Abendländische Erziehungsweisheit: Eine Hilfe für die Not der Gegenwart 9783110856774, 9783110053227

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Abendländische Erziehungsweisheit: Eine Hilfe für die Not der Gegenwart
 9783110856774, 9783110053227

Table of contents :
Vorwort
Zur Einführung
Martin Luther (1483—1546): Die Familie eine Schöpfungsordnung Gottes
Johann Amos Comenius (1592—1670): Mutterschoß-Schule die Grundlage des Menschenbildungsplans
John Locke (1632—1704): Erziehung der Jugend zur Lebenstüchtigkeit
François de Fénelon (1651—1715): Töchtererziehung ein Lebensdienst
August Hermann Francke (1663—1727): Des Kindes Bürgerrecht im Himmel und auf Erden
Jean Jacques Rousseau (1713—1778): Des Kindes Menschenrecht auf eine eigne Lebensstufe
Jean Paul (Friedrich Richter) (1763—1825): Im Eigenland der Kindesseele
Johann Heinrich Pestalozzi (1746—1827): Die „Wohnstubenkraft“ ein Strahlungszentrum in Welt und Herz
Johann Wolf gang Goethe (1749—1832): „Der komplette Mensch“
Friedrich Fröbel (1782—1852): „Mutter und Kind“ — das Frauenleben ein Menschheitsdienst
Charles Dickens (1812—1870): Das Kind der Herzpunkt sozialer Gesinnung
Fedor Michailowitsch Dostojewski (1818—1881): „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder
Johann Hinrich Wiehern (1808—1881): Erziehung durch das Leben für ein richtiges Leben
Don Giovanni Bosco (1815—1888): Herz und Hand der gefährdeten Jugend!
Leo Tolstoi (1828—1910) und Ellen Key (1841—1926): Der Erziehungsbegriff in extremistischer Kritik: Verkehrung und — Aufhebung
Jan Lighthart (1859—1916): Freiheit und Wahrheit die Miterzieher zum „vollen (einfachen) Leben“
Maria Montessori (1870—1952): „Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter“
Friedrich Wilhelm Foerster (geb. 1869): Charakterbildung auf der Grundlage des wachen Gewissens
Eduard Spranger (geb. 1882): Der Weg zur persönlichen Daseinsgestaltung
Gerhard Pfahler (geb. 1897): Das Elternamt in der Sicht der Tiefenseelenkunde
Personenregister
Wort- und Sachregister

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EBERHARD, ABENDLÄNDISCHE ERZIEHUNGSWEISHEIT

ABENDLÄNDISCHE ERZIEHUNGSWEISHEIT EINE HILFE FÜR DIE NOT DER GEGENWART VON

OTTO E B E R H A R D

"WALTER DE G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG / J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG / GEORG REIMER I KARL J. TRÜBNER / VEIT & COMP. BERLIN 1958

© Copyright 1958 by Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 Printed io Germany Archiv-Nr. 42 60 56 Alle Κ echte« einschließlich des Rechtes der Herstellung τοη Fotokopien und Mikrofilmen, vorbehalten Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin SW 61

MEINER ALTERSWIRKSTÄTTE DER GEORG-HERWE GH-SCHULE, GYMNASIUM, IN BERLIN-HERMSDORF UND IHRER ELTERNSCHAFT ZUM GRUSSE

VORWORT Erziehung ist eine Grunderscheinung des Menschlichen und als solche ein ewiges Thema der Menschengeschichte. Sie ist überall mit Notwendigkeit gegeben, wo sich menschliches Leben entfaltet, und geht zeitlos in dem Doppelsinn von Aufzucht und Einlebung durch das Brauchtum und die Sitte der Kulturvölker wie der Primitiven hindurch, dort auf der Grundlage der Familie als des engsten und innerlichsten Lebensbezirkes, hier mehr in der Form sinnträchtiger Stammesbräuche. Erziehung als Aufgabe des Hauses zieht sich lebenslang wie ein roter Faden auch durch mein Denken und Schreiben, das berufsmäßig die Schulwerkstatt und ihre Jugend zum Gegenstande hatte. Vor rund vierzig Jahren erschien im Bereich des „Christlichen Vereins im nördlichen Deutschland" ein schmales Büchlein „Elternspiegel". Es weitete sich in der Hitlerzeit aus zu dem „Buch der Eltern" und bot sich jener verwirrenden Zeit als ein „Führer durch die Erziehungsfragen und Entwicklungsnöte in der Gegenwart" an (Stuttgart, 2. Aufl. 1937). Und nun, da wir über den eigenen Kirchturm hinausschauen und in kontinentalem Ausmaß denken gelernt haben, hat sich der letzte Abschnitt dieser Elternlehre ausgewachsen zu einer Umschau über das Vermächtnis, das die großen Menschheitserzieher seit der Reformation dem Abendlande geschenkt und einer aus den Fugen geratenen und auch im Innersten der Menschheitsbezüge unsicher gewordenen Welt gleichsam stellvertretend — tiefgegründet, stützkräftig, richtungweisend — hinterlassen haben. Mit diesem Abschluß meines Schrifttums rundet sich audi der Bereich weltweiter Elternpädagogik. Es geht hier um Erziehungsweisbeit als eine in sich ruhende Substanz, nicht um Erziehungsw¿5se«5c£a/f als ein bewegliches Substrat. Die Wissenschaft setzt Teilziele, wechselt die Methoden, bearbeitet Ausschnitte aus dem Leben der jeweils formenden Kultur. Die Weisheit steht mit ihrer inneren Konstanz über dem Ganzen, sie leuchtet wie die Sonne in die Lebensvorgänge, wie das Ordnungsprinzip in die Seinsund Sollenszusammenhänge hinein. Sie ermangelt nicht des Wissens und des Tuns, aber sie verwaltet das Wissen aus dem Gewissen, und sie wird dem Tun in Wahrnehmung des „fruchtbaren Moments" kräftig gerecht. Die Weisheit ist aus dem Glauben an die Würde des Menschen geboren und hat an den Maßstäben von Freiheit und Zucht, VerinnerVII

lidiung und Verantwortlichkeit ihr Gesetz. Sie umspannt, von oben erleuchtet, Kleines und Großes und ist, wenn wir's redit verstehen, wegweisende Kraft in dem Zusammenleben der Völker und vorsorgende Liebe in dem täglichen Umgang der Menschen. Diese Erziehungsweisheh findet ihre Ursprungsstätte, um nicht zu sagen ihr Urerlebnis, aber auch ihre unmittelbare Auswirkung in der Familie, die ja nicht nur der erste Raum der Erziehung, sondern audi Zelle aller weltlichen Großordnung und Urquell menschlich-gesellschaftlicher Gemeinschaft ist. Was hier an Ahnenerbe und Gegenwartserkenntnis aus dem abendländischen Kulturkreis aufgespeichert ist und an klassischen Zeugnissen dokumentarisch vorliegt, ist an Hand der Quellen in dieser Galerie führender Erzieher zusammengefaßt worden. Mit besonderer Liebe und eindringender Sorgfalt habe ich das Sachregister bearbeitet, das durch Differenzierung der Erziehungsfragen ins kleine und feine wie durch überprüfende Begriffe und Sammelartikel sich nach zwei Seiten hin ausweist: hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit hofft es, den Ansprüchen auf zuverlässige Sachlichkeit zu genügen (sozusagen ein Kompendium der Erziehungskunde im kleinsten), und für die Brauchbarkeit im Alltag (als Nachschlagewerk) strebt es, die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken. Die Durchdringung des hier in Stichworten vorgelegten Materials auf dem Wege der vergleichenden Methode und an der Hand der umfassenden Personenliste bekundet, daß der Text ein hohes Ideal christlicher Humanität verwirklicht: die Einheit im Notwendigen, die Freiheit und Vielfalt in den Mitteldingen und Ermessensfragen, aber in allem und um alles schlingt sich als Band der Vollkommenheit die Liebe. „Wie erziehe ich mein Kind?", diese Frage brennt in den Herzen verantwortungsbewußter Erzieher und Eltern. Aber noch brennender ist die andere Frage, die dieser voraufgehen muß und sie überschiditet: „Wie erziehe ich mich selbst?" Eine Stimme aus dem Chor der Lebensdeuter und Erziehungsweisen gibt die sorgende Meinung wieder: Man könnt' erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogen wären. (Goethe) Hohen Neuendorf b. Berlin, im Dezember 1957 D. Otto Eberhard

