franÅaises au XVIIIe siHcle, GenHve. Paris 1979, S. 650–652.

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billige Ordnung überführt. Die Beschreibung von Marie, die aus Madagaskar kommt und von dort die Fertigkeit Körbe zu flechten mitbringt, liest sich ebenfalls fast schon wie ein Ideal bürgerlich europäischer Weiblichkeit, wenn ihr Geschick bei der Nahrungszubereitung, ihre Reinlichkeit und Treue hervorgehoben werden.72 Wenn beschrieben wird, dass es Marie war, die den Überschuss des Landanbaus nach Port Louis zum Markt brachte, nicht etwa Domingo und auch nicht die beiden Europäerinnen bricht die Konstellation jedoch wieder. Während wir von Madame de la Tour und Margu8rite erfahren, dass sie von morgens bis abends in emsiger Geschäftigkeit mit dem Spinnen von Baumwolle befasst sind, somit die häusliche Sphäre des Refugiums nicht verlassen müssen, wird ein solches ›Privileg‹ Marie nicht zu teil.73 Distinktionen der weiblichen Figuren entlang der Kategorie race werden also implizit immer mitgeführt und grundieren die Figurenkonstellation. Der Eindruck einer zu starken Orientierung der beiden Europäerinnen an den heimischen Lebensgewohnheiten wird dagegen relativiert, wenn der Erzähler betont, dass Madame de la Tour und Marguerite die Stadt als koloniales Zentrum der Insel aus Furcht verächtlich behandelt zu werden, weil sie sich wie Sklaven, nur in grobe blaue bengalische Leinwand kleiden, nur selten aufsuchen. Ansonsten seien sie jedoch so sehr von europäischen Bequemlichkeiten entblößt, dass sie nur zum sonntäglichen Kirchgang Schuhe tragen. Einzig der Aufenthalt im Hort der Institution Kirche konnte also dazu führen, dass sie die Insignien des Europäisch-Seins, mithin der naturfernen Zivilisation, aus gehorsamen Respekt zumindest zeitweise wieder anlegen. Wenn es um ihr Ansehen in der kolonialen Öffentlichkeit auch nicht gut bestellt sei, so habe ihr großes häusliches Glück ihnen die Rückkehr umso mehr versüßt. Dieses meint nicht nur Sauberkeit und Güter als Frucht ihrer Arbeit, sondern vor allem eine besondere emotionale Verbindung zu Domingo und Marie, in deren Augen sie bei ihrer Rückkehr nur Freude haben lesen können.74 Diese Aussagen ›qualifizieren‹ Domingo und Marie in der Logik der Erzählung aber allenfalls für ein abgeleitetes, quasi-kindliches Glück. Eine Befähigung, über ihr eigenes Glück entscheiden zu können, wird beiden im Text jedoch nicht zugestanden. Trotz gegenläufiger Bekundungen bleibt der Akteur_innenstatus von Marie

72 PV [Anm. 14], S. 11; Ptudes [Anm. 37], S. 95–96. 73 Vgl. Walgenbach, Katharina: Intersektionalität – eine Einführung. 2012. Online Publikation: http://www.portal-intersektionalität.de [17. 03. 2017], S. 5, die im Rekurs auf die Arbeiten der schwarzen Feministin bell hooks darlegt, dass die von weißen Feministinnen beklagten Formen häuslicher Unterdrückung für schwarze Frauen irrelevant seien, denn diese »hatten niemals die Wahl zu Hause zu bleiben.« 74 PV [Anm. 14], S. 12; Ptudes [Anm. 37], S. 95–96. Vgl. Prasad [Anm. 34], S. 36–37, 39 u. 44.

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und Domingo von dem der beiden Frauen deutlich unterschieden,75 was umso mehr ins Auge fällt, wenn die Unterschiede zwischen Marguerite und Madame de la Tour im Verlauf der Erzählung sukzessive eingeebnet werden. Denn auf der Grundlage ihrer gleichen Bedürfnisse und der beinahe gleiche[n], unangenehme[n] Erfahrungen teilten die Frauen einen Willen, ein Interesse und einen Tisch.76 Die Beziehung zwischen ihnen ist dabei von besonderer körperlicher Intimität gekennzeichnet, die der Erzähler wirkungsvoll zu inszenieren weiß, indem er berichtet, dass beide das Kind der jeweils anderen stillten.77 Oft malten die beiden Frauen sich aus, dass Paul und Virginie später durch eine Eheschließung das häusliche Glück (felicit8 conjugal) der Familien noch vermehren würden, denn ihre Ehe würde – anders als ihre eigenen Heiraten – zugleich von der Wonne der Liebe und dem Glück der Gleichheit gesegnet sein.78 Denn in der (kolonialen) Idylle scheinen die Grenzen unterschiedlicher ständischer Positionierung zumindest für die beiden Europäerinnen und ihre Nachkommen inexistent zu werden und sich in einer matriarchalen Gemeinschaftlichkeit aufzulösen, die als solche nur vor dem Hintergrund einer weitgehenden Männerbzw. Vaterlosigkeit des erzählten Raumes möglich scheint, um eine Beobachtung der Romanistin Pratima Prasad aufzugreifen.79 Die matriarchale Gemeinschaft ist es auch, die ein Leben im vollkommenen Einklang mit der Natur – betont wird etwa auch die vegetarische Ernährungsweise der Familien80 – ermöglicht. Dergestalt wachsen Paul und Virginie zu idealhaften Verkörperungen tugendhaften Menschseins in einem verloren geglaubten glücklichen Naturzustand heran.81 Dabei werden sie in die Nähe der ›bons sauvages‹ gerückt und damit in letzter

75 Vgl. hierzu auch Prasad [Anm. 34], S. 36–37, 39 u. 44. 76 PV [Anm. 14], S. 12; Ptudes [Anm. 37], S. 97: Elles-mÞmes, unies par les mÞmes besoins, ayant 8prouv8 des maux presque semblables, se donnant les doux noms d’amie, de compagne et de sœur, n’avoient qu’une volont8, qu’un int8rÞt, qu’une table. 77 PV [Anm. 14], S. 13; Ptudes [Anm. 37], S. 97: Souvent elles les changeoient de lait. 78 PV [Anm. 14], S. 13; Ptudes [Anm. 37], S. 98: […] mais elles se consoloient, en pensant qu’un jour, leurs enfans plus heureux, jouiroient / la fois, loin des cruels pr8jug8s de l’Europe, des plaisirs de l’amour et du bonheur de l’8galit8. 79 Vgl. Prasad [Anm. 34], S. 26; so bereits bei Bongie [Anm. 34], S. 105; Hunt, Lynn: Family Romance of the French Revolution. London, New York 1992, S. 27–32. Vgl. bspw. PV [Anm. 14], S. 57; Ptudes [Anm. 37], S. 143: Leur vie sembloit attach8e / celle des arbres, comme celle des faunes et des dryades. Ils ne connoissoient d’autres 8poques historiques que celles de la vie de leurs meres […]. 80 PV [Anm. 14], S. 46; Ptudes [Anm. 37], S. 131: Combies de fois, / l’ombre de ces rochers, ai-je partag8 avec elles vos repas champÞtres, qui n’avoient co0t8 la vie / aucun animal! 81 Vgl. PV [Anm. 14], S. 58; Ptudes [Anm. 37], S. 143–144: Ainsi croissoient ces deux enfans [sic!] de la nature. Aucun souci n’avoit rid8 leur front; aucune intemp8rance n’avoit corrumpu leur sang; aucune passion malheureuse n’avoit d8prav8 leur cœur […].

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Konsequenz als »white natives«, also ›weiße Indigene‹, auf der lange unbewohnten Insel inszeniert, wie Prasad weiter herausarbeitet.82 Es könnte angenommen werden, dieses irdische Leben habe den beiden Frauen das vollendete Glück bedeutet: Von Zeit zu Zeit aber, so der Erzähler, erwachte in ihren Herzen der Gedanke an eine die irdische noch übertreffende himmlische Glückseligkeit.83 Demnach erscheint das Diesseits als innerweltliches Paradies, das einen Vorgeschmack auf das vollkommene ewige Glück des Jenseits ermöglicht. Diese Perspektive prägt, wie der Romanist Torsten König anhand von Bernardins »Ptudes de la nature« gezeigt hat, die physikotheologischen Naturvorstellungen des katholischen Autors.84 Eine enge Verzahnung von zeitlicher und ewiger Glückseligkeit, wie sie vor allem von reformprotestantischen Strömungen vorgedacht worden war,85 kann vor diesem Hintergrund konfessionell übergreifend als konstitutiv für den europäisch–westlichen Glücksdiskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts betrachtet werden.86 Mit Blick auf Bernardin lässt sich darüber hinaus festhalten, dass ein solcher Glücksbegriff auch im populären Diskurs der Kolonialliteratur fortgeschrieben wurde.

III.

Veränderte Positionierungen – gewandelte Glückskonzeptionen

Die Harmonie dieses paradiesischen Glücks fernab der Verderbtheit europäischer Zivilisation, in der Paul und Virginie aufwachsen, bleibt jedoch nicht ungetrübt. Auch wenn Bernardin im Vorwort der Erstausgabe zu seinem Roman

82 Prasad [Anm. 34], S. 32–34 u. 43. Vgl. auch König [Anm. 19], bes. S. 299–300; Bongie [Anm. 34], S. 105. 83 PV [Anm. 14], S. 12–13; Ptudes [Anm. 37], S. 97: Seulement, si d’anciens feux plus vifs que ceux de l’amiti8 se r8velleoient dans leur ame [sic!], une religion pure, aid8e par les mœurs chastes, les dirigeoit vers une autre vie, comme la flamme qui s’envole vers le ciel lors qu’elle n’a plus d’aliment sur la terre. 84 Vgl. König [Anm. 19], bes. S. 299; dazu auch Torsten König: »Ptudier la nature comme font les grands peintres«. Erzählung und Tableau in Bernardin de Saint-Pierres Naturbeschreibung. In: Wissenschaftliches Erzählen im 18. Jahrhundert. Geschichte, Enzyklopädie, Literatur. Hg. v. Elm, Veit. Berlin 2010, S. 175–193, bes. S. 177. 85 Vgl. zu dieser These ausführlich Kemper, Hans-Georg: Aufklärung und Pietismus (Deutsche Lyrik in der frühen Neuzeit, Bd. 5/I). Tübingen 1991, S. 42–55; knapper McMahon [Anm. 5], S. 204. 86 Vgl. im französischen Sprachraum bspw. die katholischen Glückseligkeitselhren von Sigaud de la Fond, Joseph-Aignan: L’ecole du bonheur oF tableau des vertus sociales […]. Paris 1782, S. iv : In der irdischen Zeitlichkeit sei ein avant-go0t du v8ritable et solide bonheur möglich; Gérard, Philippe-Louis: La Th8orie du Bonheur, ou L ’Art de se rendre heureux. Le comte de Valmont, ou les Egaremens de la raison, Bd. VI . Paris 1801, S. 7: […] nous 8prouvons mÞme ici-bas l’avant-go0t, les pr8mices de ce bonheur parfait […].

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bekennt, er wolle zeigen, dass »unser Glück darin bestehe, der Natur und der Tugend zu folgen«, bietet der Text dennoch keine einfache Antwort auf die Frage nach der Lebbarkeit des ›richtigen‹ Glücks.87 Denn die Einbrüche in die Glücksidylle des Refugiums scheinen im Laufe der Erzählung immer näher zu rücken. Anzeichen hierfür ist zunächst die Episode mit einer von einem weißen Plantagenbesitzer geflohenen schwarzen Sklavin. Die Inszenierung ihrer ›Rückführung‹ zu ihrem gewalttätigen Herrn als ›Rettung‹ durch Virginie, die sich offenbar dank ihrer Tugend veranlasst fühlt, um Vergebung für eine ›unrechtmäßige‹ Flucht zu bitten,88 lässt aus heutiger Perspektive die Doppelbödigkeit erkennen, mit der selbst ein erklärter Gegner der Sklaverei wie Bernardin argumentiert.89 Im Deutungshorizont der Lesenden wird hier in erster Linie der Gedanke entfaltet, dass das von Paul und Virginie gelebte weltflüchtige, zivilisationskritische Natur- und Tugendglück / la Rousseau90 selbst am utopischen Ort hochgradig bedroht ist. Denn das Unglück der Ungleichheit wartet auch auf der 6le de France gewissermaßen direkt vor der Haustür des familiären Refugiums.91 Dementsprechend wird das nach der Episode wiedereinkehrende und ausführlich beschriebene Leben, in dem jeder Tag ein Tag des Glücks und des Friedens92 zu sein scheint, im Laufe der Erzählung immer deutlicher als gleichermaßen erstrebenswertes wie gefährdetes Traumbild inszeniert.93 Zersetzt wird es letztlich aber nicht durch äußere Umstände, sondern von innen heraus.94 Denn es ist Madame de la Tour, der bereits, als sie ihre Tochter heranwachsen sieht, erste Zweifel daran kommen, ob das Glück eines naturna87 Vgl. Vorwort in: Ptudes [Anm. 37], lxxxii: Je me suis propos8 aussi d’y mettre en 8vidence plusieurs grandes verit8s, entr’autres celle-ci; que notre bonheur consiste / vivre suivant la nature et la vertu. Vgl. hierzu auch König [Anm. 19], S. 298. 88 PV [Anm. 14], S. 23–36.; Ptudes [Anm. 37], S. 107–120. 89 Vgl. zur Deutung der Episode, die hier nicht ausführlich besprochen werden kann, Prasad [Anm. 34], S. 40; Peters [Anm. 13], S. 99–102. Offene Kritik an der Sklaverei äußerte Bernardin in seinem Reisebericht ›Voyage / l’6sle de France‹. Vgl. dazu König [Anm. 19], S. 155–156. Zu Bernardins Werken aus postkolonialer Perspektive Bongie [Anm. 34], S. 79–125, bes. S. 104. 90 Zu den Konnotationen von Rousseaus Glückskonzept s. Stackelberg [Anm. 71], S. 36 u. S. 42; Treml [Anm. 47], S. 811. 91 Vgl. dazu König [Anm. 19], S. 299. 92 PV [Anm. 14], S. 36.; Ptudes [Anm. 37], S. 120: Chaque jour 8toit pour ces familles un jour de bonheur et de paix. 93 Dies zeigt sich im Text einerseits in Naturmetaphern wie Veilchen unter dornigem Gesträuch (S. 37) oder dem heraufziehenden Orkan, der den Garten zerstört und Virginie die Vergänglichkeit alles Irdischen vor Augen führt (S. 67) Begleitet wird diese offenkundige Unordnung der Natur von Virginies Ängsten beim Erwachen der im Verruf dess Inzests stehenden Liebe zu ihrem ›Bruder‹ (S. 61–66). Diese Elemente lassen sich als Vorausdeutung von Virginies späterem Schicksal und ihrem darauffolgenden Tod deuten. 94 Die Deutungsperspektive von König [Anm. 19], S. 303, derzufolge in »Paul et Virginie« »das Böse […] von draußen in Form falscher Werte wie gesellschaftlicher Stand, Geld und damit verbunden Ambition und Neid in die harmonische Welt drängt«, teile ich ausdrücklich nicht.

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hen Lebens in Armut für die Zukunft ihrer Tochter würde genügen können.95 Eher en passant erfahren die Lesenden – zeitlich noch deutlich vor der Episode mit der entlaufenen Sklavin –, dass Madame de la Tour, die einzig literate Person in der Familie, per Brief Kontakt zu ihrer reichen Großtante in Frankreich gehalten hat und bereitwillig deren Schmähungen über sich ergehen ließ,96 um die Tante zur Theilnahme zu Virginiens Besten anzuregen.97 Zerrissen zwischen den widerstreitenden Glückskonzepten und ratlos vor der Frage, wieviel ökonomischen Wohlstand das Natur- und Tugendglück letztlich doch brauche, sind ihre Handlungen und Aussagen hochgradig ambivalent.98 Sie kulminieren, als sie letztlich auf Marguerites Vorschlag, Paul und Virginie alsbald zu verheiraten, mit Ablehnung reagiert. Dabei fällt sie – zunächst durchaus mit Billigung des Erzählers – in das längst überwunden geglaubte Glücksmuster zurück, wenn sie vorschlägt, Paul nach Ostindien zu schicken, damit er dort mit Handelsgeschäften so viel verdiene, dass er einige Sklaven […] kaufen und künftig für sein und Virginies Auskommen sorgen könne, womit ihr denn auch der weitere Genuss des Natur- und Tugendglückes gesichert schien.99 Gerade recht kommt in dieser Situation ein weiterer Brief der Großtante aus Frankreich, in dem diese ihre Bereitschaft mitteilt, Madame de la Tour oder Virginie ihr gesamtes Vermögen zu vermachen, wenn diese nach Frankreich zurückkehren würden.100 Noch einmal demonstriert Madame de la Tour ihre Zerrissenheit, wenn sie verspricht, sie wolle die Glückseligkeit, die sie in den ärmlichen Hütten gefunden habe, nicht aufs Spiel setzen.101 Doch Virginies zu95 PV [Anm. 14], S. 19; Ptudes [Anm. 37], S. 103: ›Si je venois mourir, que deviendroit Virginie sans fortune?‹ Diese ersten Zweifel äußert Madame de la Tour noch deutlich vor der Episode mit der entlaufenen Sklavin. 96 PV [Anm. 14], S. 20: Die 6le de France sei ein Land, wo mit Ausnahme der Faulen Jeder sein Glück mache.; Ptudes [Anm. 37], S. 104–105: qu’elle 8toit a [sic!] prÞs tout, dans un bon pays, oF tout le monde faisoit fortune, except8 les paresseux. 97 PV [Anm. 14], S. 20; Ptudes [Anm. 37], S. 104: Elle luit 8crivoit donc par toutes les occasions, afin d’exciter sa sensibilit8 en faveur de Virginie. 98 Zum einen empfindet Madame de la Tour mütterliche Freude (PV [Anm. 14], S. 20) beim Empfangen des Briefes, bezeichnet ihn als die Frucht einer zwölfjährigen Geduld (S. 22) und scheint beim Gouverneur la Bourdonnais über das Unglück ihrer Tochter klagend darum zu bitten, er möge Virginie nach Frankreich schicken (S. 21). Zum anderen aber bekennt sie Paul und Virginie gegenüber : […] nur von fern her ist das Unglück gekommen, hier um mich ist das Glück. (S. 23). Vgl. Ptudes [Anm. 37], S. 107: »[…] le malheur ne m’est venu que de loin; le bonheur est autour de moi. 99 PV [Anm. 14], S. 69.; Ptudes [Anm. 37], S. 154. 100 PV [Anm. 14], S. 71; Ptudes [Anm. 37], S. 156. Vgl. auch PV [Anm. 14], S. 76: »Frau de la Tour war gar nicht unzufrieden, eine Gelegenheit zu finden, um Virginie und Paul für einige Zeit zu trennen, indem sie zugleich für deren einstiges Glück sorge.« Ptudes [Anm. 37], S. 161: Madame de la Tour n’8toit pas f.ch8e de trouver une occasion de s8parer pour quelque tems [sic!], Virginie et Paul, en procurant un jour leur bonheur mutuel. 101 PV [Anm. 14], S. 71; Ptudes [Anm. 37], S. 157.