VIII

INHALTSÜBERSICHT Seite Vorwort

VII

Zur Einführung

1

Martin Luther (1483—1546): Die Familie eine Schöpfungsordnung Gottes

4

Johann Amos Comenius (1592—1670): Mutterschoß-Schule die Grundlage des Menschenbildungsplans . . . .

14

John Locke (1632—1704): Erziehung der Jugend zur Lebenstüchtigkeit

23

François de Fínálon (1651—1715): Töchtererziehung ein Lebensdienst

32

August Hermann Francke (1663—1727): Des Kindes Bürgerrecht im Himmel und auf Erden

40

Jean Jacques Rousseau (1713—1778): Des Kindes Menschenrecht auf eine eigne Lebensstufe

46

Jean Paul (Friedrich Richter) (1763—1825): Im Eigenland der Kindesseele

54

Johann Heinrich Pestalozzi (1746—1827): Die „Wohnstubenkraft" ein Strahlungszentrum in Welt und Herz

65

Johann Wolf gang Goethe (1749—1832): „Der komplette Mensch"

77

Friedrich Fröbel (1782—1852): „Mutter und Kind" — das Frauenleben ein Menschheitsdienst . . . .

88

Charles Diekens (1812—1870): Das Kind der Herzpunkt sozialer Gesinnung

98

Fedor Michailowitsch Dostojewski (1818—1881): „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder . . . "

107

Johann Hinrich Wichern (1808—1881): Erziehung durch das Leben für ein richtiges Leben

120

Don Giovanni Bosco (1815—1888): Herz und Hand der gefährdeten Jugend!

127

IX

Seite Leo Tolstoi (1828—1910) und Ellen Key (1841—1926): Der Erziehungsbegriff in extremistischer Kritik: Verkehrung und — Aufhebung 134 Jan Lighthart (1859—1916): Freiheit und Wahrheit die Miterzieher zum „vollen (einfachen) Leben" 145 Maria Montessori (1870—1952): „Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter" Friedrich Wilhelm Foerster (geb. 1869): Charakterbildung auf der Grundlage des wachen Gewissens

154 165

Eduard Spranger (geb. 1882): Der Weg zur persönlichen Daseinsgestaltung

180

Gerhard Pfahler (geb. 1897): Das Elternamt in der Sicht der Tiefenseelenkunde

190

Personenregister

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W o r t - und Sachregister

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ZUR E I N F Ü H R U N G Die Familie ist in Gefahr! Es ist gewiß nicht nötig, diese Feststellung heute noch eigens zu bekräftigen oder gar zu beweisen. Die Kriegs- und Nachkriegserlebnisse und die in ihnen entstandenen Erschütterungen und Umschichtungen belasten die Familie so stark, daß ihr Bestand gefährdet ist: man denke nur an die Flüchtlingsschicksale der Gegenwart, an die unzähligen Familien, in denen der Vater fehlt, in denen die Mutter zur Berufsarbeit genötigt ist. Uber diese im individuellen (wenn auch noch so oft wiederkehrenden) Einzelschicksal begründeten Fälle hinaus scheint die Familie in einem noch viel durchgreifenderen und allgemeineren Sinne bedroht. Man könnte sagen, daß es der Mangel an Raum und Zeit sei, der die innerste Substanz der Familie in Frage stellt, praktisch gesehen: Die Wohnungsnot und die Arbeitsüberlastung lassen ein wirkliches Familien leben mit seinen personalen Bindungen und seinen geistig-seelischen Gehalten heute weithin gar nicht aufkommen. Mit der Familie scheint aber das letzte Zentrum menschlicher Sicherheit der Zerstörung anheimgegeben, so daß das Problem der Familie zum Problem des Menschen überhaupt wird und von seiner Lösung oder Nicht-Lösung die Entwicklung der abendländischen Kultur wesentlich abhängen wird. Die Familie besteht! Gerade die Untersuchungen der letzten zwölf Jahre, an denen der Hamburger Soziologe Helmut Schelsky besonders verdienstvoll beteiligt ist, haben die Stabilität der Familie erweisen können, ja sie konnten sogar innerhalb der Bedrohung aller sozialen Gebilde eine neue Art des Zusammenhalts unter den Familienmitgliedern, ein gesteigertes Zusammengehörigkeitsgefühl feststellen. Auch das gilt wieder nicht nur für die durch die Nachkriegssituation in besonderer Weise Betroffenen, sondern darüber hinaus in einem ganz allgemeinen Sinne. Drude und Not der Zeit schaffen eine familiäre Solidarität. Die Familie besteht auch im Umbruch der Gesellschaft; sie hat ihre Krise bereits überwunden, urteilte in diesen Tagen der Münsterer Soziologieprofessor Hans F rey er. Aber: sie steht nicht fest genug! Das beobachtete Zusammenrücken der Familienglieder ist weithin durch die Notwendigkeiten des Existenzkampfes bedingt, der sich gemeinsam besser führen läßt. Angesichts der Arbeitsüberlastung aller Mitglieder 1 Eberhard, Erziehungsweisheit