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künftiges Glück beschäftigt in der Folge sogar die weltlichen und geistlichen Autoritäten auf der Insel. Am nächsten Morgen erhält die Familie Besuch vom Gouverneur La Bourdonnais, den Bernardin zu Pferde und von zwei Sklaven gefolgt auftreten lässt. Für ihn gibt es nicht die geringste Glücksambivalenz, denn auf die Inseln begebe man sich schließlich nur, um aufzusteigen, reich zu werden, sein Glück zu machen102 und nun biete sich die Erfüllung dieses einzigen Ziels sogar im eigenen Vaterlande an.103 Für die meisten Europäer, so legt auch eine Passage aus den Memoiren des historischen La Bourdonnais (1699–1753) nahe,104 hätte es in dieser Situation also nichts mehr zu überlegen gegeben; zumal die Großtante einen schweren Sack mit spanischen Thalern zur Vorbereitung der Reise vorgesehen hatte, den der Gouverneur in der ärmlichen Behausung als Ausblick auf die zu erwartenden Reichtümer auf den Tisch stellte.105 Auch wenn er sich durchaus beeindruckt zeigt von der herzlichen Häuslichkeit, in der die Familien leben, verabschiedet er sich bei Madame de la Tour mit den Worten: Ueberlegen Sie es wohl; das Glück kommt nicht alle Tage. Erholen Sie sich Raths. Alle verständigen Leute werden meiner Ansicht sein.106 Dies wird im Folgenden bestätigt, denn auch der Beichtvater, ein europäischer Missionar, lässt mit seinen Ratschlägen nicht lange auf sich warten. Mit den Worten Gott sei gelobt, jetzt sind Sie reich empfängt er Mutter und Tochter am folgenden Tag und zeigt sich davon überzeugt, dass Virginies Reise nach Frankreich ein Befehl des Herrn sei, der es ihr glücklicherweise fortan ermögliche den Armen Gutes [zu] thun und sich für das Wohl [ihrer] Angehörigen hin[zu]geben.107 Einzig der alte Mann verbleibt nunmehr als mahnende Stimme an der Kreuzung der ›Wege zum Glück‹: Wahre Glückseligkeit (bonheur) könne allein in der Natur gefunden werden, so vertritt er. Da er zugleich als homodiegetischer 102 Der Wirtschaftshistoriker Toussaint, Auguste: Le mirage des Iles. Le n8goce franÅais aux Mascareignes au XVIII siecle Aix-en-Provence 1977, S. 21 schätzt den Anteil der Handelstreibenden auf Mauritius zwischen 1769 und 1810 auf »751 n8gotiants, armateurs, commerÅants, courtiers, commissionaires, agents de change et simple marchands.« 103 PV [Anm. 14], S. 73–74; Ptudes [Anm. 37], S. 159: Pourquoi vient-on aux %les? n’est-ce [sic!] pas pour y faire fortune? N’est-il pas bien plus agr8able de l’aller retrouver dans sa patrie? 104 Vgl. Mahé de La Bourdonnais, Bertrand FranÅois: M8moire des Iles de France et de Bourbon. Hg. v. Lougnon, Albert, Saint-Denis 1937, S. 5–6, zit. n. Arno u. Orian [Anm. 30], S. 25: »G8n8ralement parlant, tous les FranÅais qui seront aux isles songent / amasser du bien pour s’en retourner dans leur patrie.« dt. Übers.: Allgemein gesagt, alle Franzosen, die auf den Inseln sein werden, träumen davon, ein Vermögen anzuhäufen, um in ihr Vaterland zurückzukehren.« 105 PV [Anm. 14], S. 74; Ptudes [Anm. 37], S. 159. 106 PV [Anm. 14], S. 75; Ptudes [Anm. 37], S. 161: Songez-y bien. La fortune ne vient pas tous les jours. Consultez-vous. Tous les gens de bon sens seront de mon avis. 107 PV [Anm. 14], S. 77 u. 78; Ptudes [Anm. 37], S. 163.

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Erzähler fungiert, erfährt seine Glücksdefinition zwar besondere Legitimität, jedoch inszeniert er sie als in der Handlungssituation vorsichtig formulierte gelassene Ratschläge, die nichts gegen die blendende Vorspiegelung des in Frankreich zu erwartenden Reichtums (fortune) vermochten.108 Von außen wird Virginies unverhoffter Reichtum jedoch einmal mehr als wahrhaftiger Glücksfall interpretiert, wenn Handelstreibende das Refugium aufsuchen, sobald sie erfahren, dass das Glück […] diese Felsen heimgesucht habe. Der unverhofft zu Geld gekommenen und damit ›glücklichen‹ Virginie bieten sie ihre Waren – die reichsten indischen Stoffe und prächtige chinesische Seidenzeuge – an.109 Mit diesem Einbrechen eines globalen kapitalistischen Handels und seiner Gaben des Glücks,110 wie der Erzähler ironisch kommentiert, in die bis dato subsistent landwirtschaftende Kommune111 scheint dem Natur- und Tugendglück nachhaltig die Grundlage entzogen. In der Folge offenbart Marguerite ihrem Sohn zudem das Geheimnis der ungleichen Abkunft von Virginie und ihm selbst,112 wodurch dem fragilen Glück der Gleichheit der Gemeinschaft endgültig der Boden entzogen wird. Trotz einer leidenschaftlichen Anklage Pauls an Madame de la Tour und dem Versprechen, Virginie nicht nach Frankreich zu schicken, wird der Plan in Abwesenheit Pauls doch noch ausgeführt.113 Pauls Stimmung nach Virginies Abreise schwankt zwischen Wut und Traurigkeit. In einem Gespräch mit dem Erzähler, das dieser in direkter Rede wiedergibt,114 versucht Paul das Geschehene zu verstehen und reflektiert dabei seine eigene soziale Position, wenn er realisiert, dass er für Virginie als Ehepartner nur in Frage kommen kann, wenn er seine jetzige Situation arm, aber glücklich verändert: Ich habe Lust mich nach Frankreich einzuschiffen; dort will ich dem Könige dienen, werde mein Glück machen und die Großtante Virginien’s wird mir ihre Nichte zur Frau geben, wenn ich ein vornehmer Herr geworden bin, so malt 108 Ptudes [Anm. 37], S. 164: Je tiens pour principe certains [sic!] du bonheur, qu’il faut pr8f8rer les avantages de la nature / tous ceux de la fortune, et que nous ne devons point aller chercher hors de nous ce que nous pouvons trouver chez nous. […] Mais que pouvoient mes conseils de moderation contre les illusions d’une grande fortune […]. Vgl. die dt. Übersetzung PV [Anm. 14], S. 78: Ich betrachte als zuverlässige Grundsätze menschlicher Wohlfahrt, daß man den Vortheilen der Natur den Vorzug vor denen des Glücks gibt, und nicht auswärts suchen dürfe, was man daheim finden könne. […] Aber was vermochten meine gelassenen Ratschläge gegen die blendenden Vorspiegelungen eines großen Glücks […]. 109 PV [Anm. 14], S. 79–80; Ptudes [Anm. 37], S. 165–166. Vgl. dazu auch Peters [Anm. 13], S. 99. 110 PV [Anm. 14], S. 80–81; Ptudes [Anm. 37], S. 165–166. 111 Vgl. Prasad [Anm. 34], S. 24, hält dafür, dass diese Wirtschaftsweise am französischen Physiokratismus orientiert sei. Peters [Anm. 13], S. 95: Virginies pastorale Gesänge seien ein Protest gegen die kapitalistische Gesellschaft. 112 PV [Anm. 14], S. 82; Ptudes [Anm. 37], S. 167. 113 PV [Anm. 14], S. 90; Ptudes [Anm. 37], S. 175. 114 PV [Anm. 14], S. 112; Ptudes [Anm. 37], S. 199.

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sich Paul aus.115 Mit Virginies Abreise gewinnen die Vorstellungen vom Glück des Erfolgs und des Reichtums nun auch bei Paul die Oberhand. Denn die in der Ferne imaginierte Virginie scheint für ihn nur erreichbar, wenn er für sein Leben ein anderes Glück anstrebt als jenes der Natur und Tugend, das er auf der 6le de France gelebt hatte: Paul braucht das Glück von Erfolg und Reichtum, um in Europa etwas zu zählen und die ›adelige Europäerin‹ Virginie sowie das Glück ihrer Liebe116 für sich gewinnen zu können. Der alte Mann, aus dessen Erzählungen wir zuvor erfahren haben, dass er einst selbst auf der Suche nach dem Glück rastlos durch Europa, Amerika und Afrika gezogen sei, es schließlich aber nur in der Nähe zur Natur und zu deren Schöpfer auf der 6le de France habe finden können,117 reagiert auf Pauls Ansinnen, indem er ihm und den Lesenden vor Augen führt, wie ungleich die Möglichkeiten in Europa sein Glück zu machen, in Wirklichkeit verteilt seien. Denn für den Aufstieg zu hohen Aemtern oder die Aufnahme in eine angesehene Körperschaft sei vor allem die Herkunft entscheidend.118 Dass der Geringste dort alles werden könne, wie Paul die französische Gesellschaft idealhaft imaginiert, habe für Frankreich leider nur in einer kurzen Zeitspanne gegolten, so der Alte. Tatsächlich belegen sozialhistorische Studien, dass sich die Chancen für sozialen Aufstieg aus dem Bürgertum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verringerten.119 Die Kritik des Erzählers verweist dabei insbesondere auf Bernardins eigenen Lebensweg, war ihm, als einem Bürgerlichen, der Aufstieg im Militär doch verwehrt geblieben. Seinen Erzähler lässt er klagen, dass inzwischen alles in Frankreich käuflich sei und ein Aufstieg ohne Geburt – ob am Hof, im Staatsdienst oder in den Wissenschaften120 – nurmehr unter Preisgabe der eigenen Tugend und Rechtschaffenheit möglich sei.121 Um in Europa glücklich zu werden, müsse man sein Gewissen hintansetzen und die Wahrheit verachten, so das harte Fazit, mit dem das vorrevolutionäre Ancien R8gime als Raum der Verfolgung eines falschen Glücks kritisiert wird.122 Doch der alte Mann, der, wie die Lesenden wissen, das Glück des Ansehens 115 PV [Anm. 14], S. 113; Ptudes [Anm. 37], S. 199–200. 116 PV [Anm. 14], S. 117; Ptudes [Anm. 37], S. 204: Elle seule est ma naissance, ma gloire et ma fortune. 117 PV [Anm. 14], S. 104–106; Ptudes [Anm. 37], S. 190–193. Afrika wird in der deutschen Übersetzung nicht erwähnt. 118 PV [Anm. 14], S. 113; Ptudes [Anm. 37], S. 200. 119 Vgl. dazu Lucas [Anm. 20], S. 105: »In general terms, however, one can argue plausibly that as the eighteenth century progressed the capacity of these traditional channels [Militär, Hof und Verwaltung, MB] (largely established in the seventeenth century) for providing social fulfilment diminished.« 120 PV [Anm. 14], S. 117; Ptudes [Anm. 37], S. 204–205. 121 PV [Anm. 14], S. 113–114; Ptudes [Anm. 37], S. 200–201. 122 PV [Anm. 14], S. 116; Ptudes [Anm. 37], S. 202.

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und des Vermögens als ein ›erbärmliches‹ betrachtet, führt Paul vor Augen, dass seine geringe Abkunft ihm zwar den Weg zu fortune verschließt, sie ihm aber im Unterschied zu den Weltleuten (gens du monde)123 zugleich überhaupt ermöglicht, das wahre Glück von Natur und Tugend (bonheur) zu leben. Denn reines, wahres Glück winke nur demjenigen, der sich mit der Erfüllung der Pflichten des Standes begnüge, die die Vorsehung ihm angewiesen habe. Deutlich wird hier die Vielgestaltigkeit des vormodernen Standesbegriffs (frz. l’8tat), der nicht nur die soziale Platzierung meint, sondern so etwas wie kulturräumliche Verortung mitdenkt. Denn es ist die Kombination aus Pauls sozialer und seiner geographischen Herkunft, die, wenngleich nicht frei von europäisch-kolonialen Einflüssen, dennoch ein subsistentes Leben im Einklang mit Natur und Gott ermöglicht. Nur in einer solchen Position könne man darauf verzichten, für seinen Unterhalt zu schmeicheln oder sich demüthigen zu lassen, und in fortwährender Übung in der Tugend der vollkommenen Glückseligkeit des Jenseits entgegengehen.124 Das Glückskonzept des alten Mannes entspricht der zeitgenössisch vielfach thematisierten Tugendglückseligkeit, die vor allem im religiösen Diskurs propagiert wird,125 durchaus aber auch in den moralischen Schriften von Ökonomen wie Gottlob Heinrich Justi vertreten wird.126 Diese realisiert sich in der von Gott so wohlgestalteten Ständeordnung und erklärt das Streben nach sozialem Aufstieg qua ökonomischer Positionsverbesserung für hinderlich zur Erlangung eines irdischen Glücks, das fest mit der Aussicht eines höheren, ewigen Glückes verbunden ist. Die Hoffnung auf himmlisches Glück wird denn auch zur einzigen Zuflucht von Paul und Virginie und ihren Müttern. Denn der Roman endet tragisch: Virginie, die sich vom Unglück Europas befreit auf die Rückreise zur 6le de 123 PV [Anm. 14], S. 120; Ptudes [Anm. 37], S. 207. Im religiösen Diskurs der Frühen Neuzeit ist die Differenzierung in Weltkinder und Gotteskinder geläufig. 124 PV [Anm. 14], S. 116–117; Ptudes [Anm. 37], S. 203–204. 125 Vgl. als Beispiel aus den dezidiert religiösen Glückseligkeitslehren: Unterhaltungen zur Beförderung der häuslichen Glückseligkeit von Heinrich Matthias August Cramer Pastor an der Kirche St. Jakobi bey dem Kloster St. Wiperti zu Quedlinburg, Berlin 1781 bey Christian Friedrich Homburg, S. 649 sowie Sigaud de la Fond [Anm. 86], S. 27: bezogen auf die Wohltätigkeit (la bienfaisance) heißt es bspw. […] cette vertu l’ennoblit, & le rapproche, en quelque faÅon, de la Divinit8, toujours occup8e / combler l’homme de ses bienfaits.; Gérard [Anm. 86], S. 8: […] tous ces bien futiles qui d8gradent le plus souvent nitre .me au lieu de la perfectionner et de l’ennoblir, peuvent-ils servir en nous de fondement solide au contentement et / la f8licit8? 126 Vgl. Justi, Johann Heinrich Gottlob von: Beweiß, daß alle Menschen gleich glücklich sind. In: Moralische und Philosophische Schriften, Bd. 1. Berlin u. a.1760, S. 51–67, hier S. 64; s. auch den auf Justis Aufsatz basierenden Eintrag zu Glückseligkeit, in: Krünitz Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Land-, Haus- und Staats-Wirtschaft: in alphabetischer Ordnung Bd. 19. Berlin 1780, S. 223–232, hier S. 231. online: http://krue nitz1.uni-trier.de/ [Letzter Zugriff: 7. September 2016].

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France begibt,127 findet in einem schweren Unwetter unmittelbar vor ihrem Ziel bei einem Schiffbruch den Tod, weil sie sich aus Sittlichkeit weigert, ihre schweren Kleider auszuziehen und sich auf diese Weise retten zu lassen.128 Aus der Perspektive der diskutierten Semantiken des Glücks erscheint Virginies Tod aus einer Unmöglichkeit der Wiedererlangbarkeit des verlorenen irdischen Glücks zu resultieren. Wenn der alte Mann im Gespräch mit Paul mahnt, dass nur ein Schritt in Richtung des falschen fortune-Glücks ausreiche, um in die Katastrophe zu führen,129 scheint Virginies Schicksal angedeutet. Für sie kann es kein ›Zurück‹ zum irdischen Glück von Natur und Tugend mehr geben, weil sie sich bereits auf den zerstörerischen Pfad des Glücks von Reichtum und Ansehen begeben hatte. Mit ihrem Tod mündet das verlorene, zeitliche Glück, das sie die Seligkeit der Himmel bereits erahnen ließ, jedoch in einem ungetrübten, vollkommenen ewigen Glück, dessen sie im Jenseits teilhaftig wird.130 Statt Trost in diesen Gedanken zu finden, nimmt Paul jene zum Anlass, selbst den Tod zu suchen, um sich mit Virginie zu vereinigen.131 Nach Pauls nicht näher beschriebenem Tod, sterben auch Marguerite und selbst der treue Hund Fidel. Madame de la Tour findet Aufnahme bei dem alten Mann, bis auch sie nur einen Monat später verstarb. Auch Marie und Domingo, für die zunächst der Gouverneur sorgte, überlebten ihre Gebieterinnen nicht lange. Die reiche Großtante Madame de la Tours ereilt indes ein höchst unseliger Tod; sie stirbt unter furchtbarer Pein und Angst vor ihrem Ende, was der Erzähler als direkte Folge des von ihr verfolgten gottlosen Glücks des Reichtums darstellt. Dieses beschäftigte sie bis in die letzten Tage, ohne dass sie habe verhindern können, dass ihr Vermögen an ihr verhasste Verwandte übergeben wurde: Ihr Reichtum selber vollendete daher ihr Unglück, und wie er das Herz der bisherigen Besitzerin verhärtet hatte, ebenso verdarb er auch das Derjenigen, welche nach ihm verlangten.132

127 PV [Anm. 14], S. 132: Virginie schrieb ihrer Mutter, daß sie von Seiten ihrer Großtante viel Schlimmes erlebt habe, daß sie von ihr gegen ihren Willen verheiratet werden sollen, dann von ihr enterbt und endlich zu einer Zeit fortgeschickt worden sei, wo sie blos während der stürmischen Jahreszeit nach Ile-de-France kommen könne.; Ptudes [Anm. 37], S. 220. 128 PV [Anm. 14], S. 132 u. S. 141.; Ptudes [Anm. 37], S. 220 u. S. 231. 129 PV [Anm. 14], S. 156: ›Siehe wie ein Schritt nach dem Reichthum uns Alle von einem Abgrund in anderen gestürzt hat.‹; Ptudes [Anm. 37], S. 247: Voyez comme un pas vers la fortune nous / pr8cipit8s tous d’abyme en abyme. 130 PV [Anm. 14], S. 162; Ptudes [Anm. 37], S. 253: O Paul! i mon ami! Souviens-toi de ces jours de bonheur oF dHs le matin nous go0tions la volupt8 des cieux, se levant avec le soleil sur les pitons de ces rochers, et se r8pendant avec ses rayons au sein de nos forÞts. 131 PV [Anm. 14], S. 163; Ptudes [Anm. 37], S. 254. 132 PV [Anm. 14], S. 168; Ptudes [Anm. 37], S. 260.