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werden die Beziehungen von Mensdi zu Mensch, die das unveräußerliche Herzstück alles echten Familienlebens sind, versachlicht. An die Stelle der Lebensgemeinschaft, in der Mann und Frau, Eltern und Kinder gliedhaft aneinander gebunden sind und erziehend aufeinander wirken, tritt die bloße Wirtschaftseinheit. Die Verinnerlidiung mit ihrer Pflege der vitalen Gemütswerte wird abgelöst durch einen Vorgang, den Sdielsky als „Entinnerlichung" bezeichnet hat, durch den letzten Endes der Bereich materieller Nützlichkeit in den Vordergrund gerückt ist und zum Maßstab des Familienlebens wird. Die wissenschaftliche Soziologie muß bei der objektiven Feststellung dieses Tatbestandes stehen bleiben; dahinter aber erhebt sidi die menschliche Frage und Forderung, die jeden angeht: die Familie steht nodi, aber sie steht nicht fest genug. Diese Forderung ist aber in erster Linie eine pädagogische Forderung und die Frage, wie wir meinen, nicht zuletzt eine religiöse Frage. Wie denn auch Sdielsky (Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, 19553), gelegentlich auf die Minderung des religiösen Lebens im Schöße der Familie als auf einen typischen Vorgang der Entinnerlichung hinweist. (Kann man hier überhaupt noch vom „Schoß" der Familie sprechen, da dodi das in dem Bilde enthaltene Wärmende, Bergende, Mütterliche fehlt?) — Die Familie ist in einem Wandel begriffen, durch den nicht nur ihr religiöses Leben, sondern ihr ganzes Gefüge, das personale Ordnungsgefüge von Vater, Mutter, Kind (Zuordnung, Einordnung, Unterordnung) in den Zusammenbruch gesellschaftlicher Ordnungen hineingezogen ist, worüber die äußere Stabilisierung der Familie als Solidaritätsfunktion nicht hinwegtäuschen sollte. Das Urbild der Familie verblaßt, ihre Idee, die ein gottgewolltes Geheimnis ist und deren Bau- und Heilkraft Leitlinie und Medium aller gesellschaftlichen Strukturen im weiteren Sinn sein muß, geht verloren. Was bleibt, ist eine Form, der das Leben fehlt; es fehlen die Liebe und der gegenseitige Dienst, es fehlt die gegenseitige Hilfe in der Bemühung um ein gemeinsames Ziel, in dem die Gemeinschaft gipfelt und das in dem Willen Gottes begründet ist. An diesem innersten Punkte muß die Hilfe ansetzen, wenn aus der Solidarität Gemeinschaft, aus der Stabilisierung Verinnerlidiung und echte Lebenseinigung werden soll, wenn die Frage gelöst werden soll, die mit tiefster Berechtigung als eine Lebensfrage des abendländischen Menschen, vielleicht der Menschheit überhaupt, bezeichnet werden kann. Und hier bietet sich als eine der Hilfen zur Erneuerung die in den letzten Tiefen gründende und durdi die Jahrhunderte bewährte Erziehungsweisheit unserer Väter und Vorväter an. In dem Vermächtnis ihrer Lebenslehre ist ein Reichtum echter Erfahrung beschlossen, den f

es zu nutzen gilt, will man vermeiden, daß jede Generation gewissermaßen von vorn anfängt und die Fehler vergangener Geschlechter wiederholt, aber dann, wenn sie endlich aus ihren Fehlern und Versuchen gelernt hat und am Erziehungswerk gereift ist, überaltert vom Schauplatz der Erziehung abtritt. „Reif sein ist alles" — dies Wort aus dem Hamlet, das für alle Kultur wegweisend ist, gilt auch für die Erziehung der Erzieher, um die es hier geht. Zu solchem Reif-Werden kann und soll helfen, was die großen Denker und Erzieher des Abendlandes als die Summe ihres Denkens und Tuns, als Vermächtnis, den Nachkommenden hinterlassen haben. In diesem Buch sollen sie alle zu Wort kommen, aus Ost und West, aus Nord und Süd, soll ein jeder mit der ihm eigenen Begabung und Begnadung zu Wort kommen, wie sie ihm in den Führungen und Erfahrungen seines Lebens und aus der unerschöpflichen Fülle der pädagogischen Situationen bewußt geworden und zugewachsen ist. Aber — was f ü r unsere Frage, die Frage nach der Hilfe für die Not der Gegenwart, entscheidend ist — hinter aller Vielfalt der theoretischen Erwägungen und praktischen Erziehungsmaßnahmen steht — mehr oder minder bewußt — eine tiefe Einmütigkeit der Idee: hinter allem wird das Bild des Menschen sichtbar, wie es in den Worten des biblischen Schöpfungsberichtes begründet ist: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das Uns gleich sei". Uns! Nicht dem autokratischen Vaterwillen, nicht der zärtelnden Eigenliebe der Mutter, nicht der Autarkie oder der Suggestivkraft des selbstherrlichen Lehrers, nicht der Schablone der Mode oder des Zeitgeistes. „Uns!" Auf diesem Menschenbild beruht die gesamte abendländische Kultur, an diesem Bilde sind die Anschauungen und Zielsetzungen der großen Erzieher der Menschheit gewonnen und gewachsen. Im Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen, des Redits und der Bildung, des Lebensstils und der Nationszugehörigkeit ist dies Bild von immer anderen Seiten gesehen worden. Doch blieb es das unveräußerliche Maß und letztverbindliche Ziel und ist auch heute innerhalb einer veränderten Welt allein gültig: der Mensch als Geschöpf und als Ebenbild Gottes, eingefügt in eine — wenn auch in Verwirrung geratene — Ordnung der Welt und berufen zur Erneuerung und Wiederherstellung der ursprünglichen Humanität, eben der Geschöpflichkeit und der Beziehung auf das göttliche Urbild. Aus dieser „ersten Ordnung" (Pestalozzi) erwächst die Ordnung der Gemeinschaft, zuerst der engsten und ursprünglichsten Gemeinschaft, der Familie, und aus ihr wieder mag sich dann die Ordnung im weiteren Sinne, in Staat und Gesellschaft, wiederherstellen. Aus der Kinderstube erbaut sich die Welt! 1·

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M a r t i n L u t h e r (1483—1546):

DIE FAMILIE EINE SCHOPFUNGSORDNUNG GOTTES „Es ist audi kein größer Sdiade der Christenheyt / denn der Kinder versäumen, / Dann soll man der Christenheyt wider helffen / so muß man furwar an den Kindern anheben / wie vor zeythen geschah." ( Se rmon vom ehelichen Stande, 1519)

Die Reformation ist, wiewohl mit Luthers neuzeitlicher "Wendung zum Subjekt auch ein Stück moderner Kultur, ausschließlich religiös orientiert. Aber da die Religion als das ganz persönliche Verhältnis zu Gott die tiefste und zentralste Funktion im Bereiche des geistigen Menschseins darstellt, so muß die von der Gottesliebe ergriffene Seele notwendig sich dem Nächsten zuwenden und sich als Gesinnung bewähren; dieser Widerschein der Gottesliebe in der Form der Nächstenliebe aber führt mit innerer Folgerichtigkeit zum Gemeinschaftsleben hinüber und in die innerweltlichen Ordnungen hinein. Audi diese sind von Gott gesetzt. Das weltliche Regiment ist neben dem geistlichen „eine herrliche Göttliche Ordnung". Denn dessen „werde und ehre ist/das es aus wilden thieren/menschen macht und menschen erhellt/das sie nidit wilde thiere werden". Der Mensch wird also erst Mensch durch die gesellschaftliche Ordnung. Er wächst nicht „wie Holz im Walde", er wird erst durch Erziehung und Unterricht das, was er sein soll und sein kann. Das Erziehen ist also für Luther ein Vorgang spezifisch menschlicher Begegnung und Beeinflussung. Das erste und ursprüngliche Feld dieser Beziehungen aber ist die Familie, sie erhält im Weltenplan Gottes grundlegende Bedeutung. „Gott braucht sie gewissermaßen, um sein Wesen auszuwirken", so fühlt ein moderner Philosoph sich versucht zu sagen; eindeutiger gesagt: Gott bedient sich dieser Ordnung, um den Menschen im menschlichen Lebenskreise des göttlichen Gnadenwillens und Gnadenwirkens teilhaftig zu machen. Mit dieser Einsicht in den göttlichen Grundbestand des Lebens und in schöpfungsmäßige Zusammenhänge fällt für Luther alles im Mittelalter so gepriesene spezifisch „heilige" Handeln und verdienstliche „Werken" dahin, es ist ihm leer und unfruchtbar, Willkür oder Firle4

fanzerei gegenüber den von Gott gesetzten Ordnungen. Und in den Vordergrund tritt mit dieser Wendung vom Dinglichen zum Persönlichen die Idee des allgemeinen Priestertums und des weltlichen Berufes als des Pflichtenkreises, in dem der Mensch als Christ sich vollauf betätigen kann und soll. So bekommt alle Arbeit und damit auch die Erziehung den Charakter der Innerlichkeit und des Gottesdienstes. Nun kann das Haus „eine rechte Kirche" sein, denn die Erfüllung der in ihm entstehenden Pflichten ist wichtiger als die Körner am Paternoster zählen oder Platten tragen und „dergleichen Affenspiel" mehr. Und was Luther ganz allgemein von dem einzelnen sagt, er solle nicht nur ein Christianus sein, sondern er solle auch für andere ein „Christus quidam" (sozusagen ein Christus) werden, das gilt insbesondere den Eltern ihren Kindern gegenüber. Dieses von christlicher Liebe und höchster Verantwortung getragene Tun gibt der Erziehung in der Familie und durch die Familie einen tiefsten Ernst und eine sonst nicht erreichbare Lebens wärme; es handelt sich hier um letzte Zusammenhänge und „heilige" Wirksamkeiten. Die positiven Lutherschen Erziehungsgedanken sind einseitig religiös geprägt, sie stehen auch in keinem System oder auch nur in systematischer Ordnung, sondern sind zerstreut in seinen Predigten, Bibelauslegungen, Briefen und Tischgesprächen. Aber was hier an Erkenntnissen in der Hochsphäre des Christseins und Christwerdens spielt, das kündigt bereits die pädagogischen Ideen an, die eine spätere Zeit, Pestalozzi zumal, in das rein Menschliche überträgt. Das protestantische Erziehungsethos mit seiner Vertiefung in das Problem der Persönlichkeit und der Wahrheit und deren innerster Zusammengehörigkeit hat der Idee der Erziehung die stärkste Belebung gebracht, es bedeutet Segnung für den einzelnen und Kraft für das Volksganze. Wir suchen der Fülle der Gedanken ein paar zukunftweäsende Leitlinien abzugewinnen. 1. Das Haus muß sein. Im Hause ist dem Menschen die Naturgrundlage gegeben, in die ihn Gott der Schöpfer und Regierer gestellt hat; hier weist Gott dem Menschen das nächste Feld für die Entfaltung seines inneren Lebens, insbesondere für den Empfang des göttlichen Gnadenwirkens, und zugleich das Feld für seine sittliche Bewährung. So hat keiner erst lange — wie es die Unterscheidung von höherer und niederer Sittlichkeit in der Kirche Roms mit sich brachte — nach einem „sonderlichen" Feld für seine Frömmigkeit zu suchen, sondern christlich soll er tun, was ihm vor die Hand kommt und worin er als in seinem „Stande" steht. Es kann „nicht bessere Stände noch Leben geben, denn Gott gemacht hat". Das gibt der Familie ihre Heiligkeit. „Wenn ein 5

Kaiser, als eine hohe Person, etwas gestiftet und verordnet hat, ach . . . wie rühmet man es als ein hohes kaiserliches Gestifte. Nun, was ist der Kaiser? Ein sterblicher Mensch gegen Gott zu achten, nicht anders denn ein Pfund Blei gegen einen großen güldenen Berg zu redinen. Hier (bei dem Hausstand) sollte man nun prangen und rühmen in unsern Herzen über diesen alten Gestiften der ganzen heiligen Dreifaltigkeit." Aus dem Hause kommt alles, was dem Menschen Halt und Richtung gibt, vom Hause aus erbaut sich audi das Volk, der Staat. „Denn eine Stadt ist nichts anderes denn viele Häuser in ein gemein Regiment und Ordnung gefasset . . . Wo in den Häusern Gehorsam nidit gehalten wird, wird man's nimmermehr dahin bringen, daß eine ganze Stadt, Land, Fürstentum oder Königreich wohl regiert werde. Denn wo die "Wurzel nicht gut ist, da kann weder Stamm noch gute Frucht folgen." So erhalten die Familienverhältnisse eine grundlegende Bedeutung f ü r das Gemeinschaftsleben, und Luther weiß aus seinem Ja zu den Lebensordnungen Gottes von dem ehelichen Stande längst, ehe er ihn aus eigner Erfahrung kennenlernt, so herrlich und erquicklich zu schreiben wie kaum je einer vor ihm oder nach ihm. Wie unwillkürlich entströmen seinem Munde über Tisch oder bei andern Gelegenheiten mancherlei Äußerungen, die darin gipfeln: „Der Ehestand ist Gottes Ordnung und der allerbeste und heiligste Stand." Aber auch in verantwortlicher Amtsführung rühmt und festigt er den Stand, in einer Predigt über Joh. 2, 1—11 (Hochzeit zu Kana) heißt es: „Weil denn nun der Ehestand den Grund und Trost hat, daß er von Gott gestiftet ist und Gott ihn lieb hat und Christus ihn selbst so ehret und tröstet, sollte er jedermann lieb und wert und das Herz guter Dinge sein, daß es gewiß ist des Standes, den Gott lieb hat, und fröhlich leiden alles, was darinnen schwer ist, und wenn's noch zehnmal schwerer wäre." Luther muß viel reden gegen die Furcht vor Begründung eines Hausstandes, gegen die Kinderscheu und die Bequemlichkeitssucht mancher „Edlen und großen Herren, die sich wohl dieser Ursach halben oftmals des Ehestandes enthalten" — „das ist eben auch ein Zeichen und Frucht der Erbsünde". Es kommt darauf an, „das eheliche Leben zu erkennen". Es ist nicht eine bloße Geschlechts- oder Versorgungsgemeinschaft, sondern „die sind's, die es (recht) erkennen: die festiglich glauben, daß Gott die Ehe eingesetzt, Mann und Weib zusammengegeben, Kinder zu zeugen und zu warten verordnet hat". Luther sagt es in seinem „Traubüchlein" ganz deutlich, daß die Ehe, wiewohl ein weltlicher Stand, nicht Menschenwillkür ist, sondern Gottes Wort für sich hat, und daß in der Ehe Mann und Frau eine Verantwortung für einander tragen. 6