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IV.

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Schlussbetrachtungen

Auf einer epistemisch-diskursiven Ebene fragt literaturwissenschaftliche Intersektionalitätsforschung danach, wie Figuren in literarischen Repräsentationen auf der Grundlage ihrer intersektionalen Positionierung ins Verhältnis zu historisch-spezifischen »Praxis/Diskurs-Formationen«133 gesetzt werden. In »Paul et Virginie«, so haben die vorangegangenen Analysen gezeigt, dient vor allem das im ausgehenden 18. Jahrhundert breit diskutierte und mit bestimmten Praktiken verknüpfte Konzept des Glücks, sprich des ›guten Lebens‹ und des Wohlergehens, zur Positionierung der Figuren. Im Sinne des Intersektionalitätsansatzes müssen diese Verortungen als Platzanweisungen in einem mehrdimensionalen Raum verstanden werden, in dem unterschiedliche Faktoren sozialer Differenzierung (hier : Stand, Geschlecht, Religion, Alter) wirksam werden. Indem sie definieren, welche Art von Glück für welche Figuren (bzw. Subjekte) als legitim gilt, erweisen sich Glückskonzepte in diesem Sinne förmlich als intersektionale Positionierungskonzepte. Prominent im Text diskutiert wird das Konzept vom ›sein Glück machen‹, definiert als Erfolg, Aufstieg und Erwerb von Reichtum sowie die damit verknüpften ökonomischen Praktiken. Fortune-Glück setzt ein europäisch-maskulin positioniertes Subjekt voraus, das aktiv handelnd sein innerweltliches Glück herausfordert, den Preis erringt und ihn im Hier und Jetzt zu genießen weiß. ›Frauen‹ können legitimerweise an diesem Glückskonzept einzig mittelbar – wie Madame de la Tour als Ehepartnerin eines fortune-Glück suchenden Mannes – teilhaben. In diesem ausschließenden Sinne wird etwa auch der eigenverantwortliche Aufbruch in die Kolonie, den Marguerite verfolgt, als reuiger Versuch, die eigenen Verfehlungen zu verstecken, nicht aber als legitimer ›Weg zum Glück‹ interpretiert. Im Ausschluss vom maskulinen fortune-Konzept – im Falle von Madame de la Tour nach dem Tod ihres Mannes – eröffnet sich jedoch ein Raum für die Verfolgung eines anderen Glücks: dem vom Erzähler als ›wahr‹ qualifiziertem Glück der Tugend (bonheur). Doch der Preis für die Realisierung des Tugendglückes eines zurückgezogenen, einfachen Lebens im Einklang mit der Natur, ist hoch. Zum einen zeigt das doppelbödig gestaltete Verhältnis zu den ›Sklaven‹ Domingo und Marie, dass das »Glück der Gleichheit« sich kaum je zur Gänze realisieren lässt. Vielmehr wird Glück hier – vermutlich entgegen der Darstellungsabsichten des Autors – als europäisches Privileg sichtbar, denn die qua race positionierten schwarzen Sklaven werden schon im Genuss eines nicht selbstbestimmten, abgeleiteten Glückes als bedürfnislos zufrieden inszeniert. 133 Vgl. zum Begriff Reckwitz, Andreas: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation. In: Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Hg. v. Kalthoff, Herbert u. a.. Frankfurt a. M. 2008, S. 188–209, S. 201.

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Zum anderen erfordert das Natur- und Tugendglück auf der Basis subsistenten Wirtschaftens ein Leben in (relativer) ökonomischer Armut. Dies bedeutet, dass – bei einer geringen Abkunft, wie im Falle Pauls – ein sozialer Aufstieg nicht begehrt werden darf, oder – wie im Falle Madame de la Tours – den Privilegien einer hohen Geburt entsagt werden muss. Eine Herausforderung, die für Madame de la Tour vor dem Hintergrund ihrer Sorgen um das zukünftige Lebensglück ihrer Tochter allmählich zur Zerreißprobe wird. Hierbei wird die mit Stand verquickte, aber nicht linear aus ihr hervorgehende ökonomische Lage zu einer zentralen Kategorie der Positionierung. Damit diskutiert der Roman einen zeitgenössisch zentralen diskursiven Konflikt: Denn die Verhältnisbestimmung zwischen den zeitgenössisch widerstreitenden Glückskonzepten von fortune und bonheur gehört zu den drängendsten Fragen des Jahrhunderts und der Gestaltung der zukünftigen europäischen Identität. Es macht den besonderen Reiz von »Paul et Virginie« aus, dass der Roman in der Aushandlung dieses Konflikts mehrere Lesarten zulässt. Denn er führt vor Augen, dass ökonomischer Wohlstand einerseits Voraussetzung und Basis von Natur- und Tugendglück sein muss, jedoch andererseits gleichzeitig fortwährend droht, dieses zu verunmöglichen. Bernardin erweist sich in dieser Deutung als weitaus radikaler als sein Mentor Rousseau. Während Rousseau vorführt, wie sich Emile sein irdisches Paradies auf der Grundlage der Abwesenheit jeglicher materiell-ökonomischer Sorgen bauen kann,134 diskutiert Bernardin in »Paul et Virginie« einerseits die Frage, wieviel ökonomischen Wohlstand das Tugendglück zu seiner praktischen Lebbarkeit braucht, und wieviel davon es andererseits ertragen kann, ohne Gefahr zu laufen, als eigentliches Glücksziel von Erfolg und Reichtum abgelöst zu werden. Glück allein aus Wohlstand und seiner noch verachtenswerteren Form des üppigen Reichtums zu ziehen, mache erbärmlich, so wird in der Figur der reichen Großtante aus Frankreich vorgeführt, der ein unseliges Ende beschieden ist. Allein auf Tugendglück in Armut zu setzen macht dagegen haltlos vor der Welt und ihren zweifelhaften Autoritäten, so lässt sich andererseits aus Pauls Schicksal ableiten. Und selbst die Verkörperung der Tugend Virginie muss erkennen, dass der tugendhafte Gehorsam, aus dem sie die Reise nach Frankreich angetreten hatte, ihr den Weg zurück zum einst gelebten Natur- und Tugendglück versperrt. Die Tragik von »Paul et Virginie« liegt darin, dass Bernardin die Figuren an der eigentlichen Herausforderung ihrer Zeit, nämlich einer gelungenen Inte134 Rousseau, Jean-Jacques: Emile oder Über die Erziehung. Hg. u. eingel. v. Rang, Martin. Stuttgart 2014, S. 837–839: Seht meinen Emile an, […] unbekümmert um Reichtum […], ohne Angst um das tägliche Brot, was auch immer es kosten möge. […] Ach, guter Emile, liebe und sei geliebt! Genieße lange Zeit bevor du besitzt; genieße Liebe und Unschuld zugleich; schaffe dir dein Paradies auf Erden während du auf das andere wartest […]. Vgl. Treml [Anm. 47], S. 803–804.

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gration von fortune und bonheur, gnadenlos scheitern lässt. Sicherlich ließe sich daraus schließen, dass Bernardin seinen Leser_innen die Unmöglichkeit wahren irdischen Glücks habe vorführen wollen. Wahrscheinlicher im Kontext des glücksversessenen 18. Jahrhundert ist jedoch, dass aus den Erzählungen vom Scheitern des irdischen Glücks, eine Aufforderung an das bürgerliche Lesepublikum ergeht, die Ambivalenzen der eigenen ›Wege zum Glück‹ zu be- und verarbeiten. Der literarische Text vermittelt somit Glückswissen als Wissen um die eigene Positionierung in der Welt.135

135 Für Lektüre und Diskussion des Textes danke ich herzlich Dr. Jenny Bauer, Simone Kördel, Babette Reicherdt und Dr. Susanne Schul.