2. Es kommt also auf den Geist des Hauses an, das Haus muß nicht nur einen christlichen Anstrich haben, sondern christliche Art und Wesen von innen heraus tragen. „Zur Haushaltung gehört ein gläubiger Mann und ein gläubiges Weib." Wie das gemeint ist, zeigt Luther einmal drastisch in Gegenüberstellung der landläufigen Ehescheu mit den Gedanken des Glaubens vom Ehestand und seiner Stiftung: Die natürliche Vernunft der Heiden rümpft in Ansehung des ehelichen Lebens die Nase und spricht: „Ach, sollte ich das Kind wiegen, Windeln waschen, Bett machen, Stank riechen, die Nacht wachen, seines Schreiens warten, sein Grind und Blattern heilen, danach des Weibes pflegen, sie ernähren und arbeiten, hier sorgen, da sorgen, hier tun, da tun, das leiden und dies leiden, und was denn mehr Mühe und Unlust der Ehestand lehrt: ei, sollte ich so gefangen sein? O du elender armer Mann, hast du ein Weib genommen? Pfui, pfui des Jammers und Unlusts! Es ist besser, frei bleiben und ohne Sorge ein ruhiges Leben geführt. — Was sagt aber der Glaube dazu? Er tut seine Augen auf und sieht alle diese geringen, verachteten Werke im Geist an und wird gewahr, daß sie alle mit göttlichem Wohlgefallen als mit dem köstlichen Golde und Edelgestein geziert sind, und spricht: Ach Gott, weil ich gewiß bin, daß du mich als einen Mann erschaffen und von meinem Leibe das Kind erzeugt hast, so weiß ich auch gewiß, daß es dir aufs allerbeste gefällt, und bekenne dir, daß ich nicht würdig bin, daß ich das Kind wiegen sollte, noch seine Windeln waschen, noch sein oder seiner Mutter warten." Für die christliche Frau aber hat er in Kindesnöten die Tröstung und Stärkung: „Gedenk, liebe Greta, daß du ein Weib bist und dies Werk Gott an dir gefällt. Tröste dich seines Willens fröhlich und laß ihm sein Recht an dir. Gib das Kind her und tu dazu mit aller Macht. Stirbst du darüber, so fahre hin, wohl dir! Denn du stirbst eigentlich im edlen Werk und Gehorsam Gottes." Luther hat noch eine andere Hilfsauffassung von der Ehe, sozusagen eine theologische, in die die Erbsündenlehre hineinspielt, sofern sie nämlich ihm als eine Arzenei erscheint, die der moralischen Schwäche des Menschen zur Aushilfe verordnet sei; aber immer wieder kehrt er zu jener herrlichen, grundevangelischen Auffassung zurück, die in der Schöpfungsordnung Gottes gründet und alle andre „Verdienstlichkeit" jener Zeit in den Schatten stellt. Der eheliche Stand und Dienst ist das einzig echte „gute Werk" vor aller selbsterwählten Heiligkeit, weil es aus Gottes Wort und Befehl hergehet. Wer sein Gemahl „als ein göttlich Geschenk und Kleinod" ansieht, der denkt, „wenn er eine andre sieht, ob sie gleich schöner wäre als seine: . . . und wenn sie die allersdiönste auf Erden wäre, so hab* ich doch daheim viel einen schöneren Schmuck an meinem Gemahl, wie ich denn von meiner mit fröhlichem Gewissen sagen kann: 7

diese hat mir Gott selbst geschenkt und in die Arme gegeben, und ich weiß, daß ihm samt allen Engeln herzlich wohlgefällt, wenn ich mit Liebe und Treue zu ihr halte". Wohl weiß der Stifter des deutschen Pfarrhauses und spricht oft darüber, daß es auch dem Haus, in dem es „nach des Heiligen Geistes Hauslehre" gehalten wird, an Trübsal nicht fehlt, aber „wenn wir diese Lehre gewiß fassen und glauben, daß wir alles gleich als aus Gottes H a n d empfangen", dann schickt sich der Christ in die Hiobsfrömmigkeit und weiß auch in dem Leid Segen zu sehen und dafür zu danken. Das christliche Haus ist das glückliche Haus, das auch in trüben Tagen seine Leucht- und Tragkraft behält. „Es ist aber nicht genug, daß man das aus den Büchern lerne, sondern es gehört auch eine Erfahrung und Übung dazu, ohne welche man diese Haushaltung nicht lernen kann." 3. Das aber, woran Eltern sich „Himmel" oder „Hölle" verdienen können, ist die Erziehung der ihnen geschenkten Kinder; kein Werk im Ehestand dringender, aber auch keins schöner. Ohne christliche Kindererziehung ist das christliche Haus ein Bruchstück. Das Kindererziehen ist „die richtige Straße gen Himmel", es ist schuldige Pflicht und heiliger Gottesdienst. „Es wisse ein jeglicher, daß er schuldig ist, bei Verlust göttlicher Gnade, seine Kinder vor allen Dingen zu Gottes Furcht und Erkenntnis zu ziehen, und, wo sie geschickt sind, auch lernen und studieren zu lassen, daß man sie, wozu es not ist, braudien könnte." Gott hat die Eltern „nicht darum in ihren Stand gesetzt, daß sie allein ihre Lust an den Kindern sehen und ihren Fürwitz (oder Kurzweil) mit ihnen treiben, sondern sie in der Zucht und Vermahnung zum Herrn auf erziehen". Nochmals: die Ehe ist nicht Menschenfürwitz, sondern ein „göttlicher Stand". Und die Familie ist nicht bloß Wohn- und Verpflegungsgemeinschaft oder Wirtschaftseinheit sondern Hausgemeinde, in der die Eltern stehen „an Gottes Statt", vor Gottes Angesicht und auch in Gottes Gericht. Die Mutter („es ist gar süß, aber es ist auch sauer, eine Mutter zu sein", sagt Luther im Β lidi auf ihre hauswirtschaftlichen Pflichten) — ihr Seelen- und Muttertum in der Weite und Tiefe zu würdigen, die bis in die tiefsten unbewußten Seelenschichten reicht, blieb einer späteren Zeit (Pestalozzi, Fröbel) vorbehalten; „doch scheint's mir, als ob das Amt eines Vaters noch viel schwieriger (und verantwortungsvoller) ist". Bei Luther trägt die Hauserziehung, wie überhaupt die Frömmigkeit, einen „männlichen" Zug, darum kann er das Amt des christlichen Hausvaters nicht hoch genug stellen. Ein Vater, sagt er, soll eigentlich ein Bisdiof und Pfarrherr seines Hauses sein, weil ihm eben das Amt über 8

seine Kinder und sein Gesinde gebührt, das einem Bischof über sein Volk gebührt. „Ein Hausvater, der sein Haus in Gottesfurcht regiert, seine Kindlein und Gesinde zu Gottesfurcht und Erkenntnis, zu Zucht und Ehrbarkeit zieht, der ist in einem seligen, heiligen Stande. Also eine Frau, die der Kinder wartet mit Essen, Trinken geben, Wischen, Baden, die darf nach keinem heiligeren, gottseligeren Stande fragen . . . Wie eine selige Ehe und Haus wären das, wo solches Ehevolk beisammen wäre und stünde also ihren Kindern vor! Fürwahr, ihr Haus wäre eine rechte Kirche, ein auserwähltes Kloster, ja ein Paradies. Denn Vater und Mutter werden Gott hier gleidi, denn sie sind Regenten, Bischöfe, Papst, Doktor, Pfarrherr, Prediger, Schulmeister, Richter und Herr." Der Hausvater steht für die christliche Hausordnung, die auch „das Gesinde" einschließt, und für die feste Gebetssitte des Tages: Morgenund Abendsegen, Tischgebet ein. In der Pflege der Hausandacht und bei dem Einprägen, Abhören und Beten des Katechismus handelt es sich für Luther aber nicht bloß um Beibehaltung altüberlieferter Formen, sondern um ein innerlich befestigendes Band hoher geistiger Gemeinschaft, es geht ihm um Sicherung des Gottesgeistes, der ein gesundes Familienleben tragen soll. Wie wenig er mit soldier Erziehung und Gewöhnung die Kinder in die „Zwangsjacke" eines Christentums gesteckt oder in sauertöpfisch-pietistisches Wesen eingetaucht wissen möchte, zeigt sein audi für die Gestaltung des Hausgeistes so charakteristisches Wort: „Ach wie gern wollte ich bei dem Herrn Jesus gewesen sein, wenn er einmal fröhlich war!" Oder das andere: „Es ist der Jugend gefährlich, immer allein (abgesperrt) zu sein. Darum soll man junge Leute lassen sehen und hören und allerlei erfahren; doch daß sie zu Zucht und Ehren gehalten werden." 4. Das führt in die Kinderstube Luthers mit ihrer Zucht und Frucht für Eltern und Kind. Der Verantwortung der Eltern gegenüber ihren Kindern entspricht die Verantwortung der Kinder gegen die Eltern — es ist beides die gleiche Verantwortung vor Gott. Denn dadurch ist der „Vater- und Mutterstand" von Gott sonderlich gepriesen „vor allen Ständen", daß er die Eltern nicht bloß zu lieben sondern zu ehren gebietet und dem jungen Volke eingeprägt wissen will, daß sie ihre Eltern an Gottes Statt vor Augen haben und denken: ob sie gleich gering, arm, gebrechlich oder wunderlich sind — es sind dennoch Vater und Mutter, mir von Gott gegeben. Das Ehren begreift die Liebe in sich, aber es ist mehr als Lieben, es setzt bei aller herzlichen Liebe zwischen Eltern und Kind einen gewissen Abstand, dessen Fehlen — aus übertriebener Kameradschaftlichkeit 9

zärtelnder Eltern oder aus ihrer Erziehungsunfähigkeit — heute mancherlei Erziehungsschwierigkeiten schafft. Luther will „der Älteren Dignität" erhalten wissen, wovon mit dem vierten Gebot der Große Katechismus ein beredtes Zeugnis gibt. Und als solchen, die von Gott Autorität haben, gebührt ihnen neben dem Ehren und dem Lieb- und Werthalten Dienst und Gehorsam. Gehorsam ist für Luther — nicht im Sinne sklavischer Angst und Abhängigkeit — sondern als Folgsamkeit gegen Gottes Gebot der Grundstein des ganzen Erziehungsgebäudes. Es ist „von Gott geboten, zu halten, daß du mir als deinem Vater gehorsam seiest und ich die Oberhand habe". Luther weiß wohl, daß auch die Eltern ihre Fehler haben — er weiß sogar von solchen pflichtund ehrvergessenen Eltern, „daß sie wert wären, daß die Kinder die Eltern über die Köpfe schmissen, wenn Gott nicht so fromm wäre und die Eltern vor den Kindern verteidigte" —, aber: „Es ist nicht anzusehen die Person, wie sie sind, sondern Gottes Wille, der es also schafft und ordnet." Der Reformator hat sich in den „Tischreden" häufig über die Kinder im allgemeinen und seine eignen Kinder im besonderen ausgelassen. Was er da äußert, beruht entweder auf Rückerinnerung an die eigne Jugend oder auf Selbst- und Fremdbeobachtung. Seine eigene, überaus harte Kindheitserfahrung wirkt in umgekehrter Richtung nach. Er will die Kinder nicht scheu und „blöde" madien, sondern will das Leben freundlich gestalten, darum rät er zu der Kunst, „die Geister zu unterscheiden" und der Eigenart der Knaben und Mägdlin Rechnung zu tragen. Im Verfolg des neuen, der Welt zugewandten Lebensideals hat er den Blick für die natürlichen Entwicklungsbedingungen der Sittlichkeit: Licht und Luft, Freude und Sonnenschein braucht das Kind, ein Henker und Stockmeister kann nur verderben. Freude an der Natur, an der Musik, an froher Geselligkeit und gymnastischem Spiel entsprechen der Kindesart; mit Geboten und Strafen, dem allzu Imperativischen der alten Erziehung, ist „der Natur nicht gar zu helfen, man muß mehr dazu tun". Aber das schlaffe Gehenlassen oder die falsche Kameradschaftlichkeit und weichliche Umgangsweise törichter Eltern, die „das Fleisch ihrer Kinder mehr achten denn die Seele", kann sich darum dodi keinesfalls auf ihn berufen. Seine Erziehung hat Eisen im Blut. Die Zucht darf nicht gespart werden, wenn den Kindern „das Böse besser eingeht als das Vaterunser", notfalls muß man „einen eichenen Butterwecken" (den Stock) nehmen als „geistige Salbe wider der Seelen Krankheit". Als Familienvater ist Luther streng und folgerichtig in der Erziehung der eigenen Kinder: „Ich wollt lieber einen todten denn einen ungezogenen (ungeratenen) Sohn haben." Aber „man muß also straffen, daß der apfel bei der ruten sey", und wenn die Strafe vorbei ist, soll man 10

das Kind wieder „recipere in gratiam" (ihm wieder gut sein); Gott selbst ist darin unser Vorbild. Die Liebe ist der beste Erzieher, und die Erziehung, die sie wirkt, ist Führung und Leitung, im zarten Alter audi Behütung. Denn die zarte, unerfahrene Jugend ist wie Zunder, sie wird gar leicht mit schlechten Reden oder häßlichem Tun ihrer Umgebung befleckt. Und, „was nodi ärger ist, sie behält solche unflätigen Worte gar lange, gleich wenn ein Fleck kommt in ein feines Tuch. Der setzt sich viel fester darein, denn so er in ein grob und rauh Tuch gekommen wäre, wie auch der Heide Horatius spricht: Lange noch wahret der Krug den Geruch desselbigen Nasses, welches zuerst ihn gefüllt — und Juvenal spricht: Maxima debetur puero reverentia, d. i. man schuldet größte Scheu (Ehrerbietung) dem Knaben". Diese Scheu heißt die Eltern, peinliche Rücksicht nehmen auf die Art ihres Redens und, wie sie sich selbst geben; wehe, wenn sie, statt Vorbild zu sein, dem Kinde Anstoß oder Ärgernis geben — Jesu Wort Matth. 18, 6 ist Luther eine todernste Warnung. Die Liebe geht auch dem verirrten Kinde nach in nimmermüder Geduld. „Wo aber Kinder das Evangelium nicht wollten annehmen, soll man sie darum nicht lassen nodi verstoßen, sondern sie pflegen und versorgen, eben als die allerbesten Christen, und ihren Glauben Gott befehlen." Was daraus wird, ist Gottes Sache; „daß Kinder wohl geraten, ist nicht in unsrer sondern in Gottes Gewalt und Macht; wo er nicht im Schiffe ist, da fährt man nimmer wohl". Der Erziehung durch Menschen sind Grenzen gesetzt, aber in der Kunst und dem Fleiß des Betens gibt es keine Grenzen, hier liegt das Geheimnis der Erziehung. — In Luthers Wesen finden wir als tiefen Zug eine wunderbare Kindlichkeit geprägt. Wo gibt es in der Kantorei der Welt etwas KindlichFrömmeres als sein Weihnachtskinderlied „Vom Himmel hoch, da komm ich her", wo in dem Brieftum Europas etwas Gemütvoll-Einfühlenderes und Liebreich-Werbenderes als den Brief an sein vierjähriges Söhnlein Hänschen, den er aus den Anfechtungen von der Feste Coburg schrieb? Aus dieser ihm eigenen Kindlichkeit fließt ein Verstehen des Kindes von seltener Tiefe und Feinheit. Der große Mann weiß: Die Kinder haben ihre eigene Weise zu denken und zu reden. Will man recht dolmetschen, d. h. den besten Weg zum Kopf und Herzen des Angeredeten finden, so soll man — so heischt und treibt es Luther nach seinem „Sendbrief vom Dolmetschen" — nicht nur den Mann des Volkes bei der Arbeit und die Mutter im Hause fragen und beobachten, sondern auch „die Kinder auf den Gassen". Und wieder weiß der hintergründige Kindessinn hier die Fäden von dem Höchsten zu dem Kleinsten zu ziehen, und in dem Geheimnis göttlicher Liebesoffenbarung den Zügen der gott11