Kommentar

Mechthild Bereswill

Komplexe Narrationen – geordnete gesellschaftliche Verhältnisse: Differenz und Ungleichheit aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive

Aus der Perspektive der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung sind Ungleichheitsrelationen im Geschlechterverhältnis fundamental für die Strukturierung der modernen Gesellschaft. Anders gesagt, ist die soziale Differenzierung moderner Gesellschaften ohne Bezug zur sozialen und symbolischen Ordnung der Geschlechter undenkbar. Das verdeutlicht beispielsweise ein Blick auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung, wenn etablierte Wissensordnungen und Tätigkeiten bis in die Gegenwart mit Zuschreibungen von Geschlechterdifferenz korrespondieren.1 Zugleich zeigt dieses Beispiel auch, dass Geschlecht eine relationale Kategorie ist, denn im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Arbeitsteilung greifen auch andere Dimensionen der Differenz und Ungleichheit wie Klasse, Ethnizität oder Alter. Wie diese Relationalität oder die Verflochtenheit von unterschiedlichen »Achsen der Ungleichheit«2 theoretisch erfasst und empirisch untersucht werden kann, darüber werden nicht erst seit Einführung des Konzepts ›Intersektionalität‹ intensive und kontroverse Debatten geführt.3 Meine folgenden Überlegungen zu den Beiträgen von Mareike Böth, Michael Mecklenburg und Susanne Schul stehen im Kontext dieser häufig auf Gegenwartsgesellschaften Bezug nehmenden theoretischen Kontroversen, wobei ich die Wirkung und Bedeutung von Geschlecht fokussiere, ohne von einer Masterkategorie auszugehen. Anders gesagt: Der Fokus meiner Überlegungen schärft sich an grund1 Vgl. Aulenbacher, Brigitte u. Wetterer, Angelika: Arbeit. Perspektiven und Diagnosen der Geschlechterforschung. Münster 2009. 2 Vgl. die Beiträge in Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Hg. v. Klinger, Cornelia u. a. Frankfurt a. M./New York 2007. 3 Vgl. Knapp, Gudrun-Axeli: Zur Bestimmung und Abgrenzung von ›Intersektionalität‹. Überlegungen zu Interferenzen von ›Geschlecht‹, ›Klasse‹ und anderen Kategorien. In: EWE 24 (2013), S. 341–354; Knapp Gudrun-Axeli: Traveling Theories: Anmerkungen zur neueren Diskussion über ›Race, Class and Gender‹. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 16,1 (2008), S. 88–110; Gümen, Sedef: Das Soziale des Geschlechts. Frauenforschung und die Kategorie ›Ethnizität‹. In: Das Argument 224 (1998), S. 187–202; Spelman, Elizabeth: Inessential Woman. Problems of Exclusion in Feminist Thought, Boston 1988.

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legenden Einsichten der Geschlechterforschung, von denen ausgehend Geschlecht eine mehrdimensionale, kontextgebundene Kategorie ist, deren Wirkung sich immer in Verschränkung mit anderen Dimensionen der Differenz und Hierarchie entfaltet. Intersektionalität fasse ich nicht als eine Theorie, sondern als ein sensibilisierendes Konzept,4 das theoretisch sensible Untersuchungen erlaubt, die »enge Setzungen vermeiden, auf den heuristischen Einsatz von Kategorien aber nicht verzichten können«.5 Das bedeutet, ich setze die strukturierende Wirkung von Geschlecht für Gesellschaft voraus und halte meinen Blick zugleich offen für konkrete Ausprägungen, mögliche Brechungen und unerwartete Konstellationen der Differenz und Hierarchie. Die strukturierende und ordnungsbildende Wirkmacht von Geschlecht wird auch in den drei mir vorliegenden Beiträgen greifbar. Beispielsweise, wenn Michael Mecklenburg die Institution Ehe in der Dichtung über Reinhart Fuchs analysiert und dabei zugleich verdeutlicht, dass die Geschlechterordnung in diesem Tierepos im Kontext der Verschränkung von Grenzziehungen und möglichen Grenzverschiebungen zwischen Tieren und Menschen und zwischen den Geschlechtern hervorgebracht wird. Dabei tritt die Bedeutung des Körpers als Ankerpunkt für Differenz, aber auch als Handlungsressource für und Gegenstand von affektiv geladenen Gewaltinteraktionen hervor. Das Wechselspiel von animalen und humanen Dimensionen gesellschaftlicher Ordnung wird auch von Susanne Schul thematisiert, die die Fragilität und Transformation einer als männlich konnotierten höfischen Geschlechteridentität im spätmittelalterlichen Epos »Wolfdietrich« nachzeichnet. Dabei geht auch sie der Bedeutung von Affekten, genauer von Emotionen als Ausdruck der sozialen Differenzierung nach. Dies korrespondiert mit der Bedeutung, die der gewaltaffine Heldenkörper für die Überschreitung der höfischen Ordnung und für den Ausschluss aus dieser Ordnung gewinnt. In der Untersuchung von Mareike Böth wird nachvollziehbar, wie die Geschlechterordnung der französischen Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts im dynamischen Wechselspiel von kolonialen Machtverhältnissen, Naturverhältnissen und Standesunterschieden hervorgebracht wird. Diese Konstellation wird in dem analysierten Roman »Paul et Virginie« als vergeschlechtlichte race relation repräsentiert. Standes- und Geschlechterordnungen korrespondieren hierbei mit verflochtenen Räumen (Frankreich und Mauritius) und territoriale Grenzüberschreitungen und Gewaltverhältnisse zwischen Kolonisierten und Kolonisator_innen bieten den potentiellen Raum für mögliche 4 Vgl. Bereswill, Mechthild: Komplexität steigern: Intersektionalität im Kontext von Geschlechterforschung. In: Intersektionalität und Forschungspraxis. Wechselseitige Herausforderungen. Hg. v. Bereswill, Mechthild u. a. Münster 2015, S. 211–230, hier bes. S. 227. 5 Bereswill [Anm. 4], S. 229.

Differenz und Ungleichheit aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive

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Neuordnungen der Standes- und Geschlechterordnung. Dies scheitert schließlich daran, dass angestammte Weiblichkeits- und Männlichkeitszuschreibungen der sich transformierenden adelig-bürgerlichen Gesellschaft mit konkurrierenden Entwürfen eines ›glücklichen Lebens‹ verknüpft sind. Was alle drei Aufsätze verbindet, ist die Analyse von literarischen Texten und die Perspektive, dass literarische Zeugnisse Gesellschaft nicht Eins zu Eins spiegeln, sich aber durchaus mit gesellschaftlichen Prozessen auseinandersetzen, diese reflektieren, re-interpretieren oder auch konterkarieren. Ebenso deutlich wird in allen drei Untersuchungen, dass Geschlechterordnungen ihre konkrete Bedeutung als Verwandtschaftslinien und Abstammungshierarchien gewinnen und Geschlecht immer zugleich auf Geschlechterdifferenz und auf weiter gefasste Genealogien, verbunden mit machtförmigen Allianzen, verweist. Dies wird im »Reinhart Fuchs« als genealogische Allianz von Fuchs und Wölf_innen jenseits von tatsächlicher Abstammung konstruiert, im »Wolfdietrich« sind Herkunft und die Mutter-Sohn-Beziehung die Dreh- und Angelpunkte der sozialen Positionierung und Paul und Virginie werden trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – ihres egalitär konstruierten Lebensentwurfs als ›Naturkinder‹ von ihren Herkunftsunterschieden eingeholt. In allen untersuchten Narrationen werden Ungleichheitsverhältnisse thematisiert, wobei Ungleichheit nicht in allen Fällen als soziale Ungleichheit, sondern auch als Unterschied bzw. Unterscheidung aufgefasst werden kann. Zunächst erzählen alle Texte bzw. die Aufsätze über diese Texte etwas über Differenz und Differenzierung, nicht nur im Hinblick auf Geschlechterdifferenz, sondern auch mit Bezug zu anderen Ungleichheiten. So verdeutlichen auch die skizzenhaften Überlegungen, die bisher zu den Aufsätzen formuliert wurden, dass der Fokus Geschlecht als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen eine von verschiedenen Möglichkeiten ist, eine intersektionale Perspektive einzunehmen. Genauso könnte auch nach der Differenzierung von Fremdem und Eigenem im Kontext von Tier-Mensch-Relationen und genealogischen Ordnungsmustern oder im Zusammenhang von kolonialen gesellschaftlichen Machtbeziehungen gefragt werden. Dabei würde aber, so meine These, die strukturierende Bedeutung von Geschlecht für diese Konstellationen immer noch deutlich hervortreten. Somit gehe ich mit den folgenden Überlegungen davon aus, dass Geschlechterverhältnisse und Geschlechterordnungen grundlegend für die Herausbildung von Gesellschaft sind, dies gilt auch für literarische Entwürfe, in denen symbolische und soziale Ordnungen verhandelt werden.