gegebenen Menschennatur nachzuspüren: „Christus, da er Menschen ziehen wollte, mußte er Mensch werden; sollen wir Kinder ziehen, so müssen wir auch Kinder mit ihnen werden". Das ist oberste pädagogische Weisheit des Reformators, darum „laß sich hier niemand zu klug dünken und verachte solch Kinderspiel" (Deutsche Messe, 1526)! Beides aber, die eigne Kindlichkeit, wie die Verständnisinnigkeit für kindliches Wesen, hängt zuammen mit Luthers Sinn für das Ursprüngliche und Unmittelbare. Ohne diese Fähigkeiten hätte er gar nicht das Große leisten können, was Gott durch ihn beschlossen hatte. Aber eben diese feinen Wesenszüge findet Luther im Kinde wieder, in seinem noch unangefochtenen gläubigen Gemüt, in seinem zuversichtlichen Bauen auf die Liebe der Eltern, in seinem unbefangen-glücklichen Hinnehmen der Gaben, die als freie Geschenke der Eltern ihm in den Schoß fallen. Das Ursprüngliche des Menschenlebens ist das Ruhen in Gott. Am Bett seines Kindes steht der Hausvater und segnet es zur Guten Nacht. „Geh hin schlafen, liebes Kindchen, sei nur fromm! Gold will ich dir nicht lassen, aber einen reichen Gott will ich dir lassen, sei nur fromm!" Und die Unmittelbarkeit des Wesens erweist sich in der Verbindung mit der ewigen Welt. Als einmal des Doktors Kinderlein um den Tisch standen und nach Pfirsichen schauten, die darauf lagen — so schildert es ein Tischgenosse aus dem Jahre 1538 —, da sprach der Doktor: „Wer da sehen will ein Bild eines, der sich mit Hoffnung freuet (Rom. 12, 12), der hat hier ein recht Konterfei. Ach, daß wir den jüngsten Tag so fröhlich und in Hoffnung könnten ansehen!" Aus diesem Geöffnetsein der Kinder für die Lebenshintergründe könnten sie, „wie Christus uns Alten ernstlich einredet (Matth. 18)", ein „Exempel" geben, dem wir nachfolgen; aber Luther verwahrt sich dagegen mit dem verwegenen Einwand: „Ei, du lieber Gott; daß du es doch säuberlich machtest und die Kinder, solche Närrlin, nicht so hoch erhübest." Doch er gibt dann zu: „Siehe, wie feine, reine Gedanken haben die Kinderlin, wie sie den Himmel und den Tod ohne allen Zweifel ansehen." In immer neuen Wendungen preist er den Glauben der Kinder und ihre feinen Gedanken von Gott. „Im Glauben sind sie viel gelehrter als wir alten Narren, denn sie glauben aufs einfältigste ohne alle Zweifel (und ohne viel ,disputieren'), Gott sei gnädig (und ihr lieber Vater), und daß nach diesem Leben ein ewiges Leben sei." Sie sorgen in ihrem Herzen mehr um einen schönen Apfel denn um einen roten Goldgulden; sie fragen nicht, was das Korn gelte, denn sie sind in ihrem Herzen sicher und gewiß, sie werden zu essen finden. So werden unserm Reformator die alltäglichen Ereignisse im Kinderland und Kinderleben zum Gleichnis ewiger Wahrheiten, und aus dem liebenden Umgang in voller Natürlichkeit steigt manche Ahnung der 12

Wahrheiten und Gesetze auf, die in Gottes Reich und Herrschaft gelten. Als er (1538) hört, wie seine Kinder miteinander zanken und hadern und sich bald wieder vertragen und versöhnen, sagt er: „Lieber Herr Gott, wie gefällt dir dodi solcher Kinder Leben und Spiel. Ja, alle ihre Sünden sind nichts als Vergebung der Sünden." Das Herzen und Segnen der Kinder, das Hüten und Hegen, wie es der Heiland getan, findet sich hier ins Deutsch eines Vaters übersetzt, dem die Liebe zu den Kindern durchs innerste Gemüt gegangen ist. Erziehung ist an sich ein weltliches Werk. Und in der Auswirkung der Reformation vollzieht sich, im wesentlichen zum erstenmal, eine zukunftweisende Wertschätzung der weltlichen Berufsarbeit. Aber diese Wertschätzung steht unter religiösem Vorzeichen, es geht hier um den „Christenmensdien". Das Kind ist durch die Taufe in den Stand der Gnade berufen, aber es muß dieser Berufung in freier Selbstentscheidung folgen und muß darum in seiner Beziehung zu Gott persönlich und ganzheitlich entwickelt werden; erst durch Erziehung wird der Christenmensch eine selbständige, selbstverantwortliche wirkliche Persönlichkeit. Mit dieser Selbstverantwortung aus innerer Freiheit ist der Begriff der Autonomie' gesetzt, der hernach in der theoretischen Pädagogik ein konstruktives Element geworden ist. Aber hier heißt es: Autonomie der gottergriffenen Persönlichkeit! Für Luthers Genius fallen Autonomie und Theonomie, Freiheit der Person und ihre Gebundenheit an Gott, zusammen. Das menschliche Subjekt ist von sich aus nichts, als bloßes Individuum hinfällig und ohnmächtig, aber durch Gottes Gnade und Begnadung ist es wahrhaft frei und aller Dinge mächtig. Luther erzieht den Menschen, aber nicht den Menschen als solchen, sondern den Christenmenschen. Freilich ist ein jeder Mensch zum Christsein berufen: „Syntemal eyn recht Christen Mensch besser ist und mehr nutzs vermag denn alle Menschen auf Erden." In diesen gedanklichen Zusammenhängen liegt die Schranke des reformatorischen Prinzips, liegen aber auch die Lebenskeime einer entschränkenden, menschen- und völkerverbindenden Pädagogik. Erziehung hat von Gott jede Freiheit — in Luthers Anschauungen und Zielsetzungen liegt etwas Dynamisches —, aber Erziehung hat vor demselben freigebenden Gott auch die ihr aufgegebene Verantwortung. Wie in der Folge Comenius, und hernadi Pestalozzi zumal, der Volksschule als der Stätte allgemeiner Menschenbildung eine Seele gegeben haben, so hat Luther der Erziehung überhaupt die stärksten Impulse, die tiefste Seele geschenkt.

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Johann

Amos Comenius

(1592—1670):

DIE MUTTERSCHOSS-SCHULE DIE GRUNDLAGE DES MENSCHENBILDUNGSPLANS „Ich hoffe zuversichtlich von meinem Gott, daß meine Vorschläge einst ins Leben treten werden, wenn der Winter der Kirche vergangen ist, -wenn die Blumen wieder aus der Erde sprießen und die Gartenarbeit kommt."