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Geschlechterverhältnisse Der Begriff ›Geschlechterverhältnis‹ fasst die Perspektive zusammen, dass das Geschlecht als eine tragende Säule für das soziale Gefüge von Gesellschaften analysiert werden kann.6 Aus diesem Blickwinkel ist Gesellschaft als Gesamtzusammenhang durch Geschlecht strukturiert und die soziale Verortung von Frauen und Männern ist zugleich eine Ungleichheitsordnung zuungunsten von Frauen. Ob dieser Blickwinkel, der auch für die Gegenwart umstritten ist, sich ohne Weiteres auf das hohe und späte Mittelalter beziehen lässt, ist mehr als fraglich. Gleichwohl verdeutlichen die Texte von Susanne Schul und Michael Mecklenburg, dass die von ihnen untersuchten Narrationen die Organisation sozialer Beziehungen maßgeblich auch als Organisation von Geschlechterverhältnissen erzählen. So regelt die Ehe als verrechtlichte Institution die expliziten Verhältnisse zwischen Frauen und Männern und die patriarchale Struktur dieses Verhältnisses wird im »Reinhart Fuchs« und von Michael Mecklenburg sowohl als Schutz- als auch als Gewaltverhältnis thematisiert. Wird Geschlecht als eine strukturierende Dimension aller gesellschaftlichen Beziehungen betrachtet, ist die Vergewaltigung der Wölfin Ausdruck männlicher Herrschaft – eine Lesart, die den Akt der sexualisierten Gewalt als männlich konnotierten Machtkonflikt im Geschlechterverhältnis und zwischen Männern in den Blick rückt. Für Wolfdietrich hält das Geschlechterverhältnis zunächst fraglos eine privilegierte Position in der höfischen Genealogie bereit. Diese Genealogie wird brüchig, weil er die höfische Ordnung und so die Stabilität der patrilinearen Machtlinie gefährdet. Wie im »Reinhart Fuchs« wird auch hier das Geschlechterverhältnis als ein doppelt relationales Machtgefüge7 thematisiert – zwischen verschiedenen männlichen und zwischen männlichen und weiblichen Positionen im sozialen Raum,8 die komplementär aufeinander bezogen sind. Zugleich wird der Mutter Wolfdietrichs eine handlungsmächtige Position allerdings auf der Hinterbühne des Geschehens zugeschrieben. Schließlich setzt sie mit der Entscheidung zur Taufe des Sohnes eine weitere Differenzierung seiner Zugehörigkeiten in Gang. In der Untersuchung von Mareike Böth wird das Geschlechterverhältnis der Kolonialgesellschaft thematisiert, indem die Geschichte von »Paul et Virginie«, genauer die sozialen Positionierungen ihrer Eltern eine stabile geschlechtsgebundene Standesordnung bestätigen. Diese Ordnung gerät ins Wanken und wird letztlich durch die komplementäre Konstruktion einer standesgemäßen Weib6 Vgl. Becker-Schmidt, Regina: Geschlechterdifferenz – Geschlechterverhältnis. Soziale Dimensionen des Begriffs »Geschlecht«. In: Zeitschrift für Frauenforschung 1/2 (1993), S. 37–46. 7 Vgl. Connell, Raewyn: Gender and Power. Cambridge/Mass. 1987. 8 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M. 2005.

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lichkeit und einer männlich konnotierten Version von erfolgsorientiertem Glücksstreben wiederaufgerichtet und gestützt. Das Geschlechterverhältnis erweist sich in dieser Narration als mehrdimensionales Ungleichheitsverhältnis – zwischen Frauen und Männern, zwischen Kolonisierten und Kolonisator_innen und zwischen hierarchisch angeordneten Genealogien. Zudem sind Geschlechterverhältnis und Naturverhältnis eng verwoben, was eine partielle Umdeutung der sozialen Verhältnisse in Gang setzt.

Geschlechterordnungen Aus einer wissenssoziologischen Perspektive auf die moderne Gesellschaft basieren Geschlechterordnungen auf expliziten wie impliziten tradierten Wissensformationen, die eine Differenz, die als natürlich vorhanden behauptet wird, immer neu hervorbringen und dadurch Hierarchien stützten.9 Entscheidend für diese Perspektive ist der Zusammenhang zwischen Wissen, Interaktion und der Institutionalisierung, also Verfestigung von Ordnungen. Ordnung wird aus diesem Blickwinkel durch soziale Interaktionen hervorgebracht und umgekehrt wird Interaktion durch Ordnung, genauer durch das Wissen um diese Ordnung, strukturiert. Werden die literatur- und kulturgeschichtlichen Untersuchungen von Böth, Mecklenburg und Schul aus dieser Perspektive gegengelesen, sensibilisiert dies den Blick für die Konstruktionsprozesse von Differenz in den literarischen Texten, aber auch in den wissenschaftlichen Zuschreibungen der Autor_innen. Damit verbunden ist die Frage, inwieweit Differenz – als Unterscheidung – mit Hierarchie als Bewertung bzw. als Auf- oder Abwertung verklammert ist. Mareike Böth arbeitet für »Paul et Virginie« heraus, wie konkurrierende Deutungsmuster (»kulturelle Semantiken«), was unter Glück gefasst werden kann, und Deutungsmuster10 der Geschlechterbeziehungen ineinandergreifen. So 9 Vgl. Gildemeister, Regine u. Wetterer, Angelika: Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zwei-Geschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung. In: TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie. Hg. v. Knapp, Gudrun-Axeli. Freiburg i. Br. 1993, S. 201–254; Bereswill, Mechthild: Geschlecht. In: Handbuch Soziologie. Hg. v. Bauer, Nina u. a. Wiesbaden 2008, S. 97–116. 10 Deutungsmuster werden in Anlehnung an die Wissenssoziologische Diskursanalyse auf der Ebene des gesellschaftlichen Wissensvorrates verortet und als kollektive kulturelle Konstrukte aufgefasst. Vgl. Keller, Reiner : Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden 20082 ; Keller, Reiner: Wissenssoziologische Diskursforschung und Deutungsmusteranalyse. In: Wissen – Methode – Geschlecht: Erfassen des fraglos Gegebenen. Hg. v. Behnke, Cornelia u. a. Wiesbaden 2014, S. 143–159, hier bes. S. 149 u. S. 156: »Diskurse verknüpfen verschiedene Deutungsmuster zu spezifischen Deutungsarrangements«.

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verdichtet sich in letzter Konsequenz die Narration des Scheiterns einer vermeintlich egalitär strukturierten Existenz in der Natur entlang von Ordnungsmustern, die eine nach Erfolg strebende und ökonomisch potente Männlichkeit und eine tugendhafte, gebildete und abhängige Weiblichkeit voraussetzen. So scheint sich die Geschlechterordnung zunächst zu transformieren, indem der koloniale Raum zum Freiraum für die Kolonialherr_innen wird, gleichwohl dies ihr Verhältnis zu den Sklav_innen nicht grundlegend berührt und deren Lebensentwürfe sich nicht grundlegend transformieren. Diese Deutung einer ›exotistischen‹11 neuen sozialen Ordnung wird jedoch überschrieben von einer wirkmächtigeren Deutung, die Bildung, Wohlstand und die Akkumulation von Kapital in den Vordergrund treten lässt. So verschränken sich verschiedene Deutungsmuster der Differenz abschließend zu einer Narration, die den idealisierten Entwurf des Glücks in der Natur als gescheiterte und der Vergangenheit anheimfallende Utopie verklärt und die Durchsetzung einer rationalen (bürgerlichen) Männlichkeit, die Glück mit wirtschaftlichem Erfolg gleichsetzt, als unvermeidlich erscheinen lässt. Weiter nachzugehen wäre der Frage, inwieweit diese Narration ihre spezifische Wirkung durch die Beziehung zwischen Sklav_innen und Herr_innen erfährt. Ermöglicht nicht erst diese fundamental ungleiche Beziehung den Entwurf einer anderen Ordnung auf dem Weg zum Glück? Wird die in Bewegung geratene soziale Ordnung durch die hierarchische Relation zwischen Kolonisator_innen und Kolonisierten gestützt und damit weniger gefährdet? Diese Fragen verweisen auf die impliziten Gehalte von Deutungsmustern der Differenz, die noch weiter ausgeschöpft werden könnten. Die Analyse des »Wolfdietrich«, die Susanne Schul vorlegt, verdeutlicht ebenfalls, dass eine Ordnung in Bewegung gerät und sich zu transformieren beginnt. Hier fällt zunächst auf, dass Religion maßgeblich dazu beiträgt, die soziale Ordnung ins Wanken zu bringen. Die heimliche Taufe des Wolfdietrich öffnet eine Hinterbühne, auf der dessen Genealogie anders erzählt wird als auf der Vorderbühne der höfischen Gesellschaft. So entstehen changierende Deutungsmuster einer höfischen Männlichkeit-im-Werden, die ihre Konturen durch Grenzüberschreitungen und Grenzerfahrungen gewinnt. Dieses Existieren an der Grenze wird in vielfacher Hinsicht thematisiert: als unangemessene Gewaltaffinität, als Durchquerung der Wildnis und Melancholie, als narrative Selbstvergewisserung und als prekäre und umkämpfte Genealogie. Deutungsmuster von Geschlechterdifferenz verschränken sich dabei mit Deutungsmustern zu animalischen und menschlichen Dimensionen der Existenz von Wolfdietrich. Dessen Überleben hängt maßgeblich von den Interventionen seiner Mutter ab – eine Konstellation, die Susanne Schul wiederholt als Ausdruck von 11 Zur Bedeutung von Exotimus vgl. Bereswill, Mechthild u. Ehlert, Gudrun: Alleinreisende Frauen zwischen Selbst- und Welterfahrung. Königstein i. T. 1996.