Die Familie gewinnt durch die Reformation grundlegende erzieherische Bedeutung, aber ihre Erziehung genügt nicht; das weiß Luther audi, und er nennt dafür verschiedene Gründe: die Nachlässigkeit mancher Eltern — sie haben nicht den ernstlichen Willen; die Unfähigkeit und den Mangel an Einsicht in die Bildung zu dem geistlichen und den weltlichen Berufen; den Umstand, daß viele Kinder verwaist sind; schließlich aber: auch wenn die Eltern geeignet und besten Willens wären, so könnten sie sich dodi nicht ungeteilt den Erzieherpflichten hingeben, weil die Berufsleistung und die Arbeitsbeanspruchung des Alltags es verhindern. Darum bedarf es der Schule, die ergänzend und helfend neben die Familie tritt. Dieser Zweitakt von Haus und Schule geht fortan bestimmend durch das Erziehungsdenken hindurch, und er findet sich erstmalig zu einer planvollen Abstufung des Bildungsganges herausgearbeitet bei Arnos Comenius, dem letzten Bischof der böhmischen Brüdergemeinde, die trotz ihres stillen, werktätigen Christentums so katastrophal in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges hineingerissen wurde. Der „lange Krieg" jagt auch ihn durch die Länder — er hat in Deutschland studiert, weilt in England und Schweden bei Gönnern und Geistesfreunden, arbeitet in Westpreußen und Ungarn, findet mit den Seinen eine zweite Heimat in Polen und verbringt — nach der Zerstörung Lissas — die letzten Spätjahre in Amsterdam, der Zuflucht der Verfolgten. So wird er durch die labyrinthisch verschlungenen Wege seines Lebens zum „Mann der Sehnsüchte", aber Klagen kennt sein gottvertrauendes Herz nicht trotz der Trennung von der Heimat, obgleich ihm Frau und Kinder an der Pest sterben und seine Bücherschätze und Handschriften durch Feuers14

brünste dahingerafft werden. Er drückt sein Inneres aus in der Schrift: „Eine uneinnehmbare Burg ist unser Gott" und faßt sein unstetes Wanderleben und sein nie rastendes Denken und Träumen zusammen in dem von ihm als „Testament" bezeichneten Werk. Unum necessarium, „Eins ist not." (1668), wenn es zu einer wirklichen Verbesserung in der Welt kommen soll. Comenius heißt oft „der Seher unter den Pädagogen", und er teilt mit den alten Propheten auch das Schicksal, daß seine Ideen während seines Lebens unter der Ungunst der Zeit kaum werwirklidit wurden und erst nach Jahrhunderten sich fruchtbar entwickelten. Aber er ist nicht nur Pädagoge, er wollte zugleich und zuerst Menschheitsreformator sein. In der Wirrnis der Kriegs- und Nachkriegszeit strebt er eine Reform der Christenheit und damit eine neue Menschheit an, in der alle sind „wie ein Stamm, ein Volk, ein Haus und eine Schule Gottes". Unter diesem Aspekt der Vereinigung der Menschheit auf der Grundlage des Christentums führt er, durch seine Bücher bereits zum Weltruhm gelangt, eine ausgedehnte Korrespondenz nach fast allen Ländern Europas, und die pädagogischen Bestrebungen sind ihm nur ein Beitrag zur Errichtung dieses Friedensreiches unter Christi Herrschaft. Comenius ist eine im besten Sinne apostolische Natur, die am Ende ihrer Tage denen, die ihm sein pädagogisches Unterfangen als eine dem Amt des Theologen fremde Sache verargen, entgegenhält, daß Christus mit der Mahnung: „weide meine Schafe" zugleich die andere: „weide meine Lämmer" gegeben und beide eng verbunden habe; er weiß in dem Zusammenhang Christus „ewigen Dank, daß er solche Liebe zu seinen Lämmern in mein Herz gelegt und Segen gegeben hat, daß die Sache dahin gedieh, wohin sie gediehen ist". Gemäß seinem Lebensideal: der Schaffung einer „Pansophia Christiana", einer „Christlichen Allweisheit", ist natürlich audi seine Pädagogik religiös begründet und überzeitlich ausgerichtet. Das Zentrum alles Lebens ist ihm der Mensch als Ab- und Ebenbild des Schöpfers und Gipfel aller Gotteswerke. Der Mensch hat eine dreifache Heimat: Mutterschoß, Erde und Himmel; das letzte Lebensziel ist mit dem Losungswort gegeben: „Los von der Welt und dem Himmel zu." Aber des Denkers reicher und weltweiter Geist umspannt zugleich das All und ist auf Neugestaltung von Kultur und Gesellschaft bedacht, in deren verwilderten Zustand die Bildungsidee Ordnung und Einheit bringen soll. Diese Idee umfaßt, der dreifachen Herkunft des Menschen entsprechend, eine dreifache Erziehungsaufgabe: die Geistesbildung (oder Kenntnisse und Erkenntnisse), Tugend, Harmonie und gute Sitten (oder Selbstbeherrschung) und religiöse Bildung (Gesinnung) und Frömmigkeit. Mag nun in manchen der weltbewegenden comenianischen Gedanken und Er15

Wartungen etwas Mystisches, diiliastisdi Schwärmerisches, uns utopisch Anmutendes stecken, was den Pan- und Philo-sophen als Kind seiner von Weltverbesserung und Weltbeglückung träumenden Zeit kennzeichnet — , so sind viele andre, erdnähere Planungen so reif und realistisch, daß die in ihnen beschlossene Frucht nicht vergehen kann und in andrer Form und neuen Prägungen unvergänglich fortlebt. Das gilt auch von dem Schulenplan des Sehers, in dem die Stetigkeit der natürlichen und naturgemäßen Entwicklung das Leitmotiv ist, so daß in vier Stufen zu je sechs Jahren dasselbe reine Menschentum als Naturkind, Menschenkind und Gotteskind zu immer feinerer Entfaltung gelangt. Der Weg vom Kleinkind zum Knaben (oder Mädchen), Jüngling (oder Jungfrau) und Mann (oder Frau) durch die vier Bildungskreise Mutterschule (Haus), Mutterspradi- oder Volksschule (Gemeinde), höhere, gelehrte Schule (jede größere Stadt) und Hochschule oder Akademie (jedes Land oder größere Provinz) ist ein Bildungsganzes, das dem Denker und Planer aus einer einheitlichen Wurzel erwächst und dem er in seiner weltberühmten Didactica Magna („Große Unterrichtslehre oder die gesamte Kunst, allen alles [mindestens im Umriß] zu lehren", 1627 begonnen, erst 1657 veröffentlicht) zum erstenmal in der Bildungsgeschichte System gegeben hat. Ein Kapitel aus dieser universalen Erziehungs- und Bildungslehre, das den Plan der Mutterschule behandelt, ist in Buchform besonders ausgeführt worden und in deutscher Bearbeitung 1633 gedruckt. Dies Büchlein mit seinen zwölf Kapiteln, die ganz und gar dem häuslichen Lebenskreis gewidmet sind, ist eine Perle in dem Erziehungsschrifttum der Kulturvölker geworden, und sein Autor gibt dem Erstlingswerk, wie das bei geliebten Kindern wohl zu geschehen pflegt, im Laufe seines langen Lebens eine ganze Reihe von Namen: Sdiola materni gremii d. i. Mutterschoßschule; Kleinkinderschule oder über die fürsorgliche Erziehung der Jugend in den ersten sechs Lebensjahren; Unterweisung für Mütter; Informatorium der Mutter-Schul. Immer aber steht dabei im Mittelpunkt der Schau die wunderbare Gemeinschaft von Mutter und Kind oder die Frage, wie „des Paradieses Pflänzlein recht zu hüten" sei. Das Bedürfnis ist, zu zeigen, „wie fromme Eltern teils selbst, teils