Differenz und Ungleichheit aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive

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Mutterliebe deutet. Dieses Motiv erscheint auch schlüssig, gleichwohl würde es sich lohnen, die Mutter-Sohn-Beziehung auch anders zu lesen: als machtvolles Bündnis der Stabilisierung von Männlichkeit oder als Ausdruck einer möglicherweise sich auf der Hinterbühne der höfischen Gesellschaft vollziehenden Transformation von Geschlechterordnungen, die nicht unbedingt an Liebe geknüpft sein müssen. Nach der Stabilität und der Transformation von Geschlechterordnungen fragt Michael Mecklenburg implizit, wenn er die Geschlechterbeziehungen im »Reinhart Fuchs« in den Fokus rückt. So arbeitet er heraus, dass die Geschlechterbeziehungen der Tiere die der Menschen teilweise spiegeln und teilweise unterlaufen (wie dies die Menschen ebenfalls tun). Bemerkenswert ist auch in diesem Beispiel die Bedeutung, die Gewalt für die soziale Ordnung der Menschen erfährt: Frauen drohen ihren Männern Gewalt an oder schlagen sie, wenn diese die Ordnung durch ihr Handeln zu gefährden drohen. Der Körper des Wolfes wird in einer Weise degradiert, die explizit wie implizit auf den Verlust einer männlich konnotierten sexuellen Potenz verweist. Zugleich wird der Körper der Wölfin geschändet, gleichwohl sie dem Fuchs an Körperkräften überlegen ist. Schließlich verdichtet sich das Deutungsmuster des zunehmend aus der sozialen Ordnung herausfallenden Fuchses im Deutungsmuster seiner selbstverliebten Spiegelung im Brunnen – er ist nicht in der Lage, sich von seiner Frau zu unterscheiden. Diese Konstellation liest Michael Mecklenburg als Ausdruck einer sich verflüchtigenden Differenz – Geschlechterdifferenz existiert demnach nur noch in der Imagination. Eine solche Dekonstruktion der Differenzachse Geschlecht provoziert eine konkurrierende Lesart und anders gelagerte Antwort auf die Frage, was hier mit der Geschlechterordnung geschieht. Kann der Fuchs sich möglicherweise deshalb selbst bespiegeln, weil er keine Notwendigkeit sieht, sich selbst als different zu erleben? Vereinnahmt er den Körper seiner Frau, indem er sich für deren Ebenbild hält? Gelingt es ihm auf diese Weise, seine eigene Begrenztheit zu verleugnen und sich als unverwundbar zu phantasieren? Insbesondere die letzte Frage verweist auf die Bedeutung, die Vulnerabilität für die Narration von Differenz möglicherweise hat. Wie auch immer, die Ordnung der Paare, die Mecklenburg anhand des Tierepos rekonstruiert, ist keine konsistente Ordnung, die einfachen Modellen der Geschlechterhierarchie folgt. Bemerkenswert ist, welche Rolle dabei Deutungsmuster des Körpers spielen: Die These, dass der Körper der Wölfe und Füchse sich nicht so leicht als geschlechterdifferent lesen lässt, der Körper der Hühner und Hähne aber schon, wäre noch weiter am Text selbst zu diskutieren. Ebenso stellt sich die Frage, wie Emotionen und Emotionshandeln im Kontext einer für Intersektionalität sensibilisierten Forschung weiter erschlossen werden können.

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Mechthild Bereswill

Ausblick Alle drei Beiträge veranschaulichen die Komplexität und die Dynamik von Ungleichheitsordnungen. Zugleich wird deutlich, dass literarische Narrationen solche Dynamiken thematisieren und diese zugleich gestalten und umgestalten. Dies kann sowohl subversiv geschehen, so dass gültige Ordnungen unterlaufen werden, als auch in einer Weise, die die Ordnung abfedert und stützt. Die untersuchten literarischen Quellen belegen, dass es sich nicht um eine entwederoder-Konstellation handelt. Vielmehr kann die gleiche Tier-Erzählung die sozialen Beziehungen der Menschen und ihren Umgang mit Ungleichheiten sowohl irritieren als auch affirmieren. Dies gilt auch für ein Heldenepos, in dessen Narration der Held zunächst in eine Krise gerät, seine Identität sich transformiert und er sich schließlich zur Position des Garanten von Ordnung durcharbeitet. Auch die Vorstellung eines glücklichen Lebens jenseits von sozialen Schranken ist eine trügerische Phantasie, die Bedeutung von race relations für diesen Lebensentwurf ebenso ausblendet wie die langfristige Wirkmacht von Standesunterschieden und Geschlechterordnungen. Die Analysen von Mareike Böth, Michael Mecklenburg und Susanne Schul legen entsprechend widersprüchliche Konstellationen frei, in denen Differenz und Ungleichheit verhandelt und gedeutet werden. Die literarischen Entwürfe, die in den drei Beiträgen untersucht werden, korrespondieren mit gesellschaftlichen Deutungsmustern und gehen zugleich nicht in diesen auf. Das bedeutet, dass die Krise, die Wolfdietrich bewältigen muss, nicht unmittelbar auf die Struktureigentümlichkeit von gesellschaftlichen Bewährungsproben und sozialen Positionierungen schließen lässt. Dies gilt ebenso für die Paarordnungen im Reinhart Fuchs und für die Exotisierung des Kolonialen. Gleichwohl gewähren die Analysen uns Einblick in diskursive Konstellationen der Differenz und Ungleichheit, die im Vergleich mit unseren Gegenwartsdiskursen fremd und bekannt zugleich erscheinen. Vor diesem Hintergrund lohnt sich der Dialog zwischen Gesellschafts- und Kulturwissenschaften ganz besonders, indem er Geschichte und Gegenwart auch auf der Ebene der wissenschaftlichen Begriffsbildung und Fragestellungen in eine produktive wechselseitige Anregungsbeziehung bringt. Dies ist nicht ohne wechselseitige Irritationen denkbar, die im besten Fall neue Fragen und neue Konzepte hervorbringen.

Autor_innen

Lorenz Becker, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Ältere deutsche Literatur und Sprache am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin, Forschungsschwerpunkte: Mittelalterliche Novellistik, Körper- und Subjekttheorie, Literatur und Diskursanalyse, Parodie und Literatur. Dr. Amelie Bendheim, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität der Universität Luxemburg, Forschungsschwerpunkte: (Historische) Narratologie und Poetik, Höfische Epik des Mittelalters, Mediävistik in der Schule, Interkulturelle Mediävistik. Prof. Dr. Mechthild Bereswill, seit 2007 Professorin für Soziologie sozialer Differenzierung und Soziokultur am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre: Soziologie und Sozialpsychologie der Geschlechterverhältnisse, feministische Theorien, soziale Ungleichheit, soziale Probleme und soziale Kontrolle, qualitative Methodologien. Dr. Mareike Böth, M.A., Wissenschaftliche Assistentin im Fachgebiet Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Kassel, Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Subjektivierungsweisen, Geschlechtergeschichte, Körper- und Emotionengeschichte, Theorien- und Methoden der Geschichtswissenschaften (Subjekt- und Diskurstheorien, Intersektionalität, Historische Praxeologie). Johanna Kahlmeyer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Germanistische Mediävistik an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Antikenrezeption, Emotionsforschung und Didaktik der älteren Sprache und Literatur.

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Autor_innen

Prof. Dr. Michael Mecklenburg, Leiter des Fachgebiets Germanistische Mediävistik an der Universität Kassel, Forschungsschwerpunkte: Heldendichtung, Romane der Frühen Neuzeit, Emotionalitätsgeschichte, Geschlechtergeschichte, Narratologie, Human Animal Studies. Marie-Luise Musiol, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters an der Universität Paderborn, Forschungsschwerpunkte: mittelalterliche Versnovellistik, Gender und Queer Studies, historische Intersektionalitätsforschung. Nicola Neußel-Fischer, M.A., Magisterstudium der Deutschen Philologie, Masterstudium Germanistische Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Germanistische Mediävistik an der Universität Kassel. Teilnahme am Studienprogramm der IAG Frauen- und Geschlechterforschung. Dominik Schuh, Mitarbeiter im Projekt »Akademische Integrität« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Forschungsschwerpunkte: Geschlechtergeschichte, Geschichte des Rittertums, Vermittlung wissenschaftlicher Arbeitstechniken (Didaktik). Dr. Susanne Schul, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Germanistische Mediävistik. Sie forscht derzeit im interdisziplinären LOEWE-Schwerpunkt »Tier – Mensch – Gesellschaft« der Universität Kassel zu dem Thema »Humanimale Ästhetik«. Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Emotionalitäts- und Intersektionalitätsforschung, Cultural Animal Studies, Medienkomparatistik und Narratologie mit Bezug auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur und deren neuzeitlicher Rezeption. Peter Somogyi, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn, Forschungsschwerpunkte: Legendarische Literatur, Geschlechter- und Intersektionalitätsforschung, Höfische Romane des 12. und 13. Jahrhunderts, Diskurstheorien, Kulturgeschichte des Rittertums. Dr. Silke Winst, Lehrkraft für besondere Aufgaben, Germanistische Mediävistik, Georg-August-Universität Göttingen, Forschungsschwerpunkte: Konzeptionen von Männlichkeit und Weiblichkeit, historische Beziehungskulturen, Beziehungen zwischen Wissen und Literatur, Editionsphilologie, Mittelalterrezeption, Tiere in mittelalterlicher Literatur.